Kritische Gesamtausgabe: Band 7 Predigten 1822-1823 9783110252439, 9783110252422

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) had a remarkable ability to inspire his contemporaries from the pulpit

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Kritische Gesamtausgabe: Band 7 Predigten 1822-1823
 9783110252439, 9783110252422

Table of contents :
Einleitung der Bandherausgeberin
I. Historische Einführung
1. Schleiermachers Predigttätigkeit und die Union an der Dreifaltigkeitskirche
2. Schleiermacher unter politischem Verdacht
3. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten
II. Editorischer Bericht
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen
A. Allgemeine Regeln
B. Manuskripte Schleiermachers
C. Predigtnachschriften
D. Sachapparat
E. Editorischer Kopftext
F. Liederblätter
2. Druckgestaltung
A. Seitenaufbau
B. Gestaltungsregeln
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen
A. Schleiermacher-Texte
B. Andrae-Predigtnachschriften
C. Crayen-Predigtnachschriften
D. Gemberg-Predigtnachschriften
E. König-Predigtnachschriften
F. Saunier-Predigtnachschriften
G. Woltersdorff-Predigtnachschriften
H. Schleiermachers Homilienreihe zum Philipperbrief 1822–1823
I. Schleiermachers Homilienreihe zum Johannesevangelium 1823–1827
Predigten 1822
Am 06. 01. vorm. (Epiphanias)* Mt 2,1–12
Am 13. 01. früh (1. SnE) Phil 1,1–11
Am 13. 01. vorm. (1. SnE) Lk 2,41–52
Am 20. 01. vorm. (2. SnE)* Joh 1,29–34
Am 27. 01. früh (3. SnE) Phil 1,12–18
Am 03. 02. vorm. (Septuagesimae)* Joh 1,37–51
Am 10. 02. früh (Sexagesimae) Phil 1,19–24
Am 17. 02. vorm. (Estomihi)* Joh 2,13–17
Am 24. 02. nachm. (Invocavit) 2Kor 6,1–10
Am 03. 03. vorm. (Reminiscere)* Mt 12,20
Am 10. 03. früh (Oculi) Phil 1,25–27
Am 17. 03. vorm. (Laetare)* Jak 3,5
Am 24. 03. vorm. (Judica) Joh 8,46–59
Am 31. 03. vorm. (Palmarum; Unionsfest)* Phil 2,1–4
Am 05. 04. früh (Karfreitag) Gal 2,20–21
Am 07. 04. vorm. (Ostersonntag)* Joh 20,19–20
Am 08. 04. nachm. (Ostermontag) Apg 10,34–41
Am 14. 04. vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,21–23
Am 21. 04. früh (Misericordias Domini) Phil 1,28–30
Am 28. 04. vorm. (Jubilate)* Joh 21,17–18
Am 01. 05. früh (Bußtag) 1Joh 1,8–9
Am 05. 05. vorm. (Cantate)* Mt 28,18–20
Am 12. 05. früh (Rogate) Phil 2,1–4
Am 16. 05. vorm. (Himmelfahrt)* Joh 14,28
Am 26. 05. vorm. (Pfingstsonntag)* Gal 4,4–6
Am 27. 05. früh (Pfingstmontag) Lk 19,26
Am 02. 06. vorm. (Trinitatis)* 1Joh 4,13–15
Am 09. 06. früh (1. SnT) Phil 2,5–11
Am 16. 06. vorm. (2. SnT)* 1Joh 4,16
Am 23. 06. früh (3. SnT) Phil 2,12–16
Am 07. 07. nachm. (5. SnT) 1Petr 3,8–15
Am 14. 07. vorm. (6. SnT)* Mt 5,20–26
Am 21. 07. vorm. (7. SnT) Joh 8,31–32
Am 28. 07. vorm. (8. SnT)* Mt 7,15–20
Am 04. 08. früh (9. SnT) Phil 2,16–18
Am 04. 08. nachm. (9. SnT) 1Kor 10,11–13
Am 11. 08. vorm. (10. SnT)* Lk 19,41–48
Am 18. 08. früh (11. SnT) Phil 2,19–30
Am 25. 08. vorm. (12. SnT)* Mk 7,31–37
Am 08. 09. vorm. (14. SnT)* Lk 17,12–19
Am 13. 10. früh (19. SnT) Phil 3,1–3
Am 20. 10. vorm. (20. SnT)* Mt 22,1–14
Am 03. 11. vorm. (22. SnT)* Mt 18,23–35
Am 10. 11. früh (23. SnT) Phil 3,4–9
Am 17. 11. vorm. (24. SnT; Thronjubiläum)* Spr 22,11
Am 24. 11. früh (25. SnT; Totensonntag) Phil 3,9–11
Am 01. 12. vorm. (1. SiA)* Mt 21,9
Am 08. 12. früh (2. SiA) Phil 3,12–14
Am 15. 12. vorm. (3. SiA)* Mt 11,7–8
Am 22. 12. früh (4. SiA) Phil 3,13–16
Am 22. 12. vorm. (4. SiA) Joh 1,19–28
Am 25. 12. vorm. (1. Weihnachtstag) Lk 2,13–14
Am 26. 12. früh (2. Weihnachtstag) Lk 2,8–9
Am 29. 12. vorm. (SnW)* 1Thess 1,2–3
Predigten 1823
Am 01. 01. vorm. (Neujahr)* Gal 3,26–28
Am 05. 01. früh (SnN) Phil 3,17–21
Am 12. 01. vorm. (1. SnE)* Lk 2,40
Am 19. 01. früh (2. SnE) Phil 4,1–4
Am 26. 01. vorm. (Septuagesimae)* Joh 1,26
Am 02. 02. früh (Sexagesimae) Phil 4,5–7
Am 09. 02. vorm. (Estomihi)* Joh 7,12–14
Am 09. 02. nachm. (Estomihi) 1Kor 13,1–13
Am 16. 02. früh (Invocavit) Phil 4,8–9
Am 23. 02. vorm. (Reminiscere)* Joh 18,19–24
Am 02. 03. früh (Oculi) Phil 4,10–13
Am 09. 03. vorm. (Laetare)* Mt 26,63–66
Am 16. 03. früh (Judica) Phil 4,14–23
Am 23. 03. vorm. (Palmarum)* Joh 18,33–37
Am 28. 03. früh (Karfreitag) Hebr 7,26–27
Am 30. 03. vorm. (Ostersonntag)* Mk 6,1–15
Am 31. 03. früh (Ostermontag) 1Kor 15,3–8
Am 06. 04. vorm. (Quasimodogeniti)* Lk 24,25–27
Am 13. 04. früh (Misericordias Domini) Joh 1,1–5
Am 19. 04. mittags, Konfirmation, 1Kor 12,3
Am 20. 04. vorm. (Jubilate)* Joh 20,21
Am 23. 04. früh (Bußtag) Lk 17,10
Am 27. 04. vorm. (Cantate)* Joh 21,16
Am 04. 05. früh (Rogate) Joh 1,6–13
Am 08. 05. vorm. (Himmelfahrt)* Mt 28,20
Am 11. 05. früh (Exaudi) Joh 1,14–18
Am 18. 05. vorm. (Pfingstsonntag)* Joh 16,12–14
Am 19. 05. früh (Pfingstmontag) Eph 4,30
Am 25. 05. vorm. (Trinitatis)* Gal 3,13–14
Am 25. 05. mittags Trauung v. Beyme / v. Schulze
Am 01. 06. früh (1. SnT) Joh 1,19–24
Am 08. 06. vorm. (2. SnT)* Mt 6,33
Am 15. 06. früh (3. SnT) Joh 1,24–28
Am 15. 06. nachm. (3. SnT) 1Petr 5,6–11
Am 22. 06. vorm. (4. SnT)* Lk 6,37–38
Am 29. 06. früh (5. SnT) Joh 1,29–34
Am 06. 07. vorm. (6. SnT)* Mt 4,18–20
Am 13. 07. früh (7. SnT) Joh 1,35–42
Am 20. 07. vorm. (8. SnT)* Lk 16,16
Am 27. 07. früh (9. SnT) Joh 1,43–51
Am 27. 07. vorm. (9. SnT) Lk 16,1–9
Am 03. 08. vorm. (10. SnT)* Lk 10,19–20
Am 12. 10. vorm. (20. SnT)* Mt 18,1–4
Am 19. 10. früh (21. SnT) Joh 2,1–11
Am 26. 10. vorm. (22. SnT)* Mt 18,7
Am 02. 11. früh (23. SnT) Joh 2,12–17
Am 09. 11. vorm. (24. SnT)* Mt 9,35–38
Am 16. 11. früh (25. SnT) Joh 2,18–25
Am 23. 11. vorm. (26. SnT; Totensonntag)* Joh 6,39–40
Am 30. 11. früh (1. SiA) Joh 3,1–6
Am 07. 12. vorm. (2. SiA)* 1Joh 4,19
Am 14. 12. früh (3. SiA) Joh 3,7–15
Am 21. 12. vorm. (4. SiA)* Mt 12,17–20
Am 25. 12. früh (1. Weihnachtstag) Joh 3,16–18
Am 25. 12. mittags (1. Weihnachtstag; Abendmahlsvorbereitung und Beichte), Lk 2,13–14
Am 26. 12. vorm. (2. Weihnachtstag)* Lk 19,9–10
Am 28. 12. früh (SnW) Joh 3,19–21
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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 7

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Dritte Abteilung Predigten Band 7

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Predigten 1822⫺1823

Herausgegeben von Kirsten Maria Christine Kunz

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025242-2 e-ISBN 978-3-11-025243-9 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Bandherausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schleiermachers Predigttätigkeit und die Union an der Dreifaltigkeitskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schleiermacher unter politischem Verdacht . . . . . . . 3. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten . . . .

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X

. . .

X XVI XX

II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . . . C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . F. Liederblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Schleiermacher-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Andrae-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . C. Crayen-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . D. Gemberg-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . E. König-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . F. Saunier-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . G. Woltersdorff-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . H. Schleiermachers Homilienreihe zum Philipperbrief 1822–1823 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Schleiermachers Homilienreihe zum Johannesevangelium 1823–1827 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XXIII XXIII XXIII XXV XXVIII XXIX XXX XXX XXX XXXI XXXI XXXII XXXIII XXXIII XL XLI XLIII XLV XLVI L LXV

Predigten 1822 Am 06. 01. vorm. (Epiphanias)* Mt 2,1–12 . . . . . . . . . . Am 13. 01. früh (1. SnE) Phil 1,1–11 . . . . . . . . . . . . . .

3 15

VI

Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

Inhaltsverzeichnis

13. 01. 20. 01. 27. 01. 03. 02. 10. 02. 17. 02. 24. 02. 03. 03. 10. 03. 17. 03. 24. 03. 31. 03. 05. 04. 07. 04. 08. 04. 14. 04. 21. 04. 28. 04. 01. 05. 05. 05. 12. 05. 16. 05. 26. 05. 27. 05. 02. 06. 09. 06. 16. 06. 23. 06. 07. 07. 14. 07. 21. 07. 28. 07. 04. 08. 04. 08. 11. 08. 18. 08. 25. 08. 08. 09. 13. 10. 20. 10. 03. 11. 10. 11. 17. 11.

vorm. (1. SnE) Lk 2,41–52 . . . . . . . . . . . vorm. (2. SnE)* Joh 1,29–34 . . . . . . . . . früh (3. SnE) Phil 1,12–18 . . . . . . . . . . . vorm. (Septuagesimae)* Joh 1,37–51 . . . . früh (Sexagesimae) Phil 1,19–24 . . . . . . . vorm. (Estomihi)* Joh 2,13–17 . . . . . . . . nachm. (Invocavit) 2Kor 6,1–10 . . . . . . . vorm. (Reminiscere)* Mt 12,20 . . . . . . . . früh (Oculi) Phil 1,25–27 . . . . . . . . . . . . vorm. (Laetare)* Jak 3,5 . . . . . . . . . . . . vorm. (Judica) Joh 8,46–59 . . . . . . . . . . vorm. (Palmarum; Unionsfest)* Phil 2,1–4 . früh (Karfreitag) Gal 2,20–21 . . . . . . . . . vorm. (Ostersonntag)* Joh 20,19–20 . . . . nachm. (Ostermontag) Apg 10,34–41 . . . . vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,21–23 . . früh (Misericordias Domini) Phil 1,28–30 . vorm. (Jubilate)* Joh 21,17–18 . . . . . . . . früh (Bußtag) 1Joh 1,8–9 . . . . . . . . . . . . vorm. (Cantate)* Mt 28,18–20 . . . . . . . . früh (Rogate) Phil 2,1–4 . . . . . . . . . . . . vorm. (Himmelfahrt)* Joh 14,28 . . . . . . . vorm. (Pfingstsonntag)* Gal 4,4–6 . . . . . . früh (Pfingstmontag) Lk 19,26 . . . . . . . . vorm. (Trinitatis)* 1Joh 4,13–15 . . . . . . . früh (1. SnT) Phil 2,5–11 . . . . . . . . . . . . vorm. (2. SnT)* 1Joh 4,16 . . . . . . . . . . . früh (3. SnT) Phil 2,12–16 . . . . . . . . . . . nachm. (5. SnT) 1Petr 3,8–15 . . . . . . . . . vorm. (6. SnT)* Mt 5,20–26 . . . . . . . . . . vorm. (7. SnT) Joh 8,31–32 . . . . . . . . . . vorm. (8. SnT)* Mt 7,15–20 . . . . . . . . . . früh (9. SnT) Phil 2,16–18 . . . . . . . . . . . nachm. (9. SnT) 1Kor 10,11–13 . . . . . . . vorm. (10. SnT)* Lk 19,41–48 . . . . . . . . früh (11. SnT) Phil 2,19–30 . . . . . . . . . . vorm. (12. SnT)* Mk 7,31–37 . . . . . . . . . vorm. (14. SnT)* Lk 17,12–19 . . . . . . . . früh (19. SnT) Phil 3,1–3 . . . . . . . . . . . . vorm. (20. SnT)* Mt 22,1–14 . . . . . . . . . vorm. (22. SnT)* Mt 18,23–35 . . . . . . . . früh (23. SnT) Phil 3,4–9 . . . . . . . . . . . . vorm. (24. SnT; Thronjubiläum)* Spr 22,11

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20 22 25 32 40 46 49 55 64 72 81 87 105 111 119 126 129 134 137 142 152 161 166 174 179 192 204 215 225 235 248 259 272 284 294 322 333 345 370 380 393 405 416

Inhaltsverzeichnis

Am Am Am Am Am Am Am Am Am

24. 11. 01. 12. 08. 12. 15. 12. 22. 12. 22. 12. 25. 12. 26. 12. 29. 12.

VII

früh (25. SnT; Totensonntag) Phil 3,9–11 . vorm. (1. SiA)* Mt 21,9 . . . . . . . . . . . früh (2. SiA) Phil 3,12–14 . . . . . . . . . . vorm. (3. SiA)* Mt 11,7–8 . . . . . . . . . . früh (4. SiA) Phil 3,13–16 . . . . . . . . . . vorm. (4. SiA) Joh 1,19–28 . . . . . . . . . . vorm. (1. Weihnachtstag) Lk 2,13–14 . . . früh (2. Weihnachtstag) Lk 2,8–9 . . . . . . vorm. (SnW)* 1Thess 1,2–3 . . . . . . . . .

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434 444 454 464 479 486 498 509 518

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535 545 552 565 572 581 589 602 611 619 630 640 654 663 676 682 686 694 706 715 730 743 751 777 787 799 809 822 829 841

Predigten 1823 Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

01. 01. 05. 01. 12. 01. 19. 01. 26. 01. 02. 02. 09. 02. 09. 02. 16. 02. 23. 02. 02. 03. 09. 03. 16. 03. 23. 03. 28. 03. 30. 03. 31. 03. 06. 04. 13. 04. 19. 04. 20. 04. 23. 04. 27. 04. 04. 05. 08. 05. 11. 05. 18. 05. 19. 05. 25. 05. 25. 05.

vorm. (Neujahr)* Gal 3,26–28 . . . . . . früh (SnN) Phil 3,17–21 . . . . . . . . . . vorm. (1. SnE)* Lk 2,40 . . . . . . . . . . früh (2. SnE) Phil 4,1–4 . . . . . . . . . . . vorm. (Septuagesimae)* Joh 1,26 . . . . . früh (Sexagesimae) Phil 4,5–7 . . . . . . . vorm. (Estomihi)* Joh 7,12–14 . . . . . . nachm. (Estomihi) 1Kor 13,1–13 . . . . . früh (Invocavit) Phil 4,8–9 . . . . . . . . . vorm. (Reminiscere)* Joh 18,19–24 . . . früh (Oculi) Phil 4,10–13 . . . . . . . . . . vorm. (Laetare)* Mt 26,63–66 . . . . . . früh (Judica) Phil 4,14–23 . . . . . . . . . vorm. (Palmarum)* Joh 18,33–37 . . . . früh (Karfreitag) Hebr 7,26–27 . . . . . . vorm. (Ostersonntag)* Mk 6,1–15 . . . . früh (Ostermontag) 1Kor 15,3–8 . . . . . vorm. (Quasimodogeniti)* Lk 24,25–27 früh (Misericordias Domini) Joh 1,1–5 . mittags, Konfirmation, 1Kor 12,3 . . . . vorm. (Jubilate)* Joh 20,21 . . . . . . . . früh (Bußtag) Lk 17,10 . . . . . . . . . . . vorm. (Cantate)* Joh 21,16 . . . . . . . . früh (Rogate) Joh 1,6–13 . . . . . . . . . . vorm. (Himmelfahrt)* Mt 28,20 . . . . . früh (Exaudi) Joh 1,14–18 . . . . . . . . . vorm. (Pfingstsonntag)* Joh 16,12–14 . früh (Pfingstmontag) Eph 4,30 . . . . . . vorm. (Trinitatis)* Gal 3,13–14 . . . . . . mittags Trauung v. Beyme / v. Schulze . .

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VIII

Inhaltsverzeichnis

Am 01. 06. früh (1. SnT) Joh 1,19–24 . . . . . . . . . . . . . Am 08. 06. vorm. (2. SnT)* Mt 6,33 . . . . . . . . . . . . . . Am 15. 06. früh (3. SnT) Joh 1,24–28 . . . . . . . . . . . . . Am 15. 06. nachm. (3. SnT) 1Petr 5,6–11 . . . . . . . . . . . Am 22. 06. vorm. (4. SnT)* Lk 6,37–38 . . . . . . . . . . . . Am 29. 06. früh (5. SnT) Joh 1,29–34 . . . . . . . . . . . . . Am 06. 07. vorm. (6. SnT)* Mt 4,18–20 . . . . . . . . . . . . Am 13. 07. früh (7. SnT) Joh 1,35–42 . . . . . . . . . . . . . Am 20. 07. vorm. (8. SnT)* Lk 16,16 . . . . . . . . . . . . . Am 27. 07. früh (9. SnT) Joh 1,43–51 . . . . . . . . . . . . . Am 27. 07. vorm. (9. SnT) Lk 16,1–9 . . . . . . . . . . . . . Am 03. 08. vorm. (10. SnT)* Lk 10,19–20 . . . . . . . . . . Am 12. 10. vorm. (20. SnT)* Mt 18,1–4 . . . . . . . . . . . . Am 19. 10. früh (21. SnT) Joh 2,1–11 . . . . . . . . . . . . . Am 26. 10. vorm. (22. SnT)* Mt 18,7 . . . . . . . . . . . . . Am 02. 11. früh (23. SnT) Joh 2,12–17 . . . . . . . . . . . . Am 09. 11. vorm. (24. SnT)* Mt 9,35–38 . . . . . . . . . . . Am 16. 11. früh (25. SnT) Joh 2,18–25 . . . . . . . . . . . . Am 23. 11. vorm. (26. SnT; Totensonntag)* Joh 6,39–40 . Am 30. 11. früh (1. SiA) Joh 3,1–6 . . . . . . . . . . . . . . . Am 07. 12. vorm. (2. SiA)* 1Joh 4,19 . . . . . . . . . . . . . Am 14. 12. früh (3. SiA) Joh 3,7–15 . . . . . . . . . . . . . . Am 21. 12. vorm. (4. SiA)* Mt 12,17–20 . . . . . . . . . . . Am 25. 12. früh (1. Weihnachtstag) Joh 3,16–18 . . . . . . Am 25. 12. mittags (1. Weihnachtstag; Abendmahlsvorbereitung und Beichte), Lk 2,13–14 . . . . . . . . . . . . . . . . Am 26. 12. vorm. (2. Weihnachtstag)* Lk 19,9–10 . . . . . Am 28. 12. früh (SnW) Joh 3,19–21 . . . . . . . . . . . . . .

846 855 868 877 889 900 911 921 931 940 948 958 969 981 992 1014 1023 1035 1044 1068 1077 1086 1098 1108 1116 1119 1136

Verzeichnisse Abkürzungen und editorische Zeichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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* Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Einleitung der Bandherausgeberin Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801– 1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten 1790–1808 4. Predigten 1809–1815 5. Predigten 1816–1819 6. Predigten 1820–1821 7. Predigten 1822–1823 8. Predigten 1824 9. Predigten 1825 10. Predigten 1826–1827 11. Predigten 1828–1829 12. Predigten 1830–1831 13. Predigten 1832 14. Predigten 1833–1834 sowie Gesamtregister Der vorliegende Band enthält Predigten zu 111 Terminen der Jahre 1822 und 1823 sowie ergänzend 53 dazugehörige Liederblätter Schleiermachers. Die Editionsbasis bilden neben einigen Drucktexten und Autographen Schleiermachers überwiegend Nachschriften anderer Personen. Zu 60 Terminen existierte bislang keine Predigtveröffentlichung; zu 51 Terminen liegen bereits Drucke vor. Für die von Schleiermacher selbst redigierten und publizierten Texte konnte in acht Fällen eine abweichende Vorlage ausgemacht und ediert werden.

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Einleitung der Bandherausgeberin

Außerdem erwiesen sich bei den posthumen Drucken 19 der insgesamt 30 in den Sämmtlichen Werken herausgegebenen vermeintlichen Philipper-Frühpredigten von 1822/23 als Kunstprodukte, die in ihren Hauptstücken aus zwei unterschiedlichen Homilienreihen der Jahre 1817/18 und 1822/23 kompiliert sind. Die originale, 21 Predigten umfassende Reihe von 1822/23 wird hier erstmals rekonstruiert und in dieser Gestalt geboten.

I. Historische Einführung Die Jahre 1822 und 1823 bilden einen Höhepunkt der Wirksamkeit Friedrich Schleiermachers an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, wo er seit 1809 als reformierter Prediger tätig war. Sie stehen vor allem im Zeichen der Gemeindeunion von Lutheranern und Reformierten, welche am 31. März 1822 offiziell an der Simultankirche vollzogen wurde. Schleiermacher, dem die Zusammenführung der konfessionsverschiedenen Gemeinden im Einverständnis mit der 1817 auf Landesebene begonnenen Union ein besonderes Anliegen war,1 war an ihrer Planung und Umsetzung wesentlich beteiligt.

1. Schleiermachers Predigttätigkeit und die Union an der Dreifaltigkeitskirche Die Gemeindeunion an der Dreifaltigkeitskirche hat ihren Ausgangspunkt im August 1819, als sich nach dem Tod des unionskritischen lutherischen Predigers Andreas Jakob Hecker 2 mit der Neubesetzung der Stelle eine veränderte Situation ergab. Der als Vermittler zwischen 1

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König Friedrich Wilhelm III. von Preußen hatte am 27. September 1817 in der sog. Unionsurkunde Lutheraner und Reformierte anlässlich des dreihundertjährigen Reformationsjubiläums zur Vereinigung aufgerufen. Da er auf eine nicht näher konkretisierte „Hauptsache im Christenthum“ unter Verzicht auf die Herstellung eines Lehr- und Bekenntniskonsenses verwies, fand die Union in erster Linie auf Verwaltungsebene statt. Als Beginn gelten die in Berlin und Potsdam unter großer Beteiligung der Bevölkerung abgehaltenen Abendmahlsfeierlichkeiten zum Reformationsfest. Schleiermacher hatte bereits 1804 in dem ersten seiner „Unvorgreiflichen Gutachten“ eine Vereinigung der beiden evangelischen Konfessionen gefordert und die Nachteile der bestehenden Trennung erörtert (vgl. KGA I/4, S. 367–408). Andreas Jakob Hecker (geb. 1746 in Stargard) hatte in Halle und Königsberg Theologie studiert und war, nach einer Tätigkeit als Hilfsprediger und Realschuldirektor in seinem Heimatort, ab 1780 zweiter lutherischer Prediger an der Berliner Dreifaltigkeitskirche; 1792 erhielt er die erste Pfarrstelle. Hecker war außerdem Oberkonsistorialrat und Oberschulrat. Vgl. EPMB 2, S. 305

Historische Einführung

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den Konfessionen geltende Philipp Konrad Marheineke3 wurde bereits einen Monat nach Heckers Ableben in seine Nachfolge berufen, nachdem Schleiermacher dessen Bemühungen um die Pfarrstelle mit einem Brief an das Ministerium4 unterstützt hatte. Noch bevor Marheineke sein Amt nach Ablauf des Witwenjahres im Oktober 1820 offiziell antrat, fanden Verhandlungen zwischen Superintendenten, Predigern und lutherischen sowie reformierten Gemeindevertretern statt, aus welchen Ende des Jahres 1820 Vorschläge zur Vereinigung der beiden Gemeinden hervorgingen. Der in diesem Zusammenhang publizierte Unionsplan5 wurde schließlich nach einjähriger Bedenkzeit für die Gläubigen und einer anschließenden geringfügigen Korrektur durch die Behörden6 am 20. Dezember 1821 von Kultusminister Karl Sigismund Franz vom Stein zum Altenstein bestätigt und am 10. Januar 1822 verabschiedet. Im Februar überreichten die Superintendenten dem Konsistorium daraufhin zur praktischen Umsetzung der Union eine von Schleiermacher für die neue Gemeinde erarbeitete Sonderagende.7 Diese Gottesdienstordnung, in welcher die bis 3

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Philipp Konrad Marheineke (geb. 1780 in Hildesheim; gest. 1846 in Berlin) wurde nach seinem Theologiestudium an der Universität Göttingen im Jahr 1805 außerordentlicher Professor und Universitätsprediger in Erlangen. 1807 folgte er einem Ruf an die Universität Heidelberg, an der er zwei Jahre später ordentlicher Professor wurde. 1811 erhielt er an der neu gegründeten Universität Berlin den Lehrstuhl für Kirchengeschichte und lieferte 1816 mit seiner „Geschichte der teutschen Reformation“ einen prominenten Beitrag zur Verständigung der Konfessionen. Von 1819 bis zu seinem Tod 1846 war Marheineke Prediger an der Dreifaltigkeitskirche, wo er nach Schleiermachers Ableben die erste der beiden unierten Pfarrstellen erhielt. Er stand der Regierung nahe und war – in Opposition zu Schleiermacher – überzeugter Hegelianer. Vgl. EPMB 2, S. 532; ADB 20, S. 338–340; NDB 16, S. 172–174; zu Marheinekes extremem Hegelianismus vgl. die gesammelten Aussagen seiner Zeitgenossen in: Hausrath, Richard Rothe 1, S. 123–124. Der ungedruckte Brief vom 1. August 1819 befindet sich in: GStA, HA I, Rep. 76 Kultusministerium III, Sekt. 12, Abt. XIX–XX, Nr. 38, Vol. I. I. Vgl. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinen, Berlin 1820 (KGA I/9, S. 203–210) Der im Statutenentwurf gemachte Vorschlag, dass alle Reformierten, die sich bisher zur Dreifaltigkeitskirche gehalten hatten, ohne in deren Sprengel zu wohnen, parochialpflichtig werden sollten und die vom Konsistorium getroffene Regelung, dass sämtliche in der Parochie wohnhafte Reformierte fortan zur Dreifaltigkeitskirche gehören sollten, lehnte Kultusminister zum Altenstein ab. Er behielt das bisher geltende Recht der Reformierten, sich zu einer Gemeinde ihrer Wahl halten zu können, bei und bestätigte das Unionsstatut nur unter dieser Voraussetzung. Schließlich wurde bestimmt, dass alle diejenigen reformierten Gemeindeglieder parochialpflichtig sein sollten, die sich regelmäßig zur Kommunion in der Dreifaltigkeitskirche einfanden (vgl. Unionsstatut für die Dreifaltigkeitsgemeinde vom 10. Januar 1822, § 2, in: GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876, Bl. 86r–90v; abgedruckt in: Reich, Pfarrer, S. 482–488). Das diesbezügliche Schreiben der Superintendenten S. C. G. Küster und S. Marot und die 42 Seiten umfassende Agende befinden sich in: GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876, Bl. 92r–112v; die Agende

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Einleitung der Bandherausgeberin

dahin gebräuchlichen Formulare beider Konfessionen8 neu zusammengesetzt und miteinander verschmolzen waren, sollte angesichts der königlichen Bemühungen um eine neue Agende für Preußen von interimistischer Gültigkeit sein, und trat mit dem öffentlichen Festgottesdienst zur Vereinigung der beiden Gemeindeteile offiziell in Kraft. Aufgrund des behutsamen Umgangs mit den Traditionen brachte die Union für die Gemeindeglieder aus liturgischer Sicht nur geringe Veränderungen mit sich. Der Gebrauch der Perikopenordnung9 und bestimmter Gebete war den Predigern freigestellt und für das Abendmahl hatte sich bereits nach dem Amtsantritt Marheinekes auch bei den Lutheranern der unierte Ritus von 1817 durchgesetzt, welcher nun einheitlich für die gesamte Gemeinde gelten sollte.10 Außerdem sollte das Abendmahl häufiger, nämlich sonntäglich und festtäglich, gefeiert werden und in der Regel im zweiwöchigen Wechsel nach der Hauptpredigt und nach der Frühpredigt stattfinden.11 Neben der Zusammenlegung und gemeinsamen Verwaltung der Gemeindevermögen sowie Neuregelungen zur Besoldung und zu weiteren Finanzangelegenheiten12 ergaben sich die größten Veränderungen für die Prediger und die übrigen Bediensteten der Dreifaltigkeitskirche, weil ihre Zuständigkeiten und ihr Verhältnis untereinander neu bestimmt wurden: Mit der Gemeindeunion waren Schleiermacher und Marheineke fortan bei allen Amtsgeschäften gleichberechtigt für die neue Gemeinde zuständig und der bisherige zweite lutherische Prediger David Georg Friedrich Herzberg13, der teilweise die Früh- oder die Nachmittagspredigt sowie in der Regel alle Taufen und Trauungen

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ist abgedruckt in: KGA III/3. Welche Formulare an der Dreifaltigkeitskirche bis 1822 in Gebrauch waren, erhellt ein Brief Schleiermachers an das Konsistorium vom 13. September 1825; vgl. Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 446. Demnach verwendete die Reformierte Gemeinde die unter Friedrich Wilhelm I. von Preußen eingeführten Sammlungen „Kirchen-Agenda“ (1713) und „Kirchen-Gebethe“ (1717). Die Lutheraner verwendeten, Schleiermacher zufolge, Formulare mit dem Titel „Kirchenagende Berlin 1774“. Zu einem genaueren Nachweis sah er sich nicht imstande – dieser gelingt auch heute nicht. In Berlin galten die sog. Altkirchlichen Perikopen. Eine Übersicht aller in Preußen gebräuchlichen Ordnungen findet sich in: Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland, Jg. 39, 1890, S. 576–599. Vgl. Unionsstatut, § 11 Vgl. Unionsstatut, § 13 Vgl. Unionsstatut, §§ 3–4; § 12; §§ 14–18 mit Ergänzungsbestimmungen David Friedrich Georg Herzberg (geb. 1763 in Treptow; gest. 1822 in Berlin) war nach seinem Studium an der Universität in Halle ab 1781 Lehrer an der Realschule in Berlin und später Oberlehrer sowie Inspektor am Kurmärkischen Landschullehrer- und Küsterseminar. 1792 wurde er zweiter lutherischer Prediger an der Dreifaltigkeitskirche und ab 1804 Direktoratsgehilfe am Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Vgl. EPMB 2, S. 330; Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 58

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übernehmen sollte, beiden Hauptpastoren zugeordnet.14 Das Abnehmen der Beichte und die Erteilung des Konfirmandenunterrichts oblag allen drei Predigern gleichermaßen.15 Außerdem waren gemeinsame Kantor- und Küsterstellen vorgesehen.16 Für Schleiermacher bedeutete die Union an der Dreifaltigkeitskirche konkret einen großen Arbeitsmehraufwand, da sich sein Zuständigkeitsbereich enorm ausweitete. Den reformierten Gemeindeteil, der nur ein Achtel der Gesamtgemeinde ausgemacht hatte, hatte er zuvor als Personalgemeinde betreut, da die Calvinisten in Berlin nicht parochialpflichtig waren und sich zu einer Kirche ihrer Wahl halten konnten. Ab 1822 wurde nun ein parochiales Verhalten erforderlich und Schleiermachers Zuständigkeit erstreckte sich zusätzlich auf das für die Lutheraner definierte Gemeindegebiet17. Schleiermacher fürchtete vor allem die große Zahl der Katechumenen, die nun auch aus den niederen Ständen kamen, und sah außerdem die zahlreichen Kommunionen und das Beichtgeld als problematisch an.18 Insgesamt mehrten sich für ihn die Kasualgeschäfte bei gleichzeitigen finanziellen Einbußen, da er zugunsten Marheinekes auf 14 15 16 17

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Vgl. Unionsstatut, §§ 6–7; § 10; Ergänzungsbestimmungen zu § 16 Vgl. Unionsstatut, Ergänzungsbestimmungen zu § 16 Vgl. Unionsstatut, § 17 mit Ergänzungsbestimmungen Zur Dreifaltigkeitskirche, die sich von 1739 bis 1947 im Dreieck Mauerstraße, Mohrenstraße und Kanonierstraße (heute Glinkastraße) in der westlichen Friedrichstadt befand, gehörten 1821 etwa 12.000 Seelen (vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 98 sowie die Angaben in Schleiermachers Brief an J. W. Rautenberg, in: Bauer, Konfirmandenunterricht, S. 21). Das Kirchspiel wurde durch die (von der Parochie ausgeschlossene) Friedrichstraße im Osten, die Behrenstraße im Norden sowie im Süden durch den BelleAlliance-Platz (heute Mehringplatz) begrenzt, während es sich im Westen bis weit in die Vorstadt ausdehnte (vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 23–24). Dazu gehörten u. a. die bedeutende Leipziger Straße, in der das Ministerium der Geistlichen Angelegenheiten, das Kriegsministerium und die Königliche Porzellanmanufaktur lagen, und die Wilhelmstraße, in deren nördlichen Teil vornehme Leute, Grafen, Fürsten, Minister und Prinzen wohnten, während im südlichen Teil Richtung Hallisches Tor in elenden Verhältnissen die ärmeren Menschen lebten. Eine genauere Beschreibung des Areals und der dazugehörigen Straßen findet sich in: Lisco, Kirchen-Geschichte, S. 71. Vgl. Schleiermachers Brief an J. Chr. Gaß vom 5. Februar 1822, in: Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 278 sowie an J. W. Rautenberg vom 11. März 1821, in: Bauer, Konfirmandenunterricht, S. 21. Schleiermacher verzeichnete nach der Union in der Tat einen großen Zulauf an Konfirmanden und war vor allem bei Kindern gebildeter Eltern aus dem gesamten Einzugsbereich der Dreifaltigkeitskirche sehr beliebt. Alle Kinder, die sich bei ihm meldeten, unterrichtete er selbst. Sie hingen auch nach der Einsegnung mit besonderer Treue an ihm und bildeten den Hauptkreis seiner Seelsorgetätigkeit. Vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 89–90; Lücke, Erinnerungen, S. 792. Die steigende Zahl der Konfirmanden im Laufe der Jahre ist dokumentiert in: Wißmann, Religionspädagogik, S. 420: 1823: 26; 1824: 36; 1825: 51; 1826: 58; 1827: 47; 1828: 71; 1829: 61; 1830: 86; 1831: 59; 1832: 60; 1833: 89; 1934: 68.

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Einleitung der Bandherausgeberin

ein Gehalt von 100 Rth. verzichtete19. Die Kirchenbücher der Dreifaltigkeitsgemeinde belegen den starken Anstieg der Arbeitsbelastung: Entfielen vor der Union im Jahresdurchschnitt 25 Taufen und 5,3 Trauungen auf Schleiermacher, hatte er im Jahr der Union, 1822, 70 Taufen und 15 Trauungen durchzuführen.20 Die Lage verschärfte sich zusätzlich und belastete darüber hinaus das Verhältnis der beiden Kollegen, als Herzberg am 23. November 1822 unerwartet verstarb und die Hilfspredigerstelle bis zur Neubesetzung durch Adolph August Kober21 am 28. Dezember 1823 vakant war.22 So stieg Schleiermachers Anteil an den Kasualhandlungen im Jahr nach dem Tod Herzbergs mit 170 Taufen und 71 Trauungen noch weiter an.23 Darüber hinaus verzeichnet der Gottesdienstjahresplan der Dreifaltigkeitskirche für 1823 die Verteilung von 14 Abendmahlsterminen in Verbindung mit Frühpredigten, die für Herzberg vorgesehen waren, auf Schleiermacher und Marheineke.24 Obwohl den Kasualhandlungen zahlenmäßig ein großes Gewicht zukommt, sind sie – mit Ausnahme einiger Drucktexte – kaum überliefert, da Schleiermacher seine Predigten nicht vor dem Gottesdienst niederschrieb, sondern sie während des Vortrages frei entwickelte.25 Aus der Zeit ab 1809 existieren daher überwiegend Aufzeichnungen 19 20 21

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Vgl. Unionsstatut, Ergänzungsbestimmungen zu § 14 Vgl. Dreifaltigkeits-Gemeinde, Traubücher 1804–1822, in: ELAB 11/65; 11/179; Taufbücher 1804–1822, in: ELAB 11/64; 11/178 Adolph August Kober (geb. 1798 in Langendorf bei Zeitz, gest. 1877 in Berlin) war nach seinem Studium an der Universität Leipzig auf die dritte Predigerstelle an der Dreifaltigkeitskirche berufen worden, die er ab 1824 offiziell innehatte. Er arbeitete bis 1828 eng mit Marheineke zusammen, der ihm zur Gehaltsaufbesserung einen Teil seiner Frühpredigten und den Großteil seiner Konfirmanden übergab, während Schleiermacher seine Aufgaben in unumschränktem Umfange selbst ausführen wollte. 1835 rückte er auf die Stelle Marheinekes nach, der nach Schleiermachers Tod die erste der beiden unierten Pfarrstellen übernahm, wurde 1843 Superintendent für Friedrichswerder und erhielt nach Marheinekes Ableben schließlich 1847 die erste Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitskirche. Vgl. EPMB 2, S. 423; Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 123–124 Schleiermacher schrieb dazu im Sommer 1823 an M. W. L. de Wette: „Auch das Predigtamt könnte mir verleidet werden [...] weil durch die Union [...] und den Tod des dritten Predigers die Geschäfte, und zwar am meisten die am meisten Mühe machen, gar sehr zugenommen haben und bei mancherlei kleinen Unannehmlichkeiten Marheineke sich gar nicht collegialisch benimmt, sondern mich die Kastanien allein aus dem Feuer ziehen läßt in Hoffnung, sie werden ihm dann auch wohl schmecken.“ Vgl. Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 309–310 Vgl. Dreifaltigkeits-Gemeinde, Traubücher 1822–1823, in: ELAB 11/65; 11/67; Taufbücher 1822–1823, in: ELAB 11/64; 11/66 Es handelt sich um folgende Termine: 02.02., 23.02., 28.02., 06.04., 04.05., 18.05., 15.06., 06.07., 10.08., 31.08., 05.10., 26.10., 30.11., 21.12. Vgl. Schleiermachers Brief an seinen Vater, J. G. A. Schleyermacher, vom 10. Februar 1793, in: KGA V/1, S. 277–278; vgl. Lücke, Erinnerungen, S. 790

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von sonntäglichen Gottesdienstbesucherinnen und -besuchern. Diese in qualitativer Hinsicht sehr unterschiedlichen Texte wurden teilweise bei Gelegenheit und für den persönlichen Gebrauch, teilweise regelmäßig und professionell – wahrscheinlich sogar im Auftrage Schleiermachers – angefertigt. Die Mitschriften, die 1822 und 1823 vornehmlich zu den Haupt- und Frühpredigten entstanden, wurden stets in Reinform gebracht und oftmals an Schleiermacher geliefert, der sie als Vorlage für seine Predigtpublikationen nutzte26. Anders als in seinen frühen Predigerjahren, erfreuten sich Schleiermachers Gottesdienste in den Jahren 1822 und 1823 überaus großer Beliebtheit. Dies ist besonders bemerkenswert angesichts der vorherrschenden revolutionären Gedanken aus Frankreich, der Theorien des Zweifels und des Rationalismus’, die mit einer allgemein antiklerikalen Stimmung und scharfer Kirchenkritik einhergingen27. Schleiermachers Charisma und seine Wirkungen galten als „mit Nichts zu vergleichen, was man seit der Generation Luthers an Einwirkungen von der Kanzel aus in Deutschland erlebt hat“28. Die Predigthörer, bei denen es sich sowohl vor als auch nach der Union größtenteils um 26

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Vgl. Lücke, Erinnerungen, S. 788. Zu den Unterschieden der von Schleiermacher herausgegebenen Predigten und der Predigtnachschriften vgl. Ungedruckte Predigten, ed. J. Bauer, S. 1–5. Vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 52–54. Über den Niedergang der Religiosität schrieb Schleiermacher in seinem „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche für den preußischen Staat vom 18. November 1808“: „Daß unser Kirchenwesen in einem tiefen Verfall ist, kann niemand leugnen. Der lebendige Antheil an den öffentlichen Gottesverehrungen und den heiligen Gebräuchen ist fast ganz verschwunden, der Einfluß religiöser Gesinnungen auf die Sitten und deren Beurtheilung kaum wahrzunehmen, das lebendige Verhältniß zwischen den Predigern und ihren Gemeinen so gut als aufgelößt, die Kirchenzucht und Disciplin völlig untergegangen, der gesamte geistliche Stand in Absicht auf seine Würde in einem fortwährenden Sinken begriffen, in Absicht auf seinen eigentlichen Zwek von einer gefährlichen Lethargie befallen.“ (KGA I/9, S. 3) Dilthey, Leben 1, S. 66. Schleiermachers außerordentliche Beliebtheit führte jedoch auch zu Spannungen mit Marheineke, dessen Predigten es an Popularität mangelte, da sie einem strikten, sorgfältig formulierten Konzept folgten und weder als fesselnd noch als erwärmend galten. (Vgl. ADB 20, S. 340; NDB 16, S. 173.) Hans Lassen Martensen, der Marheineke 1834 in Berlin kennenlernte, schreibt über die Begegnung: „Ich wurde freundlich empfangen von dem sehr angesehenen Manne, welcher in seinem Aeußeren etwas Priesterliches, oder richtiger, Prälatenhaftes hatte, das mit einer gewissen Grandezza verbunden war, eine Persönlichkeit, welche zwar nicht, wie z. B. die Schleiermacher’s [...], durch den unmittelbaren Eindruck der Genialität fesselte, aber sich doch durch Gediegenheit und Gründlichkeit auszeichnete.“ (Martensen, Mittheilungen 1, S. 99–100) Dagegen schwärmt Karl Gutzkow 1835 von Schleiermacher: „Dieser weiße, fluthende Bart, die eigenthümliche Zeichnung seiner Gestalt, dieser keusche Mund und doch ohne pedantische Salbung, diese ganze von Logik phosphorescirende Erscheinung hatte so viel Imponirendes, daß man es darauf ankommen ließ, lieber einst mit Schleiermacher in der Hölle, als mit Marheineke im Himmel zu seyn.“ (Vorwort zu: Schleiermacher, Lucinde, S. VI)

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Einleitung der Bandherausgeberin

wohlhabende und gebildete Personen wie Politiker, Beamte, Militärs, Wissenschaftler, Frauen aus den vornehmen Ständen und Studenten aller Fakultäten handelte, schätzten die Logik und den Scharfsinn seiner Vorträge einerseits und die „Frische und geistige Lebendigkeit [...], die stete Beziehung auch der tiefsten christlichen Ideen auf das praktische Leben, und den gegenwärtigen Zustand der Kirche, des Hauses, des Vaterlandes“29 andererseits. Schleiermacher wiederum setzte stets bei allen Gottesdienstbesuchern den christlichen Glauben als eine bestehende Größe voraus.30 Die Elite der gebildeten Zuhörer fand sich seit 1821 zu den Frühgottesdiensten ein31 und wohnte den Homilien Schleiermachers bei, die er in den Jahren 1822 und 1823 über den Philipperbrief und die ersten drei Kapitel des Johannesevangeliums hielt.32 Besondere Arbeit leistete Schleiermacher an der Dreifaltigkeitskirche auch auf dem Gebiet des Gemeindegesangs, da er – nachweislich ab 1812 – zuerst gelegentlich und später regelmäßig für die Vormittagsgottesdienste eigens erstellte Liederblätter drucken ließ.33 Mit dieser Institution zur Erbauung führte er die Gemeinde an einen umfangreichen Liedschatz heran und bemühte sich, die bereits 1804 kritisierten Missstände in Bezug auf den Gemeindegesang34 zu beseitigen.

2. Schleiermacher unter politischem Verdacht Sowohl das Predigen als auch die Auswahl der gottesdienstlichen Gesänge wurde Schleiermacher ab 1819 zunehmend durch die politische Lage erschwert, da gegen ihn im Zuge der Demagogenverfolgungen der nachnapoleonischen Restaurationszeit35 wegen antimonarchi29 30 31 32 33 34 35

Lücke, Erinnerungen, S. 790–791 Vgl. Schweizer, Wirksamkeit, S. 13 Vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 99 Zu den Homilien vgl. S. L–LXIX. Zum Phänomen der Liederblätter und ihrer Wiederauffindung vgl. den ausführlichen Aufsatz von W. Virmond in: Schleiermacher in Context, ed. R. D. Richardson, S. 275–293. Zu Schleiermachers umfangreicher Beurteilung des Gemeindegesangs vgl. das zweite seiner „Unvorgreiflichen Gutachten“ von 1804, in: KGA I/4, S. 418–423. Die Zeit nach den Befreiungskriegen und dem Sturz Napoleons war in Preußen durch die Abkehr von der Reformpolitik und intensive restaurative Unternehmungen geprägt. Außenpolitisch hatte sich das Königreich nach dem Wiener Kongress 1814/15 in dem Bündnis der Heiligen Allianz gegen nationale und liberale Bestrebungen positioniert und verfolgte diese Linie zunehmend auch innenpolitisch. Die explizite Abkehr von der 1807 angehobenen Reformbewegung war ab 1817 im Zusammenhang mit dem studentischen Wartburgfest erfolgt. Es wurde als Teil einer antimonarchischen Aufruhrbewegung gedeutet, die im März 1819 in dem Mord an dem russischen Generalkonsul und Modeautor

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scher und antireaktionärer Positionen ein Untersuchungsverfahren eingeleitet worden war36. Konkreter Anlass waren Äußerungen über die Turnerei37, über Regierungsmaßregelungen gegen die Universitäten sowie über die Person des Königs in beschlagnahmten Briefen an seinen Schwager Ernst Moritz Arndt und an seinen Freund, den Verleger Georg Andreas Reimer.38 Hinzu kam das Erscheinen der Druckschrift „Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. De Wette vom theologischen Lehramte zu Berlin“39, sowie die Tatsache, dass Schleiermacher an studentischen Feierlichkeiten teilgenommen hatte, die als politisch verdächtig galten.40 Es befanden sich daher unter den Gottesdienstbesuchern regelmäßig auch Spione, die mit allen Mitteln versuchten, ihm eine staatsfeindliche Gesinnung nachzuweisen.41 Ein Höhepunkt der Ermittlungen war 1822/23 erreicht: Hatte die Union an der Dreifaltigkeitskirche als erste dieser Art in Berlin noch das besondere Wohlwollen des Königs gefunden,42 sah sich Schleiermacher schon einen Monat später auf der „Proscriptionsliste“ des Innenministers stehen, als am 12. April eine Kabinettsorder

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A. v. Kotzebue durch den freiheitsbegeisterten Burschenschafter und Turner K. L. Sand gipfelte. Die daraufhin auf den Karlsbader Ministerialkonferenzen im August erarbeiteten restriktiven Beschlüsse beinhalteten scharfe Pressezensur, Verbot öffentlicher und schriftlicher Meinungsfreiheit, Überwachung der Universitäten, Berufsverbot für national und liberal gesinnte Professoren sowie Verbot der Burschenschaften und Schließung der Turnplätze. Die Maßnahmen bildeten einen Höhepunkt in der Zeit der landesweiten Demagogenverfolgungen und markierten das vorläufige Ende des staatlichen Reformwillens. Das staatliche Vorgehen gegen Schleiermacher ist dokumentiert in: Lenz, Geschichte 2, S. 85–87.172–175; Geschichte 4, S. 406–444. Das 1811 von Friedrich Ludwig Jahn in Berlin begründete, stark mit freiheitlichen und nationalen Bestrebungen verquickte Turnen war in preußischen Regierungskreisen ab 1815 zunehmend als politisch gefährlich eingestuft worden. Der Anm. 35 genannte Mord an A. v. Kotzebue führte schließlich zur Turnsperre, die ab 1820 in Kraft trat. Die Briefe sind abgedruckt in: Müsebeck, Neue Briefe, S. 224–232; Lenz, Geschichte 4, S. 353–355 und Briefe 2, edd. Dilthey / Jonas, S. 353–354.381–362.375–376. Nach dem Anm. 35 genannten Mord an A. v. Kotzebue hatte Schleiermachers Fakultätskollege W. M. L. de Wette an die ihm persönlich bekannte Mutter des 1820 zum Tode verurteilten Attentäters einen Trostbrief geschrieben, infolgedessen ihm per Dekret die Lehrerlaubnis entzogen und er aus Preußen verbannt wurde. In der o. g., im Jahr 1820 von de Wette herausgegebenen Dokumentensammlung war ein anteilnehmender Brief der Fakultät vom 25. Oktober 1819 abgedruckt, als dessen Urheber Schleiermacher galt. Zur Absetzung de Wettes vgl. Lenz, Geschichte 2, S. 61–100; Geschichte 4, S. 358–405. Zu den Vorwürfen vgl. den Bericht der Ministerialkommission über das Schreiben der theologischen Fakultät vom 25. Oktober 1819 und seinen Verfasser vom 16. März 1820, in: Lenz, Geschichte 4, S. 406–414. Vgl. die Aufzeichnungen der Polizeiagenten über Schleiermachers Gottesdienst am 14. November 1819, in: Treitschke, Aufsätze 4, S. 366–367 Vgl. die an die Superintendenten S. C. G. Küster und S. Marot gerichtete Kabinettsorder vom 26. März 1822, abgedruckt in: Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 95–96

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erging, die Vorschläge des Staatsministeriums „zu einem zweckmäßigen Verfahren bei der Amts-Entsetzung der Geistlichen und Jugend Lehrer“ akzeptierte.43 Im Laufe des Jahres 1822 ergab sich eine schwer erträgliche Situation der Ungewissheit, die sich im Herbst zuspitzte, als Schleiermachers geplanter Urlaub aus nicht näher benannten „erheblichen Gründen“ gestrichen und er unter eine Art Stadtarrest gestellt wurde.44 Während Schleiermachers Predigten sich allgemein dadurch auszeichnen, dass sie zahlreiche Anspielungen jeder Art enthalten, die die Predigthörer zu intensivem Mitdenken auffordern, wird Ende 1822 deutlich, wie er seine persönliche Situation in den Vorträgen verarbeitet und sie geschickt zu öffentlichen Äußerungen zu nutzen weiß. Ein Meisterwerk ist in dieser Hinsicht die anlässlich des 25. Thronjubiläums Friedrich Wilhelms III. von Preußen am 17. November 1822 gehaltene Festpredigt zum Thema „Wer ein treues Herz hat und eine liebliche Rede, des Freund ist der König“ (Spr 22,11). In der Predigt, die 1823 auch als Einzeldruck erschien, entwickelt Schleiermacher sein Verständnis von wahrer Königstreue, die nicht darin bestehen könne, dem Herrscher schmeicheln zu wollen und ihm nach dem Mund zu reden, sondern ihn aufrichtig und freundschaftlich bei der großen Aufgabe der Wahrheitssuche zu unterstützen. Zu seinem Verhältnis zu Friedrich Wilhelm III. wurde Schleiermacher offiziell am 18., 19. und 23. Januar 1823 bei einer Vernehmung im Königlichen Polizeipräsidium befragt. In dem Verhör, dessen Gegenstand die o. g. Briefe an Arndt und Reimer waren,45 bekannte sich Schleiermacher zu seiner Verfasserschaft, bedauerte zum einen die ihm zur Last gelegte unbedachte Ausdrucksweise und entkräftete zum anderen die Vorwürfe bezüglich seiner Aussagen über die Turnerei und den Wunsch nach Veränderung der politischen Verhältnisse.46 Zwar schätzte er den Ausgang der Vernehmung zu seinen Gunsten ein und hatte sich außerdem in einem Schreiben an Friedrich Wilhelm III. 43 44 45

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Die Kabinettsorder ist abgedruckt in: Preußischer Gesetz-Codex 1, ed. P. Stoepel, S. 418– 420. Zum Ringen um die Urlaubsreise vgl. Schleiermachers Brief an J. Chr. Gaß vom 14. September 1822, in: Briefe, ed. H. Mulert, S. 361–362. Kultusminister zum Altenstein hatte sich zuvor zwecks Vereinfachung des Verfahrens für eine Reduktion der Anklagepunkte ausgesprochen; vgl. das Schreiben von Altenstein an Innenminister Schuckmann vom 8. Dezember 1822 und die Registratura von Altenstein, Schuckmann und Polizeidirektor Kamptz vom 22. Dezember 1822, in: GStA, HA I, Rep. 77, Innenministerium, Tit. XXI,Nr. 6, abgedruckt in: Lenz, Geschichte 4, S. 423–428 bzw. 428–430. Vgl. die Protokolle der Vernehmung, in: GStA, HA I, Rep. 76, Kultusministerium I, Anhang II, Nr. 55, Teildruck in: Lenz, Geschichte 4, S. 430–435 sowie die abschließende Stellungnahme Schleiermachers im Anschluss an die Vernehmung, in: Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 437–443

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gewandt, um möglichen Verfahrensfehlern vorzubeugen,47 aber Schleiermacher litt dennoch stark unter der angespannten Lage. Dies beeinträchtigte nicht nur seine Gesundheit, sondern auch seine Predigttätigkeit, da die Zeit des Wartens für ihn durch die Befürchtung, nach Greifswald oder Königsberg versetzt zu werden, mit Antriebslosigkeit und dem Wunsch einherging, Berlin zu verlassen.48 Auch in dieser Zeit lassen sich vielfach in seinen Predigten Versuche erkennen, die Situation zu verarbeiten. Besonders gehaltvoll sind die Predigten vom Februar 1823: Am 2. Februar spricht Schleiermacher beispielsweise über den Umgang mit persönlichem Leid und Sorgen, am 9. Februar über das Verhalten in „guten und bösen Gerüchten“ und am 23. Februar 1823 schließlich über das Verhör Christi vor dem Hohepriester, wobei er immer wieder Anspielungen auf seine persönliche Verhörsituation macht. Im Herbst 1823 begegnen in den Kanzelreden schließlich neue Schwerpunkte, da Schleiermacher zu dieser Zeit indirekt die umfangreiche Kritik an seinem im Sommer 1822 erschienenen zweiten Band der Unionsdogmatik „Der Christliche Glaube“ (vgl. KGA I/7) verarbeitet; er befürchtete außerdem, sich wegen des Werkes erneut vor der Polizei erklären zu müssen.49 Seine Predigten am 12. Oktober über das kindliche Gemüt und am 26. Oktober über die Lehre des Erlösers vom Ärgernis, welche auch im Druck erschien, können als Antworten auf die teilweise sehr heftigen Äußerungen gelesen werden, die ihn nicht nur persönlich trafen, sondern auch das Verhältnis zu seinen Kollegen – allem voran das zu Marheineke50 – erschwerten. 47

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Vgl. Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 435–437. In der Tat bemühten sich die Minister, die Angelegenheit zu Schleiermachers Ungunsten darzustellen, was ihnen überaus schwer fiel; vgl. das Schreiben von Altenstein an Schuckmann vom 9. Juli 1823, in: GStA, HA I, Rep. 77, Innenministerium, Tit. XXI, Nr. 6 abgedruckt in: Lenz, Geschichte 4, S. 436–437. Schließlich wurde im Verlauf des Jahres eine Entlassungsempfehlung an den König verfasst, die jedoch nicht zur Absendung gelangte; vgl. das Schreiben von Altenstein und Schuckmann an den König von 1823 (ohne Tagesdatum), in: GStA, HA I, Rep. 76, Kultusministerium I, Anhang II, Nr. 55 abgedruckt in: Lenz, Geschichte 4, S. 438–444. Vgl. Schleiermachers Brief an M. W. L. de Wette vom Sommer 1823, in: Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 309, sowie an E. M. Arndt vom 18. Juli 1823, in: Briefe 2, edd. Dilthey / Jonas, S. 381–382 Vgl. Schleiermachers Brief an F. Lücke vom 18. Juni 1823, in: Briefe 2, edd. Dilthey / Jonas, S. 314 Vgl. Schenkel, Charakterbild, S. 485. Das Urteil Marheinekes steht in Verbindung mit den vernichtenden Äußerungen G. W. F. Hegels, über die Schleiermacher in seinem Brief an M. W. L. de Wette vom Sommer 1823 berichtet (vgl. Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 309). Die oben Anm. 22 genannten Verstimmungen zwischen Schleiermacher und Marheineke fallen in diese Zeit und sind mit Sicherheit zu einem Teil auch dieser Tatsache geschuldet. Schleiermachers Verbindung mit den Rationalisten J. F. Röhr und J. G. J. Schuderoff für die Herausgabe des Festmagazins bereitete ihm in zweifacher Hinsicht Schwierigkeiten:

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Einleitung der Bandherausgeberin

Eine Atempause war Schleiermacher vergönnt, als er von Anfang August bis Anfang Oktober 1823 die vereitelten Urlaubspläne des Vorjahres umsetzen und eine ausgedehnte Reise nach Tirol und Süddeutschland unternehmen konnte. Hier rüstete er sich aber bereits innerlich für den Kampf, der sein Leben in den folgenden Jahren bestimmen sollte: den Agendenstreit, im Zuge dessen auch die Gemeindeunion an der Dreifaltigkeitskirche wieder zur Disposition stehen sollte.

3. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten Schleiermacher veröffentlichte auf Grundlage von Nachschriften insgesamt zwölf Predigten der Jahre 1822/23. Es handelt sich um die Kanzelreden vom 31. 03. 1822 vorm., 11. 08. 1822 vorm., 08. 09. 1822 vorm., 17. 11. 1822 vorm., 1. 12. 1822 vorm., 15. 12. 1822 vorm., 22. 12. 1822 vorm., 27. 04. 1823 vorm., 25. 05. 1823 mittags, 26. 10. 1823 vorm., 23. 11. 1823 vorm. und vom 25. 12. 1823 mittags. Die oftmals stark bearbeiteten Texte erschienen teilweise zeitnah als Einzeldruck, teilweise Jahre später im zweiten Band des Festmagazins (1824) bzw. in den „Sammlungen“ Bd. 5 (1826) und Bd. 7 (1833). Im Folgenden wird ein Einblick in die diesbezüglichen Besprechungen der bekanntesten zeitgenössischen Rezensionsorgane gegeben. Die Predigtsammelbände erfuhren dabei eine umfangreichere Wahrnehmung als die Einzeldrucke, denn beispielsweise war das „Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“, das Schleiermacher von 1823 bis 1829 gemeinsam mit Johann Friedrich Röhr und Johann Georg Jonathan Schuderoff herausgab51, bereits durch seine Vorgängerversionen, die ab 1799 erschienen waren, eine bekannte Institution und wurde von seinem Leserkreis mit Spannung erwartet. Der Druck „Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden“ wird in den „Neuen Theologischen Annalen“52 knapp besprochen und als gehaltreiche Rede gelobt, die sich dadurch auszeichne, „daß

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Zum einen musste er sich nach außen für die Zusammenarbeit rechtfertigen, zum anderen kam auch aus Richtung dieser Kollegen scharfe Kritik (vgl. Schleiermachers Brief an K. H. Sack vom 18. Juli 1823, in: Briefe an einen Freund, S. 24 und an J. Chr. Gaß vom 20. Dezember 1823, in: Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 318). Zu der Zusammenarbeit vgl. Schleiermachers Brief an J. Chr. Gaß vom 20. Dezember 1823, in: Briefe 4, edd. Dilthey / Jonas, S. 318. Zu den Problemen der Verbindung vgl. oben Anm. 50. Neue Theologische Annalen, Jg. 1822, Bd. 1, S. 783–786

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sie den würdigen Gegenstand in einer würdigen Sprache darstellt und sich [...] rein hält von allem Wortaufwand, worin sich so viele andere Sprecher bei solchen Gelegenheiten wohlgefallen“ (S. 786). Ähnlich urteilt der Rezensent des Druckes in Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung53, wenn er die Predigt als „geistreich und erhebend“ bezeichnet und sie für „klar und ruhig, ohne alles Wortgepräng und Declamation“ befindet (Sp. 455). Er empfiehlt seinen Lesern abschließend die Lektüre, da die geistreiche Rede jedem das Gemüt wohltuend erwärme, der in Predigten keine Worte, sondern Gedanken suche, und nicht ergötzt, sondern erbaut sein wolle (Sp. 456). Darüber hinaus wird die Veröffentlichung des gesamten Gottesdienstverlaufes als besonders erweckend und den Eindruck der Predigt verstärkend empfunden, wobei vor allem auch die Gesänge gelobt werden (Sp. 455). Die Publikation „Predigt am 17ten November 1822 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen“ wird inhaltlich ausführlich in der „Kritischen Prediger-Bibliothek“54 wiedergegeben und dort als eine treffliche, in geistreicher Manier gehaltene, „mehr discursive als rednerische Auseinandersetzung vollwichtiger, oft auch nur angedeuteter, Gedanken“ (S. 223) bezeichnet, die ein gebildetes Publikum in hohem Maße fessele. Auf die oben S. XVIII genannten Anspielungen Schleiermachers zu seiner persönlichen Situation wird mit der Bemerkung verwiesen, dass sich seine „Stärke, Tiefe und Gewandheit“ (S. 228) erst durch die Lektüre der Predigt selbst erschließe, da seine Meinung den Worten oftmals nur indirekt zu entnehmen sei. Der zweite Band des Festmagazins, in dem u. a. die Predigten vom 11. 08. 1822 vorm., 08. 09. 1822 vorm., 25. 05. 1823 mittags, 26. 10. 1823 vorm., 23. 11. 1823 vorm. und vom 25. 12. 1823 mittags enthalten sind, wird in einer Rezension der „Allgemeinen Literaturzeitung“55 als „treffliche Predigtsammlung“ bezeichnet, die sowohl für Theologen als auch für solche Personen gedacht sei, „die an dem mystischen Getändel unsrer Zeit keinen Geschmack finden, sondern eine kräftige Nahrung an Geist und Leben suchen“ (Sp. 38). Im „Journal für Prediger“56 findet vor allem Schleiermachers Witz und Scharfsinn positive Erwähnung. Seine Vorträge werden einerseits als gründlich und ausführlich, andererseits als weitschweifig bezeichnet. Der Gehaltreichtum und die Tatsache, dass die Gedanken bis aufs Kleinste ausgesponnen seien, mache die Predigten einerseits „ungemein anziehend und treffend“ (S. 95–96), während sich ande53 54 55 56

Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 20 (1823), Bd. 1, Nr. 57, Sp. 455–456 Kritische Prediger-Bibliothek, Jg. 1823, Bd. 4, S. 223–228 Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 1825, Nr. 5, Sp. 37–40 Journal für Prediger, Jg. 1825, Teil 1, S. 89–99

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rerseits die Weitschweifigkeit bei den Themen der Predigten nachteilig auswirke, da sie zu unbestimmt sowie oftmals willkürlich abgeteilt und behandelt erschienen. Zusammenfassend beklagt der Rezensent dreierlei: „einmal, daß die Schreibart des Verfs. nicht nur schwerfällig und schleppend, sondern auch der ganze Ton dieser Vorträge ein trokkener, der Ton eines bloßen Räsonnements über ihren Gegenstand ist was denn freilich das Ganze mehr als eine Predigt ist; daß man zu den anziehendsten und fruchtbarsten Gedanken durch lange Wendungen und wortreiche Texterörterungen geführt wird, die das Gefühl für sie im Voraus erschlaffen; und daß diese Gedanken dann entweder nur kurz hingegeben, nur angedeutet, oder so dunkel und wo nicht oft un-, doch schwerverständlich [Hervorhebungen im Original] vorgetragen werden, daß die Mühe des Verfs., die er sich darum giebt, gewiß bei vielen Lesern und bei noch mehrern Hörern verloren seyn muß“ (S. 96). Weiter urteilt der Rezensent, dass den kleineren Reden aller drei Herausgeber Wärme und Lebendigkeit fehlten und Schleiermachers Beichtrede am 25. Dezember 1823 in dieser Hinsicht die am wenigsten ansprechende Predigt sei. Die Besprechung der Bände 2 bis 4 des Festmagazins in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung57 geht in eine ähnliche Richtung. Die Schleiermacher’schen Vorträge, die sich durch einen „philosophisch[en], minder populär[en], jedoch freymüthig sich aussprechende[n] Geist“ (Sp. 285) auszeichneten, zeugten zwar von tiefer Kenntnis des menschlichen Herzens sowie der Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens, seien aber teilweise zu philosophisch und unverständlich für die Kanzel, selbst wenn die Mehrzahl der Zuhörer ganz gebildet sei (Sp. 286). Der Rezensent nennt Schleiermachers Predigten überhaupt „tief durchdacht und mit Gelehrsamkeit ausgearbeitet“ (Sp. 287). Da sie jedoch den Verstand beschäftigten, das Herz aber leer ließen, seien sie mehr zum Studium als zur Erbauung empfohlen (Sp. 288). Zu demselben Urteil kommt auch der Rezensent der Publikation im „Theologischen Literaturblatt“58. Ihm gelten die Predigten Schleiermachers im Vergleich mit denen von Röhr und Schuderoff als die tiefsten und gelehrtesten, „weniger zur Erbauung, als zum Studium geeignet“ (Sp. 170). In einer Gesamtrezension der bis 1826 erschienenen Ausgaben des Festmagazins wird Schleiermacher in demselben Rezensionsorgan59 gegenüber seinen Mitherausgebern als derjenige hervorgehoben, 57 58 59

Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, Jg. 23 (1827), Bd. 4, Nr. 216, Sp. 285–288 Theologisches Literaturblatt, Jg. 1824, Nr. 21, Sp. 169–172 Theologisches Literaturblatt, Jg. 1826, Nr. 75, Sp. 609–616

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der den homiletischen Grundsatz von Schrifterklärung und Schriftanwendung am treuesten und gelungensten befolgt habe. Die „Sammlung Bd. 5“, eine Zusammenstellung von Festpredigten, mit der Schleiermacher an seine letzte eigene Sammelpublikation von 1820 anknüpfte, enthält die – gegenüber den im vorliegenden Band gebotenen Nachschriften – stark bearbeiteten Texte der Predigten vom 1. 12. 1822 vorm. und vom 15. 12. 1822 vorm. Diese sowie Angaben zu dem teilweise theologisch und inhaltlich ins Detail gehenden Stimmungsbild der Rezensenten sind dem Band KGA III/2 zu entnehmen. Die „Sammlung Bd. 7“, die als zweiter Band von Festpredigten an die Fünfte Sammlung anknüpft, enthält die gegenüber ihrer Vorlage stark bearbeitete Predigt vom 22. 12. 1822 vorm. Zu Text und Rezensionen siehe auch hier KGA III/2.

II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze zu Textgestaltung (1.) und Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).

1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung werden für die Edition der Manuskripte in einem abgestuften Verfahren spezifiziert. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe und Predigtausarbeitungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege.

A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben.

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b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z. B. für Abkürzungen oder Ordnungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Für Schleiermachers Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand formuliert die Regel B.n. einige Sonderfälle. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C.g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck) oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammen-

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gehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Genaue Ersichtlichkeit der einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit der Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft. g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln.

B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigtüberschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im Sachapparat oder im editorischen Kopftext der Pre-

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digt. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS] oder PnochS) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A. e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine größere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lücken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden, wenn sie zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammengefasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben.

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Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z. B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge ein bestimmtes Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer.

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Einleitung der Bandherausgeberin

n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der intendierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt.

C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln: a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollständige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt.

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j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt.

D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.60 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z. B. „Johannes sagt in seinem Bericht ...“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen. 60

Vgl. Meckenstock, Bibliothek, in: KGA I/15, S. 637–912

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Einleitung der Bandherausgeberin

E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt – ausgenommen sind die gedruckten „Sammlungen“ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte „Entwürfe“ (vgl. KGA III/3) – wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie ggf. über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und ggf. den Namen der Autoren/Tradenten von Nachschriften charakterisiert. Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird ggf. über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten ggf. über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen.

F. Liederblätter Die von Schleiermacher für die Berliner Dreifaltigkeitskirche herausgegebenen Liederblätter, soweit sie den edierten Predigten zugeordnet werden können, werden am Predigtende anhangsweise als Lesetext ohne textkritische Nachweise und ohne Literatur- und Sacherläuterungen mitgeteilt.

2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen von Textzeugen möglichst augenfällig machen.

Editorischer Bericht

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A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, ggf. Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt.

B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Originals wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) wiedergegeben; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat.

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Einleitung der Bandherausgeberin

c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten „Sammlungen“ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.

3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen Im Folgenden wird eine Übersicht der für den vorliegenden Band ausgewerteten Materialien geboten. Nach kurzen Angaben zu den direkt auf Schleiermacher zurückgehenden Texten werden, alphabetisch nach Autoren geordnet, Informationen zu den Predigtnachschriften gegeben. Knappen biographischen Ausführungen folgt jeweils unter Punkt a. die Benennung von Gestalt, Umfang und inhaltlicher Qualität der einzelnen Textüberlieferungen61 sowie unter Punkt b. die Mitteilung der spe61

Für ausführliche biographische Angaben vgl. KGA III/1, Einleitung zur III. Abteilung. Details zu den Quellen befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin in der Beschreibung des Depositums 42a.

Editorischer Bericht

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zifischen editorischen Verfahrensweisen und der aufgelösten Abkürzungen. Diesen Angaben ist unter Punkt c. eine Liste der dem jeweiligen Nachschreiber zugeordneten Leittexte angehängt. Außerdem wird über die Besonderheiten der Homilienreihe zum Philipperbrief (1822– 1823) und der zum Johannesevangelium (1823–1827) informiert.

A. Schleiermacher-Texte Im vorliegenden Band sind zwei Manuskripte sowie neun Drucktexte Schleiermachers ediert. Die diesbezüglichen Informationen sind den jeweiligen editorischen Kopftexten sowie der Historischen Einführung Punkt 2. zu entnehmen, unter welchem die literarische Rezeption der Drucktexte beschrieben wird. Leittext-Termine An folgenden Terminen gehen die Leittexte direkt auf Schleiermacher zurück: 31. 03. 1822 11. 08. 1822 08. 09. 1822 17. 11. 1822 27. 04. 1823 25. 05. 1823

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. mittags

26. 10. 1823 23. 11. 1823 21. 12. 1823 25. 12. 1823 26. 12. 1823

vorm. vorm. vorm. mittags vorm.

B. Andrae-Predigtnachschriften Johann Gottfried Andrae (geb. 1799; Todesjahr unbekannt), Prediger am Arbeitshaus in Berlin,62 war von Oktober 1822 bis August 1825 Theologiestudent an der dortigen Universität.63 Seine Nachschreibetätigkeit beginnt nachweislich 1820 und endet vermutlich 1827.64 Die Aufzeichnungen bilden aufgrund ihrer Ausführlichkeit und Worttreue die wichtigste Überlieferung für die Predigten Schleiermachers in den 1820er Jahren und lassen sich in zwei Hauptstränge untergliedern: das umfangreiche ehemalige Andrae-Konvolut in der jetzigen „Sammlung Witwe Schleiermacher“ und die sog. Andrae-Bände. Darüber hinaus existieren Texte in Sammlungen anderer Tradenten, als Druck sowie als 62 63 64

Vgl. EPMB 2, S. 10 Vgl. Matrikel 1, ed. P. Bahl, S. 216 Zur Komplexität der Andrae-Überlieferung vgl. KGA III/1, Einleitung zur III. Abteilung.

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Einleitung der Bandherausgeberin

versprengte Einzelüberlieferungen. Dank dieser breiten Basis und Mehrfachbezeugungen zahlreicher Termine können Andrae-Texte verhältnismäßig leicht identifiziert und Fehler während des Abschreibeprozesses oftmals zuverlässig ermittelt werden.

a. Quellenbeschreibung Nachschriften der Andrae-Tradition befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr) und im Nachlass 481, außerdem im Geheimen Staatsarchiv (GStA), welches ehemalige Bestände des Fürstlichen Hausarchivs Dohna-Schlobitten (FHDS) beherbergt, sowie im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) im dortigen Schleiermacher-Nachlass (SN). Des Weiteren sind auf verschollene Vorlagen zurückgehende Texte als Druck in den Sämmtlichen Werken (SW II/8 und SW II/ 10)65 erhalten. SBB, SAr 83–85: Diese Manuskripte sind Teil der umfangreichen „Sammlung Witwe Schleiermacher“, deren Bestand der Verleger Georg Andreas Reimer im Juni 1834 zwecks Herausgabe einer vollständigen Ausgabe der Werke Schleiermachers von dessen Frau angekauft hat. Sie beinhalten 25 auf losen Einzel- und Doppelblättern geschriebene Predigten in Reinschrift aus dem Zeitraum vom 9. Juni 1822 bis 28. Dezember 1823, die vermutlich zeitnah zu ihrem Vortrag auf Basis verlorengegangener Vorlagen von unbekannter Schreiberhand zu Papier gebracht wurden. Die Texte wurden an Schleiermacher geliefert und von ihm teilweise als Bearbeitungsgrundlage für Publikationen zurückgelegt66. Kleinere Eingriffe von Schleiermachers Hand weisen zudem darauf hin, dass er die Nachschriften nicht nur archiviert, sondern auch nochmals gelesen und somit autorisiert hat. Die Texte stehen in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zu denen der Andrae-Bände (SAr 102–105) und weisen gelegentlich eine unkonventionelle und inkonsequente Schreibung von Worten und Zeichen auf. SBB, SAr 102–105: Diese Mappen beinhalten vier von insgesamt sechs Halbleder-Bänden mit Predigtmanuskripten aus dem Privatbesitz Andraes. Sie umfassen eine umfangreiche Sammlung von Predigtnachschriften der Zeit von Trinitatis bis Totensonntag der Jahre 1822 sowie 1823 (693 gezählte Seiten sowie 251 Blatt) und von Advent bis Pfingsten der Jahre 1822/23 sowie 1823/24 (894 gezählte Seiten sowie 305 Blatt), die von mehreren Schreibern in Reinschrift 65 66

Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, Bd. 8, Berlin 1837; Bd. 10, Berlin 1856, ed. A. Sydow Vgl. SAr 121, Bl. 5v–6v

Editorischer Bericht

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angefertigt wurden. Da die Bände von Adolf Sydow für die Edition der Predigten in den Sämmtlichen Werken angekauft und verwertet wurden, sind sie teilweise unvollständig und ihre Blöcke vielfach gebrochen. Die in den Andrae-Bänden versammelten Manuskripte stehen in enger Beziehung zu den Andrae-Texten der „Sammlung Witwe Schleiermacher“. Sie gehen möglicherweise auf eine gemeinsame Vorlage zurück und wurden zeitnah zueinander angefertigt. Anders als bei den Manuskripten, die an Schleiermacher geliefert wurden, sind Schreibweise und Zeichensetzung in den Bänden in der Regel einheitlich und entsprechen weitgehend dem heutigen Empfinden (kleinere Abweichungen sind zumeist durch Schreiberwechsel bedingt). Typische Fehler im Abschreibeprozess hingegen treten geringfügig häufiger auf als bei den Parallelen in der „Sammlung Witwe Schleiermacher“. Im Ganzen sind beide Überlieferungsstränge in qualitativer Hinsicht als gleichwertig einzustufen. SBB, SAr 51: Diese Mappe beinhaltet 15 von einer nicht näher bekannten Person namens Betty Maquet gesammelte Predigten. Für das Jahr 1822 ist die Trinitatispredigt fadengeheftet und in Reinschrift von unbekannter Schreiberhand überliefert; sie kann aufgrund von Paralleltexten als der Andrae-Tradition zugehörig identifiziert werden, weist gegenüber diesen jedoch vermehrt Unsauberkeiten und Lesefehler auf. SBB, SAr 54: Diese Mappe beinhaltet auf 187 Blatt 18 Predigtmanuskripte der Jahre 1818 bis 1831, die überwiegend einzeln in Fadenheftung und mit geklebtem Falz vorliegen. Die in Reinschrift verfassten Texte sind vermutlich durch Diktat des Prenzlauer Predigers Karl Friedrich August Schirmer entstanden und im Zusammenhang mit der geplanten Predigtedition in den Sämmtlichen Werken für Adolf Sydow angefertigt worden, der sie im März 1835 über Ludwig Jonas erhielt.67 Drei der Predigten sind durch Vergleich mit Parallelzeugen als Andrae-Nachschriften zu identifizieren, darunter die Trinitatispredigt aus dem Jahr 1823. Der Text ist qualitativ hochwertig, weist aber vereinzelt typische, durch den Vervielfältigungsprozess bedingte Fehler auf. SBB, Nl. 481 (Predigten): Bei dem Nachlass handelt es sich um ein in Leder gebundenes Büchlein mit elf Predigtmanuskripten unterschiedlicher Schreiberhand und Urheberschaft sowie zwei Drucktexten (122 Bll. plus 10 Bll. Einlage). Für das Jahr 1822 beinhaltet es vier sauber abgeschriebene Predigtnachschriften, von denen drei (2. Juni vorm., 16. Juni vorm., 1. Dezember vorm.) aufgrund existierender Parallelen und eine (6. Januar vorm.) aufgrund von äu67

Vgl. SAr 121, Bl. 7v. Zu den Biographien der genannten Personen vgl. KGA III/1, Einleitung zur III. Abteilung.

XXXVI

Einleitung der Bandherausgeberin

ßeren Merkmalen der Andrae-Tradition zugeordnet werden können. Die Texte sind qualitativ hochwertig; ihr Verhältnis zur „Sammlung Witwe Schleiermacher“ und den Andrae-Bänden kann jedoch aufgrund der schmalen Vergleichsbasis und der unklaren Herkunft des Bandes nicht näher bestimmt werden. GStA, FHDS 34, Nr. 103: Im ehemaligen Hausarchiv der Fürsten Dohna zu Schlobitten sind fünf fadengeheftete Predigtreinschriften aus dem Jahr 1823 von verschiedenen Schreiberhänden erhalten, die der Andrae-Tradition zugeordnet werden können. Die Predigt vom Himmelfahrtstag liegt in zweifacher Ausführung vor, wobei ein Exemplar (103/2) anhand von Schrift und Machart der Tradition der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ (s. o. SBB, SAr 83–85) zuzurechnen ist und sich wohl zeitweise in Schleiermachers Besitz befunden hat. Bei der zweiten Nachschrift zu dem Termin (103/1) handelt sich um einen vom ersten Exemplar unabhängigen Text, der vermutlich über Henriette Herz nach Schlobitten kam, da sie in einem Brief an Graf Wilhelm vom 25. Oktober 1823 ankündigt, sie werde auf Betreiben des Grafen Alexander die Himmelfahrtspredigt schicken „sobald ich sie werde können abschreiben lassen“68. Welche Vorlage der Nachschrift genau zugrunde liegt, ist nicht mehr zu ermitteln. Die mit kleinen Korrekturen und Unterstreichungen Graf Alexanders versehene Nachschrift übertrifft interessanterweise jedoch die Traditionen der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ und der Andrae-Bände an Sauberkeit und Fehlerfreiheit, weswegen sie im vorliegenden Band als Leittext geboten wird. Anders verhält es sich mit der ebenfalls doppelt überlieferten Predigt zum Trinitatissonntag 1823. Die von bisher unbekannter Schreiberhand zu Papier gebrachte Nachschrift 103/4 ist mit einer Überschrift von Henriette Herz versehen und im Detail von Graf Alexander bearbeitet; sie ist allerdings schlechterer Qualität als das unter der Nummer 103/3 vorliegende Exemplar. Beide Texte lassen die schleiermachertypischen Anreden der Zuhörer (m. g. F. usw.) aus und gehen mit großer Wahrscheinlichkeit auf eine gemeinsame Vorlage zurück. Der Schreiber der Predigt 103/3, deren Herkunft unbekannt ist, ist bei der Abschrift sehr zuverlässig verfahren und hat sauber gearbeitet. Die Nachschrift unterscheidet sich von der in den Andrae-Bänden erhaltenen Tradition vor allem durch vermehrte Kommasetzung und einige orthographische Varianten, ist ihr aufgrund der o. g. Textbereinigungen jedoch nachzuordnen. Von gleicher Schreiberhand ist im Dohna’schen Hausarchiv auch eine Nachschrift zum 6. Sonntag nach Trinitatis 1823 erhalten. Hier fehlen ebenfalls die schleiermachertypischen Höreranreden – qualitativ ist 68

Zitiert nach: Ungedruckte Predigten, ed. J. Bauer, S. 20, Anm. 1. Der Brief ist heute verschollen; vermutlich ist er im Zweiten Weltkrieg vernichtet worden.

Editorischer Bericht

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der Text aber nicht mit der Tradition der Andrae-Bände zu vergleichen, denn er weist vermehrt Wortauslassungen und -umstellungen sowie Unsauberkeiten und Lesefehler auf. ABBAW, SN 602/1; 604/1–2: Bei diesem Material handelt es sich um drei über Paralleltexte als Andrae-Nachschriften zu identifizierende Predigtreinschriften des Jahres 1822 (29. Dezember vorm. sowie 2. Juni vorm. und 16. Juni vorm.) von zwei verschiedenen Schreiberhänden, wobei die Handschrift des Fragments SN 602/1 mit der von SN 604/2 übereinstimmt. Die Predigten liegen jeweils ungebunden in Lagen vor und sind qualitativ hochwertig. Eine nähere Verhältnisbestimmung zu den Paralleltexten ist nicht möglich. SW II/8 und SW II/10: Die von Adolf Sydow in SW II/8 publizierten 35 Homilien über die ersten sechs Kapitel des Johannesevangeliums gehen – mit Ausnahme der Predigt XXXV – vollständig, die in SW II/10 abgedruckten Homilien über den Philipperbrief in neun von 30 Fällen auf Manuskripte Andraes zurück. Die im Zuge des Druckprozesses verlorengegangenen Vorlagen sind zumeist den Andrae-Bänden (s. o. SBB, SAr 102–105) und teilweise auch der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ (s. o. SBB, SAr 83–85) entnommen. Zur Bewertung der gedruckten Predigten sind die Aussagen Sydows zu berücksichtigen. Im Vorwort zu SW II/8 sagt er bezüglich der Johanneshomilien: „Wer mit Schl.’s Darstellungsweise vertraut ist, wird zu der äußeren Versicherung bald auch das innere Zeugniß gewinnen, daß die Treue dieser Nachschriften bis zur wörtlichen Uebereinstimmung geht. Nur an wenigen Stellen hatte ich dieses Zeugniß nicht, wo etwa äußere Zufälligkeiten den Nachschreibenden an der genauen Auffassung gehindert hatten; aber es sind deren sehr wenige und sie umfassen höchstens einige Sätze. In diesen Fällen habe ich im Context dasjenige hingestellt, was aus der Nachschrift wahrscheinlich und dem Gedankengange nothwendig schien. Wo etwa, wie es dem Verewigten doch auch zuweilen, wenngleich nicht häufig, begegnete, eine fallen gelassene Construktion oder eine andere unwesentliche Unvollkommenheit des Ausdrucks sich vorfand, habe ich dieselbe mit Freuden über die Treue meiner Quelle, die auch dies wiedergab, unbedenklich verbessert.“69 Ein Vergleich von vier in SW II/8 publizierten Nachschriften mit erhaltenen Paralleltexten aus der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ bestätigt diese Angaben. In SW II/10 hingegen macht Sydow in seinem Vorwort zu den Philipperhomilien die knappe Aussage, die Predigten seien „aus Nachschriften hergestellt, welche fast wortgetreu sind“70. In einem der neun Fälle, in denen Andrae-Nach69 70

SW II/8, S. VII–VIII SW II/10, S. VI

XXXVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

schriften die Textbasis bilden, kann anhand des Vergleichs mit der erhaltenen Vorlage eine Kompilation mit einer Nachschrift August Friedrich Wilhelm Königs (s. u. Punkt E.) als wahrscheinlich gelten, während bei den übrigen Andrae-Vorlagen nur die typischen editorischen Kleinkorrekturen und geringfügige Anpassungen vorgenommen wurden.71

b. Editionsbesonderheiten Aufgrund der nachträglichen Autorisierung durch Schleiermacher wird die Tradition der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ gegenüber anderen Andrae-Texten bei der Edition bevorzugt.72 Fehlende Worte und Satzteile können oftmals mithilfe paralleler Andrae-Traditionen identifiziert bzw. rekonstruiert und im Text ergänzt werden. Auf die Hinzufügung bzw. den Nachweis kleinerer Füllwörter wird verzichtet, wenn ihr Fehlen das Textverständnis nicht beeinträchtigt. Differenzen im Wortlaut oder in der Wortfolge zweier oder mehrerer Andrae-Texte werden nur mitgeteilt, wenn sie von inhaltlicher Bedeutung sind; Synonyme bleiben unberücksichtigt. Kleinere Lücken am Zeilenende können in den beiden Andrae-Hauptüberlieferungssträngen (hier SBB, SAr 83–85 und 102– 105) nicht eindeutig als Absatz identifiziert werden und bleiben daher unberücksichtigt. Ungewöhnliche Interpunktion in Predigtüberschriften wird stillschweigend getilgt. Folgende Auflösungen von Abbreviaturen werden im Fließtext stillschweigend vorgenommen: mit sich und von

71 72

t s u. v.

Leider verfuhr Sydow nicht immer editorisch korrekt. Zur Problematik seiner Edition der Philipperhomilien s. u. Punkt H. Ausnahmen bilden die Predigten vom 8. Dezember 1822 früh und vom 8. Mai 1823 vorm. Bei ersterer hat der Schreiber der „Sammlung Witwe Schleiermacher“ in seiner Vorlage nachweislich eine Seite überschlagen, die im Paralleltext der Andrae-Bände überliefert ist. Zu letzterer s. o. Punkt B. a. unter GStA, FHDS 34, Nr. 103.

Editorischer Bericht

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c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf Texten der AndraeTradition: 06. 01. 1822 02. 06. 1822 09. 06. 1822 16. 06. 1822 23. 06. 1822 07. 07. 1822 14. 07. 1822 21. 07. 1822 28. 07. 1822 04. 08. 1822 04. 08. 1822 11. 08. 1822 18. 08. 1822 25. 08. 1822 08. 09. 1822 13. 10. 1822 20. 10. 1822 03. 11. 1822 10. 11. 1822 01. 12. 1822 08. 12. 1822 15. 12. 1822 22. 12. 1822 22. 12. 1822 26. 12. 1822 29. 12. 1822 01. 01. 1823 05. 01. 1823 12. 01. 1823 19. 01. 1823 26. 01. 1823 02. 02. 1823 09. 02. 1823 09. 02. 1823 16. 02. 1823 23. 02. 1823 02. 03. 1823 09. 03. 1823 16. 03. 1823

vorm. vorm. früh vorm. früh nachm. vorm. vorm. vorm. früh nachm. vorm. früh vorm. vorm. früh vorm. vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. nachm. früh vorm. früh vorm. früh

23. 03. 1823 31. 03. 1823 06. 04. 1823 13. 04. 1823 19. 04. 1823 20. 04. 1823 23. 04. 1823 27. 04. 1823 04. 05. 1823 08. 05. 1823 11. 05. 1823 18. 05. 1823 25. 05. 1823 01. 06. 1823 08. 06. 1823 15. 06. 1823 15. 06. 1823 22. 06. 1823 29. 06. 1823 06. 07. 1823 13. 07. 1823 20. 07. 1823 27. 07. 1823 27. 07. 1823 03. 08. 1823 12. 10. 1823 19. 10. 1823 26. 10. 1823 02. 11. 1823 09. 11. 1823 16. 11. 1823 23. 11. 1823 30. 11. 1823 07. 12. 1823 14. 12. 1823 21. 12. 1823 25. 12. 1823 26. 12. 1823 28. 12. 1823

vorm. früh vorm. früh mittags vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. vorm. früh vorm. früh nachm. vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. vorm. vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. früh vorm. früh

XL

Einleitung der Bandherausgeberin

C. Crayen-Predigtnachschriften Informationen zur Person Caroline Crayen, von der einige Briefe an Schleiermacher (SN 623, Bl. 8r–9r) sowie an Adolf Sydow (SAr 106, Beilage B, Bl. 1r) erhalten sind, lassen sich nicht zuverlässig ermitteln. Sie war befreundet mit „Demoiselle Woltersdorff“ (s. u. Punkt G.) und fertigte sowohl zusammen mit ihr als auch eigenständig Predigtnachschriften an. Die Manuskripte Crayens, die auf Predigten zurückgehen, welche in der Zeit von 1814–1831 gehalten wurden, sind unterschiedlich ausführlich und geben Schleiermachers Gedankengang in weitgehend freien Worten wieder. Sie fallen in Hinblick auf die Interpunktion und Orthographie vor allem durch zahlreiche Gedankenstriche in unterschiedlicher Funktion bzw. durch die häufige und markante Schreibung von -ck statt -k auf.

a. Quellenbeschreibung Die Nachschriften Crayens befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr) sowie im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) im Schleiermacher-Nachlass (SN). SBB, SAr 106: Diese Mappe enthält 21 Predigtmanuskripte Crayens auf 61 Blatt in Fadenheftung und losen Doppelblättern. Sie sind dem Woltersdorff-Kreis (s. u. Punkt G.) zuzuordnen und haben typischen Auszugscharakter. Zwölf der Predigten aus Mappe 106 sind von Crayen selbst und neun über Woltersdorff an Adolf Sydow geliefert worden.73 Unter diesen befinden sich aus dem Jahr 1822 die Predigten vom 26. Mai vorm. und vom 23. Juni früh, wobei erstere in Zusammenarbeit mit einer unbekannten Schreiberin aus dem Woltersdorff-Kreis verfasst ist. ABBAW, SN 618/1; 619/5; 621/1–3.5–7: Bei diesem Material handelt es sich um drei kleine Hefte im Querformat mit Predigtnachschriften von Crayens Hand, die teilweise eigene Predigterinnerungen und teilweise dispositionenhafte Auszüge von Nachschriften Woltersdorffs sind. Sie sind jeweils in einem Zuge entstanden und Schleiermacher als Geschenk übersandt worden.74 SN 618 enthält auf 29 Blatt sieben chronologisch geordnete Predigtnachschriften der Homilienreihe zum Johannesevangelium 1823–1827, die mit dem Titel „Erinnerungen aus den Frühpredigten zum Johannes“ versehen sind. 73 74

Vgl. SAr 121, Bl. 1r–3v Vgl. Crayens Briefe an Schleiermacher, in: SN 623, Bl. 8r–9r

Editorischer Bericht

XLI

Es handelt sich um eine Auswahl aus Crayens Johannes-Sammlung, die ursprünglich wohl alle 95 Predigten umfasste und von denen noch 21 in SAr 107 erhalten sind. SN 619 enthält auf 17 Blatt fünf zeitlich ungeordnete Predigtnachschriften der Jahre 1822 bis 1830, SN 621 auf 20 Blatt sieben ebensolche Manuskripte zu Predigten, die Schleiermacher im Zeitraum von 1822 bis 1824 hielt. Für den vorliegenden Band war aus SN 619 eine Nachschrift zu Himmelfahrt am 16. Mai 1822 vorm. zu berücksichtigen; aus SN 621 wurden jeweils eine Nachschrift der Predigten zum 24. Februar 1822 nachm. und zum 26. Mai 1822 vorm. sowie für das Jahr 1823 zum 20. Juli vorm., zum 12. Oktober vorm., zum 7. Dezember vorm. und zum 25. Dezember früh ausgewertet.

b. Editionsbesonderheiten Für die dem Woltersdorff-Kreis zuzurechnende Predigt vom 26. Mai 1822 vorm. gelten die unten Punkt G. b. gemachten Angaben. Folgende Auflösungen von Abbreviaturen werden stillschweigend vorgenommen (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): Apostel Herr -lich/-lisch und

Apst. H u.

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf Nachschriften Crayens: 16. 05. 1822 vorm. 26. 05. 1822 vorm.

D. Gemberg-Predigtnachschriften August Friedrich Leopold Gemberg (geb. 1797; gest. 1850), ab 1827 Pastor in Seebeck und Struvensee und ab 1832 Oberprediger in Meyenburg,75 war von Oktober 1814 bis Oktober 1819 Theologie75

Vgl. EPMB 2, S. 238

XLII

Einleitung der Bandherausgeberin

student an der Universität Berlin76. Predigtnachschriften existieren für den Zeitraum von Januar 1818 bis April 1824 und liegen teilweise als knappe Dispositionen, teilweise als ausführliche Texte vor. Während erstere minderwertiger Qualität sind, sind letztere ihrem Wert nach in der Nähe der Andrae-Überlieferung zu verorten. Sie wurden, zum Teil wohl von professionellen Schreibern, in Reinschrift gebracht und erfuhren weitere Verbreitung.

a. Quellenbeschreibung Die Nachschriften Gembergs befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr) und im Nachlass 481. SBB, SAr 52: Bei dieser Mappe handelt es sich um ein kleinformatiges Heft mit Predigtdispositionen auf 168 in Lagen ineinander gelegten Einzel- und Doppelblättern. Die von Gembergs Hand in schlecht leserlicher Schrift verfassten Texte sind fortlaufend aneinandergereiht, aber nicht chronologisch geordnet und teilweise mit Aufzeichnungen über andere Prediger sowie mit Notizen versetzt. Die Predigten Schleiermachers liegen hier als sehr knappe, aus der Erinnerung niedergeschriebene Aufrisse vor, in denen der Gedankengang skizziert wird, die aber unter rhetorischem Aspekt keinerlei Wert besitzen. SBB, Nl. 481 (Predigten): Bei dem Nachlass handelt es sich um ein in Leder gebundenes Büchlein mit elf Predigtnachschriften unterschiedlicher Schreiberhand und Urheberschaft sowie zwei Drucktexten (122 Bll.) plus einer auf Gemberg zurückgehenden Einlage (10 Bll.). Jene ist eine ausführliche Nachschrift von Gembergs Hand zum 25. Dezember 1822. Die besondere Qualität dieses Textes ist durch seine Verwendung im Andrae-Band D (SAr 103, S. 128– 152) verbürgt, für welchen er zwecks Schließung einer Überlieferungslücke abgeschrieben wurde, wobei er jedoch eine Angleichung an die für Andrae typische Darstellungs- und Ausdrucksweise erfuhr (Beginn der Nachschrift mit Predigttext statt mit Kanzelgruß und Einleitung, Einfügung von Füllwörtern, Erweiterungen bei einigen Formulierungen, Änderungen in der Wortwahl, sprachliche Harmonisierungen).

b. Editionsbesonderheiten Unterschiedliche Darstellung der Textgliederung innerhalb einer Predigt wird vereinheitlicht. 76

Vgl. Matrikel, ed. P. Bahl, S. 53

Editorischer Bericht

XLIII

Folgende Auflösungen von Abbreviaturen werden im Fließtext stillschweigend vorgenommen (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): allgemein Alter Bund Apostel Auferstehung

allgem. A. B. Ap. Auferst./ Aufersteh. s. chr. Chr./χtus d. d. dse duh eigenth. Ersch. Evang./ Evange fr Gl. göttl.

aus christlich Christus das der diese durch eigthümlich Erscheinung Evangelium für Glauben göttlich

heilig Jesus Johannes Kirche -lich Magdalena Matthäus Menschengeschlecht menschlich nicht Reich Gottes Schleiermacher sein selbst und Vergangenheit Wahrheit Wirksamkeit

h./heil. J. Joh. K. Magdal. Math. Mgeschl. menschl. nht R. G. Schl. s. s. u. Vergangenh. Wahrh. Wirks.

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf Nachschriften Gembergs: 13. 01. 1822 20. 01. 1822 17. 02. 1822 14. 04. 1822

vorm. vorm. vorm. vorm.

28. 04. 1822 vorm. 25. 12. 1822 vorm. 30. 03. 1823 vorm.

E. König-Predigtnachschriften August Friedrich Wilhelm König (geb. 1796; gest. 1855), Prediger in Vietmannsdorf (Kreis Templin) und ab 1840 Diakon in Brandenburg a. d. Havel,77 war von Oktober 1817 bis März 1822 Theologiestudent an der Universität Berlin78. Von seinen Predigtnach77 78

Vgl. EPMB 2, S. 434 Vgl. Matrikel, ed. P. Bahl, S. 99

XLIV

Einleitung der Bandherausgeberin

schriften ist kein Original erhalten; die Texte können aber aus den Sämmtlichen Werken Bd. 9 und 1079 als sekundärer Quelle eruiert werden.

a. Quellenbeschreibung Für die Nachschriften Königs existiert keine Primärquelle. SW II/10: 13 Predigtnachschriften von König aus den Jahren 1822/23 sind von Adolf Sydow für die Edition der Philipperhomilien Schleiermachers in SW II/10 verwendet worden. Leider fand diese Edition unter heute nicht mehr akzeptablen editorischen Gesichtspunkten statt, denn die Nachschriften wurden teilweise sehr stark bearbeitet und vielfach mit anderen Texten kompiliert (vgl. die detaillierte Beschreibung der Textproblematik unter Punkt H.). Ein Vergleich rekonstruierter König-Texte mit Andrae-Parallelen zeugt jedoch von der außerordentlichen Qualität dieser Nachschriften, da sie letztere an Ausführlichkeit noch übertreffen.

b. Editionsbesonderheiten Trotz des hohen Wertes der König-Tradition wird im vorliegenden Band auf einen Wiederabdruck der entsprechenden Texte aus SW verzichtet, da Sydows Verfahrensweise bei der Edition sehr undurchsichtig ist. Eine Ausnahme bildet die Nachschrift zum 12. Mai 1822 früh, da hier davon ausgegangen werden kann, dass Sydow seine Druckvorlage nicht oder nur geringfügig bearbeitet hat. Rekonstruktionsversuche werden zu drei Terminen (10. März 1822 früh, 21. April 1822 früh und 24. November 1822 früh) unternommen, weil kein anderer Predigtzeuge zur Verfügung steht bzw. der gewählte Leittext fragmentarisch ist. Auf eine Kennzeichnung möglicher Elemente aus anderen Quellen wird verzichtet, wenn von Sydow hergestellte Mischpassagen nicht sicher aufzuschlüsseln sind.

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf gedruckten Nachschriften Königs: 10. 03. 1822 früh 21. 04. 1822 früh 79

12. 05. 1822 früh 24. 11. 1822 früh

Friedrich Schleiermacher’s Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, Bd. 9, Berlin 1847; Bd. 10, Berlin 1856, ed. A. Sydow

Editorischer Bericht

XLV

F. Saunier-Predigtnachschriften Johann Carl Heinrich (Jean Charles Henry) Saunier (geb. 1801; gest. 1825)80, Domkandidat, studierte von Oktober 1819 bis Juli 1820 sowie von Oktober 1821 bis Oktober 1822 Theologie an der Universität Berlin81. Seine Nachschriften stammen aus der Zeit von 1822 bis 1825, sind mit Sorgfalt und Genauigkeit angefertigt82 und in Bezug auf Ausdruck und Wiedergabe des Gedankenganges von allgemein guter Qualität. Dennoch reichen sie nicht an Andraes Nachschriften heran: Adolf Sydow, der bei der Edition der Johanneshomilien eine Überlieferungslücke in der Andrae-Tradition mit einer Saunier-Nachschrift aufgefüllt hat, bezeichnet diese ausdrücklich als nicht wortgetreu.83

a. Quellenbeschreibung Die Nachschriften Sauniers befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr) sowie im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW) im Schleiermacher-Nachlass (SN). SBB, SAr 55: Diese Mappe umfasst 34 Predigtmanuskripte der Homilienreihe zum Johannesevangelium, von denen 15 aus dem Jahr 1823 stammen. Es handelt sich um Texte Sauniers, die nach seinem frühen Tod von dem Prenzlauer Prediger Karl Friedrich August Schirmer einem Kopisten diktiert und im Juli 1836 in Zusammenhang mit der geplanten Predigtedition der Sämmtlichen Werke an Adolf Sydow gesandt wurden. Die Aufzeichnungen Sauniers enden am 4. Dezember 1825 früh (SBB, SAr 56, Bl. 109) und umfassen insgesamt 309 Blatt. SBB, SAr 108: Diese Mappe beinhaltet fünf einer Person „von Oppen“ zugeschriebene Predigtmanuskripte aus dem Zeitraum 1822 bis 1831. Ihre Urheberin könnte Elisabeth von Oppen (geb. 1799; gest. 1883), Tochter des Hauptmanns Heinrich Ferdinand von Oppen, sein.84 Die Predigt vom 9. Juni 1822 über Phil 2,5–11, die 1836 über Ludwig Jonas an Adolf Sydow kam85, kann über ihre Parallele in SN 612/1 als Kopie einer Nachschrift Sauniers identifiziert werden. 80 81 82 83 84 85

Vgl. Französisch-Reformierte Friedrichstadt-Gemeinde, Taufbuch 1799–1808, in: ELAB 14/21; Totenbuch 1823–1832, in: ELAB 14/54 Vgl. Matrikel, ed. P. Bahl, S. 144. 189 Vgl. SAr 139, Bl. 1r Vgl. SW II/8, S. VIII Vgl. KGA III/1, Einleitung zur III. Abteilung Vgl. SAr 108, Bl. 1r

XLVI

Einleitung der Bandherausgeberin

Ob es sich dabei um die direkte Vorlage handelt, ist nicht zu erhellen; die Kopie weist gegenüber dieser Saunier-Nachschrift jedoch vermehrt Abkürzungen, kleinere Auslassungen und minimale Änderungen in der Wortwahl auf. ABBAW, SN 607/2–3; 608/1–3; 612/1; 614/2: Die Predigtnachschriften in SN stammen wahrscheinlich von Sauniers eigener Hand und sind Schleiermacher als väterlichem Freund übergeben worden. SN 608 enthält insgesamt drei Saunier-Nachschriften auf 8 Blatt (2+2+4 Bll.). Die ersten beiden sind Johanneshomilien aus dem Jahr 1823 (13. Juli früh und 27. Juli früh), die über die Paralleltexte in SAr 55 identifiziert werden können. Alle anderen Texte können Saunier aufgrund von Handschrift und Machart zugeordnet werden und umfassen jeweils 4 Blatt.

b. Editionsbesonderheiten Im vorliegenden Band ist kein Manuskript Sauniers als Leittext ediert.

c. Leittext-Termine Vgl. Punkt F. b.

G. Woltersdorff-Predigtnachschriften „Demoiselle Woltersdorff“ 86 ist namentlich nicht näher zu ermitteln; möglicherweise war sie die Tochter des Professors Ernst Gabriel Woltersdorff, welche 1835 als Lehrerin im „Allgemeinen Wohnungsanzeiger“ verzeichnet ist. Bei den ihr zugeordneten Predigtnachschriften handelt es sich um die Arbeit eines Schreiberkreises. Dem Zirkel, der nachweislich von 1819 bis 1832 tätig war, gehörten zeitweilig mindestens sechs Personen an, die wohl ausschließlich weiblich waren. Für die Jahre 1822/23 kann die Beteiligung von vier Nachschreiberinnen ausgemacht werden: Woltersdorff selbst, ihre Freundin Caroline Crayen (s. o. Punkt C.) und zwei Unbekannte.

a. Quellenbeschreibung Die Nachschriften des Woltersdorff-Kreises befinden sich in der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB) im Schleiermacher-Archiv (SAr). SBB, SAr 61–62: In diesen Mappen liegen insgesamt 101 Predigtmanuskripte des Woltersdorff-Kreises aus der Zeit vom 13. Ja86

Vgl. SAr 121, Bl. 1r. 3r

Editorischer Bericht

XLVII

nuar 1822 bis 3. August 1823 in Fadenheftung und losen Doppelblättern vor. Die im Juli und August 1834 im Rahmen der Vorbereitungen für die Sämmtlichen Werke an Adolf Sydow übergebenen Texte87 sind aufgrund ihres Auszugscharakters von nur mittelmäßiger Qualität88. Sie bieten zudem ein überwiegend unsauberes und optisch uneinheitliches Bild, da nicht selten zwei, oftmals auch mehr Schreiberinnen mit je spezifischen (ortho-)graphischen Eigenheiten an der Herstellung eines Manuskriptes beteiligt waren. Die genaue Verfahrensweise bei der Niederschrift ist nicht mehr rekonstruierbar, da die Texte offenbar mehrfach umhergereicht wurden und es außerdem unterschiedliche Bearbeitungsmodi gab: Im einfachsten Fall geht der erste Teil einer Nachschrift auf eine Person und der zweite Teil auf eine andere zurück. Oftmals aber korrigieren und ergänzen die Schreiberinnen einander und fügen ihre Zusätze in dafür vorgesehene Leerzeilen und Lücken oder als Bemerkungen (mit und ohne Einführungszeichen) am Rand der Predigt oder auch zwischen die Zeilen ein. Im Schriftbild fallen die Woltersdorff-Texte neben Silbenkontraktionen durch eine Fülle unterschiedlicher Schreibweisen auf, die auch bei den einzelnen Schreiberinnen nicht immer konsequent gehandhabt werden. So stehen z. B. „wider“ und „wieder“ in derselben Nachschrift gleichbedeutend nebeneinander; teilweise ist die Verwendung von k / kk / ck uneinheitlich und es kommt eine altertümliche Schreibweise vor, bei der Doppelkonsonanten fehlen (z. B. herlich, ofen, trift, betrit, wolten usw.). Ähnlich verhält es sich auch mit der Zeichensetzungspraxis: Kommasetzung, die den heutigen Gepflogenheiten entspricht, steht neben solcher, die keinem System zu folgen scheint. Außerdem gibt es vielfach Mehrdeutigkeiten: Ein langer Strich kann ein Interpunktionszeichen vertreten, für eine gedachte Fortführung im Sinne von „und so weiter“ oder auch für einen Absatz stehen, ein Lückenfüller nach einer Einfügung sein oder ein schlichter Gedankenstrich. Vieldeutig ist auch der Doppelpunkt, der neben seiner geläufigen Funktion vor Zitaten, Aufzählungen, Erläuterungen oder Zusammenfassungen auch nach einem Zitat stehen kann, wo er sowohl das Interpunktionszeichen ersetzen als auch in Funktion eines Anführungszeichens das Ende markieren kann.

b. Editionsbesonderheiten Leerzeilen und Lücken können wegen des undurchsichtigen Herstellungsprozesses der Woltersdorff-Manuskripte oftmals nicht ein87 88

Vgl. SAr 121, Bl. 1r. 3r Vgl. auch die Bewertungen Sydows in SAr 121, Bl. 1v–2r

XLVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

deutig als Hinweis auf Textverlust bzw. vorgesehene Ergänzungen verstanden und entsprechend behandelt werden. Im Zweifelsfalle wird auf ihr Vorhandensein im Textkritischen Apparat hingewiesen. Weil Länge und Höhe eines Spatiums von der jeweiligen Schreiberin abhängen und dieses auch lediglich als allgemeiner Hinweis auf eine zu tätigende Einfügung dienen kann, stellen Angaben zum Umfang eines Leerraumes nur einen Anhaltspunkt für die Größe einer möglichen Auslassung dar. In den Manuskripten vorkommende Kreuzchen am Seitenrand, deren Bedeutung unklar ist, bleiben unberücksichtigt. Als offenkundiger Schreibfehler wird, zur Entlastung des Textkritischen Apparates, die gehäuft vorkommende Verwechslung von „daß“ und „das“ behandelt. Fehlende oder ungewöhnlich gesetzte Satzzeichen werden nur ergänzt bzw. korrigiert, wenn das Textverständnis beeinträchtigt ist. Predigtüberschriften, die zumeist am rechten Manuskriptrand nachgetragen wurden, werden konsequent mittig gesetzt. Unterschiedliche Darstellungsweisen der Textgliederung innerhalb einer Predigt werden vereinheitlicht. Folgende Auflösungen von Abbreviaturen werden im Fließtext stillschweigend vorgenommen (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): Apostel Auferstehung Bund Christenthum Christus das der die durch Erlöser Erlösung Evangelium Fleisch Geist Gemeinde Gemeinschaft Gerechtigkeit gesagt

Apost./ Apst. Auferst./ Auferste. B. Christ. Ch./Christ. d. d. d. d E /Er Er Ev./Evangel. F G. Gem. Gemeinsch. Ger./Gerecht. ges.

geschwiegen Glaube glauben gläubig Gott h. Herr Herz Hohepriester Israeliter Jerusalem Johannes Kreuz Leben -lich/-lisch Mensch Menschenkinder Paulus Petrus Pfingstt.

geschw. G ./Gl. gl. gl. G. heilig H. H. Hohepr. Is. Jerus. Joh. + L. Msch Mschkind. P. Petr. Pfingsttag

Editorischer Bericht

Philipper

Phil./Phil Philp. Phil. s. Selbstverl.

Philippus sein Selbstverleugnung Sonne Sonntag

XLIX

und Ungerechtigkeit Unglaube von Wahrheit Wirksamkeit Wort zugleich

S. S./Sonnt.

d./u. Ungerecht. Ung v. Wahrh. Wirksamk. W. zugl.

c. Leittext-Termine und Übersicht der vorkommenden Schreiberhände Schreiberhand

Woltersdorff

Crayen

Unbekannt 1

Termin 13. 01. 1822 früh

x

x

27. 01. 1822 03. 02. 1822 10. 02. 1822 24. 02. 1822 03. 03. 1822 17. 03. 1822

früh vorm. früh früh vorm. vorm.

x x x x x x

x x

24. 03. 1822 vorm. 05. 04. 1822 früh 07. 04. 1822 vorm.

x x x

08. 04. 1822 nachm. 01. 05. 1822 früh 05. 05. 1822 19. 05. 1822 27. 05. 1822 24. 11. 1822 28. 03. 1823

vorm. früh früh früh früh

x

x x

x x

Unbekannt 2

x x x

x

x x

x x

x x

x

x

x

x

x x x

L

Einleitung der Bandherausgeberin

H. Schleiermachers Homilienreihe zum Philipperbrief 1822–1823 a. Überlieferungslage und Editionsbesonderheiten Die Philipper-Frühpredigten der Jahre 1822 und 1823 liegen in zweifacher Gestalt vor: zum einen im Schleiermacher-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin89 als Nachschriften von Andrae, Gemberg und Woltersdorff, welche jedoch jeweils nicht die gesamte Predigtreihe umfassen, und zum anderen als Drucktexte in SW II/10. Hier bietet der Herausgeber Adolf Sydow seinen eigenen Angaben zufolge eine „vollständige, zusammenhängende Auslegung des Briefes an die Philipper“90, die den Morgengottesdiensten der Jahre 1822–23 entstammt91. Bei näherer Betrachtung der Drucktexte ergeben sich jedoch einige verwirrende Tatsachen: Erstens hat Schleiermacher 1822 und 1823 nachweislich nur an 21 Tagen seine Philipperhomilien gehalten, während Sydow 30 Texte ediert.92 Zweitens werden sowohl zu dem Predigttext Phil 2,5–11 als auch zu Phil 3,12–14 jeweils zwei Predigten geboten. Drittens besteht das Problem, dass eine Gegenüberstellung der in SW edierten Materialien mit o. g. Nachschriften in 21 Fällen nicht gelingt, während gleichzeitig die Verwendung von insgesamt neun Andrae-Manuskripten festgestellt werden kann, von welchen zwei nachweislich erweitert wurden. Um die Problematik zu erhellen, ist ein Blick auf die Druckvorlagen und die Arbeitsweise Sydows zu werfen: Im Vorwort zu SW II/ 10 sagt er, die Predigten seien, „wie die früheren über den Johannes, aus Nachschriften hergestellt, welche fast wortgetreu sind“93. Für diese vormals herausgegebenen Predigten verwendete Sydow zur Edition der Kapitel 1–6 in SW II/8 nahezu ausnahmslos Manuskripte Johann Gottfried Andraes (s. o. Punkt B.).94 Da dieser Überlieferungsstrang nach dem sechsten Kapitel endet, basiert die Edition der folgenden zehn Kapitel in SW II/9 auf Nachschriften August Friedrich Wilhelm Königs (s. o. Punkt E.).95 89

90 91 92

93 94 95

Das Schleiermacher-Archiv (Depositum 42a) ist Teil des Verlagsarchives Walter de Gruyter und umfasst die Bestände des ehemaligen Verlages G. Reimer. Es beinhaltet die von Adolf Sydow zwecks Auswertung für die Publikation der Sämmtlichen Werke gesammelten Predigtnachschriften. SW II/10, S. VI Vgl. SW II/10, S. X Das Problem ist W. von Meding bei der Erarbeitung seiner Predigtliste nicht aufgefallen. Die Angaben zu Datum bzw. Textabgrenzung der unter den Nummern P 456–P 485 aufgeführten Predigten sind fehlerhaft. Vgl. Meding, Bibliographie, S. 314–318 SW II/10, S. VI Vgl. SW II/8, S. VII–VIII Vgl. SW II/9, Vorbemerkung

Editorischer Bericht

LI

Im Vorwort zu SW II/10 nennt Sydow zwar keinen Urheber der auf ihn gekommenen Nachschriften, eine Notiz im Hauptbuch IV des Verlages G. Reimer96 belegt jedoch für Februar 1846 eine Zahlung von 68 Reichstalern an König, die dieser für 30 Predigten über den Philipperbrief erhalten hat. Neben 14 Andrae-Texten lag Sydow damit ein weiterer, umfangreicherer Zeuge für die Homilienreihe vor, der als wortgetreu galt. Diese Manuskripte, von denen kein Original mehr erhalten ist, muss Sydow in denjenigen Fällen verwendet haben, in denen Andrae-Nachschriften nachweislich nicht Druckvorlage sind. Um welche Texte handelte es sich bei den insgesamt 30 angekauften Nachschriften? Ihr Urheber war vom 17. Oktober 1817 bis 1. März 1822 an der Universität Berlin als Theologiestudent immatrikuliert, womit ein grober Zeitrahmen für seine Nachschreibetätigkeit abgesteckt ist. Ein Blick in das Predigtkalendarium Schleiermachers (vgl. KGA III/1) legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den zusätzlich zu den Manuskripten der Jahre 1822 und 1823 gelieferten Philipper-Materialien in erster Linie um Nachschriften einer früheren Homilienreihe handelte, die Schleiermacher 1817/1818 in seinen Nachmittagsgottesdiensten hielt (vgl. KGA III/5). Unter Berücksichtigung von Textzeugen für diese Predigtreihe97 sowie der Einsegnungsrede vom 26. Mai 1826 mittags, können die 21 in SW II/10 enthaltenen Texte, die keine Andrae-Vorlage haben, in der Tat weitgehend aufgeschlüsselt und terminlich zugeordnet werden. Dabei werden starke Eingriffe Sydows erkennbar, die sich dahingehend zusammenfassen lassen, dass die Ausgangstexte nicht nur miteinander verschmolzen, sondern auch beliebig gekürzt, erweitert und umgestellt wurden, um offensichtlich alle verfügbaren Materialien zusammenzuführen.98 Die in SW II/10 abgedruckten Philippertexte sind somit in weiten Teilen aus König-Vorlagen kompilierte Textneuschöpfungen; nur selten ist die Vorlage unverändert geblieben. Sie sind daher zweifach zu bewerten: Einerseits zeugt die Tatsache, dass Sydow nur dort Andrae-Manuskripte verwendete, wo er einer König-Vorlage entbehrte, davon, dass es sich um Nachschriften allererster Güte handelte. Andererseits sind die Eingriffe in die Textstruktur so stark, dass zumeist nur unzureichende Rückschlüsse auf die ursprüngliche Gestalt der Predigten und ihren Argumentationsgang möglich sind. 96 97

98

SBB, Dep. 42, Nr. 319, S. 13 Hierbei handelt es sich um Nachschriften von Ludwig Jonas. Außerdem sind Manuskripte von zwei nicht näher bekannten Frauen namens Betty Maquet und Jenny Balan erhalten, welche mit der Jonas-Tradition zusammenhängen. Kleinere Textverluste nahm Sydow dabei in Kauf, da bei der Zusammenführung der Texte teilweise Überschüsse entstanden, die er nicht weiterverwenden konnte.

LII

Einleitung der Bandherausgeberin

b. Übersichten zur Textproblematik Tabelle 1: Rekonstruktion der Homilienreihe zum Philipperbrief 1822–1823 Datum

Tag

Text

13. 01. 1822

1. SnE

Phil 1,1–11

27. 01. 1822

3. SnE

Phil 1,12–18

10.0 2. 1822

Sexagesimae

Phil 1,19–24

10. 03. 1822

Oculi

Phil 1,25–27

21. 04. 1822

Misericordias Domini

Phil 1,28–30

12. 05. 1822

Rogate

Phil 2,1–4

09. 06. 1822

1. SnT

Phil 2,5–11

23. 06. 1822

3. SnT

Phil 2,12–16

04. 08. 1822

9. SnT

Phil 2,16–18

18. 08. 1822

11. SnT

Phil 2,19–30

13. 10. 1822

19. SnT

Phil 3,1–3

10. 11. 1822

23. SnT

Phil 3,4–9

24. 11. 1822

25. SnT

Phil 3,9–11

08. 12. 1822

2. SiA

Phil 3,12–14

22. 12. 1822

4. SiA

Phil 3,13–16

05. 01. 1823

SnN

Phil 3,17–21

19. 01. 1823

2. SnE

Phil 4,1–4

02. 02. 1823

Sexagesimae

Phil 4,5–7

16. 02. 1823

Invocavit

Phil 4,8–9

02. 03. 1823

Oculi

Phil 4,10–13

16. 03. 1823

Judica

Phil 4,14–23

Editorischer Bericht

LIII

Tabelle 2: Rekonstruktion der von A. F. W. König an A. Sydow gelieferten Philipperpredigten (Liste) Vorbemerkungen: Die Tabelle verzeichnet 25 der insgesamt 30 Manuskripte samt zugehörigen Terminen. Für die Identifizierung der übrigen fünf Texte gibt es keine konkreten Anhaltspunkte. Einige Wahrscheinlichkeit für sich hat die Lieferung eines Textes zur geschichtlich bedeutsamen Unionsfeier am Palmsonntag, den 31. März 1822, über Phil 2,1–4, für welchen Sydow aufgrund der spezifischen Thematik keine Verwendung hatte. Außerdem können Nachschriften zu bisher unbekannten Terminen über Phil 1,19–20 und Phil 4,4–5 vorhanden gewesen sein, da SW II/10 zu diesen Bibelstellen Mischtexte bietet, von denen weite Teile nicht zugeordnet werden können und die nicht auf ihn selbst zurückzuführen sind. Die übrigen zwei Manuskriptlieferungen können lediglich anhand der bekannten Predigttermine Schleiermachers vermutet werden. In Frage kämen hier Aufzeichnungen zur Synodeneröffnung am 11. November 1817 (Predigt über Phil 3,12), zum 2. Weihnachtstag 1820 (Predigt über Phil 2,5–7) und zum Totensonntag, den 21. November 1824 (Predigt über Phil 3,20–21). Datum

Tag

Text

08. 06. 1817, nachm.

1. SnT

Phil 1,1–11

22. 06. 1817, nachm.

3. SnT

Phil 1,12–20

06. 07. 1817, nachm.

5. SnT

Phil 1,21–27

20. 07. 1817, nachm.

7. SnT

Phil 1,27–30

14. 09. 1817, nachm.

15. SnT

Phil 2,5–11

28. 09. 1817, nachm.

17. SnT

Phil 2,12–18

12. 10. 1817, nachm.

19. SnT

Phil 2,19–30

26. 10. 1817, nachm.

21. SnT

Phil 3,1–11

23. 11. 1817, nachm.

25. SnT

Phil 3,12–14

25. 12. 1817, nachm.

1. Weihnachtstag

Phil 4,4

04. 01. 1818, nachm.

SnN

Phil 4,6–7

13. 01. 1822, früh

1. SnE

Phil 1,1–11

27. 01. 1822, früh

3. SnE

Phil 1,12–18

10. 02. 1822, früh

Sexagesimae

Phil 1,19–24

10. 03. 1822, früh

Oculi

Phil 1,25–27

LIV

Einleitung der Bandherausgeberin

21. 04. 1822, früh

Misericordias Domini

Phil 1,28–30

12. 05. 1822, früh

Rogate

Phil 2,1–4

09. 06. 1822, früh

1. SnT

Phil 2,5–11

23. 06. 1822, früh

3. SnT

Phil 2,12–16

04. 08. 1822, früh

9. SnT

Phil 2,16–18

18. 08. 1822, früh

11. SnT

Phil 2,19–30

24. 11. 1822, früh

25. SnT

Phil 3,9–11

19. 01. 1823, früh

2. SnE

Phil 4,1–4

02. 02. 1823, früh

Sexagesimae

Phil 4,5–7

06. 05. 1826, mittags

Einsegnungsrede, Samstag Phil 2,12 (keine Homilie)

Tabelle 3: Aufschlüsselungsversuch der in SW II/10 abgedruckten Philipperpredigten Vorbemerkungen: Im Folgenden sind die 30 in SW II/10 abgedruckten Philipperhomilien gemäß ihrer dortigen Zählung aufgelistet und aufgeschlüsselt. Zu jeder Predigt werden die wahrscheinlich verwendeten Predigtnachschriften angegeben; ihre Identifizierung erfolgt mittels Parallelzeugen aus dem Schleiermacher-Archiv (SAr) der Staatsbibliothek zu Berlin. Liegen diese Vergleichstexte nicht vor, handelt es sich um erschlossene Angaben. Zum Punkt „Textaufbau“ ist zu beachten, dass die Zählung einer Predigt mit der ersten Textzeile unter der von Sydow vergebenen Predigtnummer beginnt und auch Leerzeilen umfasst; Abtrennstriche nach dem Predigttext werden diesem hinzugerechnet. Außerdem ist die Zuweisung einzelner Textabschnitte zu einer bestimmten Quelle nicht immer mit Sicherheit möglich. Mit „vermutl.“ gekennzeichnete Abschnitte gehen entweder auf Sydow oder auf eine Nachschrift ohne erhaltenen Parallelzeugen zurück. In den Sydow explizit zugeordneten Abschnitten sind teilweise aus den Quellentexten aufgenommene kleinere Bruchstücke nicht gesondert benannt. Gleichermaßen wurde bei den konkreten Quellen zugewiesenen Abschnitten mit gelegentlich vorhandenen Übergangssätzen Sydows an den Texträndern verfahren. Die Möglichkeit, dass darüber hinaus Eingriffe Sydows vorliegen, wird durch die Bemerkung „evtl. Sydow“ bezeichnet. Textabschnitte, die zwei Quellen gleichermaßen zugewiesen werden, sind von Sydow hergestellte Mischtexte, deren Auflösung nur schwer oder gar nicht

Editorischer Bericht

LV

gelingt, weil sich in beiden Vorlagen derselbe Gedanke findet. Auf eine mögliche Zuordnung kleinerer Passagen wird bei diesen Mischtexten verzichtet. Predigt in SW II/10: I. Phil 1,1–5, S. 337–350 Verwendete Predigtnachschriften: König, 8. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,1–11 König, 13. Januar 1822 früh, Phil 1,1–11 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 8. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,1–11 (SAr 38, S. 423–425) Woltersdorff, 13. Januar 1822 früh, Phil 1,1–11 (SAr 61, Bl. 2r–6r)

Textaufbau: Textkompilation S. 337, Z. 1–S. 338, Z. 2 (aus 1817) S. 338, Z. 3–25 (aus 1822) S. 338, Z. 25–30 (aus 1817) S. 338, Z. 30–S. 339, Z. 2 (aus 1822) S. 339, Z. 4–12 (Predigttext) S. 339, Z. 13–S. 340, Z. 2 (aus 1822) S. 340, Z. 3–18 (vermutl. Sydow) S. 340, Z. 19–30 (aus 1822) S. 340, Z. 30–S. 341, Z. 22 (vermutl. Sydow) S. 341, Z. 22–S. 342, Z. 21 (aus 1822) S. 342, Z. 22–30 (vermutl. Sydow) S. 342, Z. 31–S. 345, Z. 27 (aus 1822) S. 345, Z. 28–S. 346, Z. 17 (vermutl. Sydow) S. 346, Z. 18–S. 348, Z. 21 (aus 1822) S. 348, Z. 21–S. 349, Z. 12 (vermutl. Sydow) S. 349, Z. 13–24 (aus 1822 + evtl. Sydow) S. 349, Z. 24–S. 350, Z. 22 (vermutl. Sydow)

Predigt in SW II/10: II. Phil 1,6–11, S. 351–368 Verwendete Predigtnachschriften: König, 8. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,1–11 König, 13. Januar 1822 früh, Phil 1,1–11 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 8. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,1–11 (SAr 38, S. 423–425) Woltersdorff, 13. Januar 1822 früh, Phil 1,1–11 (SAr 61, Bl. 2r–6r)

Textaufbau: Textkompilation S. 351, Z. 1–18 (Predigttext) S. 351, Z. 19–S. 353, Z. 26 (aus S. 353, Z. 27–S. 354, Z. 16 (aus 1817 + 1822) S. 354, Z. 17–S. 356, Z. 11 (aus S. 356, Z. 12–22 (aus 1822) S. 356, Z. 22–S. 359, Z. 12 (aus S. 359, Z. 13–S. 365, Z. 19 (aus 1817 + 1822) S. 365, Z. 19–S. 366, Z. 10 (aus S. 366, Z. 10–S. 367, Z. 23 (aus S. 367, Z. 23–S. 368, Z. 30 (aus 1817 + 1822)

1817) 1817) 1817) 1817) 1822)

LVI

Einleitung der Bandherausgeberin Predigt in SW II/10: III. Phil 1,12.13, S. 369–387

Verwendete Predigtnachschriften: König, 22. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,12–20 König, 27. Januar 1822 früh, Phil 1,12–18 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 22. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,12–20 (SAr 38, S. 425–434) Woltersdorff, 27. Januar 1822 früh, Phil 1,12–18 (SAr 61, Bl. 7r–12v)

Textaufbau: Textkompilation S. 369, Z. 1–7 (Predigttext) S. 369, Z. 8–S. 370, Z. 25 (aus 1817) S. 370, Z. 26–S. 371, Z. 3 (aus 1822) S. 371, Z. 3–32 (aus 1817+1822) S. 371, Z. 32–S. 376, Z. 14 (aus 1822) S. 376, Z. 15–S. 377, Z. 14 (vermutl. Sydow) S. 377, Z. 15–S. 378, Z. 6 (aus 1822) S. 378, Z. 7–S. 380, Z. 13 (aus 1817) S. 380, Z. 14–S. 382, Z. 24 (aus 1822) S. 382, Z. 25–S. 383, Z. 15 (aus 1817) S. 383, Z. 16–S. 384, Z. 14 (vermutl. Sydow) S. 384, Z. 15–S. 386, Z. 18 (aus 1822) S. 386, Z. 18–S. 387, Z. 15 (vermutl. Sydow)

Predigt in SW II/10: IV. Phil 1,14–18, S. 388–407 Verwendete Predigtnachschriften: König, 22. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,12–20 König, 27. Januar 1822 früh, Phil 1,12–18 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 22. Juni 1817 nachmittags, Phil 1,12–20 (SAr 38, S. 425–434) Woltersdorff, 27. Januar 1822 früh, Phil 1,12–18 (SAr 61, Bl. 7r–12v)

Textaufbau: Textkompilation S. 388, Z. 1–14 (Predigttext) S. 388, Z. 15–S. 389, Z. 6 (Sydow) S. 389, Z. 6–S. 390, Z. 22 (aus 1822) S. 390, Z. 22–S. 392, Z. 8 (aus 1817) S. 392, Z. 9–S. 394, Z. 32 (aus 1822 + evtl. Sydow) S. 394, Z. 32–S. 395, Z. 11 (aus 1817 + 1822) S. 395, Z. 11–S. 397, Z. 25 (aus 1822) S. 397, Z. 25–S. 398, Z. 9 (Sydow) S. 398, Z. 10–S. 399, Z. 23 (aus 1822 + Sydow) S. 399, Z. 24–S. 400, Z. 4 (aus 1817 + 1822) S. 400, Z. 5–27 (aus 1822) S. 400, Z. 28–S. 405, Z. 15 (aus 1817 + evtl. Sydow) S. 405, Z. 16–S. 406, Z. 12 (aus 1822 + Sydow) S. 406, Z. 12–S. 407, Z. 5 (aus 1817) S. 407, Z. 6–24 (aus 1822 + Sydow)

Editorischer Bericht

LVII

Predigt in SW II/10: V. Phil 1,19.20, S. 408–425 Verwendete Predigtnachschriften: König, 10. Februar 1822 früh, Phil 1,19–24 König, Termin und Text unbekannt Parallelzeugen zum Vergleich: Woltersdorff, 10. Februar 1822 früh, Phil 1,19–24 (SAr 61, Bl. 21r–26r)

Textaufbau: Textkompilation S. 408, Z. 1–9 (Predigttext) S. 408, Z. 10–S. 409, Z. 1 (aus 1822) S. 409, Z. 1–S. 414, Z. 15 (Herkunft unbekannt) S. 414, Z. 16–S. 425, Z. 3 (aus 1822 + evtl. Sydow) S. 425, Z. 3–14 (Sydow)

Predigt in SW II/10: VI. Phil 1,21–24, S. 426–443 Verwendete Predigtnachschriften: König, 6. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,21–27 König, 10. Februar 1822 früh, Phil 1,19–24 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 6. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,21–27 (SAr 38, S. 434–445) Woltersdorff, 10. Februar 1822 früh, Phil 1,19–24 (SAr 61, Bl. 21r–26r)

Textaufbau: Textkompilation S. 426, Z. 1–9 (Predigttext) S. 426, Z. 10–S. 428, Z. 1 (aus 1817) S. 428, Z. 1–26 (aus 1817 + 1822) S. 428, Z. 27–S. 430, Z. 4 (aus 1822) S. 430, Z. 5–S. 435, Z. 13 (aus 1817) S. 435, Z. 13– S. 437, Z. 5 (aus 1822) S. 437, Z. 5–21 (aus 1817) S. 437, Z. 21–S. 438, Z. 3 (aus 1822) S. 438, Z. 3–S. 439, Z. 11 (aus 1817) S. 439, Z. 11–S. 440, Z. 31 (aus 1822) S. 440, Z. 32–S. 443, Z. 21 (aus 1817)

Predigt in SW II/10: VII. Phil 1,25–27, S. 444–461 Verwendete Predigtnachschriften: König, 20. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,27–30 König, 10. März 1822 früh, Phil 1,25–27 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 20. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,27–30 (SAr 38, S. 445–457)

Textaufbau: Textkompilation S. 444, Z. 1–11 (Predigttext) S. 444, Z. 13–23 (aus 1817) S. 445, Z. 1–S. 455, Z. 26 (vermutl. aus 1822) S. 455, Z. 27–S. 460, Z. 24 (aus 1817) S. 460, Z. 25–S. 461, Z. 19 (vermutl. Sydow)

LVIII

Einleitung der Bandherausgeberin Predigt in SW II/10: VIII. Phil 1,28–30, S. 462–479

Verwendete Predigtnachschriften: König, 20. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,27–30 König, 21. April 1822 früh, Phil 1,28–30 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 20. Juli 1817 nachmittags, Phil 1,27–30 (SAr 38, S. 445–457)

Textaufbau: Textkompilation S. 462, Z. 1–9 (Predigttext) S. 462, Z. 10–S. 464, Z. 4 (aus 1817) S. 464, Z. 5–S. 467, Z. 32 (vermutl. aus 1822) S. 467, Z. 33–S. 473, Z. 10 (aus 1817) S. 473, Z. 11–S. 474, Z. 14 (vermutl. aus 1822) S. 474, Z. 15–S. 475, Z. 13 (aus 1817) S. 475, Z. 14–S. 476, Z. 7 (vermutl. aus 1822) S. 476, Z. 7–21 (aus 1817) S. 476, Z. 21–S. 477, Z. 2 (vermutl. aus 1822) S. 477, Z. 2–S. 479, Z. 15 (aus 1817) S. 479, Z. 15–21 (vermutl. aus 1822)

Predigt in SW II/10: IX. Phil 2,1–4, S. 480–491 Verwendete Predigtnachschriften: König, 12. Mai 1822 früh, Phil 2,1–4 Parallelzeugen zum Vergleich: Keine

Textaufbau: Die Vorlage wurde vermutlich weitgehend unverändert übernommen, da Sydow keine weiteren Nachschriften zu dem Predigttext besaß.

Predigt in SW II/10: X. Phil 2,5–11, S. 492–508 Verwendete Predigtnachschriften: König, 14. September 1817 nachmittags, Phil 2,5–11 König, 9. Juni 1822 früh, Phil 2,5–11 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 9. Juni 1822 früh, Phil 2,5–11 (SAr 83, Bl. 1r–17v [Fragment] bzw. SAr 102, S. 35–67)

Textaufbau: Textkompilation S. 492, Z. 1–15 (Predigttext) S. 492, Z. 16–S. 494, Z. 18 (aus 1822) S. 494, Z. 19–33 (Sydow) S. 495, Z. 1–S. 505, Z. 16 (aus 1822) S. 505, Z. 16–S. 507, Z. 10 (vermutl. aus 1817) S. 507, Z. 10–S. 508, Z. 19 (aus 1822) S. 508, Z. 19–26 (vermutl. Sydow)

Editorischer Bericht

LIX

Predigt in SW II/10: XI. Phil 2,5–11, S. 509–526 Verwendete Predigtnachschriften: König, 14. September 1817 nachmittags, Phil 2,5–11 König, 9. Juni 1822 früh, Phil 2,5–11 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 9. Juni 1822 früh, Phil 2,5–11 (SAr 83, Bl. 1r–17v [Fragment] bzw. SAr 102, S. 35–67)

Textaufbau: Textkompilation mit Umstellungen S. 509, Z. 1–15 (Predigttext) S. 509, Z. 16–S. 510, Z. 15 (vermutl. Sydow) S. 510, Z. 16–S. 511, Z. 2 (aus 1822) S. 511, Z. 2–15 (vermutl. Sydow) S. 511, Z. 16–S. 516, Z. 8 (aus 1822) S. 516, Z. 9–S. 520, Z. 3 (vermutl. aus 1817) S. 520, Z. 4–S. 522, Z. 8 (aus 1822) S. 522, Z. 9–S. 523, Z. 25 (vermutl. aus 1817) S. 523, Z. 26–S. 524, Z. 30 (vermutl. Sydow) S. 524, Z. 31–S. 526, Z. 6 (aus 1822)

Predigt in SW II/10: XII. Phil 2,12.13, S. 527–544 Verwendete Predigtnachschriften: König, 23. Juni 1822 früh, Phil 2,12–16 König, 6. Mai 1826, mittags Phil 2,12 (Einsegnungsrede) Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 23. Juni 1822 früh, Phil 2,12–16 (SAr 83, Bl. 39v–61v bzw. SAr 102, S. 95–121) vermutl. Andrae, 6. Mai 1826, mittags, Phil 2,12 (Einsegnungsrede) (SAr 91, Bl. 107r–132v bzw. SAr 91, Bl. 142r– 156r)

Textaufbau: Textkompilation mit Umstellungen S. 527, Z. 1–8 (Predigttext) S. 527, Z. 9–S. 538, Z. 18 (aus 1822) S. 538, Z. 19–S. 540, Z. 6 (aus 1826) S. 540, Z. 6–S. 541, Z. 23 (aus 1822) S. 541, Z. 23–S. 542, Z. 6 (aus 1822 + evtl. Sydow) S. 542, Z. 6–S. 544, Z. 33 (aus 1822)

Predigt in SW II/10: XIII. Phil 2,14–16, S. 545–563 Verwendete Predigtnachschriften: König, 23. Juni 1822 früh, Phil 2,12–16 König, 4. August 1822 früh, Phil 2,16–18 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 23. Juni 1822 früh, Phil 2,12–16 (SAr 83, Bl. 39v–61v bzw. SAr 102, S. 95–121)

Textaufbau: Textkompilation S. 545, Z. 1–9 (Predigttext) S. 545, Z. 10–S. 546, Z. 2 (vermutl. Sydow) S. 546, Z. 2–S. 547, Z. 23 (aus 6/1822) S. 547, Z. 24–S. 548, Z. 31 (vermutl. Sydow) S. 548, Z. 32–S. 551, Z. 3 (aus 6/1822)

LX

Einleitung der Bandherausgeberin

Andrae, 4. August 1822 früh, Phil 2,16–18 (SAr 84, Bl. 1r–23v bzw. SAr 102, S. 265–298)

S. 551, Z. 4–S. 563, Z. 18 (aus 8/1822) S. 563, Z. 19–26 (vermutl. Sydow)

Predigt in SW II/10: XIV. Phil 2,17–18, S. 564– 581 Verwendete Predigtnachschriften: König, 28. September 1817 nachmittags, Phil 2,12–18 König, 4. August 1822 früh, Phil 2,16–18 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 4. August 1822 früh, Phil 2,16–18 (SAr 84, Bl. 1r–23v; SAr 102, S. 265–298)

Textaufbau: Textkompilation S. 564, Z. 1–6 (Predigttext) S. 564, Z. 7–S. 565, Z. 4 (aus 1822) S. 565, Z. 4–S. 571, Z. 25 (vermutl. aus 1817) S. 571, Z. 26–S. 581, Z. 8 (aus 1822)

Predigt in SW II/10: XV. Phil 2,19–24, S. 582–598 Verwendete Predigtnachschriften: König, 18. August 1822 früh, Phil 2,19–30 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 18. August 1822 früh, Phil 2,19–30 (SAr 84, Bl. 43r–65r bzw. SAr 102, S. 358–389)

Textaufbau: gekürzte Vorlage S. 582, Z. 1–13 (Predigttext) S. 582, Z. 15–S. 593, Z. 3 (Einleitung + Teil I aus 1822) S. 593, Z. 4–S. 598, Z. 11 (Teil III aus 1822)

Predigt in SW II/10: XVI. Phil 2,25–30, S. 599–611 Verwendete Predigtnachschriften: König, 12. Oktober 1817 nachmittags, Phil 2,19–30 König, 18. August 1822 früh, Phil 2,19–30 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 18. August 1822 früh, Phil 2,19–30 (SAr 84, Bl. 43r–65r bzw. SAr 102, S. 358–389)

Textaufbau: Textkompilation mit Umstellungen S. 599, Z. 1–18 (Predigttext) S. 599, Z. 19–S. 601, Z. 15 (vermutl. aus 1817 + evtl. Sydow) S. 601, Z. 15–S. 603, Z. 26 (aus 1822) S. 603, Z. 26–S. 604, Z. 7 (vermutl. aus 1817 oder Sydow) S. 604, Z. 7–S. 605, Z. 2 (aus 1822) S. 605, Z. 3–32 (vermutl. aus 1817) S. 605, Z. 32–S. 606, Z. 17 (aus 1822) S. 606, Z. 17–31 (vermutl. aus 1817) S. 606, Z. 31–S. 607, Z. 19 (aus 1822) S. 607, Z. 20–28 (vermutl. Sydow) S. 607, Z. 28–S. 609, Z. 33 (aus 1822) S. 610, Z. 1–S. 611, Z. 26 (vermutl. aus 1817 + evtl. Sydow)

Editorischer Bericht

LXI

Predigt in SW II/10: XVII. Phil 3,1–3, S. 612–624 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 13. Oktober 1822 früh, Phil 3,1–3

Textaufbau: Vorlage übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 13. Oktober 1822 früh, Phil 3,1–3 (Textzeugenparallele; SAr 102, S. 486–514)

Predigt in SW II/10: XVIII. Phil 3,4–9, S. 625–640 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 10. November 1822 früh, Phil 3,4–9 (Fragment in SAr 84, Bl. 111v–129v)

Textaufbau: Vorlage übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 10. November 1822 früh, Phil 3,4–9 (Textzeugenparallele; SAr 102, S. 584–617)

Predigt in SW II/10: XIX. Phil 3,9–11, S. 641–656 Verwendete Predigtnachschriften: König, 26. Oktober 1817 nachmittags, Phil 3,1–11 König, 24. November 1822 früh, Phil 3,9–11 Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 26. Oktober 1817 nachmittags, Phil 3,1–11 (SAr 38, S. 461–468) Balan, 26. Oktober 1817 nachmittags, Phil 3,1–11 (SAr 48, Bl. 1r–4v) Woltersdorff, 24. November 1822 früh, Phil 3,9–11 (unvollendet; SAr 61, S. 172r–174v) Gemberg, 24. November 1822 früh, Phil 3,9–11 (SAr 52, Bl. 117r–117v)

Textaufbau: Textkompilation S. 641, Z. 1–9 (Predigttext) S. 641, Z. 10–S. 642, Z. 7 (Sydow) S. 642, Z. 7–S. 648, Z. 10 (aus 1817) S. 648, Z. 11–S. 656, Z. 26 (aus 1822)

LXII

Einleitung der Bandherausgeberin Predigt in SW II/10: XX. Phil 3,12–14, S. 657–672

Verwendete Predigtnachschriften: König, 23. November 1817 nachmittags, Phil 3,12–14

Textaufbau: Vorlage übernommen; minimale Anpassungen in der Einleitung

Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 23. November 1817 nachmittags, Phil 3,12–14 (SAr 38, S. 469–476) Jonas, 23. November 1817 nachmittags, Phil 3,12–14 (SAr 40, Bl. 2r–2v) Maquet, 23. November 1817 nachmittags, Phil 3,12–14 (SAr 51, Bl. 53r–58v)

Predigt in SW II/10: XXI. Phil 3,12–14, S. 673–686 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 8. Dezember 1822 früh, Phil 3,12–14 (SAr 103, S. 25–40; Textzeugenparallele in SAr 84, Bl. 130v–148v)

Textaufbau: Vorlage übernommen; Anpassungen in der Einleitung

Parallelzeugen zum Vergleich: Keine

Predigt in SW II/10: XXII. Phil 3,13–16, S. 687–696 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 22. Dezember 1822 früh, Phil 3,13–16 (SAr 84, Bl. 149r–164r oder SAr 103, S. 107–127) Parallelzeugen zum Vergleich: Keine

Textaufbau: Vorlage übernommen

Editorischer Bericht

LXIII

Predigt in SW II/10: XXIII. Phil 3,17–21, S. 697–706 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 5. Januar 1823 früh, Phil 3,17–21 (SAr 103, S. 206–224)

Textaufbau: Vorlage übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Keine Predigt in SW II/10: XXIV. Phil 4,1–4, S. 707–717 Verwendete Predigtnachschriften: König, 19. Januar 1823 früh, Phil 4,1–4 (Fragment?) Andrae, 19. Januar 1823 früh, Phil 4,1–4 (SAr 103, S. 255–272)

Textaufbau: Textkompilation S. 707, Z. 1–S. 709, Z. 14 (König) S. 709, Z. 15–S. 717, Z. 13 (Andrae)

Parallelzeugen zum Vergleich: Keine Predigt in SW II/10: XXV. Phil 4,4, S. 718–736 Verwendete Predigtnachschriften: König, 25. Dezember 1817 nachmittags, Phil 4,4

Textaufbau: Vorlage vermutl. weitgehend unverändert übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Jonas, 25. Dezember 1817 nachmittags, Phil 4,4 (SAr 38, S. 249–262) Maquet, 25. Dezember 1817 nachmittags, Phil 4,4 (SAr 51, Bl. 29r–34v)

Predigt in SW II/10: XXVI. Phil 4,4.5, S. 737–753 Verwendete Predigtnachschriften: König, 2. Februar 1823 früh, Phil 4,5–7 König, Termin und Text unbekannt Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 2. Februar 1823 früh, Phil 4,5–7 (SAr 103, S. 297–316)

Textaufbau: Textkompilation S. 737, Z. 1–5 (Predigttext) S. 737, Z. 6–12 (Sydow) S. 737, Z. 12–S. 739, Z. 3 (aus 1823) S. 739, Z. 4–S. 746, Z. 2 (Herkunft unbekannt) S. 746, Z. 3–S. 747, Z. 20 (aus 1823) S. 747, Z. 20–S. 748, Z. 19 (Herkunft unbekannt) S. 748, Z. 20–S. 752, Z. 5 (aus 1823) S. 752, Z. 6–27 (Herkunft unbekannt) S. 752, Z. 27–S. 753, Z. 6 (aus 1823) S. 753, Z. 6–23 (Herkunft unbekannt)

LXIV

Einleitung der Bandherausgeberin Predigt in SW II/10: XXVII. Phil 4,6.7, S. 754–769

Verwendete Predigtnachschriften: König, 4. Januar 1818, nachmittags, Phil 4,6–7 König, 2. Februar 1823 früh, Phil 4,5–7 Parallelzeugen zum Vergleich: Andrae, 2. Februar 1823 früh, Phil 4,5–7 (SAr 103, S. 297–316)

Textaufbau: Textkompilation S. 754, Z. 1–7 (Predigttext) S. 754, Z. 8–S. 757, Z. 19 (vermutl. aus 1818 + evtl. Sydow) S. 757, Z. 20–S. 760, Z. 9 (aus 1823) S. 760, Z. 10–S. 762, Z. 21 (vermutl. aus 1818) S. 762, Z. 22–S. 764, Z. 23 (aus 1823) S. 764, Z. 24–S. 768, Z. 17 (vermutl. aus 1818) S. 768, Z. 18–S. 769, Z. 30 (aus 1823)

Predigt in SW II/10: XXVIII. Phil 4,8–9, S. 770–780 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 16. Februar 1823 früh, Phil 4,8–9 (Fragment in SAr 103, S 374; 395–396)

Textaufbau: Vorlage vermutl. übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Keine Predigt in SW II/10: XXIX. Phil 4,10–13, S. 781–793 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 2. März 1823 früh, Phil 4,10–13 (SAr 103, S. 425–448)

Textaufbau: Vorlage übernommen

Parallelzeugen zum Vergleich: Keine

Predigt in SW II/10: XXX. Phil 4,14–23, S. 794–804 Verwendete Predigtnachschriften: Andrae, 16. März 1823 früh, Phil 4,14–23 (SAr 103, S. 485–506) Parallelzeugen zum Vergleich: Keine

Textaufbau: Vorlage übernommen

Editorischer Bericht

LXV

I. Schleiermachers Homilienreihe zum Johannesevangelium 1823–1827 a. Überlieferungslage Die 95 Predigten der Homilienreihe zum Johannesevangelium von 1823–1827 sind vollständig als Nachschriften unterschiedlicher Tradenten im Schleiermacher-Archiv der Staatsbibliothek zu Berlin bzw. im Schleiermacher-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erhalten99; Kapitel 1–16 sind zusätzlich als Drucktexte in SW II/8 und SW II/9 überliefert. Die unvollständige Edition ist darin begründet, dass Adolf Sydow für die Herausgabe von Joh 17ff. keine wortgetreuen Nachschriften mehr zur Verfügung standen.100 Die von ihm veröffentlichten Texte entstammen hochwertigen Manuskripten Johann Gottfried Andraes101 (SW II/8) und August Friedrich Wilhelm Königs (SW II/9) und wurden mit nur minimalen editorischen Eingriffen versehen.102 Den ersten 15 Predigten aus dem Jahr 1823 kommt daher auch in dem vorliegenden Band Leittextcharakter zu; sie bilden die Editionsgrundlage, wenn kein vergleichbarer Textzeuge vorhanden ist.

b. Übersicht zur Homilienreihe zum Johannesevangelium Datum

Tag

Text

13. 04. 1823, früh

Misericordias Domini

Joh 1,1–5

04. 05. 1823, früh

Rogate

Joh 1,6–13

11. 05. 1823, früh

Exaudi

Joh 1,14–18

01. 06. 1823, früh

1. SnT

Joh 1,19–24

15. 06. 1823, früh

3. SnT

Joh 1,24–28

29. 06. 1823, früh

5. SnT

Joh 1,29–34

13. 07. 1823, früh

7. SnT

Joh 1,35–42

27. 07. 1823, früh

9. SnT

Joh 1,43–51

19. 10. 1823, früh

21. SnT

Joh 2,1–11

99 100 101 102

Vgl. Predigtkalendarium Schleiermachers, in: KGA III/1 Vgl. SW II/8, S. VIII; SW II/9, Vorbemerkung Eine Ausnahme bildet die Predigt über Joh 6,61–71, die auf eine Nachschrift Sauniers zurückgeht; vgl. oben Punkt F. Vgl. SW II/8, S. VII–VIII

LXVI

Einleitung der Bandherausgeberin

Datum

Tag

Text

02. 11. 1823, früh

23. SnT

Joh 2,12–17

16. 11. 1823, früh

25. SnT

Joh 2,18–25

30. 11. 1823, früh

1. SiA

Joh 3,1–6

14. 12. 1823, früh

3. SiA

Joh 3,7–15

25. 12. 1823, früh

1. Weihnachtstag

Joh 3,16–18

28. 12. 1823, früh

SnW

Joh 3,19–21

04. 01. 1824, früh

SnN

Joh 3,22–30

18. 01. 1824, früh

2. SnE

Joh 3,31–36

01. 02. 1824, früh

4. SnE

Joh 4,1–10

15. 02. 1824, früh

Septuagesimae

Joh 4,11–19

14. 03. 1824, früh

Reminiscere

Joh 4,20–24

28. 03. 1824, früh

Laetare

Joh 4,25–34

11. 04. 1824, früh

Palmarum

Joh 4,35–42

09. 05. 1824, früh

Jubilate

Joh 4,43–54

16. 05. 1824, früh

Cantate

Joh 5,1–15

13. 06. 1824, früh

Trinitatis

Joh 5,16–23

27. 06. 1824, früh

2. SnT

Joh 5,24–30

11. 07. 1824, früh

4. SnT

Joh 5,31–40

25. 07. 1824, früh

6. SnT

Joh 5,41–47

08. 08. 1824, früh

8. SnT

Joh 6,1–15

17. 10. 1824, früh

18. SnT

Joh 6,16–26

31. 10. 1824, früh

20. SnT

Joh 6,27–35

14. 11. 1824, früh

22. SnT

Joh 6,36–44

28. 11. 1824, früh

1. SiA

Joh 6,45–51

12. 12. 1824, früh

3. SiA

Joh 6,52–60

09. 01. 1825, früh

1. SnE

Joh 6,61–71

06. 02. 1825, früh

Sexagesimae

Joh 7,1–13

20. 02. 1825, früh

Invocavit

Joh 7,14–24

Editorischer Bericht

LXVII

Datum

Tag

Text

06. 03. 1825, früh

Oculi

Joh 7,25–36

20. 03. 1825, früh

Judica

Joh 7,37–53

17. 04. 1825, früh

Misericordias Domini

Joh 8,12–20103

08. 05. 1825, früh

Rogate

Joh 8,20–29

15. 05. 1825, früh

Exaudi

Joh 8,30–38

05. 06. 1825, früh

1. SnT

Joh 8,39–45

19. 06. 1825, früh

3. SnT

Joh 8,46–59

17. 07. 1825, früh

7. SnT

Joh 9,1–7

31. 07. 1825, früh

9. SnT

Joh 9,8–23

14. 08. 1825, früh

11. SnT

Joh 9,24–41

28. 08. 1825, früh

13. SnT

Joh 10,1–11

11. 09. 1825, früh

15. SnT

Joh 10,12–21

09. 10. 1825, früh

19. SnT

Joh 10,22–33

23. 10. 1825, früh

21. SnT

Joh 10,34–42

06. 11. 1825, früh

23. SnT

Joh 11,1–14

20. 11. 1825, früh

25. SnT

Joh 11,15–27

04. 12. 1825, früh

2. SiA

Joh 11,28–40

18. 12. 1825, früh

4. SiA

Joh 11,41–52

08. 01. 1826, früh

1. SnE

Joh 11,53–12,8

22. 01. 1826, früh

Septuagesimae

Joh 12,9–19

05. 02. 1826, früh

Estomihi

Joh 12,20–26

19. 02. 1826, früh

Reminiscere

Joh 12,27–36

05. 03. 1826, früh

Laetare

Joh 12,36–43

19. 03. 1826, früh

Palmarum

Joh 12,44–50

02. 04. 1826, früh

Quasimodogeniti

Joh 13,1–11

16. 04. 1826, früh

Jubilate

Joh 13,12–20

103

Den Text Joh 8,1–11, der als sekundärer Zusatz zum Evangelium gilt, hat Schleiermacher offensichtlich bewusst übergangen.

LXVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

Datum

Tag

Text

23. 04. 1826, früh

Cantate

Joh 13,21–38

04. 05. 1826, früh

Himmelfahrt

Joh 14,1–6

21. 05. 1826, früh

Trinitatis

Joh 14,7–17

04. 06. 1826, früh

2. SnT

Joh 14,18–24

18. 06. 1826, früh

4. SnT

Joh 14,25–31

02. 07. 1826, früh

6. SnT

Joh 15,1–7

16. 07. 1826, früh

8. SnT

Joh 15,8–17

30. 07. 1826, früh

10. SnT

Joh 15,18–16,4

13. 08. 1826, früh

12. SnT

Joh 16,4–15

27. 08. 1826, früh

14. SnT

Joh 16,16–23

24. 09. 1826, früh

18. SnT

Joh 16,24–33

08. 10. 1826, früh

20. SnT

Joh 17,1–8

22. 10. 1826, früh

22. SnT

Joh 17,9–13

05. 11. 1826, früh

24. SnT

Joh 17,14–19

19. 11. 1826, früh

26. SnT

Joh 17,20–23

17. 12. 1826, früh

3. SiA

Joh 17,24–26

07. 01. 1827, früh

1. SnE

Joh 18,1–9

21. 01. 1827, früh

3. SnE

Joh 18,10–14

18. 02. 1827, früh

Sexagesimae

Joh 18,15–27

04. 03. 1827, früh

Invocavit

Joh 18,28–32

11. 03. 1827, vorm. Reminiscere

Joh 18,33–38

18. 03. 1827, früh

Joh 18,38–19,7

Oculi

25. 03. 1827, vorm. Laetare

Joh 19,8–16

01. 04. 1827, früh

Joh 19,16–24

Judica

08. 04. 1827, vorm. Palmarum

Joh 19,25–29

13. 04. 1827, früh

Joh 19,30–42

Karfreitag

15. 04. 1827, vorm. Ostersonntag

Joh 20,1–18

16. 04. 1827, früh

Joh 20,19–23

Ostermontag

Editorischer Bericht

LXIX

Datum

Tag

Text

29. 04. 1827, früh

Misericordias Domini

Joh 20,24–31

06. 05. 1827, vorm. Jubilate

Joh 21,1–14

13. 05. 1827, vorm. Cantate

Joh 21,15–19

20. 05. 1827, früh

Joh 21,20–25

Rogate

* * * Der vorliegende Band ist das Ergebnis eines mehrjährigen Arbeitsprozesses, in dessen Zusammenhang mir zahlreiche Menschen hilfreich zur Seite standen. Mein Dank gilt besonders meinem Mann Zhongtian Wei und unserem Sohn Philipp, die mich mit ihrer Liebe in jederlei Hinsicht unterstützt haben. Außerdem danke ich herzlich Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock, unter dessen fachkundiger Leitung die Predigtedition an der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle steht; er begleitete meine Arbeit mit Feingefühl und Geduld. Aber auch meine Kollegen und die studentischen Hilfskräfte der Forschungsstelle waren am Zustandekommen dieses Bandes beteiligt. So führte mich Katja Kretschmar im Jahr 2007 kompetent in die Editionsarbeit ein und beriet mich mit ihrem Sinn für Details bei großen und kleinen Problemen, während mir Patrick Weiland vor allem in der Schlussphase wichtige Impulse gab. Judith Ibrügger ging mir mit Gewissenhaftigkeit und Akribie bei den Korrekturarbeiten zur Hand – ihr kommen auch besondere Verdienste bei der Analyse der Philipperhomilien zu. Sie, Christoph Karn und Tobias Götze begleiteten mit großem Fleiß und Ausdauer die Bearbeitung der Druckfahnen und widmeten sich außerdem der Erstellung der Verzeichnisse, während Merten Biehl die Rezensionen der diesen Band betreffenden Predigten besorgte. Unterstützung erhielt ich auch von Eva Rathgeber, Emanuel Ruccius und Sven Rehbein, die mir ihre Kräfte in der Korrekturhochphase zur Verfügung stellten. Des Weiteren erteilte mir der Bibliothekar der Kieler Fachbibliothek Theologie, Rolf Langfeldt, kompetente Ratschläge bei zahlreichen die Literatur betreffenden Fragen. In besonderer Erinnerung bleibt mir auch mein ehemaliger Kollege Tim Kaufmann, der die Transkriptionsphase durch Witz und gute Laune sehr bereicherte. Ihnen allen möchte ich herzlich danken. Kiel, im August 2011

Kirsten Maria Christine Kunz

Nachschrift der Predigt vom 20. Januar 1822 vormittags, SAr 52, Bl. 102v; Gemberg – Faksimile (94 %).

Predigten 1822

Nachschrift der Predigt vom 3. Februar 1822 vormittags, SAr 61, Bl. 17v; Woltersdorff – Faksimile (61 %).

Am 6. Januar 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 2,1–12 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 89r–99v; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 101r–102r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt gesprochen am Fest der heiligen drei Könige (6. Januar) 1822 von Dr. F. Schleiermacher. | Tex t.

5

10

15

20

Matth. II v. 1–12.

Von den ältesten Zeiten her, m. a. Fr., hat man in der christlichen Kirche diese Begebenheit, welche der verlesene Text erzält, als die erste öffentliche Kundmachung des Erlösers angesehen. Vorher nehmlich war die Verheißung nur der Maria, seiner Mutter, geschehen, und nur dem kleinsten Kreise von Freunden hatte sie sich von da aus mitgetheilt. Dann, als der Herr geboren war, verkündigten ihn die himmlischen Heerschaaren den Hirten des Orts an welchem er zuerst das Licht der Welt erblickt hat. Aber auch so blieb seine Kunde nur in diesen engen Kreis eingeschlossen, weiter in die Welt wurde die Kunde des Erlösers zuerst auf diesem Wege verbreitet; in seiner Allgemeinheit stellte sich der Erlöser erst dadurch dar, daß auch diesen ein Zeichen gekommen, es sey geboren derjenige, der da kommen sollte. Und so hat man denn, m. g. Fr., von jeher dieser Begebenheit eine große Deutung gegeben und sie als die erste Versiegelung angesehen davon, daß der Erlöser nicht nur seinem Volke, sondern dem ganzen Menschengeschlecht angehöre, um daß die göttliche Kraft der Beseligung, die in ihm liegt, sich allmählig über den ganzen Umfang derer, die der menschlichen Natur nach seine Brüder sind, verbreiten soll. Fragen wir nun aber, wie ist denn diese erste Kunde | des Erlösers zu Stande gekommen? so können wir es immer unentschieden lassen, ob das himmlische Zeichen, 15 Allgemeinheit] Algemeinheit 8–10 Vgl. Lk 1,26–56

10–12 Vgl. Lk 2,8–14

89r

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4

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91v

Am 6. Januar 1822 vormittags

welches ihnen erschien, im höchsten Sinne des Worts ein übernatürliches, oder ob es in irgend einem Sinne ein natürliches gewesen sey, was aber doch ihrer Aufmerksamkeit diese bestimmte Richtung gegeben hat. Mag dem seyn, wie ihm wolle, wenn nicht in ihrem Herzen ein Verlangen gewesen wäre nach dem, was ihnen verkündigt wurde, wenn nicht in ihrem Innern eine Sehnsucht gelegen hätte nach einer solchen himmlischen Offenbarung, so würde jenes Zeichen sie ebensogut wie Andere gleichgültig in ihrer Heimath gelassen haben; und mochte es noch so wunderbar seyn, es wäre vergeblich gewesen. Ebendiese Sehnsucht nun ist es, die überall dem Reiche Gottes vorhergeht, aus welcher der Glaube in dem Herzen der Menschen entspringt, und wo diese nicht ist, da kann das Reich des Herrn noch nicht Wurzel fassen[.] Davon also, von diesem Verlangen nach der Erlösung, welches in der menschlichen Seele dem Reiche Gottes überall, wohin es sich verbreiten soll, vorangehen muß, laßt uns jetzt mit einander reden. Wir werden hiebei auf der einen Seite diesen Gegenstand gleichsam von seinem Innersten heraus betrachten, wenn wir überlegen, wie nothwendig dieser Zusammenhang sey zwischen der vorangehenden Sehnsucht und dem | nachfolgenden Glauben und alsdann werden wir sie auch äußerlich von ihrer geschichtlichen und erfahrungsmäßigen Seite betrachten und uns überzeugen, wie allgemein wir auch diesen Zusammenhang überall erblicken. I. Zuerst also, m. g. Fr., laßt uns sehen, wie nothwendig dieß sey, daß wo der Glaube an den Erlöser entstehen soll und der Mensch sich ihm hingeben, da nothwendig eine solche Sehnsucht, wie sie in diesen Erstlingen des Glaubens war, in der menschlichen Seele vorangehen muß. Es ist allerdings nicht zu leugnen, wenn der Mensch etwas Großes und Vortreffliches um sich her wahrnimmt, so kann er gar leicht dahin gebracht werden, es nach seinem Vermögen nachzuahmen, und sich in die Aehnlichkeit davon hineinzuloken. So lernen wir von Kindheit an uns fügen in dasjenige was Sitte und Recht und Ordnung unter uns ist. Wenn wir auch in der kindlichen Seele kein Verlangen danach voraussetzen können, so verkündigt es sich ihr doch als etwas Vortreffliches und Heiliges und sie fügt sich darin und bildet sich hinein. Aber, m. g. Fr., können wir wohl sagen, daß auf diesem Wege ein lebendiger Glaube entstehe an dasjenige, was der Mensch auf diese Weise thut und nachahmend in sich aufnimmt? O wir sehen es ja nur zu sehr, wie leicht dieses Band oft in der Folge gerissen wird eben deswegen weil es auf keinem innern Verlangen des Herzens beruht, wie | leicht der Mensch, der nur so auf dem Wege der Nachahmung in das gesetzliche Gute und Schöne hineingekommen ist, fortgerissen wird von dem Strom frevelnden 35 an] in

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Über Mt 2,1–12

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Leichtsinns oder zügelloser Unbändigkeit. Ebenso, m. g. Fr., ist nicht zu leugnen, der aufmerksame Mensch, wenn er eine Erscheinung vor sich sieht, in der er Vortrefflichkeiten wahrnimmt, die ihm selbst nicht eigen sind, oder solche, wozu er die ersten Anlagen und die ersten Keime auch in sich selbst findet, in einem Grade entwickelt, wie es ihm nicht verliehen zu seyn scheint; so wird er hingerissen von Bewunderung. Diese Bewunderung giebt ihm eine Liebe und eine Anhänglichkeit an denjenigen, den er bewundert, und wir mögen wohl sagen, einen Glauben an dessen Vortrefflichkeit und Meisterschaft. Aber wenn in dem Herzen kein Verlangen und keine Sehnsucht ist, welche ebenjener Vortrefflichkeit und Herrlichkeit entspringt, dann bleibt die Bewunderung kalt, und der Glaube, der daraus entsteht, und damit zusammenhängt, ist wie der, den ein Apostel des Herrn den todten Glauben nennt ohne Werke. Der Mensch bewundert, er erkennt an, aber er bleibt was er gewesen ist, und kein näheres Verhältniß entsteht zwischen dem, den er bewundert, und ihm selbst, möge er noch so lebendig fühlen, wie weit er immer hinter jenem zurückbleiben werde. Darum, m. g. Fr., wollen wir uns denken, wie sich allerdings manche Christen zu allen Zeiten gedacht haben, die Wirkung, welche der Erlöser hervorgebracht hat, beruhe nur auf der hohen Vortrefflichkeit | seiner Lehre und des Beispiels, welches er uns gegeben, so können wir uns daraus nichts anderes erklären als dasjenige, was wir auch auf andern Seiten auf der einen aus lebhafter Bewunderung, auf der andern aus bewußtloser Nachahmung entstehen sehen. Aber das Verhältniß, welches seyn soll, zwischen dem Erlöser und seinen Erlösten, wie er es selbst ausdrückt, „daß er in uns seyn wolle, wie der Vater in ihm“, daß wie er und der Vater Eins ist, so auch wir mit ihm Eins seyn sollen; dieses Verhältniß kann auf eine solche Weise nicht entstehen; und wie lebendig und schön sich auch eine Verehrung aussprechen möge, die nichts Anderes ist als jene Bewunderung, wie rein vor der Welt und tadellos auch ein Leben seyn möge, welches nichts Anderes ist als jene Nachahmung; was der Christ ist, um weßwillen er sich selig fühlt und von Gott begnadigt, das ist weder in dem Einen noch in dem Andern und kann auch nicht entstehen, wenn nicht zuvor diese Sehnsucht, von der uns die Erzälung unsers Textes ein so ausgezeichnetes Beispiel giebt, in dem Herzen entsteht. Aber ebendieses Beispiel zeigt uns auch, von welcher Art denn, näher betrachtet, diese Sehnsucht gewesen ist. Nicht nur das Verlangen nach etwas Vortrefflicherem und Höherem, als wir selbst im Stande sind darzustellen, nicht nur das Verlangen nach einer Lehre, die wir zwar auffassen, aber nie aus uns | selbst hervorbringen konnten, nach einem Beispiel, welches unser Auge immer auf sich gerichtet hielt, aber dem wir nie gleichkommen konnten, – nicht das war es: sondern wie sprechen jene Männer als sie gen 12–13 Vgl. Jak 2,17.20.26

24–26 Vgl. Joh 17,21

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Am 6. Januar 1822 vormittags

Jerusalem kommen? „Wo ist der neugeborne König der Juden? wir haben seinen Stern gesehen und sind gekommen, ihn anzubeten!“ Das ist es. Diese Sehnsucht nach einer neuen Herrschaft, der sich der Mensch hingeben kann, nach einem Könige, der ihn regiere und beseele; und so daß er von diesem Dienst eine andre Frucht habe als jene, die er allein zu genießen hat, wenn er der Sünde dient, nehmlich den Tod; diese Sehnsucht nach einer neuen Herrschaft ist es, die allein dem Glauben an den Erlöser und dem Genuß der Erlösung den Weg bahnen kann. Und das, m. g. Fr., ist auch die Voraussetzung, von welcher der Apostel ausgeht, in den Worten, auf die ich eben hingedeutet habe. Denn da stellt er nur zweierlei vor: der Mensch könne entweder dienen der Sünde und dann hat er den Tod zur Frucht; oder er könne dienen der Gerechtigkeit, aber nur der, die da ist in Christo Jesu und dann ist die Frucht das ewige Leben. Wie also, m. g. Fr.? Immer, immer nur soll und muß er dienen? Ja, so ist es; wir fühlen und tragen dieses Zwiefache von Herrschaft und Dienst immer in uns selbst. Alles Äußere, alles Sinnliche in der menschlichen Natur ist gemacht zum Dienen. Wenn aber der Geist Gottes nicht derjenige ist, der da herrschet, dann entsteht eine andre Herrschaft, dann entsteht | die Herrschaft jener dunklen Mächte, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen und wo eigentlich ihr verborgener Sitz ist, jene Herrschaft des Bösen, welches uns seiner innern Natur nach ebenso unbegreiflich ist, als uns auf der andern Seite das göttliche Wesen selbst seyn kann; jene Herrschaft entsteht aus der Herrschaftlosigkeit dessen, was herrschen soll. Und weil es nun nicht anders ist, o so ist das Erste und Einzige, das was gleichsam zurückgeblieben ist von der hohen Natur des Menschen, das was sich verborgen hält in seinem innersten und tiefsten Bewußtseyn und mitten in dem Dienst der Sünde, mitten in der Herrschaft des Bösen nie ganz verloren gehen kann, die verborgne Sehnsucht nach einem bessern Regenten, nach einer herrlicheren Herrschaft, welcher der Mensch sich hingeben [will], um ihr zu dienen. – „Wo ist der neugeborne König der Juden, wir haben seinen Stern gesehen im Morgenlande und sind gekommen, ihn anzubeten.“ O die Seele, sucht sie, wie jene an dem äußern Himmel, wie andere in der innersten Tiefe des Gemüthes selbst, sucht sie: o irgend wie wird ihr das himmlische Licht erscheinen als der verborgene Funke in ihr selbst, als der Stern, der ihr von Außen leuchtet. Und je stärker ihr die Sehnsucht erwacht, je mehr das Verlangen sich ihr befreundet; desto froher eilt sie anzubeten da, woher der himmlische Schein kommt. Aber doch auf der andern Seite, wollten wir uns zuschreiben, daß irgend etwas mehr, unabhängig von dem, was der Erlöser | selbst bewirkt, daß irgend etwas mehr in der menschlichen Seele sey als eben jenes Verlangen nach seiner Herrschaft, dann wäre wieder zwischen ihm und uns das 4–6.11–14 Vgl. Röm 6,19–22

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Verhältniß nicht dasjenige, was wir als Gläubige und Erlöste in der innersten Tiefe des Herzens empfinden. Wenn wir uns fragen, m. g. Fr., wo ist denn aber hier die Grenze? wie können wir glauben, daß außer jener Sehnsucht und jenem Verlangen noch etwas Anderes in der menschlichen Seele seyn könnte? und was müßte es seyn? – Was könnte es anders seyn, als daß wir irgendwie, auch nur im geringsten Grade fähig wären, dasjenige selbst hervorzubringen in uns, was uns nur durch die Herrschaft des Erlösers entstehen kann? Ja, m. g. Fr., wenn es so um uns stände, dann wäre unser Verhältniß zu ihm ein ganz anderes, dann könnten wir sagen, seine Ankunft habe vielleicht das Heil der Welt beschleunigt, die Verbreitung desselben erleichtert, aber es hätte doch entstehen müssen, und wenn er auch nicht erschienen wäre. Denn alles, was in der menschlichen Seele ruht als eine lebendige Kraft, das muß auch irgendwann zur Wirksamkeit kommen. Wäre nun in der menschlichen Natur, so wie sie ist ohne den Einfluß des Erlösers, das Vermögen, dasjenige hervorzubringen, was, wie wir es fühlen und glauben, nur seine Herrschaft in uns zu Wege bringt; könnten wir für uns selbst zu einer so lebendigen und frohen Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater kommen, wie durch ihn; könnten wir in uns selbst das ewige | Leben und die Freuden desselben erwarten so, wie er sagt, daß diejenigen sie schon haben, die an ihn glauben, dann, m. g. Fr., wenn auch noch Jahrhunderte der Finsterniß und der Unseligkeit dazwischen getreten wären, wenn vielleicht auch jetzt noch bei Weitem nicht so viel von diesem Heil in dem menschlichen Geschlecht lebte, als seit seiner Erscheinung in demselben aufgegangen ist – o wir müßten doch glauben – und eben das Gefühl, daß wir jene Kraft in uns tragen, würde den Glauben in uns hervorrufen, – daß wir das Alles aus uns selbst vermöchten, nur sey Tag und Stunde noch nicht gekommen. Und dieser Glaube wäre dann ein Glaube an uns selbst, und anders könnten wir nichts haben, wenn wir ohne den Erlöser mehr besäßen als nur die Sehnsucht und das Verlangen nach ihm. Es ergiebt sich dieß auch, m. g. Fr., auf das Deutlichste eben aus der näheren Beschaffenheit dieser Sehnsucht, die ich vorher aus den Worten unsers Textes entwickelt habe. Betrachten wir nur mit einander die geselligen bürgerlichen Verhältnisse der Menschen, wie steht es da zwischen denen, die da herrschen und denen, die da gehorchen? Ein Zwiefaches werden wir darin nothwendig unterscheiden müssen. Rüstet Gott der Herr einen Einzelnen aus mit außerordentlichen Kräften und Gaben, der zuerst, sey es wilde, sey es stumpfsinnige und halberstorbene Menschen in ein engeres Band vereinigt, der durch den kräftigen Geist, der in ihm lebt, sie 34 Verhältnisse] Verhältnissen 20–21 Vgl. Joh 3,36; 5,24; 6,40.47

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beseelt, der sie lehrt, ein höheres Ziel des Lebens suchen, köstliche Güter desselben erringen, und in der Vereinigung | ihrer Kräfte sich stark fühlen und frisch; rüstet Gott einen solchen aus, der herrscht in menschlichen Dingen über Menschen, wie der Erlöser über uns; sie fühlen es, er, der Einzelne, hätte sie die Menge nicht so bezwingen können, wenn nicht doch ein dunkles Verlangen nach demjenigen, was er ihnen deutlich zeigt, in ihrer Seele gelegen hätte; darum aber erkennen sie, daß sie ein Gut gefunden haben, welches ihnen von Natur gebührt und wohler kann ihnen nicht seyn, als wie sie sich in diesem Verhältniß von demjenigen regieren lassen, der allein es ihnen zueignet und es allein ohne sie schon besessen hat. Versetzen wir uns aber in andre Zeiten und Verhältnisse, wo alle Fähigkeiten der menschlichen Seele, alle Einsichten des menschlichen Geistes ein gemeinsames Gut geworden sind Aller, wo die Unterschiede der Begabung und der natürlichen Kräfte immer mehr verschwunden und auch die Unterschiede der äußern Vorzüge und Vortheile nicht so groß sind, daß sie Einen unfähig machten, jene inneren und höheren Güter zu gewinnen: o auch unter diesen Verhältnissen kann Einer regieren und Millionen werden sich glücklich fühlen und wohl unter der Herrschaft dieses Einen; aber indem sie sich seiner Macht hingeben, indem sie ihm auf das Genauste gehorchen, fühlen sie doch, daß seine Macht keine andere ist, als die ihrige vereint, daß er sie durch nichts anderes regiert als durch die Weisheit, die auch sie in sich tragen, die sie ihm aber überlassen auszusprechen; und ein anderes Verhältniß ist dieses als jenes; und | Tausende der traurigsten Verirrungen unter den Menschen entstehen daraus, daß beides mit einander verwechselt wird. Wäre nun in der menschlichen Seele mehr als die Sehnsucht und das Verlangen nach dem was der Erlöser gewähren kann, dann bestände auch nur dieses letzte Verhältniß; dann wäre er, wie er es geworden ist, unser Bruder, der Erstgeborne, der Erste unter uns allen, aber doch uns gleich, und seine Macht und sein Ansehen ließe sich darstellen als etwas, das auch in uns zu finden wäre. Aber von dem Unterschiede, den wir fühlen zwischen ihm und uns; von dem Göttlichen, was sich rein mittheilt und in die Seele des Menschen ergießt, was sie ohne diese Mittheilung nicht haben kann, davon könnten wir kein Gefühl, davon könnten wir keinen lebendigen Glauben haben und keine klare Ueberzeugung. So nothwendig also ist es, m. g. Fr., daß wir annehmen und voraussetzen in der menschlichen Seele, wenn der Glaube an den Erlöser und das Verhältniß der lebendigen Gemeinschaft mit ihm entstehen soll, jene Sehnsucht als dasjenige, was allem Anderen vorangeht. Aber ebenso natürlich und nothwendig ist auch, die Ueberzeugung, daß weiter nichts als jene Sehnsucht in der menschlichen Seele sey ohne ihn, alles Andere aber seine Gabe, sein Geschenk, seine Mittheilung und seines Geistes Werk ist. 20 doch,] doch;

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Und ebendieß ist nichts anderes als das Wesen unsers Glau|bens selbst. Fühlen wir es nicht so und ist das nicht der natürliche und wahre Ausruck für unser innerstes Bewußtseyn, so ist es nur ein Mißbrauch, wenn wir ihn den Erlöser nennen, und uns die Erlösten, so ist es nur ein Mißbrauch, wenn wir ihn ansehen als einen himmlischen König im höchsten Sinne des Worts und uns als seine Unterthanen ebenfalls im höchsten Sinne des Worts. Aber eben deßwegen, weil dieß so nothwendig ist, so finden wir es auch ganz allgemein ebenso wie es uns aus dem einzelnen Beispiel unsers Textes klar geworden ist, was in der That uns das ganze Verhältniß der menschlichen Seele zu ihrem Erlöser enthüllen kann. II. Da er in der Welt auftreten mußte als ein einzelner Mensch, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit: wie kann es anders seyn, als daß die Verhältnisse der Menschen zu ihm auch sehr verschieden seyn müssen. Aber so verschieden sind sie nicht, daß die Allgemeinheit jenes Gesetzes dadurch aufgehoben würde. Wo der Glaube entstehen soll, da muß die Sehnsucht vorangehen, wo etwas Anderes schon ist als dieses, da kann auch der rechte, lebendige Glaube nicht entstehen. Wo der Erlöser selbst, m. g. Fr., in seinem irdischen Leben den Menschen an sich lockte und zu sich rief, wovon ging er aus? war das nicht seine Lehre und die | Vorschrift, nach der er beständig handelte: die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken? d. h. diejenigen, in welchen ein freilich falsches Gefühl eigner Kraft die Sehnsucht und das Verlangen nach einer fremden Hülfe und Beseligung noch unterdrückt, die sind auch noch nicht im Stande, die Hülfe von dem Arzt der Seele zu empfangen. Erst muß jener falsche Schein verschwinden, erst muß der Mensch inne werden, dasjenige was er sich selbst verschaffen kann, wie lebendig er auch danach ringen, wie unablässig er auch sich anstrengen würde, es zu erreichen, wie eifrig er auch nach dem Bessern trachten und sich sein eignes Urbild immer mehr ausbilden und verschönern möge – es ist doch das Rechte nicht, weil es nicht das Höchste ist. Das Gefühl muß erst in ihm entstehen, daß bei allem Schein der Gesundheit und der Kraft er doch krank ist, weil die Schöne und Frische des ewigen Lebens ihm fehlt; dann kann er die Heilung von dem Arzt empfangen und dann wird sich dieser auch mit seiner hülfreichen Kraft zu ihm wenden. Und wie redet der Erlöser den Menschen selbst an: „Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seyd, ich will euch erquicken.“ Der Mensch, m. g. Fr., kann in der That mühselig seyn und beladen, aber er kann scherzen mit der Last, die er trägt, und der Mühe spotten, die ihn 4 Erlösten] Erlößten 21–22 Lk 5,31

20 ging] gieng

35–36 Mt 11,28

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niederbeugen will; wenn ihm dann Einer zuredet: | „komm her, ich will dich erquicken“, so hat er ja die ganze Mühe seiner Tapferkeit verloren, wenn er sich erquicken läßt, vielmehr ist es natürlich, daß er selbst zu einem solchen sagt, er wolle die Erquickung nicht, sondern sehen ohne ihn ans Ziel gelangen. Soll der Zuruf des Erlösers seinen Erfolg haben, daß die Mühseligen und Beladenen zu ihm kommen, und von ihm die rechte Stärkung empfangen, so müssen die Menschen nicht nur mühselig und beladen seyn, sondern sie müssen sich auch so und der Erquickung bedürftig fühlen; indem ihnen die Hülfe dargeboten wird, muß ihnen klar seyn, daß es ein höheres Wohlseyn giebt, als das womit sie sich dem Gefühl der Bedürftigkeit entziehen wollen; und ehe sie sich nicht der Erquickung bedürftig fühlen, werden sie auch zu dem nicht gehn, der in alle Ewigkeit nichts anderes will als den Menschen freilich ein Joch auflegen, aber ein sanftes und leichtes, das sich ihnen als ihr Leben zu erkennen giebt, und in seinen Dienst einschreiben, in welchem allein sie Ruhe finden können für ihre Seelen. Freilich wenn wir den Erlöser sehen, sich diejenigen auswählen und bezeichnen, die ihm in seinem Beruf auf Erden am nächsten stehen sollten; wenn er dem Einen sagt: „Du bist der Fels, auf den ich meine Gemeine bauen will und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen“; wenn er zu dem Andern spricht: „siehe da, ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist“; so scheint er ihnen ja ein anderes und besseres Zeugniß zu geben und nicht bloß auf die Sehnsucht und das Verlangen in ihnen, was sich nicht selbst befriedigen kann, hinzuweisen? Aber, m. g. Fr., wie kommen sie zu ihm? Nur nachdem Andere gekommen waren und ihnen gesagt hatten: „wir haben den Messias gefun|den, kommt und schaut“ d. h. wir haben den neugebornen, jetzt unter dem Volk aufgetretenen König gesehen, sein Stern ist uns erschienen, in dem Innersten der Seele ist es uns aufgegangen, daß Johannes Recht hatte, als er sagte „sehet, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünden trägt“; kommt herbei, um ihn anzubeten. Zu ihm, dem Messias konnte keiner kommen als wer auch in sich fühlte die Sehnsucht nach einer bessern und heilsamern Herrschaft; wer aber auf diesen Ruf erschien, der kam um anzubeten. Und darauf also gründete sich jenes so herrliche Zeugniß, welches der Erlöser seinen Jüngern schon in dem ersten Anbeginn seiner Bekanntschaft gab, ehe sie noch etwas durch ihn geworden waren. Es erschien ihm in seiner weissagenden Seele, was sie werden könnten, wenn sie durch ihn würden geleitet und beseelt seyn, wenn das Verlangen, von dem sie jetzt schon entzündet waren, von ihm beherrscht zu werden, schon so vieles vorfinden 11 fühlen, werden] fühlen „werden 5–7 Vgl. Mt 11,28 29 Joh 1,29

24 kommen] konnen

18–19 Mt 16,18

20–21 Joh 1,47

24–26 Vgl. Joh 1,41

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würde in ihrer persönlichen Natur und in ihrer Gemüthsbeschaffenheit, was er sich zu einem ausgezeichneten Dienst bereiten könnte. Aber so wie er an einem andern Ort sagt: „Johannes ist der größte unter allen Propheten, aber wer der Kleinste ist im Himmelreich, der ist größer denn er“, so liegt auch in diesem Zeugniß, in seiner ganzen Umgebung betrachtet eben dasselbige: ohne die Sehnsucht und ohne das Verlangen, den König der Seele anzubeten, wären sie mit alle dem, was sie in den Stand gesetzt hatte, | Zeugen der Wahrheit, Felsen der Gemeine zu seyn, doch nicht in dem wahren Reiche Gottes gewesen, und also kleiner als jeder Andere, dem jene Gaben und Ausrüstungen gefehlt hätten. Und seitdem nun, m. g. Fr., die Kirche des Herrn auf seine Jünger, die, ihre Felsen, nichts anderes als sein Wort verkündeten, die unerschütterlich und fest gegründet waren in seinem Gebot, im Glauben an ihn und in der Liebe zu ihm, seitdem durch diese seine Gemeine gestiftet und weiter von ihnen das Wort des Herrn erschollen ist unter verschiedenen Völkern, und Heiden aller Art gekommen sind, ihn anzubeten und sich von ihm erleuchten und beseligen zu lassen: was für einen andern Maßstab haben wir für die Bemühungen aller Christen, das Wort der Erlösung durch die Welt zu verbreiten, als eben diese Sehnsucht, dieß im Innersten der Seele verborgene Verlangen? Wo sich dieses regt, da entsteht aus der Predigt vom Glauben der Glaube selbst und aus dem Glauben der göttliche Geist, der die Menschen zu Gliedern an dem geistigen Leibe Jesu Christi bereitet; wo dieses aber nicht ist, da geht es wie wir an einem Beispiel sehen in der Geschichte der Apostel, wo uns erzählt wird „der Geist aber wehrete ihnen zu verkünden das Wort“, da geschieht es, was der Herr selbst zu seinen Jüngern gesagt hat: „wo sie euch aber nicht aufnehmen werden in eine Stadt, da wird das Wort wieder zu Euch zurückkehren.“ Wo diese Sehnsucht noch zu tief verborgen ist, in der | menschlichen Seele, daß die Kraft des göttlichen Wortes nicht zu ihr hindurch dringen kann, wo sie zu tief vergraben liegt in den Schlaken eines auf das Sinnliche gerichteten und verkehrten Lebens, da kann auch der Glaube nicht entstehen, da kann auch die Erlösung nicht verbreitet werden, und Jahrzehnte, ja Jahrhunderte sind nöthig, um den erstorbenen Funken zur Flamme zu bringen und das neue Leben, welches der Herr an das Licht gebracht hat, zu erregen. Aber wir selbst, m. g. Fr., wir die wir immermehr bedürfen eines Zuwachses im Glauben, die wir so oft Ursache haben, auszurufen: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben“, wir, die wir so oft Ursache haben uns, jeder sich selbst und unter einander vorzustellen, wie die Gemeine Christi 4 er“,] er.“

32 Jahrzehnte] Jahrzehnde

3–4 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28 Mk 9,24

24 Vgl. Apg 16,6

25–27 Vgl. Mt 10,11–14

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seyn sollte, schön, und herrlich und ohne Flecken, aber es leider nicht ist; o was ist denn in uns Bürgschaft dafür, daß wir wahrhaft lebendig an ihm hangen, daß unser Glaube an ihn nicht erstorben ist, sondern er für uns gebeten hat und noch immer bittet, daß wir bewahrt bleiben mögen vor dem Fall, was ist für uns die Gewährleistung, daß wir nicht stehen bleiben auf demselben Punkt menschlicher und christlicher Vervollkommnung und Heiligung, sondern daß wir immer weiter dem Ziele entgegen gehen, welches der Erlöser uns vorgesteckt hat? Was anders als eben dieselbe Sehnsucht? Wo noch etwas ist, das uns unzufrieden | läßt mit uns selbst, da ist noch etwas, das noch nicht regiert ist und beseelt von dem König, den wir lange schon gekommen sind, anzubeten, da muß die Sehnsucht in uns seyn, daß auch dieser Theil unseres Selbst seine Herrschaft anerkenne und daß er gehorchen möge seinem königlichen Wort. Und ohne diese Sehnsucht giebt es kein Wachsthum des Glaubens und kein Zunehmen in der Heiligung. Und wenn wir darauf sehen, m. g. Fr., wie wir alle verbunden sind, den Herrn zu verkündigen, sein Reich auf Erden zu verbreiten, und die Predigt vom Glauben fortzupflanzen, bis sie hindurchgedrungen ist zu den äußersten Enden der Erde, sie ebenso zu verkündigen den künftigen Geschlechtern und ihnen die Schäze derselben zu eröffnen, wie wir selbst die Stimme des göttlichen Wortes vernommen haben und in den Besiz seiner Güter und Segnungen gekommen sind, und immermehr den Glauben zuzuführen denjenigen, welche obschon der Name des Herrn unter ihnen genannt wird, doch noch immer taube Ohren zu haben scheinen für sein Wort: – was ist es anders, m. g. Fr., was uns bewegt, dieß wirklich zu thun, als nur dieß, daß, weil der Mensch ein geselliges Wesen ist, welches nicht nur sein eignes Daseyn führt, sondern (was noch mehr sagen will) auch das Leben Anderer in sich mitführt, wie er | für diejenigen, von denen wir noch nicht wissen, ob die Sehnsucht nach dem Bessern schon in ihnen erwacht ist, für diejenigen, deren Leben uns das Zeugniß zu geben scheint, daß sie noch tief in ihnen schlummert, die doch mitfühlt, – daß wir die unauslöschliche Ueberzeugung haben von der Allgemeinheit derselben in der menschlichen Natur, daß wir uns bewußt sind, immer könne es nicht vergeblich seyn, wenn wir alles thun, was in unseren Kräften steht, dieser Sehnsucht den Sieg zu verschaffen über alles, was sie erschüttern und ersticken will im äußeren Leben. Nur aus diesem innersten Gefühl kommt der lebendige Trieb, von der Wahrheit und von dem Heil und der Erlösung, die in ihr liegt, zu zeugen durch Wort und That, in der Nähe und in der Ferne, wie einem jeden der Herr in der Welt seinen Beruf angewiesen hat. 27 will)] will, 3–5 Vgl. Lk 22,32

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Und auf diesem und keinem andern Grund vermag in alle Ewigkeit die Verkündigung des Wortes christlichen Lebens und christlicher Erlösung zu geschehen. Was aber, m. g. Fr., vermögen wir Besseres an diesem Feste der ersten Kundmachung des Erlösers, der ersten Nachricht von der Allgemeinheit seines, allen Menschen auf Erden angehörenden Reiches als eben mit diesem Gefühl der Allgemeinheit, in welcher dem menschlichen Geschlecht das Bedürfniß der Erlösung eingepflanzt | ist, uns in der Seele beschäftigen und uns desselben erfreuen, davon allein hoffen unser ewiges und wahres Heil, und daß wir immer mehr werden zugerichtet werden zu seinem Preise; darauf aber auch das Bestreben bauen, allen Menschen zu zeigen so viel als möglich von den herrlichen Früchten des Geistes und von den Gütern, die in keinem anderen, als in dem von ihm geheiligten und regierten Leben der Menschen zu finden sind. Denn durch solche Anstrengungen wird die verborgene Sehnsucht in der menschlichen Seele geweckt. Die Gemeine Gottes, die soll im Ganzen und in jedem einzelnen Theil der Stern seyn, das Zeugniß dafür, daß der König der Ehren da sey, und soll weit umher in der Nähe und in der Ferne das Verlangen erregen, daß sie gekommen sei, ihn anzubeten und sich von ihm segnen zu lassen. Durch diesen Stern sollen dem Arzt seine Kranken, diejenigen, welche er gesund machen und beseligen kann, die Mühseligen und Beladenen zugeführt werden. So geschehe es jetzt und zu allen Zeiten. Amen.

[Liederblatt vom 6. Januar 1822:] Am Fest Epiphanias 1822. 25

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Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf etc. [1.] Herr wir singen deiner Ehre; / Erbarm dich unser und erhöre, / Nimm gnädig unser Loblied an! / Herr wir danken voll Entzücken; / Wo ist ein Gott, der so beglücken, / So lieben und so segnen kann? / O du, den wir erhöhn, / Du, dessen Heil wir sehn; / Bist die Liebe! Schon vor der Zeit, / Von Ewigkeit / Warst du die Lieb’ und Seligkeit. // [2.] Als wir von der Sünde Plagen, / Gequält in unserm Jammer lagen, / Und Nacht des Todes uns umfing, / Fern von deiner Wahrheit Pfade: / Da war es, Gott, daß deine Gnade / Erbarmend vor uns überging. / Da rief dein Vaterblick / Ins Leben uns zurück; / Von der Sünde, aus ihrer Nacht / Sind wir erwacht / Zu schaun dein Licht in voller Pracht. // [3.] Preiset ihn, ihr Jubellieder! / Zur Erde stieg sein Sohn hernieder, / Ward Mensch und starb der Sünder Tod. / Christus hat den Tod bezwun1 diesem und keinem] diesen und keinen

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gen; / Ein Siegeslied werd’ ihm gesungen; / Uns segnet, uns begnadigt Gott. / Wir sind mit ihm versöhnt; / Ihr Lobgesänge tönt! / Tönt zum Himmel! Erschallt schon hier, / Einst kommen wir / Vor seinen Thron, o Sohn, mit dir. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Von meinem Jesu will ich singen, / Aus Liebe kam er in die Welt, / Die Wahrheit flog mit lichten Schwingen / Ihm göttlich strahlend beigesellt. / Als Finsterniß der dicksten Schatten, / Noch über allen Völkern lag, / Und kaum die Weisen Dämmrung hatten, / Kam er, mit ihm der volle Tag. // [2.] Er kam vom Himmel, sie zu lehren; / Seht, wie vor ihm die Erde schweigt! / Bald drängen Heiden sich, zu hören, / Als sich das Licht der Heiden zeigt. / Er lehrt in ihm uns Gott erkennen, / Ermuthigt Sündern Herz und Mund, / Daß sie durch ihn Gott Vater nennen, / Und ladet sie zum neuen Bund. // [3.] Da unser schuldiges Geschlechte / Dem Tode heimgefallen war, / Stellt sich der einzige Gerechte / Zum Opfer der Versöhnung dar. / Verloren waren Adams Kinder; / Doch er erbittet uns von Gott, / Er stirbt für uns gefallne Sünder, / Erniedrigt sich zum Kreuzestod. // [4.] Verehrt ihn einzig alle Lande! / Er, ob er gleich im Grabe liegt, / Zerbricht des Todes ehrne Bande, / Lebt ewig, und der Glaube siegt! / Der Glaube, diese zarte Pflanze, / Grünt aus verströmtem Blut hervor; / Mit ewig ungeschwächtem Glanze / Hebt er im Sturm das Haupt empor. // [5.] Was lehnen tobend Nationen / Sich gegen den Gesalbten auf? / Gewaltige auf Erdenthronen, / Verfolger, sammlet euch zu Hauf! / Wo seid ihr? seid ihr schon verschwunden? / Gewiß die Völker müssen sehn, / Daß Gottes Sohn hat überwunden, / Und Menschen Gott nicht widerstehn. // (Uz.) Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Kommt, laßt uns niederfallen / Vor unserm Mittler Jesus Christ, / Ihm danken, daß er Allen / Erretter, Freund und Bruder ist. / Er gleicht der Morgensonne / Mit ihrem ersten Strahl, / Verbreitet Licht und Wonne / Und Leben überall. / Durch ihn kommt Heil und Gnade / Auf unsre Welt herab; / Er leuchtet unserm Pfade / Durchs Leben, übers Grab. //

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Am 13. Januar 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,1–11 Nachschrift; SAr 61, Bl. 2r–6r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 101v; Gemberg (Notiz) Beginn der bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 337–350 und S. 351–368 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Aus der Predigt am 1. S. nach Ephan.

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Der Gegenstand der nächsten Reihe unsrer Morgenbetrachtungen sei: daß wir ein besonderes Buch unsrer heilgen Schrift nach der Ordnung durchgehen, um durch dieses Verfahren zu immer genauerer Bekanntschaft mit derselben zu gelangen, und damit der rechte Gebrauch derselben befördert werde. Laßt uns hiezu wählen den Brief Pauli an die Philipper. Philippus war die erste Stadt in unserm Welttheile wo der Apostel das Evangelium verkündete und eine Gemeine einrichtete, gelegen in dem Lande wo jezt die Christen verfolgt und fast ausgerottet werden. Denn als der Apostel in Asia hin und her reisete um das Evangelium zu verkünden, und der Geist ihm öfters wehrete es überall zu thun (wie die Apostel-Geschichte sich ausdrückt) so hatte er einst in der Nacht einen Traum daß er sollte gen Macedonien ziehn, und da war es die Stadt Philippus wo er nicht nur das Evangelium mit Erfolg predigte sondern auch gewürdigt ward um dasselbe zu leiden, indem er nemlich unter dem Vorwande daß sein Beginnen der bürgerlichen Ordnung und Verfassung zuwider sei, ohne Recht und Verhör ins Gefängniß geworfen ward, also getrennt von seiner Gemeinde leben mußte. An diese Gemeinde hat er hernach einen Brief geschrieben, den wir jezt zu erwägen beginnen[.] | Philipp. 1 v. 1–11. 8–9 Die Ruinen Philippis liegen heute in der Nähe der modernen Stadt Kavala in Griechenland. Das Gebiet gehörte zu Schleiermachers Zeit und bis 1912 zum Osmanischen Reich. 9–13 Vgl. Apg 16,6–9 15–17 Vgl. Apg 16,19–24

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Am 13. Januar 1822 früh

Der Apostel beginnt seinen Brief indem er zuerst bezeichnet an wen er gerichtet sei, und daß derselbe von ihm und Timotheus, welcher sein Gehülfe war im Dienst des Evangelii, ausgehe. Wenn der Apostel hier aber die, an welche er schreibt, Heilige in Christo Jesu nennt, so soll das (denn das war nicht seine Art) keine Art von Schmeichelei sein, etwa als ob er hätte sagen wollen, daß sie schon auf einer höhern Stufe der Vollkommenheit ständen; sondern es ist dieses der allgemeine Name der Christen den sie sich auch unter einander gaben und soll nichts anders sein als daß sie von Gott auserwählet und von ihm geweiht wären. Dieses Auserwähltsein und Geweihtsein zu etwas Besonderm zu Höherem und Geistigem heißt eben heilig, und daß der Herr sie zum Theil aus den Juden, zum Theil aus den Heiden gesondert hatte, und daß sie alle Diener Gottes sein sollten, das will der Apostel dadurch andeuten. Und wenn er sagt: „samt den Bischöfen und Dienern“: so wird unter Bischöfe verstanden alle die das Amt des Worts versahen, und unter Diener die welche wir jezt Älteste der Gemeine nennen. Aber laßt nicht unbemerkt, daß, indem der Apostel die Gesammtheit vor, und die Bischöfe und Diener nachher nennt in seiner Anrede, daß die ganze Gemeine zunächst ihm vor Augen schwebte und daß die Lehrer und Diener also miteinbegriffen waren der Gesammtheit und daß er ihrer nur erwähnt ohne sie zu sondern. Was aber den Gruß betrift: „Gnade sei mit euch, und Friede, von Gott und unserm Herrn Jesu Christo“: so finden wir diesen überall | in den Briefen des Apostels wiederholt; und in der That ist auch darin Alles zusammen gefaßt was den Christen wünschenswerth ist; denn unter göttlicher Gnade verstehen wir, was das Wachsen des göttlichen Willens in uns zu gründen vermag, was die Seele reinigt und sie immer geschickter macht reichlicher aus dem Schatze des göttlichen Worts zu nehmen und es leuchten zu lassen in seiner Anmuth. Friede: ist der Ausdruck für das innre Wohlbefinden der Seele welches besteht durch den Einklang ihrer Kräfte mit dem göttlichen Geiste. Und so müssen wir wol sagen daß in diesen beiden: Gnade und Friede: die volle Seeligkeit liege und daß es Alles sei was Einer dem Andern wünschen kann. Denn die äußern Dinge haben keinen andern Werth für den Christen als daß sich Gott ihrer bedient als Mittel die Kräfte auszubilden, damit sie thätig werden in seinem Dienste: so sind sie in Beziehung auf ihren Werth mit begriffen in jenem Wunsch. Indem der Apostel in den folgenden Worten den Wunsch mehr auseinandersetzt und ihnen sagt was er noch erbittet, so fängt er damit an daß er Gott danke: „Ich danke Gott so oft ich eurer gedenke – über eurer Gemeinschaft am Evangelio vom ersten Tage an bisher:“ Unter dieser Gemeinschaft am Evangelio ist zu verstehn was wir unter Gemeinschaft immer verstehn ein gemeinsames Empfangen und Geben: | So war damals überall 10–11 Besonderm zu Höherem und Geistigem] Besondern zu hohereren und Geistigen

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das Verhältniß der Christen zum Evangelio – sobald sie es empfangen hatten so fühlten sie sich verpflichtet aus allen Kräften dazu beizutragen daß es verbreitet werde, und die zu unterstützen welche tüchtig waren es in ferne Gegenden zu tragen. Diese Gemeinschaft am Evangelio am Dienst des Evangelii, diese rühmt der Apostel als die erste Nothwendigkeit der Christen; und so ist es auch, denn wenn jeder sobald er das Evangelium aufgenommen hat, sich getrieben fühlt es im vollsten Maaße einzusaugen, wie ihm ja dann das Gefühl der Seeligkeit nicht fehlen kann, und auf der andern Seite frisch daran geht es nach allen seinen Kräften mitzutheilen so ist der Grund gelegt zu allem Fortschreiten in der Heiligung durch das Evangelium – denn durch diese Gemeinschaft werden Alle in die herlichen Geheimnisse des Evangelii hineingeführt weil allen gehört was den Einzelnen in ihrem Innern zu Theil wird von der göttlichen Gnade. Aber wenn der Apostel sagt: er danke Gott wenn er ihrer gedenke welches er allezeit thue im Gebet: so könnten wir sagen das sei etwas Uebertriebnes daß der Apostel in jedem Gebet wozu er so viel Veranlassung hatte ihrer Aller gedenken könne; denn es waren während seiner Abwesenheit von der Gemeinde viele hinzugethan die er | also nicht kennen konnte. Wir sehen aber daraus daß es der Apostel hier mit dem Buchstaben nicht genau genommen hat, sondern er hegte die Zuversicht daß die Philipper ihn wol verstehen würden und ihn nicht der Unwahrheit zeihen, wenn er im allgemeinen rede. Und so sollen denn auch wir es zu unterscheiden wissen was genau genommen werden muß und was einen weitern Sinn hat: Wenn der Apostel die christliche Lehre vorträgt müssen wir es recht genau nehmen damit uns nichts verloren gehe, aber alles was so allgemeine Gegenstände betrift wie Vieles am Schluße seiner Briefe, das müssen wir nehmen als eine Rede wie wir sie im geselligen Leben finden. – Wichtig aber ist der Zusatz dieses mehr allgemein zu nehmenden Ausspruchs: „und thue das Gebet mit Freuden“: Denn das muß den Philippern ein Wort des Trostes gewesen sein; denn wenn wir betrachten jede Fürbitte und Danksagung die wir thun, so können wir nicht leugnen es giebt ein Gebet mit Freuden und ein Gebet mit Schmerzen. Wenn wir überall das Fortschreitende finden, so muß unser Gebet wol freudig sein, finden wir aber das Rückgängige; ist es so beschaffen in den Gemüthern, daß die Kraft des göttlichen Wortes ihrer Wirkung nach im Abnehmen | ist, so kann unser Gebet nicht anders als ein Gebet mit Schmerzen sein. Der Apostel wußte daß das Reich Gottes sich unter ihnen immer mehr verbreitete darum war sein Gebet mit Freuden. Und was könnten wir wünschen als daß auch wir Ursach haben mögen vor Gott ein Gebet mit Freuden darzubringen. Weiter sagt der Apostel: „Und bin desselbigen in guter Zuversicht, daß, der in euch angefangen hat das gute Werk, der wirds auch vollführen“: 16–17 gedenken] gedenke

21 ihn] ihm

23 hat:] hat;

25 alles] überall

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Am 13. Januar 1822 früh

Dieses fügt er hinzu damit sie nicht verleitet werden sollten zu eitlem Leichtsinn, er läßt sie fühlen daß alles Gute, das sich schon unter ihnen entwickelt habe durch das Evangelium nur der Anfang sei von dem was es wirken soll, daß er aber die Zuversicht habe, daß der Herr der in ihnen angefangen habe das Werk der Heiligung der werde es auch vollführen. Nicht hat der Apostel das so verstanden als ob dies Werk in dem Menschen je in seinem Leben so könne vollführt sein daß gar nichts mehr für ihn und an ihm zu thun sei, sondern das Vollführen hat er nicht anders verstanden als das immerwährende Fortschreiten. Er fährt fort: wie es denn mir billig ist, daß ich von euch halte: hier sagt er es sei ihm natürlich so von ihnen zu denken, es sei weder eine Vorliebe die er hege noch weil er sich in heitrer Gemüthsstimmung befinde, daß er so von ihnen denke: er spricht hier die Ueberzeugung aus, daß wer der Gnade einmal theilhaftig geworden sei daß der ihrer nicht wieder verlustig werden | könne, und das ist die Zuversicht, welche billig ist, und es sind nichts anders als eitel spitzfindige Fragen, welche zu manchen Zeiten in der christlichen Kirche aufgeworfen sind; nemlich ob es möglich sei, daß der Mensch der göttlichen Gnade wieder könne verlustig gehn; denn wann wollen wir sagen von einem Menschen, daß er schon fest sei in der Gnade, oder wie wollen wir bestimmen, daß er ihrer nicht mehr theilhaftig sei; wenn der Mensch erst von der göttlichen Gnade angefaßt ist, da kann es solche Augenblicke geben wo er der Gnade schon theilhaftig zu sein scheint, aber auf der andern Seite kann es auch, wenn der Mensch wirklich der Gnade theilhaftig ist, solche Augenblicke geben wo ein großer Widerstand zu besiegen ist, und es eben darum scheinen kann als sei er ihrer verlustig. Aber wie sollten wir nicht die Zuversicht der Apostel theilen, daß der Geist Gottes den Menschen nicht wieder verlasse, wenn er ihn einmal durchdrungen hat, selbst dann nicht wenn trübe Zeiten kommen wo der alte Mensch scheint die Oberhand gewinnen zu können; denn das ist ja der Glaube der Christen an den Geist Gottes daß sein Wirken ewig ist, und dadurch auch das Bestehen der Gemeinde des Herrn gesichert. | Und in dieser Zuversicht bestärkt der Apostel die Philipper dadurch daß er sie in seinem Herzen hatte, und so soll die brüderliche Liebe uns alle stärken. Indem der Apostel sie im Herzen hatte, so wirkte der göttliche Geist nicht blos in ihnen sondern auch durch ihn auf sie. Und so soll durch die Liebe das Wirken des Geistes kräftiger sein; jeder soll auch durch das was der Geist im Andern wirkt gestärkt werden, und so beruht die Zuversicht daß das Werk der Heiligung vollführt werde auf die Gemeinschaft der Christen, weil dazu erforderlich ist, daß Einer dem Andern zu Hülfe komme mit der Kraft der Liebe, des Glaubens und der lebendigen Zuversicht. 19–20 bestimmen, daß] bestimmen daß, 25 verlustig.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 27 verlasse,] verlasse. 40 Zuversicht.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge

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Der Apostel sagt weiter: denn Gott ist mein Zeuge, wie mich nach euch Allen verlangt von Herzensgrunde in Jesu Christo: d. h. – welchen lebendigen Wunsch ich hege für euer Wohlergehn im Reiche Christi. Und dieser Wunsch erzeugt das Gebet von dem er sagt: „darum bete ich, daß eure Liebe mehr und mehr reich werde an Erkenntniß und Erfahrung“: Das sehen wir wol daß darauf alles Fortschreiten ankommt daß die Liebe reicher werde, denn obwohl sie der innerste Grund und erste Keim des geistigen Lebens ist wie auch Christus sagt: daran wird man erkennen, daß ihr meine Jünger seid: so ihr euch liebet: so ist diese Liebe doch anfangs noch schwach, sie muß reich werden an Erkenntniß und Erfahrung um recht wirken zu können für die Heiligung, sie muß sich reiche Schätze sammlen aus dem | göttlichen Worte, Schätze der Erkenntniß aus dem Licht des göttlichen Wortes, Schätze der Erfahrung aus der Welt und dem menschlichen Herzen, – denn Erkenntniß allein thut es nicht, und wenn der Mensch sich verschließt um zu forschen nach Erkenntniß und dieselbe ihm im reichen Maaße zu Theil wird: so ist er doch nicht geschickt zur Thätigkeit, wenn er nicht um sich Schätze der Erfahrung zu sammlen auch unter Menschen lebt. Ist nun der Mensch von der Liebe getrieben so begnügt er sich weder allein mit der Erfahrung noch mit der Erkenntniß, sondern beides sucht er zugleich; nicht nur um anderen helfen zu können sondern auch in sich selbst die Kraft des Glaubens auszubilden, und daraus entsteht, daß er in den Stand gesetzt wird zu prüfen was das Beste sei, zu unterscheiden nicht nur das Gute und Böse, sondern auch was in jedem Augenblick der Wille Gottes an uns sei woraus denn entstehn jene Früchte der Gerechtigkeit durch Jesum Christum zur Ehre und [zum] Lobe Gottes. Das wolle er uns geben durch die Erbauung und Stärkung unsrer Seelen!

8–9 Joh 13,35

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Am 13. Januar 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Sonntag nach Epiphanias, 11 Uhr Domkirche zu Berlin Lk 2,41–52 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 101r–101v; Gemberg Keine Keine Vermutl. Vakanzpredigt Tageskalender: „Über das Evangelium“

Am 1. Sonnt. nach Epiphanias. Schleiermacher in Domkirche. Luk. 2 v. 41–52. Christus in seiner Jugend offenbarte schon die Herrlichkeit seines Wesens, er ist ein Bild der Nachahmung für uns. Er lebte zusammen mit den Männern, die er später so streng befehdete. So wir, die Gemeinschaft sollen wir aufrecht erhalten, die des Gebens und Nehmens, wir um so mehr, da er es that, der da aus reicher Fülle nur geben konnte, nicht empfangen.

101v

Sehn wir 1. auf die Gründe, warum dennoch von je her soviele Menschen sich ablösten von der Gemeinschaft der Kirche, und diese scheuten. Der Grund liegt theils im Trotz des menschlichen Herzens, das sich selber genug scheint, und die anders, wie es glaubt, denken, verachtet, theils in der Verzagtheit des Herzens, das von einseitiger Richtung beherrscht, an den Fesseln eines starken Geistes hängt, von dem es sich nicht loszumachen und dem Ganzen hinzugeben wagt. Aber in der Verzagtheit liegt auch der Keim des Trotzes. Beides be|scheint Christi Beispiel, der den Gesetzeslehrern zuhörte, um im Austausch der Gedanken zu lernen, denn noch war er in dem Zustand, wo er zunahm an Weisheit und Alter, wo alle menschlichen Kräfte in ihm sich erst entwickelten. Sehn wir 2. auf die Gründe, warum wir vesthalten sollen die große Gemeinschaft. Es sind mancherlei Gaben, aber Ein Geist. Es ist eine Gabe, 1–2 Der Oberhofprediger an der Domkirche, Ferdinand Stosch (geb. 1750 in Lingen), war am 1. Juli 1821 verstorben; vgl. EPMB2, S. 862. Schleiermacher hatte seitdem nachweislich bereits dreimal im Dom gepredigt: Am 22. Juli 1821 vorm., am 28. September 1821 vorm. und am 2. Dezember 1821 nachm. (vgl. Predigtkalendarium Schleiermachers, in: KGA III/1; KGA III/6). 21 1Kor 12,4

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Über Lk 2,41–52

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nach Wahrheit zu forschen, aber der göttliche Geist ist zwar in Allen, doch nach Maaßen, und die Wahrheit ist nicht im Einzelnen, nur in der Gesammtheit der Kirche. Trennen wir uns von der los, engherzig und verschliessend, so ist die wohlthätige Gemeinschaft gelöst, und wir irren um so mehr, und steckt der Irrthum auch eine Zeitlang verborgen hinter der Wahrheit, er bricht doch hervor. Darum halten wir ans Ganze fest. Das that gar der Herr, in dem der Geist ohne Maaß war, der spricht von der Gemeinschaft mit denen, die er befeinden mußte dennoch wie von einem Hause Gottes, in dem er sein müsse. Haben andre andre Ansichten, schließen wir sie nicht vom Hause Gottes aus, und suchen die Wahrheit in der Liebe, wie auch unsre großen Glaubensverbesserer die Gemeinschaft nicht lösen wollten, sondern selber hinausgestoßen wurden.

Am 20. Januar 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

102r

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,29–34 Nachschrift; SAr 52, Bl. 102r–102v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am 2. Sonntag nach Epiph. Schleiermacher in Dreif. K. Johann. 1 v. 29–34. Das Fest der Verkündigung des Herrn und seiner Lehre (Epiphanias) galt immer zugleich als das der Taufe. Mit der Taufe begann die öffentliche Wirksamkeit Christi. 1. Was bewog Christum, sich taufen zu lassen? War Christus sündenlos, und nahm die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden doch an, aus versteckten Gründen, so scheint er von der Wahrheit abgewichen – war er bis dahin nicht völlig sündlos, so verletzt das unser Gefühl. Aber bedenken wir, es war eine große Spaltung im Volke unter denen, die an den alten Vorurtheilen von den angebornen Vorrechten des Volkes Gottes und dergleichen hingen, und die sich zum Herrn bekehrten und auf den Erlöser vorbereiteten, hier mußte Christus Parthei nehmen, und so wie überall im Kampf des Lichts und der Finsterniß, so rühmlich Unpartheilichkeit an sich ist bei streitigen Fällen. Ferner kehrte der Herr nicht gewaltsam um, sondern schloß sich in allem an die bestehenden Institutionen [an], darum schuf er selber wenige Zurüstungen nur für seine Gemeine, 1 Gebet, das einfach und würdig das ganze Bedürfniß der menschlichen Natur ausspricht, 1 Gebot: Liebet euch untereinander, was alt war, als einseitig aufgefaßt, und neu, 2 Sakramente, die beide alt waren, aber nun höher gefaßt wurden, die Taufe des Geistes und das Liebesmahl des Glaubens zum Herrn und Heiland. Und so wollte er auch die Taufe des Johannes, welche fürs Bessere ein Zeichen sein sollte, nicht bei Seite schieben. Er trug 19–20 Vgl. Mt 6,9–13; Lk 11,2–4 20 Vgl. Joh 13,34–35; 15,12.17 Mt 28,19; Mk 16,15–16 22–23 Vgl. Lk 22,19; 1Kor 11,23–25

22 Vgl.

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selber die höchste Wahrheit in sich, und mußte daher die Parthei der Wahrheit ergreifen. Und dann wollte gar | Johannes durch die Taufe nicht zwischen den Guten und Bösen unterscheiden, sondern der sich taufen ließ, gab nur zu erkennen, daß das Volk der Erlösung bedürftig sei und Buße im Ganzen noththue. 2. Was hatte der Herr durch die Taufe für seine große Bestimmung erreicht? Er begann damit seine öffentliche Wirksamkeit. Er trat nun aus dem Dunkel hervor, um sich für die Wahrheit frei zu entscheiden, und anerkannt als der Erlöser vollendete er dann den Beruf. Im Matthäusevangelium heißt es, der Täufer kannte ihn, hier, er kannte ihn nicht, mithin, beides zu vereinigen, wuchs die Ueberzeugung im Täufer nun, daß Jesus der Erlöser sei, der nunmehr mit Feuer und dem heiligen Geiste taufte.

[Liederblatt vom 20. Januar 1822:] 15

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Am 2. Sonntage n. Epiph. 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Dir dir Jehovah etc. [1.] Dich preisen Herr Gesang und Lieder / In tausend Stimmen irdischer Natur, / Und Erd und Himmel tönt sie wieder, / Nicht die nach dir genannte Stätte nur. / Dein großer Tempel ist die weite Welt, / Ist jedes Herz, das, Heilger, dir gefällt. // [2.] Doch voller noch strömt uns dein Segen, / Wie reich er auch den stillen Beter lohnt, / In Gnad und Wahrheit hier entgegen, / Wo deine Ehr in der Gemeine thront. / Hier steht die Jugend, und hier dankt der Greis, / Hier bringet Leid und Freude dir den Preis. // [3.] Hier wo beseelt von gleichem Triebe / Ein frommes Feierlied das andre hebt, / Und alles voll von deiner Liebe / In deines Sohnes Geiste lebt und webt, / Wie stärkt und tröstet hier, wie weihet mich / Der heilge selige Gedank an dich. // [4.] Verkläre dich aus deinem Worte, / O du des Lichtes Quell, auch heut uns ganz, / Nicht hier allein, an jedem Orte / Umstrahl uns deiner ewgen Wahrheit Glanz, / Daß wir in Lieb und Glauben dir uns weihn, / Dein Tempel, Heilger, überall zu sein. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] O Jesu meiner Seele Lust, / Welch himmlisches Vergnügen, / Wenn ich im Geist an deiner Brust / Kann als dein Jünger liegen! / Wenn deine große Freundlichkeit / Der Seele, die sich dir geweiht, / Schenkt Labung und Genügen. // [2.] Du bist das wunderbare Licht, / In welchem ich erblicke / Mit aufgedecktem Angesicht / Was ewig mich erquicke. / Nimm hin mein Herz, 10–11 Vgl. Mt 3,13–14

12–13 Vgl. Mt 3,11; Lk 3,16

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Am 20. Januar 1822 vormittags

erfüll es ganz, / O wahres Licht mit deinem Glanz, / Und weiche nicht zurücke. // [3.] Du bist der rechte Himmelsweg, / Der steht nun allen offen; / Wer dich gefunden, hat den Steg / Zur Seligkeit getroffen. / Ach laß mich, du mein Heil, hinfür / Doch ja den Himmel außer dir / Auf keinem Wege hoffen, // [4.] Du bist die Wahrheit! stark und rein / Ist sie in dir zu lesen. / Der Menschen Wort war Trug und Schein, / In dir ist Kraft und Wesen. / Durchdringe du nur den Verstand, / Daß mir das Wort recht sei bekannt, / Durch das ich kann genesen. // [5.] Du bist das Leben, deine Kraft / Muß in mir triumfiren, / Dein Geist, der alles Gute schafft, / Muß mich allein regieren! / Und bin ich so voll Kraft und Geist, / So laß mich, wie dein Wort verheißt, / Dies Leben nie verlieren. // (J. C. Lange.) Nach der Predigt. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Herr Gott, was irdisch ist, vergeht, / Enteilet mit dem Leben; / Herr Gott was ewiglich besteht, / Hast gnädig du gegeben! / Es bleibt der Christen Recht und Pflicht, / Es bleibt der Wahrheit helles Licht / In Jesu heilger Lehre. // [2.] Die Lehre bleib uns bis ans Grab / Ein Licht auf allen Wegen, / Der Jugend Schatz, des Alters Stab, / Des Herzens Trost und Segen! / Sie halt’ in aller Freud und Noth, / In jedem Kampf und durch den Tod / Uns fest am ewgen Leben. //

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Am 27. Januar 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

3. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,12–18 Nachschrift; SAr 61, Bl. 7r–12v; Woltersdorff Keine Keine Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 369–387 und S. 388–407 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Aus der Predigt am 3. S. nach Epha. 1822. Phil. 1 v. 12–18.

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In dem ersten Anfang des Briefes redet der Apostel nur von seiner Gesinnung und von seiner herzlichen Liebe gegen die an welche er schreibt, und theilt ihnen mit daß er um ihretwillen Gott danke und was er für sie von Gott erbitte, und erst jetzt erfahren wir wie es mit ihm selbst stehe daß er nemlich in Gefangenschaft war um Christi willen[.] Er sagt aber zuerst um den Philippern Muth zu geben und Freudigkeit: ich lasse euch wissen, daß, wie es um mich stehet, das ist nur mehr zur Förderung des Evangelii gerathen – hier haben wir gleich zu Anfang den wahren und eigentlichen Sinn eines Dieners, welcher Alles was ihm begegnet auf nichts anders bezieht als auf seinen Beruf, auf die Förderung des Reichs Christi wonach er vor Allem trachtet und was der nächste Gegenstand aller seiner Wünsche ist. Indem der Apostel in Jerusalem von den erbitterten Juden zuerst in einem Auflaufe sollte ums Leben gebracht werden und er von den römischen Obern gerettet und ins Gefängniß gebracht worden war und sie nun oft Klagen gegen ihn anzubringen hatten, so war wohl das erste Gefühl das sich seines Herzens bemächtigte dieses: daß der Lauf seines Amtes unterbrochen werden mußte, seine Wirksamkeit gehemmt wurde. 7 willen] folgt ein Spatium von etwa einer halben Zeile Länge 3–6 Vgl. Phil 1,3–11

15–20 Vgl. Apg 21,27–23,11

9 euch] euch,

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Wir lesen in der Apostelgeschichte daß er als er im Begriff war nach Jerusalem zu reisen er Gesichte hatte die ihm sagten daß er zurückbleiben sollte, als ein Prophet sich mit seinem Gürtel | band und sagte so würden die Juden zu Jerusalem den Apostel binden und überantworten in die Hände der Heiden, und als hernach die Brüder sich bittend an ihn wandten: er solle sein selbst schonen, er aber darauf nichts antwortete, als: Ich bin bereit nicht allein mich binden zu lassen, sondern auch zu sterben zu Jerusalem um des Namens willen des Herrn Jesu; denn er wußte wohl daß es nichts anders sein konnte als die Feindschaft gegen das Evangelium wodurch ihm ein solches Schicksal könne bereitet werden, er wußte sich rein von Allem was ihm konnte zum Vorwurf gemacht werden nach menschlichem und göttlichem Gesetz. So also war er weit entfernt sich abhalten zu lassen nach Jerusalem zu gehen, denn freilich wenn er es nicht für nöthig gehalten hätte vielleicht um etwas zu thun um die Einigkeit zwischen der ersten Gemeine zu Jerusalem und den übrigen zu unterhalten, [um] manches nicht ganz Richtige was sich mögte eingeschlichen haben, zu berichtigen, also überhaupt um die Liebe zu befestigen und zu unterhalten, so wäre es ja wol recht gewesen daß er den Warnungen gefolgt hätte dieser Gefahr aus dem Wege zu gehn; aber eben in dem Gefühl seines Berufes sagte er: „Was macht ihr mir das Herz schwer ich bin bereit nicht allein mich binden zu lassen sondern auch zu sterben um des Namens des Herrn Jesu willen:“ Nun da die Weissagung in Erfüllung gegangen war und er in Banden lag, und wahrscheinlich schon von Cäsarea nach Rom gebracht worden war, so ist er doch voll Muth und Freudigkeit: freilich Vorwürfe konnte er sich nicht machen aber betrübt hätte er sein können daß der Beruf das Evangelium zu verkündgen | werde gestört werden, daß nun die Philipper das nicht denken sollten darum theilt er ihnen dieses Freudige mit, indem er voraussetzt daß sie die ihn so sehr liebten, daß auch sie keinen andern Gesichtspunkt haben könnten als die Förderung des Reichs Christi, daß sie also seine Gefangenschaft nur ansähen in Beziehung darauf, und da giebt er ihnen die freudge Nachricht: „wie es um mich stehet, das ist nur mehr zur Förderung des Evangelii gerathen“: sie sollten sich also freuen, anstatt daß sie bange wären das Evangelium werde gehemmt werden. Das ist nun ein schönes Beispiel welches uns nicht nur der Apostel giebt sondern auch die Philipper; denn wenn er Ursach gehabt hätte zu glauben sie seien anderes Sinnes, so würde er wol erst darauf bedacht gewesen sein sie von ihrer Ansicht zu der Seinigen herüber zu bringen, aber sie stimmten darin ganz in den Sinn des Apostels ein, und so sehr sie ihn liebten und verehrten als einen würdigen und eifrigen Diener des Herrn daß sie doch weniger an ihn 1–8 Vgl. Apg 21,10–13

20–22 Apg 21,13

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selbst dachten und an das was ihm begegnete als an sein großes Geschäft wozu der Herr ihn ausersehn hatte. Noch mehr aber er selbst, gedenkt seiner nicht, und so ist denn auch das Erste was er schreibt nicht, welche Aussicht er habe für sich, sondern das Nöthigste daß er sie beruhigt, daß der Lauf des Evangelii nicht werde gehemmt | werden und versichert sie es sei vielmehr förderlich dem Evangelio. Wie das nun aber ein herliches Beispiel ist von der wahren christlichen Selbstverleugnung die auch auf diejenigen die wir lieben sich erstrekt und wie es überhaupt nur die echte Selbstverleugnung ist, wenn wir uns verleugnen um Christi willen, und weil die Sache des Herrn unser höchster Zweck ist in sofern wir uns selbst nicht anders angesehn haben als wie wir seine Diener und Werkzeuge sind. Wie uns der Apostel ein schönes Beispiel giebt von der rechten christlichen Liebe: so beherzigen wir billig wie der Christ in seinem irdischen Leben die Sache des Herrn führen kann, gewiß nur dann wenn das die unausgesetzte Regel des Lebens ist sich ganz dem Dienste des Herrn zu ergeben und das nur zu thun was dem förderlich ist. Denn hat so der Christ die Sache des Herrn immer im Auge die nur durch Wahrheit und Liebe kann gefördert werden dann hütet er sich in jedem solchen Falle wo Streit unvermeindlich ist, vor allem was dem Geiste der Wahrheit und Liebe zuwider ist. Ist aber dagegen gefehlt worden hat man bei einem Werke andre | Rücksichten gehabt hat man sich leidentschaftlichen Bewegungen überlassen und ist aus dieser großen Regel der Wahrheit und Liebe irgend herausgefallen, dann ist es auch nicht möglich daß dieser reine Sinn, in der Art sich zu betrachten, sich offenbaren kann, daraus die Freudigkeit entstanden. Denn wenn wir eine Verschuldung daß wir nicht an Christum allein gedacht haben auf uns haben dann müssen wir uns das Zeugniß geben daß wir selbst mit herbeigeführt haben was uns aus unserm Beruf herausnimmt und dann können wir nicht so wie der Apostel sagen daß solche Störung förderlich sei der Sache des Herrn sondern müssen wünschen daß dieselbe bald möge ein Ende haben, und wir in unsere Wirksamkeit zurückkehren mögen damit wir das wieder recht bald vergessen könnten. Nur ein ganz reines und unbeflecktes Gewissen kann unter den Leiden die durch die eigne Thätigkeit herbeigeführt werden, sich selbst verleugnend die Freudigkeit bewahren. Eben diese Freude den Philippern mitzutheilen darüber daß das was zu hemmen scheine vielmehr zur Beförderung diene sagt der Apostel dies: Das konnte ihnen nun freilich Wunder nehmen wenn sie daran dachten was der Apostel hätte ausrichten können wenn er in seiner gewöhnlichen Wirksamkeit geblieben wäre; darum erklärt | ihnen 32 unsere] unsrer

38 dies:] Hier fehlt eventuell ein Satz.

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der Apostel auf welche Weise er meint daß die über ihn gekommne Trübsal förderlich sei. Und so sagt er: „Also daß meine Bande offenbar worden sind in Christo“: – Offenbar worden d. h. daß durch seine Bande war seine Anhänglichkeit an das Evangelium offenbar, und das Evangelium selbst nemlich allen denen mit welchen er selbst zunächst zu thun hatte (die heidnischen Richter), so sieht er das schon an als eine Förderung des Evangelii denn dadurch bekommen viele die erste Kenntniß von dem Namen und dem Werke des Erlösers und der Apostel konnte sich ansehn als in seinem gewöhnlichen Beruf; denn indem sie nachforschten weshalb er denn eigentlich vor dem kaiserlichen Gericht stehe erfuhren sie daß er nicht um einer Verschuldung willen weder gegen den römischen Kaiser noch gegen sein Volk, ihnen überantwortet sei sondern nur um der Lehre Christi willen. Darauf nun mußte die Aufmerksamkeit sehr vieler gerichtet werden, so daß sie sich fragten was denn das wol sein möge was so festen Glauben und Muth wirke. Und dadurch schon daß dieser Funke in die Menschen geworfen war fühlt der Apostel das Evangelium gefördert und sich beruhigt über seinen eignen Zustand. Das ist ein Trost den wir uns alle aneignen können in Beziehung auf die Leiden welche die | Christen in dem Dienste des Herrn treffen; denn da wird die Aufmerksamkeit der Menschen auf diesen Gegenstand gerichtet, und indem sie darüber Untersuchungen anstellen so werden sie auf den Mittelpunkt zurükgeführt und werden zu einem tiefern Gefühle veranlaßt von der Festigkeit und der Seeligkeit die der Gegenstand in uns gründet. Aber auch in solchen Widerwärtigkeiten die nicht in so genauem Zusammhange mit dem Reich Christi stehen können wir uns dieses Trostes erfreuen daß sie zur Förderung des Bessern gereichen, denn der leidende Mensch zieht immer mehr die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich, die Art, wie er die Leiden erträgt und die Art wie er das Leben überhaupt ansieht, erregt Theilnahme der Menschen und indem die Liebe zum Bessern sich in ihm offenbart, dann werden die Menschen aufmerksam gemacht und mehr durchdrungen und bekommen ein tiefres Gefühl von dem Unterschiede zwischen dem der Christum liebt und dem der gleichgültig ist, welcher Unterschied sonst oft nicht in die Augen fällt. – Aber es war dieses nicht allein wodurch die Bande offenbar wurden als Bande um Christi willen sondern auch wie er weiter sagt: Viele Brüder in dem Herrn aus meinen Banden Zuversicht gewannen das Wort zu reden ohne Scheu. Dies ist es was in genauer Verbindung damit steht und was wir nicht können unbeachtet lassen: Ohne diesen festen und unerschütterlichen Muth wäre er nicht in die Gefangenschaft gerathen | denn er wäre nicht nach Jerusalem zurückgekehrt. Von Anbeginn an also hatte er diese Standhaftigkeit, und dieses zeigt sich in der ganzen Art wie er seine Gefangenschaft ertrug; dieser Muth der in ihm war erzeugte auch in andern den Muth denn: ohne Scheu, sagt

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er, reden andre das Wort und durch diese erfuhren viele die früher noch gar nichts davon wußten, welche Wahrheit und welches Licht der Erlöser herniedergebracht hat. So wird es immer sein. Beides ist anstekend, der Muth und die Feigherzigkeit, wenn die denen etwas Wichtiges obliegt die Pflicht versäumen und unter irgend einem Vorwande sich schwächlich beweisen, so bemächtigt sich leicht diese Muthlosigkeit auch Anderer nach dem Maaße ihrer Verpflichtung, denn immer ist der Mensch gewiß sich durch Beispiele leiten zu lassen, und wenn er sagen kann: wenn der der eine größere Verpflichtung hat so gehandelt hat so steht es uns die wir geringere Verpflichtung haben zu, ohne etwas zu thun die Sache Gott anheim zu stellen. Aber eben so, Gott sei dank, als diese Feigherzigkeit so theilt sich auch der Muth mit und so nur Wenige sind so wird sich das kleine Häuflein vermehren, denn das ist etwas Natürliches was unauslöschlich in der menschlichn Seele bleibt und was wir zu dem Guten rechnen müssen daß immer jeder Freude hat an dem Muth und die Unerschrokenheit und Achtung vor demselben die sich zeigen wenn Einer das was ihm sein Gefühl für gut erkennen | läßt, zu vertheidigen sucht und darüber die Güter des äußern Lebens vernachlässigt. So wird es immer gehn. Wenn sich nur erst einige unerschrokne Vertheidiger gefunden haben, so werden auch Andre ergriffen werden und die Sache die in Gefahr steht wird dann immermehr geschützt werden. Aber das war doch nicht so erfreulich als es zuerst scheint denn der Apostel sagt weiter: Etliche aber predigen Christum auch um Haß und Haders willen, etliche aber aus guter Meinung willen. Wenn der Apostel vorher sagt daß viele Brüder muthiger geworden so können wir nur an die denken die es aus guter Meinung thun, die sich beeiferten es zu offenbaren damit es auch Andern bekannt würde. Aber er sagt es gäbe auch Andere die das Evangelium verkündigen aus Zank – dies muß uns wohl zuerst Wunder nehmen wie beides neben einander gestellt ist, das Erste um dem Apostel ein gutes Loos zu bereiten, sie sagten, es sei nichts Böses was er verkündigte, Andre aber dem entgegen waren und beide thaten doch dasselbe, jene glaubten ihm ein besseres Loos zu bereiten und diese glaubten ihm Trübsal zu bereiten indem sie das Evangelium ausbreiteten. Wie mag doch dies nebeneinander stehn? Das kommt daher weil es zu den göttlichen Geheimnissen gehört daß das Evangelium leicht kann mißverstanden werden und daß die Widersacher darin können einen | Vorwand finden, den treuesten Anhängern Trübsal zu zu wenden. Das gehört zu den verborgnen Rathschlüssen Gottes, in welche den Gläubigen doch ein Blick zu thun vergönnt ist: Das Evangelium das die Herzen der Menschen durch und durch reinigen soll so daß uns nichts weiter bevorsteht was uns auf eine höhere 9 wenn der] wem der

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Stufe bringen soll, darum muß es diesen Schein an sich tragen daß es könne gemißdeutet werden damit diejenigen die das Evangelium wollen zu seiner Ehre verkündigen sich auch der vollkommensten Reinheit befleißigen, damit jener nachtheilige Schein keine Bestätigung erhalte. Was die welche aus Liebe vom Evangelio Herrliches gesagt haben verkündigten das dürfen wir uns nicht ins Gemüth rufen denn wir sind alle davon durchdrungen, was die aber sagten die es um Hasses willen verkündigten das war dasselbe, wodurch der Herr selbst vor Gericht gekommen war, daß er ein neues Reich gründen wollte was dem Bestehenden zum Nachtheil war, und dem Ansehn der menschlichn Gesetze zuwider sei. Dieser Schein erneuert sich von Zeit zu Zeit als ob die Herschaft des Evangelii über die Gemüther, der äußern Ordnung zuwider sei, und zum Ungehorsam gegen die Gesetze leite, darum müssen wir unser Betragen reinigen, und der Wahrheit in den tiefsten Quellen nachforschen, und uns zu nichts verleiten | lassen wodurch dem Evangelio kein Vorwurf der Art könnte gemacht werden, von denen die es um Hasses willen verkündgen. Aber nun sollten wir doch meinen daß das diese betrübt habe daß das Evangelium auch um Hasses willen verkündigt ward: allein er fährt fort: „daß nur Christus verkündiget werde, es geschehe zufallens oder rechter Weise so freue ich mich doch:“ Rechter Art und Weise verkündigten die Christum die es thaten aus Liebe zu ihm, und das ist dann freilich erfreulich. Zufallens oder zufällig aber die welche gar keine Absicht hatten es zu verkündgen und es doch thaten um den andern zu schaden, und doch freut er sich über die Einen und über die Andern und hat kein Mitleid? Nein „so nur Christus verkündet wird“ sagt er, und das meinte er natürlich so: daß doch alle Menschen auf diese Weise von Christo hörten, und obgleich das was sie hörten nicht übereinstimmend war, so mußten ihnen eben darum die welche aus Haß verkündigten erscheinen als in einem leidentschaftlichen Zustande, der nie ganz zu verbergen ist, woran sie es leicht erkennen konnten daß das keine richtige Darstellung sei, sondern daß um die Wahrheit zu erfahren sie auch den andern Theil hören mußten, und so wurden | sie also zur rechten Verkündgung hingeführt, so sie nur einen reinen Sinn hatten. Leider ist es nicht nur damals geschehen, daß Christus verkündet wurde um Hasses willen, sondern auch noch jetzt geschieht es so, aber auch dieses bleibt, daß dadurch dem Reiche Gottes kein Schaden zugefügt wird; denn wenn sich auch manche nur stellen als eifrige Vertheidiger der Wahrheit um das Beßre, um die einfache Verkündigung zu unterdrüken, so wird doch dadurch nur mehr und mehr die Wahrheit an den Tag kommen; denn unbefangne Gemüther werden nicht dadurch verleitet werden sondern vielmehr hingeleitet zu der lauteren ewigen Wahrheit. So sehn wir also auch in jenem Beispiel aus der ersten Zeit des Christenthums was sich unter uns wiederholt. Möge der Geist Gottes der dieses theure Werkzeug des Herrn den Apostel so ausrüstete mit Muth Festigkeit

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und Freudigkeit auch uns ganz durchdringen, dann werden wir Ursach finden Gott zu preisen für Alles und zu erkennen daß das Reich seines Sohnes durch keine Gewalt kann erschüttert werden, und daß der Herr endlich Allen werde verkündet werden und gereichen zur Erlösung und zur Heiligung wie er es verheißen hat!

4–5 Vgl. 1Kor 1,30

Am 3. Februar 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Septuagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,37–51 Nachschrift; SAr 61, Bl. 13r–20v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 103r–103v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Septuagesimä. Joh. 1 v. 37–51.

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Wir haben neulich über die Taufe des Herrn geredet, diese Erzählung des Evangelisten schließt sich unmittelbar daran an was wir damals zum Grund unsrer Betrachtung machten. Und wie unser Herr die Taufe des Johannes nicht nahm um seiner selbst willen, aus eignem Bedürfniß, sondern um die Wirksamkeit zu der er berufen war, an das was gleichzeitig mit ihm als ein Werk Gottes bestand anzuschließen: so haben wir Ursach zu glauben daß er sie darum nicht eher genommen habe als da er seinen Beruf unmittelbar antreten wollte. In diesem nun war es wol das Erste und Wichtigste, daß er fand eine kleine Anzahl heilsbegieriger Seelen welche er näher mit sich verbindend zu seinen Dienern und Werkzeugen machen wollte, freilich nur im Vertraun auf die Gnade Gottes welche mächtig ist in den Schwachen. Daher ist es auch für uns in der Betrachtung der Wirksamkeit des Erlösers das Nöthigste, daß wir genau betrachten wie er sich bei den ersten Erwerbungen seiner Jünger verhalten habe. Die Erzählung des Evangelisten so unvollständig sie ist so ist sie dennoch so reichhaltig daß es nicht möglich wäre dieselbe in einer unsrer Betrachtungen zu erschöpfen. Wir wollen daher für diesmal nur zweierlei herausheben wovon das Erste im Anfang, das Zweite am Ende der Erzählung enthalten ist. | 13v

1. Das Erste ist Dieses: wie unser Erlöser als er nun seinen öffentlichen Beruf antrat, obgleich ihm ein menschliches Vorgefühl von den Schwierigkeiten 2 Joh. 1,37–51.] Joh. 1,37– 3–5 Vgl. oben 20. Januar 1822 vorm.

13 Vgl. 2Kor 12,9

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dabei und von der wahrscheinlichen Kürze seines irdischen Lebens nicht fehlen konnte wie er demohngeachtet in dieser großen Angelegenheit so wenig eilfertig und zudringlich zu Werke ging. Der Erlöser hatte von Johannes die Taufe angenommen und verweilte darnach an demselben Ort noch einen Tag und den andern, nicht wird uns erzählt in einer regsamen Geschäftigkeit, sondern mehr als Zuschauer der Wirksamkeit des Johannes, und um sich in eine allgemeine Verbindung des Gemüths zu versetzen mit denjenigen mit welchen er das Gleiche angenommen hatte. Johannes aber als er ihn wandeln sah sprach: siehe das ist Gottes Lamm; das ist der von dem ich euch oft gesagt habe daß er schon aufgestanden sei: Da nun Johannes nie auf sich selbst sondern immer auf den hinwies der da mit dem Geist Gottes taufen würde und nun jener allgemeinen Hinweisung die namentliche hinzufügte, so wurden 2 seiner Jünger begierig die nähere Bekanntschaft dessen zu machen auf welchen sie hingewiesen waren, aber was antwortete ihnen der Herr auf ihre Frage nach ihm? nichts als das einfache und ruhige: Kommt und sehet!: und gab dadurch nichts anders als seine Bereitwilligkeit sie aufzunehmen zu erkennen | ohne etwas Bestimmtes hinzuzufügen. Zwar erzählt der Evangelist nicht was in jenen Tagen vorgefallen sei, doch wenn wir auf die Frucht jener Unterredung merken, daß sie nemlich am folgenden Tage zu den andern mit Ueberzeugung sagten: wir haben den Messias funden, den verheißnen Erlöser und Heiland; so erstaunen wir darüber wie weit sie es in dieser kurzen Zeit gebracht, welche große Wirkung der Erlöser auf ihre Seelen muß hervorgebracht haben; denn in diesem einen Worte: wir haben den Messias funden: liegt darin nicht der ganze Glaube der Christen, der ganze Glaube an das Reich dessen König der Gesalbte des Herrn sein sollte, und in dem Bekenntniß, liegt darin nicht die Verpflichtung sich seinem Dienste ganz hinzugeben? Aber von eben diesem Glauben sagte der Erlöser am Ende seines irdischen Lebens mit ihnen, zu seinen Jüngern: ich habe euch noch viel zu sagen aber ihr könnt es noch nicht tragen: Und so müssen wir gestehen: ihr Glaube war noch nicht das lebendige Gefühl von dem Zweck des Erlösers, war noch nicht die klare Einsicht in die Mittel welche allein ihm anständig waren; denn das genauere Verständniß alles dessen was der Erlöser vollbrachte, hatten sie nach so langer Zeit nur unvollkommen inne[.] | Und so können wir nicht anders als gestehen es sei nur der erste Grund und Anfang des Glaubens gewesen; und nichts anders als der unmittelbare Eindruck von dem Geist und der Kraft seiner Rede 2 demohngeachtet] demohngeachten 9–10 Vgl. Joh 1,29–30 31 Joh 16,12

10–12 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,8; Lk 3,16; Joh 1,33

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wodurch das Zeugniß des Johannes sich bestättigte. Aber der Erlöser war darüber ganz ruhig. Und wenn wir vergleichen wie der Erlöser den Anfang ihrer Bekanntschaft so ruhig und unbesorgt gemacht, mit der Art wie er während seines ganzen Lebens zu Werke ging daß er nemlich nie ohne Veranlassung Zeugniß von sich ablegte und es immer nur that darauf hinweisend daß er einen andern habe (den Vater im Himmel) der für ihn zeuge, wenn wir dieses überlegen so werden wir gewiß sein können, daß er nicht an dem ersten Tage an welchem er mit denen die seine Jünger wurden zusammen war, anders werde zu Werke gegangen sein als während seines ganzen Lebens, und daß er nicht von sich selbst werde ein Zeugniß abgelegt haben, welches, obgleich es die heiligste Wahrheit gewesen wäre, doch dem äußern Auge hätte ähnlich erscheinen können der Eitelkeit womit so oft die Menschen sich darstellen, um so mehr weil er damals selbst noch nichts konnte gethan haben worauf er hätte zurükweisen können wie später auf seine Reden und Werke. | Eben so wenig haben wir Ursach zu glauben daß er, der immer nur das gelehrt und mitgetheilt hat wozu er die Seelen vorbereitet fand, daß er diese Zwei könnte überfüllt haben, mit dem ganzen Entwurfe seines Lebens und der ganzen Kenntniß dessen was er unter den Menschen aufzurichten gekommen war. So wenig solche überfüllende und der menschlichen Natur Gewalt anthuende und von sich selbst Zeugniß ablegende Zudringlichkeit und Eilfertigkeit sehen wir indem der Erlöser seine ersten Jünger an sich zu ziehn im Begrif war. Laßt uns das anwenden auf unsern Beruf in seinem Reich: Wie er damals öffentlich auftrat um die ersten Keime des göttlichen Reichs zum Leben zu bringen, so sind es nun alle die, welche durch den lebendigen Glauben daran daß er der von Gott verheißne und gesendete sei, ihm gehören, denen das Geschäft obliegt das Wort des Herrn weiter zu tragen von einem Geschlecht und von einem Raume zum andern. Aber eben so sollen wir zu Werke gehn, mit derselben Ruhe und Unbesorgtheit, eben so wenig zudringlich und eilfertig wie der Erlöser – Wie er vor sich hatte das Zeugniß des Johannes so steht jezt vor den Augen der Menschen das Zeugniß der Geschichte; wie der Herr so viele Völker | der Erde mit Geist und mit Feuer getauft, und wie sich seine Sendung in den Herzen der Menschen bewährt hat, das steht da in der Geschichte, und alle heilsbegierigen Seelen können das Zeugniß der Geschichte vernehmen. So wenig wie damals konnte unbekannt bleiben die Erscheinung des Herrn bei dem Auf- und Abwallen des Volks zum Täufer, eben so wenig kann die Kirche des Herrn unbekannt bleiben: sie ist einmal die Stadt auf 35 der] de 6 Vgl. Joh 5,32.37

39–2 Vgl. Mt 5,14

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dem Berge gebaut, die die Augen der Welt auf sich zieht eben weil sie sich nicht verbergen kann: deßwegen bedarf es um so weniger einer zudringlichen Beflissenheit. Die heilsbegierigen Seelen, alle die es fühlen daß ihnen etwas fehlt, o sie bedürfen nicht hin und her zu fragen, sie haben das lebendigste Zeugniß vor sich. Wenden sie sich aber an die Gläubigen um sich näher zu überzeugen – o so gewiß als wir uns das Zeugniß geben können daß ohnerachtet aller Gebrechlichkeit doch die Gnade Gottes mächtig ist in den Schwachen – schon in den Einzelnen nochmehr aber in Beziehung auf das gemeinsame Leben, so gewiß können wir sagen: komm und siehe! – Je mehr wir durch den Geist Gottes können überzeugt sein, von seiner stillen und gewissen Wirkung – um so weniger haben wir Ursach etwas Anderes zu sagen: | Wenn sie die Kraft des Glaubens sehen wie sie sich bewährt in allen Wechseln des Lebens – die ungefärbte Liebe wie sie besteht durch die Kraft des Erlösers – wenn der stille demüthige Wandel, wie er durch den Geist Gottes vor ihren Augen steht wenn der nicht wirkt, o so wird jede überfließende Geschäftigkeit, ihre Wirkung gewiß verfehlen. Und wenn wir es aus unserer eigenen Erfahrung wissen, wie der Geist Gottes, um in den Seelen der Menschen zu wirken, sich für jedes seine eigene Stunde ausersehen, – und das menschliche Herz welches ist abgewendet worden nur in besonders günstigen Augenblicken fähig ist einen tiefen Blick aus seiner Verderbniß, in die göttliche Wahrheit zu thun – wenn eben deswegen nur allmählich der Geist Gottes eins nach dem andern überwindet, und wir davon Zeugniß geben, – wie sollten wir denn die welche wir zum Preise des Herrn gewinnen möchten, überfüllen wollen mit der Einwirkung des göttlichen Geistes, sei es auf ihren Verstand ihr Gemüth, oder ihr äußeres Leben – und nicht dem Geist Gottes Zeit und Stunde vergönnen. | Nicht als ob es solle jetzt in dem Leben der Christen, nichts mehr geben, ähnlich dem Geschäfte der Jünger des Herrn, zu denen er gesprochen: „Gehet hin und verkündiget das Reich“ – Nein diese allgemeine Verkündigung nicht nur die legen sie ab, welche sich gedrungen fühlen, das Wort fern hin auszubreiten, sondern wir alle legen sie ab, und sollen sie ablegen – Aber das ist das Zeugniß welches eben deswegen weil es laut sein muß, ins Allgemeine hingehet – Sobald wir es aber mit den Einzelnen zu thun haben, da dürfen wir es nicht ungeduldig übereilend zudringlich thun – sondern wie der Herr langsam aber um so sicherer, allmählig aber umso kräftiger das Werk vollendet in den Seelen. Aber nicht nur sind wir berufen dem Herrn Jünger erwerben zu helfen, sondern wir wissen es auch wol, und fühlen es, wir sind noch nicht vollkommene Jünger, und in man|cher Hinsicht haben wir alle nöthig zu ihm geführt zu werden – In uns ist noch 10 Gottes] Gots 39 ihm] ihn 7–8 Vgl. 2Kor 12,9

18 den] die

31 sie ab] es ab

29 Vgl. Mt 10,7; Lk 9,2.60

31 sie ablegen] es ablegen

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Manches was ihm fremd ist, und nicht das Werk seiner Kraft – o darum laßt uns bedenken daß seine Art und Weise wie sie damals gewesen ist, auch jetzt noch ist – Er ist immer derselbe, und wird mittelbar jetzt nicht anders, als sonst unmittelbar auf die Seelen wirken – Darum, fühlen wir wo es uns fehlet, und haben das Bedürfniß[,] aufs neue angefaßt, ergriffen zu werden von der göttlichen Gnade – o so laßt uns nicht auf eine die Seele überfüllende Weise, beginnen, sondern vertrauen auf die sanft fortgehenden Werke des Herrn – der mächtig ist in den Schwachen – aber eben deswegen weil wir uns auf nichts anders verlassen, so laßt uns keine Ein|ladung versäumen – laßt uns immer unsere Aufmerksamkeit dahin richten wo der Herr weilt, wo wir sein Walten und Wirken wahrnehmen können – um überall in den Schatz unsers Herzens zu sammeln, und so laßt uns immer dieser süßen Stimme: „kommt und sehet“ folgen. 2. Das Zweite was wir mehr am Ende der Erzählung finden, ist dieses: wie mild sich der Erlöser auch da wo ihm so viel darauf ankommen mußte Einige zu gewinnen, wie mild er sich auch damals schon gegen die Vorurtheile, womit seine Erscheinung aufgenommen wurde, bewies: Als Philippus den Nathanael findet und zu ihm spricht: wir haben den funden von welchem Moses und die Propheten geschrieben haben, Jesum Josephs Sohn von Nazareth: und Nathanael zweifelnd fragt: was kann von Nazareth Gutes kommen? so giebt ihm Philippus obgleich er schon eingeweiht war in die Gemeinschaft des Herrn, auch keine andre Antwort als: komm und siehe es: – Der Herr aber sahe den Nathanael kommen, und es konnte ihm nicht entgehn von welcher Art die Unterredung war | dessenungeachtet und obgleich Nathanael mit so entschiednem Vorurtheil die Botschaft vernahm, gab er ihm doch das Zeugniß: „ein rechter Israeliter in welchem kein Falsch ist:“ Und wie oft hat er sich im Lauf seines Lebens eben so duldsam bewiesen gegen die Vorurtheile der Menschen, wie gelassen hat er die Erfahrung hingenommen: „Ein Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande:“ und wenn er auch da nicht viel ausrichten konnte um ihres Unglaubens willen so hat er sich doch lange in der Nähe gehalten und erst gegen das Ende seines Aufenthalts in jener Gegend rief er aus: Wehe dir Capernaum u. s. w. Aber immer mit derselben Milde ging er den Vorurtheilen entgegen und ohne sich stören zu lassen, und ohne zu verkennen wo eine Seele ohne Falsch war, wenngleich in diesen Vorurtheilen befangen. Das ist eine wichtige Lehre für uns alle, die wir nicht dürfen unbenutzt lassen. Bei der großen Verschiedenheit menschlicher Ansichten ist es nicht 19.22 Philippus] Phillippus 30–31 Lk 4,24

21 zweifelnd] zweifeln

33–34 Vgl. Mt 11,23; Lk 10,15

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anders möglich: manche Gestalt des Guten muß von manchen Menschen mit ungünstigem Vorurtheil aufgenommen werden, aber wie der Erlöser doch die reine Seele des Nathanael erkannte: so laßt uns immer der Ueberzeugung Raum geben, daß auch bei ungünstigen Vorurtheilen der Menschen doch Seelen ohne | Falsch können zum Grunde liegen. – Wie weit ist der entfernt von dem Geist und Sinn des Erlösers der sich durch widrige Vorurtheile der Menschen läßt irre machen in seiner Seele und eine ungünstige Meinung annimmt. Dagegen laßt uns immer das heilsame Bild des Erlösers uns vorhalten, der von dem welcher saget: „was kann von Nazareth Gutes kommen“, in demselben Augenblicke sprach: „siehe ein rechter Israeliter in dem kein Falsch ist.“ Und wie nah liegt doch uns allen der Gang der heilgen Seele des Erlösers bei dieser Gelegenheit; denn wer so spricht wie Nathanael der will doch das Gute und sucht es, und, auf der andern Seite indem er einem Vorurtheil Raum giebt, was thut der anders als was wir alle thun wo wir uns nicht gleich eigne Einsicht erwerben können und vorläufig dem folgen was die herschende Meinung der Menschen ist; wie wenig verdient also der indem er das Gute sucht eine schnöde Behandlung und ein kaltes Vorübergehn, wie wenig verdient er daß wir uns nun nicht weiter darum bekümmern wie seine Seele beschaffen ist, sondern wir sollten darauf achten und uns fragen: wie ist die Seele geartet die so aufgehalten wird durch solche Vorurtheile? und fänden wir eine Seele welche sich nicht scheut grade heraus das zu entdecken | was ihr entgegensteht, so laßt sie uns prüfen, und entdecken wir eine Seele ohne Falsch, so verdient sie wol daß wir uns ihr nähern wie der Herr that und das ungünstige Vorurtheil zu überwinden suchen. Geschieht das nicht, o wie sehr wird dann die Wirksamkeit des Geistes gestört, wie sehr werden die Kräfte auseinander getrieben welche sich vereinen sollen zu dem einen großen Zweck. Und wenn wir uns so in dem Bestreben die Menschen zu gewinnen durch solche Erfahrung und durch eigne Gedanken zurük halten lassen, wenn wir uns in diesem Bestreben zurük halten lassen durch vorgefaßte Meinungen o wie vergraben wir das uns anvertraute Pfund! wie können wir uns sichern davor, und uns freisprechen daß wir uns selbst nicht verleugnen, sondern den Herrn verleugnen und uns selbst suchen? Vielmehr sollte uns nichts willkommner sein als recht oft in den Fall zu kommen unter denen die sich unserm Glauben entgegenstellen, Seelen ohne Falsch zu erkennen die das Gute suchen, weil wir eben da etwas thun können damit die Scheide|wand niederfalle und alle aus einem Munde den preisen lernen der allein alles Preises und Lobes würdig ist. Aber sehen wir noch einmal auf unsre eigne Erfahrung und auf unser Bedürfniß immer tiefer hineinzuschauen in das Heil: o müssen wir nicht gestehen, es begegnet uns oft daß durch ein ungünstiges Vorurtheil uns 4 ungünstigen] ungünstigem

14 einem] ein

20 Seele] Sele

22 scheut] schut

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das vorenthalten werden kann, wodurch wir einen Zuwachs unsrer Erkenntniß erhalten könnten? Unvermeidlich ist diese menschliche Schwachheit, unermüdet aber auch die Liebe des Erlösers mit welcher er uns nachgeht wie damals dem Nathanael. O, wenn wir eingenommen, der Eine für dieses, ein Andrer für jenes, der Eine für diese Sitte oder Vorstellungsweise und der Andre für jene und wir dadurch gehemmt werden im Zunehmen in der Erkenntniß der Wahrheit, gewiß der Erlöser wird uns nachgehen wie er jenem nachging, er wird manches geheime Wort in unserm Innern zu uns reden wie er zu Nathanael redete, manches geheime Wort über die Gründe dieser Vorurtheile, über dies engherzige Bestreben. O, wenn wir nur immer Seelen ohne Falsch bleiben, wenn nur die Wahrheit in uns ist, dann wird es uns durch die Gnade des Herrn schon deutlich werden wie sie, die Wahrheit es allein ist mit welcher wir unser und der Brüder Heil suchen müssen | und wie wir alles was blos menschlich ist für nichts halten müssen, damit wir nur Christum gewinnen, damit nur sein Bild uns immer klarer werde, und wir aus der ewigen Quelle immer schöpfen mögen was wir bedürfen. Und als der Erlöser so sich die wenigen Seelen gesammlet hatte sagte er: „von nun an werdet ihr den Himmel offen sehn und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn.“ Und so ist es gewiß das tiefste Gefühl aller derer die mit dem Erlöser in Verbindung getreten sind: (wieviel auch noch zu thun übrig ist, wieviel Widerstand das Wort des Herrn noch erfährt) der Himmel ist offen und kann sich nicht wieder verschließen, der Herr ist gegenwärtig mit seinem Geist und mit seiner Kraft unter denen die an ihn glauben, der Sohn Gottes ist da mit seinem allmächtigen Bestreben sein Reich zu fördern. Ja durch alles Getümmel der Welt, durch alles Finstre und Hindernde, durch Alles dieses hindurch sehn wir den Himmel offen, sehn wir die himmlischen Kräfte sich regen, sehn wir die Engel Gottes hinauf- und herabfahrend, | von oben herab segnend und stärkend, von unten hinauf, immer um neue Fülle des Seegens und der Kraft flehend. Möge der Herr diese tröstliche Erfahrung uns immer machen lassen, und diesen beseeligenden Glauben in uns befestigen und mehren. Möge er das Auge unsers Geistes öffnen damit wir sehn und das Ohr damit wir hören. Und möge er immer das große Wort sprechen: thue dich auf: damit kein Auge sei das nicht sehe und kein Ohr das nicht höre!

16 bedürfen.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 34 Mk 7,34

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Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Herr du hast mich, seit meine Seele denket, / Belehrt, gewarnt, mit Vaterhuld beschenket, / Und fest steht das Gedächtniß deiner Güte / Mir im Gemüthe. // [2.] Ich irrte nicht gleich vielen meiner Brüder / Versäumt umher; fiel ich, so halfst du wieder; / Und deines Wortes Licht kam mir entgegen / Auf allen Wegen. // [3.] Als Kind schon lernt ich deine Güte kennen, / Noch stammelnd lernt’ ich schon dich Vater nennen, / Vernahm das Heil, das uns in deinem Sohne / Einst wird zum Lohne. // [4.] Ich sah des Frommen Glück, des Sünders Leiden, / Und Sehnsucht wuchs in mir nach deinen Freuden; / Zu deines Reichs heilbringendem Geschäfte / Gabst du mir Kräfte. // [5.] O hilf mir das auch treulich anzuwenden, / Was du mir hast verliehn aus milden Händen! / Wie könnt’ ich freudig sonst mit den Gemeinen / Vor dir erscheinen. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Meinen Jesum laß ich nicht, / Weil er sich für mich gegeben. / Heiliger ist keine Pflicht, / Als dem, der mir starb, zu leben; / Was die Welt dagegen spricht, / Meinen Jesum laß ich nicht. // [2.] Jesum laß ich nimmer nicht, / Will nach seinem Heil nur trachten: / Denn wenn er mir nicht gebricht, / Brauch ich sonst auf nichts zu achten. / Alles bleib auf ihn gericht’t! / Meinen Jesum laß ich nicht. // [3.] Laß vergängliches entfliehn, / Bleibt nur er ins Herz gepräget! / Laß des Lebens Freuden ziehn, / Seine Kraft ists, die mich träget. / Jesus ist mein Glanz und Licht, / Meinen Jesum laß ich nicht. // Ich erscheine einst vor ihm, / Wenn ich dorthin bin gelanget, / Wo im Glanz der Cherubim / Seiner Frommen Glaube pranget. / Wo vollendet jeder spricht, / Meinen Jesum laß ich nicht. // [4.]Nicht auf eigne Kraft vertraut, / Noch auf andre Gunst die Seele; / Weil sie nur auf Jesum baut, / Der dem Vater sie empfehle, / Der sie löse vom Gericht. / Meinen Jesum laß ich nicht. // [5.] Jesum laß ich nicht von mir, / Geh’ ihm immerdar zur Seiten, / Und er weiß auch für und für / Mich zum Lebensbach zu leiten. / Selig wer mit mir so spricht, / Meinen Jesum laß ich nicht. // (Kaymann.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt ich meinem etc. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht! / Du durch welchen Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit. / Wer mit dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust; / Friede wohnt in seiner Brust. / Wird er einst zu Gott erhöhet, / Dann mischt sich sein froher Dank / In der Engel Lobgesang. //

Am 10. Februar 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Aus der Predigt am Sonntag Sexag. 1822. Phil. 1 v. 19–24.

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Sexagesimae, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,19–24 Nachschrift; SAr 61, Bl. 21r–26r; Woltersdorff Keine Keine Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 408–425 und S. 426–443 bzw. den Wiederabdrucken in: Predigten, ed. Urner, 1969, S. 285–299 und S. 300–314, vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b Tabelle 3

Der Apostel hat in den vorhergehenden Worten gesagt er freue sich seiner Gefangenschaft weil sie auf alle Weise dazu diene daß das Evangelium verkündet werde wenn es auch nicht allein geschehe um der Sache selbst willen. Und hieran knüpft er das was wir eben gelesen und sagt, er wolle sich dieser göttlichen Schickung aller Wege freuen, weil er wisse daß dadurch Christus hoch gepreiset werde, und daß es ihm gereiche zur Seeligkeit und zwar, wie er hinzusetzt, durch ihr Gebet und die Darreichung des Geistes Christi. Und eben dieses hinzugefügte ist es welches ganz besonders unsre Aufmerksamkeit auf sich zieht; denn das ist ein altes und viel bewährtes Wort der Schrift welches auch er oft sagt, daß denen die Gott lieben Alles zum Besten d. h. zur Seeligkeit dienen müsse, aber hier sagt es der Apostel nicht schlechthin sondern er sagt: „durch euer Gebet und Darreichung des Geistes Christi“ die ihm von ihnen komme[.] Der Apostel bezeugt immer seine große Freundlichkeit sowohl gegen die Gemeinden als gegen Einzelne aber nie wird er das so weit treiben daß er um ihnen etwas Angenehmes zu sagen, etwas sagte was nicht mit der genauesten Wahrheit übereinstimmen sollte. Und so fragt sichs also wie der Apostel das gemeint habe daß das Gebet | der Philipper dazu beitrage daß ihm 19 übereinstimmen sollte.] so SW II/10, S. 415, Z. 4; Textzeuge: bestände 3–6 Vgl. Phil 1,18

12–13 Vgl. Röm 8,28

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diese Schickung zur Seeligkeit gereiche, und daß von ihnen ihm die Darreichung des Geistes komme; denn was das Erste betrift so ist es doch gewiß daß das Gebet schwacher Menschen welche den Zusammenhang der Dinge weit hinaus nicht übersehn können sondern mehr und weniger nur durch den Eindruck des Augenblicks bestimmt werden, daß das nicht könne den göttlichen Rathschluß auf irgend eine Weise ändern, und doch sagt der Apostel daß ihr Gebet so wichtig sei. Es ist aber gewiß eine andre Kraft des Gebets als die den Erfolg zu bestimmen denn dieses ist die äußre Seite nur – denn der Erfolg ist immer etwas Unsichres wornach wir uns nicht richten können und wenn in dieser Hinsicht ein Gebet erfüllt wird so haben wir uns nicht sowol darüber zu freuen daß die Erfüllung mit dem Wunsche sondern vielmehr darüber daß unser Wunsch mit dem vorherbestimmten göttlichen Rathschluß zusammengetroffen ist. Aber das gemeinsame Gebet hat immerdar die Kraft um uns das was uns begegnet zur Seeligkeit gereichen zu lassen, worin diese besteht das muß uns aus eigner Erfahrung bekannt sein; denn wie wir mit gottergebnem Herzen voll theilnehmender Liebe die Fürbitte darbringen in gemeinsamen und einzelnen Angelegenheiten und uns in derselben der herlichen Kraft der Liebe bewußt sind, so auch ist es nicht anders möglich als daß der | welchen wir lieben ebenfalls bewegt werde durch die herliche Kraft der Liebe indem er fühlt daß das was wir vor Gott bringen nicht allein sein eigen sei sondern als gemeinsames Gut geachtet werde, und indem er von sich selbst ein anderes Gefühl bekommt, nemlich daß das zum gemeinsamen Nutz müsse angewendet werden was gemeinsames Gut ist. Wenn wir für unsre Fürsten Gott in unserm Gebet Fürbitten darbringen, wenn wir für die Führer der christlichen Angelegenheiten Gott bitten um Weisheit und Freimüthigkeit, o wie sollte es nicht Allen für die es dargebracht wird zur Seeligkeit gereichen. Wenn der für welchen die Fürbitte dargebracht wird sich in verwikkelten Umständen befindet deren Ausgang nicht abzusehn ist, so wird eben das Gefühl der gemeinsamen Liebe in seinem Herzen eine göttliche Kraft vermöge der er sich Gott immer inniger anschließt damit das Gut derer die ihn lieben in dem Leiden verherlicht werde, und damit nur Christus verherlicht werde sei es im Leben oder im Sterben. Ja wir dürfen uns gewiß nur erinnern der für uns oder von uns dargebrachten christlichen Gebete um uns von der Kraft derselben zu überzeugen. – Aber nicht so unmittelbar in die Augen fallend ist das Zweite: Es werde ihm zur Seeligkeit [gereichen] durch die Darreichung des Geistes Christi durch sie. | Was sagt der Apostel sonst vom Geist Gottes? Er fragt z. B. die Galater: sagt mir habt ihr den Geist empfangen durch die Werke des Gesetzes oder 4 und] Kj oder 40–1 Gal 3,2

39 Galater] Gallater

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durch den Glauben? – und vom Glauben sagt er: „der Glaube kommt aus der Predigt“, und von beiden sind wir gewiß überzeugt daß es auf das genaueste zusammenhängt. Der lebendige Glaube an den Erlöser Kraft dessen wir uns von seinem Leben durchdringen lassen, und Kinder Gottes geworden sind, und der Geist den er uns sendet, beides ist unzertrennlich verbunden, der Geist Gottes kann nur da wehen und wirken, wo der Glaube in den Herzen der Menschen ist und dieser kann nicht da sein wo nicht der Geist Gottes kam um die Seelen der Menschen zu erleuchten und zum Guten und Rechten zu lenken. Und daß der Glaube auf keine andre Weise kommen kann als durch das lebendige Wort Gottes, das ist eine ewige und große Wahrheit. Wenn nun der Apostel Paulus der ein so ausgezeichnetes Werkzeug des göttlichen Geistes war daß durch sein Wort tausende gläubig wurden und den Geist empfingen, er durch welchen auf so unmittelbare Weise der Geist war dargereicht worden, der sagt, es werde ihm etwas dadurch zur Seeligkeit gereichen, daß ihm der Geist dargereicht werde von ihnen, die durch ihn waren gläubig worden? Aber so ist es mit der Darreichung des Geistes, es ist nichts einseitiges, sondern etwas gegenseitiges. | Wo freilich zuerst das Evangelium verkündet werden muß da ist es Einer durch den der Geist dargereicht werden kann, wo aber einmal eine christliche Gemeine besteht, wo der Geist mancherlei Gaben erregt hat, da ist die Mittheilung des Geistes etwas beständig gegenseitiges und keiner kann sich rühmen daß er ihn unmittelbar empfange, indem die andern ihn mittelbar empfangen, sondern jeder empfängt ihn auf dieselbe Weise durch die Kraft des Glaubens die sich in ihnen allen bewährt. Ja wenn wir nur das besondre Verhältniß betrachten eines Lehrers zu einer Gemeinde der Christen, so können wir nicht anders sagen, als daß jeder Theil sowol vom andern empfängt als er ihm giebt, denn das ist freilich gewiß wenn das Wort verkündet würde ohne in den Gemüthern Wurzel zu fassen da würde es zurükkehren, und würde für den welcher es treu verkündet doch nicht ohne Seegen sein, wie der Herr seinen Jüngern verheißen hat, daß wenn ihr Seegen nicht angenommen würde er sich zurükwenden werde auf sie selbst. Aber welch ein Vergleich ist dies mit einer Seegen verbreitenden | Wirksamkeit! Welch ein Unterschied zwischen solchem Zurükwirken und dem Wirken des Geistes wo sich die Kraft überall beweist, wo alle Güter gemeinsam sind, da wird der Geist auch dargereicht aus den Früchten des Geistes. Und das war die herschende Empfindung des Apostels als er in der Gefangenschaft und in der herben Trennung von der Gemeine, aus der 1 vom] von 24 bewährt.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge beweißt 35 sind,] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 1–2 Röm 10,17

30–32 Vgl. Mt 10,13

35 beweist]

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Über Phil 1,19–24

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Entfernung an sie gedachte. Denn wie am Anfange seines Berufs das Evangelium zu verkünden nur durch seinen Dienst ihnen dasselbe zukam, so geschah während seines Dienstes durch die Kraft desselben auch ihm die Darreichung des Geistes aus den Früchten die er sah. Und so müssen wir es wol mit ihm fühlen daß durch den Glauben er vorzüglich der Hoffnung voll sein konnte daß ihm Alles gereichen werde zur Seeligkeit, und das beschreibt er so: er werde in keinem Stück zu Schanden werden sondern daß in aller Freudigkeit durch ihn werde Christus hochgepreiset werden sei es im Leben oder im Sterben. Und in etwas anderm können wir gewiß unsre Seeligkeit nicht setzen als daß durch uns Christus immer möge verherlicht werden, aber wodurch geschähe das anders als dadurch, wenn wir unter allen Umständen aus seinem Geiste handeln, wodurch an|ders, als daß sich überall in dem Leben der Christen die göttliche Kraft beweise die wir ursprünglich nur in dem Einen schauen der die Herlichkeit des Vaters hatte. Und wie der Herr sich im Leben und Tod als der Sohn Gottes bewiesen hat, so ist es nur ihr gläubiges Wirken im Leben und im Tode wodurch der Herr verherlicht wird. Diesen zwiefachen Ausgang seines Leidens, Leben oder Tod, hatte der Apostel im Auge, und das veranlaßt ihn zu den folgenden Worten des Textes: „denn Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“: nemlich, mein Leben ist dem Dienst des Herrn geweiht und ist das Eigenthum der Christen, Sterben aber ist mein Gewinn. Dieses sind herliche Worte um uns zu unterweisen in Beziehung auf ein gar wichtiges Stük unsers Glaubens und Lebens. Nemlich, wir sind alle des Glaubens voll den uns der Apostel Johannes in den Worten ausspricht: Es ist noch nicht erschienen was wir sein werden: – wir tragen aber in uns das Gefühl von einem höhern Grad der Herlichkeit und Seeligkeit, weit über das hinaus was während des irdischen Lebens an uns erreicht werden kann, und diese Ueberzeugung können wir nicht anders ausdrücken als: Sterben ist mein Gewinn: wir fühlen die Vergänglichkeit dessen was uns hemmt, und wenn wir unzufrieden sind mit unsern Fort|schritten in der Gottseeligkeit so sind wir gestimmt sehnsüchtig dorthin zu schauen. Aber dieser Überzeugung: Sterben ist mein Gewinn[:] stellt der Apostel das gegenüber: Mein Leben gehört dem Dienst des Evangelii: Und obgleich er sagen muß er habe Lust abzuscheiden um ganz bei Christo zu sein so setzt er doch hinzu: aber im Fleisch bleiben ist nöthiger: Und das ist die wahre Gottseeligkeit der Christen, die Sehnsucht nach der größern Herlichkeit eines künftigen Zustandes soll nie so groß werden daß sie die Anhänglichkeit an unsern Beruf überwöge; jene Sehnsucht und diese Anhänglichkeit, Eins soll dem andern die Wage halten. Wenn der Apostel sagt daß beides ihm hart anliege und daß ihm die Wahl schwer fallen würde zwischen Leben und Sterben, so meint er das ganz anders als so viele Christen welche in guter Meinung und im 24–25 1Joh 3,2

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Am 10. Februar 1822 früh

Eifer für den Herrn aber nicht in dem rechten Verstande, sich nicht los machen können von den Klagen und von der Geringschätzung des irdischen Lebens und glauben daß dieser und jener Zustand ohne Zusammenhang sei. Der Apostel meint hienieden ist alle Frucht die wir schaffen sollen der Gewinn des Herrn selbst, welchem zu dienen unsre größte Seeligkeit bleibt. Wahrlich der Apostel hatte ein mühevolles Leben im Dienst des | Herrn aufzuweisen, und hätte wohl sagen können: für ihn sei es ein billiger Wunsch los zu sein vom Irdischen, aber dennoch sagt er beides läge ihm hart an, aber im Fleisch bleiben sei nöthiger. Nun könnten wir freilich sagen: für den Apostel war es recht daß er so gesinnt war, weil er ein so großes Werk auszuführen bestimmt war wie keiner von uns und welches überhaupt in dieser Zeit gar nicht mehr statt finden kann. Aber wohl, laßt uns einen Augenblick diesen Unterschied bei Seite setzen welcher statt findet zwischen dem Apostel und uns und nur auf den der Menschen überhaupt und auf den Unterschied dieses und des künftigen Zustandes sehen. Der Apostel sagt im Briefe an die Corinther: „Eine andre Klarheit hat die Sonne, eine andre Klarheit hat der Mond eine andre Klarheit haben die Sterne“, und weiset uns damit hin auf eine Ungleichheit die sich auch erstrekt bis in den Zustand nach dem Tode, und wenn der Apostel sagt: es ist noch nicht erschienen was wir sein werden: so können wir uns doch diesen: was wir sein werden: nicht anders als nach dem Maaß unsers schon bestehenden Verhältnisses mit Christo, und in Beziehung darauf denken. Ist nun der Dienst dem äußern nach nicht gleich und die Wichtigkeit nicht dieselbe, so mögen wir dasselbe sagen: eine andre Klarheit hat die Sonne eine andre der Mond u. s. w. und so müssen wir gestehen | das Verhältniß muß nur dasselbe sein, es muß nur jeder das thun wozu er berufen ist. Auch soll die Liebe zu unserm Beruf keinesweges darauf beruhen wie groß er ist, sondern darauf daß es ein Dienst ist den wir dem Herrn leisten, und ist er das, so fordert er auch dieselbe Treue wie der des Apostels und also dieselbe Anhänglichkeit und denselben Eifer, und wahrlich um darin dem Apostel ähnlich zu werden daß wir sagen mögen es liege uns beides hart an, wir wünschen abzuscheiden und wünschen doch auch zu bleiben, dazu gehört auch nicht daß wir eben so Vieles und Großes ausrichten sondern daß jeder in seinem Kreise strebe in Liebe und Treue das zu vollbringen wozu er berufen, denn nur durch Liebe und treuen Fleiß kann alles ausgerichtet werden. Und so wie wir voll sind von Liebe und Treue gegen den Herrn so bezieht sich dieselbe auch auf das was sein Dienst fordert im Kleinen wie im Großen. Aber das ist freilich wahr daß nur durch dieselbe Gesinnung wir dem Apostel gleich kommen können, der immer mit derselben Treue thätig 16 Corinther] Chorinter

35 treuen] treun

16–17.24–25 Vgl. 1Kor 15,41

37 im] in

19–20 1Joh 3,2

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Über Phil 1,19–24

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gewesen ist; denn das erhält die Frische des Lebens und die Liebe und Lust daß wir niemals aufhören thätig zu sein, auch dann nicht wenn sich die Umstände nachtheilig verändert haben, und die Tage kommen von denen wir ohne diese Liebe sagen müßten: „sie gefallen uns nicht“, auch da sollen wir gleich eifrig bleiben | und jeden Beweis davon daß jeder Seegen und daß Alles was dienet Frucht zu schaffen auf unsre Treue beruhe, mit solcher Freudigkeit aufnehmen wie der Apostel. Dann werden wir auch wie er sagen können[:] „mich verlanget abzuscheiden aber es ist nöthiger im Fleisch bleiben“: O möge der Geist des Herrn uns immer mehr erwecken zu der Treue gegen ihn dann wird er uns auch Gnade geben ihn zu verherlichen sei es im Leben oder im Tode.

2 wenn] wann 3–4 Vgl. PredSal 12,1

26r

Am 17. Februar 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,13–17 Nachschrift; SAr 52, Bl. 104r–104v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am Sonntag Estomihi 1822. Schleiermacher in Dreif. K. Joh. 2 v. 13–17.1

104r

Diese Geschichte hat viel Auffallendes und Schwieriges. Wir sahen, wie des Herrn öffentliche Wirksamkeit begann mit der Taufe, und wie er nun fürs Reich Gottes wirkte, theils indem er still die Jünger gewann, theils in dem er öffentlich Kunde gab von seinem Eifer fürs Haus des Herrn. Das ist die erste That der Art, die Säuberung des Tempels, mit einer ähnlichen beschloß er auch sein öffentliches Leben. Fragen wir 1. in welchem Sinne und Geist that es der Erlöser? Wir erwägen, wie auf den Höfen um dem Tempel herum, wo gebetet wurde vom Volk, auch Schlachtopfer bereit standen zur Bequemlichkeit der Opfernden. So gingen ganz weltliche Geschäfte da vor, wo die Stätte der Andacht geweiht sein sollte. Aber auch im geistigen Sinne war das Bethaus zum Kaufhaus geworden, man wollte mit Gott handeln, und abbüßen und abkaufen die Sünden, und doch hatte Christus gelehrt, das Bethaus solle Lehrhaus sein zugleich. Darum Glaubensverbesserer auch auftraten, und eine stachlichte Geißel aus den Reben ihres heiligen Eifers drehten, und die klingenden Knaben und räuchernden Diener und allen fremden kalten Pomp hinaustrieben aus dem Gotteshause. So sollen wir es immer halten, des Herrn Haus soll der Andacht dienen, nicht die auf Auge und Lippe liegt, sondern in der Tiefe des Gemüths. | 1

v. 17 statt gefressen sagte Schleiermacher verzehrt.

4–7 Vgl. oben 20. Januar 1822 vorm.; 3. Februar 1822 vorm. 13; Mk 11,15–17; Lk 19,45–46

8–9 Vgl. Mt 21,12–

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Über Joh 2,13–17

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2. mit welchem Fug und Recht? Er war gar nicht einer der Vorsteher des Tempels, die das äußere Recht der kirchlichen Aenderungen hatten. Man meint: er that es als Sohn Gottes. Das gilt nichts, er war auch unters Gesetz gethan, wie wir – die Jünger gedachten der Worte des Alten Bundes: Der Eifer um das Gotteshaus hat mich verzehrt, im Ernst dieser Begeisterung that es der Herr, in demselben thaten es die Glaubensreiniger, in dem dürfen wir alle es thun, und der kirchlichen Gewalt dadurch Vorschub leisten. Anders ists auf weltlichem Gebiet, da soll alles der Obrigkeit gehorsam sein, nicht vorgreifen, denn die ist nur Mittel, nicht Zweck, aber in kirchlichen Angelegenheiten, gilt da der Schein, so ist er zugleich Zweck und jeder in der Kirche, wo der heilige Geist in Allen weht, hat das Recht, wenn die Gewalt nicht eingreift und bessert, selber Hand anzulegen, um die Reinheit des christlichen Gottesdienstes aufrecht zu erhalten. Selbst christliche Fürsten als Laien erlaubten sich das, und machten Gebrauch von dem heiligen Recht, wiewol sie darin den Bischöfen zu folgen hatten, drum darf jeder, wenn die Gewalt haben, [die] das Bethaus zum Kaufhaus erniedrigen, dagegen auftreten und soll es, wie der Herr es that.

[Liederblatt vom 17. Februar 1822:] 20

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Am Sonntage Estomihi 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Gott laß uns aus dir geboren / Jesu Christi Jünger sein, / die nur ihn zum Herrn erkohren, / Sich nur seinem Dienste weihn. / Wirk dazu in unsern Herzen / Wahrer Buße selge Schmerzen; / Mach uns durch den Glauben neu, / Seine Frucht sei Lieb und Treu. // [2.] Mach uns in der Hoffnung sehnlich / Und im Beten andachtreich; / In der Sanftmuth Jesu ähnlich, / Ihm in Herzensdemuth gleich; / In Geduld unüberwindlich, / In der Gottesfreude kindlich; / Bilde uns sein Eigenthum / Ganz zu unsers Königs Ruhm. // [3.] Zeuch uns aus dem Weltgetümmel, / Bring uns unsrer Ruhe nah! / Unser Herz sei schon im Himmel; / Denn auch unser Schaz ist da. / Laß sich unsern Sinn gewöhnen, / Sich nach jener Welt zu sehnen; / Denn dein auserwählt Geschlecht / Hat des Himmels Bürgerrecht. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] O Gott gieb dein Gericht dem Könige der Erden, / Laß die Gerechtigkeit durch ihn gefördert werden, / Durch ihn den Herrscher sei der Völker Schaar befreit, / Und wer die Sünde fühlt, zu deinem Bild erneut. // [2.] Von nun an müssen sich auf Zions Berg und Hügeln, / Fried und Gerechtigkeit im vollen Glanze spiegeln; / Der Held des Höchsten nimmt des armen Volks sich an, /

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Am 17. Februar 1822 vormittags

Er dessen strengen Zorn kein Frevler tragen kann. // [3.] Dir glaubend, Heil der Welt, wird man dich fürchtend ehren, / So lange Sonn und Mond im alten Glanze währen; / Durch alle Völker hin von Kind zu Kindeskind, / Erschallt wie seegensreich, Herr deine Thaten sind. // [4.] Wie sanft ein Regenguß das dürre Land erquicket, / So mild und stärkend wird der Heiland auch erblikket; / Er kommt, und seht durch ihn wird Glaub und Liebe blühn, / Und wahren Friedens Füll’ in alle Lande ziehn. // [5.] Als König herrschet er von einem Meer zum andern; / Schon beugen die sich ihm, die noch in Wüsten wandern! / Er stürzt mit starkem Arm, er stürzt mit Liebessinn / Die Feinde in den Staub; sein Sieg ist ihr Gewinn. // [6.] Bis in das fernste Land wird sich sein Zepter schwingen, / Die Herrscher werden ihm voll Ehrfurcht Gaben bringen, / Ihm huldiget was arm, was reich und mächtig heißt, / Von allen Zungen wird sein Name hoch gepreist. // [7.] Ja seine starke Hand wird die Bedrängten retten; / Sein liebevolles Herz bricht alle Sklavenketten, / Von Trug und Frevel macht sie sein Erbarmen frei, / Und zeigt, wie werth vor ihm ihr Heil geachtet sei. // [8.] Er lebt, und seine Macht beschränken keine Grenzen, / Es wird sein weites Reich in ewger Blüthe glänzen. / Ihm bringet für und für des Dankes Opfer dar, / Und dränget jauchzend euch zu seinem Lobaltar. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. Du hörst der Deinigen Gebet, / Und endest ihre Plage; / Du bleibst, bis Zeit und Welt vergeht, / Bei uns noch alle Tage. / Heil uns, wir sind dein Eigenthum! / Herr, dir sei ewig Dank und Ruhm / Für alle deine Liebe! / Dir geben wir zum Dienst uns hin, / Gieb daß sich ewig Herz und Sinn, / Herr, dich zu preisen übe. //

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Am 24. Februar 1822 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Invocavit, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Kor 6,1–10 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 61, Bl. 27r–34r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SN 621/7, Bl. 18r–20v; Crayen Keine

Epistel am 1. Sonntage in den Fasten: 2. Corinth. 6 v. 1–10.

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Wenn wir jetzt diejenige Zeit beginnen welche der Betrachtung des Leidens unsers Erlösers gewidmet ist, so eignet sich unsre Epistel zu unsrer Betrachtung weil wir es darin mit einem sehr verwandten Gegenstande zu thun haben, welcher das Leiden der Diener des Erlösers, die wir alle sein sollen, betrifft, denn der Apostel gibt die Ermahnung daß auch die Christen dem Leiden des Erlösers sollten Ehre machen, daß das Amt dadurch nicht verlästert werde. Indem wir diese Ermahnung zu Herzen nehmen so kommt es dabei wohl auf dreierlei an, worauf uns auch die Epistel hinweist: 1. die göttliche Absicht in den Leiden und Anfechtungen der Christen, 2. die göttliche Hülfe dabei und 3. den Sieg den Gott den Seinen bereitet hat. 1. Der Apostel lehrt uns die göttliche Absicht beim Kreutz und Leiden der Christen indem er sagt: Lasset uns niemand irgend ein Aergerniß geben, auf daß unser Amt nicht verlästert werde, sondern etc. – Es heißt anderwärts in der Schrift: Es muß Aergerniß kommen, – und wie wahr dieses ist fühlen wir alle und wissen es aus der Erfahrung – denn durch das Aergerniß wird die Christenheit in sich selbst gereinigt, wir werden dadurch aufmerksam gemacht | auf das was noch mangelhaft ist und wir lernen das Verborgene des menschlichen Verderbens kennen. Aber so gewiß Aergerniß kommen muß damit wir immer mehr zu einer größern Vollkommenheit in der Wahrheit geleitet werden, so muß auch Anfechtung kommen, nicht nur um un19 das] da 18 Vgl. Mt 18,7

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Am 24. Februar 1822 nachmittags

sers eignen Heils willen sondern damit unser Amt erkannt werde und damit hängt es so zusammen: Wir können uns wohl denken eine Zeit wo es kein Aergerniß giebt, wo alles ruhig seinen Gang fortgeht und keiner irgend Veranlassung zum Tadel giebt, wenn das nun auf der einen Seite wünschenswerth erscheint so müssen wir doch gestehen daß dies eine Zeit ist in welcher wir selbst in der Liebe der Christen weniger lernen können und weniger zu einem höhern Grade der Gottseeligkeit befördert werden. Wenn aber solche Zeit kommt wo leicht Aergerniß kommt, wo die Grenzen des Erlaubten und Verbotenen leicht überschritten und zweifelhaft werden, wo also die Gewissen aufgeregt werden und irre gemacht [ ] Ebenso könnten wir eine Zeit uns denken wo es keine Trübsal giebt von der der Apostel sagt: Sehet jetzt ist die angenehme Zeit – wo auch die Thätigkeit der | Christen ihren ruhigen Gang leicht fortgeht daß von Anstrengungen und Entbehrungen nicht die Rede sein kann, so werden wir sagen: Sehet da, eine angenehme Zeit, Tage der Freude. Aber auf der andern Seite werden wir gestehen, daß in solchen Zeiten die welche noch fern sind vom Reiche Gottes, und den Unterschied noch nicht in sich selbst empfunden haben, weniger veranlaßt werden, zu ihm sich zu wenden – und die welche vom Geist Gottes getrieben werden auch wenig Aufforderung haben ernste Erkenntniß zu gewinnen – und in dieser Ruhe, und in dem Frieden, können die welche dem Herrn gehören weniger wahrgenommen werden. Es gehört dazu eine genauere Aufmerksamkeit, welche wir gar keine Ursach haben vorauszusetzen bei denen welche den Unterschied in sich selbst noch gar nicht fühlen. In solchen ruhigen Zeiten mag die Gemeine des Herrn an sich wohl innerlich bestehen aber mehren wird sich das Reich Gottes nicht so, erweckt werden dann die Gemüther nicht – und die Art wie Gott sich in den Schwachen verherrlicht, die wird den Menschen weniger sichtbar – Dazu | sind besonders gesegnet die Zeiten der Anfechtung, in denen offenbart sich das Ziel das der Herr den Seinen vorgesteckt und die Hülfe die er ihnen zugesagt. Das sind die Zeiten wo die geistige Kraft der Gemüther nach innen gekehrt wird. Darum soll uns die Zeit der Anfechtung eine angenehme Zeit sein – denn wenn wir sie so erkannt haben, kann sie uns gehören zu dem gesegneten Theil des Berufs, indem wir sie auf uns nehmen, und überall darinn uns beweisen als Diener Gottes – ihn preisend und von seinem Wege nicht weichend – auch in den Tagen des Leidens nichts anders im Auge habend, als das Ziel der Seeligkeit welches den Seinen überall vorgesteckt ist, und uns durch die Widerwärtigkeiten des Lebens nicht scheiden lassen von ihm, bei dem allein die rechte Stätte ist. Wenn uns das klar geworden ist durch das feste Wort der Schrift, daß auch die Zeit der Anfechtung zur 10 gemacht] gemacht. folgt ein Spatium von etwa anderthalb Zeilen Länge Schrift,:

40 Schrift,]

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Über 2Kor 6,1–10

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Förderung dienen müsse, bestehe sie nun mehr | in den Anstrengungen, oder in Ertragung der Beschwerden und Widerwärtigkeiten welche die Feinde des Herrn über die Jünger, und über seine Segnungen zu häufen suchen, dann sind wir Eins mit der Liebe Gottes. 5

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[2.] Und so lasset uns übergehen zu dem zweiten Theil unserer Betrachtung, und auf die göttliche Hülfe sehen, der wir uns in den Zeiten der Anfechtung und der Trübsal zu erfreuen haben. Wir wissen im Allgemeinen daß diese nicht in etwas Besonderem, das uns sonst fremd wäre, bestehen kann – es giebt überall nur Eine Hülfe – das ist die von unserm Herrn und Heiland – das ist der Beistand des göttlichen Geistes Kraft dessen wir sein Leben in uns fühlen, und ihm das Unsrige hingeben. Aber es muß sich diese Hülfe, in den Tagen der Anfechtung auf eine andere Weise als sonst, offenbaren, und diese beschreibt uns der Apostel in den verlesenen Textesworten. | Demnach laßt uns betrachten: was das allgemeine Wesen des göttlichen Geistes in den Herzen der Gläubigen ist, was zu allen Zeiten dasselbe sein muß: Es ist 1. Keuschheit und Reinheit des Herzens und Willens, 2. Erkenntniß, 3. Freundlichkeit und ungefärbte Liebe. Dieses sind die Grundstücke aller christlichen Gottseeligkeit – mögen die Umstände sein wie sie wollen, die Keuschheit und Reinheit des Herzens und Willens finden wir nur bei denen, welchen Gott einen neuen Geist gegeben hat. Die Reinheit des Willens, die nach nichts trachtet, als nach der Gerechtigkeit Gottes, die nichts begehrt als den Willen des Vaters zu erfüllen, und sich selbst, und das eigene Heil und Glück gänzlich hintenan setzt – ohne diese Keuschheit und Reinheit würden alle andern Gaben und Kräfte, ohne einen kräftigen Widerstand zu leisten, doch ihr richtiges Ziel, ihre wahre Wirkung verfehlen – ohne diese würde der Mensch immer nur sein Eigenes suchen, wie er sich auch anstrengte Beides zu vereinigen[.] | Das 2. ist: das Licht der Erkenntniß der göttlichen Wahrheit, dessen sich auch nur die zu erfreuen haben, denen der Erlöser zur Wahrheit geworden. Denn immer, ist der Mensch sich selbst überlassen, wird er sich leicht täuschen, aber vorzüglich in trüben verworrenen Zeiten, wo das Irdische in ihm die Bedrängniß je eher je lieber los sein möchte, – da täuscht er sich gar zu leicht über den Weg und die Mittel welche sich dazu anwenden lassen, – so betrügt er sich darüber ob das, das göttliche Wohlgefallen ist, und sucht sich durch falsche Deutungen zu beruhigen. Wenn das Licht der Erkenntniß nicht klar in der Seele bleibt, so kann auch der Frömmste verführt werden und auf falsche Wege gerathen. Aber daraus entsteht dann daß der Dienst verunehrt und gelästert werde. 26 ohne] um

38 falsche] solchem

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Am 24. Februar 1822 nachmittags

Das 3. ist die ungefärbte Liebe und Freudigkeit im Geist: Daß der Glaube nicht anders als durch die Liebe thätig ist, das ist der erste Grundsatz des christlichen Lebens, worauf also auch unser Bestreben ihm ähnlich zu sein, und ihm anzugehören, zuerst muß ge|richtet sein – Und alles was der Mensch zu thun hat, und in den Tagen der Widerwärtigkeiten, und des Kampfs zu tragen, das muß von der Liebe ausgehen, ja es muß die Eingebung und das Werk der Liebe selbst sein. Die Freundlichkeit des Herzens, und die ungefärbte Liebe, muß ungeschwächt sein, wenn der Dienst des Herrn nicht soll gelästert werden, und den Sieg davon tragen. Wie aber nichts mehr als das feindliche Wesen die ansteckende Kraft bei sich trägt und der Mensch durch die Finsterniß verleitet wird auch dem Haß Raum zu geben, – davon hat jeder Beispiele vor sich, – wo aber das geschieht, da ist es um die Ruhe der Christen schon geschehen – darum unterscheiden sich die welche Jünger des Herrn sein wollen, und ihm ähnlich, von denen welche sich selbst suchen, und den Nachtheil ihres Bruders nicht scheuen. Das sind also die drei ersten und wesentlichen Grundstücke jedes guten Streites – die besondere Art aber wie sich diese göttliche Kraft in uns bewähren soll, in den Tagen der Anfechtung die schildert uns der Apostel in den Worten: v. 7. „durch Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken – “. Dadurch giebt er uns [zu] erkennen, die Anfechtung | sei eine Aufforderung des Kampfes, welchem sich der Diener Gottes nicht entziehen soll – es gilt in solchen Zeiten zu fechten und zu kämpfen, nicht nur gegen die Feinde, sondern auch gegen die schwachen Freunde des Evangeliums, welche denen zuwider sind, denen es nur darum zu thun ist das Reich Gottes zu fördern. Denn alles Wahre und Gute steht immer in der Mitte zwischen zweierlei was auf entgegengesetzte Art verkehrt und verderbt wird – und wenn bisweilen mehr das Eine und mehr das Andere sichtbar wird, so ist doch nie einer von beiden Kämpfen ganz aufgehoben, und oft gilt es nach beiden Seiten die Waffen der Gerechtigkeit zu führen. Aber sich nicht überwinden zu lassen, das ist die Waffe der Gerechtigkeit. Wo gestritten wird da entstehn auch Wunden, denn es ist unvermeidlich daß der das Schwerdt der Gerechtigkeit führt Wehe thut – wenn es vorübergehend war, als auch wenn es eingedrungen durch Mark und Bein. Das ist unvermeidlich, und ohne solche Wunden kann der Streit des Herrn nicht geführt werden. | Aber die Streiche, die die Diener des Herrn um seinetwillen treffen, sollen dazu dienen die Reinheit des Willens überall siegend zu machen: so gereichen sie auch denen zur Förderung gegen welche sie geführt sind. | Und durch das Gute soll überall nicht nur das Böse überwunden werden – nein dadurch muß sich das Schwerdt der Gerechtigkeit unterscheiden, daß es auch die heilende Kraft des Lebens durchdringe, so 11 dem] den

21 erkennen,] erkennen,:

23 gilt] giebt

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Über 2Kor 6,1–10

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daß aus der Wunde selbst eine reinere Gesundheit hervorgehe – das sind die Waffen der Gerechtigkeit, die der Diener Gottes führen muß zur Rechten und zur Linken. Ist nun seine Absicht rein gewesen, ist er geleitet gewesen durch die richtige Erkenntniß, und hat er in dem Streite selbst, die ungefärbte Liebe nie verleugnet, so hat es ja die vielfältige Erfahrung gelehrt, daß am meisten in den Zeiten der Widerwärtigkeiten das Reich Gottes gewachsen ist, – daß die Reinheit des Willens und die Kraft der Erkenntniß, dann auch am hellesten geleuchtet hat, und am tiefsten gefühlt worden ist, das sei es wonach alle zu trachten haben. [3.] So laßt uns nun 3. sehen, wie der Apostel den Sieg beschreibt den Gott den Seinen bereitet hat. Das Wesentliche hievon liegt nun darinn: daß durch das Werk des reinen Dienstes, die Werke des reinen Willens aufgeregt werden, durch die That der Wahrheit | das Wort der Wahrheit verherrlicht wird, daß durch die verwundende Liebe die Liebe selbst befestigt wird. Deswegen weil er das Große und Herrliche schon gesagt hat, sucht der Apostel unsere Erwartungen zu mäßigen, er thut das in den Worten: „Als die Unbekannten und doch Bekannten, als die Sterbenden und siehe wir leben, als die Gezüchtigten und doch nicht ertödtet“ – O wunderbar herrliche Zusammenstellung, wo uns auf der einen Seite der ganze Sieg vorgehalten wird den wir im Dienst des Herrn erringen, auf der andern Seite als ganz gewiß, daß ohnerachtet des Sieges, der Kampf und Streit nie aufhört. In diesem Streite soll die verborgene Kraft des Reiches Gottes bekannt werden. Vor Augen soll [sie] ihnen gestellt werden, und bekannt, aber unbekannt bleiben wir auch in dem immer wieder verkannt werden, welche nur erkannt werden können im vollen Lichte des Geistes – leben sollen wir in diesem Streit, und aus jedem Kampf mit erneuter Kraft hervorgehn; aber sterbend bleiben wir immer durch diesen Kampf. So ist in den Gläubigen Leben und Tod und beständiger Kampf. Gezüchtiget werden wir in diesem Kampf zu unserm gemeinsamen Heil, aber doch so gezüchtiget, daß alles was vergänglich ist angegriffen wird durch den Streit – wo auch die Kraft an und für sich nur schwach ist, daß es scheint als ob sie nicht ausreichen werde – ertödtet werden wir nicht. Frohe sind wir aber deswegen in diesem Streit, weil wir wissen, der Herr kann nicht anders | als ihn herrlich hinaus führen – wenn wir auch oft tief betrübt werden, wie tief die sinken die nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, denn wenn die Menschen erleuchtet sind, und mitten unter allen Segnungen des Christenthums leben können ohne sich dessen zu freuen – das ist die Traurigkeit welche uns nie vergehen kann in Fröhlichkeit. Reich machen wir Viele wenn wir einen guten Kampf gekämpft auf unserm Wege und dadurch die Herzen der Menschen erfrischen, – aber arm 28 beständiger] beständigen

29 unserm] unsern

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Am 24. Februar 1822 nachmittags

bleiben wir immer, nicht etwa weil uns nicht eine so weite Wirksamkeit zugesagt wie dem Apostel, sondern arm fühlen wir uns weil doch unsere Kraft nie ausreicht zu dem was wir ersehen, weil nach jedem Ziele wir ein Neues haben, was mehr Kraft in Anspruch nimmt als wir uns zutrauen, und weit von diesem Ziele entfernt sind. Und wenn wir dem Herrn ähnlich der nicht wußte wo er sein Haupt hinlegte, wol sagen müssen daß wir nichts haben weil uns nichts sicher ist, sondern alles angesteckt vom Wesen der Vergänglichkeit, weil wir nichts innehaben, und getrost erwarten müssen, wie es ihm gut dünken wird, – so sind wir doch seelig, denn alles haben wir, weil uns aufgethan ist, die Tiefe der göttlichen Weisheit und Gerechtigkeit, – weil wir ein für allemal eingeladen sind zu ihm, weil alles was sein ist, auch unser ist, und wir wissen er werde uns jedesmal ausrüsten wenn es Noth thut. | So bleiben wir denn im Siege Streiter und im Streite Sieger, so vermögen wir alle Anfechtung zu überwinden, und müssen es ihm zum Ruhm nachsagen, daß er niemand versuchen läßt über sein Vermögen – und in diesem Siege seines immer fortgehenden Streites, wird uns der Dienst des Herrn verherrliget, daß wir in unserm Amte sagen, daß es uns weder sinken läßt noch wanken. Dazu laßt uns immer uns ermuntern, besonders aber aus der Betrachtung des leidenden Erlösers, der uns allen den Sieg errungen hat, und uns allen die Kraft dazu, mitgetheilt aus der Fülle seiner Gnade. So möge denn diese Betrachtung gesegnet sein, daß wir aus seinem Schatze der Weisheit und Liebe, Glauben und Muth sammlen, Kraft dessen wir auch im Stande sein werden zu überwinden wie er überwunden.

11 ein für allemal] einmal für alle 6–7 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

16 nachsagen] nachzusagen

16 Vgl. 1Kor 10,13

18 sagen,] sagen,:

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Am 3. März 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Reminiscere, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 12,20 Nachschrift; SAr 61, Bl. 36r–43r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 105r–105v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Aus der Predigt am Sonntage Rem. 1822. Matth. 12 v. 20.

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Es ist noch nicht lange daß wir uns damit beschäftigten den Anfang des öffentlichen Lebens unsers Herrn zu betrachten, sowohl auf welche Weise begann seine stille Wirksamkeit auf einzelne Gemüther die ihm in seinem himmlischen Berufe vorzüglich dienen sollten, als auch das öffentliche Wirken seines Reiches. Und nun sind wir schon wieder in der Zeit welche vorzüglich der Betrachtung seines Leidens [gewidmet ist,] welches das Ende seines öffentlichen Lebens bezeichnet. Das waren größtentheils wilde Auftritte von Ungerechtigkeit und Gewalt, Scheinheiligkeit und verzagtem Wesen, List und roher Leidentschaftlichkeit, und unter diesen sehen wir den Erlöser in den letzten Stunden seines öffentlichen Lebens. Aber vorher, dazwischen und nachher finden wir auch die heiligen Augenblicke des vertrauten freundschaftlichen Umgangs mit denen welche ihm die nächsten auf Erden geworden waren und blieben. Jenes und das Betragen des Erlösers dabei wollen wir uns für unsre nächste Betrachtung wählen, auf das Letzte aber in dieser Stunde unsre Aufmerksamkeit richten. Die verlesenen Worte der Schrift sind ganz [besonders] dazu geeignet uns auf das hinzuführen was das Wesentliche war in dem Umgange mit seinen Jüngern während der Zeit seines Leidens. Es sind darin vorzüglich 3 Auftritte | in denen er seine Liebe und milde Barmherzigkeit darin bewies daß er das geknickte Rohr nicht breche und das glimmende Docht nicht erlösche, und auf diese wollen wir unsre Aufmerksamkeit richten. Es sind 3–7 Vgl. oben 3. Februar 1822 vorm.; 17. Februar 1822 vorm. 17. März 1822 vorm.

16 Vgl. unten

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Am 3. März 1822 vormittags

1. Jene schlafenden Jünger welche er dreimal weckte 2. der gewarnte und doch gefallne Petrus 3. der Uebelthäter am Kreuz der in den letzten Augenbliken seines Lebens den Erlöser erkannte, und seine Zuflucht zu ihm nahm. O Laßt uns nun die göttlich menschliche Milde und Freundlichkeit des Erlösers mitten in seinem Leiden zum Gegenstand unsrer andächtigen Erbauung machen.

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1. bewies der Erlöser wie er das geknikte Rohr nicht breche und das glimmende Docht nicht erlösche an den Jüngern welche er mit sich genommen hatte in der Nacht da er verrathen ward und von denen er sich, um ganz allein zu sein in der Unterhaltung mit seinem himmlischen Vater, etwas entfernte und zu denen er dreimal zurükkehrte um sie aus dem Schlafe aufzuwecken in den sie sorglos gesunken waren. – Wenn wir uns fragen: was war denn die Gefahr in welcher sie schwebten und die das Gefühl des Erlösers aufregte daß er sie wekte um sie vor der Gefahr zu warnen? Wenn nun die Schwäche des Fleisches überhand genommen hätte, wäre dadurch irgend etwas Wesentliches in ihrem Verhältniß zum Erlöser geändert? wäre das geistige Leben welches aus ihm in sie übergegangen war erstorben? Nein, das freilich nicht; denn für die welche einmal so im Innersten ihres Gemüthes mit | ihm verbunden sind, die sich, ganz wie die Reben am Weinstock eingepflanzt, an ihn geschmiegt haben für die ist diese Gefahr vorüber, denn die Quelle des geistigen Lebens sind nicht sie selbst sondern der Herr und in dieser Verbindung mit ihm haben sie schon und tragen in sich das ewige Leben das nicht wieder verloren gehn kann. Aber wie sehr wir uns gestärkt fühlen mögen und erhoben durch diese Zuversicht des Glaubens so müssen wir doch bekennen: die Erfahrung machen wir alle daß es ein vorübergehendes Verlöschen des geistigen Lebens auch für die giebt in welchen es freilich nicht ganz erstirbt, und daß es trübe Erinnerungen in der Seele zurükläßt die nur durch Thränen der Buße ihre Schärfe verlieren können. Und vor solchem vorübergehenden Erlöschen wollte sie der Herr bewahren: Der Geist ist willig aber das Fleisch ist schwach: Das ist die allgemeine Quelle woraus jene Zustände herrühren, der Geist bleibt immer willig bei denen die einmal das Gesetz des Geistes in sich aufgenommen haben, aber auch das Fleisch bleibt mehr oder weniger schwach, und wenn die Schwäche des Fleisches überhand nimmt so wird der Geist gebunden, weil er nicht anders als durch die sinnlichen Kräfte, Werke ans Licht bringen kann. – Der Erlöser trauerte und zagte im Innern seines Gemüths und bat seinen himmlischen Vater: „ists möglich so gehe | dieser Kelch 1 Vgl. Mt 26,36–46; Mk 14,32–42 2 Vgl. Lk 22,34.54–62 43 31 Mt 26,41; Mk 14,38 37–1 Vgl. Mt 26,37.39

3–4 Vgl. Lk 23,39–

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vorüber“: Und wenn wir fragen: wie konnte das sein da er doch wußte daß er nur durch Leiden eingehen konnte zu seiner Herlichkeit, so fühlen wir daß er diesen innern schweren Kampf eben deßwegen hatte, weil er wußte wie sehr auch die noch der Schwäche des Fleisches unterworfen waren deren reger Geist allein sein Werk auf Erden ausbreiten konnte. – Eben dieser innre Kampf des Erlösers wie ist er nicht immer ein geheimnißvoller Gegenstand des Nachdenkens und des Mitgefühls für alle Gläubige gewesen! Der Erlöser hatte sich diese 3 Jünger mitgenommen, daß sie stille und ruhige Zeugen desselben sein sollten, und darum sich zu bringen waren sie im Begriff: und die Anschauung und das Mitgefühl dieser großen Stunde waren sie in Gefahr zu verlieren. Da trieb ihn sein Herz an, wie sie immer der Grund seiner Bitten und der Gegenstand seiner Sorgen waren, sie zu warnen: wachet und betet: Die Reue wollte er ihnen ersparen daß sie das sollten durch eigne Schuld verloren haben Zeugen seines ringenden Gebets zu sein. Und als er ihnen sagte: wachet und betet damit ihr nicht in Anfechtung fallet: so lag darin daß eben die träge Schläfrigkeit ihnen gar leicht zur Anfechtung werden konnte. Wenn sie hernach schlaftrunknen Muthes Zeugen gewesen wären von dem was vorging wie leicht hätten sie bei dem Mangel an Besonnenheit und bei der Verworrenheit, die sich aus dem Schlaf mit hinüber spielt dazu kommen können etwas | zu thun, was für sie selbst nachher ein neuer Gegenstand der Vorwürfe und der Reue gewesen wäre. So war der Kampf des Fleisches und Geistes auch ein solcher Zustand wie die Worte unsers Textes ihn schildern. Die Festigkeit, die Ruhe und die Sicherheit deren sie in jener Stunde bedurften, die war geknickt, die Flamme welche ihnen brennen sollte war im erlöschen, und dreimal kam der Erlöser mit lebenvollem Worte um das geknikte Rohr zu binden und den Funken zur Flamme anzufachen. Seht da! was auch wir in unserm Leben auf der einen Seite zu besorgen auf der andern zu leisten haben: der Geist ist willig aber das Fleisch ist schwach: wer unter uns, wie gereift er sein mag durch die mannigfaltigsten Erfahrungen des Lebens, wie geprüft durch die Züchtigungen in Trübsalen, die ihm der Herr als seinem geliebten Kinde hat angedeien lassen, wer dürfte sagen daß das nicht oft auch sein Bekenntniß sei: daß es auch für ihn noch Stunden gebe und Verhältnisse wo die lebendige Frische des Geistes erloschen und nur die Willigkeit bleibt, wo der Athem des geistigen Lebens fast stille zu stehn scheint. Ja dem sind wir immer ausgesetzt und Allen ist uns nöthig daß der Erlöser uns immer wieder erwecke. Aber eben so sollen wir uns das zum heilgen Gesetz machen aus dem Beispiel des Erlösers daß uns eigne Leiden nie sollen vergessen machen der Sorgfalt für unsre Brüder die in Gefahr sind in Anfechtung zu 32 lassen,] lassen.

36 ausgesetzt] ausgesetz

13.15–16.28–29 Mt 26,41; Mk 14,38

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fallen, | nie sollen wir, auch in den Stunden wo uns der Drang des Lebens am heftigsten ergreift auch da sollen wir derer nicht vergessen die der Herr uns anvertraut hat damit wir helfen über ihre Seelen wachen. Wie den Erlöser so soll uns ein ähnliches Gefühl erinnern wo die geliebten Seelen in Gefahr stehn der Schwachheit Raum zu geben, und das belebende Wort des Erlösers es soll sie stärken aus unserm Munde auch wenn die Anfechtungen und Leiden die uns selbst getroffen die dringensten wären und die herbesten. 2. Das Zweite aus dem Leiden des Erlösers worin wir die Wahrheit unsers Textes erkennen ist das Betragen des Erlösers gegen den Jünger der ihn verleugnete. Gewarnt war er von dem Herrn selbst, aber voll Eifer, wie er war, zu erfahren was mit seinem Herrn und Meister vorgehe, und ihn zu begleiten so weit er nur konnte, bemerkte er nicht daß die Stunde gekommen war die Warnung des Herrn zu beachten und vergaß ihrer ganz indem er so erfüllt war von Besorgniß für das Schiksal des Herrn. Und nachdem er so zu mehreren Malen versichert hatte er kenne diesen Menschen nicht, nur damit man ihn nicht störe in der Beobachtung, und als | nun der Augenblick gekommen war wo das Zeichen das der Herr ihm angegeben hatte ihn erinnern mußte, und als in demselben Augenblick der Herr in seiner Nähe vorüberging, da sah er ihn an. – Kein Wort konnte er mit ihm wechseln, und nur darauf was aus ‚Auge in Auge‘ in die Seele des andern übergeht, nur darauf war sein Verhältniß mit seinem geliebten Jünger in diesem Augenblick beschränkt. Was war es aber für ein Blick den der Erlöser ihm zuwarf? Kein Blick des Rechthabens der den über sich selbst noch unerfahrnen Jünger fragen sollte wer denn nun Recht gehabt habe, kein Blick des Vorwurfs der die bittre Reuethräne aus dem Auge des Jüngers preßte, denn des Vorwurfs bedurfte es hiezu nicht, aber es mußte ein tröstender, verzeihender und erquikkender Blick gewesen sein mit dem er den Jünger ansah; denn von wem konnte Petrus die Verzeihung erlangen als von seinem Herrn und Meister, und wenn er sie nicht erhalten hätte, wie wäre es möglich gewesen daß es hernach ihn nicht störte in dem Berufe des Lebens, und daß es uns erscheint wenn wir ihn nachher betrachten als ob es gar nicht gewesen wäre, denn wie sehn wir ihn da nicht eben so muthig wie vorher in der Gesellschaft der andern Jünger und bei der Anordnung der Beerdigung, und die Untersuchung leitend als das Gerücht von der Auferstehung zu ihnen kam, | wie sehen wir ihn, noch ehe der Herr 14 war] wo 17–21 Vgl. Lk 22,54–62

36–37 Vgl. Lk 24,12; Joh 20,3–7

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jenes denkwürdige Gespräch „Hast du mich lieb? – so weide meine Lämmer“ – mit ihm hatte nach der Auferstehung, eben so muthig an der Spitze, überall wie bisher der Erste unter seinen Brüdern, das hätte nicht so sein können wenn er nicht der Verzeihung des Herrn sicher gewesen wäre; so ist sie es also die in dem Blick des Erlösers lag. Nicht als ob wir die Verleugnung so ansehen müßten als habe er den Glauben an den Erlöser verleugnet, und deshalb der Vergebung bedurft, aber die Untreue hatte er gegen ihn begangen daß er der Warnung des Lehrers nicht gefolgt war, sein Herz nicht gehütet, und sich selbst zu viel trauend das nicht beachtet hatte was ein noch nicht ganz befestigtes Gemüth zum weichen bringen kann. Diese Untreue hatte er begangen und die Erfahrung die er von sich selbst gemacht, sie konnte leicht das gerechte Vertrauen auf die vom Geiste des Herrn beseelte Kraft in ihm schwächen. Dieses Vertrauen auf seinen Zusammenhang mit dem Erlöser, die Sicherheit die er nicht würde verloren haben ohne jene Untreue, die war das geknickte Rohr und das nur noch glimmende Docht. Und darum konnte der Erlöser nicht anders als mit dieser hülfreichen Milde seinem Jünger begegnen. Er selbst den feindlichen Fragen der Hohenpriester und den Beleidigungen der rohen Schaar ausgesetzt, und so nahe dem über | sein Schicksal entscheidenden Augenblick, war doch so voll von der Liebe zu den Seinigen, und bis zum letzten Augenblik seines Lebens der treue Hirt, so besorgt für jedes seiner Schaafe, daß während Petrus mit der Sorge für seinen Herrn beschäftigt der Treue vergaß, der Erlöser mitten im Gedränge seines Lebens der Versuchung der sein Jünger ausgesetzt war gedachte und ihm half. Wie leicht sind auch wohlmeinende und liebevolle Gemüther dem ausgesetzt daß ein unbefolgter Rath zumal in wichtigen Angelegenheiten die Liebe schwächt und eine gewisse Kälte über die Seelen zieht, aber des Erlösers Liebe blieb ungeschwächt, und wie wenig seine Jünger auch thaten um Alles zu fassen was der Vater von ihm gezeugt, er verlor doch in keinem Augenblick die Geduld mit ihren Schwächen, er stärkte immer das Vertrauen auf die Kraft des von ihm ausgehenden göttlichen Geistes in ihnen, und nichts war ihm so angelegen als sie in diesem so fest zu halten, daß auch ihre eigne Verwirrung das Band nicht zu lösen vermochte. Auch das sei uns ein Vorbild besonders für die Zeiten eines ähnlich bewegten Lebens, wo Stunden der Versuchung und Anfechtung keinem fern bleiben. Wie nothwendig war es daß der Erlöser die feste Ueberzeugung bewahrte die er kurz vorher in dem herlichen Gebet ausgesprochen hatte | daß die der Vater ihm gegeben, sein bleiben und sein Reich weiter ausführen würden, aber er wußte auch wie diese Ueberzeugung nur fest sein kann, wenn das Herz immer offen bleibt der verzeihenden Liebe, ohne diese bleiben die Herzen voneinander [geschieden]. Wenn die Schwäche 1–2 Vgl. Joh 21,15–17

37–39 Vgl. Joh 17,1–26

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derer der Mensch immer ausgesetzt bleibt, wenn sie sich der Verzeihung der Brüder nicht zu erfreun hat, wenn die Brüder untereinander sich dieser nicht zu erfreuen haben, dann verliert das Gefühl der Liebe seine heiligste Gestalt im Gemüth, und ihren größten Reitz; denn eben daß die Liebe alles überwindet, das ist ihr höchster Reitz und ihre größte Herlichkeit. Erfahren wir wie Petrus daß durch die wohlthuende Art der Vergebung, Vertrauen und Muth aufgerichtet wird dann werden wir immermehr bestärkt in dem Bewußtsein daß die Liebe allein die Kraft Gottes in den Herzen ist! Ja, Bessres können wir nicht thun, wenn wir die Kräfte derer, welche das Reich Gottes bauen können treu zusammenhalten wollen, als nach jeder Schwäche den tröstenden Blick in das beschämte Herz zu werfen und die versöhnenden Arme den Brüdern entgegenzuhalten.

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3. ist es der Verbrecher am Kreuz welcher uns, und zwar am allerstärksten, an den tiefen Sinn der Worte unsers Textes erinnert. Nicht eher als an beider Lebensende kam der Unglückliche in die Nähe des Erlösers. – Wir wissen nichts von seinem frühern Leben | und nichts lesen wir von dem Verbrechen dessen Strafe er litt, als daß uns gesagt wird er sei zwar als ein Mörder verurtheilt aber in einem Auflaufe ergriffen, womit angedeutet ist, daß es einer von den Auftritten des damals unruhig bewegten Volks gewesen, woran er theilgenommen hatte, darum dürfen wir glauben, daß das was er gethan nicht in dem schwärzesten Lichte zu sehen ist, sondern glauben daß er Einer von denen gewesen, welche durch mißgeleitete Vaterlandsliebe, und durch Eifer im Guten ohne richtige Einsicht der darum leicht in sündliche Thaten ausarten konnte, verführt waren, daß er also zu denen gehörte in welchen eine Kraft und eine Liebe war welche richtig geleitet ein herliches Werkzeug werden konnte und welche mitten unter den Verwirrungen jener Zeit, zu den Zeichen gehörte von welchen der Erlöser seinen Zeitgenossen den Vorwurf machte daß sie sie nicht verständen. Aber wie auch das Gute mit dem Bösen in der Seele nur zu einer dunklen That vereinigt sein kann, so litt er was ihm gebührte und das empfand und sagte er auch selbst: wir empfangen billig[:] Das allein konnte ihm zwar die Ruhe geben über das was ihm begegnete, die wir immer fühlen bei dem was das Rechte ist und uns Zukommende, aber der Trost konnte ihm nur anderswoher kommen, da hing neben ihm am Kreuz der Erlöser der Welt, ihm gewiß bekannt als großer | Lehrer im Volke, jezt der Gegenstand des Spottes derer die ihn sonst verehrt hatten, da strömte eine Ahnung des bessern Lebens in die gefallne Seele, ein Keim des Glaubens an den wel7 bestärkt] bestört

20 Volks] Volks,

27–29 Vgl. Mt 16,2–4; Lk 12,54–56

32 Vgl. Lk 23,41

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chen er sah und in welchem sich ihm die göttliche Kraft nicht verbergen konnte, wurde lebendig in seinem Gemüth, und da eilte der Herr das geknikte Rohr mit heiligen Händen zu binden, und den Funken zur hellen Flamme des Glaubens anzufachen, und welches geknikte Rohr, welchen Glauben! Denn wenn wir auch den Unglüklichen in jenem milden Lichte betrachten, so müssen wir dennoch sagen: wie mußte er sich erscheinen neben dem welchen er anfing zu erkennen; er der gesucht hatte das Böse zu überwinden durch Böses und für das Gute zu kämpfen indem er das Unrecht zu Hülfe nahm, wie mußte er sich erscheinen neben dem der nicht anders als durch das Gute das Böse überwunden hatte und die ganze Fülle des Bösen dadurch überwand daß er demselben äußerlich unterlag? Und wie konnte sich die Milde des Herrn mehr verherlichen, und was konnte ihm der Vater beßres zuführen als einen Unglücklichen an seiner Seite der in dem Augenblick das Sinnbild war des ganzen gefallnen Menschengeschlechts. Und welche Herlichkeit und Sicherheit mit welcher er das geknikte Rohr bindet, in dem Worte: | „Heut wirst du mit mir im Paradiese sein“: weit über die Erwartung dessen hinaus der kaum schüchtern zu sagen gewagt hatte: „Herr gedenke mein“: Aber wie sehr auch uns dieses Beispiel erquikt und rührt, wie tief wir darin die Wahrheit fühlen daß es immer noch eine Rückkehr gebe zu Gott durch das feste Anklammern an den der an seinem Kreuze die Welt beseeligt hat, und wie sehr uns dieses entzükt können wir auch hievon sagen es sei uns ein Vorbild? können auch wir mit solcher Sicherheit wie der Erlöser helfen? – Sagt er nicht zu seinen Jüngern: „Wem ihr die Sünden vergebet dem sind sie vergeben und wem ihr sie behaltet dem sind sie behalten“:? Das sagte er seinen Jüngern nachdem er ihnen seinen Geist eingehaucht hatte, nachdem er sich selbst sagen konnte sie seien erfüllt nach dem Maaß ihrer Kraft mit der Liebe und mit dem Licht womit er in die menschlichen Seelen scheint. Ja wir haben, wenn wir an uns selbst die Erfahrung gemacht haben von der Seeligkeit dessen der in Gemeinschaft mit dem Erlöser lebt, o wir haben ein Zeichen um auch das zu erkennen was in dem Gemüthe des Nächsten vorgeht. Verleugnen wir selbst uns nur immer und Alles was uns in irgend einem andern Sinne nahe liegt und haben allein sein Reich im Auge, o dann ist es auch das Auge seines Geistes mit welchem wir die Wahrheit von der Lüge in | den Gemüthern der Menschen unterscheiden, wir erkennen dann das nach Seeligkeit ringende Gefühl, und wenn unser Glaube der ist den der Geist des Erlösers in die Seele gelegt hat, dann wissen wir auch daß er stärker ist als Alles, daß seine erlösende Kraft Alles überwindet, und daß kein Augenblick zu spät ist sich zu ihm zu nahen, und 28 scheint.] schaut. 16–17 Lk 23,43

35 Gemüthern] Gemüther 18 Lk 23,42

24–25 Joh 20,23

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daß wir in seinem Namen den Trost der Vergebung in jede gläubige Seele gießen können die in der That reuig ihre Zuflucht zu ihm nimmt. O wie viele geistige Schmerzen sollen wir so heilen wie der Erlöser es hier gethan hat! wie soll das unsre schönste Zuversicht sein, daß wir fest und sicher rechnen können in ihrem Gemüth auf die Ueberzeugung der Vergebung, und eben dadurch daß wir selbst verzeihen und sie aufnehmen in die Gemeinschaft ihnen die feste Ueberzeugung geben daß der sie nicht weniger aufnimmt von dem wir die Kraft der verzeihenden und heilenden Liebe empfangen haben! Und dadurch daß der Erlöser bis in seinen letzten Augenblick das geknikte Rohr nicht brach, dadurch hat er, wie unser Text sagt, das Gericht hinausgeführt zum Siege. Und eben so will er, wie er damals das Gericht hinausgeführt zum Siege es immer hinausführen zum Siege indem er uns alle zu Theilnehmern | macht der Verzeihung aller sich Demüthigenden, durch die Gemeinschaft seines Geistes. Wir also sind es denen es obliegt in seinem Namen das göttliche Werk der Stärkung der Schwachen weiterzuführen, wie er auf das Herlichste uns darin vorgeleuchtet hat. So mögen wir immer auf keinem andern Wege das Reich Gottes zu fördern suchen und das Gericht hinauszuführen zum Siege als durch dieselbe göttliche Milde und Barmherzigkeit, im Vertrauen auf sie sollen wir Alles immermehr mit der heilsamen Gewalt der göttlichen Liebe umschlingen. Ja dieses Vertrauen sollen und können wir haben daß es für sein Reich keine andre Waffen geben darf als die Waffen der Liebe und des Glaubens, welches da sind die Waffen der Gerechtigkeit, womit auch wir nie zuviel thun können wo der Herr uns gegeben hat zu erquicken und zu stärken; damit wir Alle immermehr zu Einer Gemeinschaft des Glaubens geläutert werden darin alle Schätze des Geistes Allen gemein sind und worin wir die frohe Zuversicht haben daß jeder etwas dazu beitragen könne Alle zu gewinnen, und daß so das Werk des Herrn hinausgeführt werde zum Siege!

[Liederblatt vom 3. März 1822:]

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Am Sonntage Reminiscere 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Laß mir die Feier deiner Leiden, / Du Dulder Gottes, heilig sein! / Sie lehre mich die Sünde meiden, / Und dir mein ganzes Leben weihn; / Dir, der so ruhig und entschlossen / Für mich die Last des Kreuzes trug; / Dir, dessen Blut für mich geflossen, / Als heiß dein Herz vor Liebe schlug! // [2.] In der Betrachtung heilgen Stunden / Will ich nach deinem Kreuze sehn, / Und dich, o Herr, für deine Wunden / Durch meiner Thränen Dank erhöhn; / Will tiefge-

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rührt die Huld ermessen, / Womit dein Herz die Welt umfaßt, / Und nie es undankbar vergessen, / Was du für mich geduldet hast. // [3.] Mir sollen diese Feierzeiten / Der größten Liebe heilig sein; / Ich will dich an dein Kreuz begleiten, / Und wilder Freuden Reize scheun. / Dein Leiden sei mein höchster Segen, / Dein Tod mein seligster Gewinn, / Mein Herz schlägt dir voll Danks entgegen, / Weil ich durch dich gerettet bin. // [4.] Wie jetzt, bleibt mir auf ewig theuer, / Gethsemane und Golgatha! / Ihr Stätten, wo die Welt die Feier / Der Sünderliebe Christi sah; / Nach euch will ich voll Andacht schauen, / Wo mein Erlöser litt und starb; / Auf ihn allein will ich vertrauen, / Der mir die Seligkeit erwarb. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. [1.] Der Weltversöhner ist bereit / Sein Leiden anzutreten; / Er geht in stiller Einsamkeit / Zu kämpfen und zu beten. / Dort hingesunken auf die Knie / Arbeitet er in Geistesmüh, / Und betet kämpft und zaget. / Er wünscht den heißen Kampf verkürzt; / Wer sieht und höret nicht bestürzt / Wie leidenvoll er klaget. // [2.] Gott du bist heilig, wunderbar / In allen deinen Werken; / Es kommt ein Engel nun sogar / Des Lebens Herrn zu stärken. / Er ringt, sein heilig Angesicht / Träuft Blutschweiß; wer entsetzt sich nicht? / Wer litt wie er auf Erden? / Der du in reiner Unschuld prangst, / Wie konntest du von solcher Angst, / O Herr, bestürmet werden. // [3.] Du rangst für unsrer Seelen Ruh, / Von banger Qual umgeben; / Und Gott ergeben weihtest du / Dem Tod der Schmach dein Leben. / Rein wie du warst von eigner Schuld, / Wardst du ein Beispiel der Geduld, / Uns zu befrein von Sünden. / Der Frevler, der dies Heil verschmäht, / Und frech den Weg der Thorheit geht, / Was wird der einst empfinden. // [4.] Mehr littst du nach des Höchsten Rath / Für Sünder, als wir fassen; / Du littst, auch auf dem Leidenspfad / Ein Vorbild uns zu lassen. / Nun jauchze, wen die Sünde reut, / Wer Jesu Christi sich erfreut, / Der wird vor Gott bestehen. / Wer diesem folgt, der zage nicht / Vor Noth und Tod und Weltgericht, / Er wird sein Heil einst sehen. // [5.] Bedenk, o Seel, um welchen Preis / Dein Heiland dich erkaufet! / Sieh ihn bedeckt mit Todesschweiß, / Mit Blut für dich getaufet! / Und sorge daß die Sünde nie / In ihr gefährlich Netz dich zieh, / Nie deine Treu erschüttre. / Lockt ihre Stimme, höre nicht! / Schau hin auf ihn, denk ans Gericht / Das Sünder trifft, und zittre. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wenn meine Sünd etc. [1.] Du Tröster schwacher Brüder, / Herr nimm dich meiner an, / Wie leicht sink ich darnieder, / Verführt durch stolzen Wahn. / Ach oftmals schlummr’ ich sorglos ein, / Bin ruhig bei Gefahren / Die meiner Seele dräun. // [2.] Herr rette du mich Schwachen, / Wenn träge Sicherheit / Mich will vermessen machen; / Gieb Muth und Kraft im Streit. / Flöß meiner Seele Tröstung ein, / Sprich zu ihr: Wach und bete! / Bald ist die Krone dein. //

Am 10. März 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Oculi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,25–27 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 444–455; König (rekonstruiertes Fragment; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.3.E.a. und II.3.H.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

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Tex t. Phil. 1, 25–27. Und in guter Zuversicht weiß ich, daß ich bleiben und bei euch Allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude des Glaubens; auf daß ihr euch sehr rühmen möget in Christo Jesu an mir durch meine Zukunft wieder zu euch. Wandelt nur würdiglich dem Evangelio Christi, auf daß, ob ich komme und sehe euch, oder abwesend von euch höre, daß ihr stehet in einem Geist und einer Seele und kämpfet sammt uns für den Glauben des Evangelii. [Anfang fehlt; SW bietet Text aus 1817.] Von dieser Betrachtung nun aus fährt er fort und äußert zunächst in den Worten unsers Textes die gute Hoffnung, daß sich seine Gefangenschaft so wenden werde, nicht wie es sein Gewinn, sondern wie es Christi Gewinn sei, indem er sagt: „In guter Zuversicht weiß ich, daß ich bleiben und bei euch Allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude des Glaubens.“ Wie es nun damit geworden, ob der Apostel aus der Gefangenschaft, in welcher er sich bei Abfassung dieses Briefes befand, wieder entlassen, so daß er dem Evangelio noch länger hat dienen können, oder ob er schon damals durch den Märtyrertod vollendet worden ist, das wissen wir nicht, sondern es bleibt dies einer von den ungewissen und nicht zu entscheidenden Punkten in der ersten Geschichte der christlichen Kirche. Wir sehen aber aus dem Zusammenhang der verlesenen Worte, daß, wie der Apostel sagt, er zwar in guter Zuversicht wußte, aber doch nicht mit einer so entschiedenen Gewißheit, daß kein Zweifel mehr dabei hätte obwalten können, denn er spricht hernach von der Ungewißheit, ob er werde zu ihnen kommen und sie sehen oder abwe-

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send von ihnen Nachricht erhalten, und der Kampf, in welchem er begriffen ist zwischen Leben und Tod, zwischen Bleiben und Abscheiden, ist ihm völlig gegenwärtig. Und keinesweges dürfen wir glauben, daß es zu den Vorzügen seines apostolischen Amtes gehört habe, zu wissen, was ihm in dieser Hinsicht bevorstand, ob Erledigung seiner Bande und Wiedererlangung seiner Freiheit oder ein glorreicher Märtyrertod; sondern wie der hohe Vorzug seines apostolischen Amtes darin bestand, daß es das Amt des Geistes war, der da lebendig macht, und nicht das Amt des Buchstaben, der da tödtet, so gehört jenes Vorherwissen von dem Ausgang jenes bestimmten Ereignisses zu dem Kapitel, welches der Herr seinen Jüngern auf die Frage, wirst du um diese Zeit wieder aufrichten das Reich Israel? so bezeichnet: | „Euch gebühret nicht zu wissen Zeit oder Stunde, sondern der Vater im Himmel hat sie seiner Macht vorbehalten.“ Es ist auch wahr, was der Apostel in früheren Worten gesagt hatte, daß sein Leben Christi Gewinn sein müsse, weil, so lange er noch auf Erden sei, er nicht aufhören könne, den großen Beruf zu treiben, den der Herr ihm in der Verkündigung des Evangeliums unter den Heiden übertragen hatte, und dadurch sein Reich und seine Ehre zu fördern, und je mehr er diesen Beruf mit der ganzen Liebe seines Herzens umfaßte, desto mehr mußte ihm eine solche Betrachtung desselben in jener Zeit, wo das Reich Gottes erst einen so kleinen Raum auf Erden gewonnen hatte, zu der guten Zuversicht gereichen, daß wenn er auch Lust habe abzuscheiden und bei Christo zu sein und dies für seine Person auch besser wäre, er doch bleiben und bei den Philippern sein werde, ihnen zur Förderung und zur Freude des Glaubens und dadurch dem Erlöser zum Gewinn. Aber auch das, m. g. F., war, wenn gleich eine sehr freudige und erhebende, doch nur eine menschliche Zuversicht, und neben derselben durfte in seiner Seele nicht fehlen und fehlte gewiß auch nicht das Vertrauen, daß, wie sehr auch immer sein Leben ein Gewinn für Christum sein müsse, doch, wenn es in dem göttlichen Rathschluß beschlossen wäre, ihn schon jezt aus dem irdischen Leben abzurufen, dies der Sache seines Herrn nicht schaden könne, sondern daß der, welcher ihn berufen habe, seinen Namen unter die Heiden zu tragen, auch wissen werde, ohne ihn sein Evangelium auszubreiten. Denn wenn er auch damals seiner Bande erledigt und wieder zur lebendigen Thätigkeit hergestellt wurde unter seinen Gemeinden, so hat er doch wenige Jahre hernach den blutigen Tod der Märtyrer erlitten, und was er in dieser Zeit noch gethan für die Ausbreitung des himmlischen Lichtes, für die Vermehrung des Glaubens, für die Erweiterung | der Herrschaft des Erlösers, wie wenig kann es sein gegen das, was in der damaligen Zeit und unter den damaligen Umständen noch zu thun war für die Sache des Herrn! Und diese gute Zuversicht, welche wir hier an dem Apostel bemerken, sie ist nicht etwa sein ausschließliches Eigenthum, als besonders zu dem Amte 7–9 Vgl. 2Kor 3,6

11–13 Vgl. Apg 1,6–7

14–24 Vgl. Phil 1,19–24

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eines Apostels gehörig, sondern Alle, denen die Stelle, welche der Herr ihnen angewiesen hat in seinem Reiche, das Gefühl giebt, daß ihr längeres Bleiben und Wirken auf derselben ein Gewinn ist, sei es mittelbar oder unmittelbar für ihn und für die Förderung seines heiligen Werkes auf Erden, können dieser guten Zuversicht voll sein, daß nämlich kein Mensch, nachdem der Rathschluß des Höchsten über die Ordnung, in welcher die Sterblichen das irdische Leben verlassen sollen, an ihm erfüllt ist, hienieden unentbehrlich sei, und daß, wie viel Gutes, wie viel Vortreffliches und Gottgefälliges auch durch die treue Liebe und durch die eifrige Thätigkeit des Einzelnen bereits gewirkt sein mag und, wenn er länger auf seiner Stelle erhalten würde, noch gewirkt werden möchte, der Herr doch ohne jeden Einzelnen sein heiliges Werk auf Erden werde zu fördern wissen. Denn, m. g. F., nicht durch uns selbst, nicht durch unsere schwache menschliche Kraft – und das ist es ja eben, wovon der Apostel so tief durchdrungen ist und was er meint, wenn er von seiner Wirksamkeit sagt: „Nicht daß wir tüchtig sind von uns selber, etwas zu denken als von uns selber, sondern daß wir tüchtig sind ist von Gott, welcher auch uns tüchtig gemacht hat, das Amt zu führen des neuen Testaments,“ und: „Gott ist es, der in uns wirkt Beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen“ – nicht durch uns selbst thun wir irgend etwas, was das Reich Gottes wahrhaft fördern könnte, sondern durch die Kraft und den Beistand seines Geistes. Dieser aber, wie der Erlöser selbst ihn in den Tagen seines Fleisches eben so wenig einem Einzelnen | verheißen, als er versprochen hat, mit seiner geistigen Gegenwart bei einem Einzelnen zu sein, sondern bei der Gesammtheit der Seinigen will er schüzend und segnend sein alle Tage bis an der Welt Ende, dieser ist nach der alten göttlichen Verheißung einmal ausgegossen über alles Fleisch; und weil er nicht anders kann, als in dem Gemüthe des Menschen wohnen – denn da hat er seinen Siz und Tempel und da wird er erkannt in seinen heiligen Regungen – so zieht er, wenn ihm die eine Hülle abgestreift wird, in eine andere ein, und es ist dieselbe Kraft des göttlichen Geistes, welche einst über die Jünger des Herrn kam und sie durchdrang und tüchtig machte, hinzugehen in alle Welt und sein Evangelium aller Kreatur zu predigen und sein Reich unter den Völkern der Erde aufzurichten, und dieselbe Kraft des göttlichen Geistes, welche noch jezt in denen, die da gläubig geworden sind an seinen Namen, fortwirkt zu seiner Verherrlichung in Heiligung des eigenen Sinnes und Wandels und in Erleuchtung und Befestigung Anderer, und so die Menschen immer mehr dienstbar macht seinem großen Werke; und so wie diese Kraft des göttlichen Geistes unendlich ist, so wird sie auch, wenn hier und da ein Werk15–18 2Kor 3,5–6 18–19 Phil 2,13 24–26 Vgl. Mt 28,20 Joel 3,1 30–34 Vgl. Mt 28,19; Mk 16,15

26–27 Vgl.

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zeug, dessen sie sich bedient, ihr durch den Tod genommen wird, sich immer neue Werkzeuge zurichten nach ihrem ewigen göttlichen Wohlgefallen. Und damit stimmt nun genau zusammen das Zweite, worauf ich uns aufmerksam machen will aus den Worten unsers Textes, das ist das geistige und zarte Band zwischen denen, die das Evangelium verkündigen, und denen, welchen es verkündigt wird, wie der Apostel sich hier darüber äußert, indem er spricht: „Ich weiß, daß ich bleiben und bei euch Allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude des Glaubens, auf daß ihr euch sehr rühmen möget in Christo Jesu an mir, durch meine Zukunft wieder zu euch. Wandelt nur würdiglich dem Evangelio Christi, auf daß, ob ich komme und sehe euch oder abwesend von euch höre, daß ihr stehet | in einem Geist und einem Sinn und sammt uns kämpfet für den Glauben des Evangelii.“ Hier, m. g. F., sagt der Apostel zuerst zu den Philippern, er werde wieder bei ihnen sein, auf daß sie sich sehr rühmen mögen in Christo Jesu an ihm durch seine Zurükkkunft zu ihnen; aber dann ermahnt er sie auch, würdig des Evangelii zu wandeln, damit, er komme nun oder bleibe abwesend von ihnen, sie immer in einem Geiste und einem Sinne stehen und mit ihm für den Glauben des Evangelii kämpfen mögen. Wenn der Apostel zuerst sagt, er werde wieder bei ihnen sein, auf daß sie sich in Christo Jesu sehr an ihm rühmen mögen bei seiner Zurükkkunft zu ihnen, was Anderes stellt er uns in diesen Worten dar, als die rechte und innige Verbindung des Geistes, vermöge welcher die Christen alles Gute und Herrliche, was in ihrer Mitte ist, als einen gemeinsamen Besiz betrachten, so daß jeder sich gleichsam das zurechnet, was dem Andern gehört? denn das liegt doch in den Worten, sie würden sich seiner sehr rühmen in Christo Jesu, sie sähen ihn selbst und Alles in ihm und von ihm nicht als etwas ihnen Fremdes, sondern als das Ihrige, als ein zu ihrem Leben gehöriges Gut an und rühmten und freuten sich der ausgezeichneten Gaben und Kräfte, womit der Herr ihn ausgestattet habe, wie ihres eigenen geistigen Besizthums. Worauf, m. g. F., gründet sich diese Betrachtung und Behandlung der geistigen Güter unsers Lebens? Eben auf dasselbe, wovon ich vorher geredet habe, daß keiner unter uns im Reiche Gottes etwas durch sich selbst ist oder aus eigener Kraft vermag, sondern Alle nur durch den Geist Gottes, der in ihnen ist und wirkt, thun und sind, was sie thun und sind. Aber wenn wir fragen, wie freuen wir uns denn aller köstlichen Gaben des Geistes, die wir in unsern Brüdern und besonders in den ausgezeichneten Dienern und Werkzeugen Gottes und seines Reiches erkennen? was ist es denn, wodurch, wenn wir sie erblikken, unser Herz zu dem freudigen Bewußtsein erhoben wird und unser Mund zu dem | seligen Rühmen geöffnet, daß jene Gaben und Kräfte für Alle da sind und in ihrer Wirksamkeit Allen Wohlfahrt und Segen spenden? so müssen wir sagen, nicht sind wir es selbst, so wie wir eben sind, von Fleisch geboren Fleisch, abgesondert von Christo, für uns selbst betrachtet, wir selbst sind es nicht, worin diese Freude ihren innersten Grund hat, denn da

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gilt eben was der Apostel sagt: „der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit, und kann es nicht erkennen, sondern es will geistig betrachtet sein;“ wie wir überall sehen, daß diejenigen, welche am meisten verstrikkt sind in das Wesen dieser Welt und in das Tichten und Trachten nach ihren vergänglichen Dingen, den innersten Sinn und die geistige Handlungsweise derer, in welchen der Geist Gottes wohnt und wirkt, nicht verstehen, sondern sich das alles aus fleischlichen blos menschlichen Regungen und Absichten erklären; – das ist der natürliche Mensch, der nichts vom Geiste Gottes vernimmt, dessen Auge nicht blos für das geheime, sondern auch für das offenbare Walten desselben geschlossen ist; das ist der natürliche Mensch, der nur mit dem Irdischen und Weltlichen Gemeinschaft sucht und darin seine Befriedigung findet. Wenn wir uns also freuen über die köstlichen Gaben und Kräfte, mit denen der Herr unsere Brüder ausgerüstet hat und durch welche sie sich als seine Werkzeuge in der Förderung seines Werkes beweisen: so können wir das nur vermöge des göttlichen Geistes, der eben die unerschöpfliche Quelle aller Gaben ist, wie auch der Apostel selbst sagt: „wir haben nicht empfangen den Geist der Welt, sondern den Geist aus Gott, daß wir wissen können, was uns von Gott gegeben ist.“ Wenn sich freuen und rühmen sollten die Christen zu Philippi an den Gaben Gottes in dem Apostel und an den Erweisungen göttlicher Kraft in seinem Leben: so konnten sie das auch nur vermöge desselben Geistes, der nicht ein Geist der Welt | ist, sondern der Geist Gottes. Und so ist es überall in dem Reiche des Herrn. Es ist der Geist Gottes, der, wie er sich selbst kennt, sich auch in seinen Gaben wiedererkennt und sich derselben erfreut. Was uns das innere Auge öffnet und uns fähig macht, dasjenige gehörig zu würdigen, was nicht dem Geiste dieser Welt angehört, sondern was der Geist Gottes in ihnen wekkt und pflegt und kräftigt – das ist derselbe göttliche Geist. Und eben so, was den Apostel erleuchtete und fähig machte, die heiligen Gaben, mit welchen der Herr ihn ausgerüstet hatte, nicht anzusehen als sein eigen, was er für seine persönlichen Zwekke gebrauchen könne, sondern als der Gemeinde gehörig, und sie deshalb seinen Brüdern gleichsam hinzugeben als einen Gegenstand ihrer eigensten innigsten Freude und ihnen zu sagen, sie würden sich seiner sehr rühmen in Christo Jesu, das ist auch wieder derselbe Geist Gottes; denn der ist ein Geist der innigen Gemeinschaft, der, wie er alles aus dem unermeßlichen Schaz des Erlösers nimmt, so auch alles zum gemeinsamen Besiz unter die Kinder Gottes vertheilt; der ist ein Geist der innigen Gemeinschaft, durch welchen keiner etwas als sein eigen ansieht und behandelt, sondern alles als Sache dessen, dem alle Herrschaft gegeben ist im Himmel und auf Erden, und in Verbindung mit welchem allein jeder in Gott leben, weben und sein kann. Und dies, m. g. F., diese gegenseitige 1–3 1Kor 2,14

17–19 1Kor 2,12

39–40 Vgl. Mt 28,18

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Freude in dem Herzen der Kinder Gottes an den Gaben des Geistes in Christo Jesu, diese Art, wie dadurch der Stärkere in dem Gefühl, daß das größere Maaß, welches er empfangen hat, nicht sein ausschließliches Eigenthum ist, immer mehr bereit wird, den Schwächern zu unterstüzen und zu fördern, und der Schwächere in dem Gefühl, daß sein Mangel kein Verlust für ihn sein soll, immer geneigt, sich dem Stärkern zur Unterstüzung und Förderung hinzugeben, das ist das geistige Band, dessen der Apostel hier erwähnt und von welchem er sagt, daß es über alle die andern gewöhnlichen Verbindungen des Lebens erhaben sei, indem er nämlich den Christen zumuthet, daß, er | möge nun in Zukunft selbst zu ihnen kommen oder in der Abwesenheit von ihnen Nachricht erhalten, sie immer auf dieselbe Weise in einem Geiste und Sinne stehen sollten und den gemeinsamen Kampf für den Glauben des Evangelii kämpfen. Denn auch das, m. g. F., ist ein bedeutender Unterschied zwischen der Liebe, welche als die allgemeine Ausstattung der menschlichen Natur jedem Menschen mitgegeben ist in dieses Leben, und zwischen der höheren und reineren Liebe, welche erst unter denen, die an dem Geiste Christi Theil haben und in ihm mit einander verbunden sind, stattfindet. Jeder, in dessen Seele Gott der Herr dieses oder jenes Ausgezeichnete und Vortreffliche gelegt hat, und der dabei zu gleicher Zeit unverderbten und wohlwollenden Gemüths ist, hat sich vielfacher Erweisungen der Liebe und mancherlei Art von Anhänglichkeit in der Welt von seinen Brüdern zu erfreuen, denn es ist der menschlichen Natur eigen, wenn sie einmal zu dem Bewußtsein ihrer Bestimmung erwacht ist, an dem geistig Großen und Herrlichen, wo sie es findet, nicht gleichgültig vorüberzugehen, sondern sich von demselben ergreifen zu lassen; und diese Anhänglichkeit, dieses Wohlwollen, womit die Menschen das Ausgezeichnete in ihren Brüdern umfassen, kann nicht anders als in ihnen selbst mancherlei Gutes und Schönes wirken, denn indem sie das Ausgezeichnete und Herrliche in Andern wohlgefällig betrachten, geht die Kraft desselben allmälig in sie über, sie sehen sich selbst davon immer stärker ergriffen, sie fangen an, es nicht nur in ihr Inneres aufzunehmen, sondern suchen es auch in ihrem eigenen Leben darzustellen, und das um so mehr, je mehr sie selbst die Achtung und die Liebe derer suchen, von denen sie auf eine so ausgezeichnete Weise erfüllt sind. Das Alles ist löblich und schön und Gott [ist] zu preisen für diese Einrichtung der menschlichen Natur, weil eben dadurch manches Gute in der Welt gewirkt wird. Aber wie sehr das Alles doch von der unmittelbaren persönlichen Verbindung, in welcher wir mit unsern Brüdern stehen, von den Einwirkungen, welche ihre | leibliche Nähe und Gegenwart auf uns hervorbringt, abhängt, das wissen wir Alle und klagen auf mancherlei Weise darüber, wol wissend, daß dies zu der Schwachheit der menschlichen Natur 41 daß] das

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gehört, der wir hienieden unterworfen sind. Je weiter und je länger irgend einer, den wir lieben und auszeichnen, aus dem Kreise unserer unmittelbaren Berührung und Anschauung entrükkt wird, desto mehr wird sein Bild, wie klar es auch vorher gewesen sein mag, gleichsam bleich und tritt in den Hintergrund unserer Seele, zurükkgedrängt von mancherlei andern näher liegenden Bildern; das Bestreben, dem Geliebten und Ausgezeichneten Freude zu machen, wie kräftig es uns auch vorher beherrscht und bewegt haben mag, wird schwächer, weil andere durch die unmittelbare Nähe hervorgerufene Bestrebungen das Gemüth beschäftigen, und die größte Anhänglichkeit, die wir einem Trefflichen und Liebenswürdigen beweisen, geht auf diesem Wege allmälig in Kälte über. Und wenn uns diese Erfahrung nun in allen Gebieten unsers Daseins entgegentritt, so müssen wir sagen, diese Forderung, welche der Apostel hier an die Christen macht, daß sie, er sei in ihrer unmittelbaren Nähe oder fern von ihnen, in beiden Fällen auf die gleiche Weise in einem Geiste und Sinne stehen und den gemeinsamen Kampf des Glaubens kämpfen sollen, wenn wir gleich gestehen, daß sie eine allgemein menschliche Forderung ist, denn wir sollen uns auch in rein menschlichen Dingen über das blos Leibliche erheben und alles Leibliche soll uns immer mehr rein geistig werden, aber im Ganzen müssen wir doch sagen, daß diese Forderung nur im Reiche Gottes und nur von denen, die sich als Glieder desselben lieben und einer den andern höher achten als sich selbst, kann erfüllt werden. Denn so lange wir an dem einzelnen Menschen als solchem hangen, da ist uns die unmittelbare Gegenwart desselben unentbehrlich; je mehr wir ihm ergeben sind, je inniger wir ihn mit unserm Wohlwollen umfassen, desto mehr wollen wir seine Gegenwart genießen, so daß, können wir sie nicht leiblich haben und besizen, wir sie uns durch Gedanken aus der Ferne | bereiten wollen; es ist da immer der einzelne Mensch, der in seiner persönlichen Nähe auf uns wirkt und uns so in Liebe und Freude erhebt. Aber im Reiche Gottes ist der einzelne Mensch wenig und soll nach dem Willen des Herrn immer weniger werden; Alles aber ist der eine und derselbe Geist, den der himmlische Vater nach der Verheißung und auf die Bitte seines Sohnes gesandt hat. Der waltet in diesem Reiche, der hält als das unsichtbare himmlische Band Alles in demselben zusammen, der durchdringt als die belebende und beseligende Kraft die Herzen der Gläubigen, der bildet sich jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise, nach seinen natürlichen Anlagen und Fähigkeiten zu seinem Werkzeug. Wenn dann auch einer ausgezeichneter ist als der andere durch die Gaben und Kräfte, die ihm verliehen sind, wenn wir dann auch mit Freuden gestehen müssen, daß der Herr durch den einen auf der Stelle, die er ihm angewiesen hat, menschlicher Weise mehr ausgezeichnete Wirkungen hervorbringt, als durch den andern, wenn wir dann auch nach unserer eigenthümlichen Beschaffenheit der eine mehr an diesen, der andere mehr an jenen Erweisungen der menschlichen Natur, je nachdem der Geist

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Gottes sich dieselben dienstbar macht, unser Wohlgefallen haben: so ist es doch nur eine und dieselbe wahre christliche Liebe in uns, die das Alles mit ihrem geistigen Auge erkennt und mit ihrer göttlichen Kraft ergreift; und weil wir durch dasjenige, was in dem Leben unserer Brüder als Wirkung des Geistes hervortritt, hindurchschauen zu dem Inneren und Wesentlichen, und, indem wir nicht bei der äußern Erscheinung stehen bleiben, in keinem etwas anderes, als denselben göttlichen Geist mit unserer Liebe und Verehrung, mit unserer Theilnahme und Freude umfassen, so wird auch die unmittelbare Einwirkung der persönlichen Nähe eines Menschen für uns je länger je mehr überflüssig; eben so gut in demjenigen, was ein solcher gewirkt hat, dessen Nähe uns noch in jedem Augenblikk umgiebt, als in den Wirkungen eines solchen, dessen Gegenwart wir uns nicht mehr er|freuen, erkennen wir die Kraft und das Werk des Geistes, der unverändert unter uns waltet; eben so gut in dem gottgefälligen Wandel derer, die das Walten des göttlichen Geistes in ihrem Herzen mit uns auf die gleiche Weise darstellen, als in den Wirkungen derer, in welchen sich der Geist Gottes anders beweiset, werden wir mit dankbarer Freude zurükkgeführt auf einen solchen, der unserer unmittelbaren Nähe schon entrükkt oder vielleicht schon diesem irdischen Schauplaz entnommen ist, und so knüpft sich immer leichter und immer vielseitiger jenes Band christlicher Liebe und Einigkeit, welches der Herr selbst als das rechte Kennzeichen seiner Jünger gesezt hat. Und in diesem Sinne nun muthet der Apostel den Christen zu, daß, wenn er ihnen auch wiedergegeben sein würde zum unmittelbaren persönlichen Umgang, sie doch nicht an seiner leiblichen Gegenwart hangen und sich zeigen sollten als solche, die derselben noch bedürftig wären, um sich zu stärken zu und in dem Kampfe für den Glauben des Evangelii, sondern er möge nun abwesend sein und blos von ihnen hören, oder zu ihnen kommen und sie von Angesicht sehen, sie sollten Alle innerlich verbunden stehen in einem Geist und einem Sinn und so in einem würdigen christlichen Wandel den großen Kampf, der ihnen obliege, für ihren Glauben führen; die Stärkung, welche ihnen aus seiner persönlichen Gegenwart entstehen würde, sollte sich ihnen immer mehr als entbehrlich darstellen und für aufgewogen gehalten werden durch das Bewußtsein, daß es in ihnen wie in ihm derselbe Geist sei, der da wirke alles in allen. [Schluss fehlt; SW bietet Text aus 1817 und einen von Sydow vermutlich frei formulierten Schluss.]

20–21 Vgl. Joh 13,35

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Am 17. März 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Laetare, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Jak 3,5 Nachschrift; SAr 61, Bl. 44r–50v; Woltersdorff Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 61, Bl. 52r–59v; Woltersdorff Nachschrift; SAr 52, Bl. 105v–106r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Aus der Predigt am Sonntag Lät. 1822 Jac. 3 v. 5. Wir haben in unsrer neulichen Betrachtung die verschiednen Augenblicke in dem Leiden des Erlösers zusammengestellt, welche sich auf seine göttliche Wirksamkeit in den einzelnen Gemüthern bezogen, – heut wollen wir das Wesentliche und Wichtige in dem öffentlichen Theil seines Leidens uns vorhalten. Wie nun die eben gelesenen Worte des Apostels Jacobus hieher gehören das ist klar genug; denn als der Herr in die Gewalt seiner Feinde gegeben war, so bestand von dem Augenblick an da er sich selbst aller übernatürlichen Hülfe entschlagen wollte und diese menschliche Angelegenheit auf rein menschliche Weise vollenden, um zu zeigen wie sehr menschliche Ordnungen welche an sich heilsam und löblich sind gemißbraucht werden in den Händen der Sünder, so bestand nun all sein Thun in nichts als in Reden und Schweigen. Daraus sehen wir wie wichtig beides ist in entscheidenden Augenblicken des Lebens. Daß überall die Kraft des Wortes die herlichste und weitausgebreitetste und innerlich erregendste aller menschlichen Kräfte ist, das wissen wir alle, aber die Worte des Textes geben es uns mit tieferer Anschauung zu erkennen, und indem in dem ganzen Zusammenhange des Briefs Jacobus nicht allein von einzelnen Augenblicken und Wendungen des Lebens geredet, sondern von dem ganzen Verlauf desselben und in dieser Beziehung schon ein so großes Gewicht darauf gelegt ist, | so sind diese Worte besonders dazu geeignet unsre andächtige Aufmerksamkeit bei der Betrachtung des Leidens des Erlösers zu schärfen, und es in unsern Herzen zu bewähren daß Alles was er auch 3–5 Vgl. oben 3. März 1822 vorm.

9–11 Vgl. Mt 26,52–54

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in jenen Stunden, worin wir am meisten seine menschliche Reinheit und göttliche Würde erkennen, that, eine Anwendung findet auf unser Leben, und wir sie also nicht zu trennen brauchen von denen seines Lebens überhaupt. So laßt uns in Beziehung darauf die Herlichkeit und Weisheit des Erlösers in seinem Reden und Schweigen in den Stunden des Leidens, betrachten. 1. wird es dazu nöthig sein, daß wir uns die verschiednen Aeußerungen in Beziehung auf seine Leiden zusammenstellen, welche in Reden und Schweigen bestanden. 2. daß wir uns fragen was den Erlöser in den Stand gesetzt hat eine solche Handlungsweise zu beobachten. 1. Die verschiednen Augenblicke wo er vor seinen Widersachern und Richtern stehend durch Reden und Schweigen nur noch irgend etwas zu thun vermochte zu seiner Rechtfertigung, oder zum Ausgang der Sache, die laßt uns betrachten, und zwar zuerst die wo uns Allen das standhafte Schweigen des Erlösers merkwürdig sein muß (als er nemlich vor dem hohen Rath stand). In Beziehung auf diese könnte nun freilich gefragt werden: war denn der Erlöser nicht sich selbst, war er nicht seinen Jüngern und allen denen welche seine Lehre gehört und gläubig worden waren, war er nicht ihnen allen schuldig sich zu vertheidigen und jene Beschuldigungen zurükzuweisen? Aber was | sagen die Evangelisten von der Beschaffenheit dieser Beschuldigungen? Es waren eine Menge Zeugen wider ihn aufgetreten aber ihre Zeugnisse widersprachen sich untereinander, und, es wurden ihm Worte vorgehalten, aus seinen frühern Reden, ganz aus ihrem Zusammenhange heraus gerissen: und er schwieg über das Eine wie über das Andre. Und eben unter diesen Umständen muß uns das Schweigen weise erscheinen, weil das Reden zwecklos gewesen wäre, und herlich, weil das Reden nur Folge einer menschlichen Schwachheit hätte sein können; denn wer sich dadurch blenden läßt was solche, sich widersprechende Zeugen aussagen, der ist gewiß keiner Ueberzeugung fähig – und wer es über sich gewinnen kann, aus nur aus unzusammenhängenden Worten bestehenden Reden sich ein Urtheil zu bilden, und solchen Reden einen bestimmten Sinn und eine Deutung beizulegen, der beweist dadurch schon daß er im Voraus gerichtet hat, und nur einen Vorwand sucht um dem gemäß handeln zu können, wie wir es genugsam sehen an den Pharisäern die da sprachen: „er hat Gott gelästert, was brauchen wir weiter Zeugniß!“ – Hätte nun der Erlöser sich herabgelassen zur Vertheidigung, was wäre daraus anders her15 noch] noch,

33 aus nur] aus, nur

18–19 Vgl. Mt 26,57–63; Mk 14,53–61 38 Vgl. Mt 26,65

24–27 Vgl. Mt 26,59–63; Mk 14,56–61

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vorgegangen als daß die welche einen Vorwand suchten immer neuen Stoff dazu gefunden hätten, und daß sich Leidentschaften entzündet hätten, welche, obgleich sie den Erlöser nicht hätten anrühren können, doch die Ruhe und Heiligkeit dieser Augenblicke getrübt hätten. | Und eben dieses werden wir gar oft sich wiederholen finden im irdischen Leben. Es muß durch Fragen und Antworten geschehen wenn die Wahrheit ausgemittelt werden soll, darum rede jeder so lange er noch den mindesten Grund hat zu glauben, daß dem Fragen ein Bestreben die Wahrheit an’s Licht zu bringen zum Grunde liegt, wo aber das was nur der Wahrheit dienen sollte, ihr zum Nachtheil gemißbraucht wird, da möge uns dann immer das heilge Schweigen des Erlösers vor unserm Gemüthe stehn als ein Vorbild dem wir nachzufolgen haben, erst vorübergehen zu lassen das leidentschaftliche Treiben der Menschen um hernach den beruhigten Gemüthern die Wahrheit mit aller zurükgehaltnen Kraft zu verkünden und dadurch Gutes zu schaffen. Als das Urtheil über den Erlöser gesprochen war und die wilde und rohe Schaar in Schmähreden ausbrach gegen seine heil’ge Person, setzte er dem Allen nichts entgegen als Schweigen. Hier ist es nicht einmal nöthig die Weisheit des Schweigens zu vertheidigen, oder auf die Herlichkeit desselben aufmerksam zu machen; denn wie sehr sich der Erlöser auch während seines ganzen öffentlichen Lebens herabgelassen zu den Menschen die unendlich tief unter ihm standen, wie keiner zu niedrig, ja sogar zu verderbt seinem Innern nach, wie kein Sünder zu tief gefallen war, dem er nicht das tröstende Wort zugerufen hätte: „Kommt her zu mir die ihr mühselig und beladen seid“: und wie wir ihn finden in vertraulichen Gesprächen auch mit denen die vom Volk gering geachtet waren, | wenn es darauf ankam auf die Gemüther zu wirken: so konnte er wol nicht anders als hier sich, wenigstens geistig, ganz von den Sündern absondern um durch Schweigen zu beweisen daß, wie sehr ihn auch die Leidentschaftlichkeit der Menschen betrübte, dieselbe doch durchaus keinen Zugang gewann in die Tiefe seines Gemüthes, damit er rein bliebe und heilig. Freilich scheint dieses weniger als Vorbild in unser Leben eingreifen zu können als jenes; denn in solchen Fall kann keiner kommen, gemildert sind jezt, vorzüglich durch die Kraft des göttlichen Wortes, die Leidenschaften, selbst des noch nicht gebesserten Menschen, weil dadurch das ganze äußre Leben anders gestaltet ist. Aber laßt uns bedenken wie sehr wir alle aus menschlicher Schwachheit geneigt sind, das uns treffende Widerwärtige höher zu rechnen als es oft gemeint ist von denen, die es uns bereiten: so werden wir sehen, daß wir uns gar leicht denken können wir befänden uns in einem ähnlichen Falle. Und dann mögen wir, so wie er, immer nur durch Schweigen dem 12 haben, erst] haben, und erst 24–25 Mt 11,28

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begegnen, was, wie wir glauben, ein frevelnder Muthwille ausstößt, damit wir theilnehmen an der Reinheit die uns aus dem Bilde des Erlösers so herrlich und göttlich entgegenstrahlt. Wenn wir nun fragen: was hat der Herr durch dieses Schweigen gewonnen? so müssen wir sagen: es war äußerlich wol wenig oder nichts, aber das fühlen wir, wenn er nicht geschwiegen hätte, so würde sein Andenken | nicht den herrlichen und göttlichen Eindruck auf uns machen; denn es wäre der göttliche Glanz seiner Reinheit getrübt worden. – Und mehr sollen wir allerdings auch nicht erwarten von dem weisesten Schweigen als daß wir unser eigenes Gemüth rein erhalten, und daß die, welche auf uns sehen und von uns erwarten, daß wir dem Herrn Ehre machen werden, daß wir denen ein Andenken zurücklassen das ihnen auch wirklich sein kann, ein Bild der Ruhe einer gottgeweihten Seele, in welcher keine andre Furcht gewesen ist als die heilge vor Gott, die Furcht irgend etwas gegen seinen Willen zu thun. Nun laßt uns 2. sehen auf die Augenblicke in welchen der Erlöser redete. Das Erste was wir da vernehmen ist ein abwehrendes Wort welches er redete als Einleitung des Schweigens das er nachher beobachtete. Als er nemlich gefangen war und zuerst zu Hannas geführt (Hannas war aber nicht Hoherpriester des Jahres sondern er war der Schwiegervater des Hohenpriesters Caiphas, also hatte Hannas kein Recht dem Erlöser Fragen vorzulegen, sondern nur die Versammlung des hohen Raths konnte sie thun, obgleich er zu den Hohenpriestern gehörte) und dieser ihn fragte um seine Lehre, da sprach der Herr: „ich habe nichts im Verborgnen geredet“: – durch dieses abwehrende Wort leitete er das Stillschweigen ein indem er auf sein öffentlich geführtes Leben zurükwies. Und was konnten jene Fragen des Hannas für einen Zweck haben? Es war wol entweder leere Neugier die ihn fragen ließ, oder der Wunsch etwas zu hören was ein Beitrag sein könnte zu den Klagen die wider ihn sollten geführt werden. Und wie konnte der Erlöser glauben, daß | Hannas nichts wußte von seiner Lehre, und wenn er nichts wußte, wie konnte er in den vorübergehenden wenigen Augenblikken ihm Auskunft geben? Zweitens finden wir ein paar herrlich bekennende Worte des Erlösers. – Nach allen falschen Zeugnissen fragte ihn der Hohepriester, ob er wirklich Christus sei, da verleugnete er nicht und sprach: ihr saget’s, denn ich bin’s: Nicht immer hatte der Erlöser so unumwunden und öffentlich bekannt, daß er Christus sei, sondern oft ausweichende Antwort gegeben, wenn ihn sonst Einzelne gefragt hatten. Anders aber war hier der Fall: hier stand er 32 geben?] geben. 18–23 Vgl. Joh 18,12–13 38 Vgl. Joh 10,24–25

23–24 Vgl. Joh 18,19–20

34–35 Lk 22,70

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vor der Versammlung des hohen Rathes, hier wurde er gefragt von denen die ein volles Recht hatten die Wahrheit zu erfahren, und darum hielt er dies Bekenntniß nicht zurük. Und doch konnte er denken daß das keine Aenderung veranlassen werde, weil eigentlich ihre ganze Untersuchung nichts war als eine leere Form, also ohnerachtet er das im Voraus wußte, daß hier sein Werk in der Welt zu Ende sei, und sie ihn von nun an nur würden sitzen sehn zur Rechten Gottes; so war es ihm doch heilge Pflicht dies Wort nicht zurükzuhalten. Eben so als er vor den römischen Landpfleger gebracht war und der ihn fragte: „bist du ein König?“ da antwortete er: „du sagest’s, ich bin ein König“: Dieser Römer war, freilich nur aus schnödem Mißbrauch, die höchste Obrigkeit des Landes | er hatte also ein Recht Jesum zu fragen, und obgleich der Herr die feigherzige Gesinnung dieses Mannes kannte, und es wußte wie sein Wort von denen, die überall Aufruhr argwöhnten, konnte ausgelegt werden, so zauderte er doch auch hier nicht mit der Antwort, und obgleich es ihm bekannt war, wie die Hohenpriester ganz genau wußten was damit gesagt sei: ich bin ein König: so setzte er doch, jede Mißdeutung vermeidend und weil der Römer mit dem geistigen Sinn dieses Worts nicht genug vertraut sein konnte, seinem Bekenntniß noch hinzu: „ich bin dazu in die Welt kommen daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist der höret meine Stimme.“ Und so verschlossen war doch auch das Gemüth des Römers nicht, daß er den Unterschied nicht gefühlt hätte, der weltlichen und geistigen Herschaft; denn er sprach zu den Hohenpriestern: „ich finde keine Schuld an ihm“: Endlich hören wir auch aus dem Munde des Erlösers ein mildes und entschuldigendes Wort, welches er zu dem Pilatus spricht, – „der mich dir überantwortet hat der hat größere Sünde“: – nachdem er ihm freilich gesagt hat: „du hättest keine Macht, wenn sie dir nicht von Oben gegeben wäre[.]“ Und von eben den ungerechten Richtern die größere Sünde hatten, sagt er noch am Kreuz: „Vater vergieb ihnen:“ – Das war die göttliche Gewalt der Liebe die den mächtigen Damm des Schweigens durchbrach! Größtentheils ist es nur eine leere Schmeichelei wenn man den Mächtigen sagt, daß nicht sie sondern ihre Untergebnen | Schuld haben wenn irgend etwas ungerecht zugeht; denn es ist ihre Sache und ihre heilge Pflicht, die zu erkennen die ihnen ein Auge des Lichtes sein mögen. Aber hier war es nicht so, denn die Verhältnisse des jüdischen Volks waren dem Römer fremd, er mußte sich also darauf verlassen was die Obersten des Volks ihm sagten, und war es eben darum eigentlich nicht selbst der gegen 26 der hat] der hats 6–7 Vgl. Mt 26,64; Lk 22,69 8–10.16.19–20 Joh 18,37 25–27 Vgl. Joh 19,11 29 Lk 23,34

23 Joh 18,38; 19,6

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den Herrn handelte. Und nicht nur fühlte das der Erlöser in seinem Herzen, sondern die Liebe drang ihn es auszusprechen wie er das persönliche Verhältniß zu sich fühlte. So sehen wir in den Reden des Erlösers jene beiden Kräfte, in welchen sich Gott uns unmittelbar offenbart, nämlich die Stärke die durch Nichts gebeugt und die Liebe, die durch Nichts überwunden werden kann, denn in der geistigen Welt giebt es keine andre Stärke und keine andre Liebe als auf die Nichts Einfluß haben kann, weil sie ewig ist. – Wo es darauf ankam dieses beides zu offenbaren da konnte der Erlöser nicht schweigen, er redete, und es verkündete sich dadurch sein Ursprung und seine Kraft, also seine göttliche Würde. – Sein Tod wodurch er die Welt erlöste von der Sclaverei der Sünde war beschlossen durch die göttliche Liebe in ihm, und sein Reden eben so wenig wie sein Schweigen konnte im mindesten sein Schiksal lindern, sondern Alles führte ihn dem Urtheil der Sünde entgegen. | Aber wie seine Weisheit der Grund sein soll unsers Schweigens, so soll die Herrlichkeit der göttlichen Liebe in seinem Reden der Grund sein unsers unzuerschütternden Muthes! [2.] So wollen wir 2. darauf merken: wodurch der Erlöser zunächst in den Stand gesetzt wurde in seinem Leiden grade so und nicht anders zu handeln, und wie wir ihm darin ähnlich werden sollen. Laßt uns dabei auf die menschliche Schwachheit Rücksicht nehmen, vermöge deren wir überall, wo uns sein hohes heilges Vorbild entgegenstrahlt, gar zu leicht bereit sind Entschuldigungen zu suchen und dieselben zu finden meinen in unsrer natürlichen Gebrechlichkeit und der Verschiedenheit der Verhältnisse, (nemlich unsrer und derer des Erlösers zur Welt). – Am meisten begegnet das der Schwachheit, wenn das heilbringende Leiden des Erlösers ihr vorgehalten wird. – Worüber wir uns dabei zunächst entschuldigen das ist die Erkenntniß der Zukunft welche wir in den Worten seines Bekenntnisses: „Du sagests ja ich bin ein König:“ so offenbar finden: Das Leiden war ihm gewiß, aber sein göttliches Bewußtsein zeigte ihm die Herlichkeit seines Triumphs, er wußte daß die göttliche Wahrheit siegen werde. Aber ist das nicht das was auch wir wissen sollen und können? Der Erlöser hatte immerfort der Wahrheit gedient und konnte daher mit reinem Gewissen | auf Alles was er gelehrt und gethan zurükweisen: „Ich habe öffentlich geredet“: Sein Leben war die Verklärung der göttlichen Wahrheit, darum schaute er ihren ewigen Sieg in sich selbst, in der Tiefe des göttlichen Geistes an. Aber soll nicht eben so unser Blick die Macht des Todes durchdringen und uns sich zeigen das herliche Licht des Sieges, wenn wir 31 Joh 18,37

36–37 Vgl. Joh 18,20

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einmal, wie der Erlöser, beschlossen haben, nicht für uns zu leben sondern für Gott, für das was er in uns und durch uns wirkt? Fordert nicht der Herr von den Seinen, daß sie durch seinen Geist die Zukunft wissen und dadurch im Stande sind dem ähnlich zu handeln wie er gehandelt hat? Ja er selbst zeigt uns jede Zukunft seines Reichs auf daß wir keine Entschuldigung haben. Das Zweite, können wir sagen, was den Erlöser in den Stand setzte so zu handeln und ihn stärkte zu der Offenbarung jener vollkommnen Weisheit, jener heiligsten Gemüthsstille und jenes hohen Muthes, es war das Bewußtsein, welches er in sich trug von der Vereinigung mit seinem Vater im Himmel. – Und auch hierüber sollen wir uns nicht entschuldigen mit unsrer menschlichen Schwachheit; weil der Herr selbst mächtig sein will in den Schwachen. Und wenn wir uns dasselbe zumuthen, so muthen wir es uns ja nicht zu wie wir sind an und für uns selbst, sondern wie wir sind | in der Gemeinschaft mit dem Erlöser; nicht durch uns selbst kann das Bewußtsein der Vereinigung mit Gott in uns sein, aber durch den Erlöser, der uns mit ihm vereint. – Und wenn wir erst das von ihm gelernt haben, daß wir Alles was uns in der Welt begegnet und obliegt eben so wie er mit dem reinen Wahrheitssinn auf die großen Angelegenheiten des Reichs Gottes beziehn, wenn also Alles von der Art für uns ist, daß wir dadurch als durch ein Rechenschaftablegen dasselbe bauen sollen und fördern, so laßt es uns immer in unserm Herzen vernehmen was der Erlöser zu seinen Aposteln sagt: „ihr seid es nicht die da reden werden sondern der Geist meines himmlischen Vaters wird für euch reden“: – Seht da das ist das Bewußtsein unsrer Würde das der Erlöser uns einflößen will! Wo wir in der That uns selbst verleugnen und nur für seine Wahrheit leben, da ist es der Geist des Vaters welcher in uns und aus uns redet, und durch denselben verschwindet für uns der Unterschied des Irdischen und Himmlischen; Beides wird uns Eins durch seine heiligende Kraft. Und dieses Bewußtsein unsrer Würde als Erlöste, welche seinen Geist theilen, das soll auch uns erheben zu gleichem Muth; denn auf das gleiche Wirken des göttlichen Geistes in uns beruht offenbar unsre Aehnlichkeit mit dem Erlöser – und nur scheinbar kann uns irgend etwas zur Entschuldigung dienen. – So laßt uns denn noch einmal auf seine Handlungsweise und auf das, worauf dieselbe | sich stützte zurücksehn, damit sie uns lebendiges Vorbild sei: In dem ersten Wort, welches er vor dem Hohenpriester sprach, berief er sich darauf was er öffentlich gelehrt hatte, daß er dabei nichts verschwiegen, sondern alle Worte des Lebens, die ihm sein Vater verklärt, mitgetheilt hatte. Und eben dieses, daß er dadurch seine heilge Pflicht gegen die ganze 23–24 Vgl. Mt 10,20

37–40 Vgl. Joh 18,20

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Welt während seines freien Lebens erfüllt hatte, setzte ihn in den Stand in der Zeit seines Leidens so zu handeln. Freilich nicht unser ganzer Beruf besteht so in dem Gebrauch der Rede, aber für jeden kommen doch Augenblicke wo er sein Innres offenbaren muß: haben wir nun in diesem Sinn unsre heilge Pflicht erfüllt, haben wir auch in dieser Hinsicht uns ein gutes Gewissen bewahrt, dann wird uns auch in den entscheidenden Augenblicken jene Kraft und jener Muth nicht fehlen. Wer aber einmal geschwiegen hat, wo er hätte reden müssen, oder geredet wo er hätte schweigen müssen, der muß sich dann erst reinigen durch Buße und das Vorige vernichten, wenn er in den Stand kommen soll mit solchem Muth zu handeln; denn hat er einmal geschwiegen wo er hätte reden sollen, dann hat er gleichsam gegen die Widersacher des Worts sich sein Recht vergeben, oder einmal geredet statt zu schweigen, o dann wissen sie es was die schwache Seele reizt und werden dann immer mehr thun um sie in leidentschaftliche Be|wegung zu bringen. Darum, niemals überfalle uns eine Stunde bedeutender Prüfung unerwartet, sondern in allen Zeiten der Ruhe laßt uns bedenken was stärkend und befestigend auf unser Gemüth wirkt. Und was könnte dies anders sein als eben das Bild des leidenden Erlösers – o es hat seine Kraft bewährt; denn nichts regt so sehr die anbetende Liebe gegen den Erlöser auf, als Alles was wir von ihm sehn in den Stunden seines Leidens, nichts regt unser Gemüth in gleichem Maaße zu Andacht und Freude auf, darum laßt uns immer sehn auf den Anfänger und Vollender unsers Glaubens, der durch Leiden seine Göttlichkeit bewiesen hat und dadurch eingegangen ist zu der Herlichkeit seines Vaters!

[Liederblatt vom 17. März 1822:] Am Sonntage Lätare 1822.

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Vor dem Gebet. – Mel. Aus meines Herzens etc. [1.] Dich krönte Gott mit Freuden, / O Jesu, nach dem Streit, / Du drangst durch Schmach und Leiden / Zu deiner Herrlichkeit. / Triumph ward dir dein Tod, / Dein Kampf war ausgekämpfet, / Der Feinde Wuth gedämpfet, / Nun gingst du hin zu Gott. // [2.] Ich Herr dein Pilger walle / Dir meinem Führer nach; / Doch strauchl’ ich noch und falle, / Denn ich bin müd’ und schwach. / Du führst mich auch durch Streit, / Durch Kummer und durch Leiden / Zu meines Zieles Freuden, / Zu deiner Herrlichkeit. // [3.] So harr’ ich hier und streite / Bis meine Stund erscheint, / Und du stehst mir zur Seite, / Mein Retter 22–23 Vgl. Hebr 12,2

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und mein Freund! / Sinkt auch im Kampfe mir / Mein Arm ermüdet nieder, / Das Wort erhebt ihn wieder, / Sei treu, ich bin mit dir! // [4.] Und wenn ich bis zum Grabe / Vollendet meinen Streit, / Und gut gekämpfet habe / Um meine Seligkeit: / Wie werd’ ich dann mich freun! / In Hofnung dir ergeben / Geh ich ins bessre Leben; / Wie selig werd ich sein! // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Zion klagt etc. [1.] Menschenfurcht und Furcht vor Sünden / Stimmen mit einander nicht; / Wo noch jene ist zu finden, / Da verletzt der Mensch die Pflicht, / Voll des Wahns, gerechte That / Streu ihm Dornen auf den Pfad, / Und nur Biegsamkeit gewähre / Sicherheit, Gewinn und Ehre. // [2.] Unrecht lieber thu als leide: / Das war jenes Richters Sinn, / Darum gab dem bittern Neide / Seiner Feind’ er Jesum hin. / Schau, was ein Pilatus kann! / In ihm stehest du den Mann, / Der bei hoher Erdenwürde / Trug der Menschenknechtschaft Bürde. // [3.] Gerne hätt er losgegeben / Ihn, des Unschuld er erklärt, / Hätte nicht das Widerstreben / Frecher Mordlust es verwehrt. / All sein Kommen und sein Gehn / Und sein Halbthun läßt dich sehn, / Daß er wollte Recht bewahren, / Doch ohn eigene Gefahren. // [4.] Giebst du los der Juden König, / Bist du nicht des Kaisers Freund! / Dies bewegt ihn, Unschuld wenig, / Wie sie klar ihm auch erscheint. / Seine Hände waschend gab / Er das Todesurtheil ab, / Um des innern Richters Rügen, / Selbst sich täuschend, zu besiegen. // [5.] Lieber alles Unrecht leiden, / Als das kleinste Unrecht thun! / Nur alsdann kannst du mit Freuden / In des Heilgen Fügung ruhn. / Jener feige Sklavensinn / Täuscht mit ärmlichem Gewinn, / Denn er trägt im höchsten Stande / Doch der Selbstverachtung Schande. // [6.] Alle Gottesmenschen rangen / Gott zu fürchten mehr als Welt; / Alle Wahrheitszeugen drangen, / Jedem Leiden bloßgestellt, / Durch des Erdenlebens Nacht / Hin wo die Vergeltung lacht, / Wo den Treuen schmückt die Krone / Der Gerechtigkeit zum Lohne. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine etc. Jesu lehr auf dich uns schauen, / Du erlagst der Sünde nie; / Laß dein Vorbild uns erbauen, / Und uns stärken wider sie. / Und die Absicht deiner Schmerzen / Präge tief in unsre Herzen, / Daß wir, von der Sünde rein, / Heiligster dir ähnlich sein. //

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Am 24. März 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Judica, 9 Uhr Luisenstadtkirche zu Berlin Joh 8,46–59 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 61, Bl. 60r–65r; Woltersdorff Keine Keine Vermutl. Vertretungspredigt

Am Sonntage Judica 1822. Vormit. Luisen-Kirche.

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Die Zeit welche der besonderen Betrachtung des leidenden Erlösers gewidmet ist, ist eine Zeit in welcher die Christenheit vermöge eines alten Gebrauchs, sich allen öffentlichen und lauten Vergnügungen des geselligen Lebens enthält. Aber keines wegs ist die Meinung dabei die, als ob die Leiden des Erlösers für uns ein Gegenstand der Traurigkeit wären, denn wie schon vor alten Zeiten das Gedächtniß derjenigen, welche durch das Bekenntniß Christi den Märtirer Tod erlitten, als ein freudiges Gedächtniß gefeiert wurde, weil die Leiden dieser Zeit, für sie der Eingang waren zu der Herrlichkeit des Erlösers, wie viel weniger können die Leiden des Herrn selbst, ein Gegenstand der Betrübniß sein, da er eben durch Leiden und Sterben der hohe Priester geworden ist – durch welchen uns das Erbe der himmlischen Güter zu Theil geworden ist. Vielmehr enthalten wir uns der lauten irdischen Freude, damit uns nichts in der Betrachtung seiner Leiden störe, mit welcher wir sollen beschäftigt sein, damit um desto reiner in uns, und geistiger die Freude aufgehen möge, wozu uns schon die heutige Sonntags Epistel die Ursache angegeben, und welche auch das Evangelium dieses Tages, uns auf eine eigenthümliche Weise dargebracht. Joh. 8 v. 46–59. V. 56 „Abraham euer Vater ward froh, daß er meinen Tag sehen sollte; und er sahe ihn und freuete sich“ – Abraham, so sagt unser Erlöser ward froh 3 welche] welcher 8] Joh. 6

9 freudiges] freudigendes

17–18 Sonntagsepistel war Hebr 9,11–15.

13 welchen] Welchem

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und freuete sich, das konnte nur eine Freude sein welche | ihren Grund in der Ahnung des Glaubens und in der Hoffnung hatte, nur auf solche Weise und im Geist konnte Abraham den Tag des Herrn schauen. Wenn nun schon er sich freut, wie viel mehr sollen wir uns freuen, die wir den Tag des Herrn nicht mehr in der Ahnung des Glaubens sondern wirklich schauen. Aber der Tag des Herrn ist nicht zu trennen von seinem Leiden und Tod, – der ganze Beruf des Erlösers und der ganze Zusammenhang seines Lebens läßt sich nicht erkennen, ohne das, daß eben in dem Tod, die Auferstehung des ewigen Lebens angefangen. So muß also nun die Freude an dem Tage des Herrn, eine heilsame Freude an seinem Leiden und Sterben sein, und das laßt uns jetzt näher miteinander erwägen, und in dieser Freude uns untereinander stärken. Wir finden aber in dem Zusammenhange unserer evangelischen Lection verschiedene einzelne Hinweisungen, welchen wir nachgehen wollen. Die erste ist die daß der Herr zu den Juden sagt: 1. „Welcher unter euch kann mich einer Sünde zeihen“ – Ja das ist wol unserm allgemeinen christlichen Glauben auf das innigste einverleibt, daß wir uns vor allem freuen der Unsündlichkeit unsers Herrn und Erlösers welcher zwar Fleisch und Blut an sich genommen, und uns gleich geworden in menschlicher Schwachheit – [aber] ausgenommen die Sünde. So war denn die Sünde nicht in ihm – Und wie könnten wir jemals über unsere eigene Gebrechlichkeit uns | trösten, wie könnte der Kummer darüber je verschwinden als nur in der Freude an der Unsündlichkeit des Herrn welche wir als unsere eigene ansehen, und uns ihrer freuen als unser köstliches Besitzthum. Welches sind die Veranlassungen, auf welche auch bei den zum Guten geneigten, und von Gott nicht entfernten Gemüthern die Sünde sich zu erkennen giebt? – Da sind es auf der einen Seite die Reitzungen der Lust, auf der andern die der Unlust und des Schmerzes. Den Versuchungen der ersten Art kann sich mehr oder weniger der Mensch entziehen, und die Gefahr durch die Flucht vermeiden – So haben es von jeher viele wohlmeinende Menschen gethan. Selbst Johannes floh die Gesellschaft der Menschen worin die Lust der Welt eintrat, und brachte seine Tage zu in der Einsamkeit der Wüste, und unter dem Schutze freiwilliger Entbehrungen – und so haben ihm Viele gefolgt – aber sie sind nicht gefolgt dem Beispiele des Herrn. Ja so kann der Mensch den Versuchungen entfliehen, indem bis der bessere Geist in ihn eingegangen, er sich den Beistand stärkerer Seelen sichert, [und] ihnen aus dem Wege geht. Aber wenn er durch sein Gewissen gebunden ist, in seinem Beruf, dann kann und darf er sich nicht entziehen 6 seinem] seinen 11 seinem] seinen 18 allem] allen 23 der] die 26 Gemüthern] Gemüther 30 vermeiden] vermeiden, 37 geht] gehn

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den Versuchungen anderer und entgegengesetzter Art, welche daraus entstehen, daß die Kinder der Finsterniß den Lauf der Wahrheit aufhalten, daraus, daß die welche das Licht der Wahrheit scheuen, oder welche den Lauf der Gerechtigkeit hemmen wollen, auf alle Weise denen, die den Willen Gottes zu erfüllen trachten, in den | Weg treten gegen das Gute, und das Rechte zum Gegenstand der Verfolgung machen, – denen kann sich der Christ welcher seinem Beruf in der Welt treu bleiben will, nicht entziehen – und darum vervielfältigen sich täglich die Gelegenheiten sich zu versündigen durch Unmuth und Klagen – weil es so schwer ist daß dann der Eifer nicht leidentschaftlich wird, und dem Haß Raum gegeben, aber auch dadurch, daß in der Hoffnung es werde eine bessere Zeit kommen, der Mensch lässig wird in der Treue welche er Gott seinem Herrn schuldig ist. Darum mit so großer Ueberzeugung der Herr damals sagen konnte: „Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen“ – Die Menschenkinder, auch die welche ihn erkannten als einen großen Propheten, sie konnten doch diese Ueberzeugung nicht eben so haben, bis der Herr bewährt war in dem Feuer der Leiden und die Reinheit seiner Seele offenbar wurde, – denn auch in dem letzten Augenblicke seines Lebens, als er dem Vater seine Seele befahl, hätte er eben so wol dieses Wort wiederhohlen können. Darum g. F. wenn wir die Leiden des Herrn betrachten, und sehen ihn dennoch allen Versuchungen zur Sünde glücklich entgehen, ohnerachtet sie ihm in den mannigfaltigsten Gestalten entgegen trat, und die ihn Umgebenden ihn auf alle Weise suchten zur Versündigung gegen Gott zu reitzen – wenn wir sein Leiden so betrachten, so können wir nicht anders als uns im Geiste | freuen, daß die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, und daß auch mitten unter den bittersten Verfolgungen des Hasses und des Spottes, ihm nicht das leiseste entschlüpfte was an die menschliche Gebrechlichkeit erinnert. Und so ziemt es uns denn, uns der Leiden des Herrn zu freuen, der, weil er Gehorsam gelernt, erhöht ist über alle Namen welche gehört werden – Und dieses bringt uns auf die zweite Hindeutung des Erlösers, in unserm Evangelio: 2. „Ich suche nicht meine Ehre: es ist aber Einer der sie suchet und richtet.“ Wenn der Erlöser in dem was wir gelesen haben zu den Juden sagt: „ihr verunehret mich“ – so haben wir davon alle das tiefste Gefühl wie unrecht es sei von dem den Gott gesandt zu sagen: er heile durch die Teufel, und von dem der dazu gekommen daß er die Wahrheit zeuge, zu sagen daß er ein Lügner sei, das war die tiefste Verunehrung, und eben diese Verunehrung zieht sich auch durch die Tage seiner Leiden hindurch; 14–15 Vgl. Lk 7,16 18 Vgl. Lk 23,46 35–36 Vgl. Mt 9,34; Mk 3,22; Lk 11,15

25 Vgl. Kol 2,9 28–29 Vgl. Phil 2,8–9 36 Vgl. Joh 18,37

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in verderblichen Irthum und Sünde verstrickt sehen wir die ihn Umgebenden denn als Einer welcher das Volk aufgeregt habe, wurde er dem Gericht der Heiden überantwortet. Welche Verunehrung war das für den der auf nichts anderes bedacht gewesen war als die Menschen darüber zu erleuchten was zu ihrem Frieden dient, für den, der unbekümmert über ihre weltlichen Angelegenheiten die Menschen aufforderte dem Kaiser zu geben was des Kaisers ist, und der sein ganzes Leben, dazu anwenden wollte die Menschen einzuladen daß sie | auch Gott geben möchten was Gottes ist, nemlich sich selbst mit ihrer ganzen Seele, ihr Herz mit allem was sich darinn reget. Wenn wir nun in seinen Leiden sehen wie die dunkle Welt ihn verunehrt, o so laßt uns nicht übersehen daß es Einen giebt der seine Ehre suchet – der Vater im Himmel – denn könnten wir anders als je mehr wir seines Leidens gedenken, um desto mehr auch aufschauen zu dem, der den Anfänger und Vollender unsers Glaubens so herrlich vollendet hat. Wenn wir fragen: wie hat denn sein Vater seine Ehre gesucht und gerichtet, so ist es das, was uns in dem ersten Theil unserer Betrachtung beschäftigt, daß nemlich in allen Leiden welche den Herrn umgaben, doch seine Heiligkeit ist unverletzt geblieben, und von dem Gepräge der Gottheit nicht das Geringste verloren gegangen. Aber auch das laßt uns nicht übersehen was Gott selbst gethan um seine Ehre zu richten. Schon die welche vor seinem Kreuze umkehrten, als sie seine Herrlichkeit und Tugend ausharren sahen, sich an ihre Brust schlugen, und sich nicht enthalten konnten auszurufen: „wahrlich dieser ist Gottes Sohn“ – Schon diese haben seine Ehre gefördert. | Aber als nun sein Vater ihn auferweckte von den Todten, und als seine Jünger Zeugen wurden daß Gott ihn zum Herrn und Christ gemacht, und darum ihn auferwecket von den Todten, als nun die Menschen zu Tausenden in sich gingen und riefen: „Ihr Männer lieben Brüder was sollen wir thun“, – da suchte und förderte der Vater die Ehre seines von der Welt verunehrten Sohnes. Wie könnten wir seines Leidens gedenken, ohne zugleich den Sieg zu betrachten der dem Tode den Stachel genommen, und zu gedenken daß der Herr ihm Tausende gegeben zur Beute. Aber nicht nur wie der Vater die Ehre seines Sohnes gesucht hat, sehen wir in seinen Leiden, sondern auch wie er sie gerichtet. Und das sehen wir von denen an die an seinem Verrath Theil genommen, bis zu demjenigen der bald die irdische Macht und Hoheit verloren und seine Hände wusch, aber nicht den Muth hatte den zu retten 1 ihn] ihm 6–8 Vgl. Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25 9–10 Vgl. Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27 14–15 Vgl. Hebr 12,2 22–25 Vgl. Mt 27,54; Mk 15,39 26–29 Vgl. Apg 2,36– 37 36–1 Vgl. Mt 27,24

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den er nicht zum Tode verurtheilen konnte, und bis zu dem verblendeten Volke, welches sich als die Blinden leiten ließ von den Blinden. – Aber seitdem die Leiden und die Auferstehung des Herrn verkündiget wird, verunehrt ein Jeder den Erlöser welcher auf irgend eine Weise in den Rath derer eingeht, welche ihn zum Tode verurtheilt, Jeder der die | vergänglichen Dinge der Welt höher achtet, und sich ihrer nicht entschlagen will um das Reich Christi zu fördern, jeder der nicht hört auf die warnende und verheißende Stimme seines Rufs, jeder der der Stimme der göttlichen Wahrheit sein Ohr verschließt, verunehrt eben so den Erlöser als die, welche riefen: „kreuzige, kreuzige ihn“ – Wie können wir des leidenden Erlösers gedenken ohne daß die ganze dunkle Gestalt der Sünde uns vor Augen steht, aber so sehr uns dieses betrübt, erfreut es uns zugleich, indem der Vater seine Ehre richtet, denn aus dem Leiden und Tode selbst, bereitet er ihm seinen Triumpf, denn aus solchen sind alle gekommen, welche, wenn sie nun ergriffen sind vom göttlichen Werke, fragen: „Was sollen wir thun“ – Wenn wir nun sehen und erfahren wie noch immer das Wort hineintönt: „Kommt her zu mir die ihr mühseelig und beladen seid“ – und wie immer noch das Wort in Erfüllung geht daß die welche durch ihn erlöset sind auch eingehen in die Herrlichkeit der göttlichen Gnade, und wie noch immer seine Feinde ihm gewonnen werden und überwunden – o wie könnten wir dann anders, als eben in den Leiden des Herrn worinn die meiste Kraft der Erlösung liegt, den preisen der seine Ehre sucht und fördert – Und dies führt uns auf die dritte Hinweisung in den Worten des Herrn „Wahrlich, wahrlich ich sage euch so jemand mein Wort wird halten, der wird den Tod nicht sehen ewiglich“ – | Schon damals als der Herr diese Worte sprach war er von den Gefahren des Todes umgeben, schon damals war das Volk gegen ihn gewonnen, und das Ende seines Lebens beschlossen, aber weil seine Stunde noch nicht gekommen verbarg er sich. So hatte er schon damals seinen Tod im Auge als er sagte: „Wer mein Wort: ...“ Und das erinnert uns an ein anderes Wort „Wer an mich glaubt der wird ewig nicht sterben“ – Und was kann es herrlicheres und erfreulicheres geben, als im Angesichte des Todes den Tod nicht sehen. Der Erlöser, sehen wir in diesem Worte, hatte auf der einen Seite seine Blicke rückwärts gerichtet auf die welche in der herrlichen Zukunft, seinen Tag geahnet, und auf der andern Seite vorwärts auf die Zeit wo der Vater im Himmel seine Ehre suchen würde, und so sah er nichts anders als hinter sich und vor sich das ewige Leben welches der Glaube gründet und schaffet, so sah er den Tod 13 dem] den 10 Lk 23,21; vgl. Mk 15,13.14; Joh 19,6.15 19 Vgl. Röm 5,1–2 31–32 Joh 11,26

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17 Mt 11,28

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nicht, wie nahe er ihm auch stand. Ja indem er an dem Kreuz hing, und in jedem Augenblick seinen letzten Athemzug erwartete, fühlte er in sich selbst nur das göttliche Leben und die Liebe, fühlte [er] sein ewiges Sein so reichlich daß er es gleich in die hoffnungsvolle Seele des ihn anflehenden übergehen lassen konnte. | Was aber kann es größeres geben als wenn der Mensch, der sterbliche Mensch den Tod nicht siehet, wenn sein Auge so erhaben ist über das Vergängliche, daß er in dem Tode selbst nur das Leben siehet. Und indem uns das aus den Tagen seines Leidens entgegen trit, sollten wir uns nicht freuen der Herrlichkeit – denn wir dürfen diese Herrlichkeit nicht ansehen als ein Gut von dessen Besitz wir fern bleiben müssen, denn das Tröstliche hat er uns zugesagt: „Wer mein Wort hält soll den Tod nicht sehen“ – sondern wie er das ewige Leben schon jetzt hat, so ist dem Tode nicht nur der Stachel genommen, sondern der an ihn gläubet, der sieht und schmeckt ihn überhaupt nicht, weil er ganz durchdrungen ist von dem göttlichen Leben – Seht da diese Herrlichkeit trit uns entgegen, und sollten wir uns nicht mit erfreuetem Geiste aus der Betrachtung seiner Leiden stärken, – die er auch uns verheißen hat. Und wenn, wie der Apostel sagt: „Abraham als er den Tag des Herrn gesehn, ward er froh“ – so können wir das mit voller Zuversicht auch auf uns anwenden, denn wonach könnte den Menschen der noch in dieser irdischen Nacht wandelt mehr verlangen, und wie könnte dem etwas Herrlicheres gegeben werden als die Verheißung daß er den Tod nicht schmecken wird – den Tag des Herrn | sollen auch wir sehen, und uns freuen, daß er den Tod uns nicht nur sendet um uns zu entbinden von dem irdischen Leben, sondern, da das Wort in uns Frucht gebracht, wir auch im Tode das ewige Leben sehen und schmecken. Wie der Herr sagt: „Das Weizenkorn bringt nicht Frucht wenn es allein lieget, – so es aber in die Erde gelegt wird bringt es reichliche Frucht“ – so diese Fülle der Herrlichkeit und göttlicher Kraft[.] – Nur so können wir dem Erlöser ähnlich werden, daß, durch seine göttliche ewige Liebe die er im Tode bezeugt, wir Theil nehmen an seiner Unsündlichkeit und dadurch über das Gefühl des Todes erhaben, schon hier im ewigen Leben wandeln!

1 dem] das

4 ihn] ihm

4–5 Vgl. Lk 23,43

16 Leben] Leben,

27–28 Vgl. Joh 12,24

32 im] in

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Am 31. März 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Palmarum, 9 Uhr, Unionsfest Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,1–4 Drucktext Schleiermachers; Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden, 1822, S. 13–35 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 236–249; 21844, S. 162–175 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 192–203 Predigten, ed. Urner, 1969, S. 254–269 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 106v–107r; Gemberg Besonderheiten: Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden. 5

I

Inhalt: Gebet am Altare, gesprochen von dem D. Marheinecke. Rede am Altare, gehalten von dem Superint. Küster. Predigt, gehalten von dem D. Schleiermacher.

Berlin, 1822. Bei Theodor Chr. Fr. Enslin. | 10

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Seiner Majestät dem Könige Friedrich Wilhelm III. |

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Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster König! Allergnädigster König und Herr! Ew. Königl. Majestät überreichen wir in tiefster Ehrfurcht die Vorträge, durch welche wir dem Feste der Vereinigung beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden die religiöse Weihe zu geben gesucht haben. Bei dieser feierlichen Handlung waren wir innigst durchdrungen von Dank gegen Gott, der die Vereinigung im Allgemeinen zuerst durch das | von Ew. Königl. Majestät darüber öffentlich ausgesprochene Wort angeregt und dadurch Allerhöchstdieselben vor der Welt und Nachwelt verherrlicht hat. Mit der dankbarsten Freude haben sich auch die beiden Gemeinden, welche in Ew. Königl. Majestät Hauptstadt die ersten waren, die ihre Vereinigung vollkommen abschließen konnten, durch die | Aeußerung des huldreichsten landesväterlichen

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Am 31. März 1822 vormittags

Wohlgefallens darüber beglückt gefühlt. Wir leben der festen Zuversicht, daß Ew. Königl. Majestät weiseste Anordnungen in dieser Angelegenheit noch viel Frucht bringen werden, und wünschen, daß Allerhöchstdieselben die Vorträge, welche wir jetzt in tiefster Verehrung vor dem Thron der Gnade | niederlegen, huldreich aufzunehmen geruhen mögen.

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Die wir in tiefster Ehrfurcht ersterben Ew. Königl. Majestät Berlin, den 24. April 1822 allerunterthänigste treugehorsamste Küster, Schleiermacher, Marheinecke. |

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Predigt gehalten von dem Dr. Schleiermacher. Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heil. Geistes sei mit uns. Amen. Text. Philipper II, 1–4. „Ist nun bei euch Ermahnung in Christo, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit: so erfüllet meine Freude, daß ihr Eines Sinnes seid, gleiche Liebe habt, einmüthig und einhellig seid, nichts thut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demuth; achtet euch unter einander einer den andern höher denn sich selbst, und ein jeglicher sehe nicht auf das seine, sondern auf das, das des andern ist.“

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M. a. F. Welche herrliche Worte des Apostels, worin er die Christen zu der Eintracht ermahnt, die so wesentlich denen ziemt, welche alle Glieder Eines Leibes, und durch die Liebe zu Einem und demselben göttlichen Erlöser auch unter einander zur treusten Liebe verbunden sind. Aber muß nicht dennoch die Wärme und Innigkeit, dieser sich selbst nicht genügende, und in immer neuen Zusätzen sich selbst gleichsam überbietende Nachdruck in den Worten des Apostels uns unerwartet auffallen in einem Briefe aus | jener ersten Zeit, wo die Christen als ein an Zahl noch kleines, schon dadurch und noch mehr durch äußere Widerwärtigkeiten eng zusammengehaltenes Häuflein wohl nicht hätten in Versuchung sein sollen, sich zu veruneinigen; und sollten wir nicht fast glauben, dem Apostel habe geahnet, daß Zeiten 13–15 Kanzelgruß vgl. 2Kor 13,14

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kommen würden, wo eben diese Ermahnung den Christen nicht dringend genug könnte eingeschärft werden? Indessen, m. g. Fr., wie sich gleich anfänglich mitten unter den Regungen des göttlichen Geistes, der seit der Erscheinung des Erlösers wehte, auch die menschliche Schwachheit auf mancherlei Weise offenbarte: so finden wir, daß in mehreren seiner Briefe auch der Apostel schon nicht nur die Christen aus verschiedenen Ständen und gesellschaftlichen Verhältnissen zur Eintracht und Liebe ermahnt; sondern ganz vorzüglich waren diejenigen, welche aus dem jüdischen Volke, und diejenigen, welche aus den Heiden sich zu der Wahrheit des Evangeliums bekannt hatten, gar häufig in Gefahr sich unter einander zu veruneinigen, so daß die Apostel und andere erste Lehrer des Christenthums allen Fleiß anwenden mußten um Zwiespalt zu heilen, Trennungen zuvorzukommen, und eine solche gemeinsame Führung des christlichen Lebens anzuordnen, daß das Gewissen der einen geschont, und das der andern nicht mit unnützen Lasten beschwert werde. Und verfolgen wir nun die Geschichte des Christenthums weiter, so finden wir seit jenen Zeiten der Apostel fast ununterbrochen in der christlichen Kirche denselbigen Wechsel; bald Anlagen zur Spaltung oder wirklicher Ausbruch derselben, je nachdem | falscher Eifer glücklich gezügelt ward oder sich weiter verirrte; bald Wiedervereinigung und Stille, wenn entweder der Geist der Wahrheit siegte über den Irrthum, oder auch diejenigen, welche das Wesen des Christenthums aus ihrem Innern verloren hatten, hinter sich gingen, und sich auch äußerlich von der christlichen Kirche trennten. Aber wie könnten wir anders, wenn wir die Kraft und den innersten Sinn dieser Worte des Apostels recht fassen wollen, als von diesem wechselreichen Schauplatz auch in die Zukunft hinaussehen! O wie herrlich, wenn jemals, so wie der Apostel es wünscht, unter den Christen Ermahnung und Trost der Lehre gemeinsam wäre; wenn so unter ihnen innige Liebe herrschte, auf denselben Grund gebaut, auf welchen wir alle unser Heil bauen; wenn so das Bestreben in jedem lebte, den andern in Demuth höher zu achten als sich selbst, und mehr auf das zu sehen was des andern ist, als auf das eigene! Ja, wenn dieses überall so der Geist des christlichen Lebens würde, wie es der Apostel hier bittend und flehend den Christen an das Herz legt: o dann müßte jede Scheidewand, welche sie trennt, verschwinden; dann müßte die herrliche Zeit kommen, wo die Christenheit ganz und ungetheilt Eine Heerde wäre unter Einem Hirten. Wann diese Zeit kommen wird – denn sie wird kommen, so gewiß die Worte dessen Wahrheit sind, in welchem alle göttliche Verheißungen Ja und Amen sind – 38–39 Vgl, Joh 10,16

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wann diese kommen wird, das ist uns nicht gegeben zu wissen, sondern dem Vater, der sich die Zeit und Stunde seiner Macht | vorbehalten hat; aber das, m. g. Fr., das können wir wissen, anfangen muß diese selige Zeit dabei, daß diejenigen sich wieder vereinigen in der Ermahnung und in dem Trost der Lehre, und in der ungefärbten brüderlichen Liebe, die zwar auch äußerlich getrennt, aber doch innerlich am wenigsten von einander geschieden sind. Und diese Worte des Apostels, wie sie unmittelbar den Zweck hatten, allen Trennungen unter den Christen vorzubeugen: so sprechen sie auch seinen Segen aus über jede durch diesen Geist der Liebe und der Eintracht hervorgebrachte Wiedervereinigung der Christen, und zeigen uns, worauf es ankommen wird, damit die Vereinigung, die wir unter uns gestiftet haben, und deren Beginn und feierlicher Begehung dieser Tag gewidmet ist, uns allen und unsern Nachkommen in dieser evangelischen Gemeinde des Herrn den Segen wirklich bringe, der auf dem Gehorsam gegen die liebliche Stimme des göttlichen Wortes ruht. So laßt uns denn, m. g. Fr., nach Anleitung der Worte des Apostels mit einander über das Wesen der unter uns zu Stande gekommenen Vereinigung nachdenken. Laßt uns zuerst zurücksehen auf die Art, wie dieselbe zu Stande gekommen ist, dann aber auch vorwärts schauend uns die Frage beantworten, wie wir nun dem Geiste dieser Vereinigung gemäß mit einander werden zu leben haben von diesem heutigen Tage an, der lange möge von Gott gesegnet sein. Das sei denn der Gegenstand unsrer christlichen Betrachtung und unsers frommen Nachdenkens. | I. Wenn wir uns, m. a. Fr., die Entstehung dieser Vereinigung zweier Gemeinden von bisher verschiedenem evangelischen Bekenntniß vergegenwärtigen wollen: so können wir das freilich nicht ohne zuvor auf die Trennung zu sehen, von welcher wir dadurch befreit werden. Als in jenen ewig denkwürdigen und gesegneten Zeiten der Kirchenverbesserung nach mancherlei Vorzeichen und nach manchen wieder vereitelten Bestrebungen, wie das der Gang der menschlichen Dinge ist, endlich das Licht des Evangeliums herrlich und unaufhaltsam hervorbrach, und ein neuer Tag für die christliche Kirche begann: so entzündete sich das von dem göttlichen Geiste angefachte Feuer zu22 wie] wie wie 1–3 Vgl. Apg 1,7

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gleich an verschiedenen Orten der Christenheit und vorzüglich zuerst der deutsch redenden Länder; und wie die ersten Leiter und Beweger unabhängig von einander waren und ohne persönliche Verbindung, so war es natürlich und menschlich, daß auch ihr Werk eine verschiedene Gestalt annahm nach der Verschiedenheit der Personen und der Umstände. Die Einen gingen vorzüglich darauf aus, gleich anfänglich alles dasjenige wo möglich mit der Wurzel auszurotten, woran das mißleitete Gemüth der Christen sich gehängt hätte, und dadurch abgeleitet worden war von dem Einen was Noth ist. Die Anderen, durch traurige Erfahrungen gewarnt, machten sich zum Gesetz, vor der Hand so viel als möglich von dem, was seit vielen Jahrhunderten in dem Gottesdienst der christlichen Kirche bestanden hatte, beizubehalten, und zunächst nur | das verwerflichste zu verbannen, dasjenige, dem der Stempel des Irrthums am deutlichsten aufgeprägt war, und was unleugbar nur irgend einem verderblichen Aberglauben diente, damit nicht durch zu viele Aenderungen auch die Frömmigkeit des Volkes zu viel von ihren gewohnten Stützen verlöre, oder ängstliche Gewissen ohne Noth bedrängt oder verwirrt würden. Daß nun, diesen beiden verschiedenen Handlungsweisen gemäß, sich in der neuen evangelischen Kirche die gesellschaftlichen Ordnungen und die gottesdienstlichen Gebräuche auf zwei verschiedene Weisen gestalteten, das war natürlich und unverwerflich. Aber dieses, m. g. Fr., war nun freilich gar leicht zu entschuldigen in einer so mannichfaltig und unruhig bewegten Zeit, aber doch immer ein bedauernswerthes Mißverständniß, hervorgegangen aus der menschlichen Schwäche, durch welche Glauben und Liebe leider so oft beschränkt werden, daß diejenigen, denen es am meisten Ernst war um die gründliche Wiederherstellung des ursprünglichen und reinen Christenthums, sich weder über jene Verschiedenheiten, noch über die weit geringfügigeren in der Lehre völlig mit einander vereinigen konnten, indem die Einen besorgten, es könnte bei den Andern gar zu leicht Wahn und Aberglauben zurückkehren und in etwas veränderter Gestalt wieder Besitz nehmen von den Gemüthern, und diese wiederum von jenen fürchteten, das gereinigte, aber auch alles Schmuckes beraubte Wort, und die lautere, aber auch ganz vereinfachte Ordnung des Gottesdienstes und der christlichen Sitte möchte nicht Kraft genug haben, die Gemüther | zusammen zu halten in demselben Glauben und in ungetheiltem Sinn, vielmehr sei Gefahr, daß um so mehr Willkühr überhand nehme in der Denkungsart und der Kirchenordnung, je mehr altes aus dem Wege geräumt worden. Und so geschah es denn, daß keine vollkommne Gemeinschaft zu Stande kam zwischen den beiden Hauptzweigen der verbesserten Kirche, vielmehr ging, ohne sich mit dem andern im Be-

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kenntniß der Lehre und im Sakrament des Altars zu vereinigen, jeder Theil seines Weges für sich. Wenn nun zu manchen Zeiten diese Trennung noch besonders dadurch erweitert wurde und verbittert, daß nicht weniges auch geschah im Zank und um eitler Ehre willen: so fehlte es dagegen zu andern Zeiten auch nicht an herzlicher gegenseitiger Ermahnung und Trost der Lehre; und häufig sind die Christen der evangelischen Kirche beider Theile aufgemuntert und aufgefordert worden, wohl zu erwägen, ob dasjenige, was sie trennt, wohl werth sei, seinetwegen den Segen einer größern und innigern Gemeinschaft immer noch aufzugeben. Wohl kamen Zeiten, wo es ganz natürlich war und unvermeidlich, daß der Besseren Viele auf jeder Seite den anderen Theil in Demuth höher achteten als den ihrigen; wenn jetzt bei diesem dann bei jenem eine Zeitlang das Licht des göttlichen Wortes heller leuchtete, jetzt bei diesem dann bei jenem ein kräftigerer Widerstand geleistet wurde den Widersachern der gemeinsamen Angelegenheit, jetzt bei diesem dann bei jenem der rechte Segen reiner christlicher Frömmigkeit in höherer Vollkommenheit zu finden war. So wurden denn auch | zu verschiedenen Zeiten mancherlei Versuche gemacht, die getrennten Gemeinden zu vereinigen, und sie alle in Einer Gemeinschaft brüderlicher Liebe und in dem gleichen Trost desselben göttlichen Wortes zu verbinden. Aber die Stunde des Herrn war noch nicht gekommen, und auch die wohlgemeintesten Versuche mißglückten immer, obgleich unterstützt von dem Ansehen und von den Wünschen der Großen und Mächtigen der Erde, und herbeigeführt und eingeleitet von denen, welche für die Weisesten ihrer Zeit galten. Endlich als vor einigen Jahren – wir alle gedenken dieser Zeit noch mit herzlicher Freude und Rührung – demjenigen Theil der evan18–26 Schon Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1640–1688) hatte 1662/63 in Berlin ein Religionsgespräch zwischen Reformierten und Lutheranern durchgeführt. Die Unionsidee aufnehmend, veranlassten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und Daniel Ernst Jablonski (1660–1741) zu Beginn des 18. Jahrhunderts geheime Gespräche zwischen den Höfen in Berlin und Hannover, welche allerdings am Widerstand lutherisch-orthodoxer Gegner scheiterten. Später versuchte der Tübinger Universitätskanzler Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) auf dem Regensburger Reichstag vergeblich, konkrete Bestimmungen zur Umsetzung einer Union zu bewirken. 27–20 Friedrich Wilhelm III. hatte, anlässlich des bevorstehenden 300-jährigen Reformationsjubiläums, am 27. September 1817 einen Aufruf an die protestantische Öffentlichkeit gerichtet, in dem er die Absicht kundtat, die Feierlichkeiten mit einem gemeinsamen Abendmahl von Lutheranern und Reformierten zu begehen; das Dokument gilt als Stiftungsurkunde der Union aus Lutheranern und Reformierten. Die konfessionsübergreifenden Abendmahlsfeiern fanden in Berlin und Potsdam unter außergewöhnlich großer Beteiligung der Bevölkerung statt; andere deutsche Landeskirchen folgten dem Vorbild Preußens.

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gelischen Kirche, der sich zunächst durch die Bemühungen Luthers und seiner Freunde gebildet hatte, sein dreihundertjähriges Gedächtnißfest aufs neue bevorstand, da war es auch den Mitgliedern des andern evangelischen Bekenntnisses nicht möglich, daß sie nicht hätten mit ihren Brüdern die Freude und Dankbarkeit gegen Gott theilen sollen, und es wurde nur der allgemeine Wunsch aller wohlmeinenden evangelischen Christen erfüllt, durch die Anordnung, daß in unserm Lande das Jubelfest der Kirchenverbesserung ein gemeinsames sein sollte für beide Zweige der evangelischen Kirche. Und als es nun näher heran rückte, da wallte der Geistlichkeit dieser unsrer Hauptstadt von beiden Kirchen das Herz über in Freude und Liebe, und, von der Genehmigung des Königes versichert, ihren Gemeinden ein Vorbild zu geben wünschend, beschlossen sie sich zu Einem Genuß des heiligen Abendmahls, unter einer solchen Form, wodurch | keines besondere Meinung verletzt wurde, noch vor diesem schönen Feste zu vereinigen, und dadurch, daß sie mit einander den Tisch des Herrn theilten, zugleich zu erklären, daß sie dasjenige, was zwischen beiden Kirchen verschieden sei, nicht für hinreichend achteten, um die kirchliche Gemeinschaft zu trennen und noch länger zu hindern, daß nicht beide Kirchen Eins werden und bleiben könnten. Und zwar thaten sie das wohlbedächtig und gut erwogen, ohne sich etwa vorher zu vereinigen über diese oder jene streitige Meinung, indem sie der bisherigen Erfahrung gemäß nicht anders konnten, als glauben, daß, wenn das Unerklärliche und Unbegreifliche wieder ausführlich besprochen, wenn das Geheimnißvolle in menschliche Worte gezwängt werden sollte, doch keines das rechte sein könne, und eben weil das rechte fehle, nur immer eine größere Mannichfaltigkeit von Ausdrücken und Vorstellungsweisen müsse zum Vorschein kommen. Diesem guten Beispiel folgten dann zahlreich in den Gemeinden dieser Hauptstadt, und besonders in solchen, welche zu den verschiedenen Zweigen der evangelischen Kirche gehörig Ein und dasselbe Gotteshaus theilen, an dem festlichen Tage selbst viele Glieder beider Kirchen, und gaben das Gefühl ihrer Uebereinstimmung in dem Wesentlichen des christlichen Glaubens, und wie von ihrer Seite dem völligen Ende der bisherigen Trennung nichts im Wege stehe, eben durch diese gemeinsame Theilnahme an dem Tische des Herrn zu erkennen. Seitdem, m. g. Fr., war nun das Wesentliche in dieser Sache geschehen, und in Folge dessen haben wir | in unsrer Stadt schon mehr als ein Beispiel erlebt, daß Gemeinden, die bisher dem einen Bekennt2 dreihundertjähriges] hundertjähriges

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niß angehörten, theils durch ihre eigene Wahl, theils mit ihrer Zustimmung durch diejenigen, welche die Angelegenheiten der Kirche leiten, solche Lehrer erhalten haben, die sich bisher zu dem andern hielten; und eben dadurch war auf das wirksamste die Vereinigung beider Kirchen ausgesprochen. Fragen wir nun, was uns denn noch übrig gewesen, um uns das besondere Fest des heutigen Tages zu bereiten: so ist es freilich nur folgendes wenige, wodurch das, was im allgemeinen schon geschehen war, unseren besonderen Verhältnissen angepaßt wird. Wir nämlich, die Lehrer beider Gemeinden, hegten den herzlichen Wunsch, nun auch nicht mehr getheilte und beschränkte Pflichten gegen Euch, ihr lieben Glieder unserer Gemeinden, zu haben, sondern wir wollten Euch allen gleich angehören, und durch die Verschiedenheit, die uns zu geringfügig schien, um unserem Beruf Gränzen zu stecken, nicht länger gestört, jeder sich mit aller seiner Sorgfalt und Liebe allen denjenigen widmen können, die am meisten ihr Vertrauen ihm schenken und seinen Dienst begehren würden. Diejenigen, die im Verein mit uns schon lange die äußeren Angelegenheiten beider Gemeinden geleitet hatten, wünschten, daß nun auch die theilweise Gemeinschaft, die zwischen beiden schon statt gefunden, und die Einheit der Verwaltung unserer kirchlichen Güter übergehen möchte in eine vollständige Einheit des Besitzes, und daß beide Gemeinden alles, was der christlichen Got|tesverehrung dient und für sie da ist, zusammenwerfen, und auch in Hinsicht jener heiligen Christenpflichten, Unterstützung der Dürftigen und Erziehung der Jugend, für Einen Mann stehen möchten. Endlich wünschten gewiß Alle, daß nun auch die noch übrigen Verschiedenheiten in den gottesdienstlichen Gebräuchen verschwinden, damit sich nicht an ihnen die alte Trennung noch festzuhalten schiene. Und so haben wir uns unter der Mitwirkung und Zustimmung unserer Vorgesetzten in alle Verrichtungen getheilt, ohne eure Freiheit im Gebrauch unseres Dienstes zu beschränken, haben das Kirchengut beider Theile gemein gemacht, ohne zu fragen, wie viel oder wenig jeder Theil mitbrächte, und haben auch für die verschiedenen gottesdienstlichen Handlungen und für die Darreichung der heiligen Sakramente der christlichen Kirche eine gemeinsame Art und Weise entworfen, wodurch auch hierin alle bisherige Trennung aufgehoben, und das bisher in jeder Gemeine übliche so zusammengeschmolzen ist, daß ein jeder neben dem Seinigen auch das des Anderen findet, und jeder 9–95,11 Zu den im Unionsstatut festgesetzten Bestimmungen vgl. Einleitung, Punkt I.1.

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Gelegenheit hat, es in Demuth hoch zu achten und in Liebe aufzunehmen, und daß wir hoffen, so in dem Wesentlichen unsers Gottesdienstes die beiden Absichten vereinigt zu haben, welche die ersten Verbesserer der Kirche nur getrennt glaubten erreichen zu können, indem wir nämlich auf der einen Seite alles gern behalten haben, wodurch wahrhaft christlicher Sinn sich ausspricht, und was einen Theil des christlichen Glaubens vergegenwärtigen kann, auf der andern Seite aber auch streng geprüft, daß wo möglich nichts zurückbleibe | in unserm Gottesdienst, was zur Anbetung Gottes im Geist nicht gehören kann, und mit dem Wesen der christlichen Frömmigkeit nicht zusammenhängt. – Soviel, m. g. Fr., blieb nach allem früheren noch übrig, um uns zu Einer evangelischen Gemeinde vollkommen zu verbinden; und dieses ist im geschichtlichen Zusammenhang die Bedeutung des Vereins, den wir in dieser gewiß uns allen wichtigen und heiligen Stunde feiern. II. Damit sie sich aber auch so bewähre, so laßt uns zweitens mit einander erwägen, was wir zu thun haben werden, um dieser Vereinigung Ehre zu machen, und im Geiste derselben nach Anleitung der Worte unsers Apostels mit einander zu leben. Soll ich nun dieses kurz zusammenfassen: so muß ich Euch erinnern, daß schon meine bisherige geschichtliche Darstellung in dieser Vereinigung etwas unterscheidet, das mehr innerlich ist und geistig, und etwas das mehr äußerlich ist und leiblich, beides aber zu einander gehörig und nicht von einander zu trennen. Eben so müssen auch die Worte des Apostels, wenn ihr ganzer Sinn gefaßt werden soll, auf beides bezogen werden; und so laßt uns denn auch auf jedes von beiden insbesondere unsere Aufmerksamkeit richten. Was zuerst das Geistige betrifft: so hätte doch diese Seite unserer Vereinigung keinen Werth, wenn sie nicht zur Läuterung und Stärkung unseres Christen|thums gereichte. Es giebt aber noch immer in dem Umfange der evangelischen Kirche gar viele wohlgesinnte aber besorgliche Christen, welche das unter uns und in andern Gegenden unseres deutschen Vaterlandes rege gewordene Streben, die beiden getrennten Theile der evangelischen Kirche zu vereinigen, in einem gewissen Verdacht halten, als sei es ein Werk des Leichtsinns und der Unbesonnenheit, und eben deswegen auch ein Werk der Gleichgültigkeit; als sei denen, die es am meisten begünstigen, nicht genugsam zu 25 müssen] müssen wir

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thun um die Reinheit der evangelischen Lehre, oder als hätten sie wenigstens nicht gehörig nachgedacht über ihren Glauben, als sie den Unterschied, der zwischen beiden Kirchen besteht, für geringfügig erklärten in Bezug auf die kirchliche Gemeinschaft. Ja es wird wohl gar besorgt, diejenigen, welche diese Vereinigung fördern, würden eben so leicht auch wieder unter jenes Joch der Menschensatzungen zurückkehren, das unsere Väter nicht länger zu ertragen vermochten, und für die Befreiung von welchem auch wir noch in unsern gemeinsamen Gebeten Gott mit inniger Dankbarkeit preisen, und die Erhaltung dieser Freiheit von ihm erflehen. O daß wir diesen niemals eine Veranlassung geben möchten, ihren Argwohn zu rechtfertigen und unsere Vereinigung zu verunglimpfen. Einen Grund, dieses zu besorgen, m. Gel., kenne ich freilich nicht. Ich bin in meinem Gewissen fest überzeugt, daß diejenigen unter uns und in der evangelischen Kirche unseres Vaterlandes, welche diese Vereinigung am ernsthaftesten und am dringendsten betreiben, nicht solche sind, die aus Gleich|gültigkeit gegen alle Glaubensunterschiede sich eben so gern auch mit allen anderen Christen eben so genau vereinigen möchten; sondern gerade solche, die einen hohen Werth legen auf die unter uns wiederhergestellte Lehre von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott durch den Glauben an den Erlöser, und von der Heiligung desselben in der Gemeinschaft mit ihm, und solche, die auf das innigste durchdrungen sind von der Ueberzeugung, daß keine für verdienstlich gehaltene äußere Werke oder Uebungen und kein Gehorsam gegen Menschensatzungen jemals dem Menschen einen Werth geben könne vor Gott. Ja, es muß schon jedem einleuchten, daß nur denen die bisherige Trennung am wenigsten gefallen kann, welche auf jenen großen Hauptpunkt, und was damit unmittelbar zusammenhängt, einen solchen Werth legen, daß sie nur bei diesem recht fest alle evangelischen Christen vereinigen und zusammenhalten möchten. Und so gewiß ich hiervon überzeugt bin in meinem Gewissen: so kann ich auch nicht anders als unsern Gemeinden nach meiner besten Kenntniß von ihnen das Zeugniß geben, daß dieser Geist der evangelischen Kirche auf ihnen ruht, und daß sie mit eben diesem Sinn aus die Vereinigung eingegangen sind. – Aber läugnen können und übersehen dürfen wir nicht, daß zahlreich genug, um der evangelischen Kirche zur Beschämung zu gereichen, die Beispiele von solchen sind, welche ihren Schooß wieder verlassen, um sich aufs neue unter das Joch menschlicher Satzungen in der Kirche zu bringen, welche uns um deswillen zuerst von sich ausgestoßen hat. Wohl mögen wir | uns also das göttliche Wort der Warnung gesagt sein lassen: wer da stehet, der sehe wohl zu daß er 41–1 Vgl. 1Kor 10,12

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nicht falle; darum wachet und betet, daß ihr nicht in Anfechtung fallet. Nur diese Vereinigung, mögen wir sie nun allgemein betrachten oder in Bezug auf unsere Gemeinde, kann und soll die Versuchung zum Abfall nicht vermehren, sondern nur vermindern. Denn jeder steht ja nur um so sicherer, je mehr Hülfe ihm geboten wird und je mehr Stützen er sich verschaffen kann. Und wozu, m. g. Fr., hätten wir wohl diesen Bund geschlossen, wozu hätten wir jede bisherige Scheidewand niedergerissen, wenn nicht dadurch noch mehr geistige Kräfte auf das innigste sollten vereinigt werden in treuem Eifer für das Licht der Erkenntniß, das Gott unter uns angezündet hat; und je mehr wir hiezu unsere Vereinigung benutzen, um desto mehr werden wir ihr Ehre machen. Jeder von uns hat nun ein noch größeres und klarer ausgesprochenes Recht als vorher, jede erleuchtende Belehrung, jede kräftige Ermunterung, ohne Unterschied, bei welcher von beiden Kirchengemeinschaften sie einheimisch ist, sich anzueignen auf seine Weise als sein unbestrittenes Gut. Jeder unter uns, dem Gott Kraft und Licht geschenkt hat, ist nun noch mehr und in weiterem Umfange berechtigt zuzutreten, um jedes schwache Gemüth zu stärken und zu befestigen. Jeder hat nun ein noch weiteres Feld, worin er ein Zeugniß ablegen kann von der Ruhe der Seele und von der Festigkeit des Gemüths, die ihm aus unserm evangelischen Glauben entsteht. Möge nun in unserm vergrößerten Verband auch diese heilsame Gemeinschaft | des Geistes, in welcher in Demuth jeder das Wohl des Andern sucht, und einer den andern erbaut und tröstet, immer inniger werden; möge unter uns recht viel ohne Zank und eitle Ehrsucht geredet werden über das, worauf das Heil der Seelen beruht, und in dieser Liebe auch diejenigen verbunden werden, welche vielleicht bis jetzt sich noch geschiedener hielten; und möge alles Nachdenken der Einzelnen wie alles gemeinsame Forschen immer im rechten evangelischen Geiste geleitet und zusammengehalten werden durch die öffentliche Betrachtung des göttlichen Wortes, welche an dieser Stätte unserer Versammlungen jetzt und künftig von den Dienern desselben ausgehen wird. Und eben diese unsre gemeinsamen Gottesdienste und alles was zu ihrem innern Gehalt sowohl als zu ihrer äußern Gestalt gehört, sind nun das zweite was ich zu der geistigen Seite unserer Vereinigung rechne. Da ist es nun, m. g. Fr., von Anfang an der Sinn derer gewesen, die Gott zu seinen Werkzeugen gebraucht in der Verbesserung der Kirche, daß das Aeußerliche dabei, wie menschlichen Ursprungs und unter bestimmten Verhältnissen entstanden, so auch zufällig sei und veränderlich; wesentlich aber und unabänderlich nur die Einsetzungen 1–2 Mt 26,41; Mk 14,38

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unsers Erlösers selbst, welcher Taufe und Abendmahl angeordnet und die Verkündigung des göttlichen Wortes in seiner Kirche gestiftet hat. Alles Andre in unserm Gottesdienst soll nur dazu dienen, daß das Wort des Herrn und der Segen jener himmlischen Güter, die in der Kirche niedergelegt sind, leichter und tiefer in die Seelen eingehe. Daher auch, sobald et|was diese Kraft verloren hat, es nicht mehr bleiben darf in den Gottesdiensten der Christen, damit nicht dasjenige für etwas gehalten werde, was nichts mehr ist. Wie nun auch die gegenwärtige Gestaltung unsers gemeinsamen Gottesdienstes in diesem Sinne gedacht und ausgeführt ist: so werden wir unserer Vereinigung nur Ehre machen, wenn wir an diesen Grundsätzen festhalten. Wolle der Herr geben, daß nicht nur wir unser Lebelang, sondern auch noch unsre Kinder nach uns wahrhaft christliche Erbauung finden in eben dieser Gestaltung unsers Gottesdienstes, die im Wesentlichen jede unserer bisherigen Gemeinden von den Vätern überkommen und uns treu bewahrt hat, und die wir nun aus beiden Gemeinden in Eines zusammengetragen haben. Aber fern sei es von uns, daß wir wollten auf diesen, wenn gleich uns noch so theuren, doch immer nur menschlichen Buchstaben, oder auf irgend eine väterliche Einrichtung, einen solchen Werth legen, als sei darin etwas göttliches und auf ewig festzuhaltendes! Sondern das wollen wir im voraus bei uns beschließen, daß, wo uns der Herr etwas Besseres offenbart, wir es annehmen wollen mit frohem und dankbarem Sinne; nicht nach dem Neuen greifend als des Alten überdrüssig, sondern fest haltend was wir haben, so lange es uns Segen gewährt; aber auch nicht das Alte ehrend des Alters wegen, damit nicht das Erstorbene, wenn es mit dem Lebendigen vermischt bleibt, die frische Kraft desselben schwäche, und seine Schönheit verunreinige. Dabei laßt uns bleiben, so wird, so viel an uns liegt, unsre evangelische Kirche niemals | veralten, sondern durch die Kraft des Lichtes und der Wahrheit sich immer in sich selbst verjüngen. Werden die verschiedenen Ansichten, die sich nun bei uns zu Einer lebendigen Gemeinschaft verbinden, in diesem Geiste immer zusammenwirken: so wird es uns zu keiner Zeit fehlen, unsre christlichen Versammlungen so einzurichten, daß alle darin ihre Befriedigung finden, welche, mit dem Verlangen Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten erfüllt, das Bedürfniß wahrhaft christlicher gemeinsamer Andacht empfinden. Was aber nun zweitens das Aeußerliche und Leibliche in dieser unserer Vereinigung betrifft, so haben wir nun mit der Pflicht beider 35 welche] weiche

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Gemeinden für die Unterstützung ihrer dürftigen Glieder und zur Erziehung ihrer verlassenen Jugend zu sorgen, auch alle Hülfsmittel beider in Eines zusammengethan. Also Eine ungetheilte christliche Milde möge nun walten unter allen Gliedern der vereinigten Gemeinde, Ein ungetheilter Eifer für das Ganze unter allen, welchen die gemeinsamen Angelegenheiten am Herzen liegen. Wie könnte sich nun die Verschmelzung zweier Gemeinden in Eine schöner verherrlichen, als wenn das gemeinsame kirchliche Leben nun desto frischer erblühte und sich auch lebendig erwiese in allerlei christlicher Milde und Barmherzigkeit! Dahin geht also in dieser Beziehung unser Wunsch und Bitte an unsre Gemeinde, daß das Bewußtsein, einem größeren, durch herzliche Liebe gebildeten Ganzen anzugehören, einen jeden ermuntern möge, noch frischer und fröhlicher die Sorgen desselben auf sich zu nehmen und seine Lasten zu tragen. Auch in Absicht auf die christ|liche Mildthätigkeit innerhalb der Gemeinde kann ich diesen Wunsch äußern, ohne auch nur den Schein auf mich zu laden, als sollte er vielleicht auch einen stillen Vorwurf in sich schließen; denn wir haben von der Zeit an, wo die Drangsale des Krieges unser Gotteshaus zerstört hatten, vornämlich aber seitdem mehrere Gemeindeglieder die Sorge für das Gemeinsame mit uns theilten, die herrlichsten Beweise erhalten von dem lebendigen Antheil, den unsere werthen Gemeinden nahmen an der Beförderung und Verschönerung unseres Gottesdienstes, und an allem was gemeinsame Sorge und Pflicht so verbundener Christen sein muß. Aber möge es auch allen, die sich jetzt in brüderlicher Liebe vereinigen, immer gegenwärtig sein und bleiben, daß alles, was uns werth und theuer bleiben soll, auch immer ein Gegenstand unserer eifrigen Fürsorge und thätigen Bemühungen bleiben muß. Dann werden wir auch in Zukunft bei jeder Gelegenheit eben so erfreuliche Beweise erhalten von dem eifrigen Gemeingeist und von der brünstigen Liebe der Glieder unsrer Gemeinde. Und laßt uns dieses ja nicht vergessen, daß auch Wohlthätigkeit und Freigebigkeit, wenn sie nur durch die jedesmaligen Umstände der Einzelnen aufgeregt werden, weder eben so ehrenvoll sind noch dieselbe Stufe christlicher Gottseligkeit einnehmen, als wenn sie nur die natürlichen Aeußerungen eines wahren Gemeingeistes sind. Darum bleibet nun 4 Gemeinde,] Gemeinde. 18–19 Bei der Besetzung Berlins durch die Franzosen ab Oktober 1806 war die Dreifaltigkeitskirche von den Soldaten Napoleons als Kaserne zweckentfremdet worden. Große Teile der Inneneinrichtung waren entfernt worden oder hatten als Heizmaterial für in der Kirche entzündete Lagerfeuer gedient; auch war die Orgel beschädigt und das Glockenspiel gestohlen worden. Eine Wiederinstandsetzung war 1811 erfolgt. (Vgl. Lommatzsch, Dreifaltigkeits-Kirche, S. 72.109; Nowak, Schleiermacher, S. 211)

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unser letzter Wunsch, daß durch die verbesserte Verfassung, der die evangelische Kirche unseres Landes, nach den huldreichen Verheißungen unsers Königs, schon lange entge|gensieht, auch den einzelnen Gemeinden und somit auch der unsrigen recht bald möge Gelegenheit gegeben werden, sich nicht nur mit dem zu begnügen was Liebe und Milde, was Beharrlichkeit im Guten und duldende Nachsicht inner1–101,8 Das Thema Erneuerung der Kirchenverfassung hatte für Schleiermacher als Kirchenpolitiker eine besondere Relevanz. Es war nach vergeblichen Einzelversuchen zuerst im Rahmen der Preußischen Reformen wieder aktuell geworden und Schleiermacher hatte sich in diesem Zusammenhang 1808 in der von H. F. K. vom und zum Stein veranlassten Denkschrift „Vorschlag zu einer neuen Verfassung der protestantischen Kirche im preußischen Staate“ (vgl. KGA I/9, S. 1–18) für eine Kirchenordnung ausgesprochen, die zur langsamen Überwindung des landesherrlichen Summepiskopats eine Kombination von presbyterial-synodalen und episkopalen Elementen vorsah. Nachdem der Vorschlag gescheitert war, hatte J. Chr. Gaß im Januar 1812 durch Anregung Schleiermachers dem Kultusdepartement einen Synodalordnungsentwurf überreicht, in dessen Begutachtungsprozess Schleiermacher einbezogen wurde und der ihn zu einem eigenen Entwurf veranlasste (vgl. KGA I/9, S. 29–42). Nachdem die Angelegenheit während der Befreiungskriege geruht hatte, wurde sie 1814/15 wieder von besonderem Interesse, da Preußen im Inneren große Aufbauarbeit zu leisten hatte und die neu gewonnenen Gebiete im Westen an die Ostprovinzen angebunden und zu einer Landeskirche zusammengefügt werden sollten. Zusätzlich war es im Volk nach dem glücklichen Ausgang der Befreiungskriege und dem Ende der Napoleonischen Ära zu einer neuen religiösen Begeisterung gekommen, die mit dem Wunsch nach Neugestaltung und einer „Wiederauferstehung“ der Kirche einherging. Auf Drängen von 22 Superintendenten der Kurmark setzte der König schließlich eine Kommission ein, um „eine zeitgemäße Verbesserung des protestantischen Kirchenwesens sowohl im Allgemeinen als im Besondern“ zu erarbeiten. Als sich abzeichnete, dass jener darunter vor allem die Herstellung einer neuen Gottesdienstordnung verstand, meldete sich Schleiermacher mit einem ironischen „Glückwünschungsschreiben“ (KGA I/9, S. 51–78) zu Wort, in dem er das Vorgehen der Regierung kritisierte und die Erarbeitung einer gemeindlichen Repräsentativverfassung anmahnte, die Voraussetzung für die Änderung innerkirchlicher Angelegenheiten sei, zu denen auch die Gottesdienstordnung zähle. Die daraufhin zusätzlich in Angriff genommene Behandlung der Verfassungsfrage lief jedoch auf eine Restaurierung der Konsistorien in den Provinzen hinaus. 1815 sprach sich die Kommission schließlich für die Bildung von Presbyterien und das Zusammentreten von Kreis- und Provinzialsynoden aus, wobei die eigentliche Macht allerdings in den Händen der Geistlichkeit und der Staatsgewalt verbleiben sollte. Der König stellte für 1821 eine Generalsynode in Aussicht, auf der die Vorbereitungen der Synoden zur Kirchenverfassungsthematik beraten, geprüft und zum Abschluss gebracht werden sollten. Schleiermacher begleitete auch diese Entwicklungen kritisch, indem er den kurz darauf erschienenen Entwurf einer „Synodalordnung für den evangelischen Kirchenverein beider evangelischen Confessionen im preußischen Staate“ in seiner Druckschrift „Über die für die protestantische Kirche des preußischen Staats einzurichtende Synodalverfassung“ (vgl. KGA I/9, S. 107–172) so einschätzte, dass letztlich alles beim alten bleiben werde. Am 4. Oktober 1821 erinnerte der König das Ministerium in einer Kabinettsorder an die Abhaltung der Generalsynode und am 9. April 1822 wurde sie für das laufende Jahr angekündigt. Dennoch verliefen sich die diesbezüglichen Verhandlungen und die Angelegenheit verlor sich aufgrund politischer Befürchtungen im Jahr 1822 endgültig.

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halb des einzelnen Lebens auszurichten vermag, sondern auch noch kräftiger durch die verstärkte Theilnahme und vervielfältigte Dienstleistung, welche in Anspruch genommen wird, wenn mittelst einer wohlgeordneten Verfassung eine christliche Gemeinde sich recht vollkommen als eine solche darstellen kann, zu beweisen, wie Ernst es ihr ist, daß jeder mehr suche was das des Andern ist als sein eigenes, und wie Eine brüderliche Liebe in allen waltet, in welcher jeder demüthig den andern höher achtet als sich selbst. Dies, m. g. Fr., dies sind die erfeulichen Aussichten, unter welchen wir diesen neuen Zustand unsrer kirchlichen Gemeinschaft beginnen! Mögen uns alle diese Verheißungen in Erfüllung gehen durch die Kraft des göttlichen Wortes, unter dem Beistand des göttlichen Geistes. Darum laßt uns aber jetzt mit einander Gott anflehen in einem inbrünstigen Gebet. Ja, gütiger Vater im Himmel, der du uns diesen Tag einer frohen Feier brüderlicher Eintracht bereitet hast zu deinem Wohlgefallen: o laß, was mit Ernst und in Liebe begonnen ist, auch immer unter uns im Segen bleiben durch den Beistand deines Geistes. Erhalte uns alle auf das innigste verbunden in dem Einen was Noth thut, daß wir in Einem gemeinsamen Bekenntniß dessen, den du uns zum Erlöser gesandt hast, nicht vergessend unseres eigenen Verderbens und Unvermögens, | die Seligkeit schmecken, die denen bereitet ist, welche sich durch den Glauben an deinen Sohn immer mehr reinigen von aller Untugend. Dazu stärke uns wie bisher so auch ferner in unserm neuen Verein die gemeinsame Betrachtung deines Wortes und der segensreiche Genuß deiner heiligen Sakramente, daß dieser Gemeinde niemals fehlen treue Lehrer, die dein Wort rein verkündigen, und in den heilsbedürftigen Seelen laß nie erlöschen den Durst nach dem Wasser aus der Quelle des ewigen Lebens, die dein Sohn für uns alle geöffnet hat, und die nach deiner gnädigen Barmherzigkeit uns nie wieder möge abgeschnitten oder verunreiniget werden. Befestige unter uns den Geist wahrer Eintracht und brüderlicher Liebe, daß wir das Kleine geringachtend nach dem Großen trachten, alles Irdische auf das Ewige hinwendend, es nur als Mittel dazu besitzen und gebrauchen, daß jedem das Heil aller und allen das Heil eines jeden am Herzen liege, und wir mit einander unsre Seligkeit schaffen in Wahrheit und Liebe. Ja, verleihe du nach deiner Güte, daß unter uns nichts verloren gehe von dem Lichte und der Gewissensfreiheit der evangelischen Kirche, und laß auch dazu diese Vereinigung gesegnet 15 Ja,] „Ja,

36 jeden] jedem

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Am 31. März 1822 vormittags

sein, daß wir diese heiligen Verpflichtungen, mit denen wir dir und dem künftigen Geschlecht verhaftet sind, indem wir uns nun zu einem größeren Ganzen vereinigt haben, auch immer vollkommner mit erhöhter Kraft erfüllen. Laß du deinen Segen ruhen auf der neuen wiewohl wenig veränderten Gestalt unsers Gottesdienstes, und schaffe auch in Zukunft reiche Fülle christlicher Erbauung von dieser Stätte | allen denen, die sie hier in deiner Furcht und im Glauben an unsern Erlöser suchen werden. Erhalte den schönen Sinn christlicher Milde und Wohlthätigkeit in dieser Gemeinde, damit es auch an den äußern Hülfsmitteln, um den Segen deines Wortes weiter zu verbreiten, und das Licht der Wahrheit in die Seelen zu leiten, unter uns niemals fehlen möge. Vor allem laß dir von dankbaren Herzen empfohlen sein unsern gnädigen König, der an diesem Werke christlicher Vereinigung einen so frommen Antheil nimmt, und es in dem ganzen Umfange seines Reiches, so weit hier die Kräfte menschlichen Ansehns gehen, zu fördern sucht. Segne ihn und sein ganzes Haus unter uns fortwährend als ein Vorbild christlicher Gottseligkeit, und kröne es mit einem wahren Wohlergehen nach deiner Gnade. Segne des Königs Regierung; und wie wir heute mit allen unseren Mitbürgern Danksagung vor dich bringen wegen jenes herrlichen Sieges, der die kriegerischen Thaten des Königes und seiner Völker krönte, so flehen wir zu dir, laß dem Könige auch ferner wohl gelingen, was er von dem Lichte deines Geistes erleuchtet zum Wohl der Völker, die du ihm anvertrauet hast, unternimmt. Umgieb ihn mit einsichtsvollen und gewissenhaften Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen, was recht und wohlgefällig ist vor dir. Erhalte ihm treue und gehorsame Unterthanen in dem ganzen Umfange seines Reiches, damit wir alle unter seinem Schutz und Schirm, in Friede und Eintracht ein dir wohlgefälliges und unsres Namens würdiges Leben führen. Segne, gütiger Gott, einen | jeden unter uns in dem Kreise seines Berufs, und laß wohl gedeihen den Antheil, den er nimmt an dem öffentlichen Wohl, und erfülle jeden mit der freudigen Ueberzeugung, daß wir alle Arbeiter sind in deinem Weinberge, und uns allen befohlen ist dein Reich zu bauen und zu fördern. Besonders aber nimm dich überall und auch unter uns derjenigen an, die in den Widerwärtigkeiten und Trübsalen des Lebens ihre Zuflucht bei dir suchen. 21–23 Am 30. März 1814 war es Preußen in Koalition mit Russland, Österreich, Württemberg und Bayern in der Schlacht bei Paris gelungen, den Sieg über Napoleon zu erringen und die französische Hauptstadt schließlich am 31. März 1814 einzunehmen. Napoleon musste daraufhin abdanken.

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Über Phil 2,1–4

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Erquicke sie mir deinem Troste, und wenn sich deine Gnade mächtig zeigt in den Schwachen, so laß auch dadurch in uns allen den Glauben immer mehr sich befestigen, daß denen, die dich lieben, alle Dinge zum Besten gereichen. Amen.

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[Liederblatt vom 31. März 1822:] Gesänge bei der Feier der Union beider Gemeinen der Dreifaltigkeitskirche am Sonntag Palmarum 1822.

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Vor dem Gebet. – Mel. Was mein Gott will etc. [1.] Herr dir sei Dank und Preis gebracht, / Daß wir zur Wahrheit kommen, / Daß durch dein Wort des Irrthums Nacht / Stets mehr wird weggenommen. / Es werde deine Gütigkeit, / Die uns zum Heil gewiesen, / In der Gemeine jederzeit / Mit frohem Dank gepriesen. // [2.] „Wer gläubig hin auf Christum schaut / Dem ist die Schuld vergeben.“ / Das ist das Wort dem wir vertraut, / Das Wort voll Kraft und Leben! / Das bleibt der Kirche Felsengrund, / Den soll uns nichts zerstören; / Durch deinen Geist mach ferner kund, / Was unser Heil kann mehren. // [3.] Zeuch Vater auch zu deinem Sohn, / Die noch den Irrweg gehen; / Und steure aller Frevler Hohn, / Die frech dir widerstehen. / Nichts müsse Herr dein Lebenswort / In seinem Lauf verhindern; / Erhalt es kräftig fort und fort / Bei uns und unsern Kindern. // (Brem. Ges. B.)

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Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Dir bleibe Herr geweihet / Dies Haus wo deiner wird gedacht; / Das heut uns wird erneuet / Durch frommer Eintracht Liebesmacht. / Es wohn an dieser Stäte / Nur Jesu Christi Ruhm; / Nur wer ihn sucht betrete / Dies theure Heiligthum. / Laß stets die Liebe walten, / Die heut uns hier vereint; / Den Eifer nicht erkalten, / Der treu das Beste meint. [2.] Laß fest und rein die Lehrer / Gemeinsam predigen dein Wort / Zu Thätern mach die Hörer, / Die sich erbaun an diesem Ort. / Daß betend sich die Frommen / Erheben Herr zu dir, / Und wer verzagt gekommen, / Gestärket geh von hier. / Erweck uns und bewahre / In unserm Bund, o Gott, / Wenn feiernd am Altare / Wir preisen Christi Tod. // (Jauersch. Ges. B.)

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Nach der Altarrede. Chor. Hallelujah! Ich danke dem Herrn von ganzem Herzen / Im Rath der Frommen und in der Gemeine. // Drei Stimmen.

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1–2 Vgl. 2Kor 12,9 3–4 Vgl. Röm 8,28 5–104,21 Die hier wiedergegebenen Lieder sind abgedruckt in: Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung, S. 1.3–4.12.35.

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Am 31. März 1822 vormittags

Was er ordnet, das ist löblich und herrlich! und seine / Gerechtigkeit bleibet ewiglich. // Chor. Er hat ein Gedächtnis gestiftet seiner Wunder, der gnädige und barmherzige Herr. // Solo und Chor. Er giebt Speise denen die ihn fürchten, er gedenket ewiglich an seinen Bund. Er sendet eine Erlösung seinem Volk; / er verheißet, daß sein Bund ewiglich bleiben soll. // Chor. Heilig und hehr ist sein Name. // Gemeine. – Mel. Nun komm der Heiden etc. [1.] Triumphire Gottes Stadt, / Die sein Sohn erbauet hat! / Kirche Jesu freue dich, / Der im Himmel schüzet dich. // [2.] Ja der Herr der Herrlichkeit / Mache deine Grenzen weit. / Er verleih dir Gnad und Huld, / Einigkeit, Rath und Geduld. // Nach der Predigt. – Mel. Ach bleib bei uns etc. [1.] Preis dir, o Gott, und deiner Macht, / Die über Christi Kirche wacht, / Daß weder Spott noch Finsterniß / Den wahren Glauben uns entriß. // [2.] Wir halten treu an Jesu Lehr; / Er sei uns Meister, keiner mehr! / Und was noch dunkelt nah und fern, / Erleuchte bald der Geist des Herrn. //

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Am 5. April 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 2,20–21 Nachschrift; SAr 61, Bl. 66r–71r; Woltersdorff Keine Keine Keine

Aus der Predigt am Charfr. 1822 früh. Gal. 2 v. 20

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Was könnte uns wol genehmer sein an diesem großen und heilgen Tage der Christenheit, wo wir die Vollendung des menschlichen Heils durch den Tod des Erlösers feiern, als daß wir schon in der frühen Morgenstunde unsern Gemüthern die heilge Richtung geben den Tod des Erlösers in seiner ganzen Fruchtbarkeit aufzufassen! Und dazu geben uns die eben gelesenen Worte des Apostels Paulus die herlichste Veranlassung; denn es wird uns darin der Gegensatz aufgestellt, zwischen dem: „Christus lebt in mir“: und: „Christus ist vergeblich gestorben“: Und indem wir uns gläubig unter dem Kreuze des Erlösers versammeln um das heilige Mal zu begehen nach welchem wir nach seiner Anordnung mit ihm sollen vereint werden, was können wir uns da Wichtigeres fragen, als wie wir selbst in diesem irdischen dem Irrthum und der Sünde unterworfnen Leben in Beziehung auf diesen Gegensatz stehn: Lebt Christus in uns, oder ist er für uns vergeblich gestorben? Denn darauf beruht alles, und das ist der Zweck warum Christus gestorben ist, daß er in uns leben will, und lebt er nicht in uns so ist er für uns vergeblich gestorben. So laßt uns denn darauf unsre Aufmerksamkeit richten indem wir darauf sehen 1. Was es damit sagen will daß Christus in uns lebt. 2. Daß wir uns davor hüten mögen, daß er uns vergeblich gestorben sei. | 11 begehen] folgt Spatium von weniger als einer halben Zeile Länge ein Spatium von weniger als einer halben Zeile Länge

19 richten] folgt

2 Woltersdorff benennt häufig nur den ersten Vers des Predigttextes. Der Argumentationsgang der Predigt legt hier nahe, dass Schleiermacher über Gal 2,20–21 predigte.

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Am 5. April 1822 früh

1. Der Apostel sagt: „Ich lebe aber, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir; denn was ich jezt lebe im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes[.]“ Wenn der Apostel sagt: ich lebe nicht: so ist damit gesagt: Sofern ich nicht lebe, so bin ich gestorben. Und das ist ja oft wiederholt, daß wir schon durch die Taufe mit Christo begraben sind in seinem Tod um mit ihm zu leben. Darum sagt er auch vor unserm Texte, er sei dem Gesetz abgestorben und an einer andern Stelle: wir sollen der Welt absterben: und, indem wir mit ihm in den Tod begraben werden, sollen wir der Sünde absterben. Seht da das ist das Ich welches gestorben ist wenn Christus in uns lebt! Der Sünde sollen wir gestorben sein eben deßwegen weil er uns, da wir noch Sünder waren, so hoch geliebt hat daß er sich in den Tod gegeben: also aus Liebe zu ihm und weil uns in ihm die Herlichkeit eines neuen Lebens aufgegangen ist, als die Herlichkeit des eingebornen Sohnes Gottes, und weil wir es nicht mehr lassen können zu nehmen Gnade um Gnade; darum sollen wir der Sünde abgestorben sein. Aber sie regt sich immer noch in den menschlichen Herzen; es wird die Seele gelokt zur Sünde in mancherlei Weise: Das ist die Welt, dieses verworrne Andringen des Fleisches wider den Geist, dieses Verdunklen des Ewigen und Göttlichen in der Seele, auf Veranlassung dessen was die Welt uns vorhält, das soll in uns gestorben sein und muß es, wenn Christus in uns leben soll; denn die Gegenwart des Erlösers in der Seele, befreit sie allmählig immermehr von diesen | fremden Einflüssen. Je lebendiger wir ihn in uns fühlen, um so mehr beziehn wir Alles auf ihn und sein Reich, suchen das festzuhalten was dazu beitragen kann und das zu entfernen was uns stören könnte in der Treue in seinem Dienst. Und wenn sich die Seele entwöhnt hat den Lockungen zu folgen und sie nicht mehr bewegen kann was Andre reitzt, dann ist ihr die Welt abgestorben. Nicht daß wir in derselben nicht erkennen sollten den Abglanz der Herlichkeit des Vaters, nicht daß wir darin den nicht preisen sollten dessen Liebe die Menschen erquikt, aber die Welt die seinem Reiche fremd ist, die Welt der Verdunklung, diese muß uns ganz gestorben sein, damit Christus in uns lebe. Aber wie nun der Mensch unterworfen der Sünde und gelockt von der Welt, so wird es ihm nöthig, jedem für sich allein, und allen in ihrem ganzen Leben, daß sie sich Merkzeichen aufstellen dessen wofür sie sich zu hüten haben – das ist das Gesetz – und das ist eben so nothwendig als heilsam um die Erkenntniß der Sünde hervor zu bringen, aber verderblich, wenn wir meinen durch dasselbe gerecht zu werden, und in demselben unser Leben zu finden, – ist aber die Welt und die Sünde in uns gestorben, dann stirbt auch das Gesetz. Jemehr Christus in 5–6 Vgl. Röm 6,4; Kol 2,12 6–7 Vgl. Gal 2,19 7–8 Vgl. Kol 2,20 12 Vgl. Röm 5,8 14–15 Vgl. Joh 1,14.16 29 Vgl. Hebr. 1,3

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uns lebt, um desto weniger bedürfen wir solcher Merkzeichen, weil der Geist in uns sie überflüssig macht – und wir nicht mehr genöthigt sind darauf zu achten, indem es etwas Tieferes Leiseres und Göttlicheres ist, wodurch in uns die Erkenntniß der menschlichen Schwachheit hervorgeht, wenn wir nemlich durchdrungen von dem Gefühl des Todes des Erlösers, | alles das scheuen und von uns weisen, was damit im Widerspruch stehet – dann ist das Gesetz nicht mehr da, sondern es ist in uns, und wir sind ihm gestorben. Und wenn denn so dieses Ich der Welt und dem Gesetz gestorben ist, dann mag Christus leben in uns, weil wir nemlich was wir noch leben in dem Glauben stehen, der uns wenn wir auf ihn gerichtet bleiben, jedes in unserm Innern aufgenommene Wort immer mehr befestigt und verklärt, und uns den Herrn erkennen lehrt, als den wofür er sich ausgab, nemlich den Sohn Gottes. Und dieser Glaube wird uns betrübend zwar, aber auch erhebend und stärkend zur treuen Nachfolge des Herrn, daß wie wol er der Sohn Gottes war, er doch das Heil der Welt nicht anders vollbringen konnte, als indem er sich um der Sünde willen für uns in den Tod gab, damit wir befestigt würden in dem Glauben an das Reich welches er gestiftet hat, und erkennen daß der Friede Gottes und das ewige Leben wirklich darinn zu finden ist, und daß die Pforten der Hölle es nicht zu überwältigen vermögen. Wenn wir, die wir noch im Fleisch leben in diesem Glauben stehen, dann, wie der Apostel sagt, erhalten wir den Geist: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebet in mir“ – und welcher deswegen weil Christus in uns lebet ruft: Abba lieber Vater – den Geist dessen Frucht Liebe ist, und Friede und Gütigkeit, Sanftmuth, Milde, Tapferkeit und Reinheit der Seele – denn wenn diese in uns aufgegangen sind, so lebt Christus in uns, er | der nichts anders war, als Sanftmuth, Milde und Gütigkeit, welcher den Widerspruch der Sünde duldete, weil er der Fülle Gottes in seinem Innern sich bewußt war. Das ist das Eine was der Apostel uns vorhält, und wenn wir so dahin gekommen sind, daß Christus in uns lebet – O wie könnten wir dann anders, als in der reinsten Dankbarkeit, das innerste Gefühl davon haben, welches Heil er uns erworben, und heute an dem Tage seines Todes ihn preisen. Aber es hält uns nun der Apostel 2. ein ernstes Wort vor, daß wir uns nemlich hüten sollen daß Christus uns nicht vergeblich gestorben sei. Und diese Warnung, er richtet sie nicht etwa an Solche welche das Wort vom Kreuz verspotteten und verachteten, nicht an die denen das Wort vom 18 dem] den

22 sagt,] sagt:

12–13 Vgl. Mt 27,43; Lk 22,70; Joh 10,36 Gal 4,6 24–25 Vgl. Gal 5,22

20 Vgl. Mt 16,18

24 Vgl. Röm 8,15;

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Kreuz Ärgerniß und Thorheit galt, sondern an die welche es angenommen hatten – von denen der Apostel sagt: daß Jesus Christus ihnen vor Augen gemahlet sei – und doch muß er sie anreden: „o ihr Unverständigen, wer hat euch so verblendet“ – Wohlan denn, vergeblich überhaupt kann Christus nicht gestorben sein, denn er hat den Sieg errungen der ihm beschieden war, und das Heil der Menschen muß ihm dafür zum Lohne gegeben werden – Aber Einzelne giebt es, denen er, wenn wir auf den Theil ihres Daseins der noch nicht von ihm ergriffen ist, sehen, | denen er dann vergeblich gestorben ist, und wie mag das zugehen? Wir haben uns in den vorhergehenden Worten ein dreifaches Leben vorgehalten welches erst muß gestorben sein wenn Christus in uns leben soll. Wenn aber jenes dreifache Leben wieder aufgeht im Fleisch nicht im Glauben, dann kann auch er nicht leben in uns, und dann ist er vergeblich gestorben für uns. Aber der Apostel vergißt von diesen dreien Zwei, indem er nichts erwähnt von der Sünde und der Welt, sondern nur vom Gesetz allein redet, indem er sagt: „Denn so durch das Gesetz die Gerechtigkeit kommt, so ist Christus vergeblich gestorben“: Und gewiß wenn nicht die Sünde in dem Menschen lebt, nicht die Welt die ihn zur Sünde lockte, dann kann auch das Gesetz für ihn kein Leben haben, – und jemehr die in ihm lebt, desto mehr muß er eben sich zurückhalten von der Welt, weil er bedarf, was ihn äußerlich fesselt, um durch andere Lockungen die Lockungen der Welt zu besiegen – und so freilich ist in dem Einen das Drei eingeschlossen. In diesem Zusammenhange laßt nun noch kürzlich mich erwägen, was das sagen will: „wenn wir meinen durch das Gesetz gerecht zu werden dann ist Christus vergeblich gestorben“ – Das Gesetz wovon der Apostel hier redet, erinnert an das Gesetz Mosis, durch den | gegeben, dem Gott selbst das Zeugniß giebt er sei ein treuer Knecht gewesen – bezeugt durch wunderbare Erscheinungen, bezeugt auch für die Nachkommen durch das herrliche Gebäude des Tempels – und der Apostel sagt selbst: wer einmal das Zeichen des Bundes angenommen hat der ist schuldig das ganze Gesetz zu erfüllen. Was aber vom Gesetz Mosis gilt, das gilt auch von jedem andern christlichen Gesetze. Denn Gott ist es der vorher gesehen hat, wie weit die Geschlechter der Menschen wohnen sollen, und dessen Weisheit sich darinn offenbart, und jedes hat sein Zeugniß in all den guten und schönen Einrichtungen, die mit dem Gesetz zusammenhängen, und jeder der solchem Bunde angehört, der ist schuldig das ganze Gesetz anzunehmen, und zu erfüllen und nichts in der 28.34 Mosis] Moses 2–4 Vgl. Gal 3,1 Apg 17,26

29 dem] den

34 Gesetze.] Gesetze;

29–30 Vgl. Num 12,7

32–33 Vgl. Gal 5,3

34–36 Vgl.

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Über Gal 2,20–21

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Welt kann ihn davon befreien. Aber wenn wir durch das Gesetz meinen gerecht zu werden, dann ist uns Christus vergebens gestorben. Wenn wir dasjenige Leben in uns nähren wobei wir nichts im Auge haben als menschliche Regeln, und wenn auch viel Gutes und Herrliches sich in uns und andern davon erzeugt, wenn wir uns bei diesem beruhigen, was lebt dann in uns? Nicht Christus, sondern die Weisheit der Menschen die das Gesetz gegeben haben – Aber wenn die Herrlichkeit des Geistes in uns lebet, dann sind wir diesem fern! – | Jemehr wir uns aber bei dieser bürgerlichen Rechtschaffenheit beruhigen, um so weniger kann dann ein Verlangen nach jener Herrlichkeit in uns übrig bleiben, so leben wir dann ein Leben im Fleisch, und was in uns lebt ist der menschlich gute Geist menschlicher Einrichtungen, aber nicht Christus lebt in uns – so ist er dann vergeblich gestorben für uns. So gewiß wir durch sein Leben in uns zu einer viel größeren Seeligkeit gelangen können, als irgend ein menschliches Gesetz, oder andere Regeln in uns hervor zu bringen vermögen – So gewiß er für uns gestorben ist, o so gewiß müssen wir dem absagen daß wir nicht meinen gerecht zu werden durch des Gesetzes Werke – und nichts kann uns genügend beruhigen, als das Gefühl daß Christus selbst in uns lebt, und in wem er lebt, und in welchem die Frucht des Geistes aufgegangen ist, die bedürfen dann für sich des Gesetzes nicht weiter, als nur in so fern daß der Gehorsam ihnen Zeugniß giebt ihrer Treue gegen menschliche Einrichtungen und Ordnungen. Aber zweitens sagt der Apostel: „Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes; – denn verflucht ist jeder der das Gesetz nicht ganz erfüllt“: | und so redet auch jeder welcher noch an dem Leben des Gesetzes hängt – welches auch die Ordnungen und Regeln sind denen er folgt, das ist sein Spruch: Verflucht ist wer nicht hält: – Und eben davon hat uns der Herr erlöset! – O was ist es betrüblich, und wie wenig kann das innere Reich der Herrlichkeit dabei bestehen, wenn ein Mensch den andern flucht, um des Buchstabens des Gesetzes willen. Wenn ein anderes Gesetz sie versammlet als das der Liebe, welches alle zu Einem hinführt. So sagt der Apostel „wer Tage hält der hält sie dem Herrn – wer da fastet, der faste dem Herrn – wer da isset der esse dem Herrn“ – So vertilgt das Leben Christi in uns die Anhänglichkeit an jedes Gesetz welches die Liebe beengt, – und es wird uns immer das das Gesegneteste sein, wo wir nur sehen, daß das was geschieht, dem Herrn geschieht. Wie herrlich ist darum die Verheißung: Christus lebet in uns – Aber jeder in dem er lebt ist ein Anderer, er aber ist 1 ihn] ihm

30 betrüblich] betrübt

24–26.28 Vgl. Gal 3,10.13

37 immer das] immer das,

33–35 Vgl. Röm 14,6

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derselbe Christus – Und daraus entsteht in denen welche dem Gesetz gestorben sind keine Verringerung der Liebe, sondern sie freuen sich daß der Herr jeden besonders zurichtet. Und so hat | sie denn Christus von dem Fluch des Gesetzes erlöst. Wo sich aber der noch in uns findet da ist Christus vergebens gestorben, und gar nicht weit liegen die beiden Worte auseinander: „verflucht und gesegnet“ – und so bald wir uns noch um etwas anderes glücklich preisen, als daß der ganze Christus in uns lebet, dann ist er uns vergeblich gestorben, denn wir suchen unser Leben nicht in ihm sondern außer ihm. Bedenken wir nur daß es eben das Gesetz ist, welches Christum getödtet hat, und wie der unverständige Eifer der Diener des Gesetzes, ihn ans Kreuz gebracht, und wären sie fähig gewesen eine größere Herrlichkeit als die des Gesetzes aufzufassen, so hätten sie ihn nicht ans Kreuz geschlagen. Wer von dem Kreuz des Herrn Gewinn tragen will, der muß eben deswegen weil das Gesetz ihm gestorben, dem Gesetz der Sünde und der Welt absterben. Aber dann ist er auch [von] dem Fluch des Ge|setzes befreit, und hat nichts mehr damit zu schaffen, und kein Seufzen kann uns den Seegen stören, sondern wie der Herr alle einlud, so fordert er auch von uns die Seelen zu befreien die der Herr sich erkauft, und jeder der im Kreuz des Herrn sein Leben gefunden hat, kennt es als heiligen Beruf, Alle zu der Freiheit der Kinder Gottes zu führen. Aber nur im Glauben und in der Liebe welche durch den Glauben thätig ist. Dazu wollen wir uns oft und ernstlich ermuntern, und das Gesetz eben sowohl als die Sünde der Welt zu seinen Füßen niederlegen, damit sein Leben immer mehr in uns aufsteige, und jeder an der Liebe die durch den Glauben thätig ist, erkenne, daß wir seine Jünger sind.

3 jeden] jedem Zeile Länge

6 anderes] anders

12–13 geschlagen.] folgt ein Spatium von einer

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Am 7. April 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,19–20 Nachschrift; SAr 61, Bl. 72r–77v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 107v; Gemberg (Notiz) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Auszug der Predigt am Osterfest 1. Tag / 1822 Joh. 20 v. 19.

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Das war das Erstemal daß unser Erlöser nachdem er am Morgen desselben Tages auferstanden war sich seinen Jüngern, welche bei verschloßnen Thüren versammlet waren, zeigte, und wenngleich er vorher schon der Maria und wahrscheinlich auch dem Petrus erschienen war, so erzählt doch Johannes daß erst als sie ihn vereint erblickten die Jünger froh wurden. – Was könnten wir beßres thun in dieser unsrer Osterbetrachtung als daß wir uns zurückversetzen in jene Zeit um die Freude der Jünger über die Auferstehung des Herrn mitzufühlen und zu theilen suchen. – Das sei es also worauf wir unsre Aufmerksamkeit richten. Allein, um die Freude der Jünger mit ihnen zu theilen müssen wir zuvor auch ihre Trauer und die zweifelnde Ungewißheit aufnehmen und diese verfolgen bis zu dem Augenblick wo sie froh wurden, um dann auch ihrer Freude theilhaftig zu werden[.] So laßt uns 1. zurükgehen in die vorhergehenden Tage wo es so kam wie der Erlöser vorhergesagt hatte: sie würden den Hirten schlagen und die Schaafe würden sich zerstreuen: – wo die Stunden kamen von denen er gesagt hatte: Über ein Kleines so werdet ihr mich nicht sehen, und euer Herz wird voll Trauerns sein: – Es war aber keinesweges der Schmerz der Jünger vorzüglich gerichtet auf die Leiden die der Herr erduldet hatte, als körperliche Schmerzen und als Verletzungen seines geistigen Gefühls, denn davon finden wir 2 Woltersdorff benennt häufig nur den ersten Vers des Predigttextes. Der Argumentationsgang der Predigt legt hier nahe, dass Schleiermacher über Joh 20,19–20 predigte. 5 Vgl. Mt 28,9–10; Mk 16,9–10; Joh 20,14–17 6 Vgl. Lk 24,34; 1Kor 15,4–5 18–19 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7) 20–21 Vgl. Joh 16,6.16

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in den Nachrichten über die Stimmung der Jünger gar keine Spur, – ja selbst als der Herr ihnen nun | wieder erschien und ihnen seine Hände und seine Seite, d. h. in denselben die Zeichen der Verletzungen vorzeigte und sie aufs deutlichste darauf hinwies, so sehn wir nicht daß ihnen das als eine Erinnerung an seine früheren Schmerzen betrübend war, sondern wie es ihnen der Herr darthat als Zeichen daß er nicht etwa nur ein Geist wäre sondern derselbe der am Kreuz getödtet war: so gereichte es ihnen nur zur Gewißheit der Wiedererkennung. Und also nicht jene sinnliche Seite ist es die wir zu beobachten haben um [den] Uebergang zu ihrer Osterfreude zu erkennen und zu fühlen. Wenn es nun jezt viele Christen giebt die sich in der Betrachtung des Leidens des Erlösers ganz vorzüglich in die sinnliche Seite desselben verlieren, und bei dem Einzelnen was er geistig und körperlich litt stehen bleiben, so mögen wir das nicht grade tadeln, denn es ist auch ein christliches Gefühl, aber das müssen wir bekennen, es ist nicht das aus welchem uns die rechte wahre Osterfreude aufgehen kann. Und was war es also worüber die Jünger trauerten und nun erst froh wurden da sie den Herrn sahen? Das lernen wir am besten aus dem Gespräch des Herrn mit den beiden nach Emmaus gehenden Jüngern. Als er diese fragte wovon sie redeten da erzählten sie ihm, als ob er nicht davon wußte die Geschichte des Jesum von Nazareth, – wir aber, setzten sie hinzu: hofften er sollte Israel erlösen: Das war es also was ihr Herz mit Trauer erfüllte: sie hatten gehofft er werde Israel erlösen aber als nun sein Leben so geendet so glaubten sie daß sie nun ihre Hoffnungen müßten fahren lassen; sie konnten es nicht glauben daß die Erlösung schon | vollendet sei durch den Tod des Herrn. Wir dürfen nicht glauben daß falsche Vorstellungen von der Erlösung ihrem Unglauben zum Grunde gelegen haben und sie nur deswegen das Herz nicht fassen können zu dem Vertrauen daß das Reich Gottes sich gründe auf des Herrn Tod. Nein es war ihr eignes Gefühl von sich selbst welches diesen Unglauben hervorbrachte: Das wußten sie der Herr hatte keine andern Zeugen als grade sie. Und sie selbst wie weit mußten sie sich noch zurückfühlen in Beziehung auf den großen Beruf sein Reich auszubreiten zur Erlösung der Menschen, wie wenig geschickt ihn zu erfüllen, wovon ihnen ja der Herr selbst das Zeugniß gegeben hatte als er sprach: „ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es noch nicht tragen“: wenn sie sich nun dessen bewußt waren daß sie das noch nicht tragen konnten, wie natürlich daß ihr Herz voll Trauerns war, so daß sie sagten: „wir haben zwar gehofft er werde 19 da] der 18–21 Vgl. Lk 24,13–24

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Israel erlösen, allein nun er so von uns genommen ist, wie soll es nun werden!“ Dieser Unglaube daran, daß die Erlösung der Welt durch den Tod des Herrn am Kreuz vollbracht werden konnte da von dem neuen Leben welches er zu bringen gekommen war noch kaum die ersten Regungen sich fanden, dieser Unglaube muß uns natürlich und verzeihlich erscheinen in den Jüngern des Herrn. – Ja selbst wenn wir erwägen was sich seitdem in der christlichen Kirche begeben hat durch die verderblichen Wirkungen dieses Unglaubens o so laßt uns, das Beispiel der ersten Jünger im Auge habend, das mit Milde beurtheilen, und mit christlicher | Liebe ertragen. – Aber freilich daß die Menschen auch nachdem ihnen verkündigt war Alles von dem Tode und der Auferstehung, als der Tod des Herrn als das tiefste Geheimniß des göttlichen Rathschlusses der Erlösung, als die Vollendung derselben ihnen kund gemacht wurde, und sie auch da größtentheils nicht den Muth fassen konnten an diese Vollendung der Erlösung zu glauben, das hat die traurigsten Folgen gehabt. Denn daher kam es eben daß sie glaubten ihre Zuflucht nehmen zu müssen zu andern Dingen, um zu erlangen wornach sie sich sehnten; daß ihnen der Gehorsam den sie Christum zu leisten hatten und die Fürbitte Christi bei Gott nicht mehr genügte, und sie in diesem verkehrten Bestreben eine eigne Gerechtigkeit zu bilden suchten durch Zusammensetzung solcher Werke welche nach äußern Regeln konnten vollbracht werden, und daß sie der Fürbitte Christi bei Gott noch die Fürbitte sündiger Menschen zu Hülfe nahmen, eben weil sie an dem Tod des Erlösers nicht genug hatten. Und auf der andern Seite die Verkehrtheit derer denen aus demselben Grunde das Kreuz des Herrn ein Aergerniß und eine Thorheit wurde, und die weil sie sich zu diesem Glauben an den Tod des Herrn dieser Vollendung der göttlichen Liebe, nicht entschließen konnten, sich an die Barmherzigkeit des himmlischen Vaters wendeten und meinten mit ihrer unvollkommnen Tugend würde der ewige Vater fürlieb nehmen und von der menschlichen Schwachheit nichts anders erwarten. – Betrüben kann und soll uns dieser Unglaube, aber wenn wir betrachten wie er auch in den ersten Jüngern war und nicht eher wich bis sie den Herrn sahen, so mögen wir | uns dessen getrösten daß es nicht Worte menschlicher Ueberredung sein können die den Glauben an den heilbringenden Tod des Erlösers wirken, sondern, froh werden sie Alle nur werden wenn der Herr ihnen erscheint und sie ihn sehen wie er ist! Aber auch wir die wir durch die Gnade Gottes von diesem Unglauben erlöset sind, und an der Freude der Jünger theilnehmen können, o laßt uns doch nicht müde werden in unserm Innern die Spuren dieses Unglaubens aufzusuchen wo wir sie finden möchten, und es wird uns nicht fehlen sie 1 Israel] Isral

16 gehabt.] gehabt;

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zu finden da wir durch den Tod des Erlösers in unsern Seelen immer neue Erfahrungen machen; denn aller Unglaube ist überall derselbe, und wir werden Alle das Bekenntniß daß wir noch immer zu streiten haben gegen unsern Unglauben ablegen müssen: Vollendet ist das Werk der Erlösung von Gott durch den Tod des Herrn, aber der Genuß desselben verbreitet sich nur allmählig, eben so in seinem Umfange, als über jede einzelne Seele. Und dieses geschieht wie alles Menschliche in der Welt nicht mit ununterbrochnen Fortschritten, es hat zu kämpfen mit mancherlei Wechsel von Licht und Dunkelheit, und immer wieder neue Erleuchtungen und Seegnungen müssen sich von Oben herab verbreiten um das Hindernde theilweise zu vernichten: So giebt es also noch einzelne Erscheinungen in verschiednen Gebieten und Zeiträumen, welche sich | zeigen als theilweise Erlösungen, ausgehend von dem Einen großen Erlösungswerk. Wie oft ist so ein Einzelnes vollbracht durch eben so geheimnißvollen Rathschluß Gottes, aber wir glauben nicht daß die theilweise Erlösung also vollbracht sei, und dieser Unglaube kommt nicht immer nur daher, weil wir zaghaft uns selbst mißtrauen in Beziehung auf unsern Dienst; denn an das Sichtbare gefesselt vermögen wir so oft nicht den Sieg des Lichtes über die Finsterniß zu schauen mit dem geistigen Auge wenn er dem leiblichen noch verborgen ist. Wenn das Gute, eben in seinem Siege, dem Bösen zu unterliegen scheint, wie der Erlöser seinen Feinden zu unterliegen schien – das faßt das menschliche Herz nicht leicht sondern ergiebt sich eher der Verzagtheit und dem Unglauben: ja es wird uns zuweilen so schwer uns zu einem Glauben zu erheben! Der Anfänger und Vollender unsers Glaubens kann uns helfen, o laßt durch seine Kraft uns in Allem was sich auf das Reich Gottes bezieht in die geistige Freude hineinwohnen welche den Jüngern aufging als sie den Herrn sahen und nun glaubten. Und um so zuversichtlicher können wir uns diesem Glauben überlassen, wenn einmal der Glaube an den Erlöser gegründet ist, an den Erlöser der sterben mußte und sagte: „das Waitzenkorn muß in die Erde gelegt werden und ersterben um viel Frucht zu bringen“: So muß auch oft zu ersterben scheinen und äußerlich untergehen was | der Herr bestimmt hat zu einem wesentlichen Gliede der Erlösung, aber eben wie er den Tod besiegt hat und wieder auferstehn mußte so wird auch solches wieder auferstehn. Wenn also etwas unterzugehen scheint und uns verborgen ist, darüber mögen wir uns leicht trösten in dem Glauben daß das zu dem Rathschluß Gottes gehört: Es wird wieder auferstehen und wir werden froh sein wenn wir es sehen! 4 müssen:] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 24–25 Vgl. Hebr. 12,2

30–31 Vgl. Joh 12,24

13 Einen] Einem

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2. Laßt uns die Jünger des Herrn begleiten von jenen Stunden an wo noch Nichts die Trauer über seinen Tod unterbrach, bis zu dem Augenblick wo sie den Herrn sahen und froh wurden. Wenn, wie unser Glaube voraussetzt, das Werk der Erlösung vollendet war durch den Tod des Herrn so müssen wir uns denken können: es wäre ja wol möglich gewesen daß Gott ihn ohne daß ihn Menschen wiedergesehn hätten der Verwesung entrissen und erhoben hätte zu seiner Rechten. Wie hätte es dann gestanden um die Jünger des Herrn? Wir können uns diese Frage wol nicht vorlegen ohne einen geheimen Schauer zu empfinden, denn wie unwahrscheinlich muß es uns vorkommen daß sie sich dann würden haben erheben können über die zaghafte Trauer! – Und wenn es dabei geblieben wäre daß sie sich zerstreut hätten so hätte natürlich durch sie sein Reich nicht gegründet und ausgebreitet | werden können; denn nur dann wenn sie da zusammengehalten hätten in treuer Liebe, wäre es möglich gewesen, daß die Verheißung daß sie würden erfüllt werden mit Kraft aus der Höhe, an ihnen wäre in Erfüllung gegangen, so daß sie sich dann seiner frühern Worte erinnernd selbst hätten sagen können: „mußte nicht Christus solches leiden um zu seiner Herlichkeit einzugehn?“ Aber wir mögen uns wol freudig und dankbar sagen: das ist uns das erste Beispiel der Gewährleistung davon daß der Herr uns nicht versuchen will über unser Vermögen; denn ob es das menschliche Vermögen der Jünger bei allem Glauben daß er der Sohn Gottes sei, ob es nicht doch ihr Vermögen überstiegen haben würde fest an ihn zu halten wenn das Letzte was sie gesehen hätten sein Tod gewesen wäre, das mögen wir uns nicht zu beantworten wagen. Aber so laßt uns dieses auch so nehmen wie die Schrift es uns giebt, eben als jene Gewährleistung daß Gott auch uns die wir nichts anders suchen als diese Bestätigung, niemals versuchen wird über unser Vermögen, daß also immer wieder ein Glanz der Auferstehung in die Seelen scheinen wird (wenn sie in Gefahr sind zu verzagen) und sie froh machen. Aber dennoch hatte der Herr recht daß er sie schalt: „Ihr Thoren und trägen Herzens zu glauben – “ noch dazu da ihnen schon Zeichen geworden waren; denn | so sagten jene Jünger selbst sie seien erschreckt worden durch verschiedne Gerüchte daß er auferstanden sei. Daß da nicht Eins ihnen das Andre erhellte, daß bei diesen Zeichen sich die schlummernde Erinnerung nicht regte sondern auch diese freudigen Vorzeichen nur dumpfe Schrecken wirkten, darüber schalt er sie mit Recht: „trägen Herzens“ – 13 gegründet] gegründ 15–16 Vgl. Lk 24,49 18–19 Lk 24,26 32 Lk 24,25 33–34 Vgl. Lk 24,22

21–22.27–29 Vgl. 1Kor 10,13

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Und wenn wir uns nun des Glaubens getrösten daß der Herr eben so mild und barmherzig gegen uns sein werde, so mögen wir doch sagen: auch wir verdienen eben so von ihm gescholten zu werden, wenn ohnerachtet solcher Vorzeichen wir doch nicht glauben. Und wie oft begegnet uns nicht dasselbe, wie oft verdunkelt sich nicht in unsrer Seele die Verheißung daß der Herr die Seinen nie verlassen werde, daß er was sein Werk ist überall schützen werde, und daß die Gemeine des Erlösers von keiner Gewalt des Bösen soll überwunden werden, wie oft, wenn sich uns ähnliche tröstliche Zeichen aufdecken von dem Fortschritt der Freiheit der Kinder Gottes, werden uns dennoch die Worte der Verheißung die sich darauf beziehen nicht klar: dann sind wir Thoren und trägen Herzens die es kaum verdienen daß der Herr so freundlich ist. Aber wenn wir das Zeugniß der Jünger von einer andern Seite betrachten, so müssen wir doch gestehen daß sie jeder seine eigne Erfahrung haben wolten von der Begebenheit der Auferstehung des Herrn, und daß sie darin ganz recht hatten daß | sie den Gerüchten so nicht glaubten da ihnen die Verheißung doch nicht klar war. Ja das ist die ganze tiefste und geheimste Art des Evangeliums: es ist freilich ganz Sache des Glaubens weil es sich nicht durch menschliche Mühe und Kunst übertragen läßt, aber es ist ein Glaube der durchaus beruht auf die eigne Erfahrung die ein jeder mit sich selbst macht, und wer sie nicht gemacht hat, dem können wir nicht verdenken daß er nicht glaubt, sondern können nur Gott bitten daß er sie ihn möge machen lassen. So waren die Jünger, und so war ihr Schreken daß der Herr nicht im Grabe gefunden war. Es war ihnen nicht genug daß hie und da ihn Einzelne wollten gesehen haben, und dieser Gerüchte wegen konnten sie sich nicht erheben zu solchem Glauben: und das können wir nicht anders als loben; denn ein Glaube der sich nur stützt auf fremde Erfahrung, auf fremdes Zeugniß, wie kann der lebendig machen? wie kann der von innen heraus uns treiben daß ihm Werke folgen mögen? sondern wenn der Glaube nur erzeugt ist durch die Ueberzeugung der Andern so folgen die Werke nur wie die des Gesetzes. Der rechte Glaube der den Menschen seelig macht und der durch seine eigne Kraft alle Werke hervorruft der kann nicht anders als entstehn und bestehn durch das eigne Bewußtsein der frohen lebendigen Gemeinschaft der Seele mit dem Erlöser; wenn sie das nicht erfährt an der Freudigkeit wenn sie einmal sehnsuchts|voll ausrief: „Herr ich glaube hilf meinem Unglauben!“ o dann kann die Seele nicht glauben! Und so mögen uns auch hier die Jünger in ihrer Beharlichkeit im Unglauben ein herliches Wahrzeichen sein davon daß wir alle[,] jeder für sich selbst die eigne Erfahrung machen müsse um zu glauben. 6 Vgl. Mt 28,20

7–8 Vgl. Mt 16,18

36–37 Mk 9,24

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Und nun laßt uns übergehn zu dem eigentlichen unmittelbaren Gegenstande unsrer heutgen Festbetrachtung: Da wurden die Jünger froh: beschreiben läßt sich diese Freude der Jünger als sie den Herrn sahen nicht und vergebens würde es die höchste menschliche Kunst versuchen sie vollkommen darzustellen, aber mitfühlen können wir sie wenn wir uns durch ihren Unglauben und ihre Zweifel mitdurchgekämpft haben, und loben können wir die Jünger daß sie nicht früher glaubten dann aber auch nicht länger widerstanden als sie die Erfahrung machten, sondern niederfielen und Gott lobten. Aber wir müssen uns noch fragen was doch dazu gehörte daß sie dieser Freude voll werden konnten und sich ihr ganz überlassen? Und da müssen wir dann sagen: Wenn sie nicht ganz wären gerichtet gewesen auf die geistige Natur der Erlösung so hätten noch mehrerlei Bedenklichkeiten und Zweifel ihre Seelen aufgehalten, sie hätten an dieselbe noch nicht glauben können, hätten nicht froh werden können daß sie den Herrn sahen; denn sie hätten | wol gemeint daß zu dem Siege des Herrn Öffentlichkeit gehöre. Und freilich wenn er sich hätte zeigen wollen dem Volke, unverletzlich wie er sein mußte, als der der den Tod überwunden hatte und auferstanden war, was hätte er da wirken können! denn gewiß wären Tausende die ihn als Israels Propheten erkannt hatten aufgestanden um für ihn zu kämpfen und was hätte er da auch für die welche ein weltliches Reich erwarteten leisten können! Schon wenn diejenigen die für irgend eine gute Sache kämpfen unterdrückt und zerstreut scheinen und sich doch wieder vereint darstellen so geht ein Schreken Gottes vor ihnen her und keiner weiß wo es ein Ende nehmen will: wieviel mehr nun der der selbst getödtet war, gewiß wären ihm tausend und zehntausend zugefallen! Aber daß er das nicht wollte sondern vielmehr alle leiblichen Berührungen zurükhaltend nur erschien um ihren Glauben zu stärken. Wenn sie also den Wahn von einem irdischen Reiche noch fest gehalten hätten so wäre ihre Freude sehr getrübt gewesen. Und so ist es noch immer: auch der Fortsetzung der Erlösung wird nur der froh der göttlichen Verheißungen der es nie vergißt daß er als der Diener Gottes nur einem Reiche welches nicht von dieser Welt ist angehört. Ja nur wer Alles als vergeblich achtet was sich nicht auf das geistige Reich des Herrn bezieht, nur der kann die Freude theilen.

27 stärken] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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[Liederblatt vom 7. April 1822:] Am ersten Ostertage 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem etc. [1.] Auferstanden, auferstanden / Ist der Herr, der uns versöhnt! / O wie hat nach Schmerz und Banden, / Gott mit Ehren ihn gekrönt! / Dort zu seines Vaters Rechten, / Ueber Schmach und Tod erhöht, / Herrscht er nun mit Majestät. / Freut euch seiner ihr Gerechten, / Und ihr seine Feinde bebt. / Hallelujah, Jesus lebt. // [2.] Uns vom Tode zu befreien, / Sank er in des Grabes Nacht; / Uns zum Leben einzuweihen / Steht er auf durch Gottes Macht. / Tod, du bist durch ihn bezwungen, / Deine Schrecken sind zerstreut! / Von der Furcht sind wir befreit; / Leben ist uns nun errungen. / Jauchzet, ihr die man einst begräbt / Jauchzt dem Höchsten, Jesus lebt. // [3.] Aus dem Grab uns zu erheben, / Ging er zu dem Vater hin ; / Laßt uns ihm zur Ehre leben, / Dann ist Sterben uns Gewinn. / Haltet unter Lust und Leiden / Im Gedächtnis Jesum Christ, / Der vom Tod erstanden ist! / Unvergänglich sind die Freuden / Deß der nach dem Himmel strebt. / Singet, preiset Jesus lebt. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Was Gott thut, das etc. [1.] Auf auf ihr Christen, Jesus lebt, / Lobsingt dem Ueberwinder! / Herbei wer dankend ihn erhebt, / Den Retter aller Sünder. / Er ließ sie nie, / Er starb für sie; / Heil uns, nun lebt er wieder / Für alle seine Brüder. // [2.] Er lebt, er lebt, o weiht ihm Dank / Mit reiner frommer Seele! / Ihm schalle jeder Festgesang, / Und jedes Herz erzähle, / Wie herb er stritt, / Wie viel er litt, / Um tausend Seligkeiten / Uns Armen zu bereiten. // [3.] Besiegt ist seiner Feinde Macht, / Und er mit Ruhm gekrönet; / Er hat sein großes Werk vollbracht, / Und uns mit Gott versöhnet. / Nun ist sein Heil / Der Gläubgen Theil; / Drum laßt euch euren Glauben / Durch keine Trübsal rauben. // [4.] Schaut hin zu seiner Herrlichkeit, / Und lernt als Helden leiden! / Schaut hin, die Leiden dieser Zeit / Sind Keime ewger Freuden. / Nur frisch gewagt / Und unverzagt! / Nach wenig bangen Stunden / Ist alles überwunden. // [5.] Was ist der Tod? ein Schlaf ist er, / Ein sanfter Schlaf der Müden. / Bald glänzt ein schöner Tag daher, / Dann stehn wir auf im Frieden. / O Tag des Danks, / Des Lobgesangs! / Gern wollen wir nun sterben, / Wir wissen, was wir erben. // [6.] Erstandner! gieb nur daß wir hier / Auf deinen Pfaden wandeln; / Und stets aus himmlischer Begier / Als Kinder Gottes handeln. / Hier selig sein, / Uns deiner freun, / Und einst dir näher kommen, / O welcher Lohn der Frommen. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Erschienen ist der etc. [1.] Wir sind, o Herr, dein Eigenthum; / O welches Glück und welcher Ruhm! / Mit dir gekreuzigt Gottes Sohn, / Sind wir auch auferstanden schon. / Hallelujah. // [2.] Nie komm es mir aus meinem Sinn, / Was ich, mein Heil, dir schuldig bin, / Damit ich mich in Liebe treu / Zu deinem Bilde stets erneu. / Hallelujah. // [3.] Dich halt ich fest, o Jesu Christ, / Der du vom Tod erstanden bist, / Du bists, der alles in uns schafft, / Dein ist das Reich, dein ist die Kraft! / Hallelujah. //

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Am 8. April 1822 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostermontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,34–41 (Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 61, Bl. 78r–85r; Woltersdorff Keine Keine Tageskalender „Über Epistel“

Am 2. Ostertage 1822 Nachmittag. Apost. Geschichte 10 v. 34–41.

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Dieser Abschnit der heiligen Schrift verbindet das Fest welches wir jetzt beschließen, mit dem welches uns noch bevorstehet, das Fest der Auferstehung des Herrn mit dem der Ausgießung seines Geistes – denn es versetzt uns das Evangelium in die Zeit wo der Geist schon ausgegossen war, und sich mächtig regte zur Ausbreitung des Evangeliums, und wir sehen hier den Apostel schon begriffen in dem Beruf welchen der Herr seinen Jüngern verwehrt hatte, bis sie würden ausgerüstet sein mit Kraft aus der Höhe. Aber von dem Augenblick an, wo die Fülle des Geistes in ihnen gebot, nannten sie sich in einem ausgezeichneten Sinn die Zeugen seiner Auferstehung, und so knüpft auch hier der Apostel seine Belehrung an das Leben und den Tod des Herrn aber zuletzt an seine Auferstehung, durch welche er eben erst geworden war, ein Herr über Alles. In dieser Verbindung erblikken wir die ganze Ordnung welche durch die Kraft des göttlichen Geistes von der Auferstehung an, die Verbreitung seines Reichs auf Erden genommen, und die Verbreitung des Reiches Gottes, in unmittelbarer Beziehung auf die Auferstehung des Herrn laßt uns jetzt näher mit einander betrachten. | Das Erste was wir zu erwägen haben ist das was in unserm Texte das Letzte ist – Was der Apostel hier so bestimmt heraushebt nemlich: die Beschränktheit in den Offenbarungen des Erlösers nach der Auferstehung, daß er sich nicht hatte allem Volk kund gemacht, sondern nur den auserwählten Zeugen, das könnte bei einer oberflächlichen Betrachtung eher dem Gange 2 34–41] 34–35 8–9 Vgl. Lk 24,49

13 den Tod] dem Tode

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des Evangeliums zum Vorwurf gereichen, indem man sich denken könnte wie überhaupt die Menschen geneigt sind Gott zu meistern, wenn die Auferstehung des Herrn unmittelbar wäre kundgeworden, wie Viele dann gläubig geworden wären. Aber der Apostel verschweigt keineswegs diesen un[ ] scheinenden Umstand, sondern er preiset die Weisheit und Barmherzigkeit Gottes in den Führungen der Menschen, und in der That g. F., wenn wir es näher erwägen werden auch wir es ganz natürlich finden, und einsehen daß es so sein mußte. Der Apostel weiset in seiner Rede seine Zuhörer zurück auf die bekannte Geschichte, indem er hinweist auf Johannes den Täufer, von dem wir wissen daß er herumgegangen war das Evangelium zu verkünden, – da war es nun freilich einer großen Menge kundgeworden, aber mit welchem Erfolg? Mit einem nach Verhältniß der Menschen sehr | abwechselnden, denn oft wurde er bewundert und angebetet, oft aber auch verspottet, und oft mußte er Widerstand erdulden. So gab es unter Allen die ihn gesehen haben, doch nur Wenige welche wahrhaft seine Zeugen geworden, und so würde es dann auch gegangen sein in der zweiten Geschichte seiner Auferstehung. Aber gesetzt diese wäre eben so bekannt geworden, wenn wir die Zahl derer welche gleich damals ihn erkannten mit der [derer] vergleichen welche überhaupt durch die Barmherzigkeit Gottes sind gläubig geworden, wie gering konnte der Natur der Sache nach die Zahl derer sein welche seine sinnliche Anschauung haben konnten, und wie viel größer mußte die Zahl derer sein welche nur durch das Zeugniß der andern konnten gläubig werden an seinen Namen. Daher ist es natürlich daß es nur eine kleine Anzahl [Menschen] sein konnte, welche die sinnliche Gewißheit seiner Auferstehung hatten, und indem nun durch Hinweisung dieser, ein Reich Gottes verkündet wurde, und verbreitet, so wurde eben dadurch, (daß die Jünger die ihn leiblich geschaut nichts voraus haben vor uns,) das wahre Geheimniß des Glaubens kund. Denn wie anders hätten die Menschen erlöst werden können, als indem der Sohn Gottes menschliche Gestalt an sich genommen, und ihnen in | einem unmittelbar beschränkten Wirkungskreis, unmittelbar bekannt wurde und auf sie wirkte. Aber die welche mit ihm gelebt haben in den Tagen seiner Auferstehung, und die vor allen übrigen die Gewißheit seiner sinnlichen Anschauung voraus zu haben scheinen, o sie haben nichts voraus in der Seeligkeit des Glaubens, vor den heilsbegierigen Gemüthern, die von ihnen eben so sicher muß angenommen werden. Daß die wahre Kraft des Glaubens nicht beruht auf die unmittelbar sinnliche Gewißheit, mag uns jener Samariter beweisen: 5 un] folgt ein Spatium für den zweiten Wortteil 10 Geschichte] Geschichten 31 einem] einen 32 wirkte.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 36 die] Kj da sie 37 werden. Daß] werden, daß 38–39 beweisen:] folgt ein Spatium von etwa anderthalb Zeilen Länge

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[ ] sie glaubten nun nicht mehr um ihres Zeugnisses willen, sondern weil sie es selbst erfahren, aber so können und sollen auch umgekehrt alle die die sinnliche Gewißheit seiner Auferstehung nicht haben können, dennoch wenn das Wort vor ihre Seelen gebracht ist und Wurzel gefaßt, gläubig sagen: wir glauben nicht mehr um des Zeugnisses willen, sondern um deswegen weil wir seine geistige Gegenwart [und] Nähe in unsrer eignen Seele erfahren haben. | Und wie uns die Auferstehung des Herrn selbst, gleichsam abbildet die Ueberzeugung seiner geistigen Gegenwart, die aber mit den Augen des Leibes nicht wahrgenommen werden kann, so gründete sich nun auch die Predigt des Apostels nicht allein auf das Zeugniß seiner menschlichen Geschichte, sondern seiner Auferstehung. So ist es das Wesen des Glaubens daß es ursprünglich anfängt mit der unmittelbar sinnlichen Verehrung, aber daß es dann sich verklären muß und verherrlichen, zu dem Glauben daß wahrhaft dieser Jesus von Nazareth gelebt, seinen Feinden überliefert, gekreuzigt und auferweckt ist, und so der Heiland aller Menschen geworden, und der ist von welchem allein Allen Heil kommen muß. Zu diesem Ersten nun daß die äußerliche Grundlage alles Glaubens an den Erlöser und die geschichtliche Kunde davon, verhältnißmäßig nur auf Wenige ruhen konnte, ist nun das Zweite dieses: daß wer die Erkenntniß und Erfahrung seiner geschichtlichen Kunde hat, nun auch verpflichtet ist, sein Zeuge zu sein auf Erden. „Er hat uns geboten zu predigen dem Volke, und zu zeugen von der Erkenntniß“ – | das war das Wort der Jünger von dem Tage an wo sie die Taufe des Johannes empfingen, – denn wenn die Apostel und die Andern welche mit dem Herrn gewandelt waren, wenn die nicht in sich durch die kräftige Stimme des göttlichen Geistes die Verpflichtung gefühlt hätten, seine Zeugen zu sein, so hätte das Reich Gottes auf dem Grunde seiner menschlichen Erscheinung nicht gebaut werden können, sondern die Verbreitung desselben wäre nur dem Zufall überlassen geblieben, und vielleicht bald erloschen. Aber wir finden in allen menschlichen Dingen dasselbe, weil wir wissen daß alles was auf die sinnliche Verehrung der Menschen beruht nur das wenigste im Menschen sein kann, eben aber weil alle, in allen menschlichen Dingen ein Recht haben, und einen gegründeten Anspruch und weil eben jeder das Bedürfniß fühlt, so fühlt jeder die Neigung und Pflicht, von dem was ihm wichtig ist ein Zeugniß abzulegen vor 7 unsrer eignen] unsere eigene 16 dem] den 16 Jesus] Jesu diesen 28 dem] den 33 erloschen] erloschen sein 2–3 Vgl. Joh 4,42

25–26 Vgl. Apg 10,42

20 diesem]

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andern. Das ist die natürliche Seite von dem weitern Verlauf des Evangeliums. So wie die Jünger waren befestiget worden durch die Auferstehung, – und er ihnen aufgeschlossen hatte die göttlichen Geheimnisse, so konnte es nicht fehlen die Stunde mußte kommen, wo die innere | Ueberzeugung gewaltsam herausbrach, und sie anfingen seine Zeugen zu werden so weit sie kommen konnten, zu verkünden daß er der Sohn Gottes unser Fleisch und Blut an sich genommen, und von seiner menschlichen Erniedrigung und göttlichen Erhöhung zu zeugen. Aber diese heilige Verpflichtung der Verbreitung des Evangeliums ist keineswegs mit denen erloschen welche Zeugen seines menschlichen Lebens gewesen. Die heilige Schrift lehrt uns daß die Gemeine des Herrn der Leib des Herrn ist, und was die Menschen die noch in dem Schatten des Todes wandeln, anzuschauen und zu empfinden vermögen mit den Sinnen ihres Gemüths, das soll ihnen ersetzen die unmittelbare Wahrnehmung des Geistes, in den Gemeine-Gliedern, – das ist der Sinn jenes großen geheimnißvollen Bildes, denn der Leib ist ja dasjenige wodurch der Geist sich offenbart und mittheilt, und so nun soll die göttliche Kraft des Erlösers sich mittheilen durch diesen seinen geistigen Leib an welchem wir alle Glieder sind. Und wie der Herr selbst umherwandelte und lehrte, und heilte, | so soll auch seine Gemeine sich verbreiten, und wohlthun und heilen, und das ist die heilige Pflicht aller Christen, so wie Zeugniß von dem Herrn abzulegen die Pflicht der Apostel war, und das kann die ganze Kirche des Herrn nur erfüllen, indem es jeder an seinem Theil erfüllt. Und so sollen auch wir es denn an unserer Seele erfüllen, indem wir, mit unserm ganzen Dasein an diesen seinen Leib uns halten, sollen wir ein Zeugniß ablegen von seinem wunderbaren Dasein, und eben so tröstend und hülfreich, sei es im größeren oder kleineren Umfange des Wirkens, uns beweisen an den Gliedern wie er es that, und sie alle zu dem Gehorsam seiner Lehre und seines Kreuzes sammeln. [ ] so auch der Eindruck der sein muß, die leibliche Gegenwart des Herrn zu ersetzen, und durchdrungen zu sein von dem Gefühl seines göttlichen Wesens und seiner himmlischen Kraft, Kunde zu geben allen die im Stande sind sie zu vernehmen. Und dieses bringt uns auf das Letzte unserer Betrachtung, welches im Texte das Erste ist: „Petrus that seinen Mund | auf und sprach: nun erfahre 1 dem] den 12 dem] den unsern 25 seinem] seinen einer Zeile Länge

18 welchem] welchen 21 dem] den 24 unserm] 28 dem] den 29 sammeln.] folgt ein Spatium von

11–12 Vgl. Eph 1,22–23; Kol 1,24

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ich in der Wahrheit daß Gott die Person nicht ansiehet“ – Welche Worte wir gewiß nicht so verstehen als wenn in allerlei Volk der Mensch welcher Gott suchet und recht thut, ihm angenehm wäre, ohne alle Beziehung auf unsern Erlöser, denn so würden wir diese Worte in einen andern Sinn hineindeuten. Petrus be[ ] von der Antwort auf die Anrede womit Cornelius ihn begrüßt [ ] darauf sind diese Worte des Petrus die Antwort – wie Petrus nun inne ward daß dazu daß das Reich Gottes verkündigt werden solle, die Mitglieder des Wortes nicht erst besonders dürften eingeweiht sein, sondern Alle es allen Völkern kundthun konnten, da sprach er diese Worte. Aber auch so betrachtet, könnten mehrere unter uns in einem entgegengesetzten Sinn etwas in diesem Worte einwenden; wie nemlich geschrieben stehet, daß mehr Freude sei im Himmel über einen Sünder der sich bekehret, denn über neun und neunzig Gerechte und dann jenes andere Wort: daß er gekommen sei zu suchen und seelig zu machen was verloren war, – und daß nicht die Gesunden des Arztes bedürfen sondern die Kranken – die aber Gott fürchten und recht thun, | die könne man nicht ansehn als Kranke – [ ] Sollte nun wirklich der Apostel des Herrn mit dem Herrn selbst in Wiederspruch stehen, oder sollte es nicht wahr sein daß nur die die Gott fürchten darauf Anspruch haben? Laßt uns diesen anscheinenden Widerspruch zu dem Worte des Herrn [damit] daß sein Jünger in dieser Stunde so ganz besonders vom Geist aufgeregt und erfüllet war, aufzulösen uns bestreben. Gar oft hört man es auch unter den Christen daß diejenigen welche da glauben Gott zu fürchten, aber ohne sich in die wahre Gemeinschaft mit dem Erlöser zu versenken, wären am weitesten von dem Reiche Gottes entfernt, und das ist wahr, – eben so hört man sagen: daß die welche Knechte der Sünde gewesen wären, und von dem Gefühl [ ] durchdrungen, seien der Hülfe des Herrn oft am nächsten, und das ist auch wahr – Aber eben so gewiß ist dieses Wort des Apostels wahr. Jenes ist wahr wenn | die Rede ist von Christen, denen der Erlöser vor Augen gemahlet ist, wenn die sich nicht gesehnt haben nach seiner Gemeinschaft, sondern sich begnügen wollen mit einer menschlichen Rechtschaffenheit, und denen die 3 ihm] ihn 5 be] folgt ein Spatium für den zweiten Wortteil 5 der] die 5 begrüßt] folgt ein Spatium von anderthalb Zeilen Länge 18 Kranke – ] folgt ein Spatium von drei Zeilen Länge 20 dem] den 24 Jünger] Jünger der 30 Gefühl] folgt ein Spatium von weniger als einer halben Zeile Länge 5 Vgl. Apg 10,30–33 Lk 5,31

13–14 Vgl. Lk 15,7

15–16 Vgl. Lk 19,10

16–17 Vgl.

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schwankende Hoffnung gewiß ist, die sich auf diese Weise begnügen, sind am weitesten entfernt von dem Reiche Gottes, – weil sie die Gemeinschaft Christi zurückstoßen, und man könnte sagen, wenn sie nur erst die Erfahrung gemacht von dem Verderben welches in ihnen wohnt, wenn dann einmal hervorbräche, wie wenig Verlust in ihnen sei, so möchten sie dann in der Zerknirschung dem Reiche Gottes näher sein (indem sie dann erkennen daß der Mensch wenn er Gott suche, mit Bezähmung seiner Begier, recht thue – ) als sie früher waren in selbstgewählter Gottesfurcht. Aber der Apostel redet von denen, deren Ohr stets geöfnet ist um das Wort zu vernehmen, [ ] die sind dem Herrn angenehm. | Und darinn hat er Recht, denn wenn der Gottes gedenkt und ihn wirklich vor Augen hat, das ist dann etwas viel Lobenswertheres, sie beweisen daß sie einer höhern Seeligkeit bedürfen als die sie sich selbst geben können, [ ] die welche aber ganz in der [ ] der Sünde noch versunken sind, in denen das Bedürfniß sich zu dem Lichte durchzuarbeiten welches der Erlöser auf Erden gebracht, sich noch gar nicht geregt, denen würde das Wort des Lebens vergebens sein gepredigt worden. So ist überall die äußere Zucht und Ordnung ein Vorbereitungsmittel um das Wort des Lebens in den Seelen zu wecken – die sinnliche Gewalt in der Seele, die muß erst gebändigt sein, die Ahnung des Göttlichen muß erst darinn befestigt | sein, und auf das harte Land muß erst [ ] denn die von Gott noch ganz fern sind, die sind nicht fähig sein Wort zu vernehmen, und denen wird vergeblich das Wort von der Erlösung geprediget. So liegt für uns Alle in diesem Worte des Apostels die richtige Einsicht, sowol für das Ganze als auch was im Einzelnen jedem obliegt, – denn so hat es sich doch bewiesen daß der Erlöser zuerst eingedrungen in die Völker wo schon einer aufgeregt war. Aber der Sohn der Natur mußte erst vorbereitet werden, die sinnliche Gewalt des Lebens die muß erst gewendet werden, um das Wort vernehmen zu können. So ist es auch im Einzelnen, es muß erst dem natürlichen Menschen die äußere Zucht und Sitte entgegen gestellt werden, und die Ahnung des Göttlichen muß erst aufgehen [und] in der Seele befestigt werden und gegründet, daß ihnen Christus kann vor Augen gemahlet werden. Das ist aber das Erste womit wir unsern Einfluß | auf die Menschen, und besonders auf die Jugend beginnen müssen, daß wir die jungen Seelen in den Zustand bringen, wo der Mensch Gott ange10 vernehmen,] folgt ein Spatium von etwa anderthalb Zeilen Länge 12 etwas viel] viel etwas Lobenswertheres] Hier fehlt offenbar ein Satzteil. 14 können,] folgt ein Spatium von zwei Zeilen Länge 14 in der] folgt ein Spatium von weniger als einer halben Zeile Länge sowie Einfügungszeichen ohne Einfügung 17 worden.] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 19 den] die 21 Land] Lannd 21 muß erst] folgt ein Spatium von einer Zeile Länge 24 Alle] Allen 25 jedem] jeden 29 können.] können;

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nehm und nahe ist, wo die Kunde von dem Erlöser ihnen mitgetheilt wird, und sie so geladen werden ihr wahres Heil zu suchen. So werden wir unsere Pflicht gegen die christliche Kirche erfüllen, und indem wir so nach dem Worte des Apostels handeln, und jeder nach dem Maaße giebt, was ihm gegeben ist, Zeugen sein der Auferstehung des Herrn. Aber wie sollte uns das wolgelingen können, wenn wir nicht im geistigen Sinn, denn in dem leiblichen ist es uns nicht möglich, sagen können: daß wir selbst mit ihm gegessen und getrunken – wenn wir nicht die Verheißung haben, womit er in den Tagen der Auferstehung seine Jünger kräftigte, wenn wir nicht nachdem wir mit ihm in seinen Tod begraben sind, das geistige | Leben seiner Auferstehung mit ihm genießen, wenn nicht die Worte auch in unsere Seele eingedrungen sind, die uns gelehrt haben zu trachten nur nach seinem Reich. Und diese seine geistige Gegenwart welche besteht in allen Früchten des Geistes, die der Herr verheißen hat, die wird er auch uns schenken, so wir mit wahrem Glauben und inbrünstiger Liebe an ihm hängen.

1 dem] den

17 wahrem] wahren

17 ihm] ihn

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Am 14. April 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Quasimodogeniti, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,21–23 Nachschrift; SAr 52, Bl. 107r–107v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am Sonntag Quasimodogeniti. Schleiermacher in Dreif. K. 22. Joh. 20 v. 21–23. Es ist die Fortsetzung unsrer Osterbetrachtung. Wir wollen in dieser Zwischenzeit zwischen dem Fest der Auferstehung des Herrn und dem gänzlich Hinweggenommenwerden von der Erde betrachten die Aehnlichkeit des Erstandnen, und wie er unter seinen Jüngern war, mit der Art unsrer Gemeinschaft mit ihm. Der Herr blies sie an; dann aber war es nicht der heilige Geist in seiner ganzen Fülle, den sie so empfingen, sondern das geht aufs Folgende vom Lösen und Behalten. Sehn wir 1. Auf die Wichtigkeit dieses Lösens und Bindens. Der einzige höchste Auftrag, den der Erstandne giebt. Die Jünger sollten lösen, d. h. in Gemeinschaft eingehn mit denen, die den Herrn gekreuzigt? und waren sie selbst nicht schwach befunden zum Theil, wie konnten sie binden sollen? Ueberhaupt hergebracht, zu binden, der Rächer straft bis ins tausendste Glied. Ja, sie sollen es doch. So nur baut sich die Gemeinschaft der Gläubigen – wo die Liebe ist, da löst sie, wen sie bußfertig trifft, aber sie behält auch die Sünde, geht nicht gleichgültig drüber hinweg, verschließt sich denen, welche im Bösen beharren, welche die Finsterniß bindet. |

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2. Wie sollen wir aber binden und lösen? Aus uns heraus vermögen wir es nicht. Wir sind schwach, und irren in unsrem Urtheil über den Bruder, auch wenn mehrere sich vereinigen, immer ist es ein Ganzes, das nur einseitig den andern sieht, weil es wenn auch nicht an Leidenschaft doch hängt an besondrer Naturrichtung , einen Werth legend auf das, worauf der 4 Vgl. oben 7. April 1822 vorm.

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andre beruht . Ganze Jahrhunderte blieben unfähig, zu richten für sich – aber wenn der Erlöser kommt, sein Geist in uns weht, dann können wir binden und lösen, und sollen es, können unterscheiden, wo der Geist Wohnung hat, wo nicht – Unterschied der Großen und Kleinen macht nichts, der der bewegten und stillen Zeiten auch nichts – vergeben sollen wir, und den Mühseligen laben, wie der Herr!

[Liederblatt vom 14. April 1822:] Am Sonntage Quasimodogeniti 1822. 10

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Vor dem Gebet. – Mel. Lobt Gott ihr Christen etc. [1.] Erschalle Lied daß Jesus lebt / Und auferstanden ist, / Daß er in unsrer Mitte schwebt, / Und ewig bei uns ist. // [2.] Nun scheint die Welt dem neuen Sinn / Erst wie ein Vaterland; / Ein neues Leben nimmt man hin / Entzückt aus seiner Hand. // [3.] Hinunter in das tiefe Meer / Versank des Todes Graun, / Und jeder kann nun leicht und hehr / In seine Zukunft schaun. // [4.] Der dunkle Weg, den er betrat / Geht in den Himmel aus; / Und wer nur hört auf seinen Rath, / Kommt auch in Vaters Haus. // [5.] Nun weint auch keiner mehr allhie, / Wenn Eins die Augen schließt; / Vom Wiedersehn, spät oder früh, / Wird dieser Schmerz versüßt. // [6.] Es kann zu jeder guten That / Ein jeder frischer glühn; / Denn herrlich wird ihm diese Saat / In schönern Fluren blühn. // [7.] Er lebet und will bei uns sein / Wenn alles uns verläßt; / Und so soll jeder Tag uns sein / Ein Weltverjüngungsfest. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O wie selig sind die etc. [1.] O du meiner Seele Leben, / Auserkohrner und erwählter / Herzog meiner Seeligkeit! / Könnt ich dich nur recht erheben, / Wie es meiner Liebe würdig, / Wie es dich, o Herr, erfreut. // [2.] Du bist allen gläubgen Seelen / Stets erquiklich und gesegnet; / Und ihr allerhöchstes Gut. / Ei was sollte mir dann fehlen, / Wenn ich dich im Herzen habe, / Der an Allen Wunder thut. // [3.] Offenbarst du deine Kräfte: / O wie mächtig und durchdringend / Uebermeistern sie das Herz! / Deines Geistes Lebenssäfte / Stillen alles Weh der Erde, / Lindern allen Seelenschmerz. // [4.] Mit geheimnisvollem Zuge / Ziehest du, Magnet der Liebe, / Seelen aus dem Staub empor, / Daß in wunderbarem Fluge / Sie sich fühlen aufgehoben / In das selge Himmelschor. // [5.] Ja auch mich hast du erkohren, / Blase nun der Liebe Feuer / Stets in meiner Seele auf! / Aus dem Geiste neu geboren / Eil ich täglich zu der Quelle / Rasch in unverwandtem Lauf. // [6.] Dieser Erde schnöde Lüste / Werf ich aus des Herzens Grunde / Voll Verachtung leicht hinaus. / Nähre du mich in der Wüste / Mit der reinen Himmelsliebe, / Bis ich komm ins Vaters Haus. // [7.] Gieb dich mir auch jetzt aufs neue, / Wie die Seele dir entgegen / Schon frohlockend jubilirt! / Ja sie fühlet deine Treue; / Bleibe mit ihr ewig ewig, / Bis sie völlig triumphirt. // (Freilingsh. Ges. B.)

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Am 14. April 1822 vormittags

Unter der Predigt. – Mel. Herr Christ, der einge etc. Mit brünstigem Verlangen / Sehn’ ich mich Tag und Nacht, / Dich Heiland zu umfangen, / Dich der mich selig macht. / Komm hilf, errett, erquicke, / Begnadige, beglücke, / Erfreu und segne mich. // Nach der Predigt. – Mel. Christ lag in Todes etc. [1.] Er ist darum erstanden auf, / Daß du auch mögst erstehen / Zu einem neuen Lebenslauf, / Und fröhlich mit ihm gehen. / Wandle gläubig fort und fort / Den Heilgen nach, und du bist dort, / Wo Jesus von den Banden / Erstanden. // [2.] Flieh aus dem Grab ins Himmelszelt, / Da ist dein Heil zu finden; / Geh aus im Glauben von der Welt, / Und reiß dich los von Sünden: / So wird Jesus sich in Eil / Dir zeigen als das beste Theil; / Er hört, und läßt dein Flehen / Geschehen. //

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Am 21. April 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Misericordias Domini, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 1,28–30 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 462.464– 467.473–477.479; König (rekonstruiertes Fragment; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.3.E.a.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

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Tex t. Phil. 1, 28–30. Und laßt euch in keinem Wege erschrekken von den Widersachern, welches ist ein Anzeigen ihnen der Verdammniß, euch aber der Seligkeit, und dasselbige von Gott. Denn euch ist gegeben um Christi willen zu thun, daß ihr nicht allein an ihn glaubet, sondern auch um seinetwillen leidet, und habet denselbigen Kampf, welchen ihr an mir gesehen habt und nun von mir höret. [Anfang fehlt; SW bietet Text aus 1817 und einen vermutlich von Sydow frei formulierten Übergangssatz.] Da sehen wir, m. g. F., wie der Apostel die reine Liebe zu dem Evangelio und zu dem Erlöser in der lebendigen Kraft des Glaubens bei den Christen voraussezt, aber sie nur ermahnt, sie sollten sich in dieser nicht stören und nicht hindern lassen, sie sollten sich nicht erschrekken lassen von den Widersachern. Und das ist die ganz einfache Beschreibung, welche er von dem Kampfe macht, den sie für den Glauben des Evangelii bestehen sollten. Wenn wir nun überlegen, wie in jener Zeit die Lage der Christen war, wie sie so oft, wenn auch seltener im Großen und Ganzen, doch in kleinern Kreisen verfolgt wurden von solchen, die dem neuen Wege, den die Apostel verkündigten, feindselig waren, wie sie so oft beschuldigt und angeklagt wurden solcher Vergehungen, die ihnen nie in den Sinn gekommen waren, und von Menschen, bei denen sie sich eines Bessern versehen hatten, weil sie bisher in freundlichem und friedlichem Vernehmen mit ihnen gestanden, wie oft dadurch das natürliche Verhältniß der Blutsverwandtschaft gestört wurde und sich trennen mußten die durch ehrwürdige Bande aufs engste verbunden waren, wie oft dadurch den Christen nicht nur allerlei Entbehrungen aufgelegt, sondern auch empfindliche

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Schmerzen und Martern verursacht wurden, ja selbst Gefahr | des Lebens drohte: so möchte es uns allerdings auffallen, daß der Apostel von den Christen nichts weiter fordert, als dies, daß sie sich nicht sollen erschrekken lassen von den Widersachern, als ob dies hinreichend sein könnte in ihrem Verhältniß zu diesen. Unter solchen Umständen, sollten wir meinen, wäre ihre Lage eben durch den herbesten Kampf, der ihnen bereitet war, die traurigste und gefährlichste gewesen, die sich nur denken ließ; und doch macht der Apostel von dem Kampfe, den sie für den Glauben des Evangelii kämpfen sollten, keine andere Beschreibung als „laßt euch in keinem Wege erschrekken von den Widersachern.“ Der Schrekk, m. g. F., das ist die erste Empfindung des Schmerzlichen und Gefahr drohenden, was uns auf eine unerwartete Weise überfällt und überwältigen will, aber eine Empfindung, von welcher wir uns, sobald uns die volle Besinnung wiederkehrt und wir uns der Lage der Sache recht bewußt werden, wieder erholen. Etwas anderes ist die Furcht in der Seele des Menschen unter den Uebeln des Lebens, die ihn treffen, oder unter den Kämpfen gegen die Gefahren und Widerwärtigkeiten, von welchen er sich umgeben sieht; sie ist dasjenige, was ihn begleitet, so lange die Trübsal ihn drükkt, dasjenige, wovon er sich nicht trennen kann, so lange der Kampf währt. Von der redet der Apostel hier nicht, als ob die Christen sie haben könnten, wohl wissend, daß eine solche Bewegung des Gemüths denen, die in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser stehen, in ihrem Verhältniß zum Reiche Gottes fremd sein muß; und so wie er Liebe zu dem Evangelio, welches sie von Herzen angenommen hatten und treu bekannten, in ihnen voraussezt, so sezt er auch Furchtlosigkeit voraus – denn Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus – und ermahnt sie nur, sie sollten sich nicht erschrekken lassen von den Widersachern, die einzelnen Widerwärtigkeiten und Unfälle, welche ihnen entgegentreten würden, sollten durchaus keine das ruhige Gleichgewicht ihrer Seele auch nur augenblikklich störende Bewegung in ihnen | hervorbringen, sondern mit Gleichmuth und indem sie alles Unangenehme und Schmerzliche, was ihnen begegnen könnte, sich schon vorher vor Augen stellten und nach seiner Beschaffenheit und seinem Umfange ermäßen, sollten sie die Widersacher des göttlichen Wortes empfangen und ihre feindseligen Bewegungen erwarten. Und gewiß, m. g. F., wir können es uns nicht verbergen, wie viel Herrliches und Großes in demjenigen liegt, was der Apostel hier bei den Christen voraussezt, indem er sie nur zu dem Einen ermahnt, daß sie sich nicht sollen erschrekken lassen, und wie er von ihrem Glauben an den Erlöser und von ihrer Liebe zu dem Evangelio eine sehr tröstliche Ueberzeugung muß gehabt haben. Es ist aber auch wahr, die 26–27 1Joh 4,18

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Furchtlosigkeit in Beziehung auf alle Widersacher des Reiches Gottes und auf ihre gegen dasselbe gerichteten Unternehmungen muß dem Christen eigen sein, denn sie hat keinen andern Grund und kein anderes Maaß in ihm, als den Glauben an den Erlöser und die Liebe zu ihm und seinem heiligen Werk. In demselben Maaße, als die Kraft des Glaubens und der Liebe in uns ist, muß auch die Furcht fern von uns sein; so gewiß wir in ihm den Sohn des lebendigen Gottes verehren, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, und der kraft dieser Gewalt von oben herab seinen Leib regiert, müssen wir auch wissen, daß das Reich Gottes, welches er auf Erden gestiftet hat, nicht untergehen kann, daß keine Macht der Finsterniß und des Bösen, wie kräftig sie sich auch erheben mag, im Stande ist, dasselbe zu überwältigen; so gewiß wir überzeugt sind, daß er, nachdem er zurükkgekehrt ist in seine Herrlichkeit, die Gläubigen bei seinem himmlischen Vater vertritt und ihre Gebete als ihm wohlgefällige vor seinen Thron bringt, so wissen wir auch, daß alles, was das Reich Gottes in diesem irdischen Leben trifft, nur zur Förderung desselben beitragen kann; so gewiß wir von dem Gefühl durchdrungen sind, daß wir, aufgenommen in den geistigen Lebenszusammenhang mit dem Erlöser, durch die Liebe zu ihm unzertrennlich mit ihm verbunden | sind, so daß nichts uns aus seiner schirmenden Hand zu reißen vermag, so gewiß wissen wir auch, daß wir in dieser Gemeinschaft der Liebe unter der Obhut des Vaters im Himmel stehen, und daß da ohne seinen Willen kein Haar von unserm Haupte fallen kann. Das sind Ueberzeugungen, die der Christ haben muß, und ohne welche er weder Gott gefallen noch seinen Weg durch dieses Leben mit Freudigkeit wandeln kann, Ueberzeugungen, die ihn frei erhalten von aller Furcht vor den Widerwärtigkeiten, welche über das Reich Gottes hereinbrechen, und von welchen er selbst schmerzlich berührt wird. Aber freilich ist es etwas noch Größeres und Herrlicheres, was der Apostel von den Christen fordert, indem er sagt: „laßt euch in keinem Wege erschrekken von den Widersachern;“ denn das sezt voraus eine solche Ruhe des Gemüths, die auch durch das unerwartete Widerwärtige nicht gestört und erschüttert wird, eine solche Sicherheit in der Anschauung der Führungen des Höchsten, daß das klare Bewußtsein der göttlichen Allmacht und Weisheit in der Seele nie getrübt erscheint, eine solche Fähigkeit und Leichtigkeit, bei Allem, was uns begegnet, wie unvorhergesehen es auch kommen mag, gleich jene geistige Beziehung desselben auf das Reich Gottes, jene Bestimmung desselben für die Wiederbringung und Heiligung der Menschen im Auge zu haben, daß irgend eine andere Beziehung und Bestimmung desselben, die nur das Irdische und Vergängliche betrifft, keinen Einfluß mehr haben kann auf das Gemüth, das heißt, so ganz in Christo 7–8 Vgl. Mt 28,18

9–12 Vgl. Mt 16,18

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und in der großen Angelegenheit der Erlösung und in dem, was dieselbe fördern kann, zu leben, daß eben deshalb, weil derselben nichts in dieser Welt mehr nachtheilig und verderblich sein kann, auch nichts im Stande ist, uns störend und verlezend und auf schmerzliche Weise zu bewegen – und das alles als die lebendige Frucht des göttlichen Geistes, der die Herzen der Gläubigen belebt und regiert. [Es folgt Text aus 1817.] Und davon sagt nun der Apostel mit dem tiefsten Gefühl der Wahrheit: „Welches,“ nämlich daß ihr euch in keinem Wege erschrekken lasset von den Widersachern, „eine Anzeige ist ihnen der Verdammniß, euch aber der Seligkeit, und dasselbige von Gott.“ Nämlich, m. g. F., eine Anzeige der Verdammniß ist diese vollkommene Furcht- und Schrekklosigkeit der Christen den Widersachern des Evangeliums, weil sie fühlen, daß sie, so lange sie solche sind, sich dazu nicht erheben können. Wir wollen es uns gestehen, daß auch ein solcher, der nicht das Rechte und Gute und Göttliche sucht, eben in seinen auf das Irdische und Vergängliche gerichteten Lebensbestrebungen wol jene Furchtlosigkeit mit den Christen theilen kann, wie einige Menschen auch für eine irrige Ueberzeugung leben und wirken und leiden können, ja wie ein solcher, der nur gesucht hat, was innerhalb der Gränzen des irdischen Lebens einen Werth hat, doch im Stande ist, für dasselbe sein Leben hinzugeben, deswegen, weil er einer und derselbe sein und bleiben will. Davon giebt es mancherlei Erfahrungen, die uns, je verkehrter und verwerflicher dasjenige ist, wofür der Mensch so sich selbst opfert, um so sonderbarer erscheinen. Aber eine Festigkeit, die nicht mehr erschrikkt, auch nicht vor den mächtigsten und listigsten Widersachern, die sezt jene Ueberzeugung voraus, welche nur durch die Uebereinstimmung des Menschen mit dem wohlerkannten Willen Gottes | entstehen kann. Und so ist also diese Festigkeit eine köstliche Perle, die der Apostel hier den Christen vorhält; und wie das den Widersachern des Evangeliums nicht entgehen konnte, daß die Christen sich nicht blos zu jener Furchtlosigkeit, sondern auch zu jener Standhaftigkeit und Ruhe des Gemüths erhoben hatten, so mußten sie sich selbst sagen, daß das etwas sei, was sie nicht mit ihnen theilten. Und das sollte ihnen ein Zeichen sein der Verdammniß, denn alle Verdammniß besteht darin, wenn der Mensch von dem Göttlichen und Ewigen und von der Theilnahme an demselben ausgeschlossen ist; an dieser Zuversicht und Ruhe der Christen sollten ihre Gegner ihre eigene Verdammniß erkennen, daß sie ausgeschlossen wären von der rechten Gemeinschaft mit Gott und dem seligen Leben aus ihm. [Es folgt Text aus 1817.] Aber den Christen sollte jene Festigkeit des Herzens eine Anzeige sein der Seligkeit, die ihnen in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser eröff2 daß] das

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net ist. Und anders kann es ja nie sein. Denn wenn wir fragen, weshalb haben wir denn darin, daß wir uns nicht erschrekken lassen, eine Anzeige der Seligkeit? so müssen wir wol sagen, darum weil die Würde der menschlichen Natur, wie sie in dem Erlöser und durch ihn hergestellt ist, sich in nichts anderm mehr zeigt als in der Treue des Menschen gegen seine Ueberzeugung. Wenn wir uns ohnerachtet aller Drohungen und Schrekkmittel, mit denen die Kinder dieser Welt gegen uns hervortreten, zu demjenigen nicht verstehen, was sie uns zumuthen wollen; wenn wir lieber unsere schönsten Hoffnungen für die Förderung des Wahren und Guten in einer bestimmten Gestalt, an denen unser Herz sich erfreut, schwinden sehen, als daß wir den Weg der Gerechtigkeit verlassen und mit den Kindern dieser Welt gemeinsame Sache machen: so kann es nicht anders sein, es muß in uns das Gefühl der Seligkeit entstehen und sich immer tiefer gründen; denn in nichts fühlt der Mensch mehr, wie er jezt schon selig ist, als wenn er von keiner weltlichen Macht und Gewalt erschrekkt wird und sich durch keine irdische Verhältnisse bestimmen läßt. Das ist ihm eine deutliche | Anzeige der Seligkeit. Und auch das kam den ersten Christen als eine Anzeige der Seligkeit von Gott, weil es ein Zeichen war von der unerschütterlichen Festigkeit ihres Herzens, die nur der Glaube wirkt, und von dem ruhigen Gleichgewicht in ihren Seelen, welches immer nur eine Gabe von oben ist; und so sollte es ihnen eine Anzeige der Seligkeit sein, welche ihnen Gott der Herr schon in diesem Leben geben wolle. [Es folgt Text aus 1817.] O, wie könnten wir anders, m. g. F., als davon recht tief ergriffen und recht freudig bewegt sein, wenn wir diesen Gedanken des Apostels nachgehen! Denn das müssen wir wol zuvor fühlen, ein Kampf, in welchem die Christen nicht mehr erschrekken vor den Widersachern des Evangeliums, wenn auch der Einzelne an sich ohnmächtig ist, wie es damals die kleine Schaar der Gläubigen war in ihrem Verhältniß zu der großen Masse der Heiden und Juden; ein Kampf, wo der schwächere Theil sich nicht blos nicht fürchtet, sondern auch nicht erschrikkt – der konnte nur siegreich enden; gewiß das ist der Kampf, für welchen Gott selbst mit seiner Allmacht streitet, das ist der Kampf, von welchem wir, | wenn wir gesiegt haben, es wol fühlen, daß er ohne die göttliche Allgegenwart nicht geführt worden ist. [Es folgt Text aus 1817.] Wer ist es, der uns in diesem Kampfe stärkt und leitet, als der Geist des Herrn, der Alles belebt und erfüllt? und wer ist es, der uns den Sieg gegeben hat, als unser Herr Jesus Christus, der uns erlöset hat von diesem Leibe des Todes und unser ganzes Leben regiert, damit es ihm ganz geweiht sei zum Preise und zur Verherrlichung seines Namens! Amen.

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Jubilate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,17–18 Nachschrift; SAr 52, Bl. 107v–108v; Gemberg Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Evangelium am Sonntag Jubilate. Schleiermacher in Dreif. K. Joh. cap. 21 v. 17–18. Einer der herrlichen Abschnitte nach der Auferstehung des Herrn, vielfach benutzt, aber auch unerschöpflich an geistiger Anmuth und Kraft. Wir nehmen die Worte von unserem Gesichtspunkt aus, daß das Leben des Aufer|standnen ein Vorbild ist für unsre Gemeinschaft mit Christo, mag er nun im Einzelnen unter uns oder im Ganzen wirksam sein. 1. Betrachten wir die Frage des Herrn an den Apostel: Diese Frage wiederholt sich bei uns allen, unser ganzes Wirken und Weben soll, wie es nicht anders im Großen ist und sein kann seit der Wiedergeburt des Menschengeschlechts, seinen Namen und Ueberschrift tragen, und unsre Sehnsucht nach der Wahrheit, unser Bemühen fürs Vaterland, unsre Anhänglichkeit, die fromme Treue an liebende Herzen, alles ist Liebe zum Herrn, von der soll alles durchdrungen und verklärt sein. Zwei Sonnen mögen nicht erhellen hoch über uns am Firmament, die Liebe leidet nicht Gesellen, die klar und tief im Herzen brennt. Diese zweifelnde Traurigkeit erregt der Herr auch in uns, wenn seine Stimme in uns also fragt: liebst du mich? und wir werden Zuversicht fassen, wie Petrus: Herr, du weißt alles, ich liebe dich. 2. Sehn wir auf den Auftrag des Herrn an den Apostel. Wir übersehn, daß man jene Frage meint auf die Verleugnung des Petrus beziehn zu müs15–17 Vgl. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 739: „[1.] Die Liebe leidet nicht Gesellen, / im Fall sie treu und redlich brennt; / zwo Sonnen mögen nicht erhellen / beysammen an dem Firmament. / Wer Herren, die einander feynd, / bedienen will, ist keines Freund. //“ (Melodie von „Wer nur den lieben Gott läßt walten“)

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sen, drum nicht auf uns anwendbar – das ist nicht so, sondern jede Verletzung des reinen Gefühls ist schon theilweise Verleugnung. Aber das übersehen wir nicht, daß eine kleinmüthige Demuth meint, das gehe nicht auf uns, nur auf Apostel und die Missionare ein . Aber das ist die Herrlichkeit der christlichen Kirche, daß hie alle Brüder sind und sich gleich, nur Einer über uns, Christus, keiner geistlich höher begabt ist, und näher dem Himmel, sondern Ein Geist, der hier und da so und anders sich kund giebt, an dem alle Theil haben, nur im verschiednen Maaße. Dieser Gleichheit ordnen sich alle Ungleichheiten unter, die nicht in der Herrlichkeit der Heerde, sondern in ihrer Schwachheit ihren Grund haben. Wenn nur | einer sich von der Heerde verirrt, so soll jeder ihn mit Liebe zurückführen auf den rechten Weg. So klingt in uns immerfort die Stimme des Herrn: weide meine Lämmer, suche das Verlorene. 3. Sehn wir auf die Weissagung, mit der der Herr den Apostel entläßt, so klingt auch diese in uns Allen fort. Wir verstehn sie aber nicht so, als Andeutung auf Petri Märtyrerthum, denn wir wissen, im Augenblick liegt Vergangenheit und Zukunft, und wir werden zu kämpfen haben und zu leiden im Kampfe, aber diese Leiden sind zu gering gegen die Gnade, mit der wir begabt sind zu kämpfen. Wir alle gürteten uns, da wir frisch hineintraten in das große Leben und gingen nach unsrer Ueberzeugung den Weg Gottes. Aber Verhältnisse geben oft unserm Lauf eine andre Richtung, wir müssen einem Fremden folgen, einen andern Weg gehn, der besser, auch schlechter sein kann. Wir folgen, wenn der Herr so ruft, nicht, daß wir uns den Andern gleichstellen, die in andrer Ueberzeugung wirken, auch nicht im Geist der Furcht, sondern aus Liebe, wir treten aus der Besonderheit unsrer eigenthümlichen Beschränktheit heraus in eine fremde hinein, und gewinnen so, wenn es in der Kraft der Liebe geschieht, auf die rechte Art. Vertrauen wir hierin der Weisheit der göttlichen Führungen, Gottes Wege sind oft nicht die unsrigen, auch das Dunkel muß er schicken, daß das reine Gold sich bewähre. Halten wir aus in der Noth, der Herr führt alles endlich zum Guten hinaus. Bleiben wir nur in Christo, wir werden nicht fehlschreiten, wenn wir auch gegürtet werden und gehn, wohin wir nicht möchten.

12–13 Vgl. Joh 21,15

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Am 28. April 1822 vormittags

[Liederblatt vom 28. April 1822:] Am Sonntage Jubilate 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leuchtet etc. [1.] O Jesu, Jesu Gottes Sohn, / Ich nahe mich zu deinem Thron / Aus dankerfülltem Triebe. / Vor dir ist alles sonnenklar. / Mein Herz auch ist dir offenbar, / Du weißt, daß ich dich liebe, / Herzlich such ich dir vor Allen / Zu gefallen; / Nichts auf Erden / Kann und soll mir theurer werden. // [2.] Dies Eine nur bekümmert mich, / Daß ich nicht gnug kann lieben dich, / Wie ich dich lieben wollte. / Ich selbst empfind es nur zu sehr, / Daß ich dich mit der That noch mehr, / Mein Heiland, lieben sollte. / Hilf mir, hilf mir! Gieb mir Armen / Aus Erbarmen / Stärkre Triebe, / Mehr Empfindung deiner Liebe. // [3.] Stehst du mit deiner Kraft mir bei, / So werd ich stets mit fester Treu / An dir allein nur hangen. / Nichts was sonst Menschen wohlgefällt, / Nicht Sinnenlust, nicht Lob der Welt, / Befriedigt mein Verlangen. / Von dir strömt mir beßrer Segen, / Herr, entgegen. / Ruh und Leben / Wird mir nur durch dich gegeben. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf, ruft etc. [1.] Herr aus deiner Gnaden Fülle / Fließt meinem Geiste sanfte Stille / Und Kraft dir nachzufolgen zu. / Seit ich dir mein Herz ergeben, / Empfind’ ich erst das wahre Leben. / Kenn ich das Glück der selgen Ruh. / Erbarmend gabst du mir / Den Frieden, Gott, mit dir: / Hochgelobet sei deine Treu, / Sie schuf mich neu, / Vom Sündendienst bin ich nun frei // [2.] Beugt auch Schwachheit mich noch nieder, / So richtest du mein Herz doch wieder / Mit deinem Troste huldreich auf / Und zum Heiligungsgeschäfte / Erhöhest du mir Muth und Kräfte: / Dein Wort ermuntert mich im Lauf. / Gott, welche Seligkeit, / Vom Sündenjoch befreit / Deinen Willen stets leichter thun, / Und freudig nun / In deinen Vaterarmen ruhn! // [3.] Denn wie könnt ich ängstlich zagen, / Wenn auch in meinen Pilgertagen / Mein Fuß auf rauhe Wege stößt? / Nein, auch auf dem rauhsten Pfade / Stärkt das Gefühl mich deiner Gnade, / Die keinen Frommen je verläßt! / Ja auch der Erde Pein / Muß mir zum Heil gedeihn: / Denn dich liebet mein gläubig Herz, / Und blickt im Schmerz / Getrost und kindlich himmelwärts. // [4.] Deinen Himmel seh ich offen: / Mein Geist frohlockt im sichern Hoffen, / Daß ich dereinst sein Bürger bin. / O, was ist mir dort beschieden! / Will ich im heißen Kampf ermüden, / So blick ich auf die Krone hin. / Zur vollen Seligkeit, / Erhebt die Ewigkeit / Deine Treuen durch deinen Sohn. / Ich schmecke schon / Im voraus seiner Leiden Lohn. // (Rigaer Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Gelobet seist du, Freund der Seelen! / In deiner Huld, wie wohl ist mir, / Du liebest mich: was kann mir fehlen? / Ich finde jedes Heil bei dir. / In noch so drückenden Beschwerden / Hab ich den Himmel schon auf Erden; / Denn du bist durch den Glauben mein. / Die Welt mit ihren Schmeicheleien / Vermag mein Herz nicht zu erfreuen; / Mein Freund ist mein und ich bin sein. //

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Am 1. Mai 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Bußtag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 1,8–9 Nachschrift; SAr 61, Bl. 86r–91r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 109r; Gemberg Keine

Auszug. Am Bußtage 1822. früh. 1. Joh. 1 v. 8–9.

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Lied. 248. v. 1–3. 249.

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M. a. F. Wir leben jetzt in einer Zeit welche von Anfang der christlichen Kirche an für eine besonders freudige ist gehalten worden, die Zeit wo unser Erlöser den Tod überwunden, und in dem neuen Glanz der Auferstehung unter seinen Jüngern wandelte; wo er ihnen seine Unterweisungen vollendete, und manches von seinen Reden einen tiefern Eingang fand in ihre Herzen, weil er die Welt überwunden hatte, und Gott das Zeugniß von ihm befestiget; die Zeit wo er ihre Herzen stärkte und kräftigte mit allem was ihnen nöthig war, um die Ausgießung des Geistes erwartend, ihren Beruf erfüllen zu können. Mitten in diese freudige Zeit, welche die christliche Kirche immer in diesem Sinn angesehn hat, trit nun ein Tag des Gebetes und der Buße als ein Tag von welchem die meisten Christen glauben, daß nicht nur wehmüthige, sondern auch schmerzhafte Empfindungen der Pein darin vorherrschen müssen, so daß alsdann die frommen Empfindungen im Widerspruch sein müßten mit denen dieser Zeit. So ist es nicht, die Buße des gläubigen Christen, soll nicht etwas seine Seele Belastendes und Niederdrückendes, sondern ein freudiges Werk des göttlichen Geistes sein. | Darauf führen uns die eben gelesenen Worte des Apostels, denn bei allem Ernst können wir doch nicht behaupten daß eine Spur eines niedergeschlagenen und zerknirschten Gemüthes darinn zu finden sei, oder irgend 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 248: „Allein zu dir, Herr Jesu Christ!“ (Melodie von „Du weinest für Jerusalem“); Nr. 249: „Aus der Tiefen meiner Sinnen“ (Melodie von „Herr! ich habe mißgehandelt“)

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eine Aufforderung daß sich die Christen in solche Stimmung versetzen sollten. So laßt uns denn die Absicht des heutigen Tages in dem eigenthümlichen Gepräge der Zeit prüfen, auf der andern Seite von der Freudigkeit der Buße des gläubigen Christen reden. Wir dürfen nur genau bei den Worten unsers Textes stehen bleiben – der Apostel redet zuerst von dem Bekenntiß unserer Sünden und sagt: „So wir sagen wir haben keine Sünde so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ – d. h. so wir uns unserer Sünden nicht bewußt würden, so wäre die Wahrheit nicht in uns; [ ] Zweitens, von der Vergebung die Gott den gläubigen Christen angedeien läßt und sagt: „So wir aber unsere Sünden bekennen: so ist er treu und gerecht, daß er uns die Sünden vergiebt, und reinigt uns von aller Untugend – und das ist das Andere was wir zu betrachten haben, und Beides wird uns zeigen, wie die rechte Buße mit der wahren Freudigkeit des Herzens zusammenhängt, und gemeinsam be|stehen kann. [1.] Der Apostel sagt: „So wir sagen“ – pp. Was können wir aber anders sagen: als daß dieses in der That ein niederdrückender und schmerzvoller Zustand sein müsse, wenn der Mensch auf der einen Seite sich selbst verführt, und auf der andern die Wahrheit nicht in ihm ist. Ja wenn wir den Menschen sehen in der Ueberzeugung daß es keine Sünde gebe, wenn der Unterschied zwischen Gutem und Bösem, noch gar nicht aufgegangen wäre in seiner Seele, dann möchte er immer sich weiter verführen, und die Wahrheit wäre dann ganz aus seinem Herzen verwiesen – aber er wäre dann eben so in einem Zustand, wo er einer schauderhaften Ruhe genösse – Gott aber sei Dank der so weit den Menschen nicht sinken läßt, so ganz nicht den Antheil seines Wesens erlöschen läßt, in den menschlichen Seelen. Wo aber das nicht ist da kann es nicht fehlen, daß der Mensch suche alle Gedanken lebendig zu halten die ihn entschuldigen – aber es steigen doch die in ihm auf die ihn verklagen und wie sehr er sich überreden mag, es bleibt doch Etwas in ihm, das ihm zuruft, daß er sich selbst betrügt und der Lüge dient, und dadurch daß er seiner Sünden nicht gedenkt, sich selbst immer weiter verführt. So entsteht ein beständiger Kampf mit sich selbst, der die Spuren des menschlichen Verder|bens trägt – der Mensch der sich ersparen möchte sich selbst und Gott seine Sünden zu bekennen, – er kann nicht anders als mitten durch seinen Leichtsinn hindurch, gezüchtiget werden, und geängstigt durch das Gefühl, daß indem er sich selbst retten will, er seine Sünde mehrt, und nicht Vergebung findet vor Gott. Da haben wir also den Schmerz der Sünde, und die herbe Zerknirschung des Gemüthes, durch den Streit des Menschen mit sich selbst. Wenn wir aber unsere Sün1 solche] solcher Zeile Länge

8 unserer] unsere

9 uns;] folgt ein Spatium von einer halben

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den bekennen, wenn wir uns das zum ernsten Geschäft machen, uns in unser Inners zu kehren, und alle Spuren des Verderbens aufzusuchen, wenn das unser Wille ist, was sollte uns dann quälen und ängstigen, wenn wir ihn unter dem Beistand Gottes vollziehen – was kann dann in diesem Geschäft für ein anderes Bewußtsein herrschen, als eben dieses, daß indem wir die Sünde aufsuchen, wir die Lüge so weit als möglich zu entfernen trachten, was können wir anders fühlen, als daß dies dann wirklich die Wahrheit ist, – und die Wahrheit ist ja das himmlische Licht was alle Gemüther erquickt, wie der Morgenthau die dürstenden Auen[.] | Wenn man dagegen sagt: der Mensch soll über die Sünde erschrecken, er den die göttliche Wahrheit erleuchtet, dem alle Stärkungen zu Gebote stehen, soll er nicht zerknirscht sein, und erschrecken vor sich selbst? – fühlend daß das, das Unwürdige ist? Und das wird bei jedem um so mehr der Fall sein, als ihn das Bestreben die Sünde aufzusuchen nur selten und bei besonderen Gelegenheiten anwandelt – je weniger das in ihm ist, desto mehr wird er erschrecken wenn es einmal kömmt. Aber das ist auch nicht die Meinung des Apostels – Wenn wir im Lichte der Wahrheit wandeln, Wandeln aber das ununterbrochene Leben des Menschen ist; so muß auch immer die Wahrheit in uns sein, und den Fortgang des Lebens begleiten. Und wenn wir das so wissen, wenn es uns zur klarsten Wahrheit gehört, daß nur Einer ist, der rein von aller Sünde geblieben, und daß sie das Erbtheil aller ist welche die menschliche Natur theilen, so muß sich das Erschrekende und Zermalmende wodurch sich die Sünde zu erkennen giebt, verlieren. Laßt uns bedenken was in den Zeiten des alten Bundes schon, der Psalmist sagt: „Wer kann merken wie oft er fehle, vergieb mir Herr die verborgenen Fehle“ – Das ist wahr, | es kann nicht immer unser Bewußtsein alles was in den Tiefen des Herzens vorgeht, begleiten, aber ein frevelnder Leichtsinn wäre es, wenn wir immer dies Gebet uns vorhalten wollten, und nicht dabei bedenken daß unser geistiges Auge heller würde, daß das Licht der Wahrheit uns immer mehr erleuchten solle, und klar vor unser Auge komme das Bewußtsein der Beschaffenheit unsers Innern. Und wenn das der natürliche Erfolg der Buße ist, hat nicht der Christ Ursach, Gott zu danken, eben weil er so oft bitten mußte: „Herr vergieb“ – und muß er sich nicht freuen, so aus den innersten Tiefen hervor zu holen, sollte er nicht von freudigem Dank erfüllt sein, wenn er nicht von neuem gezüchtiget ward, und auszurotten hat. Wenn die Buße nun in uns Licht erzeugend wird, wenn so sich immer mehr von der Bewußtlosigkeit verliert, wenn sie uns immer mehr Feind macht der Sünde, wie sollte sie 4 dem] den neuen

11 den] dem

25–26 Ps 19,13

14 ihn] ihm

35 freudigem] freudigen

36 neuem]

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dann nicht ein freudiges Werk sein? – Darum müssen diejenigen welche glauben daß die Buße begleitet sein muß mit Seufzern, und einem zerknirschten Herzen, sich selbst prüfen, ob sie nicht Ursach haben Buße zu thun über ihre Buße. Darum mag derjenige welcher den Herrn im rechten Gauben noch nicht er|griffen, und der den größten Theil seines Lebens in Bewußtlosigkeit zubringt, und meint er habe keine Sünde, wol zerknirscht sein wenn ihm plötzlich das Gefühl kömmt. 2. Aber eben so führt uns auf diesen Punkt, das zweite Wort des Apostels: „So wir aber unsere Sünden bekennen so ist er treu und gerecht“ – Seht da, wenn es auf der einen Seite ein freudiges Werk sein muß daß wir der Wahrheit dienen, so können wir nicht anders sagen: das muß ein freudigeres sein, daß wir die Treue und Gerechtigkeit Gottes empfinden, und daß er uns reinigt. Bedenkt es wol daß der Apostel nicht sagt: wenn wir nun Buße thun, so müssen wir uns wenden an die Barmherzigkeit Gottes, nein er redet von der Treue und Gerechtigkeit Gottes, und das ist das Zuverlässigste was es in der Welt giebt. Das heißt also: so gewiß als wir wissen daß Gott nicht kann treulos sein, so gewiß Ungerechtigkeit fern von ihm ist, so sollen wir auch mit unserm Bekenntniß der Sünde zugleich das Bewußtsein haben, daß er sie uns vergiebt – nicht weil er es uns schuldig ist, – aber es ist die Treue des Vaters gegen den Sohn, der nicht nur sein Ebenbild ist, sondern | in dem die Fülle des eingebornen Sohnes Gottes also der eigenen Gottheit wohnt. – Und der Sünder hat keine Gerechtigkeit zu fordern, – aber es ist die Gerechtigkeit Gottes gegen denjenigen der in die Welt gekommen ist damit er Gott mit der Welt versöhne; und die Gewißheit haben wir, weil der Sohn ihn gebeten, daß alle die an ihn glauben Eines sein sollen mit ihm, und ihm darauf eine feste Zusage geworden. Wer also wahrhaft an den Erlöser glaubt, wem er so die Hand zur Verbindung gereicht, für den giebt es nichts anders als eben diese unerschütterliche Treue und Gerechtigkeit Gottes. Sollte nun nicht das ein Unterschied sein, mit denen, die verzagten und zerknirschten Gemüthes die Buße scheuen, sollten wir nicht mit Recht sagen können, daß wenn dieser Letzte zum Bewußtsein seiner Sünden kömmt, er nicht weiß wie er die Vergebung zu suchen habe? Der wahre Christ welcher das unmittelbare Bewußtsein davon hat weiß daß er durch den Glauben an den Erlöser Eins mit ihm geworden ist, und dem die Gedanken an die Gerechtigkeit Gottes eben dadurch das Erschütternde verloren, | er weiß daß was zwischen dem Sohn und dem Vater ausgemacht ist, auch auf ihn in Anwendung stehet, und ist erfüllt von der Zuversicht auf die Treue und Gerechtigkeit Gottes, und weil er die Sünde nicht anders erkennen kann und Buße thun, als daß er zugleich ihrer los zu sein wünscht, so ist er mit dem Bekenntniß der Sünde Eins mit dem 21–22 Vgl. Kol 2,9

25–26 Vgl. Joh 17,20–21

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Sohn der gekommen ist daß er die Sünde ausrotte. Eben so ist die Treue und Gerechtigkeit Gottes, auch dasjenige was uns reinigt von aller Unbußfertigkeit. Wenn dieses Beides nun, das Bekenntniß der Sünde, und das Losseinwollen, in den Gemüthern der bußfertigen Christen zusammenhängt, wie könnte es anders sein als daß der Christ das Gefühl hat von der fortgehenden Reinigung seiner Sünden – und indem wir immer wieder auf’s neue Gott unsere Sünden bekennen, so ist es die Bearbeitung des göttlichen Geistes die uns immer mehr lösen wird von ihr; eben weil die Treue Gottes des Vaters sich bezieht auf den in uns lebenden Glauben an den Sohn. Jeder Christ aber soll Buße thun, sowohl in der Stille seines Gemüthes, als öffentlich in der Gemeinschaft seiner Brüder, und in dieser empfängt er dann eben, | so wie die Zuversicht, die Reinigung des Vertrauens auf Gott. Was aber kann es wohl Seeligeres und Freudigeres geben, als daß bei diesem Gefühl, er immer mehr rein werden muß von Sünden, und erhellt im Lichte der Wahrheit. Ist also die Buße des gläubigen Christen das Vorgefühl der Heiligung wie sollte sie nicht ein freudiges Geschäft sein? Das ist der Sinn der Worte welche wir uns vorgehalten haben. So ist ein Tag der Buße nicht sowol gegeben, um die Sünden zu erkennen, sondern um alle einzelne Bekenntnisse derselben, gleichsam vor Gott zusammen zu sammlen, und wir sehen wie ein solcher Tag sich wol schickt, daß er in die freudigste Zeit der Christen hinein gelegt ist, eben weil er uns zeugt von der Treue und Gerechtigkeit Gottes, wenn das nun uns recht klar zu machen das gesegnete Werk der Buße ist, o wie sollte das nicht werth sein in die Zeit hinein gesetzt zu werden, wo der Herr in dem neuen Glanz der Auferstehung gewandelt. Wir wissen ja daß alles | Licht von dem uns kömmt, – und so wie wir nun in seinem Lichte alles klarer sehen, so wandelt er gleichsam in dem Lichte der Auferstehung unter uns, und verbreitet seinen himmlischen Seegen von oben. So laßt uns denn Buße thun mit freudigem Herzen, und in dem Vorgefühl der Reinigung, durch die Zuversicht auf die Treue und Gerechtigkeit Gottes – und fühlen daß sie uns eine Weissagung der Heiligung sei. Dann wird der Tag der Buße ein Tag freudigen Gebetes und ein Tag der Vereinigung der Erlösten und des Erlösers sein, – und so ist es sein heiliger Wille!

7 auf’s] aufs’

13 dann] denn

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Am 5. Mai 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Cantate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 28,18–20 Nachschrift; SAr 61, Bl. 92r–101v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 109r–109v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am Sonntage Cantate 1822. Matthäi 28 v. 18–20. Dieses ist eine sehr kurze und allgemeine Erzählung aus einer von jenen Zusammenkünften des Erlösers mit den Seinen, wo er die Eilf welche den Kern seiner Jüngerschaft ausmachten zu sich beschieden hatte. Sie sollten nach Galiläa gehen wo er sie sehen wollte, und dort redet er mit ihnen diese Worte welche freilich das Ansehen haben als ob sie die letzten wären die er zu ihnen gesprochen – wir wissen aber aus der Erzählung der andern Evangelisten daß die Jünger zurückgegangen nach Jerusalem, und daß er sie gen Bethanien geführt und da erst von ihnen geschieden. Diese Geschichte des Evangeliums gehört also im allgemeinen zu denjenigen, welche Lucas in der Apostel Geschichte beschreibt: der Herr habe sich den Seinen gezeigt, und mit ihnen geredet vom Reiche Gottes, denn davon handelt Alles was wir gelesen. Er fordert aber die Jünger auf, sie sollten zu allen Völkern gehen, sie zu seinen Jüngern machen, sie taufen, und sie halten lehren Alles was er ihnen befohlen. Wenn wir nun auch dieses auf jene Aehnlichkeit unsers Verhältnisses mit dem Erlöser in jenen Tagen seiner Auferstehung zurückführen, so würde das der natürliche Erfolg sein daß wir sagen müßten: auch die geistige Gegenwart des Erlösers muß eine solche Aufforderung enthalten, als die ist die er hier seinen Jüngern vorhält. | Ob es sich so verhalte das ist es was wir näher mit einander erwägen und prüfen wollen. Indem ich also voraussetze, umso mehr als der Erlöser auch hier seine Jünger darauf hinweist, daß er bei ihnen sein würde alle 2 Matthäi 28. v. 18–20] Mathäi 28. v. 16–20 3 einer] einen 7 letzten] Letzen 10 ihnen] ihm 17 dem] den 5–6 Vgl. Mt 28,7; Mk 16,7

9–10 Vgl. Lk 24,50–52

6 Galiläa] Galliläa

12–13 Vgl. Apg 1,3

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Tage bis an der Welt Ende, welches nur in diesem innern und geistigen Sinn kann gemeint sein, daß in der That diese seine innere Nähe und Gegenwart ähnliche Worte ausspreche und ähnliche Befehle, so laßt uns 1. Sehen worauf dieses beruhen müsse 2. Wie sich nun dieser Gehorsam gegen den Befehl des Herrn in uns allen äußern kann und soll. 1. Wenn es wahr ist daß es für uns alle einen ähnlichen Auftrag und Befehl des Erlösers giebt, den wir in dem Innern des Herzens als seine Stimme vernehmen, so muß das beruhen auf ein Verhältniß, welches dasselbe war, als er damals zu seinen Jüngern sprach: „ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende“ – Das darf uns wol nicht Wunder nehmen wenn wir zuerst im Allgemeinen erwägen: wie alles Lebende, je kräftiger, je herrlicher, je edler es ist, um so mehr dieses Bestreben hat sich mitzutheilen und zu verbreiten, zuerst in seinem unmittelbaren Kreise und dann in den weiteren – | nur das Todte, in so fern es etwas Todtes giebt, ist in sich abgeschlossen und allein – darum strebt das Lebende, das Todte in den Quell des Lebens hineinzuziehen – und das ist der Kreislauf und das Gesetz aller lebenden Dinge dieser Welt – und so fühlen wir dasselbige in Beziehung auf all die verschiedenen Aeußerungen unsers geistigen Lebens – Keiner mag und will was ihm theuer ist in sich selbst verschließen, unsere Gefühle und Empfindungen die sprechen wir aus, um zu vernehmen, ob sie die richtigen seien, und brauchen dazu alle Gebehrden alle Kraft der Rede, um darzulegen was das Innere verkündet. Aber noch viel weniger könnten wir es uns denken, daß nachdem der Sohn Gottes in der Welt erschienen, und Fleisch und Blut angenommen, er hätte wollen allein sein, ohne die Herrlichkeit des Vaters die in ihm wohnte andern mitzutheilen, und sie unbemerkt in der Stille, so wie sich diese göttliche Gabe dem Menschen Jesus mitgetheilt hatte, wieder verlöschen lassen ohne weitere Spur. Nein, nur dazu war er in die Welt gekommen, damit die durstenden empfänglichen Seelen, in ihm erkennen möchten die Herrlichkeit des Vaters, dazu daß | die Fülle der Gottheit sich ihnen immer mehr aufthun möchte, damit die Menschenkinder aus derselben nehmen könnten Gnade um Gnade. Und nicht wartete er bis die Menschen das Wort erkannt, um zu schöpfen aus der Quelle die ihnen vertrocknet war und verödet, und sich nun neu aus ihm ergoß, – nicht wartete er bis die Kranken kommen würden, um die Hülfe des Arztes aufzusuchen, – nein das war das Wesen und die natürliche Aeußerung der Fülle der Gottheit die in ihm wohnte, daß er selbst ging, zu suchen und 15 seinem] seinen

16 etwas] was

30–33 Vgl. Joh 1,14.16

18 Lebens] Lebes

37–38 Vgl. Kol 2,9

28 Jesus] Jesu

38–1 Vgl. Lk 19,10

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seelig zu machen das Verlorene, sich selbst verkündete als der Arzt, der die Kranken heilete, und das Erstorbene belebt. Wenn wir dieses Wort, welches alle Dinge trägt, und sich immer mehr bewährt, in unserer Seele wohnen haben, wie sollte es möglich sein daß der Erlöser der Welt, nachdem er seine Bestimmung auf Erden erreicht, nicht mehr in den Herzen durch Glauben wohne? wie sollte es möglich sein daß nachdem er diese seine Bestimmung erreicht hätte er ein anderer sein sollte als zuvor? – Darum ist es auch nie so gewesen – und nicht nur auf dieses | Wort das der Erlöser zu seinen Jüngern sprach als er noch auf der Erde wandelte, nicht nur darauf haben sie sich berufen, sondern vielmehr daß er selbst allen das Evangelium verkündete. Und so haben es nach ihm seine Jünger gethan, sie kündeten es Allen, denen es ein Ärgerniß oder eine Thorheit galt, nicht achtend des Spottes, – was sagen sie? „es ist die Liebe Christi die uns also dringet die Menschen zu versöhnen mit Gott“ – Das war die Kraft des Erlösers die in ihnen lebte und aus ihnen heraus handelte, es war die innere Stimme die sie in ihren Herzen vernahmen, die Güter des Heils die sie empfangen, zu gemeinsamen Gütern zu machen – unter den Flügeln und dem Schutz des Evangeliums alle die zu sammlen welche zu wissen begehrten was zu ihrem Frieden dient. Und so sehr fühlen wir die innere Wahrheit und die Nothwendigkeit dieses Bestrebens – daß wir gestehen müssen, wenn die Menschen erfüllt wären von seiner Kraft, von der Theilnahme an seinem Reiche, so daß keiner mehr irgend Etwas von den Andern empfangen könnte, und keiner mehr einen Gegenstand finden der ihm bedurfte, dann müßte auch unser irdisches Leben sein | Ende erreicht haben es müßte eintreten eine höhere Ordnung der Dinge, und unser Leben zu einer andern uns unbekannten Stufe, der Theilnahme an seiner Seeligkeit erneut. So lange aber dies nicht ist, wissen wir daß das uns derselbe Befehl ist, den der Erlöser seinen Jüngern aussprach, und daß so gewiß wir ihn haben, wir ihn mittheilen müssen, auf daß Alle sich freuen und leben in dem Einen von dem alles geistige Leben kömmt. Wenn nun dieses sich so verhält, so laßt uns denn 2. fragen: Wie sich der Gehorsam gegen diesen Befehl des Erlösers unter den Verhältnissen unsers Lebens äußern kann und soll – denn freilich drängen sich uns die Verschiedenheiten der Zeit in welcher die Apostel lebten, mit 5 den] die 11 kündeten] kündet gemeinsame Güter 17 dem] den 33 diesen] dieses

16 ihren] ihre 17 gemeinsamen Gütern] 18 ihrem] ihren 23 bedurfte] Kj fehlte

1–2 Vgl. Mt 9,12; Mk 2,17; Lk 5,31

13–14 Vgl. 2Kor 5,14

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der unsrigen, so auf, daß wir in Gefahr sind die Aehnlichkeit ganz zu verlieren. Damals war das Heil das durch Christum der Welt gegeben nur auf dieses kleine Häuflein beschränkt, so daß alle Kräfte sich regen mußten damit das Werk vollbracht werde. – Jetzt [ist] das Evangelium unter dem größten Theil der Geschlechter der Menschen verbreitet, und wenn gleich Viele denen es ge|reicht, es nicht angenommen, so ist doch einem Jeden so sehr sein Beruf und Wirkungskreis angewiesen daß wir abgeschnitten uns sehen von der Möglichkeit seinen Befehl zu erfüllen. Indeß, wenn wir unsere Lage in Beziehung auf den Erlöser erwägen, so finden wir im Texte zweierlei welches wol zu unterscheiden ist. Indem der Erlöser sagt: „Gehet hin und lehret alle Völker“ – so war das der Ausdruck ihrer Wirksamkeit in Beziehung auf die welche noch fern waren, und denen der Name des Erlösers noch unbekannt. Indem er aber sagt: „Lehret sie halten“ – so war eben dieses der Ausdruck ihrer Wirksamkeit in Beziehung auf die welche schon zu seiner Gemeinschaft getreten. Laßt uns fragen: Wie wir in diesen beiden Fällen den Willen des Erlösers zu erfüllen im Stande sind. Was also die Ersten betrift welche zu der Gemeinschaft der Bekenner des Erlösers nicht gehören, so sind das freilich zuerst die welche größtentheils entfernt leben von den Gegenden in welchen die Seegnungen des Evangeliums blühen, oder auch welchen er nicht mehr ganz unbekannt, doch auf eine unvollkommene Weise ihn kennengelernt, indem sie sich gebunden fühlen | an väterliche Satzungen, und sich von diesen nicht erheben können zu dem Bekenntnisse des Sohnes Gottes. Was nun diese betrift so lehrt uns die Schrift am Besten, wie die Jünger des Herrn, den Befehl des Erlösers in beider Hinsicht zu erfüllen haben. Als in Antiochia die Jünger versammlet waren, da sprach der Geist, sondert mir aus Paulum und Barnabam, daß ich sie brauche zu dem Werk wozu ich sie zugerichtet habe, und er sandte sie nur in solche Gegenden, wo das Wort des Herrn noch nicht erschienen. Es war eine gemeinsame Regung des Geistes unter denen welche ausrüsten sollten, und in denen, die sich der göttliche Geist zu Werkzeugen erwählt – und diese Uebereinstimmung die sie in ihrem Innern fühlten, und daß sie sahen daß sie seine Werkzeuge waren, diese war es worauf der ganze Seegen des göttlichen Werks ruhte. So ist es von jeher gewesen, und so ist es auch noch, der Beruf in die Ferne [zu] gehen, und das Wort des Evangeliums zu verkünden, ist eine besondere Regung des Geistes – und der sie in sich fühlt, mag wol zusehen ob nichts Menschliches ihn dazu gebracht, und seine Seele ge|täuscht – 5 werde.] werde, 5 dem] den 7 einem] einen 29 solche] solchen 33 ihrem] ihren 26–29 Vgl. Apg 13,1–2

11 ist.] ist,.

24 diesen] diese

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Wo aber das innere und das äußere Zeugnis hinzu kömmt, da mag ein Solcher sich seines Berufes als eines göttlichen erfreuen, und glauben, daß es die Kraft des Geistes Gottes gewesen die ihn aufgefordert, so wird er auch Frucht schaffen. Aber keiner vermag diesen Beruf in sich zu schaffen, und niemand darf einen Solchen der diesen Beruf nicht fühlt dazu überreden – das würde ein trügerisches und menschliches Werk sein – eben weil er nicht aus der Kraft des Geistes Gottes ausgegangen ist, auch der Seegen Gottes nicht darauf ruhen kann. Was aber nun die betrift, denen der Name des Erlösers nicht mehr unbekannt ist – was sind da für besondere Bestrebungen nöthig, um den Befehl des Herrn auf sie zu erfüllen? Das sehen wir ebenfalls aus dem Beispiele der Jünger des Herrn nachdem sie anfingen den Befehl des Erlösers zu vollziehen. Als sie erfüllt mit Kraft aus der Höhe waren sie einmüthig beieinander, ohne aus Furcht die Thüren verschlossen zu haben, wie sie es früher gethan, und als nun die Kraft des Geistes sich in ihnen regte, von der Herrlichkeit zu reden in der sie den Vater geschaut hatten, da war das Haus voll von Solchen, die dieser Ton der Lobpreisung herbeigelockt, welche früher schon | das Wort vernommen hatten, und denen Christus selbst nicht unbekannt geblieben. Da stand Petrus auf, und richtete, nun da sie sich selbst versammlet hatten, seine Worte an sie, und führte ihnen zu Gemüthe daß auch sie einen Theil der Schuld seiner Kreuzigung trügen, daß aber in der Gemeinschaft seiner Jünger ihnen das Heil der Buße zu Gute käme. So und nicht anders soll es immer sein, da wo die Gemeine schon gegründet ist und blüht, aber einzeln umgeben von Solchen welche sich fernhalten dem Evangelium, und auf andere Weise dem Bewußtsein Gottes Genüge leisten, – da bedarf es keiner besondern Bemühungen, denn von jeher ist ja das Christenthum ein Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit gewesen. Ist es ihnen ein Aergerniß, oder eine Thorheit, sei es auch sogar in Gefahr ihr Gespött zu werden, so sind sie die welche das Wort des Vorwurfs treffen kann, weil sie immer wieder hören werden was Petrus ihnen sagte. Und sind sie fähig Buße zu thun, o dann wird sich die Stimme der gläubi|gen Liebe ihnen nicht verschließen, dann wird der Weg des Lebens ihnen nicht unbekannt bleiben. Also in dieser Beziehung haben wir nur dafür zu sorgen daß der Geist nicht gehemmt werde, daß die Kraft des göttlichen Wortes nicht gedämpft werde – jeder in dem Kreise des häusli18 Haus] Has 18–20 die dieser Ton der Lobpreisung herbeigelockt] mit Umstellungszeichen hinter vernommen hatten, auf Bl. 96v 24 käme] kämen 14–24 Vgl. Apg 2,1–6.14.23.38

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chen und geselligen Lebens, denn auch dieser gehört zu dem gemeinsamen Leben der Christen, – was da bewegt wird und aufgestellt in den Herzen, das wird den Grund legen, um Verhältnisse der Liebe anzuknüpfen, auch unter denen welche so lange schon dem Herrn nahe standen ohne von ihm ergriffen zu sein. Unterhalten wir also diese Kraft des Geistes in uns, sorgen wir dafür daß die Gemeine des Herrn vor der Welt sich immer mehr darstelle ohne Flecken, und daß das Evangelium nur verkehrten Gemüthern könne eine Thorheit sein, daß es aber keinem empfänglichen Gemüthe daran fehle, die Herrlichkeit des Herrn zu empfinden, o dann haben wir alle den Befehl des Herrn vollbracht, dann haben wir das Unsrige gethan um sie zu seinen Jüngern zu machen, und alle Kraft die in ihnen wohnt dazu gebraucht, um ihnen angenehm zu machen, das Leben in Gott. | Aber schwer ist es, so leicht es auch scheint, in den Worten des Textes, zu sondern die welche schon zu der Kirche des Herrn gehören, und die welche ihr noch fremd sind – denn was sollen wir sagen von den Kindern die in unserer Mitte aufwachsen? Ja sie sind getauft, und durch die Taufe dem Herrn geweiht, sein Name ist über sie angerufen, aber zu seinen Jüngern gemacht das sind sie noch nicht, weil sie noch nicht kräftig ausgerüstet durch Wort und Thaten, so lange sie die Geschichte von Jesu von Nazareth, der gekommen ist die Menschen seelig zu machen, und Fleisch und Blut an sich genommen, nicht vernommen, und dazu Ja und Amen gesagt haben, so lange ist der Befehl des Herrn nicht in Erfüllung gegangen, und so lange gehören sie zu denen, welche zwar im Begrif stehen, aber noch nicht vollkommen aufgenommen sind. Sie sind zwar durch die Taufe in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen, aber nur wenn ihr eigenes Bekenntniß dazu kömmt sind sie Jünger des Herrn. – O könnte und dürfte es aber einen Augenblick geben, | den wir vorzüglich preisen als die geistige Nähe des Erlösers, der nicht die Herzen der Christen aufschlösse, und hinführte zu denen die noch zu Jüngern des Herrn gemacht werden sollen – denen als der höchste Gegenstand ihrer Liebe und ihres [ ] Jesus soll vor Augen gemahlt werden, damit sie jede andere menschliche Satzung gering achten, und zu der lebendigen Vereinigung mit ihm gelangen. Sollte es möglich sein daß wir den Reichtum seiner Gnade in unsern Herzen empfänden, und nicht das Bestreben hätten ihn einzupflanzen in die Seelen der Jugend, wäre das möglich da es doch keinem unter uns fehlen kann an Gelegenheit dazu, o da ist unser gemeinsamer Beruf, das ist das Erste um diesem Befehl des Herrn nachzukommen. [ ] 1 dem] den 4 dem] den 26 Herrn.] Herrn, 30 ihres] folgt ein Spatium von weniger als einer halben Zeile Länge 35 keinem] keinen 36 diesem] diesen 37 nachzukommen.] folgt ein Spatium von dreieinhalb Zeilen Länge

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Am 5. Mai 1822 vormittags

Ja davon am meisten werden wir dem Herrn Rechenschaft zu geben haben, ob wir so viel [als] möglich zu wirken gesucht haben, auf die welche ihm sollen gewonnen werden, oder ob mehr die Augenblicke menschlicher Schwachheit in unserm | Thun sich verkündeten, und einen verderblichen Einfluß auf ihr Leben ausgeübt. Nun laßt uns weiter auf das gemeinsame Leben der Christen untereinander unsern Blick richten, und das Wort des Erlösers erwägen: „und lehret sie halten alles was ich Euch befohlen habe“ – denn daran sollen wir keinen Zweifel haben, wer in den Tagen der Kindheit durch die Taufe in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen ist, wer hernach in den Jahren des erwachten Gefühles, nach empfangenem Unterricht mit der Zustimmung der Gemeine sein eigenes Bekenntniß abgelegt hat, der ist dann auch zum Jünger des Herrn gemacht, und keiner wage es ihm diesen Namen abzusprechen. Welche aber zu Jüngern des Herrn gemacht sind, in Beziehung auf diese sagt der Apostel „lehret sie halten“ – Freilich darf ich wol kaum voraussetzen daß alle einstimmig dieser Meinung sind, sondern viele werden denken: „Schön wäre es wol wenn es so wäre, aber es ist doch nicht so – Viele unter denen die getauft sind, und erklärt haben daß sie seine Jünger sind, sind es doch nur dem Namen nach – bei denen ist | das Bekenntniß, in jenen heiligen Augenblicken doch nur ein Bekenntniß der Lippen gewesen, oder sie haben den Weg des Heils wieder verlassen, wir sehen es ja daran daß sie wenig von der Kraft der göttlichen Gemeinschaft in sich tragen, aber viel von dem Gesetz in ihren Gliedern wirken lassen, daß sie sich nicht zu derselben Regel des Herrn halten, wie sollten wir uns damit begnügen an ihnen nur den letzten Befehl auszuüben, und uns nicht viel mehr bestreben sie erst zu Jüngern zu machen, da wir lebendig fühlen daß sie es noch nicht sind.“ Und doch bleibe ich bei dem Wort, daß keiner unter uns das Recht hat einem solchen den Namen eines wahren Christen abzusprechen, so lange er sich nicht selbst von dem Herrn lossagt und trennt. Denn umsonst ist nicht die göttliche Gnade, todt ist nicht das Wort der Verheißung, und unwirksam kann es unmöglich sein – darum dürfen wir, die Bekehrung erwartend, es immer halten für einen Zustand vorübergehender Verblendung. Darum laßt uns uns hüten vorschnelle Richter zu sein, und einen Knecht richten wollen desselben Herrn der uns fremd ist. O wie viel kann das Gesetz das in den Gliedern herrscht, noch Gewalt ausüben auch wenn das Wort in | der That schon Wurzel gefaßt hat, auch wenn es Augenblicke giebt, von denen wir sagen müssen: Es sind die Vorübungen des göttlichen Geistes – Wie aber sollen wir das äußere Zeichen geben, gegen die denen mehr von dem was uns wichtig 1 dem] den einen

10 empfangenem] empfangenen

32–34 Vgl. Röm 14,4

26 sind.“] sind:

27 einem]

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ist, gleichgültig zu sein scheint – Was aber nun das Andere betrift: Wie sollte das die Wirkung des Erlösers sein, wenn er die nicht alle für Jünger halte, die nicht wie wir ihre Lobpreisung in dieselben Worte fassen. Ach dieses Richten des Werth’s, dieses Ver[ ] des Berufs, das ist nicht von Christo dem Herrn nicht von dem der auch den ungläubigen Thomas nicht aufhört seinen Jünger zu nennen, das ist nicht die Stimme des Herrn in unsern Herzen der als der Jünger gefallen, ihn doch auf dem heiligen Berge als seinen Jünger anredet, – nicht die Stimme dessen der niemals seine Lehre in feste Formeln gebannt hat, – sondern der selbst unter den wenigen Reden solche Äußerungen giebt, die einen scheinbaren Wiederspruch haben, damit wir das um so fester einsehen lernen daß das göttliche Wort nicht an todte Buchstaben gebunden ist, sondern in Geist und Leben eingehe. | Aber das ist nun unser Beruf an denen welche zu Jüngern schon gemacht sind, daß wir sie lehren halten was der Herr befohlen, und sorgen daß sie dazu immer geschickter werden durch jeden seeligen Augenblick. Jeder soll etwas hinzufügen zu der Kraft die in uns Allen sein soll, zu lehren: aber wie? – ach daß uns allen dazu die Weisheit von oben nicht fehlen möchte, daß wir in jedem Augenblick thun, was der Geist Christi in uns gebiete – lehren mit den Worten der Strafe und der Züchtigung, ach das ist nur selten das Rechte und Gute denn es reitzt zum Widerspruch. Aber durch unser ganzes Leben lehren daß jeder nicht auf sich selbst siehet, sondern auf das was des Andern ist, das fördert am sichersten. Und was ist es denn nun was wir lehren sollten? das schwebt uns vorzüglich in zwei Worten des Erlösers vor, die jeder unbefangen und richtig auf sich anwenden kann. Er sagt: „Ein neu Gebot gebe ich euch, daß ihr euch untereinander liebet wie ich euch geliebt habe.“ – Diese Liebe sollen wir lehren, und wie wir sie immer inniger fühlen müssen, so oft er sich darin uns darstellt, als das Eben|bild des Vaters, wie wir überall angeregt sein müssen von dieser göttlichen Liebe, so sollen wir stets geneigt sein sie mitzutheilen – und wie der Herr selbst erschien als das Bedürfniß der Menschen am dringensten geworden, so diese Liebe lehren überall durch Wort und That, das ist es wozu uns jede Gegenwart des Herrn immer kräftiger ermuntert. So wir aber scheuen das Mangelhafte und Unvollkommene in unsern Nebenmenschen, uns von ihnen absondern als seien sie es nicht werth, o so würden wir ja die Kraft der Liebe uns verstopfen. Das zweite Wort des Herrn ist dieses: Als einst die Jünger ausgesandt waren, und zurückgekehrt, und frohlockend erzählten von allem was ihnen 1 betrift:] betrift,: 4 Ver] folgt ein Spatium für den zweiten Wortteil den Herrn 14 denen] die 19 jedem] jeden 38 allem] alles 5–6 Vgl. Joh 20,26–29 Lk 10,17.20

22–23 Vgl. Phil 2,4

26–27 Joh 13,34

5 dem Herrn]

37–3 Vgl.

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Am 5. Mai 1822 vormittags

Unterthan geworden, da sprach der Herr: „Freut euch nicht daß euch die Geister unterthan sind, sondern daß eure Namen im Himmel angeschrieben sind“ – Das that er um die Menschen zu lehren daß es nichts höheres giebt, als daß unsere Namen im Himmel geschrieben | stehen, sie zu lehren durch Wort und That, daß alles andere ein viel zu geringer Gegenstand ist, um neben diesem stehen zu können, zu lehren daß wir Eins sind mit dem Erlöser der die Schlüssel des Himmelsreichs hat, zu lehren für die Bestrebungen dies immer mehr in sich selbst zu gründen, und das Bewußtsein des Angeschriebenseins nicht um alle Freuden und Leiden der Welt zu verlieren. Diese Allgegenwart unserer Bestrebungen als das höchste Werk allen Menschen zu lehren und kund zu thun in unserm ganzen Wandel, das ist es wozu wir uns berufen fühlen müssen – das ist es was wir empfinden sollen als das Höchste, und über alle Augenblicke irdischer Seeligkeit, weit hinaussetzen. Wenn nun der Herr sagt: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“ – und nachdem er damit die Rede beschlossen: „Ich bin bei euch alle Tage“ – so fühlen wir auch indem er unsern Herzen nahe ist, daß ihm alle Gewalt gegeben im Himmel und auf Erden – denn da schwinden ja alle Wünsche, und verlieren sich alle Bestrebungen ganz nur in das Eine[.] Und so können wir uns denn kein anderes und herrlicheres Ziel denken, als daß er | wirklich bei uns sei, – und daß wir das in jedem Augenblick empfinden – wie es in der That und Wahrheit ist, daß uns alle Seeligkeit aus diesem Bewußtsein hervorgehe – Darum segnet er uns mit dem Gefühl seiner geistigen Nähe, als der Vereinigung mit dem Sohne Gottes, darum erweiset er sich kräftig in seinen Jüngern, daß auch sie ihn in andern verherrlichen und ihn fest haben in ihrem Gemüthe. Und wenn denn alle sein werden in dem Besitz seiner geistigen Gegenwart, und seiner holden Nähe, dann werden wir ihm gleich sein, weil wir ihn sehen wie er ist.

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[Liederblatt vom 5. Mai 1822:] Am Sonntage Cantate 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott ist der etc. [1.] O zeuch mich, Heiliger, zu dir / Am Tage deiner Ehre! / Gieb daß mit eifriger Begier / Dein Wort ich freudig höre! / Laß diesen Ruhetag allein / Dir, o mein Gott, geheiligt sein, / Geheiligt deinem Ruhme. // [2.] Es freue meine 4 sie] ihnen

6 diesem] dieses

28 Vgl. 1Joh 3,2

21 jedem] jeden

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Seele sich, / Hin in dein Haus zu gehen; / Dein göttlich Wort erleuchte mich, / Was Heil mir bringt zu sehen; / Wie freundlich du, mein Vater, bist, / Wie dein Gesetz nur Liebe ist, / Wie selig, wer dir folget. // [3.] Gieb daß des Geistes Wort und Kraft / Mein ganzes Herz durchdringe; / Und ich treu und gewissenhaft, / Was er mich lehrt, vollbringe, / Laß mich durch seinen Unterricht / Stets eifriger in meiner Pflicht, / Im Glauben stärker werden. // [4.] So wird dein Tag, o Vater, mir / Ein Tag des Segens werden; / So seh’ ich und empfind in dir / Den Himmel schon auf Erden; / So werd ich nach der Prüfungszeit, / Zur Ruh in deiner Ewigkeit, / Zu deinem Anschaun kommen. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Werde munter etc. [1.] Ewge Liebe, mein Gemüthe / Waget einen tiefen Blick, / In den Abgrund deiner Güte; / Send’ ihm einen Blick zurück, / Einen Blick voll Freudigkeit, / Der die Finsterniß zerstreut, / Die mein blödes Auge drücket, / Wenn es nach dem Lichte blicket. // [2.] Ich verehre dich, o Liebe, / Daß du dich erbarmet hast, / Und aus freiem reinem Triebe / Den erwünschten Rath gefaßt, / Der in Fluch versenkten Welt / Durch ein theures Lösegeld, / Und des eignen Sohnes Sterben, / Gnad’ und Freiheit zu erwerben. // [3.] O ein Rathschluß voll Erbarmen, / Voll von Huld und Freundlichkeit, / Der so einer Welt von Armen / Gnade, Trost und Hülfe beut! / Liebe, die den Sohn nicht schont, / Der in ihrem Schooße wohnt, / Um Verlorene zu retten / Aus der Sünde Sklavenketten. // [4.] Doch du hast, o weise Liebe, / Eine Ordnung auch bestimmt, / Daß sich jeder darin übe, / Der am Segen Antheil nimmt. / Wer nur an den Mittler glaubt, / Und ihm treu ergeben bleibt, / Der soll nicht verloren gehen, / Sondern Heil und Leben sehen. // [5.] Diesen Glauben anzuzünden, / Wollst du deinen guten Geist, / Wie der Tilger unsrer Sünden / Heilsbegierigen verheißt, / Denen die gebeuget stehn, / Die ihr Unvermögen sehn, / Und zum Thron der Gnade eilen, / Gern und willig noch ertheilen. // [6.] Liebe laß mich dahin streben, / Meines Heils gewiß zu sein! / Richte selbst mein ganzes Leben, / Ganz nach deinem Willen ein, / Daß des Glaubens Frucht und Kraft, / Den dein Geist in mir geschafft, / Mir zum Zeugniß dienen möge, / Ich sei auf dem Himmelswege. // (Rambach.) Nach der Predigt. – Mel. Eine feste Burg etc. [1.] Herr deine Kirche danket dir: / Noch wohnt dein Wort im Lande. / Von deiner Gnade haben wir / Noch deinen Geist zum Pfande. / Sie, die dir vertraut, / Hast du fest gebaut; / Deines Lichtes Macht / Besiegt des Irrthums Nacht, / O herrsch’ in jedem Lande. // [2.] Herr deine Kirche streitet noch, / Hilf deiner Kirche siegen! / So schwer ihr Kampf ist, müsse doch / Kein Streiter unterliegen, / Hör ihr kindlich Flehn; / Eil ihr beizustehn, / Daß sie standhaft sei, / Stets deiner Wahrheit treu, / Hilf deiner Kirche siegen. //

Am 12. Mai 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Rogate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,1–4 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 480–491; König (zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.3.E.a.) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

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Tex t. Phil. 2, 1–4. Ist nun bei euch Ermahnung in Christo, ist Trost der Liebe, ist Gemeinschaft des Geistes, ist herzliche Liebe und Barmherzigkeit: so erfüllet meine Freude, daß ihr eines Sinnes seid, gleiche Liebe habet, einmüthig und einhellig seid. Nichts thut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demuth achtet euch unter einander Einer den Andern höher als sich selbst. Und ein Jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, das des Andern ist. Es ist noch nicht lange her, m. g. F., daß wir diese Worte zum Leitfaden unserer Betrachtung gemacht haben an einem heiligen Tage. Ich habe aber deshalb nicht geglaubt, da wir jezt auf sie treffen in der Ordnung unserer zusammenhangenden Betrachtungen über diesen Brief, dieselben übergehen zu müssen; vielmehr werden wir heute mehr können in das Einzelne selbst hineingehen, was der Apostel in diesen Worten giebt, als es damals die Gelegenheit des Tages zuließ. Wenn wir sie näher betrachten, so sind es dringende Bitten, die der Apostel den Christen vorträgt, aber dabei auch Fertig|keiten und Voraussezungen, ohne welche – denn das ist der Zusammenhang seiner Gedanken – jene Bitten nicht konnten erfüllt werden. „Ist, sagt er, Ermahnung in Christo, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes, herzliche Liebe und Barmherzigkeit bei euch,“ das sind die Voraussezungen, ohne welche der Wunsch des Apostels nicht konnte erfüllt werden. Und darauf nun spricht er seine Bitte selbst aus: „so erfüllet meine Freude, daß ihr eines Sinnes seid,“ und wie es weiter lautet. So laßt uns nun die Bitte des Apostels einzeln uns vorhalten 9–10 Vgl. unten 31. März 1822 vorm.

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und über den Inhalt derselben nachdenken; es werden uns die Gelegenheiten nicht fehlen, uns der Voraussezungen bewußt zu werden, auf denen sie ruht, und was die Gnade Gottes thun muß, wenn auch unser Gebet das des Apostels sein soll. Wir können aber diese Bitte des Apostels in drei verschiedene zusammenfassen, wenn gleich in jeder einzelnen Manches, aber genau zusammenhangend, verbunden ist. Die erste ist, „daß ihr eines Sinnes seid.“ Wenn wir, m. g. F., in dieser Hinsicht den Zustand der Christen, wie er uns gewöhnlich vor Augen liegt und wie er auch zu allen Zeiten im Ganzen immer gewesen ist, betrachten, so muß es uns scheinen, als ob sie sich auf eine wunderliche Weise in die Bitte des Apostels getheilt hätten. Es giebt Einige, denen freilich Alles daran liegt, daß alle Christen sollen eines Sinnes sein, und deswegen zeichnen sie selbst genau dasjenige, was der christliche Sinn, in welchem Alle eins sein sollen, sein müsse. Je genauer sie das bestimmen wollen, desto mehre müssen sie von dieser Einheit des Sinnes ausschließen, und halten nur diejenigen für solche, denen die Bitte des Apostels am Herzen liege, welche mit ihnen eines Sinnes sind. Dadurch aber wird ihre Liebe sehr ungleich, und so leidet der andere Theil der Bitte des Apostels „daß ihr gleiche Liebe habt;“ sondern sie haben herzliche, vertrauensvolle, innige Liebe zu denen, die in jenem engern Sinne mit ihnen einer Meinung sind, gegen die Uebrigen aber verhalten sie sich | gleichgültig und kalt, weil sie dieselben als solche ansehen, die den rechten christlichen Sinn nicht haben. Dagegen giebt es Andere, denen vorzüglich das in der Bitte des Apostels das Wichtige ist, gleiche Liebe unter einander haben. Diese nun fassen, so viel sie können, alle Christen in ihrem Herzen zusammen; aber dabei fühlen sie wol, wenn unsere Liebe gegen Alle gleich sein soll, so muß man weniger Werth legen auf die Einheit des Sinnes und meinen, es dürfe dann nicht so genau genommen werden mit der Denkweise der Christen über dieses und jenes, sondern damit man die Liebe bewahre, müsse man gleichgültig sein gegen Meinungen und Ueberzeugungen; und indem die Erfahrung genügend gelehrt hat, daß es nicht möglich ist, Alle zu einer Meinung zu bringen, so sehen sie es an als etwas, was Gott allein richten kann, und es bildet sich in ihnen die Meinung aus, als ob es bei dem Heil der Menschen weniger auf die Einheit der Ueberzeugungen und Meinungen ankomme, als auf die Liebe. Da ist gewiß Liebe, aber wenig Bestreben dazu beizutragen, daß die Christen eines Sinnes seien. Wenn wir dies betrachten, m. g. F., so muß es uns deutlich sein, daß beide die Bitte des Apostels nicht erfüllen; denn der Apostel trennt das nicht, sondern stellt es beides zusammen: eines Sinnes sein und gleiche Liebe haben. Wenn wir aber nun sehen, wie wenig sich dies bei den Christen verträgt, und wie eins das andere auszuschließen scheint, so wird es uns desto wichtiger zu fragen, wie muß sich der Apostel das gedacht haben, um beides so zu verbinden, wenn die Erfahrung lehrt, daß es unter den

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Christen gewöhnlich getrennt ist? Wenn wir fragen, was ist die gleiche Liebe? o, so brauchen wir nur daran zu denken, daß der Apostel als ein Diener des Evangeliums an solche schrieb, die zu demselben durch die Gnade Gottes gekommen waren und den als Heiland der Welt angenommen hatten, den Gott gesandt hatte, um zu suchen und selig zu machen, was | verloren war. Das ist ja die Eine Liebe, von welcher die Herzen aller derer ergriffen und durchdrungen sein sollen, die in der That in dem Evangelio die seligmachende Kraft Gottes gefunden haben; und diese Liebe also, m. th. F., die soll gleich sein gegen Alle, in allen unsern Brüdern und in jedem ohne Unterschied sollen wir solche sehen, die benöthigt sind des Heils, welches Gott der Welt durch Christum gesandt hat, und gegen Alle diese Liebe haben, daß wir alles, was in unsern Kräften steht, thun, damit auch ihnen dieses Heil werde. Eine andere Liebe giebt es nicht, die wir gegen unsere Brüder haben sollen, als die Liebe Christi, und wie diese auf das ganze menschliche Geschlecht gerichtet gewesen ist, so soll auch jeder unserer Brüder für uns ein gleicher Gegenstand unserer Liebe sein. Dann haben wir den Sinn des Apostels getroffen, gleiche Liebe unter einander zu haben, und wenn es dann noch eine Ungleichheit giebt, wenn wir mit derselben Liebe dem einen mehr zugethan sind als dem andern, so soll auch das der Gegenstand unsers Bestrebens sein, die Liebe auszugleichen; von allen denen, die von dem Geiste derselben stärker durchdrungen sind, als wir, sollen wir ihre Kraft gleichsam einsaugen, und eben so soll sie von uns ausströmen in die, welche noch weniger davon ergriffen sind, als wir, damit so immer mehr die Liebe gleich werden könne. – Wenn wir aber fragen, was ist die Einheit des Sinnes, welche unter allen Christen sein soll? so können wir auf nichts anderes als auf dasselbe sehen und sagen, die Einheit des Sinnes unter allen Christen, das kann keine andere sein, als die Einheit der Erkenntniß und Gesinnung, Jesum als den Erlöser der Welt anzuerkennen und ihn zum Führer auf dem Wege des Heils anzunehmen; das ist die Einheit des Sinnes, welche unter allen sein soll und sein kann, die seinen Namen tragen und in seine Gemeinschaft aufgenommen sind. Wenn wir nun aber sehen, m. g. F., wie der eine sagt, er erkenne Christum als den Erlöser der Welt an und halte sich zu | ihm, und der andere dasselbe sagt, wenn man sie aber näher fragt, die Gedanken und Vorstellungen des einen doch ganz anders lauten, als die des andern: wie sollen wir uns dann herausfinden, um die Einheit des Sinnes festzuhalten? Ja, m. g. F., da gibt es nichts anderes, als daß wir auf ein anderes Wort desselben Apostels kommen, wo er sagt: „Nicht daß ich es schon ergriffen habe, oder schon vollkommen wäre.“ Wenn wir die vollkommene oder nur richtige Erkenntniß von Christo schon ergriffen hätten, so würde sie in Allen 5–6 Vgl. Lk 19,10

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dieselbe sein. Denn das können wir uns nicht bergen, daß die Wahrheit eine göttliche alles durchdringende Kraft ist, und wenn sie da wäre rein, gesondert von allen menschlichen Irrthümern und Unvollkommenheiten, dann müßte sie sich auch so verbreiten und würde allen menschlichen Irrthum besiegen. Die Verschiedenheit der Meinungen und Ansichten selbst muß uns darauf führen, daß wir es noch nicht ergriffen haben; sie muß uns überzeugen, daß keiner unserer Vorstellungen vom Göttlichen das Menschliche fehlt, daß mit der Einsicht, die das Licht des Evangeliums in uns gewirkt hat, auch die Neigung des Menschen zum Irrthum verbunden ist, welche aus der Dunkelheit kommt, von der nur das Licht des Evangeliums befreien kann. Haben wir diese Ueberzeugung gewonnen, m. g. F., o dann müssen wir wol einsehen, wie nahe beides einander liegt: eines Sinnes sein und gleiche Liebe haben. Denn wenn das unser gemeinsames Loos ist, daß unsere Erkenntniß Jesu Christi noch unvollkommen ist, und daß diese sich mehren kann in dem Maaße, als sie vollkommen wird: wie könnte dann die gleiche Liebe, die wir gegen einander haben sollen, nicht auch darin bestehen, daß wir das Wachsthum der Erkenntniß, welches uns als eine Gnade Gottes verheißen ist, auch nebeneinander suchen, daß wir nicht uns ausschließlich oder vorzüglich zu denen gesellen, die mit uns gleiche Ansichten und Meinungen haben, diejenigen aber meiden, mit denen wir in dieser Hinsicht nicht zusammenstimmen, sondern | daß wir auch mit denen freundlich verkehren, deren Vorstellungen anders sind, als die unsrigen, damit aus dem Verschiedenen immer mehr für uns das Gleiche hervorgehe. Darum, m. g. F., sagt der Apostel, daß diese Bitte nur kann in Erfüllung gehen, daß die Christen nur können gleiche Liebe haben und eines Sinnes sein, wenn unter ihnen ist Ermahnung in Christo, Trost der Liebe, Gemeinschaft des Geistes und herzliche Barmherzigkeit. Denn, m. g. F., was ist Ermahnung in Christo anderes, als daß wir in uns allen rege erhalten das Bestreben, in welchem der Mensch so leicht ermüdet, in eine immer genauere Verbindung mit dem Herrn zu treten und ihn uns immer mehr anzueignen? Was ist Trost der Liebe anderes, als daß wir uns damit unter allen Unvollkommenheiten des irdischen Lebens gegenseitig trösten: „es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, aber es wird erscheinen!“ als daß wir einander gegenseitig zurufen: stehet fest jeder in dem, was ihm der Herr offenbart hat, und so euch noch etwas Gutes fehlt, so wird er euch auch das kund thun nach seiner Weisheit? Was ist Gemeinschaft des Geistes anderes, als daß wir bereitwillig sind, jeder dem Andern, so weit es sich thun läßt und im Austausch der Gedanken geschehen kann, gern und willig sein Inneres aufzuschließen, aber auch eben so bereitwillig sind, was die Früchte des Geistes in andern sind, was der Geist der Wahrheit, der Liebe, der Erkenntniß und Heiligung in menschlichen Seelen gewirkt 17–18 Vgl. 2Petr 3,18

33–34 Vgl. 1Joh 3,2

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hat, eben als ein Werk des göttlichen Geistes anzuerkennen und zu lieben? Das ist Gemeinschaft des Geistes, daß in jedem der Geist Gottes wohnt und die Mannigfaltigkeit der geistigen Gaben hervorbringt, die in der Gesammtheit waltet; daß jeder, wie er das Wirken des Geistes in sich fühlt, so auch die Regungen desselben in andern anerkennt, und wie er selbst ein Tempel des göttlichen Geistes geworden ist, auch seine Brüder als solche ehrt, in denen dieser Geist mit seinen Gaben wohnt und mit | seiner Kraft wirkt. Endlich was ist herzliche Barmherzigkeit anderes, als dies, daß wir dasjenige, was uns geistig mangelhaft erscheint in unsern Brüdern, uns angelegen sein lassen wie unsern eigenen Schaden und unser eigenes Leiden, daß wir unsere ganze Liebe darauf richten, sie auf eine milde Weise von dem zu befreien, was sie drückt, und ihnen das erfreulich zu machen, was sie erheben kann? Je mehr wir glauben, in der Erkenntniß der christlichen Wahrheit weiter zu sein, als andere, desto mehr soll die Barmherzigkeit sich darin erweisen, daß wir ihnen dasjenige, was uns selbst werth und köstlich ist und als himmlische Wahrheit einleuchtet, in fröhlicher Gemeinschaft des Geistes und Herzens auch suchen zu eigen zu machen. So wird immermehr alles eines Sinnes sein und in gleicher Liebe ganz sich gegenseitig durchdringen und durch das eine das andere immer vollkommener werden. Die zweite Bitte des Apostels ist die: „Erfüllet meine Freude, daß ihr nichts thut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demuth euch unter einander achtet, einer den andern höher als sich selbst.“ Ich glaube nicht, daß, um den Sinn dieser Bitte des Apostels zu verstehen, wir in das Gebiet irdischer und weltlicher Bestrebungen der Menschen hinauszusehen brauchen, wo Zank und eitle Ehre so reichlich ihren Siz aufzuschlagen pflegen, sondern eben in dem geistigen Gebiet des Christen müssen wir dies finden können, weil sonst die Bitte des Apostels keinen Grund haben würde. In diesem Sinne betrachten wir uns selbst und wollen angesehen werden doch immer als Diener und Werkzeuge Christi, die er erlöset und sich erworben hat, damit wir selbst nicht nur sein Heil genießen, sondern auch fördern, und jeder suche sein Heil und seine Zufriedenheit nicht nur in einem, sondern auch in andern, und keiner eine größere Freude habe, als wenn ihm durch die Gnade Gottes gegeben wird, etwas für sein Reich zu thun. Daran knüpft sich natürlich auch jenes Unkraut des Zankes | und eitler Ehre und erscheint als dasjenige, was vermöge des menschlichen Verderbens in dem Herzen der Christen mit der guten Saat, die der Herr hineingelegt hat, aufsprießt. Denn jemehr wir darin unser Glück sezen, etwas für das Reich des Herrn und seine Gemeinde auf Erden zu thun, desto mehr schleicht sich in unser Gemüth eine gewisse Eifersucht ein; wir wollen das als etwas Großes, Wichtiges und Bedeutendes ansehen, was der Herr durch seine Gnade, die in uns wirksam gewesen, ausgerichtet hat; und da das nur durch Vergleichung geschehen kann, so geschieht es sehr leicht, daß wir, was der Herr unserm Bruder verliehen hat zu thun, für desto geringer anse-

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hen, je treuer und eifriger wir das unsrige in seiner Kraft thun, und so entsteht aus dieser geistigen Selbstsucht die eitle Ehre, und aus dieser der Zank. – Was stellt nun der Apostel dem entgegen? Daß ihr nichts thut durch Zank oder eitle Ehre, sondern durch Demuth achtet euch unter einander einer den andern höher als sich selbst. Der Apostel redet hier, m. g. F., nicht von dem, was der Mensch thut, sondern von dem, was er ist; er sagt nicht: „achtet in Demuth einer des andern Thun höher, als was er selbst gethan hat,“ sondern: „einer den andern höher, als sich selbst,“ und führt uns von dem, was der Mensch verrichtet und wobei besonders Zank und eitle Ehre sich findet, auf das, was der Mensch ist. Wenn wir fragen, was der Mensch selbst ist, so muß die ganze Geschichte unsers Herzens und unserer geistigen Führung uns vor Augen treten. Da sehen wir uns in dem erfreulichen Besitz der Gaben, mit welchen Gott der Herr uns bei unserm Eintritt in diese Welt ausgerüstet hat; wir sehen dann bei alle demjenigen, was das irdische Leben uns gebracht hat, wie das alles uns dahin führen sollte zu erkennen, daß der Herr Gedanken des Friedens und der Seligkeit mit uns hat; wir wissen, wie der göttliche Geist stets bemüht gewesen ist, sich unsers ganzen Gemüthes zu bemächtigen und jene auf mancherlei Weise gemißbrauchten und verkürzten Gaben Gottes sich anzu|eignen zu seinen Werkzeugen. Diese Geschichte unsers Herzens können wir uns nicht vor Augen stellen, ohne demüthig zu werden; denn sie zeigt uns eben das menschliche Verderben und die menschliche Gebrechlichkeit, und indem wir uns auf der einen Seite vor Augen halten, was Gott der Herr uns mitgegeben hat in dieses Leben, und auf der andern aller göttlichen Bemühungen zu unserm Heil, die wir im Laufe desselben erfahren haben, aller Gnadenbeweise von oben, die uns zu Theil geworden sind, gedenken, so muß jeder sagen, er müßte ein anderer sein, als er ist, wenn nicht das Fleisch strebte wider den Geist. Und was ist es anders, als das Streben des Fleisches gegen den Geist, dieser Kampf des Niederen gegen das Höhere, was den Menschen demüthig macht? Aber wenn wir darauf sehen, was der andere ist, die Geschichte eines andern menschlichen Gemüthes, die steht nicht so vor unsern Augen; da verbirgt sich unsern Augen, was wir uns selbst nicht verbergen können. Wie leicht haben wir es da und wie natürlich ist es, daß wir den andern höher achten, als uns selbst! Nämlich auf der einen Seite sehen wir in jedem mancherlei Gutes, was in uns entweder nur spärlich oder gar nicht ist, und haben also Veranlassung, ihn höher zu stellen, als uns selbst; auf der andern Seite wissen wir vieles von uns, was uns in unsern Augen demüthigen muß, was wir an dem andern nicht kennen. Und so ist was der Apostel von uns fordert nicht eine erheuchelte Demuth, sondern das, was dem Menschen natürlich ist, dem es um eine gründliche Selbsterkenntnis zu thun ist. Wenn wir dem ohnerachtet sehen, wie selten das ist, daß einer den andern in

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Demuth höher achtet, als sich selbst, sondern wie das nichts Seltenes ist, daß, wenn wir nicht wissen, wie es mit der Tüchtigkeit eines andern steht, wir uns auf unsere eigene Rechnung eine Vorstellung davon machen, die dann keinen andern Zwekk hat, als daß wir dabei bleiben können, uns über ihn zu erheben, dann kommen wir wieder auf die Voraussezung des | Apostels zurükk. Denn wenn auch in diesem Sinne Ermahnung in Christo bei uns ist und Trost der Liebe und Gemeinschaft des Geistes und herzliche Barmherzigkeit, dann wird auch bald die Demuth den Sieg, der ihr gebührt, über die Eigenliebe, die immer wieder in unserm Herzen sich regt, davontragen. Denn was ist anderes die Ermahnung in Christo, als dies, daß wir uns selbst verleugnen und unsern Heiland bekennen und ihm nachfolgen, daß wir immer nur auf ihn und seine Ehre und nicht auf die unsrige sehen wollen, und daß, wenn es uns am Herzen liegt, ihn zu lieben und sein Reich zu fördern, wir auch alle Mittel, die er dazu gegeben hat, in Ehren halten und benuzen müssen. Aber welches ist das größte unter allen Mitteln, die er uns darreicht, um ihm zu dienen? Kein anderes, als eben die Gemeinschaft des Geistes, den er in unsere Herzen ausgießt, die Gemeinschaft der Gaben, mit denen wir ihm dienen sollen, und die Bereitwilligkeit, an seinem heiligen Werke zu arbeiten. Dann muß ja nothwendig alles verdrängt werden, was Zank und eitle Ehre hervorrufen könnte; und so führt uns also die Ermahnung in Christo darauf hin, dem allen in der Kraft des Geistes, dadurch der Herr mächtig in uns ist, unermüdet zu widerstehen. Ist Trost der Liebe in uns, m. g. F., so können wir wenig Werth legen auf das, was wir uns über uns selbst sagen, sondern werden uns recht zu befestigen suchen in der Kraft der Liebe, damit wir ihr heiliges Werk desto mehr fördern können. Wo wir dem Zank und der eitlen Ehre dienen, da muß der Trost der Liebe fehlen; wenn wir aber Trost der Liebe suchen, so müssen wir damit anfangen, alles was in unsern Kräften steht, zu thun, daß jeder, der in unserer Nähe ist, sich wohl fühle und gefördert in der Angelegenheit seines Heils. Ist Gemeinschaft des Geistes unter uns, so wird die natürlichste Folge derselben die sein, daß sich die Herzen und Gemüther gern gegeneinander aufschließen; aber wenn die Gemeinschaft des Geistes fruchtbar ist, wie sie es sein | soll, so wird uns auch oft die Veranlassung kommen, dem andern zur Warnung und Belehrung unser Inneres mit seinen Schwächen und Gebrechen aufzudekken, und indem wir den andern zum Genossen dieses Geheimnisses mit uns selbst machen, so geben wir ihm den Maaßstab an die Hand, uns zu richten, und können uns nicht über ihn erheben, sondern müssen vielmehr ihn höher achten, als uns selbst. Ist unter uns endlich herzliche Barmherzigkeit, so muß uns diese antreiben, auch die kleinsten Mängel, die wir an unserm Bruder wahrnehmen, zum Gegenstand unserer Wirksamkeit zu machen, und statt uns über ihn zu erheben, uns ihm gleich zu stellen und ihn

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so zu fördern, daß er sich durch die Wirksamkeit unserer Liebe über uns erhoben fühlt. Und so wird denn die Zeit erscheinen, wo das herzliche Hervortreten der Liebe allen Zank und alle eitle Ehre überwinden und alle unsere Bestrebungen beherrschen wird; und das, m. g. F., wird zusammengefaßt in die lezte Ermahnung des Apostels: „Ein jeglicher sehe nicht auf das seine, sondern auf das, was des andern ist,“ d. h. in der Gemeinschaft der Christen soll eben das immer mehr aufhören, daß jeder auf sich selbst angewiesen ist und sich ansieht als sein und sich selbst vertraut, als habe er für sich allein zu sorgen, sondern in dem Maaße, als diese Gemeinschaft lebendig ist, sieht sich jeder an als der Sorge und Wirksamkeit Aller empfohlen; aber insofern er ein lebendiger Theil der Gemeinschaft ist, muß er auch darauf bedacht sein, das Ganze sich empfohlen sein zu lassen, und indem er das Auge des Geistes auf das Ganze gerichtet hat, das in der Gesammtheit der Glieder besteht, indem seine Liebe immer thätig ist, alles zu wirken, was in dem Kreise, den Gott ihm angewiesen hat, zu thun vorkommt, so sieht er dabei auf das, was des andern ist, voll des festen Vertrauens, daß er dabei nicht zu kurz kommen werde, weil er ja auch ein Glied des Ganzen ist; und in dieser Gegenseitigkeit der Liebe ist die herzliche Liebe, die der Apostel verlangt. Ehe | diese nicht vorhanden ist, herrscht noch Zank und eitle Ehre; ehe wir uns nicht so in das Ganze versenkt haben und unsere Brüder als uns empfohlen und so ansehen, daß wir Gott Rechenschaft für sie schuldig sind, werden wir nicht dahin kommen, eines Sinnes zu sein und gleiche Liebe unter einander zu haben, indem jeder da sich selbst näher steht, als dem andern. Darin, m. g. F., wird alles erfüllt; alle Ermahnung in Christo, aller Trost der Liebe, alle Gemeinschaft des Geistes, alle herzliche Barmherzigkeit kommt darin zusammen, daß wir uns in lebendiger Gemeinschaft unter einander und mit unserm Herrn und Heiland jeder sich selbst vergesse und aufhöre für sich selbst zu sorgen, eben weil wir wissen, daß wir selbst in unserm ganzen Leben von der lebendigen Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, der wir angehören, getragen werden, eben weil wir uns in jedem Augenblikk unsers Lebens des regen Bestrebens bewußt fühlen, auf das zu sehen, was unsers Bruders ist. So wächst denn, m. g. F., die Verbindung der Christen, die den heiligen Namen, daß sie sein Leib ist, führen soll, hinan zu immer größerer Einheit des Sinnes, zu immer festerer Treue in der Liebe; und da wird es nicht fehlen, daß sie nicht reifen sollte zu der richtigen Erkenntniß und, wie der Apostel sagt, zu dem vollkommenen Mannesalter Christi. Dazu segne der Herr die Wirksamkeit seines Geistes an uns allen und mache uns immer mehr bereit, uns selbst zu verläugnen und hintanzustellen, und, indem wir mit aufrichtigem Herzen dem Ganzen, welchem wir 34–38 Vgl. Eph 4,12–13

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angehören, ergeben sind, jeden, der uns in dieser Gemeinschaft nahe tritt, mit herzlicher Liebe und Treue zu umfassen und anzusehen als einen solchen, den der Herr an uns gewiesen hat, um durch uns seine Treue und Liebe an ihm zu verherrlichen! Amen.

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Himmelfahrt, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 14,28 Nachschrift; SN 619/5, Bl. 13r–17r; Crayen Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 109v–110r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Joh. 14 v. 28.

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Dieses sind Worte welche der Erlöser, kurz vor seinem Tode, zu seinen Jüngern sprach! Darin aber sollte Er – welcher, als Mensch, in allem uns gleich geworden war, uns nicht gleich werden, daß sein Tod das Aufhören seines Lebens auf Erden für die Seinen geworden; Er musste, und zwar zuförderst auf leibliche Weise, noch einmahl zu denen zurückkehren, die durch seinen Tod betrübet worden waren, um sie zu trösten mit den Worten seines Mundes – in welchen, in diesen verklärten Augenblicken, eine ganz besondere Weihe für sie lag zur Befestigung ihres Glaubens! Indem wir uns aber an die Stelle dieser ursprünglichen Jünger des Herrn versetzen, so dünckt es uns fast hart, daß Er nach einem so kurzen Zeitraum menschlichen Beisammenseins schon wieder sich trennen musste, und noch dazu, von ihm selbst ihnen zugemuthet wurde: sich des zu freuen! Diese Aufforderung aber unsers Erlösers – an das Herz seiner Getreuen gerichtet – sie mußte eine Stärckung, wie eine Wahrheit für diese Herzen enthalten! | Und so lasset denn den Grund davon uns aufsuchen: weshalb auch wircklich jene Jünger – wenn sie anders Ihn liebten – Ursach hatten sich zu freuen! – Wenn sie aber sich dieses seines Hingangs zum Vater freuen sollten, aus Liebe für Ihn, so musste es ein erhöhteres Gut sein was dort Ihn erwartete; was aber ist sein Gut? – und was ist Er? – Er ist die Offenbarung der ewigen Liebe des Vaters gegen uns – und so ist sein Gut das Unsre! vergrößerte sich also das Seine, so vergrößert sich auch das Unsre! und so hätte Er denn eben so gut auch sagen können: Wenn ihr euch selbst lieb hättet so würdet ihr euch eures vergrößerten Gutes freuen. Der Ausspruch aber welchen Er jenem anhängt: „Der Vater ist größer denn ich!“ so leicht zu verstehen er auch ist für den natürlichen Menschen – so geheimnißvoll erscheint er der gläubigen Seele; und es ergreift sie ein heiliger Schauer, so oft sie, mit der schwachen | Krafft ihrer Gedancken, einzudringen wagt in dieses göttliche Geheimniss des

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Glaubens – welches doch ihrem Herzen so unendlich theuer ist! Er selbst aber, unser Erlöser, fordert dazu uns auf, in seinen beiden sich uns einander gegenüberstellenden Aussprüchen: „Ich und der Vater sind Eins“ und: „Der Vater ist größer denn ich!“ So lasset denn uns sehen, in welchem Sinne Er es wohl sagen konnte: „Der Vater sei größer“? – Er – in dem die ganze Fülle der Gottheit war! – und Welcher das Bewußtsein davon so tief in sich trug, daß Er in jedem Augenblick es fühlte: daß der Vater in Ihm sei! und dessen göttliches Wesen dem Blicke unsers Glaubens doch als kein Geringeres erscheint, als das, was wir in dem Vater erkennen! – Dencken wir aber, von der andern Seite, daran: daß es die menschliche Seele des Erlösers war, welche, in jenen Augenblicken, diesen Ausspruch that, so werden wir Ihn verstehen! War Er aber auch, so lange Er auf der Erde wandelte, jener | menschlichen Beschräncktheit sich bewußt: wie sollten wir nicht unsre Blicke, in Hinsicht Seiner, höher erheben seitdem Er erhöhet worden ist über der Erde – sitzend zur Rechten des Vaters, und theilend dessen volle Herrlichkeit! – Ja, wenn wir es schon von dem Zustande einer jeden andern menschlichen Seele mit gläubiger Zuversicht hoffen: daß ihre Entfesselung sie zu einem höheren Dasein – und freieren Aufschwung des Geistes, in Erfassung göttlicher Dinge, erhebet; o wie sollten wir nicht, viel mehr noch, das bei dem voraussetzen, der schon hier von sich es sagte: „Der Vater zeige Ihm alle seine Wercke“ – und werde immer größere noch, durch ihn vollbringen, in dem erweiterten Bewußtsein seines göttlichen Rathschlusses, welcher ja eben durch Ihn vollzogen ward! Und, wie die menschliche Seele nicht getrennt ist von ihrer That: so auch musste ja von selbst sich Ihm, durch seine That, entwickeln, jener Rathschluß | der göttlichen Gnade für das Heil derer die Er seine Brüder nannte. – Ja, auf Erden zwar wandelte Er – ein Bruder unter den Brüdern! wenn gleich auch schon da eine göttliche Herrlichkeit in Ihm sichtbar war! – seitdem aber, regiert Er – als deren Haupt – die Glieder seines geistigen Leibes, in göttlicher Macht – nehmend, für die Seinen, immer Größeres aus der unerschöpflichen Fülle des Vaters: und, wenn, in menschlichen Dingen: Geben seliger ist, als Nehmen! o, hier ist Nehmen seliger! – solch ein Nehmen! – und aus solcher Fülle! – Er aber, der die Liebe ist, konnte immer nur nehmen, um wieder zu geben! Und so wird denn sein Gut auch das Unsre, je inniger und lebendiger wir uns Ihm verbinden! Damit sich dieses aber in einem ausgebreiteteren Einfluss bewircke – und, auf daß Er, der Sohn Gottes, mit Jedem von uns ins gleiche Verhältniß träte, dazu war erforderlich, daß seine leibliche Gegenwart sich 36 ins gleiche] im gleichen 3 Joh 10,30

20–22 Vgl. Joh 5,20

31 Vgl. Apg 20,35

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verwandelte in die seines Geistes! | Und dieses führt uns auf das andre Wort welches unser Erlöser zu seinen Jüngern sprach: „Es ist euch gut daß ich hingehe, weil nur so der Geist, den ich euch senden werde, vom Vater, auf euch kommen kann!“ Nur stufenweise aber konnte das menschliche Geschlecht zu dieser seiner höchsten Vollendung gelangen; daher blieb dasselbe, bis die Zeit der Sendung eines Erlösers erfüllet war, beschlossen unter das Gesetz – diesem Zuchtmeister der damahls noch unmündigen menschlichen Seelen; der Glaube aber, er sollte aufheben des Gesetzes Aussprüche! Und so war denn seines Erscheinens Zweck: „zu erlösen die, so, bis dahin unter dem Gesetz standen – auf daß sie die Kindschafft empfingen“! Und als Er nun kam – der, in menschlicher Gestalt auf Erden wandelnde Sohn Gottes! – da erschauerten Alle die, | die Ihn erkannten, [und] in Ihm diese göttliche Herrlichkeit, und fühlten: „daß es Worte waren eines ewigen Lebens, die von seinen Lippen flossen!“ Und von da an wurde es der Gehorsam der Liebe zu Ihm der die leitete die an Ihn glaubten! Er aber, da Er diesen freien Gehorsam in ihnen erkannte, nannte „nicht mehr sie Knechte – sondern Freunde“! – und erklärte sie würdig der Kindschaft Gottes! – Diese Kindschaft aber, sie sollte darin sich bezeichnen: daß nun Alle von da an, durch Ihn: „Von Gott gelehret sich fühlten!“ Dennoch aber sollte seine freundliche Verheißung: „Ich bin bei euch alle Tage!“ auf die trostreichste Weise sich an uns erfüllen; denn keinesweges sollte das persönliche Verhältniß des Erlösers mit den Seinen, aufhören: „Wie Er die Seinen geliebet bis an’s Ende“ so auch: „Wollte Er sie nicht | Waisen lassen – nachdem Er zurückgegangen war zum Vater!“ Freilich kann dieses nicht anders als auf rein geistige Weise sich uns bewähren, und nur dadurch wenn unsre Thätigkeit, in seinem Namen, der Seinigen sich anschließt; wo wir aber auf diese Weise miteinander uns vereinen, da ist Er mitten unter uns, in dem Lichte und in der Krafft des von Ihm und dem Vater ausgehenden heiligen Geistes in der ganzen Fülle seiner Verheißungen – so oft wir hinaufschauen zu Ihm – so oft unsre Liebe sich speiset und tränckt an Seinem sich immer mehr in uns verklärenden Worte – und an dem Bilde welches von seinem Erdenleben uns geblieben, wie Er es führte, in wohlthätiger Freundlichkeit und göttlicher Milde! – Was also könnte demnach auch uns fehlen! Ihn – unser Haupt – im Himmel wissend, von wo aus Er alle Lebensbewegungen seines geistigen Leibes leitet und regiert! – den Geist der Freiheit | beseligter Kinder Gottes, in uns tragend – den Er, als das köstlichste Pfand unsrer Seligkeit, in unsre Herzen ausgegossen! – Ihn, in seinem königlichen Prie26 seinem] seinen 2–4 Vgl. Joh 16,7 6–9 Vgl. Gal 3,23–26 9–11 Vgl. Gal 4,5 12–14 Vgl. Joh 6,68–69 15–17 Vgl. Joh 15,15 18–19 Vgl. Joh 6,45 (mit Zitat aus Jes 54,13) 20 Mt 28,20 22–23 Vgl. Joh 13,1 23 Vgl. Joh 14,18

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sterthum, zur Rechten des Vaters wissend – ein Fürbitter und Vertreter derer, die, in dem Muth und der Krafft seines Geistes, hier auf der Erde noch streiten, und der vollkommnen Vereinigung mit Ihm entgegen reifen: was könnte uns fehlen? als daß die Ähnlichkeit mit Ihm mehr und mehr sich steigre zu der Gleichheit, nach welcher wir Ihn sehen werden wie Er ist! Es bewährt sich aber dieses dadurch: daß – so gewiß Er in uns lebt – wir auch immerdar recht lebendig in uns erhalten die Liebe zu Seinen Erlöseten, welches dadurch sich beweiset: wenn wir die Gaben seines Geistes, freundlich mittheilend, verbreiten; denn nur so stehen wir in wahrer Gemeinschaft mit Ihm, und nehmen Theil, an Seiner erlösenden Krafft, wie an der Herrlichkeit die der Vater Ihm gegeben – und die Er mit uns zu theilen verheißen hat.

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[Liederblatt vom 16. Mai 1822:] Am Himmelfahrtstage 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Der Herr fährt auf gen Himmel / Mit frohem Jubelschall, / Mit prächtigem Getümmel / Und mit Posaunenhall. / Es holen Jesum ein / Die er befreit, die Frommen; / So ist er aufgenommen / Beim Vater dort zu seyn. // [2.] Auch wir gehn von der Erden, / Der Heiland ging voran, / Wir sollen himmlisch werden, / Er bricht uns selbst die Bahn. / Ihr Herzen macht euch auf! / Wo Jesus hingegangen, / Dahin sollt ihr verlangen, / Dahin sei euer Lauf. // [3.] Fahr hin mit deinen Schäzen. / Du trugesvolle Welt! / Dein Glanz kann nicht ergözen; / Dort ist was uns gefällt. / Der Herr ist unser Ruhm; / Der Herr ist unsre Freude / Und fröhliches Geschmeide, / Das ewge Eigenthum. // [4.] Wann soll es doch geschehen, / Wann kommt die schöne Zeit, / Daß wir ihn werden sehen / In seiner Herrlichkeit? / O Tag, wann wirst du sein, / Da wir den Heiland grüßen, / Und fallen ihm zu Füßen? / Komm stelle dich doch ein. // (Galet.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Wohl uns, daß zu Gottes Rechten / Jesus unser Mittler sizt, / Und die Schaar von seinen Knechten / In dem Reich der Gnaden schüzt! / Was vollendet sollte werden, / Sein Geschäft auf dieser Erden / Und sein Opfer, ist vollbracht, / Wie es Gottes Rath bedacht. // [2.] Nun ist droben sein Geschäfte, / Aus des Himmels Heiligthum / Zu verbreiten Lebenskräfte / Durch das Evangelium. / Er vertritt die an ihn gläuben, / Daß sie ihm vereinigt bleiben; / Und theilt in des Vaters Haus / Jedem seine Wohnung aus. // [3.] Doch vergißt er auch der Armen, / Die der Welt noch dienen nicht, / Weil sein Herz ihm aus 5 Vgl. 1Joh 3,2

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Erbarmen / Ueber ihrem Elend bricht. / Daß der Vater sie verschone, / Ihnen nicht nach Werken lohne, / Daß er ändre ihren Sinn, / Darauf geht sein Bitten hin. // [4.] Zwar schon in des Fleisches Tagen, / Da die Sünden aller Welt / Schwer auf seinen Schultern lagen, / Hat er sich vor Gott gestellt; / Hat geweinet und gerungen / Bis sein Flehn zu Gott gedrungen; / So hat er zu jener Zeit / Aus der Erde Niedrigkeit. // [5.] Aber jezo wird sein Flehen / Von der Allmacht unterstüzt, / Da verklärt in jenen Höhen / Seine Menschheit thronend sizt. / Majestätisch niederschlagen / Kann er nun des Feindes Klagen, / Und es redet uns zu gut / Kräftig sein vergoßnes Blut. // [6.] Großer Mittler sei gepriesen! / Dir sei Ehre, Dank und Ruhm, / Für die Treu, die du bewiesen / Hier und dort im Heiligthum! / Wenn wir zu dem Vater beten, / Wird uns dein Verdienst vertreten: / Wenn der Tod die Lipp’ uns schließt, / Dann sprichst du Herr Jesu Christ. // (Rambach.) Nach der Predigt. – Mel. Jesu hilf siegen etc. [1.] Weil du nun sizest dem Vater zur Rechten, / Herrschend und waltend aus himmlischer Höh, / Gieb daß im Kampf mit den feindlichen Mächten, / Glauben und Lieb’ in der Kirche besteh’! / Kräftig und freudig die Wahrheit zu ehren, / Wollest du schenken dem Vater zu Ehren. // [2.] Gieb daß der Glaube mit himmlischer Klarheit / Dring in das Dunkel der Seelen hinein; / Daß sich entzünde die Lieb’ an der Wahrheit, / Enger sich schließe der Christen Verein! / Du bist der einzige Hirte der Heerde, / Gieb daß sie selber auch Eine noch werde! //

Am 26. Mai 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstsonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 4,4–6 Nachschrift; SAr 106, Bl. 13r–20r; Crayen Keine Nachschrift; SN 621/1, Bl. 1r–4r; Crayen Nachschrift; SAr 52, Bl. 110r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Nachschrift zum Woltersdorff-Kreis gehörig (vgl. Einleitung, Punkt II.3.g.)

Am 1. Pfingsttage 1822. Gal. 4, 4–6

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M. a. Fr! – Schon als wir hier versammelt waren um miteinander das Fest der Erhöhung unsres Erlösers zu begehen, machte ich euch aufmercksam darauf: wie, nach seinen eignen Worten sein Werck erst vollendet wäre, wenn er seinen Geist gesendet haben würde, und wenn seine ersten Jünger erfüllt worden wären mit Krafft aus der Höhe. Diese Betrachtung fortzusetzen – und tiefer darin einzudringen, dazu fordern uns diese Worte des Apostels auf; denn auch sie beginnen mit dem Eintritt des Erlösers in die Welt; aber was der Zweck dieser Sendung war giebt der Apostel uns damit zu erkennen: daß die welche unter das Gesetz gethan waren, davon erlöset würden und die Kindschafft empfingen. Wie aber das geschehen das beschreibt er durch dasjenige was den Gegenstand unsrer Betrachtung ausmachen soll. Beginnend also mit dem heiligen Rathschluß Gottes – endet er mit dem, was unser aller Ziel sein soll, das der Geist, der da rufet: „Abba lieber Vater“ uns giebt; daß wir nemlich dadurch erkennen: daß eben die Sendung dieses Geistes die Vollendung seines Werckes sei. Dieses näher zu betrachten, laßt uns 1. sehen: Was denn durch die Sendung des Geistes in unsern Herzen sei gewirckt worden. | 2 Gal. 4, 4–6] Gal. 4–4

15 soll,] soll:

3–4 Vgl. oben 16. Mai 1822 vorm.

5–7 Vgl. Lk 24,49

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2. uns davon zu überzeugen: wie eben dieses die Vollendung und der Gipfel der Erlösung sei.

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Was nun das Erste betrifft: wie wäre es möglich in einem solchen kurzen Zeitraum als der unsrer Versammlung uns verstattet – oder auch in einem Zusammenfaßen menschlicher Gedancken die Fülle zu erschöpfen, welche durch diese göttlichen Wohlthaten und Segnungen uns geworden ist. Laßet deshalb uns nur bei demjenigen stehn bleiben was unmittelbar in den Worten unsers Textes liegt – in welchen nemlich der Apostel beschreibt: den heiligen Geist als den Geist der in unserm Herzen ruft: das „Abba lieber Vater!“ und als den Geist der Kindschafft. – Wenn er aber zuerst sagt: Der Geist des Herrn rufe also in unserm Herzen so sollen wir eben dadurch verstehen: eine recht freudige Fülle des Bewußtseins unsers Verhältnißes zu Gott! Das Rufen und Schreien aber soll nicht etwa eine unbefriedigte Sehnsucht ausdrücken, sondern das ganze Jauchzen der Seele. Gott aber, als unser Vater, ist die unerschöpfte Quelle des Lebens! und indem wir wandeln in dem Garten seiner Schöpfung, da soll uns überall seine Gegenwart anwehen – | durch den Geist Gottes soll es wieder sein: wie in den Tagen der Unschuld in dem Garten Edens – darinn alles erklang von dem Lobe des Herrn, auf daß der Mensch überall vernehme Gottes Stimme. Wie das das erste war – was die Apostel thaten als sie mit Krafft aus der Höhe erfüllet wurden: daß sie mit menschlichen Zungen rühmten und preiseten die großen Thaten Gottes! so ist eben dieses: Abba lieber Vater rufen, die beständige Fülle des Lebens die Gott ausgegoßen hat in seiner Welt – und alles was uns umgiebt soll uns nie bei sich selbst festhalten, sondern soll uns zurückführen zu Gott – als der einigen Quelle des Lebens – und Alles was wir sehen – genießen – handhaben und thun, soll begleitet sein von dem Bewußtsein des Vaters – deßen Kinder wir sind – Das ist das wahre Beten ohne Unterlaß welches von Christo gefordert wird; wenn aber dieses fehlt, dann haben wir den Geist Gottes – betrübt oder gedämpft. Aber Gott als unser Vater ist auch die Liebe, denn ohne diese können wir uns kein Verhältniß des Vaters zu seinen Kindern dencken – jede Sorge – jede Milde – jeder Ernst – der dem Kinde aus des Vaters [Herz] entgegen kommt ist nichts anders als Liebe – | denn das Wesentliche seines Verhältnißes zu uns – es ist die Liebe wenn also unser Herz ruft: Abba lieber Vater! o so ist es eben das Bewußtsein der innigen und unerschöpflichen Liebe – alles was wir sehen das soll uns ein Beweis sein der göttlichen Liebe! und dann ist es der Geist der alles Weh und allen Schmerz aus der Seele vertreibt weil überall wir die göttliche Liebe sehen, nimmt, und verklärt! – Alles 25 Alles] in Allem 21–22 Vgl. Apg 2,11

38 sehen,] Hier fehlt eventuell ein Satzteil. 27–28 Vgl. Lk 18,1

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was wir in der Welt sehen nicht eher haben wir es erforscht in der Krafft des Geistes als bis wir darin gefunden haben den Geist und die Fülle der göttlichen Liebe! Wo er uns segnet da ist es die himmlische Liebe in der er uns bei sich halten will – wo er in dem menschlichen Willen entdeckt und hervorruft alle Segnungen des Guten – Barmherzigkeit – Gerechtigkeit – und mittheilende Liebe – wo sich das uns offenbart ja wohl da rufen wir: Abba lieber Vater! – aber auch da wo wir die Menschen in feindseligen Leidenschaften gegen einander entbrannt sehen – wo das Fleisch sich erhebt, gleich als wolle es ausrotten alle Frucht des Geistes – | auch da soll ausrufen der Geist: Abba lieber Vater! ja hier und dort sollen wir erkennen die Vaterliebe deßen: der eben anders nicht als durch die Krafft der Wahrheit zu beßern und zu segnen weiß – und immer wieder darauf aufmercksam machen will: wie der Mensch sich selbst überlaßen so gar nichts ist – und wie alle Hülfe nur von oben kommt – und alle Krafft des Lebens nur aus der ewigen Quelle – aus der des göttlichen Geistes – und der göttlichen Liebe. – So ist es das Rufen des Geistes in unserm Herz immer nur – und indem wir immermehr zu der lautersten Erkenntniß gelangen – und je mehr wir dem Rufen des Geistes Raum geben, um so mehr soll das Verschwinden: „daß unsre Wege und Gedancken Andre sind als die Seinigen!“ und eben deshalb sagt der Apostel in den Worten unsers Textes: „der Geist – den der Herr gesendet sei auch der Geist der Kindschafft den wir empfangen sollen.“ – Darunter aber ist nicht etwa gemeint – was wohl mancher zunächst dencken mag: der Geist der reinen unschuldigen Kindlichkeit – worin der Erlöser eine so große Verheißung gelegt – | sondern indem der Apostel die Kindschaft dem Zustande entgegen stellt, vermittelst dessen wir unter das Gesetz gethan sind, – so sehen wir, daß hier die Verheißung auf das Recht des Kindes sich bezieht. Dieses also, das Recht des erwachsenen und mündigen Kindes, das ist das Recht der Kindschaft. Wenn wir aber mit wenigen Worten übersehen wollen was damit gemeint ist, so laßt uns daran gedenken, was schon ein Prophet des alten Bundes, im Vorgefühl des neuen gesagt: „ich habe mein Gesetz in euer Herz geschrieben“ – das Gesetz welches der Apostel darstellt als den Zuchtmeister der noch unmündigen Kinder – das sollte ganz aufhören – und statt deßen die Verheißung des Herrn sich erfüllen: Ich werde mein Gesetz schreiben in ihre Herzen – und Keiner wird alsdann mehr bedürfen von dem Andern belehrt zu werden denn sie werden alle von Gott gelehrt sein! – und nachdem der den Gott zu einem Christ gemacht, ist erhöhet zu seiner Rechten, hat er ausgegoßen den Geist seines Sohnes – seitdem solte in dem Glauben an ihn das Gesetz aufhören 25 das] dem

32 den] der

33 Verheißung] Verheißen

19 Vgl. Jes 55,8 23–24 Mt 18,3 Gal 3,24–26 35–36 Vgl. Jes 54,13

31.34.35 Vgl. Jer 31,33–34

31–32 Vgl.

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und das sagt der Herr selbst | – indem er unterscheidet den Knecht der nicht weiß was sein Herr thut, von dem Sohn dem der Vater alle seine Wercke gezeigt – gezeigt nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich – daß ihn den Sohn nemlich bewegt derselbe Trieb der den Vater leitet – denn das ist das Verhältniß in welchem der erwachsene Sohn gegen seinen Vater steht – in dem Hause des Vaters; so unterscheidet der Herr selbst: Knecht und Sohn! – in der vollen Übereinstimmung – indem er der Sohn Gottes von sich sagt: „Ich und der Vater sind eins“ so bewegt denn auch uns der Geist als der Geist der Kindschafft – Die Liebe die in uns lebt – die weicht nicht, bis wir die Spur entdeckt – so wird auch der Trieb unsers Geistes nichts anders sein als die göttliche Liebe. So wie aber er sich uns als ein Gott der Liebe offenbart – so auch offenbart er sich uns als ein Gott des Friedens und der Ordnung – und der Geist der Kindschaft der bewahrt in allen Herzen diesen Frieden – und bewahrt sie daß sie alle fest halten an diese seine Ordnung – und so ihre Kräffte vereinigen zu dem Ziele daß auch durch sie der Vater immer mehr verherrlicht werde[.] | Und auch das ist der Geist der Kindschaft der in uns sich regen soll – und zwar derselbe der in unsren Herzen ruft: Lieber Vater! Der uns auch dahin leitet daß wir in dem Hause des Vaters in diesem Sinne nicht mehr Knechte sind sondern als gehorsame Kinder uns beweisen. – Was aber bliebe dann noch übrig – welches herrliche, und geistige, das nicht darin eingeschlossen wäre, in dem jauchzenden Ausrufe: Abba lieber Vater! und wenn jeder Pulsschlag unsers gemeinsamen – und jeder Athemzug unsers geistigen Lebens davon zeugte – und wenn wir das in seiner ganzen Fülle haben – dann dürfften wir nicht erst – wie jener liebste Jünger des Herrn sagen: „daß noch nicht erschienen sei, was wir sein werden – denn wir wären alsdann schon ihm gleich!“ – darum laßt uns nichts weiter hinzufügen, sondern zu dem zweiten Theile unsrer Betrachtung übergehen – und davon uns überzeugen: Wie eben dieses die Vollendung und der Gipfel der Erlösung sei! Denn auch dieses liegt in den Worten unsers Textes – denn indem zuerst der Apostel den Geist der Kindschafft – den Geist des Sohnes | nennt! denn was liegt darin deutlicher zu Tage als die Meinung: daß – ohne den Sohn, der Geist nicht hätte können ausgegoßen werden – und wenn wir uns in die Tage zurückdencken ehe der Sohn erschien, o so werden wir wohl von dieser Überzeugung auf das kräfftigste durchdrungen werden. Gott hatte die Welt so geordnet – in ihr Gleichheit und Verschiedenheit so gestellt, daß sie ihn zwar wohl fühlen und erkennen konnten, und mercken 18 unsren] unsre 1–2 Vgl. Joh 15,15

18 Vater] Vat 2–3 Vgl. Joh 5,20

8 Joh 10,30

26–27 Vgl. 1Joh 3,2

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wie nahe er ihnen sei – aber ohnerachtet er sich selbst ihnen hatte zu erkennen gegeben – wie fremd finden wir aber doch dagegen die Vergleichung des damaligen Verhältnißes der Menschen mit Gott – in dem gegenüberstellenden Worte: „Wir sind allzumahl Sünder – und ermangeln des Ruhmes den wir vor Gott haben solten“ gegen das: Abba lieber Vater. – Ja auch wenn wir auch auf das Beste und Herlichste sehen, was wir in dem damahligen Zustande finden – selbst die heiligste Stimme die er unter sein Volck sandte – durch die Propheten, was vermochte sie, als nur zu mahnen an das Gesetz | welches der Herr ihnen durch Moses gegeben – was doch vermochte sie? als nur die Heiligkeit künftiger Zeiten auszusprechen in leisen Ahnungen[.] Und sehen wir auch auf die vorzüglichsten und besten der damaligen übrigen Völcker – o so war freilich wohl eine Ahnung des lebendigen Gottes in ihnen – aber welche Mühe sie auch sich gaben: um diejenigen welche versuncken waren in dem Dienst der irdischen Lüste auf sichere Bestimmung hinzulencken so gelang es ihnen dennoch nicht – und vergeblich waren alle ihre Bemühungen[.] Und das Licht der Wahrheit wenn es auch in einzelnen Funcken hervorblitzte – es wurde immer wieder verdunckelt und unscheinbar[.] Aber sehen wir selbst auf die welche als das Volck Gottes ihn erkannten – so erkannten sie ihn zwar als Schöpfer als Herrn und als Regierer – aber sehen wir wohl in ihnen jenes reine kindliche Vertrauen und haben sie wohl eine | Vorstellung von dem Geist der Kindschafft welcher unser Herz gegen Gott bewegt? – immer war er ihnen das fremde unbekannte Wesen zu welchem ihre Herzen sich richteten – Aber das Wohnung machen in ihren Herzen – das mit Gott, und in seinem Geist leben – o es konnte nicht in der sündigen Welt gedeien! Darum aber – auf daß der Geist der Kindschafft alle Herzen bewegen konnte – mußte erst eine neue Offenbarung Gottes sich kund thun und dieses geschah durch den Sohn – in welchem die Fülle der Gottheit wohnte – er mußte Fleisch werden und erscheinen – und nur in ihm konnten die Menschen den Abglanz der Herrlichkeit Gottes des Vaters erschauen – Und um ihre blöde Gestalt zu erkennen mußte ein ganz reines Menschen Bild sich ihnen darstellen. | Das ist es was der Apostel sagt: der Geist des Sohnes – ja der Sohn selbst mußte kommen um uns Gott als Vater kennen und lieben zu lernen – Und so nur können wir wieder zu Gott kommen – Aber wenn uns das deutlich sein muß daß der Geist des Vaters nicht anders kommen konnte als durch den Sohn – so laßt uns jetzt noch zuletzt unsre Aufmercksamkeit darauf richten: wie nun eben dieses das höchste Gefühl ist: zu wißen wie der Mensch auch nicht ohne durch seine Stimme aufmercksam gemacht zu sein zu Gott gelangen könne – Das aber ist erst die Vollendung seines Werckes daß er seinen Geist 4–5 Vgl. Röm 3,23 Joh 1,14; Hebr. 1,3

24–25 Vgl. Joh 14,23

28–29 Vgl. Kol 2,9

29–31 Vgl.

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vom Vater erbat und in unsre Herzen legte [–] aber wenn das: „wo der Geist Gottes ist da ist Freiheit!“ wenn der Apostel sagt: daß derselbige Geist der durch den Glauben unsre Herzen entzündet hat: uns erhebet zu der Freiheit der Kinder Gottes – so meint er eben damit: daß durch den Geist Gottes alle Kräffte aufs neue nicht allein belebt sondern auch erhöhet und geheiligt [werden] – und daß nun der Mensch in dem Besitz des Geistes auch zugleich in dem Besitz des höchsten Wohlgefallens Gottes ist – | und daß – in der Gemeinschaft mit ihm er dasjenige Heil genießt wozu er nach dem Ebenbilde Gottes erschaffen ist; und daß er dadurch würdig geworden ist des brüderlichen Verhältnißes mit dem Erlöser[.] Darum ist dieses das Größeste! und wir würden uns schlecht verstehen auf unser eignes Heil, wenn wir dabei stehen bleiben wolten: daß wir entsündigt sind – welches freilich die Grundlage ist von allem Heil – aber auf diesem Grund soll erbauet und zusammengefügt werden der heilige Leib des Herrn. Ja der Erlöser selbst, wenn wir ihn unterscheiden von allen Erdgebohrnen als den in dem zuerst die Sündlosigkeit war, und annehmen daß Gott es so gewollt daß auch seine Unsündlichkeit auch über uns ausgegoßen wäre – auch wenn darin wir ihm gleich wären – so wäre das doch immer noch nicht der Gipfel unsrer Vollkommenheit – das Erste – der erste Schritt nur wäre es der den Grund der höchsten göttlichen Fülle des göttlichen Wesens in uns entwikkeln konnte – So sind wir denn auch Kinder Gottes nicht blos dadurch daß unsre Sünde getilgt und ausgelöscht ist – sondern dadurch | daß der Geist in uns wohnt und lebt – welcher alle die herlichen Früchte des Geistes in den menschlichen Herzen hervorruft: Liebe – Demuth – Freude – Freundlichkeit – Ordnung – Keuschheit – Sanftmuth! – und in diesem Besitz ist die ganze Vollendung unseres Heils in Christo – und indem wir dieses empfinden erkennen wir den ganzen hohen Werth seiner Erscheinung; und eher nicht sind wir würdig die großen Thaten Gottes zu preisen! – Wohlan denn gel. Fr.! – ist eben so durch diese Sendung des Geistes das Werck des Erlösers vollendet in den Herzen der Menschen – daß nemlich was sie fähig macht das zu erfüllen wozu Gott sie ausersehen – wiedergekehrt ist auf die Erde – jede göttliche Krafft in sich schließend, das was aufs neue kann und soll erbauet werden, nemlich das Gottes Reich in die Gemüther der Menschen – ja sie sollen das Heiligthum sein wo Liebe und | Friede blühen – wo nichts mehr den Menschen von seinem himmlischen Vater trennt weil er mit dem Sohn gekommen ist um – in der Gestalt des Geistes Wohnung zu machen in der menschlichen Seele. Der Herr also hat alles an uns gethan! o so laßt uns denn die herrlichen Gaben festhalten – und den Geist 1 erbat] erbat – 7 Wohlgefallens] Wohlgefallen Hier fehlt eventuell ein Satzteil. 1–2 2Kor 3,17

23–25 Vgl. Gal 5,22–23

30 den] die

36–37 Vgl. Joh 14,23

34 Menschen]

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nicht betrüben durch irgend Etwas – Laßt uns ihn immer mehr erkennen und uns oft versencken in die Betrachtung: daß eben dadurch das Antheil an Christum in uns entstehe: daß wir das Fleisch in uns immermehr dämpfen – auf daß er uns – seine Kirche dem Vater darstelle ohne Flecken und ohne Runzeln.

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[Liederblatt vom 26. Mai 1822:] Am ersten Pfingsttage 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend etc. [1.] Ihr Christen rühmt, erhebt und preiset / Aus einem Herzen, einem Mund, / Die Gnade die der Herr erweiset / In seinem neuen ewgen Bund! / Er tränkt mit Himmelskraft die Seelen, / Und gießt den Geist der Kindschaft aus, / Zum Tempel will er sie erwählen / Und weihen sie zum Gotteshaus. // [2.] Der Heiland strömt auf seine Glieder / Das Salbungsöl die Feuertauf, / Bringt die zerstreuten Seelen wieder / Aus der verworrnen Welt zu Hauf; / Schlingt um sie seiner Liebe Neze, / Mit ihm ein Geist und Leib zu sein, / Und schreibt des Himmelreichs Geseze / Mit Gotteskraft in sie hinein. // [3.] Auf auf ihr Herzen und ihr Zungen, / Verkündigt Gottes hohen Ruhm! / Sein Name werde stets besungen / Von seinem heilgen Eigenthum. / O daß ein Geist des Lebens wehe / Und was nur Athem hat erfüll, / Daß alle Welt die Wunder sehe, / Die Gott in Christo schaffen will. // [4.] Daß alle neu geboren werden, / Geheiligt aller Christen Sinn, / Und alle schon auf dieser Erden / Genießen seines Heils Gewinn! / Laß Jesu nichts in uns vermindern / Des Glaubens hohe Zuversicht, / Und mach uns ganz zu Gottes Kindern / Durch deines Geistes Kraft und Licht. // Nach dem Gebet. Chor. – Mel. Danket dem Herren etc. Geist aller Geister, unerschaffnes Wesen, / Dein Name sei von allen hoch gelobet. // Gemeine. [1.] Du Geist vom Vater, ewger Quell des Lebens, / Der klar und unerschöpflich sich ergießet! // [2.] Du gehest aus vom Sohn, ein Geist der Wahrheit, / Erfüllest reichlich, die sich Gott erwählet. // Chor. Der Geist erforschet alle Dinge, auch die Tiefen der Gottheit. Er theilet die Gaben aus, einem jeglichen welche er will. // Gemeine. Der Sünder wird durchs Wort von dir geschlagen; / Du rührst und schreckest Herzen und Gewissen. // Einzelne Stimmen. Nehmet hin das Schwerdt des Geistes, welches ist das Wort / Gottes. //

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Chor. Damit wird er strafen die Welt um die Sünde, daß sie / nicht glauben. // Gemeine. Wer Christum hält im Glauben, dem verleihst du / Das Licht der Weisheit und die Kraft des Lebens. // Chor. So ihr durch den Geist des Fleisches Werke ertödtet, werdet ihr leben. Und er wird euch Kraft geben nach dem Reichthum seiner Herrlichkeit, daß ihr stark werdet durch seinen / Geist an dem inwendigen Menschen. // Gemeine. Du Geist des Herrn giebst Zeugniß unserm Geiste; / Wir wissen nun, daß wir sind Gottes Kinder. // Chor. [1.] Welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder, Kinder des Lichts voll Recht und Stärke, voll Gütigkeit und / Wahrheit. Und wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit. // [2.] Geist alles Geister, unerschaffnes Wesen, / Dein Name sei von Allen hochgelobet. // Gemeine. – Mel. Wie schön leucht’t etc. O heilger Geist, du Geist der Kraft, / Der Wollen und Vollbringen schafft, / Zu jedem edlen Werke; / Der aller Zweifel Nacht zerstreut, / Der unser ganzes Herz erneut / Zu gottgefällger Stärke. / Kräftger Tröster, komm und weihe, / Komm erfreue / Alle Seelen, / Die ihr wahres Heil erwählen. // Nach der Predigt. – Mel. Mein Jesu, dem die Seraphinen etc. Dein Geist, den du mir hast geschenket / Als deiner Liebe Unterpfand, / Der jedes Herz mit Wonne tränket, / In dem er seine Wohnung fand, / Er werde nie von mir genommen! / Laß mich mit ihm versiegelt sein, / Bis meiner Hütte Bau fällt ein, / Und ich zu dir, Herr, werde kommen. //

Am 27. Mai 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstmontag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 19,26 Nachschrift; SAr 61, Bl. 103r–107r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 110v; Gemberg Keine

Am 2. Pfingsttage 1822 früh.

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Lied. 179. 178 v. 8–9.

Lucas 19 v. 26. „Wer da hat dem wird gegeben werden; von dem aber der nicht hat, wird auch das genommen werden, das er hat.“ Die Beziehung dieser Worte auf das heilige Fest welches wir in diesen Tagen in der christlichen Kirche begehen, ist wol für einen jeden leicht heraus zu finden. Wenn wir uns erfreuen alle der Segnungen welche durch den Geist Gottes uns zu Theil werden, so dürfen wir nicht vergessen daß jede Gabe Gottes je größer und herrlicher sie ist, um desto mehr muß gepflegt werden und bewahrt; und wie könnte es denn ein Wort geben das uns mehr aufforderte die Gaben des Geistes nicht gering zu achten als dieses. Es sind diese Worte das wird uns allen bekannt sein, das Ende des Gleichnisses worinn der Herr seinem Volke zeigt, wie ein jeder mit dem Pfunde wuchern soll, das er empfangen. Das mehr geben nun, das ist das Werk der göttlichen Gnade, und wir können unmittelbar nichts dazu thun, aber daß wir erfunden werden als die treuen Haushalter, damit uns nicht was wir haben genommen werde, das ist es was unser Bestreben sein muß. Es könnte nun freilich scheinen als ob eben dieses Wort von allen andern Gaben leichter könnte angewendet werden, als auf die des göttlichen Geistes selbst. Da könnte man sagen: 1 Pfingsttage] Pfingstage

16–17 wir können] können wir

2 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 179: „Komm, Tröster, komm hernieder“ (Melodie von „Mit Ernst ihr Menschen Kinder“; Nr. 178: „Komm, o komm du Geist des Lebens“ (Melodie von „Liebe! die du mich zum Bilde“)

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wenn der Geist wirklich das göttliche Wesen ist, wie könnte dann das Göttliche eine Vermehrung und Verminderung erleiden? Und doch muß es wahr sein, da der | Erlöser das andere nie als der Mühe werth erachtet, darzulegen. Alles was in dem geistigen Gebiete einen Werth hat, das gehört zu den Schätzen des göttlichen Geistes, und anders können wir den göttlichen Willen nicht erfüllen, als wenn wir über das Äußere hinwegsehen, worauf sich die Betrachtung unserer Erbauung nicht erstrecken soll; denn so gewiß die Worte unsers Textes wahr sind, muß es auch wahr sein, daß die göttlichen Gaben können vermehrt und vermindert werden. Und wir werden dies deutlich einsehen, wenn wir betrachten wie es in dem Erlöser ist. In ihm war die Fülle der Gottheit, nemlich sein ganzes Wesen bildend und gestaltend, wodurch der Geist wirksam wurde; – den Geist aber hat er gesandt, nicht sowol den Einzelnen als der Gemeine. Er ist ein gemeinsames Gut was da sich regt wo zwei oder drei zusammen sind, um in dem Namen des Herrn zu wirken, – und so müssen wir ihn denn auch ansehen, und alle seine Erweisungen wie die jedes andern Gemeingeistes. Wir machen ja oft beide Erfahrungen, die erfreuliche, wo der Geist Gottes vermehrt wird und erstarkt, und die traurige daß er geschwächt wird und vermindert, – daß die Bande erschlaffen, und oft keine Spur mehr zu finden ist von der Vereinigung | in Christo. Und eben so zeigt uns die Schrift Zeiten in welchen der Geist des Herrn sich vorzüglich regte, aber dann auch wieder Zeiten wo er sich zurückzog, und wo seine heilige Erscheinung wenig zum Vorschein kam. Wenn wir nun fragen, was ist denn nun dabei eigentlich unser Werk, und worauf haben wir zu achten, damit der Geist sich nicht zurückziehe aus unserer Mitte? Laßt uns auf zwei Worte des Apostels merken, in welchen er heilsame Regeln dawider giebt. Erstens sagt er im Briefe an die Epheser: „Betrübet nicht den Geist Gottes damit ihr versiegelt seid bis auf den Tag der Erlösung“ – Wenn wir nun fragen was er damit gemeint habe, so werden wir allerdings die Worte nur erst klar auffassen, wenn wir sie in ihrem eigentlichen Zusammenhange betrachten. Da redet er von Bitterkeit, von Zank und Geschwätz, das sie von sich fern halten sollten, damit der Geist nicht betrübt würde, und entweiche. Fassen wir das ins Auge, und verbinden es mit dem was sich in unserm Texte uns darlegt, so wird folgendes uns ergehen: der Geist Gottes ist seinem innersten Wesen nach, auf die Wiederherstellung, der in den Zeiten verlorengehenden Kraft seines Geistes bedacht, weil er dies zu unterscheiden vermag von dem was dem Menschen als Eben|bild 2 erleiden?] erleiden.

21 welchen] welcher

13–15 Vgl. Mt 18,20

28–30 Eph 4,30

36 unserm] unsern 33–35 Vgl. Eph 4,29–31

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Gottes obliegt – Aber, es ist dann nicht das gemeinsam menschliche was er unterscheidet, sondern wie die Christen ein gemeinsames Volk sein sollen, so sollen sie einen Geist der Zartheit und Sanftmuth in sich tragen, der zeugt wie diese Vollendung in dem Ganzen entstanden. Das beständige Gedächtniß des Erlösers wodurch alles wilde und ungebändigte ganz besonders muß aus dem Leben der Christen ausgestoßen sein, das ist es wodurch dieses Zartgefühl unterhalten wird. Wenn aber nun dessen ungeachtet, daß die Schrift uns dies als wahr zu erkennen giebt, die Warnungen des göttlichen Geistes überhört werden, dann wird der Geist Gottes in der Gemeine der Christen in demselben Grade betrübt, als der Sinn aus der Gesellschaft gewichen. In diesem Sinn sagt der Apostel: „Betrübet nicht pp.“ – versiegelt ist dasjenige was durch den Geist Gottes zusammengehalten wird. Der Geist Gottes der soll die Menschen erlösen von der Knechtschaft des Gesetzes – aber nicht etwa dadurch daß er alle Ordnungen lösen, alle Vorschriften ändern soll, sondern dadurch daß eben der Wille Gottes, das was als Gesetz äußerlich aufgestellt ist, in ihm lebe und wirke, nicht als ein Gesetz, sondern als freie Liebe die mit seinem Innern zusammenstimmt. | Das aber kann nur geschehen in dem Maaße als der Mensch immer mehr im Stande ist zu erkennen das Werk des Geistes, und zu scheiden das Wahre von dem Unwahren. Geht nun das Werk des Geistes in den Christen seinen ungestörten und eigenen Gang, o dann ist jeder dankbar erfreut, wenn das Wort der Warnung und Belehrung ihn noch zur rechten Zeit antrift, wo er im Begrif war den rechten Weg zu verlassen, dann fühlt sich die Seele willig und bereit zu folgen, und dann erfreut sich der göttliche Geist seines Werkes. Aber auch wo wir sehen daß wirklich menschliche Gebrechlichkeit da ist, und es rüstet sich dann der göttliche Geist, und es entsteht in der Seele die Traurigkeit die niemand gereut – wird sie dann ergriffen und fühlt es – o dann erfreut er sich auch dieses, denn es ist die Traurigkeit die zur Seeligkeit führt. Wenn aber nicht diese Reue in der Seele zu wecken ist, wie kann dann der Geist anders als betrübt werden und das ist nun das was unser Text sagt: „von dem aber der nicht hat, wird noch genommen werden was er hat.“ – Wenn wir ihn dann verlieren, das kann uns nicht fremd sein, denn es ist die natürliche Folge davon, – sei es in Beziehung auf das was zur Reinheit des Herzens, oder auf das was zur Klarheit des Wissens führt, wenn in beiden, oder in einem von Beiden | der Geist Gottes betrübt wird, so ist es davon die natürliche Folge. Wenn in dem Gebiete des Wissens die Menschen sich nicht vereinigen können, wenn Spaltungen der Meinungen ent12–13 was durch den] wodurch der 23 ihn] ihm 36–37 ist es] es ist 12 Vgl. Eph 4,30

18 seinem] seinen

28–30 Vgl. 2Kor 7,10

20 erkennen] erkkennen

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stehen, wenn der Geist soll eingeschlossen werden in der todten Form des Buchstabens, und die verschiedenen Ansichten einander schrof gegenüber gestellt werden, so geht die Kraft des Geistes ganz verloren – es ist dann nirgend mehr der Geist Gottes zu finden. Und so wird denn dadurch der Geist Gottes betrübt werden, und von uns genommen was das Richtmaaß sein könnte, und unkenntlich sein bis eine Zeit kömmt, wodurch die Gemüther aufs neue getrieben werden sich zu verbinden, und dann wiederfinden den Geist der zwar nie ganz verschwinden, aber doch lange schlummern kann. So laßt uns denn den Geist Gottes nicht betrüben! so gewiß als er in der Gemeine der Christen walten muß – so gewiß laßt uns dasjenige anerkennen in Beziehung deßen was der Gemeine Ehre bringt. Ist es uns so ein Ernst: überall zu scheiden das menschliche von dem göttlichen, o so wird sich uns das Bild Gottes immer inniger und heller verklären[.] Die zweite Vorschrifft welche uns bewahren muß daß der Geist nicht von uns weicht, giebt uns der Apostel in seinem Briefe an die Thessalonicher | „Ihr sollt den Geist Gottes nicht dämpfen“[.] Der Geist – wenn er auf der einen Seite ein gemeinsames Gut aller Christen ist, so ist eben diese gemeinsame Lebenskrafft auch eine Quelle aller göttlichen Gaben. So hat er sich zu erkennen gegeben am Tage der Pfingsten! – Aber es bedarf dieser Geist der Anerkennung und der Ermunterung[;] wo nun diese Anerkennung sich findet da gewinnt er denn ein Gefühl des Schutzes und des Muthes, und es bilden sich in dem Einzelnen – in dieser Anerkennung des Ganzen alle Gaben schöner und reicher aus. – Der Apostel aber meint das Gegentheil: wenn nemlich das Gute mit kalter Gleichgültigkeit zurück gestoßen wird – wenn es mit Geringschätzung dargestellt wird, ach dann wird die Seele sicher nicht dieses Schutzes sich bewußt – dann wird sie muthlos gemacht, und das ist wofür der Apostel warnt. Und doch werden wir gestehen müßen auch daran fehlt es nicht in der Gemeine der Christen – wie sehr aber dieses dem Wesen derselben zuwieder läuft, davon muß uns unser eignes Gefühl Zeugniß geben! Was ist denn die Liebe anders als die Krafft die durch den Geist Gottes in uns gewirckt wird; denn, gäbe es irgend eine Krafft des Geistes, deren wir entbehren könnten, im Kampfe des Fleisches wieder den Geist, gäbe es irgend Eine die wir mißen könnten im Streite des Lichtes wieder die Finsterniß? – Wenn nun der Geist Gottes sich verkündigt, in noch zarten und schwachen Gaben, und die Gemüther der Menschen auffordert – und wir verbannen das Werck des Geistes in ihnen, und suchen es darzustellen als ein geringes Werck. | O, meine theuren Freunde! wir dürfen es uns nicht verhehlen: daß dieses öfter geschiehet, als es sein sollte, dann dämpfen wir den Geist Gottes. Wir thun oft als hätten 15–16 Thessalonicher] Theßaloniger 16 Vgl. 1Thess 5,19

33 könnten] könnten?

35 zarten] zarte

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wir der Gnadengaben viel zu viel! indem wir nicht durch Anerkennung sie zu ermuntern suchen, sondern verwerfen den sich in ihnen anregenden göttlichen Geist. – Wenn wir aber freudvoll und ehrfurchtsvoll alles aufnehmen worin wir irgend Spuren von der Krafft des göttlichen Geistes finden – wenn wir immer zu fördern suchen alles Gute was sich uns darbietet, wenn wir aufmercksam sind auf alles was in diesem Gebiete um uns her entsteht dann wird durch uns Anerkennung und Ermunterung jedem werden, und wir werden dem Wercke der Liebe gern Gehör verschaffen; dann wird der Geist nicht gedämpft werden sondern reichlich wohnen unter uns! Wenn wir aber dasjenige als die herrlichste Vollendung anzusehen haben, wenn wir mit diesem danckbaren Sinn der Anerkennung dieses heilige Fest der ersten Entstehung des Geistes miteinander begehen – o laßt uns doch nie vergeßen: wie wir immer noch zu kämpfen haben – in der Welt welche der Kirche Gottes gegenüber steht! aber auch in den Herzen welche schon den Herrn erkannt, noch manchen Kampf zu bestehen haben – und auch zu streiten haben mit der menschlichen Gebrechlichkeit. Aber laßt uns nicht vergeßen und übersehen: daß jeder für sich – | jeder für Alle – und Alle für Jeden Rechenschaft ablegen müßen! – O, was kann uns denn näher am Herzen liegen als uns immer dadurch aufs neue zu verbinden: daß der Geist Gottes seine liebende und leitende Stimme unter uns verkünde! eben so auch den Geist Gottes überall pflegen, und jedem seine Allgewalt zu erhalten suchen. So wird denn unsre Pfingst Feier Gott wohlgefällig sein! und indem wir das heilige Fest so begehen werden wir wachsen in der Einheit des Geistes – und darin: wodurch die Einheit des Geistes am meisten gesegnet werden kann. Dadurch aber werden wir am meisten den preisen der nach seiner Weisheit die Einrichtung getroffen hat – daß „dem der da hat immer noch mehr gegeben wird!“

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Besonderheiten:

Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,13–15 Nachschrift; SAr 102, S. 1–34; Andrae Keine Nachschrift; SN 604/2, Bl. 1r–20v; Andrae Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 101r–112v; Andrae Nachschrift; SAr 51, Bl. 71r–80r; Andrae, in: Maquet Nachschrift; SAr 52, Bl. 111v–112v; Gemberg Nachschrift; SAr 61, Bl. 108r–114r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Trinitatis 1822 am zweiten Brachmonds. |

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Tex t. 1. Johannis IV, 13–15. Daran erkennen wir, daß wir in ihm bleiben und er in uns, daß er uns von seinem Geist gegeben hat. Und wir haben gesehen und zeugen, daß der Vater den Sohn gesandt hat zum Heiland der Welt. Welcher nun bekennt, daß Jesus Gottes Sohn ist, in dem bleibt Gott und er in Gott. M. a. F. Es ist schon zeitig in der christlichen Kirche ein allgemeiner Gebrauch geworden, daß man den ersten Andachtstag der Gemeine nach der Feier des Pfingstfestes als einen besondern Sonntag und Festtag der Dreieinigkeit angesehen und hochgehalten hat. Und das ist auch ganz natürlich. Denn in der Geschichte der Erlösung ist die Ausgießung des göttlichen Geistes das letzte bedeutende himmlische Ereigniß, welches als ein allgemeines Fest der Christenheit begangen zu werden verdient, und womit alles, was Gott zu unserer Erlösung in seinem ewigen Rath beschlossen hat, | ist vollendet worden. Wenn wir nun zurücksehen auf den ganzen Kreis schöner und herrlicher Feste, von der Geburt des Erlösers an, der in die Welt gesandt worden ist, damit er den Geist seines Vaters uns senden könne, bis zur Ausgießung dieses Geistes und seiner Befestigung in der Gemeine, und wir fragen uns, nachdem dieser festliche Theil unseres kirchlichen Jahres geschlossen ist, was ist denn der rechte innerste Kern alles dessen, worüber wir uns mit einander gefreut, wofür wir Gott gedankt, worin wir die besondere Würde und Herrlichkeit des Christen empfunden haben? so ist es die-

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ses, wie der Apostel sagt, daß wir die Gottheit des Sohnes erkennen und bekennen, und daß es der Geist Gottes ist, von dem er uns gegeben hat, damit er in uns und wir in ihm sein und bleiben können. Und so fühlen wir denn und werden inne in diesem Bekenntniß der Gottheit des Sohnes und des Geistes alles dasjenige, was die eigenthümliche Freude und Seligkeit des Christen ausmacht. Und eben | dies nun, m. a. F., sagen eben so herrlich als einfach die Worte unseres Textes. Denn wie könnte man eben den eigenthümlichen Segen des Christenthums und die ganze ausgezeichnete Würde des Christen besser beschreiben als wie der Apostel es thut in den Worten, daß Gott in uns ist und wir in ihm. Was ist es denn, was wir fühlen verloren zu haben, wenn wir uns betrachten in der Gemeinschaft der Sünde, als eben dies, daß wir gewichen sind von der Gemeinschaft mit Gott, und daß unser Herz ihm ist entfremdet worden? Was ist denn der Gegenstand unseres Verlangens und unserer Sehnsucht, wogegen uns alles Übrige nichts ist, und wogegen wir, wenn wir es gewinnen können, auch alles Andre für Schaden halten würden, als die Gemeinschaft mit Gott? Diese verloren zu haben ist der Schaden der Seele neben welchem es dem Menschen nichts hülfe, wenn er auch die ganze Welt gewönne. Diese wieder erlangt haben, und in der Gemeinschaft mit Gott leben, er in uns und wir in ihm – das ist der hohe Gewinn, neben welchem wir alle andern | Güter und alle andere Herrlichkeit für nichts achten und gering schätzen. Und was sagt nun der Apostel, woran wir deß inne werden, woran wir es erkennen, und worin es besteht, daß Gott in uns ist und wir in ihm? Daran sagt er, daß es sein Geist ist, von dem er uns gegeben hat; darauf beruht es, daß wir bekennen, daß Jesus der Sohn Gottes ist, den Gott zum Heiland der Welt gesandt hat. So laßt uns denn nach Anleitung dieser apostolischen Worte das näher mit einander betrachten, wie in der That darin das ganze Wesen und die ganze Herrlichkeit des Christenthums ausgesprochen ist, und darin auch der einfachen Ordnung des Apostels folgen, der zuerst redet von der Gottheit des Geistes, und dann davon, daß wir bekennen müssen, Jesus sei der Sohn Gottes und also göttlichen Wesens theilhaftig. I. Zuerst also, m. g. Fr., sagt der Apostel: „Daran erkennen wir, daß er in uns ist und wir in ihm, daß er uns von seinem Geist gegeben hat.“ Indem der Apostel, m. g. F., so nicht den Einzelnen für sich allein anredet, und auch nicht dem Einzelnen | als solchem den Besitz des göttlichen Geistes zuschreibt, sondern immer zusammenfaßend von den Christen und so auch von dem Geist als einem gemeinsamen Eigenthum redet, von welchem jeder habe: so erinnert er uns daran, daß dieser ganze Besitz, dieses ganze 3 sein und] Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 2r; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 102v; SAr 51, Bl. 72r 9 es] Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 2v; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 102v; SAr 51, Bl. 72v 17–18 Vgl. Mt 16,26; Mk 8,36

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selige Gut des Christenthums und der Erlösung uns nur unter der Gestalt einer Gemeinschaft gegeben ist. So hat der Erlöser selbst sie gestiftet, und nicht nur jeden Einzelnen an sich und ihn gewiesen, sondern sie alle unter einander verbunden mit und zu derselben Liebe, womit er uns geliebt hat. Und dasselbe, m. g. F., werden wir ja auch inne in allen andern menschlichen Dingen. Nichts, am wenigsten dasjenige, was groß ist und der Rede werth, vermag der Mensch für sich allein zu besitzen und zu haben. Alles in menschlichen Dingen gelangt erst zu seiner Vollkommenheit durch die Gemeinschaft, und alles werden wir erst recht froh in der Gemeinschaft; und mit welchen Gütern wir uns auch möchten gesegnet denken, wenn wir uns dabei denken | müßten ein einsames und für sich abgeschlossenes Leben des einzelnen Menschen, so erscheinen wir uns dürftig und schmachtend. Aber, m. g. F., jede Gemeinschaft, in der wir leben und in der wir uns fühlen, trägt auch die Spuren der menschlichen Vergänglichkeit an sich. Keine, keine besteht, und das fühlen wir am meisten in dem Maaße, als wir uns irgend eine menschliche Gemeinschaft von der, welche Christus gestiftet hat, getrennt denken. Ja sogar, m. g. Fr., laßt uns in’s Auge fassen die innigsten und heiligsten Bande der Natur; denken wir sie uns von dem eigenthümlichen Gepräge, welches das Christenthum ihnen auflegt, wieder entfernt, und dieses verwischt: o so finden wir dann auch da uns überall von der Besorgniß der Vergänglichkeit umgeben. Wir fühlen es, wenn menschliche Gemüther sich an einander sättigen können und erfreuen, so ist auch dies fähig in Gleichgiltigkeit und Überdruß auszuarten; wir fühlen es, daß jede Verbindung, | jede Liebe und Treue uns nur erscheint auf ihrer höchsten Spitze und in ihrer höchsten Vollendung in einzelnen seligen Augenblicken, in welchen wir über der einen alle andern vergessen und verlieren; aber von tausend andern Dingen angezogen und nicht immer gleichmäßig angezogen, entfernen sich auch die liebenden Gemüther wieder von einander. Sehen wir auf alles, was die Kräfte des menschlichen Geistes von den Geheimnissen des Daseins, der Werke und Wege Gottes ergründet haben, auf jedes Gebäude menschlicher Weisheit, menschlicher Lehre und Wissenschaft: es besteht alles nur in der Gemeinschaft. Lehren und lernen müssen die Menschen von einander, ergänzen der eine, was dem andern fehlt, zusammenhalten die gemeinsamen Schätze der Erfahrung und des Wissens: nur dann kann ein großes und herrliches Werk entstehen. Aber bleibt es? ist bis jetzt eins geblieben, was wir als das Werk der ausgezeichnet’sten und begabtesten Menschen preisen und bewundern? Nein. Und wenn wir uns fragen, | würden wir es wagen zu glauben, daß Eins bestände? so müßten wir sagen Nein. Jede Gesinnung, jede Ansicht, die sich in dem menschlichen Geiste bildet, und durch deren Übereinstimmung menschli9 recht] Ergänzung aus SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 103v; SAr 51, Bl. 73r 3–4 Vgl. Joh 13,34; 15,12

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che Gemüther verknüpft werden, sie hat etwas Unvollkommnes, wodurch sie früher oder später zerstört wird. Anderes geht in die menschliche Seele ein, und regt andere Gefühle und Bedürfnisse in ihr auf, und läßt ihre Kräfte in einer andern Richtung und auf eine andere Weise thätig sein – und so ist das edelste Werk der Gemeinschaft menschlicher Seelen vergänglich wie alles Übrige. Sehen wir auf die Bande der Ordnung, der Geselligkeit und des Rechtes, die unter den Menschen bestehen, und sie zusammenhalten: viele Geschlechter hindurch dauert eine Gesetzgebung, die in dem Geist des Volkes entworfen ist und mit gemeinsamer Kraft ausgeführt, viele Geschlechter hindurch bleiben vereinigt diejenigen, welche der Herr zusammengehörig geschaffen hat mit einem gemeinsamen Gepräge; aber | steht Ein Thron der Erde, steht Eine menschliche Gesetzgebung fest? sind die Gränzen der Völker und ihre Abstammung unvergänglich? verwischen sie sich nicht bald wieder und trennen sich? und wird nicht auf diese Weise manches, was lange bestanden hatte, aufgehoben? und nehmen nicht so die Menschen eine andere Richtschnur ihres Lebens und ihrer Bestrebungen an? Ja alles ist vergänglich, und nur in dieser Vergänglichkeit von Gott vorhergesehen und durch seinen ewigen Rath in seine Gränzen zusammengefaßt. Aber das Vergängliche genügt uns nicht, und von dem Schwindel desselben ergriffen, wenn wir es erfahren und uns seines immer wiederkehrenden Kreislaufes bewußt werden, suchen wir uns in das Gebiet des Unvergänglichen zu retten. Und wie viel tausend Versuche haben von Anfang der Erscheinung des menschlichen Geschlechtes die Menschen gemacht, um zu dieser oder jener Gestalt einer unvergänglichen | Gemeinschaft zu gelangen, welche allen andern Gesetzen sich entziehend und von allen früheren Bestrebungen ähnlicher Art sich entfernend die Menschen sei es offenbar oder geheim, sei es sichtbar oder unsichtbar, auf eine solche Weise vereinigen möchte, daß nichts im Stande wäre sie wieder zu zerstören! Aber keine hat sich als eine solche bewährt. Fragen wir aber, m. g. F., was ist denn nun des Eigenthümliche unseres Glaubens an die Gemeinschaft der Christen? Nichts anderes als eben dies, daß sie die Eine unvergängliche sei unter allen vergänglichen, daß der Herrschaft, die der Sohn Gottes über die Menschen ausübt in der Gemeinschaft der Gläubigen, kein Ende sei, sondern sein Thron allein ewig feststeht, daß die Pforten der Hölle die Gemeine, die er gestiftet hat, nicht überwältigen können. Und könnten wir uns denken, m. g. F., auch diese wären vergänglich, und es gäbe künftige Geschlechter, welche auf den Glauben der Christen zurücksähen als auf etwas, was gut | gewesen wäre für die Kindheit des menschlichen Geschlechts, worüber sie hoch erhaben ständen, aber weil für sie diese Zeit der Kindheit verschwunden sei, wie die Zeit alles Menschlichen verschwindet: wo hätten wir dann 3 Gefühle und] Ergänzung aus SAr 51, Bl. 73r 34–35 Vgl. Mt 16,18

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noch einen Trost? und wäre dann nicht, wenn wir es denken müßten, alles dasjenige uns zerstört und genommen, was uns die feste Haltung, was uns die unerschütterliche Zuversicht des Unvergänglichen giebt, was das Bewußtsein der menschlichen Seele in diesem Strudel der vergänglichen Welt erhalten könnte? Auch fühlen wir es, daß der, welcher die Gemeinschaft der Christen für eine vergängliche hält, den eigentlichen Segen derselben nicht genießen kann, daß sie dem nur ist eine gute menschliche Lehre, eine gute menschliche Sitte, zweckmäßig eingerichtet für ihn und für die Menschen, so weit er um sich her sehen kann in der Gegenwart, und so weit er hinauszusehen vermag in die Zukunft; aber indem er sie doch auch | für unvollkommen hält, so setzt er sie allen übrigen gleich, und muß sich damit trösten, daß nichts unter der Sonne ist, was nicht eitel wäre und vergänglich. – Worauf beruht nun aber, m. g. F., unser Glaube an die Unvergänglichkeit der christlichen Gemeinschaft? Jede Gemeinschaft der Menschen wird zusammengehalten durch einen gemeinsamen Geist, der, derselbe in allen, sie auf gleiche Weise leite und beseele. Hat sie einen solchen nicht, so ist sie nichts anderes als eine leere Form, ein todter Buchstabe, nicht etwa vergänglich, sondern schon vergangen. Ist nun der Geist ein menschlicher, so muß auch die Gemeinschaft vergänglich sein, wie alles Menschliche vergänglich ist. Soll nun das Christenthum eine unvergängliche und ewige Gemeinschaft sein, o so muß auch der Geist, der uns zusammenhält, der Geist, der uns als Christen nach Einem Gesetz leitet, zu Einer Regel vereinigt, in Eine Ordnung hineinbildet, zu Einem Ziele hinführt, dieser Geist muß nichts | Menschliches sein, sondern sein Geist, der Geist Gottes, das göttliche Wesen selbst, der sich mit der menschlichen Natur verbindet, um sie zu erhöhen und in ihrem unvergänglichen Wesen zu erhalten und zu befestigen. Denn ein drittes, m. g. Fr., giebt es nicht; wir erkennen nichts Geistiges zwischen dem Menschen und Gott; alle Vorstellungen, die wir uns machen von höheren geistigen Wesen als wir sind – freilich müssen wir glauben an die unendliche Mannigfaltigkeit und Fülle, an den unerschöpflichen Reichthum und die unermeßliche Größe der göttlichen Offenbarung – aber für uns ist es nichts und kann nichts sein als leise Ahndungen, als schnelle vorübergehende Gedanken, die aus dem flüchtigen Spiel der Einbildungskraft hervorgehen in den Augenblicken unseres Lebens, wo die gesetzmäßige Ordnung unseres Denkens aufgehoben ist. Und sollten wir denken, daß irgend ein fremdes und höheres aber auch | zugleich endliches Wesen in uns eindringen könnte und sich mit uns vereinigen auf eine solche Weise, wie es uns gesagt ist, und wie wir es in uns tragen von dem Geiste Gottes: so müßte unser ganzes Dasein umgeschaffen werden. Denn Gott der Herr hat seine Werke gesondert, ein jedes geschaffen in seiner Art, 15 derselbe] Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 7v; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 105v; SAr 51, Bl. 74v 12–13 Vgl. PredSal 1,14; 2,17

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wie es bleiben soll; aber mit ihm kann und soll sich alles Erschaffene nur nach seiner Weise vereinigen. Wir haben und behalten uns desto mehr, je mehr Gott in uns ist; wäre aber irgend ein anderes Wesen in uns, so hätten wir uns selbst verloren, und wären nicht mehr wir selbst. Und das Wesen der Gemeinschaft, die auf dem göttlichen Geiste ruht, drückt der Apostel in den Worten unseres Textes so aus, daß Gott in uns bleibe, und wir in ihm. Als einen gemeinsamen Zustand beschreibt er das und als das Wesen unseres gemeinsamen Lebens; und so ist denn auch dies als das Werk des göttlichen Geistes in uns zu betrachten. | Was heißt das aber „Gott ist in uns, und wir in ihm“? Ja Gott ist in allem, allgegenwärtig mit seiner Macht, und nicht fern von einem jeden seiner Geschöpfe: Auf diese Weise also, m. g. F. wäre es nichts Neues und Besonderes, daß von uns gesagt wird, Gott wäre in uns. Es ist daher gemeint, daß er in uns ist nicht auf dieselbe Weise wie überhaupt in allen Dingen, sondern auf eine besondere, die daher auch nothwendig und natürlich unserem eigenen Wesen angemessen ist. Unser Wesen aber, m. g. Fr., ist Bewußtsein, Empfindung und Verstehen. Wenn also Gott soll in uns sein, was heißt das anders als wir müssen uns in ihm empfinden, uns seiner innerlich bewußt werden? Aber, m. g. Fr., wie kann das der Mensch – und wenn wir uns auch versteigen wollten in höhere Gegenden des geistigen Seins – wie kann irgend ein endliches Wesen sich Gottes bewußt sein und ihn in sich tragen und empfinden – das Endliche den Unendlichen? Nein, nur der Geist | Gottes durchdringt die Tiefen der Gottheit, nur Gott selbst versteht sich selbst, und nur wenn er so in uns ist, können wir ihn auch empfinden und in uns tragen, und uns seiner bewußt sein, und auf eine andere Weise nicht. Zwar die Schrift sagt, Gott habe sich allen Menschen offenbart, denn sie könnten seine göttliche Kraft und sein göttliches Wesen wahrnehmen, und deß inne werden, so sie betrachteten die Werke seiner Schöpfung. Ja das ist wahr, m. g. F., die sind vor uns ausgebreitet, und für den verständigen Geist, für die vernünftige Seele liegt eben darin der Beruf, das Recht, ja laßt uns auch das nicht verbergen die heilige Pflicht, Gottes inne zu werden in seinen Werken. Aber erreicht es der Mensch? Auf zweierlei Weise kann er die Werke Gottes betrachten: einmal so, daß er sie auf sich selbst bezieht, dann so daß er sich seiner gänzlich entschlägt, und ihrer inne zu werden sucht auf eine ihnen eigene Weise. Auf | die erste Weise scheint es, als müßte er bald voll werden in seiner Seele von der Güte und Barmherzigkeit des Schöpfers, der die Welt, welche wir bewohnen, so eingerichtet hat, daß sie eine unendliche Fülle von Segnungen für den Menschen enthält, daß alles in ihr liegt, was seine Kräfte entwickeln, was seinen Sinn aufregen und beschäftigen, was seinem Dasein Befriedigung gewähren kann. Aber findet er nicht eben so oft die Welt sich zuwider? fühlt er sich nicht in einem beständigen Streit mit allen andern 37 unendliche] Ergänzung aus SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 106v; SAr 51, Bl. 75v 22–23 1Kor 2,10

25–28 Vgl. Röm 1,20

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Kräften, die ihn umgeben? wird er nicht gewahr, wie nicht einmal der Mensch zu seinem eigenen Dasein zusammenstimmt, wie er so oft in der Thorheit seines Herzens sich selbst schadet, wie er so oft den Genuß alles Schönen und Herrlichen, was sich ihm darbietet in der Welt, sich selbst nicht nur verkürzt, sondern auch verkehrt, wie ein Bruder gegen den andern, die doch innig verknüpft durch die Bande der Natur einig sein sollten in ihrem Gemüth, | aufgeregt wird auf eine feindselige Weise durch zerstörende Leidenschaften? Ja wollte er auch davon absehen, so wie er darauf gerichtet ist, die Werke Gottes zu betrachten, wie sie für ihn gemacht sind als ein Beweis der göttlichen Güte und Liebe: wie leicht geräth er da aus dem Einfachen in das Verwickelte, aus dem Hellen in das Dunkle, aus dem Offenbaren in das Verborgene und Geheimnißvolle; und je weiter sich der nach dem Lichte strebende Geist ausbreitet in den verschiedenen Richtungen, desto mehr verschwindet ihm das, was er gesucht hat, und statt alles in der Welt auf den Menschen zu beziehen, wird er gesättiget von dem demüthigenden Gefühl, daß der Mensch nur ein Punkt ist, der da verschwindet in diesem ganzen Unermeßlichen. Wohlan denn, dann soll er sich erheben durch diese Demüthigung, soll sich dessen entschlagen, daß er die Werke Gottes auf sich beziehen will, der doch nur ein kleiner Theil | ist in dem unendlichen Gebiete der göttlichen Schöpfung, soll in ihr inneres Wesen eindringen, damit er in ihrer unauflöslichen Verknüpfung, in ihrem festen Zusammenhalten und in ihrer gesetzmäßigen Ordnung die Weisheit, und in ihrer unermeßlichen Größe und Kleinheit die Allmacht dessen, von dem alles herrührt, erkenne und fühle. Aber, m. g. F., geht es ihm in diesem Geschäft besser als in dem vorigen? Findet er nicht überall, je mehr er seine Aufmerksamkeit schärft, eben so viel Störungen als Ordnung, eben so viel gegenseitiges Aufreiben als friedliches Zusammenstimmen, eben so viel feindseliges gegen einander Kämpfen als gegenseitiges Fördern unter den Geschöpfen? Und so erklären wir es uns, wie die Werke Gottes todt sind, die vernünftige Seele seiner bewußt werden zu lassen, so daß es doch scheint, als wäre es ein vergebliches Bestreben Gottes gewesen, die Welt so einzurichten und zuvor zu versehen, wie der Apostel sagt, daß Gott Himmel und Erde so gemacht habe, daß der Mensch ihn fühlen und | empfinden möchte. Denn er fühlt und empfindet ihn nicht auf diesem Wege; sondern aus dem Bestreben die Welt zu betrachten auf eine uneigennützige Weise, indem er ihr Wesen zu erforschen sucht, wie leicht entsteht ihm da der Unglaube; und aus dem Bestreben die Welt auf sich zu beziehen, wenn er für sich selbst noch nicht gekommen ist zur reinen Einheit seines Wesens, zum vollkommenen Frieden mit sich selbst, was kann ihm entstehen als eine gröbere oder feinere Abgötterei, in welcher er das ungetheilte göttliche Wesen zerstückelt in eine Mannigfaltigkeit von Göttern, und den Beziehungen desselben auf sein Dasein eine menschliche Form giebt, und die Gesetze, nach welchen Gott seine Geschöpfe gemacht hat, herabwürdigt

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zu Dienern seiner mit sich selbst streitenden Lüste. Und auf diese beiden Abwege haben sich die Menschen immer verirrt. Ja was uns auch erscheint als eine Verkündigung des göttlichen Wesens in dem menschlichen Leben, jedes Lob Gottes, das aus dem Munde des natürlichen Men|schen geht, jede Anbetung des menschlichen Herzens, aber in welchem der Geist Gottes nicht wohnt: es hat Eins von diesen beiden in sich, den Unglauben oder die Abgötterei. Gott muß in uns sein, er muß sich selbst in unser Wesen senken, er selbst muß uns lehren ihn empfinden und erkennen in den Werken seiner Schöpfung, sein inneres Licht muß erst das Auge unseres Geistes erleuchten, und sein die ganze Welt zusammenfassendes Wesen muß uns erst beseelen und treiben, damit wir uns mit allen unseren Gedanken und Bestrebungen allein in ihm fühlen: dann und sonst nicht können wir ihn finden, und uns seiner bewußt werden, und ihn festhalten und mit ihm verbunden bleiben. Aber, m. g. F., steht es so um den Menschen, daß die Werke Gottes ihm doch zur Erkenntniß nicht verhelfen: wie soll denn der Geist Gottes, wenn er sich auch in unser Herz herabsenken mag, um uns Gott zu verklären und zu offenbaren, wie soll denn Gott in unsere Seele hinabsteigen und sie erwecken und erregen, daß sie ihn finden und seiner inne werde können? Keiner kommt zum Vater durch die Werke | der Schöpfung, wie klar und wie mannigfaltig sie ihm auch aufgedeckt liegen, sondern nur durch den Sohn. Er ist es, der uns den Geist Gottes verklärt, und indem er uns den verklärt ist Gott in uns und wir in ihm. Aber es ist der Jesus, den wir als den Sohn Gottes bekennen, der den Geist uns verklären kann und muß, damit Gott in uns bleibe und wir in ihm. Und so führt uns dies auf den zweiten Theil unserer Betrachtung, wie alles, was der Glaube an den Geist Gottes in uns hervorbringen kann, davon abhängt, daß wir durch seine Kraft und durch sein Licht erkennen und bekennen, daß Jesus sei der Sohn Gottes. II. Laßt uns, m. g. F., zurückgehen auf den ersten Anfang jener seligen Verkündigung des Evangeliums, so werden wir sehen, wie da das beides Eins und dasselbige war, den Geist Gottes haben, und glauben und bekennen, daß Jesus der Sohn Gottes sei. Denn diejenigen, wie wenige ihrer auch waren, und wie unvollkommen sie uns auch erleuchtet scheinen, und welchen auch erst | ein dunkler unsicherer Schimmer des Reiches Gottes und der Seeligkeit der Gläubigen entgegen leuchtete, aber doch diejenigen, welche bekannten und nicht leugneten „ja du bist der Sohn des lebendigen Gottes, du allein hast Worte des Lebens, wo sollten wir sonst hingehen“ – die hat26 den] Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 13; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 108v; SAr 51, Bl. 77r 19–21 Vgl. Joh 14,6

37–38 Vgl. Mt 16,16–17; Joh 6,68–69

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ten den Geist Gottes, denn Fleisch und Blut hatte ihnen das nicht offenbart. Diejenigen aber, wie gut sie es auch meinten, wie tief sie auch das Verderbniß der menschlichen Natur fühlten, wie sehr sie auch durchdrungen waren von der Überzeugung, daß sie sich selbst nicht helfen könnten und durch eigene Kraft entfliehen dem Zustande der Verkehrtheit und des Mangels am göttlichen Leben, diejenigen, meine ich, welche noch zu ihm kamen und fragten: „bist Du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?“ – Die hatten den Geist Gottes nicht. Aber nun, m. g. F., laßt uns fragen, wenn wir Jesum nicht bekennen, daß er sei der Sohn Gottes in das Fleisch gekommen und von dem Vater gesandt als Heiland der | Welt, wenn wir ihn so nicht bekennen: sind wir dann nicht in derselben Lage von jenen? und müssen wir dann nicht auch fragen: bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten? Wie sehr uns auch die Worte der Weisheit aus seinem Munde erquicken, wie sehr wir auch lieben und bewundern mögen die milde Gestalt, die sich der verirrten Seele annahm, die demüthige Weisheit, die diejenigen ihres Weges gehen ließ, welche die Schlüssel des Himmelreichs zu haben meinten, wie sehr uns auch mit tiefer Wahrheit jedes Wort aus seinem Munde schlägt und gefangen nimmt; wenn wir denken, er war aber doch ein Mensch, dieser herrliche Lehrer, dieses Bild der Weisheit, diese Fülle der Liebe und Erbarmung, er war doch ein Mensch wie wir, und nichts anderes, ein Mensch vom Weibe geboren, und seine hohe Weisheit der Zeit nicht nur, welche vor ihm gewesen war, und die Schätze der Erkenntniß auf sein Geschlecht vererbt hatte, sondern auch der Zeit, in welcher er selbst lebte, wo der Zustand der Dinge | und die großen Verhältnisse des Lebens ihm mancherlei Aufforderungen gaben seinen Geist zu entwickeln; und seine Gaben, sie waren das Werk derer, die ihn erzogen, und mit Sorgfalt und Treue über ihn gewacht hatten; wenn wir das dabei denken: können wir dann glauben, daß dasjenige, was er gelehrt, was er eingerichtet hat, und dasjenige, wodurch er in der menschlichen Seele ist und wirkt, bleiben kann und soll für ewig? Nein, m. g. F.; und wenn das ist, können wir sicher sein, daß es uns selbst in jedem Augenblick unseres Lebens Befriedigung gewähren wird, wie sehr wir dieselbe auch suchen und bedürfen? In allem Menschlichen suchen wir, weil wir es voraussetzen müssen, das Unvollkommene; keine menschliche Kunst und Weisheit kann uns so gefangen nehmen und begeistern, daß wir nicht, nachdem wir uns an aller Herrlichkeit und Fülle, welche dieselbe in sich schließt, gesättigt haben, nachdem die Kraft derselben uns erregt und durchdrungen hat, daß wir dann nicht die Augen öffnen sollten, und die Spuren der mensch|lichen Unvollkommenheit und Schwäche darin finden. Und es fehlt nicht, daß wir 6 meine ich,] Ergänzung aus SBB Nl. 481, Bl. 109r; SAr 51, Bl. 77r 7.12–13 Mt 11,3; Lk 7,19.20

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sie nicht finden sollten; und je mehr wir sie entdecken, desto mehr lächeln wir über unsere frühere Begeisterung, und wenden uns immer mehr von demjenigen ab, was wir mit Verehrung umfaßt haben. Und so ist es mit allem Menschlichen und muß es sein; es zieht uns an oft mit einer großen unwiderstehlichen Gewalt, oft auf eine für unser inneres Leben segensreiche Weise; aber wir finden auch das Unvollkommene darin, wir entdecken darin die Schwächen, über denen wir stehen eben weil wir sie entdecken, und indem wir auf diese Weise zu einer richtigeren Schätzung desselben gelangt sind, so sind wir los und frei von den süßen Banden, von denen wir wünschen möchten, daß sie uns immer umschlungen hielten. Und wo wir einen sehen in diesem Zustande der Begeisterung für irgend ein menschliches Wesen, wo er diesem Einen mit aller Verehrung seines Herzens anhängt, wo er nach nichts anderem trachtet, als nur ihm zu gefallen, wo er sein Thun nicht nur über jedes andere erhebt, sondern auch jede andere menschliche Kunst und Weisheit verachtet gegen die Kraft, mit wel|cher dieser gewirkt, und gegen die Meisterstücke, die er hervorgebracht hat: fühlen wir uns da nicht von einem Unwillen ergriffen, der uns selbst erscheint als ein Beweis menschlicher Würde? fühlen wir nicht; daß das eine abgöttische Verehrung ist, die dem Menschlichen nicht gebührt? und suchen wir nicht dagegen zu warnen als gegen eine Verirrung, die sich in der Folge schwer rächen wird, wenn der Geist zu einem klaren Bewußtsein wird erwacht sein? Und so müßte es uns denn mit Jesu, dem Heiland der Welt auch gehen, wenn er uns nichts anderes wäre als ein Mensch, wenn auch der vollkommenste und von Gott begabteste und gesegnetste, so müßten wir auch den Glauben an ihn ansehen als etwas, was nur durch menschliche Schwäche so hoch gehalten werden könnte und so fest gestellt, als es nur immer gehen wollte, und bewundern müßten wir schon im voraus diejenigen, welche in späterer Zeit weiter und erleuchteter als wir auch in ihm die menschliche Schwäche und Unvollkommenheit entdecken werden. Wäre aber das der Glaube, den wir als Christen haben an diesen Jesum? Und wenn er es denn nicht ist, so müssen wir es fühlen | und inne werden, daß unsere Treue gegen ihn, unsere Anhänglichkeit an ihn, unsere Hoffnung auf ihn und auf die tröstlichen Verheißungen, welche wir aus seinem Munde empfangen haben, daß dies alles darauf beruht, daß wir bekennen, er sei der Sohn Gottes vom Vater in die Welt gesandt zum Heiland der Menschen. Nur wenn wir ihn so bekennen können wir uns frei von jeder Besorgniß, als könne es jemals zu viel werden des Glaubens und der Verehrung gegen ihn, dem göttlichen Geist hingeben, der uns in ihm zeigt das Ebenbild des Vaters, den Abglanz seiner Herrlichkeit, den eingebornen Sohn, in welchem wir ihn sehen den Vater und die Fülle der Gottheit erkennen, und der eben weil er zum Heiland der Welt gesandt ist, und weil er alle in gleicher Verehrung des Göttlichen seinem Bunde verknüpft hat, uns 39 Vgl. Hebr. 1,3

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verbunden hat zu einer lebendigen und innigen Gemeinschaft mit ihm und mit nichts anderem, um uns gegenseitig an ihn festzuhalten, um uns gegenwärtig zu machen seine heiligen Gebote, und einander Handreichung zu leisten in dem Werke, welches seine | Erscheinung auf Erden gegründet hat, und in dem Dienste, in welchem wir uns zu ihm verpflichten. Denn, m. g. F., ohne den Glauben, daß Jesus der Sohn Gottes sei vom Vater in die Welt gesandt, ohne den Glauben, daß es von seinem Geiste sei, den er uns gegeben hat, ohne den Glauben, daß also Gott in uns wohnt, wie könnten wir ohne diesen in ihm sein und ihn in uns fühlen? Ohne diesen ist das Eigenthümliche des Christenthums nichts und könnte nichts sein als eine von den vielen Stufen, durch welche der Mensch hindurchgehen muß, um nach und nach zur innigen Gemeinschaft mit Gott zu gelangen. Halten wir also unsern Bund für einen ewigen Bund, wie er uns gesagt hat, und wie wir es in unserem Bewußtsein tragen; glauben wir, daß die Bedürfnisse der Menschen, welche sich auf ihr ewiges Wohl beziehen zur Sicherheit gekommen sind durch ihn, und daß das Werk des Heils, welches von ihm ausgeht, fest steht, und kein anderes jemals möglich ist, als das in seinem Werk liegt: so folgt daraus jener Glaube, dessen wir uns nicht entschlagen können ohne diese Zuversicht fahren zu lassen. Sehet da, m. g. F., es | ist der Kern jenes offenkundigen Geheimnisses, Geheimniß wenn wir dabei an die Tiefe und den Reichthum des göttlichen Wesens denken; offenkundig, wenn wir es begreifen in unserem Bewußtsein als das innerste Wesen des Glaubens, in welchem und durch welchen wir leben. Und so laßt uns denn an diesem göttlichen Kern des Geheimnisses uns immer mehr nähren und sättigen, und alle Betrachtungen, die damit in Verbindung stehen, immer auf diesen Mittelpunkt zurückführen, und in jedem Augenblick unseres Lebens, wo das Gemüth auf eine besondere Weise dem Einfluß des göttlichen Lichts geöffnet ist, wo wir uns fühlen durchdrungen von den Segnungen des Christenthums, jeden solchen auf diesen innern Mittelpunkt zurückführen, und uns dabei unseren Glauben an Jesum, daß er sei der Sohn Gottes vom Vater in die Welt gesandt zum Heiland der Menschen, unsern Glauben an den gemeinsamen Geist, der in der christlichen Kirche lebt, daß er sei der Geist Gottes, uns den vorhalten, so hell und tief wir können. Aber, m. g. F., | je wichtiger und größer dieses unser Geheimniß des Christenthums ist, je glänzender und reicher die Segnungen, die uns aus demselben fließen, desto mehr wollen wir uns hüten, daß wir nicht statt uns an dem Kerne zu sättigen mit der Schaale spielen, daß wir nicht statt uns des innersten Wesens zu erfreuen durch die äußere Gestalt befriedigt werden, daß wir nicht über dem Halten an dem Wechselnden und Vergänglichen das Ewige und 7–8 es von ... daß] Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 17v; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 111r; SAr 51, Bl. 78v 12 und nach zur] und zur ; Ergänzung aus SN 604/2, Bl. 17v; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 111r; SAr 51, Bl. 78v 25 Verbindung stehen] so SN 604/2, Bl. 18v; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 111r–111v; SAr 51, Bl. 79r; Textzeuge: Verbindungen

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Unwandelbare aus den Augen verlieren, desto mehr wollen wir uns hüten, daß wir nicht die innerste Kraft des Glaubens tödten, indem wir den lebendig machenden Geist verwandeln in einen todten Buchstaben, uns davor hüten, daß wir nicht das Geheimniß des Herzens, welches nur als solches besteht, das wir in unserem Glauben haben, hingeben in die äußere Gewalt des Wortes und der Schule, wodurch die Kraft desselben in unserem Herzen untergeht, indem wir uns auf eine leere Weise mit dem Äußerlichen begnügen. O wie viel Schaden ist dadurch schon dem Christenthum ge|schehen! wie viele Zerrüttungen der Gemüther haben darin ihren Ursprung genommen! wie häufig sind die Fälle gewesen von solchen, die in der Meinung für die Sache des Christenthums redlich und eifrig zu wirken, und von dem wahren Glauben getrieben zu werden, doch nichts anderes bewirkten in der Gemeine des Herrn als Unordnung und Zwiespalt, indem sie die innerste Kraft der Wahrheit nicht zu scheiden wußten von den Worten, in welchen die göttliche soll ausgesprochen werden, indem sie sich nur an den Buchstaben hielten, indem sie den Buchstaben beschützen und gewinnen wollten, und in ihm das Wesentliche des Christenthums erkannten. – Eins, m. g. F., ist eben so wahr und liegt eben so deutlich in der Geschichte des Christenthums vor Augen als das Andere. Je mehr die Herzen der Christen sich entfernen von der Lebendigkeit und Treue in diesem Glauben, desto mehr verschwand das Eigenthümliche des Christenthums, und ging verloren unter einem eiteln Wahn und einer thörichten Selbstgefälligkeit. Je mehr die Bestrebungen der Gläubigen auf die Worte gerichtet waren, die dieses | Geheimniß darlegen sollten, und begränzen und bestimmen, desto mehr ging der wahre Segen desselben verloren, und die Kraft und der Geist wurden fortgerissen von der Fluth der Worte. Davor wollen wir uns hüten, das Geheimniß in treuer Seele bewahren, den Glauben festhalten im Innern, ihn frei zu machen suchen von den Fesseln des Buchstabens, und beständig froh zu werden unserer Verbindung mit dem Erlöser und mit seinem Geist. Dann werden wir den herrlichen Segen erfahren, den uns der Apostel in den Worten unseres Textes beschreibt, daß Gott in uns bleibt, und wir in ihm. Amen.

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[Liederblatt vom 2. Juni 1822:] Am Sonntag Trinitatis 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t etc. [1.] Hallelujah! Lob, Preis und Ehr / Sei unserm Gott je mehr und mehr / Für alle seine Werke! / Sein ist das Reich der Herrlichkeit, / Weit, über alle Himmel weit, / Herrscht er mit Huld und Stärke. / Singet, bringet frohe Lieder! /

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Fallet nieder / Und erhebet / Unsern Gott, durch den ihr lebet. // [2.] Hallelujah! Dank, Preis und Ruhm / Sei von uns, deinem Eigenthum, / Sohn Gottes, dir gesungen. / Du Mittler zwischen uns und Gott, / Hast durch Gehorsam bis zum Tod / Das Leben uns errungen! / Heilig, selig ist die Freundschaft / Und Gemeinschaft / Aller Frommen, / Die durch dich zum Vater kommen: // [3.] Hallelujah, Gott heilger Geist, / Sei ewiglich von uns gepreist, / Durch den wir neu gebohren, / Der uns mit Glauben ausgeziert, / Und uns dem Heiland zugeführt, / Zur Seligkeit erkohren! / Leit’ uns, stärk’ uns, daß in Freude / Wie im Leide / Gott ergeben, / Wir zu seiner Ehre leben. // Nach dem Gebet. – Mel. Komm heiliger Geist etc. [1.] Lob, Preis und Ehre bringen wir, / Herr unser Gott und Vater dir; / Dein Ruhm soll unter uns erschallen. / Laß unser Lob dir gefallen. / Laßt seiner Lieb’ uns ewig freun, / Und ihm auf ewig dankbar sein! / Lobsingt ihm Christen, theure Brüder, / Fallt vor dem Gott der Liebe nieder / Und betet an. :,: // [2.] Er hieß uns leben, wir sind sein! / Du bist die Lieb’ und wir sind dein! / Wie groß und viel sind deiner Werke, / O du Gott voll Macht und Stärke! / Dein ist der Erdkreis, und in dir / O Höchster sind und leben wir. / Du Herr erschufst der Engel Heere; / Auch uns erschufst du dir zur Ehre, / Uns Sterbliche. :,: // [3.] Herr du gedenkst nicht unsrer Schuld, / Und trägst uns Sünder in Geduld / Auf deinen väterlichen Armen / Mit liebevollem Erbarmen; / Verkürzest uns die Prüfungszeit / Und führest uns zur Seligkeit. / Du überschüttest uns mit Freuden, / Und nur zum Heil schaffst du auch Leiden, / Du gnädger Gott. :,: // [4.] Lob, Preis und Ehre, Christe, dir! / Verlorne Sünder waren wir! / Du bist am Kreuz für uns gestorben, / Hast ewges Heil uns erworben. / Wer zu dir flieht, fest an dich gläubt / Und in Versuchung treu dir bleibt, / Der soll befreit vom Fluch der Sünden, / Erbarmung, Gnad’ und Leben finden / In Ewigkeit. :,: // [5.] Gelobet seist du, Geist des Herrn! / Wir waren einst von Christo fern. / Entfernt von dir und von dem Leben, / Mit Finsternissen umgeben. / Du hast durch deines Wortes Macht / Auch uns zum wahren Licht gebracht; / Du lehrst uns leben, hilfst uns sterben, / Und weihest uns zu Himmelserben / Durch Christi Tod. :,: // [6.] Lob, Preis und Ehre bringen wir / Gott, Vater, Sohn und Geist nur dir! / Es müsse jedes Land auf Erden / Voll deiner Herrlichkeit werden. / Wie selig, wie begnadigt ist / Ein Volk, deß Zuversicht du bist! / Von uns sei deinem großen Namen / Auf ewig Ruhm und Ehre! Amen. / Sei hochgelobt. :,: // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf etc. Deiner Gnade mich zu freuen, / Mich deiner Liebe, Gott, zu weihen, / Das sei mir Freud’ und sel’ge Pflicht! / Wie beglückest du mit Segen / Die Frommen, die auf ihren Wegen / Nur folgen deiner Wahrheit Licht. / Und ein noch größres Heil / Wird uns durch dich zu Theil; / Wenn wir sterben, dann leben wir, / O Gott bei dir, in Himmelswonne für und für! //

Am 9. Juni 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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1. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,5–11 Nachschrift; SAr 102, S. 35–67; Andrae Keine Nachschrift; SAr 83, Bl. 1r–17v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SN 612/1, Bl. 1r–4v; Saunier Nachschrift; SAr 108, Bl. 1r–6v; Saunier, in: von Oppen Nachschrift; SAr 61, Bl. 116r–121r; Woltersdorff Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 492–508 und S. 509–526 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Frühpredigt am ersten Sonntage nach Trinitatis 1822 am neunten Brachmonds. | Tex t. Philipper II, 5–11. Ein jeglicher sei gesinnet wie Jesus Christus auch war, welcher ob er wohl in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub Gott gleich sein, sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein anderer Mensch und an Gebehrden als ein Mensch erfunden. Er erniedrigte sich selbst, und ward gehorsam bis zum Tode; ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöhet und hat ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle deren Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß Jesus Christus der Herr sei, zur Ehre Gottes des Vaters. M. a. F. Große und herrliche Worte über unsern Erlöser redet der Apostel hier, solche, mit denen gewiß das innerste Gefühl eines jeden gläubigen Christen vollkommen zusammenstimmt, über deren bestimmte Bedeutung aber im Einzelnen | von je her die Meinungen verschieden gewesen sind, und zwar nicht etwa nur solche, welche die außerordentlichen und geheimnißvollen Aussprüche der Schrift über die höhere Würde des Erlösers gern auf eine solche Weise darstellen, die den Unterschied zwischen ihm und

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andern Menschen verringert oder wohl gar aufhebt; sondern auch unter den ersten und angesehensten Lehrern der christlichen Kirche sind von je her die Meinungen über diese Stelle der Schrift verschieden gewesen, wie es denn in der Natur der Sache liegt, daß es deren mehrere giebt, wo wir ganz in den Sinn der heiligen Schriftsteller nicht einzudringen vermögen. Aber laßt uns nicht vergessen, der Apostel redet hier vorzüglich doch in der Beziehung, daß er die Christen auffordert, so gesinnt zu sein wie Jesus Christus auch war. Denn dies stellt er voran, und darauf folgt die herrliche Schilderung des Erlösers, die wir gelesen haben. Was er also eigentlich den Christen sagen will, und was sein eigenes Gemüth, als er dies schrieb, am meisten erfüllte, war auch dasjenige an dem Erlöser, was er den Christen zur Nachahmung und zum Vorbilde aufstellt. | Wenn wir also das suchen uns recht deutlich zu machen und zu Herzen zu nehmen, so werden wir, was der Apostel durch diese Worte in den Gemüthern der Christen hervorbringen wollte[,] verstehen, und dadurch besser sorgen für unsere Erbauung zum Reiche Gottes, als wenn wir streben an menschlichen Worten – denn das sind die Worte der Apostel und Jünger unseres Herrn doch auch – unseren Vorwitz über göttliche Dinge zu befriedigen; denn das bliebe es doch immer, wenn wir tiefer als es uns verliehen ist in das unerforschliche Geheimniß dringend uns selbst wollten Licht zu verschaffen suchen, und wenn wir das, was unsere Kraft und unseren Verstand übersteigt, unserem Glauben aber im innersten Gemüth lebendig ist, auch wollten in Worte fassen, die es nicht ausdrücken. So laßt uns denn diese Worte vorzüglich von der Seite betrachten, wie sie sich auf das Erste beziehen, was der Apostel in den verlesenen Worten sagt, nämlich: „ein jeglicher sei gesinnt wie Jesus Christus es auch war“. | Was nun der Apostel hier in dem Erlöser uns eigentlich zum Vorbilde stellt, das sehen wir aus den vorhergehenden Worten, die wir neulich mit einander betrachtet haben, nämlich: „ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auf das, was des Andern ist.“ In dieser Beziehung sagt der Apostel sollten wir gesinnt sein wie Jesus Christus auch war, und das also will er in den folgenden Worten auf eine recht eindringliche und scharfe Weise darstellen. Da sagt er nun also, so sei Jesus Christus gesinnt gewesen, daß, ob er wohl in göttlicher Gestalt war, er es doch nicht für einen Raub gehalten habe Gott gleich zu sein, sondern vielmehr sich selbst entäußert habe und Knechtsgestalt angenommen. Hier sagt uns also der Apostel auf der einen Seite freilich etwas, das Christus gewesen sei, nämlich in göttlicher Gestalt, dann aber auch etwas, das er hätte sein können, aber nicht habe sein wollen, denn das liegt in den Worten, er habe es nicht für einen Raub gehalten Gott gleich sein, sondern vielmehr anstatt Gott gleich sich | darzustellen, habe er sich entäußert und Knechtsgestalt angenommen. Was es nun heiße, daß der Erlöser in göttlicher Gestalt gewe27–29 Vgl. oben 12. Mai 1822 früh über Phil 2,4

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sen sei, das können wir uns wohl leicht vergegenwärtigen, wenn wir nur denken an die Worte eines andern Apostels, nämlich des Apostels Johannes in dem Anfange seines Evangeliums, wo er von Jesu sagt, wir hätten in ihm gesehen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Denn woran erkennen wir einen als den Sohn des andern, wenn nicht an der Ähnlichkeit der Gesichtszüge und der Gestalt und des ganzen äußeren Wesens, das sich uns darstellt. So sagt Johannes hätten wir in Christo erkannt die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, und das war es, daß er in göttlicher Gestalt war, daß sich in ihm das Ebenbild des göttlichen Wesens und der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit offenbarte, und, wie er selbst sagt, wir in ihm, und also in seiner göttlichen Gestalt den Vater schauen. Daß der Erlöser so die Offenbarung des göttlichen Wesens war, das ist es, was der Apostel | hier so ausdrückt, er war in göttlicher Gestalt. Was heißt nun aber das, daß er es nicht für einen Raub hielt Gott gleich sein, d. h. nicht begierig die Gelegenheit, die sich ihm dazu darbot, ergriff Gott gleich zu sein, sondern vielmehr sich selbst entäußerte und Knechtsgestalt annahm? Hier beschreibt uns also der Apostel etwas, was der Erlöser verschmäht habe und nicht habe sein wollen, ohnerachtet er es habe sein können, und eben dies beschreibt er mit den Worten, Gott gleich zu sein – und das ist es, was am meisten die Erklärung dieser Worte des Apostels uns erschwert. Denn war der Erlöser nicht Gott gleich, war er nicht das göttliche Wort, das in seiner Natur dem göttlichen Wesen gleich war: ja dann wäre auch der Glaube, wodurch wir ihn von andern Menschen unterscheiden, und vor dem sich alle Knie beugen sollen, und alle Zungen bekennen, daß er der Herr sei, dieser Glaube wäre etwas Leeres, und bestände mehr in Worten als in der That. Dies also kann der Apostel nicht gemeint haben nach seiner ganzen Art über den Herrn zu denken und sich über ihn auszudrücken, wodurch | er so sehr den Grund gelegt hat zu dem gemeinsamen Glauben der Christen, und ihn auf das herrlichste und klarste in seinen Worten dargestellt und befestigt. Was der Apostel aber meint mit diesem Gott gleich sein, was der Erlöser verschmäht habe, das können wir am besten sehen aus dem, was er diesem entgegensetzt, was der Erlöser erwählt habe, nämlich daß er Knechtsgestalt angenommen habe, und geworden sei wie ein anderer Mensch und an Gebehrden als ein Mensch erfunden. Was ist denn nun, m. g. F., der Knechtsgestalt entgegengesetzt? Die Gestalt des Herrn und Gebieters, und eben dies Herrschen versteht der Apostel unter dem Gott gleich sein, was der Herr verschmäht habe, und statt dessen lieber die Knechtschaft erwählt. Und das ist es, was er uns am meisten zum Vorbilde setzt an dem Erlöser; ein jeglicher soll gesinnt sein 13 Wesens] Wesen 2–5.7–12 Vgl. Joh 1,14

9–11 Vgl. Hebr 1,3

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wie Jesus Christus auch war, und das Herrschenwollen verschmähen, und statt dessen lieber die Knechtsgestalt wählen wie der Erlöser. In welchem Sinne aber, m. g. F., konnte denn | der Apostel dies sagen, daß der Erlöser es verschmäht habe sich als einen Herrschenden und Gebietenden zu zeigen, und statt dessen lieber Knechtgestalt angenommen? Daß er auf eine irdische Weise unter den Menschen hätte herrschen können, das, m. g. F., fände wohl nicht leicht einer unter uns statthaft; denn sein ganzes Bestreben zog ihn davon ab, und die ganze Art, wie er äußerlich auf der Welt erschien, war schon dazu angelegt, daß er zu einem solchen Herrschen nicht hätte kommen können, ohne als Mensch, wie er doch auf Erden auftrat, vom Weibe geboren und unter das Gesetz gethan, das Gesetz selbst und die bestehenden Verhältnisse zu verletzen. Ohne eine solche Verletzung konnte er nicht herrschen auf irdische Weise. Wenn er nun das nicht konnte, was ungerecht war, so konnte er auch dies nicht, und darf der Apostel ihm das auch nicht zum Vorzug anrechnen, daß er nicht gesucht habe sich eine weltliche Herrschaft zu verschaffen. Aber ganz etwas anderes nun ist es mit der geistigen | Herrschaft, dazu war der Erlöser geboren, dazu war er auch angethan mit allen dazu erforderlichen Kräften für alle diejenigen wenigstens, die es erkannten, daß er in göttlicher Gestalt war, für alle, die in ihm das Ebenbild des ewigen Vaters und den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit schauten, für alle, die es fühlten, daß sie aus seiner Fülle nehmen könnten Gnade um Gnade. Sollte denn der Apostel also meinen, diese geistige Herrschaft habe der Erlöser verschmäht, und sei auch im geistigen Sinne sich selbst entäußernd in Knechtsgestalt einhergegangen, und dies sollte er uns zum Vorbild stecken? Daß der Apostel uns das zum Vorbild stellt, und daß wir alle nach einer geistigen Herrschaft nicht streben sollten, davon zeugen uns viele andere Stellen der Schrift und Anweisungen, welche sie besonders denen ertheilt, die dazu geneigt sind eine geistige Gewalt über andere auszuüben. Denn denen wird gesagt, sie sollten nicht zu herrschen suchen über die Heerde, sondern als Vorbilder derselben sollten sie handeln; denen wird | gesagt, sie sollten nicht herrschen über die Gewissen, sondern dienen mit [den] Gaben, welche sie empfangen: Aber inwiefern man von dem Erlöser dasselbe sagen könne, das ist nicht so bestimmt und deutlich, aber, m. g. F., es ist doch wahr. Der Erlöser, sollte eigentlich sich eine Herrschaft über die Gemüther erwerben, und die spricht auch der Apostel am Ende unseres Textes aus. Denn wenn er sagt: „Darum 8 Art] so SAr 83, Bl. 2r; Textzeuge: Welt 11 Vgl. Gal 4,4 20–21 Vgl. Hebr 1,3 1Petr 5,3 32 Vgl. 1Petr 4,10

21–22 Vgl. Joh 1,16

29–31 Vgl.

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auch hat Gott ihn erhöhet und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, in welchem sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, so daß alle Zungen bekennen sollen, daß er der Herr sei, zur Ehre des Vaters“: so meint er eben diese geistige Herrschaft, kraft deren der Wille des Erlösers auch der Wille aller derer sein soll, die an ihn glauben, kraft deren wir alles Licht, das unsere Seele durchdringt, als seine Gabe, die wir ihm verdanken, ansehen sollen, und also mit jedem empfangenen Gute in seinem Dienste wirksam sein. In diesem Sinne soll er unser Herr sein, und eine geistige Herrschaft | über uns ausüben. Aber auch auf der andern Seite, indem der Herr sich das selbst zum Ziele steckt uns heraufzuhelfen zur Freiheit der Kinder Gottes, oder wie der Apostel es an einer andern Stelle ausdrückt zu einer Gleichheit mit dem erwachsenen und männlichen Alter Jesu Christi, also seiner selbst, indem er uns also durch seine geistige Herrschaft frei machen will: so muß sie auch damit angefangen haben uns das Gefühl der Freiheit zu geben, und nicht damit, daß er gesucht hat, die Gemüther zu beherrschen. Wenn wir nun sagen, ist es wahr, daß er auch in dieser Hinsicht sich selbst entäußert hat, und hat Knechtsgestalt angenommen? so werden wir uns das wohl gestehen müssen, wenn wir auf die ganze Art sehen, wie er sein Geschäft in dieser Welt getrieben hat. Hat er jemals angewendet einen solchen Glanz menschlicher Rede, eine solche Kraft menschlicher Sprache, wodurch die Gemüther auf eine unwiderstehliche Weise hingerissen werden, und wodurch sich einer | mit dem ganzen Gange seiner Gedanken dem unterwirft, der ihn so leicht führt und regiert? Nein, er hat geredet die Wahrheit, die er gekommen war zu verkündigen; das war sein Beruf, daß er der dienete und sie in’s Licht setzte. Aber auf der einen Seite sehen wir, daß er sie auf eine solche Weise geredet hat, daß er sich nicht bekümmerte um den Eindruck und um die Gewalt, die seine Rede über die Gemüther der Menschen ausübte. Daher kam es dann eben so oft auf der einen Seite, daß die Menschen sprachen: Der redet anders als die Schriftgelehrten und Pharisäer, und auf eine solche gewaltige Weise, daß ihm nichts gleich kam; auf der andern Seite aber auch wieder, daß sie sagten: das ist eine harte Rede, wer mag sie fassen? und daß sie hinter sich gingen. Wenn sie nun hinter sich gingen und von ihm sich abwendeten: so beherrschte er sie nicht, und übte keine Gewalt über die Gemüther aus, und wollte auch eine solche nicht ausüben, ausgenommen die ihm freiwillig eingeräumt wurde von den Menschen, die sich heilsbegierig zu ihm wandten. Daher sieht er es selbst an als die höchste und herrlichste Wirkung, die sein Dasein hervorgebracht, daß | er seine Jünger, diejenigen, die ihm immer am meisten nahe waren, die in der genausten Berührung mit ihm standen, und auf die er den stärksten Einfluß äußern 11–13 Vgl. Eph 4,13 Joh 6,60.66

30–31 Vgl. Mt 7,29; Mk 1,22; Joh 7,46

32–33 Vgl.

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konnte, daß er sie nicht etwa beherrscht, sondern daß er sie frei gemacht habe: „ich sage euch nicht, spricht er, daß ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut; euch aber habe ich gesagt, daß ihr Freunde seid, denn alles, was ich habe von meinem Vater gehört, habe ich euch kund gethan“, gleichsam als ob er auch auf dem Gebiet der größten und heiligsten Wahrheit mit ihnen umgehen könnte wie der Gleiche mit dem Gleichen, ganz auf dem Fuße freundlicher Mittheilung und freundschaftlichen Verkehrs. So wird auch von ihm gesagt und gerühmt, daß er ausgesetzt gewesen sei dem Widerspruch der Sünder, und also auch denen, die als seine Gegner ihm feindselig gegenüberstanden auf dem Gebiet der Erkenntniß dessen, was der Inbegriff war der göttlichen Offenbarungen unter seinem Volk und der Inhalt des göttlichen Willens, auch denen ihre Freiheit ließ, und indem | er ihnen die Wahrheit mittheilte, indem er ihnen den Gang der göttlichen Führungen zeigte, indem er ihnen den Willen Gottes verkündigte, nur suchte zu dienen mit den Gaben, die ihm verliehen waren, nicht aber über sie zu herrschen. Erst wenn der Erlöser in dieser Knechtsgestalt den Menschen erschien, und lediglich nach ihrer Art und Weise; wie sie am meisten fähig waren ihn aufzunehmen, sich ihnen nahete; erst wenn er sich in die innigste Verbindung setzte mit demjenigen, was ihr nächstes und dringendstes Bedürfniß zu fordern schien, und ihnen dienen wollte mit der Gabe der Weisheit, die er von Gott empfangen hatte, um ihnen die Wahrheit an’s Herz zu legen, welche zu verkündigen sein heiliger Beruf war, und ihnen die himmlischen Schätze zu öffnen, welche ihm selbst anvertraut waren; erst nachdem er so in Knechtsgestalt vor dem Gemüthe da gestanden hat, freundlich bemüht, die Leiden und Bekümmernisse desselben aufzuheben, die Verlegenheiten desselben aus dem Wege zu räumen, dem mangelhaften Zustande, in welchem es sich befindet, ein Ende zu machen, | und das innerste Verlangen desselben zu stillen, und wenn er in dieser Knechtsgestalt erkannt ist in der göttlichen Gestalt, in welcher das Auge des Geistes ihn schaut als den eingebornen Sohn des Vaters, und festgehalten ist durch den Glauben, und wenn die Seele durch den, der ihr so in dieser Knechtsgestalt dienen will, sich ganz befriedigt fühlt: Dann erst geht seine Herrschaft an, und in Beziehung auf jede Seele, die so in Verkehr mit ihm getreten ist, daß ihm Gott einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist, und daß sie ihn bekennt als ihren Herrn. So, m. g. F., so fügte sich der Erlöser auf der einen Seite den Bedürfnissen der Menschen, denen er helfen wollte, lud sie zu sich ein so oft er sie mühselig und beladen erblickte, so wollte er ihnen dienen und sie pflegen, wie der Arzt mit hilfreicher Hand dem Kranken sich naht, so wollte er in seiner Knechtsgestalt 31 wenn] um 2–5 Joh 15,15

39 Knechtsgestalt] Knechtgestalt 37–38 Vgl. Mt 11,28

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aber mit den reichen Schätzen der göttlichen Gestalt, die hinter derselben verborgen war, den Menschen dienen. Wie nun, wenn wir das bestätigt finden, daß so der Erlöser sein Geschäft | auf Erden getrieben hat, ist sein Verhältniß zu der menschlichen Seele auch noch jetzt dasselbe? Wie könnten wir doch anders als diese Frage bejahen? Denn zuerst so lange die Seele noch nicht an ihn glaubt, so ist es gewiß, daß sie den Namen, den der Erlöser von seinem himmlischen Vater bekommen hat, nicht erkennt, und daß sie ihn nicht hält für den Herrn, vor dem sich beugen sollen die Knie aller Menschenkinder. Aber auch wenn zuerst das Wort des Evangeliums in die Welt dringt, so findet es nur Eingang in dieser seiner Knechtsgestalt, wie es bemüht ist, die Bedürfnisse der Seele zu befriedigen, und ihr dienend und hilfreich zu erscheinen. Dann aber, je mehr durch den Dienst des göttlichen Wortes die Seele von der Erkenntniß der himmlischen Wahrheit erfüllt wird, und das Heil, welches in derselben liegt, zu schmecken anfängt, dann umfängt sie den, der ihr in Knechtsgestalt erschienen ist, als ihren Herrn, dessen Herrschaft sich ganz mit ihrem Denken und Streben | zu unterwerfen dann ihre höchste Seligkeit ist, dann fühlt sie die göttliche Gewalt, die auf die herrlichste Weise sich mit der demüthigen Seele zu vereinigen sucht, dann wird ihr gegeben den Namen zu erkennen, den der Vater seinem Sohn gegeben hat, und der über alle Namen ist, und den göttlichen Gebieter und Herrn anzubeten auf eine solche Weise, wie es Gottes und des Erlösers würdig ist. – Wenn nun das Geschäft des Erlösers mit den Menschen, für die er gekommen ist, von Anfang an diesen Gang genommen hat und noch immer denselben beobachtet: wie meint der Apostel dies, daß uns Christus auch darin zum Vorbilde gestellt ist? Zuerst, m. g. F. könnte er als Vorbild uns nicht gegeben sein, wenn nicht auch darin eine Ähnlichkeit zwischen uns und ihm Statt fände, daß er in göttlicher Gestalt war; wenn wir nicht eben so, wenn auch nur in einem untergeordneten Grade und Sinn in göttlicher Gestalt wären, so | könnte es uns der Apostel nicht als etwas Großes, Schönes und Herrliches vorhalten, daß wir es auch nicht sollen für einen Raub halten, Gott gleich zu sein, sondern uns selbst entäußern und Knechtsgestalt annehmen. O, m. g. F., sollten wir uns das ableugnen wollen, daß auch wir, indem wir uns mit dem Erlöser im Glauben vereinigen, einen Antheil bekommen an der göttlichen Gemeinschaft, in der er war und lebte? sollten wir leugnen, daß wenn er in uns wohnt, wie er uns verheißen hat, und wie es das beständige Gefühl unseres Innern sein soll, als dann auch das göttliche Wort, welches ihn beseelte, und die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, nicht auch in uns wäre? und in dem Maaße als wir von dem Evangelio durchdrungen sind, welche Kraft Gottes alle diejenigen selig macht, die sie in sich aufnehmen, und unser ganzes Leben nach demselben würdigen, und unsern Glauben an dasselbe 37–39 Vgl. Kol 2,9

39–40 Vgl. Röm 1,16

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dann verkündigen in allem, was wir denken, thun und sind: in demselben Maaße muß sich darin die Göttlichkeit des Evangeliums offenbaren, und jeder wahre Christ in göttlicher Gestalt sein. Ja, so ist es, das müssen | wir fühlen, und eben deswegen ergeht das Wort des Apostels an uns, daß wir, obgleich eben weil wir in göttlicher Gestalt sind, wir Antheil bekommen haben an allen Gütern des Erlösers, und wie er durch unser ganzes Leben den Menschen sein sollen zum Vorbilde der Weisheit und der Gerechtigkeit und der Heiligung und der Erlösung, daß obgleich wir diese Gestalt bekommen haben, so sollen wir uns doch derselben entäußern und Knechtsgestalt annehmen, d. h., so sollen wir den wohlthätigen Einfluß, den wir auf die Menschen auszuüben bemüht sind, das Geschäft, welches uns übertragen ist, den Menschen zur Erkenntniß ihres Heils und der Mittel, durch welche sie zu dem Genuß desselben gelangen, zu verhelfen, sie dem Erlöser zuzuführen, sie immer mehr in seiner Gemeinschaft zu befestigen und für die Wirkungen seines Geistes empfänglicher zu machen, dieses Geschäft sollen wir nicht damit anfangen, daß wir die Gewissen der Menschen binden, | sondern daß wir uns selbst entäußern und Knechtsgestalt annehmen, nichts anderes wollen und thun, als daß wir mit dem Göttlichen, welches der Erlöser uns mitgetheilt hat, unsern Brüdern dienen; und unser ganzes Leben soll immer mehr die Gestalt bekommen, daß wir in jedem Augenblick bereit den Unvollkommenheiten unserer Brüder ein Ende [zu] machen, uns denen mit hilfreichen Händen nahen, die unsern Dienst am meisten wünschen, und es bedürfen, daß sie in die Gemeinschaft mit unserem Erlöser erst aufgenommen, oder daß sie in derselben gestärkt und befestigt werden. Denn, m. g. F., es giebt auch in der Sorge für die Seligkeit der Menschen ein Hochherfahren und Herrschenwollen, ein die Gemüther Unterordnenwollen, und ihnen das Heil grade in der Gestalt geben, in welcher es uns gegeben ist, und sie in unsere Gedanken, in unsere Ausdrücke, in unsere Stimmungen und Darstellungsweisen einzuführen. Das ist das Gott gleich sein wollen, das ist das Herrschaftausüben|wollen über die Gemüther, wie der Erlöser sie niemals ausgeübt hat, und wodurch es uns nie gelingen wird sein Werk zu fördern und sein Geschäft auf Erden fortzusetzen. Sondern nur wenn wir so nicht herrschen wollen, sondern uns selbst entäußernd Knechtsgestalt annehmen; wenn wir unser Auge immer gerichtet halten auf die Bedürfnisse der menschlichen Seele, und dieselben so viel wir vermögen nach Maaßgabe der geistigen Güter und Kräfte, die uns verliehen sind, zu befriedigen suchen mit reinem und lauterm Sinne; wenn wir, indem wir den menschlichen Bedürfnissen nachgehen, einen jeden unter unseren Brüdern so nehmen, wie wir ihn grade finden, und an dasjenige in seiner Seele uns in Liebe wenden mit der Kraft des Heils, welches auch ihnen bestimmt ist, woran sich am leichtesten der Glaube an den Erlöser anschließen kann; 6–8 Vgl. 1Kor 1,30

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wenn wir eingehen in fremdartige Gedanken und Sinnesweisen, und so suchen uns anderen | Gemüthern zu unterwerfen, und indem wir dem nachgehen, was in ihnen lebt, uns bemühen ihnen das Heil nahe zu bringen und annehmenswürdig und liebenswürdig darzustellen, was wir ihnen mittheilen, und indem wir nicht geringschätzen und verachten, was ohne die ihnen fehlende Erkenntniß des Sohnes Gottes schon Gutes und Schönes in ihnen ist, und nicht auszurotten suchen dasjenige, was sie selbst schon haben, und etwa das Uns’rige an die Stelle zu setzen, sondern auf diesem Grunde sicher fortbauen; indem wir alle Gewaltthätigkeit vermeiden in diesem Geschäft für die Seligkeit unserer Brüder: so ahmen wir dem Erlöser nach, und wollen nicht in unserer Art und Weise thätig sein für die Förderung des Reiches, sondern das gemeinsame Gut des Evangeliums, das für jeden Alles sein kann, indem wir dies allein geltend machen wollen, und demselben dienen soviel wir können, und mit demselben unseren Brüdern zum Heil zu gereichen suchen. So nehmen wir die Knechtsgestalt an, in der uns der Erlöser vorangegangen ist, und so sehen wir, | wie der Apostel vorher sagt, ein jeglicher nicht auf [das] Seine, sondern auf das, was des Andern ist, wenn wir auf die Art, wie es jedem am leichtesten und wohlthätigsten erscheint, auf die Art, wie es am besten mit seiner Eigenthümlichkeit bestehen kann, auf die Art, wie es sich die Herrschaft über ihn am besten erringen und mit seinem Wesen vereinigen kann, das Evangelium in seiner Herrlichkeit und Süßigkeit, in seiner Kraft und Seligkeit darzustellen streben. Das ist es denn auch, was der Apostel an einer andern Stelle sagt, daß er suche allen alles zu sein. Der hatte, wohl, wenn irgend einer das Evangelium in sich auf eine eigenthümliche Weise gestaltet, und zwar so, daß wir sagen können, die wahre und lebendige Freiheit der Kinder Gottes ist nicht leicht in irgend einem christlichen Gemüth so herrlich erschienen wie in dieser starken Seele. Aber mit dieser Kraft, die zuvor eine Kraft der Rede war, wollte er nicht herrschen über die Gemüther, son|dern allen alles sein, das Evangelium einem jeden so darstellen, wie es am leichtesten sein Gemüth ergreifen und am tiefsten in dasselbe eindringen konnte, und der Wahrheit darin behilflich sein, daß sie überall erkannt werden möchte als eine Kraft die Menschen zu leiten, zu beseelen und zu reinigen. So war er weit davon entfernt über die Gewissen zu herrschen, einem jeden dienend mit der herrlichen Gabe, womit ihn der göttliche Geist ausgerüstet hatte. Aber, m. g. F., daß dabei auch die Freiheit und Selbstständigkeit jedes Einzelnen nicht unterzugehen braucht, das sagt uns der Apostel in den folgenden Worten, indem er hinzufügt: nicht nur entäußerte sich Christus und nahm 24–28 Der hatte, ... Seele] Dieser Satz ist unvollständig und nicht mehr rekonstruierbar; auch die Parallelzeugen geben keinen Aufschluss. 16–18 Vgl. Phil 2,4

23–24 Vgl. 1Kor 9,22

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Knechtsgestalt an, und ward an Gebehrden als ein Mensch erfunden, und erniedrigte sich selbst; sondern auch er ward gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. Denn, m. g. F., darin zeigt sich eben die große Freiheit und Selbstständigkeit des Menschen, wenn er im Stande ist für seine eigene Über|zeugung, ehe er die Wahrheit in der Gestalt, wie Gott sie ihm in die Seele gelegt hat, verließe und verleugnete, lieber auch sein Leben aufzugeben; und größer und herrlicher kann sich die Freiheit des Menschen und die Selbstständigkeit seiner Natur nicht äußern als in dieser hingebenden Aufopferung; und so bildet sie, wenn sie gleich auf der einen Seite nur die Fortsetzung war von der Erniedrigung des Herrn und von der Knechtsgestalt, die er angenommen hat; doch auf der andern den Gegensatz dazu. Denn wiewohl auch er allen alles zu werden suchte, so wich er doch so wenig von seiner eigenen Überzeugung, insofern sie sein Leben regieren und leiten sollte, daß sie vielmehr die Veranlassung war zu seinem hingebenden und aufopfernden Tode. Und so haben sich in der Folge seinem Beispiele gemäß alle wahre Helden des Glaubens bewiesen. Nicht nur für die Kraft des Evangeliums im Allgemeinen, sondern auch für die Gestalt, in welcher ein jeder dieselbe erblickt, für die Art, wie sie ihn ausschlie|ßend ergriffen hat, für die Art, wie er sie sich klar zu machen sucht für die einzelnen Verhältnisse seines Lebens, für die Art wie jeder den Geist derselben am stärksten auszusprechen vermag, dafür wenn gehindert werden sollte diese Weise der Verkündigung des Evangeliums, wenn verboten werden sollte nach dieser Regel zu lehren, dafür auch das Leben hinzugeben – das ist von jeher der höchste und herrlichste Beweis der Freiheit und Selbstständigkeit des Christen gewesen. Und wenn wir auf den Apostel sehen, wie er diesen Gegensatz heraus heben will, daß der Erlöser auf der einen Seite seiner göttlichen Gestalt sich entäußernd Knechtsgestalt angenommen hat, und in derselben lediglich um den Menschen zu dienen erfunden worden ist an Gebehrden wie ein anderer Mensch, und daß auf der andern Seite auch der höchste Grad seiner Erniedrigung sich darin zeigt, daß er nicht weichend von seiner eigenen Überzeugung, sondern gehorsam bis zum Tode nicht gescheut hat | für die Wahrheit, welche sein ganzes Dasein verkündigte, sein Leben aufzuopfern – so vereinigt sich darin dies beides auf die schönste und herrlichste Weise. Denn der, welcher die Wahrheit, die er verkündigt, verleugnet, und untreu wird seiner Überzeugung, der zerstört dadurch alles, was er schon für das wahre Wohl der Menschen gethan hat. Und die Knechtsgestalt zu verkündigen, die er gekommen war anzunehmen, und durch unabläßige Hingebung und Selbstverleugnung den Dienst zu besiegeln, den er den Menschen geleistet hat, auf der andern Seite sich aber auch in seinem innersten Wesen nicht zu verleugnen, sondern sich selbst treu zu bleiben, und diese Treue sogar in die Stunde des Todes hinüber zu nehmen; er komme wann und wie er wolle – auf beide Arten hat der Erlöser selbst und nach ihm alle Helden des Glaubens und alle Märtyrer

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der Wahrheit den Sieg davongetragen über die Macht des Bösen in der Welt. – Und darin, sagt der Apostel, besteht seine Herrschaft; darum | weil er den Gehorsam so weit getrieben hat, darum, weil er in Knechtsgestalt [gekommen] den Menschen zu dienen und sich nicht dienen zu lassen, und die Fülle der Weisheit, die in ihm wohnte, auszugießen über die heilbegierigen Seelen, weil er damit nicht aufhören, weil er darin sich nicht wollte beschränken lassen, sondern lieber sein Leben hingab zum Beweis seiner unerschütterlichen Treue gegen die Wahrheit; darum hat ihn Gott erhöhet und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen alle derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, daß er der Herr sei. Wenn uns der Apostel dies nun vorhält, wie eben deswegen weil der Herr so in Knechtsgestalt einhergegangen und gehorsam gewesen ist [bis] zum Tode, Gott ihm eine solche Herrschaft gegeben hat; sagt er uns dies auch zum Vorbild und will uns reizen, dem Erlöser zu folgen, daß wir an seiner Herrschaft sollen | Theil nehmen? verheißt er auch uns etwas Ähnliches, daß wir einen Namen bekommen sollen, der über alle Namen ist? Ja und nein, m. g. F., wie wir es nehmen wollen – nein insofern keiner unter uns einen eigenen Namen haben und bekommen soll, und keiner für sich allein soll etwas gelten wollen in dem Reiche des Herrn; ja insofern wir den Namen des Herrn führen, den der himmlische Vater erhöht hat über alles, insofern seine Herrlichkeit die uns’rige ist, insofern wir eingeschlossen sind, weil wir in inniger Gemeinschaft mit ihm leben, in alles dasjenige, was Gott ihm verheißen hat und gelobt. Das hält uns der Apostel vor, und das sollen wir uns alle immerfort vorhalten, und das soll uns ein Reiz sein, daß wir nicht verabsäumen dem Herrn nachzufolgen in der Knechtsgestalt, die er angenommen. Denn wenn wir anders als in seinem Sinne das Reich Gottes zu fördern suchen, wenn wir anders als auf seine Weise den Menschen dienen wollen: so stehen wir nicht in der Gemein|schaft mit ihm, deren Wesen der Glaube ist, dann suchen wir ihn nicht allein, sondern jeder außer ihn und auf seine eigene Weise noch einen andern, dann haben wir auch nicht an seiner Herrschaft Theil zu nehmen, sondern jeder sucht seine besondere Ehre und seine besondere Herrlichkeit für sich. Das ist aber nichts und kann niemals etwas sein und werden. Denn es giebt keinen Namen als den Namen Jesu Christi; vor dem sollen andere Namen vergehen und in ihrer Nichtigkeit verschwinden; das soll der einzig herrliche und große sein, an dem wir Theil nehmen, jeder aber sein eigenes Dasein, seine eigene vergängliche Erscheinung für nichts halten, wie sie an sich auch nur ein geringer Theil ist von der Herrschaft, die der Erlöser bekommen hat über alles was Mensch heißt. Seine Herrschaft aber ist nur in der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, auch nicht in seiner vergänglichen Knechtsgestalt. 3–4 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

40–41 Vgl. Kol 2,9

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An dieser Theil zu haben das ist dasjenige, wonach wir streben sollen, und nur wenn wir sie haben, können wir an seiner Herrlichkeit und an seiner Herrschaft Theil nehmen. | Und eine andere Herrschaft giebt es nicht, nach der die Gläubigen streben sollten; und eine andere Herrlichkeit giebt es nicht, die für den Christen, der den Sohn des Vaters erkennt, Reiz haben könnte. Wohlan also, mit allem was Gott der Herr uns gegeben hat, mit allem was sein Geist von himmlischem Lichte in uns angezündet hat, mit allen Gütern, womit unser Dasein geschmückt ist, mit allem immer nur in die Knechtsgestalt hinein, die der Herr selbst getragen hat, mit allem uns selbst verleugnen und nur suchen unsern Brüdern zu dienen, so wie jeder unserer Hilfe bedarf; und wie der Erlöser dem Verlornen nachging um es selig zu machen, und die Kranken heilte, und die Mühseligen und Beladenen erquickte, ebenso unsern Brüdern freudig und willig nachgehen, sie von dem Wege der Verirrung herüberlocken auf den Weg des wahren Heils, nie aufhören sie hinzuweisen auf die herrlichen Güter, deren Besitz ihnen noch mangelt, ohne an irgend eine Herrschaft der Gewissen zu denken, ohne auf irgend eine Weise den Sinn derer zu beschrän|ken, die zur Freiheit der Kinder Gottes berufen sind, ohne uns das träumen zu lassen, daß wir uns eine geistige Gewalt erwerben wollen über die Gemüther, und daß sich die Menschen nach unserem Namen strecken sollen – damit wir verklärt werden in die einzige Herrlichkeit, die der himmlische Vater dem Erlöser bereitet hat, und die da besteht für und für, und damit alles uns vergehe in der Theilnahme an der Herrschaft, die der Sohn Gottes in den Händen hat, indem wir bekennen und führen den Namen, der allein der höchste ist unter allen, hochgelobt jetzt und in Ewigkeit. Amen.

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Am 16. Juni 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,16 Nachschrift; SAr 83, Bl. 17r–39r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 68–94; Andrae Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 113r–121v; Andrae Nachschrift; SN 604/1, Bl. 1r–9v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 114r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1822 am sechszehnten Brachmonds. | Tex t. 1. Johannes IV, 16. Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Als wir neulich, m. a. F., an dem Fest der Dreieinigkeit unsre khristliche Aufmerksamkeit darauf richteten, wie alles Wesentliche des Khristenthums darin zusammenträfe, daß wir in dem Erlöser das göttliche Wesen erkennen, welches sich mit der menschlichen Natur in seiner Person vereinigt hat, und in dem Geist, den er gesandt um seine Kirche zu leiten und seine Gläubigen zu vereinigen, das göttliche Wesen, welches unter ihm und für ihn die menschlichen Seelen | bildet; da wurde uns zugleich deutlich, wie nun eben darin auch läge das große Geheimniß des Glaubens, nämlich die Gemeinschaft des Menschen mit Gott, und daß wir diese nur dadurch gewinnen könnten, daß Gott auf das Bekenntniß, daß Jesus sei der Sohn Gottes in die Welt gesandt, uns von seinem Geist gebe. Wenn wir nun wißen und fühlen, daß uns dieses köstliche Besizthum geworden, wodurch nicht nur alles wieder gut gemacht wird was die Sünde an dem menschlichen Wesen verdorben hat, sondern wodurch auch die ganze Herrlichkeit der Kinder Gottes sich in dem menschlichen Geschlecht offenbart, wenn wir | fühlen, sage ich, daß uns dieses geworden ist: so müßen wir auf der einen Seite dadurch ein festes Vertrauen und eine gute Zuversicht gewinnen mit dem 6–16 Vgl. oben 2. Juni 1822 vorm.

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Apostel sprechend „der uns seinen Sohn geschenkt und durch ihn uns seinen Geist gegeben hat, wie sollte uns der nicht mit ihm alles schenken?“ Aber auf der andern Seite, m. g. F., wißend und fühlend, wie der Mensch solange er auf Erden wallt der Vergänglichkeit dient und Theil an ihr hat, und wie das Göttliche selbst um sein zu werden Fleisch werden mußte, das wißend und fühlend, wie wir dem Wechsel auf Erden unterworfen sind, drängt sich uns auch die Besorgniß | auf, wie werden wir das Gewonnene erhalten? und es bemächtigt sich unsrer das Gefühl, daß wir das köstliche Kleinod tragen in einem zerbrechlichen Gefäß. Daß wir nun, m. g. F., was wir uns selbst nicht gegeben haben, auch uns selbst nicht erhalten können, das ist wohl gewiß, und bedarf weiter keiner Erörterung, und wir wißen es, daß wir auch hiebei allein an die Gnade Gottes in Khristo gewiesen sind, und daß nur durch sein liebendes Gefühl unsre Schwäche überwältigt und jene gute Zuversicht in der Seele gegründet und erhalten werden kann. Aber das entgeht uns dabei nicht, | daß eben weil der Mensch zwischen diesen beiden Gefühlen hin und her getrieben wird es ihm obliege in jedem Augenblik zu wißen, wie es um dasjenige steht, worauf sein ganzes Heil und seine Seligkeit beruht, ob er in der Gemeinschaft mit Gott noch lebt und wandelt, oder ob er von derselben wieder getrennt und zurükgezogen ist, damit er noch gleich im nächsten Augenblik seine Zuflucht wieder nehmen könne zu der göttlichen Gnade, die nicht versagt dem der da bittet, und nicht unterläßt zu öffnen dem der da anklopft. Auf diese Frage nun, die wir also immer | veranlaßt sind an uns selbst zu thun, ob wir in der Gemeinschaft mit Gott noch leben, die wir durch die Ausgießung seines Geistes über uns gewonnen haben, darauf giebt uns der Apostel in den Worten unsers Textes die Antwort: wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Wißen wir also und können uns das Zeugniß geben, daß wir noch fest halten in der Liebe, fühlen wir keiner Bersorgniß weiter Raum zu geben, sondern können nur mit frohen Herzen und mit gutem Muth Gott für seine Gnade preisen: so bleiben wir in ihm und er in uns. Dieses | Kennzeichen also, was uns der Apostel angiebt, von der unmittelbaren Fortdauer unsrer Gemeinschaft mit Gott, ob er in uns bleibe und wir in ihm, das wollen wir jezt zum Gegenstande unsrer frommen Betrachtung machen. Es kommt dabei, m. g. F., auf zweierlei an, einmal daß wir recht verstehen, was der Apostel damit sagen will, in der Liebe bleiben, und dann daß wir auch wißen, wie wir es recht auf unsern jedesmaligen Zustand anwenden und ihn darnach prüfen können. Und dies beides wird es also sein, worauf wir unsre Aufmerksamkeit richten müßen, wenn dieses Wort der Verheißung | uns soll gesegnet sein.

1–2 Vgl. Röm 8,32

21–23 Vgl. Mt 7,7; Lk 11,9

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I. Zuerst also, m. g. F., was heißt es, in der Liebe bleiben? Es scheint so klar und hell auf den ersten Augenblik, das große Wort ist uns so befreundet und greift so tief in unser ganzes Leben ein, daß wo wir es nur hören nicht nur die Seele in uns jauchzt und springt, sondern wir auch glauben den Sinn deßelben im Augenblik zu ergreifen, und immer auf gleiche Weise festzuhalten. Wenn es aber darauf ankommt, daß wir nun daraus eine Regel der Weisheit gewinnen sollen: dann gräbt sich das Auge des Verstandes in das große und | heilige Wort immer tiefer ein, um es in seiner ganzen Wurzel zu erfaßen, und auch gewiß nichts Fremdes und anderes mitzunehmen. Und wie verwirrt uns da das Wunderliche, das Unvollkommne und Ungeordnete in allen menschlichen Dingen? Wie wenig ist das Wort heilig gehalten, was uns das Wesen Gottes selbst aussprechen soll? wie verbinden wir es oft mit dem Geringfügigsten und Unbedeutendsten, von uns selbst oder andern sagend, daß wir dies oder jenes lieben oder mehr lieben als etwas anderes? Ja nicht nur das Geringfügige und Unbedeutende; selbst | das Verkehrte, selbst dasjenige worin sich das tiefste Verderben der menschlichen Seele spiegelt und zeigt, wird Liebe genannt. Der Mensch, von welchem der Herr sagt „was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme Schaden an seiner Seele“, was will er gewinnen an der Welt als nur etwas in ihr was er liebt? und durch die Liebe also soll er Schaden leiden an seiner Seele? Und derselbe Apostel, der die Worte unsers Textes geredet hat, der sagt auch „habt nicht lieb die Welt noch was in der Welt ist; wer die Welt liebhat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters.“ | Da steht also eine Liebe der andern entgegen. Und jegliche Leidenschaft, welche die menschliche Seele verzehrt, mit Ausnahme derer, die offenbar gehäßig sind und feindselig, wie bezeichnen wir sie anders, als daß sie sei eine unselige, eine verderbliche Liebe zu diesem oder jenem? Wie werden wir also verwirrt durch dasjenige was uns leuchten soll. Wo sollen wir nun die Gränze finden, um zu sondern und die Worte des Apostels recht zu verstehen? wo sollen wir uns scheiden die erwärmende, die beseligende Liebe, welche die Gemeinschaft mit Gott | verkündigt, und die brennende, die verzehrende, die unsrer Seele den Schaden zufügt, den sie allein nie wieder gut machen kann? Ja wenn das so streng und schroff einander gegenüber stände gleich in den ersten Bewegungen der Seele: dann würden wir es leicht unterscheiden können. Aber denken wir uns, der Mensch kommt von der einen zur andern, denken wir uns, er wechselt mit der einen und mit der andern: so muß es einen Uebergang geben, wo es schwer ist zu unterscheiden, welches die Liebe sei die uns treibt, und von wannen sie kommt; und da hätten wir eben nöthig die | Antwort zu vernehmen auf 19–20 Mt 16,26; Mk 8,36

23–24 1Joh 2,15

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die große Frage, die uns aus den Worten unsers Textes entgegen gekommen ist. Da sollten wir denn wohl sagen, hätte der Apostel, der so gern die Gemüther der Gläubigen erleuchten wollte mit dem Licht, in welchem er selbst wandelte, hätte er nicht können ein deutlicheres und bestimmteres Kennzeichen angeben? Der Herr sagt: „ich bin die Wahrheit.“ Was ist Wahrheit auch für ein köstliches und herrliches Wort! wie drükt es auch so alles Göttliche und Herrliche in der menschlichen Seele aus! Warum hat der Apostel nicht lieber gesagt: wer in der Wahrheit bleibt, | der bleibt in Gott und Gott in ihm? Ach darum, m. g. F., weil auch das Bestreben nach Wahrheit den Menschen so oft scheidet und sondert von der Liebe, so daß es für ihn ganz besonders der Anweisung bedurfte, die Wahrheit zu suchen in Liebe. Wenn er uns also auch gesagt hätte: wer in der Wahrheit bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm, so wäre es ein herrliches und köstliches Wort gewesen und ewige Wahrheit wie die Wahrheit selbst; aber deutlicher als dieses nicht. Und der Apostel rühmt von dem Herrn, er sei uns geworden von Gott | zur Heiligung und zur Gerechtigkeit und zur Erlösung. Was ist Gerechtigkeit für ein großes und heiliges Wort! wie fühlen wir darin alle Bande, welche die Menschen zusammenhalten! wie bezeichnet es so genau die Gränze, aus der wir uns nicht verirren dürfen! Warum hat der Apostel nicht gesagt: wer in der Gerechtigkeit bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm? Ach deßwegen nicht, m. g. F., weil es auch nöthig war, daß die Schrift, der Geist Gottes in derselben, dem Menschen zurief: „sei nicht allzu gerecht.“ Was also sein Maaß | nicht in sich selbst trägt, was übertrieben werden kann so wie es menschlicher Weise betrachtet wird, wie könnte uns das zu einem sicheren Zeichen dienen, um die Antwort deutlicher zu vernehmen auf die Frage, welche wir aufgeworfen haben? Und werdet ihr nicht mit mir einstimmen, wir möchten nun suchen wo wir wollen, viel Großes und Herrliches werden wir finden, worin sich der Herr in uns auch offenbart, und woran sich erkennen ließe, ob wir ihn haben und in ihm sind; aber doch deutlicher und sicherer [ist] nichts als das Wort, was der Apostel gesagt hat. Und so müßen wir denn zu diesem zurükkehren. | Wenn wir nun fragen, warum hat denn hier, wo uns der Apostel die Frage beantworten will, die uns immer wieder aufs neue begegnet, warum hat er nicht etwas hinzugefügt, um jenes deutlicher zu machen was er meint? so können wir nicht anders sagen als er hat gemeint und gefühlt, daß in dem ganzen Zusammenhang seiner Rede an dem eigenthümlichen, ja an dem genausten und tiefsten Sinn dieser Worte nicht mehr gezweifelt werden 4 und bestimmteres] Ergänzung aus SAr 102, S. 76; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 116r ; SN 604/ 1, Bl. 4r 28 Herr] so SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 116v; Textzeuge: Gott 5 Vgl. Joh 14,6

15–16 Vgl. 1Kor 1,30

22–23 PredSal 7,16

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könne. Denn er hatte vorher gesagt „daran ist erschienen die Liebe Gottes, daß er seinen Sohn gesandt hat in die Welt, auf daß wir durch ihn das Leben | hätten.“ Wenn er also sagt: „Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm“, was hat er anders gemeint als eben diese Liebe die daran erschienen ist, daß Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat um zu suchen und selig zu machen was verloren war. Diese Liebe, die erlösende die belebende die beseligende Liebe, die ist es, in der wir bleiben sollen; dann bleibt Gott in uns und wir in ihm. Diese nun, m. g. F., zu unterscheiden von jeder andern, das kann uns nicht schwerer werden als das Angesicht des Sohnes, in welchem wir schauen die Herrlichkeit des Vaters, zu unterscheiden | von jedem menschlichen Angesicht, welchem die Spur der Sünde aufgedrükt ist. So wie wir im Geiste den Sohn Gottes eben als den Abglanz der göttlichen Liebe unterscheiden von allen andern Menschenkindern, eben so unterscheidet unser Herz die erlösende und beseligende Liebe von allem andern, was uns bewegt. Wer der voll ist, m. g. F., der sucht nicht sein eigen und noch weniger was nur sein eigen ist in Beziehung auf den vergänglichen Schauplaz dieser Welt und seines irdischen Lebens. Wer der Liebe voll ist, der sucht nicht sich selbst geltend zu machen in andern Menschen und unter ihnen, sondern den|jenigen allein, welcher die Quelle ist des Lebens, das Gott den Menschen gönnt und giebt, denjenigen allein, der sie erretten kann aus dem Zustande, in welchen sie versunken sind eben so lange noch irgend eine andre als diese beseligende diese geistige Liebe sie beseelt. Kurz und mit Einem Wort, m. g. F., in der Liebe bleiben, so daß wir daran erkennen können, daß Gott in uns bleibt und wir in ihm, das heißt nichts anders als in dem Dienste des Erlösers bleiben, sein Werk und sein Geschäft auf der Erde treiben, in seinem Namen leben wirken und handeln, für ihn und sein Reich sich selbst und alles andre hintansezen. | Wer so in der Liebe bleibt, der bleibt so gewiß in Gott und Gott in ihm, als Gott selbst in Khristo war um die Welt mit sich zu versöhnen. Das Verständniß also, m. g. F., über diese Worte des Apostels, das ist uns eröffnet so gewiß als wir den Erlöser verstehen, und es kann und soll auch nur ein Kennzeichen sein für diejenigen, die ihn kennen und verstehen. Aber freilich ist es noch ganz etwas anderes, eben dieses zu verstehen im Allgemeinen, und ganz etwas anders, in jedem Augenblik mit Wahrheit darnach unsern ganzen Zustand beurtheilen zu können. Und das ist nun | das Zweite, worauf sich unsere Aufmerksamkeit noch richten muß. II. Wenn wir uns fragen, warum denn ist es uns so schwer, was wir im Allgemeinen sehr wohl verstehen im Einzelnen richtig anzuwenden? wenn wir 1–3 Vgl. 1Joh 4,9

5–6 Vgl. Lk 19,10

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uns fragen, warum, wenn in irgend einem bewegten oder ruhigen Augenblik des Lebens das eigene Herz oder ein andrer uns die Frage vorlegte, bist du in diesem Augenblik und lebst du in der Liebe und ist sie in dir geblieben? warum würden wir nicht immer gleich gut und gleich schnell die Antwort, die das wahre Bild von | unserm innersten Zustand wäre, bei der Hand haben? wenn wir uns darnach fragen, m. g. F., woher kann es anders kommen als weil wir nur zu leicht über dem Äußern das Innre, über dem Einzelnen und seinen Theilen das Ganze vergeßen oder hintansezen, oder es sich uns wenigstens darüber verdunkelt. Wenn wir irgend etwas unternommen haben rein in der Liebe und aus der Liebe zu unserm Herrn, es zerfällt uns aber in eine große Menge von einzelnen Handlungen und Augenbliken, es nimmt einen Raum unsers Lebens ein, in welchem dies und jenes mannichfaltig mit einander | wechselt: so ist es leicht möglich, daß wir in denselben Thätigkeiten und Handlungen bleiben; aber weil wir das Einzelne vor Augen haben, weil wir in dem Wechsel der einzelnen Thätigkeiten bald dahin bald dorthin gezogen werden, weil die mancherlei Richtungen, in welchen unsre Handlungen sich durchkreuzen, unsre Blike gefangen nehmen, und das Ganze mehr für uns zurüktritt: so verliert sich das Bewußtsein von den Beweggründen, aus welchen wir gehandelt haben, bisweilen mehr, bisweilen weniger. Wenn wir für unser ganzes Leben das Eine | was Noth ist, uns in der That zu unserm einzigen und höchsten Ziele gestekt haben: so wird auch immer eigentlich das ganze Leben von diesem Grunde aus geführt, und so gewiß als es unsre innerste Wahrheit bleibt, so geht auch alles davon aus. Aber indem wir nun in die mannichfaltigsten Verhältniße mit andern Menschen treten, wo wir mit einander vergleichen müßen auf der einen Seite diejenigen, die mit uns von demselben Sinn und Geist erfüllt sind, und ein gleiches Ziel ihrer Bestrebungen vor Augen haben und verfolgen, um sie in den engern Kreis unsers Lebens hinein zu ziehen; | und auf der andern Seite diejenigen, welche, weil sie nach dem Entgegengesezten streben unserm Werke verderblich sein müßen, um sie von uns zu sondern und jede nähere Gemeinschaft mit ihnen zu hindern; und indem nun gegen einander und gegenüber zu stehen kommen die menschliche Liebe zu den einen, und die menschliche Absonderung, die aber auch nicht ohne Liebe geschehen darf, von den andern: so verlieren wir leicht das Bewußtsein, ob nun noch die Wahrheit uns erfülle und die Liebe noch ungeschwächt in unserm Innern sei. Und so wie sich die Wahrheit verdunkeln | kann, so kann eben so leicht auf der andern Seite das Falsche den Schein derselben annehmen. Denn wie wahr das sei, daß der Feind des Reiches Gottes die Gestalt annehmen kann von dem Engel des Lichtes, das fühlen wir alle, wenn wir nur rein und unbestochen auf die Gestalt der Wahrheit sehen wollen. Wie leicht und gern sich die Menschen darüber täuschen, 29 welche,] Ergänzung aus SAr 102, S. 83; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 118v; SN 604/1, Bl. 6r

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daß sie dasjenige, was nicht aus der reinsten und aufrichtigsten Liebe des Herzens hervorgegangen ist, andern Menschen so darstellen, als hinge es mit dem Werk des Herrn unzertrennlich zusammen, und sei nur auf die Förderung seines Reiches gerichtet – davon | machen wir die mannichfaltigsten und wunderbarsten Erfahrungen überall im menschlichen Leben. Wenn wir nun fragen, was soll uns denn helfen, um auch auf unsern jedesmaligen Zustand dieses Zeichen, woran der Herr die Seinen erkennt, und woran sie sich unter einander erkennen sollen, richtig anzuwenden, damit wir uns entweder vor den Augen Gottes über uns selbst beruhigen können, oder aufs neue unsre Zuflucht zu seiner Gnade nehmen? so lokt uns das große und herrliche Wort, welches denen, womit wir uns bis jezt unmittelbar beschäftigt haben, | vorangeht, das Wort „Gott ist die Liebe“. Wenn wir fragen, m. g. F., was denn das wohl heiße, daß Gott sich uns ganz vorzüglich ja in dieser Weise einzig als die Liebe offenbart und zu erkennen giebt, er der auch der Allgegenwärtige ist, er der auch der Weise ist, er der auch der Allmächtige ist? o es wird uns nicht schwer werden diese Frage zu beantworten. Denn wenn wir uns denken, m. g. F., den Allgegenwärtigen und Allwißenden gleichsam menschlicher Weise heraustretend mit seiner Gegenwart in den Kreis des Lebens, aufnehmend – denn menschlicher Weise müßen wir doch nun | davon reden, da wir den Ewigen in seiner Beziehung zu dem Geschaffnen betrachten wollen – aufnehmend also, was die menschliche Seele, die sein Ebenbild trägt, so oder so bewegt, und was in der Welt, die er geschaffen hat, vorgeht: was ist es denn, das ihn treibt seine Gegenwart zu offenbaren, das ihn treibt die Welt gleichsam in sich übergehen zu laßen? Was anders als die Liebe! Liebend ist seine Allgegenwart, liebend ist seine Allwißenheit. Was geringer ist als er, wie alles, daß er sich darum kümmere und sorge, daß die Kenntniß | davon einen Theil seines Wesens ausmache – das ist die Liebe, mit der er es liebt, mit der er es führt, mit der er es erhalten und sich nahe bringen will. Und die Weisheit, mit welcher der Höchste alles lenkt und ordnet, was ist sie anders als nur die unendliche Kunst seiner Liebe. So hat er, sagt der Apostel, Himmel und Erde gemacht und alles was darin ist; so hat er von Einem Blut aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen gemacht, so hat er die Gränzen geordnet, in denen sie wohnen sollen, so hat er gesorgt für ihre Bedürf|niße auf mancherlei Weise, so hat er ihnen einen erweklichen Geist gegeben und überall die Mittel ihn auszubilden; ob sie ihn auch fühlen und finden möchten, ihn in dem sie leben weben und sind. – Was ist 15 er der auch der Weise ist,] Ergänzung aus SAr 102, S. 85; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 119r; SN 604/1, Bl. 6v 7–8 Vgl. Joh 13,35

31–37 Vgl. Apg 17,24–28

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das ganze Geheimniß, was ist der ganze Reichthum seiner Weisheit? Die Liebe ist der Eine Wille, in dem sich die ganze Fülle der göttlichen Weisheit wie seine Allgegenwart und Allwißenheit offenbart und entfaltet. Aber, m. g. F., was wären wir nun gar, wenn seine Allmacht etwas anderes wäre als seine Liebe, wenn er sie anders gebrauchte als nur um das Geistige | zu erhalten und zu vertheidigen gegen das Vergängliche und Irdische, wenn er sie zu irgend etwas Anderm jemals bewahrt hätte als nur um alles beschloßen zu halten unter die Sünde und den Unglauben, bis die Zeit kommen würde, wo er sein ewiges Heil den Menschen offenbaren könnte, wenn er sie je zu irgend etwas anderm gebraucht hätte als um demjenigen, den er zum Heil der Welt verordnet und gesandt hat, alle seine Feinde unterthänig zu machen, und sie zum Schemel seiner Füße zu legen. So, m. g. F., so ist Gott die Liebe, | und darum die Liebe, weil seine Macht und Weisheit, seine Allgegenwart und Allwißenheit, nichts ist als Liebe. Und wer nun, m. g. F., wer nun könnte uns sicherer dienen und leiten in der Anwendung des Kennzeichens, welches uns der Apostel giebt davon, daß Gott in uns ist und wir in ihm? Wenn wir denn, m. g. F., so sehr in Gefahr sind, wie wir es vorher eingesehen haben, über dem Äußern das Innre, über dem Einzelnen das Ganze zu vergeßen; hier haben wir das Einzelne und das Äußere, an welches wir nun eben so unmittelbar wie bei Gott seine Macht, seine | Gegenwart und Weisheit die Liebe, das Ganze und Innre anknüpfen können. Womit, m. g. F., sind wir immer beschäftigt in der Welt, wenn wir uns einer lebendigen Wirkung unsrer Kräfte bewußt werden, als um unsre Gegenwart zu offenbaren, um zu erfahren und in uns aufzunehmen, was durch unsre Gegenwart geworden ist, um irgend etwas zu äußern nach einer Seite hin, was zu der Macht gehört, die der Herr in unsere Hände gelegt und uns anvertraut hat. Bei diesem Äußern und Einzelnen sollen und können wir uns immer ergreifen und prüfen, wo wir unter Men|schen sind, um auf sie zu wirken und uns ihren Einwirkungen hinzugeben, diese Frage können wir uns in jedem Augenblik beantworten: Ist deine Gegenwart hier wie die Allgegenwart Gottes Liebe? was du in dich aufzunehmen suchst von dem Leben der Menschen, das dich umgiebt, und von der Welt in ihren mannichfaltigen Erscheinungen und Beschaffenheiten, in welche du selbst mit deinem Dasein verflochten bist, treibt dich dazu die Liebe, die das Reich Gottes fördern will, von allem Kunde und Kenntniß zu nehmen, was in den Umfang desselben gehört? oder ist es etwas anderes, wobei du in diesem Augenblik mit | deiner ganzen Seele stehen bleibst – dann ist die Liebe von uns gewichen. Am meisten aber, m. g. F., wenn wir Entwürfe machen, zusammengesezte Entwürfe für einen größern oder geringern Theil unsers Lebens, wenn wir irgend etwas unternehmen, worin unsre Weisheit und Kunst 17 ihm?] ihm.

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sich offenbaren soll, gewiß werden wir uns leicht fragen können: suchst du dich selbst? willst du dich selbst beschauen in deinen Werken? willst du an dem was du vollbringst ein Wohlgefallen haben und Ehre bei andern Menschen? oder suchst du die Weisheit und die Kunst, um durch sie, wie gering auch deine Kräfte | sein mögen, und wie wenig du auch im Stande sein magst in das Weite und Große zu reichen, doch etwas im Reiche Gottes zu fördern? Gewiß ob wir das Ganze im Auge haben, oder uns selbst und das Kleine suchen in jeglicher Kunst und Weisheit, das kann sich uns nicht verbergen. Aber vorzüglich da wo der Mensch seine Macht ausübt, wie schwach sie auch sei, wird jeder sich leicht fragen können, ob es die Liebe sei, die sie in Bewegung sezt, oder etwas anderes. O das kann uns nicht täuschen, wie doch so ganz anders es steht um die Bewegungen der Seele, welche auf die | Menschen wirken, sie an sich loken, sie mit sich vereinigen und erheben will zum Höheren und Beßern, wenn es die Liebe ist, die sie bewegt; und wie ganz anders wenn der Mensch nur um sich versammeln will das Gegentheil von dem, was der Sohn Gottes auszurichten bemüht war, das Verlorne zu suchen und selig zu machen, und wenn er alles, was er in den Kreis seines Lebens ziehen kann, ansieht als Mittel seines Genußes. Darum die selbstsüchtigen Bewegungen des Herzens und die liebenden in demjenigen, worin wir unsre Gewalt und Macht äußern, die kann jeder der die Wahrheit sucht, unterscheiden, und ein redli|ches Herz kann sich darüber nicht täuschen, wie schwer es auch einem fremden Auge oft sein mag, in unserm Innern das Falsche vom Wahren, das Verkehrte vom Guten zu unterscheiden. Aber, m. g. F., fragen wir uns, wenn wir so das Zeichen, welches der Apostel uns giebt, betrachten und auf die einzelnen Augenblike unsers Lebens anwenden: wie steht es denn damit, ob wir in der Liebe geblieben sind und bleiben, und also Gott in uns ist und wir in ihm? was werden wir anders antworten können als zu dem Anfang unsrer Rede zurükkehren und sagen, daß wir in einem beständigen Wechsel begriffen sind von guter Zuver|sicht und frohem köstlichem Gefühl des geistigen Lebens, welches uns durch Khristum geworden ist, und von Zaghaftigkeit eben deßwegen, weil wir fühlen, wie leicht sich uns in dieser irdischen Welt das geistige Leben verbirgt, wie schwach oft seine Pulse schlagen, daß wir nicht wißen, sondern zweifeln möchten, ob es sich noch kräftig in uns regt, oder ob der Funke deßelben schon erloschen ist. Ja so und anders ist es nicht, und anders als in diesem Wechsel haben wir in diesem irdischen Leben das Leben welches aus Gott ist und die Gemeinschaft mit ihm nicht. Aber wenn Gott die Liebe ist, so ist ja auch das Liebe, m. th. F., | und in dieser Liebe Gottes, die uns während unsers irdischen Lebens durch den Wechsel leitet und erhält, die das trozige und verzagte Herz eben dadurch daß es strauchelt und fällt in seinem Troz demüthigt, aber auch durch die Offenbarun17 Vgl. Lk 19,10

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gen der göttlichen Herrlichkeit in demselben in seiner Zaghaftigkeit aufrichtet – dadurch feßelt uns die göttliche Liebe immer wieder von neuem an sich, dadurch sucht und findet sie immer wieder das Verlorne; und indem wir uns immer aufs neue mühselig und beladen finden, und immer aufs neue erquikt werden; indem wir immer wieder | unsrer Schwäche und Krankheit inne werden, aber auch immer wieder geheilt durch den Einigen Arzt der Seele: so wächst in uns die Liebe, der Muth, das Vertrauen, und mit demselben die Beharrlichkeit und Stätigkeit im Vertrauen. Und scheint es auch bisweilen, daß die Gemeinschaft unsers Herzens mit Gott aufgehört hat: ganz ist er nicht von uns gewichen der Gott, der alle diejenigen aufnimmt, die ihn redlich suchen, und immer aufs neue nimmt er kräftiger Besiz von dem Herzen, so wir nur uns selbst erkennen, und wie der Apostel am Anfange seines Briefes sagt uns selbst nicht leugnen, daß | wir die Sünde haben, sondern sie vor ihm bekennen: damit er seine Treue und seine Gerechtigkeit darin erweisen könne, daß er sie uns vergiebt, und indem mit der Selbsterkenntniß, an der wir immer reicher zu werden trachten, die dunkelste der Finsterniße aus unsrer Seele weicht, immer herrlicher erscheine und in ihr aufgehe das Licht, in welchem wir wandeln sollen, wenn es einst erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, weil wir ihn sehen werden wie er ist. Amen.

[Liederblatt vom 16. Juni 1822:] Am 2. Sonnt. nach Trinit. 1822.

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Vor dem Gebet. – Mel. Auf Triumph etc. [1.] Großer König, den ich ehre, / Der durch seines Geistes Lehre / Mir sein Licht hat angezündt; / Der izt und zu allen Zeiten, / Durch viel tausend Gütigkeiten / Alle Herzen sich gewinnt! // [2.] Sieh, auch meins will ich dir geben, / Dir soll es aufs neue leben, / Lebe du dann auch in mir: / Dir soll es sich ganz verbinden, / Und zugleich den alten Sünden / Feierlich entsagen hier. // [3.] Mög’ es nun dein Geist erneuen, / Und es dir zum Tempel weihen, / Der dir ewig heilig sei; / Ja vertilge du darinnen / Alle Lust und Furcht der Sinnen, / Rein’ge mich, und mach mich frei. // [4.] Laß in meines Herzens Garten / Aller Tugend schönste Arten / Blühn in voller Lieblichkeit! / Oefne drin die 13–20 wir ... Amen] Schleiermacher hat das Ende des Textes mit minimalen Abweichungen am unteren und am linken Seitenrand von Bl. 38v dupliziert, denn das Titelblatt der nächsten Predigt, welche er in den Druck gegeben hatte, befindet sich auf Bl. 39v; mit jener musste Schleiermacher auch den Schluss dieser Predigt liefern. 12–18 Vgl. 1Joh 1,6–9

18–20 Vgl. 1Joh 3,2

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Am 16. Juni 1822 vormittags

Lebensquelle, / Die ohn Ende rein und helle / Strömet in die Ewigkeit. // (Freil. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Gott ist die wahre Liebe, / Die ohne Maaß ihr Werk betreibt; / Ihr Blick wird keinem trübe, / Der sie umfaßt und in ihr bleibt. / Dazu ist sie erschienen, / Uns Kindern kund gemacht, / Daß wir dem freudig dienen, / Der uns so wohl bedacht. / Sie leuchtet aus dem Sohne, / Den er zu uns gesandt / Von seines Himmels Throne / Als seiner Gnade Pfand. // [2.] Er ward uns Mensch geboren. / Des ewgen Vaters einig Kind, / Sonst gingen wir verloren, / Die allzumal gefallen sind. / Wir sollen durch ihn leben, / Mit Gott versühnet sein, / Dann ihm uns wieder geben, / Das ganze Herz ihm weihn. / Er will uns nicht nur retten, / Er schenkt auch seinen Geist, / Damit wir alles hätten / Was uns sein Bund verheißt. // [3.] Der lebt nach Gottes Willen, / Der gegen ihn in Lieb entbrannt; / Er kann die Glut nicht stillen, / Bis sie zum Nächsten sich gewandt. / Die Armen muß er speisen, / Verlassnen Helfer sein, / Verirrte unterweisen, / Selbst Feinde gern erfreun. / Es ist ein kindlich Zeichen / Wenn man die Brüder liebt; / Der Vater thut desgleichen, / Der alles Gute giebt. // [4.] O laßt auf ihn uns sehen, / Und folget ihm mit Eifer nach! / Bedenkt, was uns geschehen: / Wir hatten in der Sünde Schmach / Nach Freiheit kein Verlangen; / Doch hat er uns befreit; / Er ist uns nachgegangen / Aus lauter Gütigkeit. / Wir gingen wüste Pfade, / Verirrten Schafen gleich; / Da rief uns seine Gnade / Zum sel’gen Himmelreich. // [5.] Ach lasset uns ihn lieben; / Denn er hat uns zuerst geliebt, / Ist immer treu geblieben, / Wieviel wir wider ihn verübt. / Nun hat er uns gefunden, / Wir ihn im Sohn erkannt, / Er sich mit uns verbunden, / Und wir sind ihm verwandt. / Wollt ihr ihn alle kennen, / So thut was ihm gefällt. / Ach laßt in Liebe brennen / Das Herz vor aller Welt. // (Freil. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wunderbarer König etc. Komm Gott in uns wohnen! Schon auf dieser Erden / Möchten wir dein Tempel werden. / Komm du gütig Wesen, dich in uns verklären, / Deine Lieb in uns vermehren. / Wo wir gehn, / Wo wir stehn, / Laß uns dich erblicken, / Ganz uns zu dir schicken. //

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Am 23. Juni 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

3. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,12–16 Nachschrift; SAr 83, Bl. 39v–61v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 95–121; Andrae Nachschrift; SAr 106, Bl. 21r–23v; Crayen Nachschrift; SAr 61, Bl. 7r–12v; Woltersdorff Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 527–544 und S. 545–563 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3 Liederangabe (nur in SAr 61)

Frühpredigt am dritten Sonntage nach Trinitatis 1822 am dreiundzwanzigsten Brachmonds. |

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Tex t. Philipper II, 12–16. Also, meine Liebsten, wie ihr allezeit seid gehorsam gewesen, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern auch um vielmehr in meiner Abwesenheit: schaffet daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist es, der in euch wirkt beides das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen. Thut alles ohne Murren und ohne Zweifel, auf daß ihr seid ohne Tadel und lauter und Gottes Kinder, unsträflich mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, unter welchem ihr scheint als Lichter in der Welt; damit daß ihr haltet | ob dem Wort des Lebens. M. a. F. Die verlesenen Worte des Apostels sind jedes für sich betrachtet gewiß sehr ans Herz dringend, wie denn jeder in seinem eigenen Innern

[Zu Z. 2 von Schleiermachers Hand:] Phil. II 12–16 0 SAr 61, Bl. 124r: „Lied 795. 807. v. 3–4“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Hilf mir, mein Gott!“ (Melodie von „Was mein Gott will gescheh allzeit“); „Schaffet, daß ihr selig werdet“ (Melodie von „Alle Menschen müssen sterben“)

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etwas findet, das ihm Recht giebt und ihn vertheidigt. Aber wenn wir sie in ihrem Zusammenhang betrachten, so entstehen uns dabei mancherlei Schwierigkeiten. Zuerst wenn wir hören „schaffet daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“: so ist darin etwas, das uns freilich unsre eigene Erfahrung bestätigt, und dem wir Beifall geben müßen; auf der andern Seite aber auch klingt es uns befremdend, daß die | Lehre des Evangeliums, die doch ganz darauf ausgeht die Liebe in dem Menschen zu begründen, und ihn ganz und gar in Liebe zu verwandeln, soll sich ausdrüken auf eine solche Weise, daß der Mensch seine Seligkeit schaffen solle mit Furcht und Zittern, da doch von der Liebe gesagt wird daß sie die Furcht austreibt. Aber dann könnten wir noch weiter gehen und sagen: was soll doch alles Zittern und alle Furcht, womit der Mensch geneigt sein könnte seine Seligkeit zu schaffen, was soll es ihm helfen, wenn das wahr ist was der Apostel nachher sagt „denn Gott ist es, | der in euch wirkt beides das Wollen und das Vollbringen“? Wenn denn doch der Mensch nichts durch sich selbst kann, ja alles das Werk Gottes in ihm ist, so kann er auch nichts thun als abwarten was Gott in ihm wirken werde, und daher alle seine Furcht und all sein Zittern, da sie seine Seligkeit nicht schaffen können, zu dem Ueberflüßigen rechnen. Und wenn der Apostel es grade heraus gesagt hat, daß Gott allein es ist, der da wirkt beides das Wollen und das Vollbringen, was soll darauf noch ein Wort der Ermahnung wie dieses „thut alles ohne Murren und ohne Zweifel, auf daß ihr seid ohne Tadel und lauter und Gottes | Kinder, unsträflich mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht“? Denn diese Worte klingen wieder, als ob sie sich an den Menschen selbst wenden und von ihm etwas fodern, da doch unmittelbar vorher gesagt wird, daß er nichts könne, sondern daß Gott allein alles thue. Das, m. g. F., das sind die Schwierigkeiten, die in den Worten des Apostels liegen. Aber wir können doch nicht glauben, daß er in einem solchen Wiederspruch mit sich selbst sei begriffen gewesen; und so müßen wir uns zu diesen Schwierigkeiten den Schlüßel suchen, um alles das mit einander vereinigen zu können, was in den Worten | des Apostels unser Herz anspricht; und das zu beseitigen, auf der andern Seite, wogegen Herz und Verstand beide sprechen. Der Schlüßel dazu aber liegt in den ersten Worten des Apostels. Unser Text beginnt mit den Worten „also meine Liebsten, wie ihr allezeit seid gehorsam gewesen nicht allein in meiner Gegenwart, sondern auch um vielmehr in meiner Abwesenheit“. Mit dem Gehorsam bringt er das in Verbindung „schaffet daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“. Welches ist denn nun der Gehorsam, von welchem der Apostel hier redet? 28 er] Ergänzung aus SAr 102, S. 98 aus SAr 102, S. 99 10 Vgl. 1Joh 4,18

31–32 anspricht; ... wogegen Herz] Ergänzung

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meint er einen Gehorsam gegen sich selbst als ihren Lehrer und gegen seine Worte? Das ist wohl seinem übrigen Sinne und seiner uns wohl bekannten | Art und Weise nicht angemeßen; denn er sagt es immer auch von sich, daß er sich nicht halte für denjenigen, der berufen sei über die Gewißen zu herrschen, zu gebieten und Gehorsam zu fodern. Aber es war schon, m. g. F., in den Worten, die wir früher mit einander betrachtet haben, die Rede gewesen von dem Gehorsam unsers Erlösers, der sich selbst erniedrigt habe, und sei gehorsam geworden bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Auf diese Worte geht nun der Apostel zurük, und verweiset also die Khristen, indem er ihnen das Zeugniß giebt, daß | auch sie gehorsam gewesen wären in seiner Anwesenheit, auf den Gehorsam Jesu Khristi, dem sie immer mehr sollten ähnlich zu werden trachten. Der Gehorsam aber unsers Erlösers, m. g. F., der war ja kein andrer als der gegen den Willen seines Vaters im Himmel, der ihm in seinem Herzen offenbar war, weil er den Vater in sich wohnen hatte, es war der Gehorsam gegen den Beruf, der ihm bei seiner Erscheinung in diesem Leben angewiesen war, der Gehorsam der darnach trachtete, alle die Werke die ihm sein Vater zeigte zu erfüllen, damit er ihm eben dann und eben | dadurch noch größere zeigen möchte, wie er sich selbst bei dem Evangelisten Johannes ausdrükt. Haben wir nun auch einen solchen Gehorsam, an den uns der Apostel verweisen kann, ist etwas in uns was uns auch hierin zum Ebenbild unsers Erlösers macht; nun so werden wir nur das recht scharf ins Auge zu faßen brauchen, und uns recht fest daran zu halten haben, um alle die Schwierigkeiten verschwinden zu machen, die uns in den Worten des Apostels begegnen. Das ist aber die Verheißung unsers Erlösers, daß wir alle ihm in diesem Gehorsam sollen ähnlich werden. | Darum hat er seinen Jüngern verheißen, daß eben deswegen, weil so lange er schon unter ihnen wandelte sie nicht mehr seine Knechte waren, die nur von einem äußerlichen durch Furcht gewirkten und knechtischen Gehorsam getrieben thäten den Willen des Herrn, den sie nicht verstünden, sondern seine Freunde, mit ihm übereinstimmend in dem was sein Herz bewegte und trieb, eben deswegen weil er ihnen dieses Zeugniß geben konnte in seinem irdischen Leben verheißt er ihnen, daß nach seinem Abscheiden kommen würde sein Geist, und sie in alle Wahrheit leiten, | und von dem Seinen nehmen und ihn verklären, ja ihnen auch dasjenige mittheilen, was sie so lange er unter ihnen wandelte noch nicht tragen konnten. So ist es denn, m. g. F., dieser Gehorsam gegen die Stimme des göttlichen Geistes in unserm Herzen, der jedes andre äußerliche Gesez überflüßig macht, der Gehorsam gegen den Geist, deßen Früchte alles dasjenige ausmacht, woraus die Seligkeit des Menschen quillt nicht nur in je6–9 Vgl. oben 9. Juni 1822 früh über Phil 2,8 Joh 15,15 33–36 Vgl. Joh 16,6.12–14

17–19 Vgl. Joh 5,20

26–31 Vgl.

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nem sondern auch in diesem Leben schon, dieser Gehorsam ist es, den der Apostel den Khristen empfiehlt, und ihnen zuerst als ein Zeugniß seines Wohlgefallens zu erkennen giebt, daß dasjenige, | was so oft einen nachtheiligen Einfluß auf die Menschen macht, wenn nämlich die Weisern und Beßern, die in ihrer Mitte leben, die ihnen durch ihr Beispiel die Festigkeit des Glaubens und die Kraft der Liebe zeigen, und die so segensreich auf sie wirken, von ihnen getrennt sind, daß eben dies keinen nachtheiligen Einfluß auf sie gemacht hat, sondern daß der Gehorsam gegen den göttlichen Geist in ihrem Herzen eben so lebendig, eben so frei und sicher gewesen ist in seiner Abwesenheit wie früher in seiner Anwesenheit. Indem er ihnen dies Zeugniß giebt, so ermuntert er sie zugleich in diesem Gehorsam zu verharren. | Und dies ist der Gesichtspunkt, aus welchem wir auch die Worte des Apostels betrachten müßen, die unmittelbar darauf folgen: „wie ihr allezeit seid gehorsam gewesen; so schaffet daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern.“ Wenn uns dies nun früher nicht ganz angemeßen erschien eben den Wirkungen des Geistes, welcher den Menschen frei macht, und die Freiheit der Kinder Gottes in ihm hervorbringt und befestigt, daß die Seligkeit, die aus dieser hervorgeht, geschafft werden soll mit Furcht und Zittern: so müßen wir zuerst dabei bedenken, daß dabei dem Apostel eine Stelle aus den Psalmen | des alten Bundes vorschwebte, wo nämlich der Psalmist sagt: „dient dem Herrn mit Furcht, und freuet euch mit Zittern.“ Im alten Bunde, m. g. F., da herrschte noch das Gesez und mit dem Gesez die Furcht, und die Freude an Gott und der Gehorsam gegen ihn konnte von der Furcht noch nicht befreit werden, welches erst der Vorzug des neuen Bundes war, in welchem die Freiheit der Kinder Gottes durch den Erlöser ans Licht gebracht wurde, und der Zuchtmeister das Gesez eben deswegen verschwinden konnte, weil der Glaube und der Gehorsam war lebendig geworden. Aber es | waren doch immer auch von Gott, wenn gleich der damaligen Zeit und ihren Verhältnißen angemeßen, eingegebne Worte des alten Bundes, an welchen auch die Freiheit und die Gottseligkeit der Mitglieder des neuen Bundes geleitet wurde, und an welchen sich die Ermahnungen und Belehrungen der Apostel über den Willen Gottes und die Verkündigung des Evangeliums angeschloßen haben. Darum schwebten ihnen die Worte des alten Bundes immer vor Augen und waren ihrem Herzen eingeprägt, und Anklänge davon finden wir in allen Schriften, welche uns von ihnen übrig geblieben | sind. Wie nun der Apostel hier die Khristen ermahnt zum Gehorsam, und von dem Gehorsam redet; so war es natürlich, daß ihm jene Worte des alten Bundes dabei einfielen. Und bei alle dem, m. g. F., dürfen wir uns die Belehrungen und Ermunterungen, welche die Apostel des Herrn in ihrer Abwesenheit von irgend einer khristlichen Gemeinde schriftlich an diese richteten, nie gesondert denken von ihrem 21 Ps 2,11

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mündlichen Unterricht, sondern müßen um sie zu verstehen im Geiste uns zurükversezen in diejenigen, an welche die Worte der Apostel mündlich sich richteten. Und wie könnten wir da an|ders als glauben, daß der Apostel den milden Sinn des Evangeliums in seinem öffentlichen und oft wiederholten mündlichen Unterricht in diese Worte des alten Bundes werde hineingelegt haben, so daß nicht knechtische Furcht und knechtisches Zittern, sondern ein milder Sinn und ein freundlicher Geist die Khristen ergriff, wenn sie diese Worte des alten Bundes aus dem Munde des Apostels vernahmen, und wenn sie dieselben jezt zu ihrer Erbauung lasen. Und so finden wir denn einen Uebergang zu dem, was auch uns allen in diesen Worten wahr erscheinen muß, und was unsre wiederholten Erfahrungen von dem Zustande | unsers Innern bestätigen. Laßt uns nicht vergeßen, was der Apostel sagt: wie ihr bisher allezeit seid gehorsam gewesen nicht allein in meiner Gegenwart sondern auch in meiner Abwesenheit, so schaffet nun auch in Zukunft daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern. Der Gehorsam, von welchem er ihnen schon das Zeugniß giebt, daß sie ihn bewiesen haben, m. g. F., das ist die Seligkeit die sie schon haben, und die sie also nicht erst zu schaffen brauchen. Denn es giebt keine andre Seligkeit für den Menschen als der freie und reine Gehorsam des menschlichen Herzens gegen den göttlichen Willen, der ihm bekannt ist; und der Sohn | Gottes sagt es selbst von sich, daß er keine andre Seligkeit habe und kenne und auch keine andre begehre, als daß er den Willen thue seines Vaters im Himmel. Insofern sie also gehorsam gewesen waren, hatten sie die Seligkeit schon, die ihnen der Herr gönnt, und sie brauchten dieselbe nicht mehr zu schaffen. Aber das ist unser aller Erfahrung, und so wußte es auch der Apostel von den Khristen zu Philippi, die er mit zärtlicher und treuer Liebe in sein Herz geschloßen hatte, einestheils hat der Mensch den Gehorsam, der ihn selig macht, anderntheils besteht noch immer der Streit des Fleisches gegen den Geist in dem Menschen, und so fern noch etwas in ihm ist | was dem Gehorsam gegen den göttlichen Willen wiederstrebt, insofern muß er noch seine Seligkeit schaffen, und indem er sie noch schaffen muß, so ist er auch nicht vollkommen in der Liebe, welche, wo sie vollkommen ist die Furcht schon ausgetrieben hat, sondern es ist noch etwas von dieser Furcht in ihm, was erst die vollkommne Liebe wird austreiben können; und insofern bedarf er auch noch seine Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern. Ja, m. g. F., das werden wir uns gewiß alle sagen, daß es bald übel um uns stehen würde, wenn wir in Beziehung auf alles dasjenige, worin wir uns selbst noch unvollkommen fühlen | und noch nicht hinlänglich befestigt durch die 9 lasen] lesen 20–22 Vgl. Joh 5,30; 6,38

31–34 Vgl. 1Joh 4,18

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göttliche Gnade, in Beziehung auf alles, worin der Geist noch einen harten Kampf zu bestehen hat gegen das Fleisch, welches seinen Regungen wiederstrebt, so daß es manchmal wunderlich hergeht in dem Herzen des Menschen, und er selbst nicht weiß, welcher von beiden den Sieg davontragen werde in diesem Kampf, ob es dem Geist gelingen werde die Ansprüche des Fleisches abzuweisen, oder ob dieses den Geist zu seinem Diener machen werde; es würde bald übel um uns stehen, sage ich, wenn wir in dem allen ablaßen wollten von der sorgfältigen Aufmerksam|keit auf uns selbst, von der fleißigen Beobachtung alles deßen was uns bald so bald anders bewegt, von der heiligen Scheu, die uns erfüllt, sobald wie der Apostel sagt das Gesez in unsern Gliedern sich regt gegen das Gesez in unserm Gemüthe; wenn wir von dieser Sorgsamkeit und Scheu ablaßen wollten in der Zuversicht und in der Freude über die Seligkeit, die wir schon haben durch die göttliche Gnade; so würden wir bald nicht nur nicht fortschreiten in dieser Seligkeit, sondern das Gefühl derselben immer mehr verlieren; und so wären alle frühere Segnungen Gottes über uns vergeblich. Und darum knüpft der Apostel an das gute | Zeugniß, welches er den Khristen giebt, diese Ermahnung unmittelbar, und wenn gleich eindringlich und mit strengen Worten, so doch auf eine milde und liebliche Weise an, indem er sagt; „wie ihr bisher allezeit seid gehorsam gewesen nicht allein in meiner Gegenwärtigkeit, sondern auch in meiner Abwesenheit; so schaffet nun daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“; worin freilich eine Erinnerung liegt an das Mangelhafte und Unvollkommne was noch in ihrem Gehorsam gegen den göttlichen Willen war, und ihn nicht überall herrschen ließ; aber ohne daß der Apostel es heraushebt, sondern sich nur an die Gemüthsbewegung hält, | von der er wußte, daß sie das Unvollkommne und den Mangel je länger je mehr aufheben werde. Wenn er also sagt „schaffet daß ihr selig werdet mit Furcht und Zittern“, so ist dies dasselbe was er an einer andern Stelle mit den Worten ausdrükt „betrübet nicht den heiligen Geist, mit welchem ihr auch versiegelt seid auf Hoffnung des ewigen Lebens“. Der Geist Gottes, m. g. F., der uns seinen Willen verkündigt, der ist ein freudiger Geist in uns, der macht uns das Leben leicht und lieb, und erhält uns die Zufriedenheit und Fröhligkeit des Herzens, so lange wir un|getrübt und ungetheilt im Gehorsam gegen die Stimme desselben wandeln. Wo irgend etwas in unserm Gemüthe aufkommt, was ihm zuwieder ist, und uns seine Stimme nicht rein vernehmen läßt, da wird auch eben diese Frucht, die der göttliche Geist in uns hervorbringt, getrübt, und er selbst wird betrübt in uns. Und je zweifelhafter und zweideutiger die Kraft ist, mit der er die Kräfte der menschlichen Seele, die er sich schon unterworfen und angeeignet hat, beherrscht, desto mehr wird er getrübt, und desto mehr muß in dem Gemüthe die Besorgniß geschwächt werden, um alles was von ihm durchdrungen 10–12 Vgl. Röm 7,23

29–30 Vgl. Eph 4,30

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werden kann zusammen zu halten, alle Mittel | zu gebrauchen die uns zu Gebote stehen, und alle Kräfte die uns der Herr verliehen hat anzustrengen, damit der Geist Gottes nicht betrübt werde, sondern immer reiner und ungestörter unser ganzes Dasein leite, und immer vollkommner mache unsern Gehorsam gegen ihn. Und wenn wir so die Worte des Apostels verstanden haben, so wird uns auch das Folgende klar sein und leicht einzusehen und nicht mit einander im Wiederspruch stehen, wenn wir was wir bisher betrachtet haben vergleichen wollen mit demjenigen, wozu der Apostel nun übergeht. Denn gar wohl stimmt es zusammen, wenn wir wissen, darin beruht unsre Seligkeit, daß wir immer und | überall der Stimme des göttlichen Geistes folgen, und davon muß alle Behutsamkeit und alle Vorsicht und alle Weisheit in unserm Wandel ausgehen, daß wir keinem andern Gesez und keiner andern Stimme als dem Gesez und der Stimme des göttlichen Geistes gehorchen, damit stimmt gar wohl zusammen was der Apostel im Folgenden sagt „denn Gott ist es, der in euch wirkt beides das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen“. Denn, m. g. F., das ist nun nicht ein Wort, das uns niederschlägt sondern uns erhebt, das ist nicht ein Wort, welches uns zweifelhaft in uns selbst macht, als ob wir nichts thun | könnten, sondern es ist ein Wort, welches uns die rechte und wahre Zuversicht von demjenigen giebt, was unsre Kraft und unser Vermögen ist. Denn, m. g. F., das wissen wir wohl, wie der Apostel auch an einer andern Stelle sagt, so wir tüchtig sind, so sind wir es nicht durch uns selbst, nicht als ob wir selbst tüchtig wären etwas zu denken und zu thun, was Gott wohlgefällig ist, sondern so wir es sind, sind wir es durch den Geist Gottes. Aber der, m. g. F., ist nicht etwas das uns fremd wäre. So wie die Fülle der Gottheit, die in dem Erlöser wohnte, sein Wesen bildete und zu ihm gehörte, | und nicht ein andrer war der Mensch Jesus und ein andrer der Sohn Gottes, sondern alles Eins in ihm: so ist es auch mit uns; wenn wir einmal durch ihn den Geist Gottes empfangen haben, so ist der uns auch nicht etwas Fremdes, etwas Äußerliches, etwas Zufälliges, das einmal da wäre und dann wieder von uns wiche, sondern wir haben die feste Zuversicht, daß so wir einmal empfangen haben so bleibt er uns; denn er ist das Pfand, welches uns Gott gegeben hat, von der Seligkeit die wir durch seine Gnade genießen sollen; und was einer als ein Pfand hat, das | hat er auch ein Recht festzuhalten, und das kann und darf ihm nicht wieder genommen werden. So ist der Geist Gottes, den uns der Erlöser gesandt hat, das Pfand welches uns die göttliche Gnade verleiht von der Gemeinschaft zwischen uns und Gott, die eben so wenig wieder aufgehoben werden kann, als Gott jemals aufhört in Khristo zu sein, durch den sie vermittelt ist. Und so sind wir nicht einem Fremden und Zufälligen hingegeben, von welchem wir alles Schöne 22–24 Vgl. 2Kor 3,5–6

25–26 Vgl. Kol 2,9

32–34 Vgl. 2Kor 5,5

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und Gute in uns ableiten dürften, sondern Gott ist es, der in uns wirkt beides das Wollen und das Vollbringen | nach seinem Wohlgefallen. Es ist der Geist Gottes, der es allein in uns wirken kann, und eben deßhalb, weil der allein es wirken kann und wirkt, sollen wir mit Furcht und Zittern unsre Seligkeit schaffen, sollen wir darauf achten, daß nicht irgend etwas anderes in uns eine eigene Thätigkeit ausübe, und irgend ein Augenblik in uns erfüllt sei von dem Wollen, welches nicht von dem Geiste Gottes in unserm Herzen ausgeht. Darum ist es nun aber auch dieses Wort, welches der Apostel den Khristen zu Gemüthe führt „denn Gott ist es, der in euch wirkt beides das Wollen und das Vollbringen“, | dies ist es, welches die unmittelbar vorhergehenden Worte, daß sie ihre Seligkeit schaffen sollen mit Furcht und Zittern, wieder mildert, und eben wieder den fröhlichen und schönen neutestamentlichen Sinn und Geist in den Khristen belebt; und das Knechtische, was unvermeidlich die Gemüther der Khristen ergreifen mußte, wenn sie an jene Worte des alten Bundes erinnert wurden, das soll aufgehoben werden durch dieses schöne und liebliche Wort. Als ein Wort der Freudigkeit sagt er es „denn Gott ist es, der in euch wirkt beides das Wollen und das Vollbringen“; das heißt also: | alle Erfahrungen die ihr gemacht habt in euerm Khristenleben von dem Gehorsam, von dem ich euch das Zeugniß gebe, daß ihr ihn geübt habt nicht allein in meiner Gegenwart sondern auch in meiner Abwesenheit, das ist das Werk Gottes in euch gewesen, der Geist Gottes hat das Wollen und das Vollbringen in euch hervorgebracht, ihr habt die Erfahrungen davon, daß er in euch lebt und wirkt, und ihr sollt wissen, daß ihr nichts anderes bedürft als daß ihr die Regungen des Wollens, die er in euch erwekt, nicht unterdrükt, daß ihr die lebendige Kraft, mit welcher er jede | gute und gottgefällige Thätigkeit in euerm Leben schafft, nicht hemmt, daß ihr ihn nicht betrübet, etwas anderes bedürft ihr nicht zu eurer Seligkeit. Denn wenn der Apostel hinzufügt: „Gott wirkt das Wollen und das Vollbringen in euch nach seinem Wohlgefallen“, so dürfen wir unter dem göttlichen Wohlgefallen nicht etwa dies verstehen, daß es sei eine menschliche Laune und eine menschliche Willkühr, als heiße es so viel: heute wirkt er etwas in uns was ihm wohlgefällig ist, morgen aber zieht er sich von uns zurük mit seiner lebendigen wirksamen Kraft; sondern das ist sein | Wohlgefallen gewesen, den Geist auszugießen über alles Fleisch, so daß er bei uns bleibe als die unversiegliche Quelle alles Lebens; das ist sein immer gleiches Wohlgefallen, daß er den Geist giebt allen denen die ihn darum bitten in dem Namen dessen, der da gekommen ist, ihnen das Pfand ihrer Seligkeit zu verleihen; und nach diesem Wohlgefallen wirkt er in uns allezeit das Wollen und das Vollbringen, so wir nur nicht stehen bleiben bei dem was er angefangen hat durch seine Kraft Gottgefälliges in uns zu wirken, sondern fortfahren unsre Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern, in dem Gefühl, | daß wir auch dieses göttliche Kleinod tragen

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in der zerbrechlichen Schaale der menschlichen Natur, in welcher das Vergängliche und Irdische den festen Zusammenhang, den die göttliche Gnade in unserm Gemüthe schafft, zu zerstören sucht. Aber wir sollen uns verlassen auf das ewige Wohlgefallen, nach welchem Gott wirkt das Wollen und das Vollbringen. Wenn wir nur nicht aufhören zu bitten, dann wird uns verliehen werden, und anzuklopfen, dann wird uns aufgethan werden. – Darum fügt der Apostel auch hinzu die Worte der Ermahnung „thut alles ohne Murren und | ohne Zweifel, auf daß ihr seid ohne Tadel und lauter“. Und das ist ja ein herrliches Wort, das der Apostel uns sagt. Die Lauterkeit und Untadelhaftigkeit des Menschen besteht in nichts anderm als darin, daß er alles thue ohne Murren und ohne Zweifel. Denn wo das Murren ist, da ist nicht mehr der freie Gehorsam der Kinder Gottes, sondern die Anklänge und Ueberreste des knechtischen Gehorsams, der niemals frei ist von Furcht. Sondern mit freiem Herzen soll der Mensch von dem ersten Augenblik an, wo er sich hingiebt an den Gehorsam gegen die Stimme des göttlichen Geistes, bis zu dem Punkt, wo | derselbe die leitende und herrschende Kraft seines ganzen Lebens ist, alles dasjenige thun, was der Wille Gottes an ihm ist; und keine Unzufriedenheit, kein Murren des Herzens, keine Beschwerde gegen Gott, als ob er sei ein harter Herr, der da nehme wo er nicht gelegt, und ernte wo er nicht gesäet habe, soll in der Seele aufkommen, die da weiß und fühlt, daß alles Wollen und Vollbringen in ihr das Werk dessen ist, der nichts will als ihre Seligkeit. Aber wie kein Murren, so auch kein Zweifel. Eins soll der Mensch sein mit sich selbst, nicht soll er hin und her gezogen werden von Ungewiß|heit, ob dies oder jenes das Rechte sei und das Wahre. Und von diesem Zweifel wird er befreit, wenn er nur überall auf die Stimme des göttlichen Geistes in seinem Herzen merkt; denn dann wird es ihm nicht schwer werden zu unterscheiden wo dieser es ist, der ihn zu diesem oder jenem Unternehmen treibt, und wo es die mancherlei Gedanken des Herzens sind, die unter einander theils sich anklagen theils sich entschuldigen, aber immer nur das Werk des göttlichen Geistes zu stören suchen; den einen von den andern zu unterscheiden ist dem leicht, der die Wahrheit sucht in Liebe, ist dem leicht, der sich | das Wort Gottes aufrichtig erhält, und wie der Apostel in unserm Texte sagt hält ob dem Wort des Lebens; der wird bald dahin kommen, ohne Zweifel und in Freudigkeit des Herzens ohne Murren den Willen Gottes, den er in seinem Innern vernimmt, auch zu vollbringen, und so das Werk des Herrn aus allen Kräften zu fördern. Und das sagt der Apostel das ist die ganze Tadellosigkeit der Kinder Gottes, zu der sie in diesem irdischen Leben gelangen können. Viel Unvollkommnes freilich wird dabei sein und bleiben in unserm Thun 25 er] Ergänzung aus SAr 102, S. 118 5–6 Vgl. Mt 7,7; Lk 11,9

19–20 Vgl. Lk 19,21

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und Trachten, denn es ist das Gesez der menschlichen | Natur so lange wir hienieden leben; aber ohne Tadel werden wir sein, wenn wir ohne Murren und ohne Zweifel der Stimme dessen folgen, der in uns wirkt das Wollen und das Vollbringen. Wenn aber der Apostel die Khristen daran erinnert, daß sie ohne Murren und ohne Zweifel lauter und unsträflich wandeln sollen mitten unter dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht: so laßt uns das nicht vergessen, wie dies ein Wort war für jene Zeit, wo das Häuflein der Khristen noch klein war, und bei weitem die meisten Menschen noch wandelten in der Finsterniß und in dem Schatten des Todes. Wenn aber jezt | es auch unter den Khristen viele giebt, die da meinen, dieses Wort der Schrift müsse auch noch heute und mitten unter uns wahr sein, und immer noch gebe es nur ein kleines Häuflein derer, welche die Lichter der Welt wären, und die meisten Menschen gehörten noch zu dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, von welchem der Apostel hier redet: so ist das ein Irrthum, der von dem Geist der Liebe nicht kann eingegeben sein. Denn wo der Name des Herrn bekannt wird, da waltet auch sein Geist wenn gleich nicht gleichmäßig und gleich stark in | allen; wo der Name bekannt wird, den Gott erhöht hat über alle Namen, daß vor ihm aller Knie sich beugen sollen, da wird auch seine Lehre verkündigt und sein Wort gehalten. Und wenn es viele giebt um uns her, die den Namen Khristi bekennen, aber doch nicht wandeln nach derselben Regel die wir haben und befolgen: so laßt uns deswegen nicht glauben, daß sie gehören zu dem unschlachtigen und verkehrten Geschlecht, laßt uns nicht glauben, daß sie nicht halten über dem Wort des Lebens, sondern sie thun es nach der Einsicht, die ihnen der Herr gegeben hat, und so gewiß als sie den Namen Khristi bekennen sind sie von der | Liebe zu ihm erfüllt, und legen darin ab ein Zeugniß von der Anerkenntniß des Namens, den ihm Gott gegeben hat, daß er sein soll ein Herr über alles was Mensch heißt; und laßt uns darauf vertrauen, daß so ihnen noch etwas fehlt es ihnen der Herr gewiß offenbaren werde, und daß auch in ihnen ein Wollen und Vollbringen des Gottgefälligen gewirkt werde, wenn gleich wir es nicht immer verstehen und anerkennen was es ist; und laßt uns in Liebe ihnen uns zugesellen als solchen, die auch zu uns gehören, und ihnen mittheilen von dem Unsrigen und wiederum empfangen von dem Ihrigen, damit nichts vergeblich sei von dem was der Geist Gottes thut, um uns immer inniger zu vereinigen zur lebendigen Gemeinschaft mit Gott, und damit unter allen denen, die er sich auserwählt hat, Eine Seligkeit sei in dem, der die Quelle alles Heils ist und aller Seligkeit, und von dem alles Wollen und Vollbringen in dem Herzen der Menschen ausgeht. Amen.

17–19.27–28 Vgl. Phil 2,9–10

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Am 7. Juli 1822 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

5. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 3,8–15 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 83, Bl. 62r–81v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 122–144; Andrae Nachschrift; SN 614/2, Bl. 1r–4v; Saunier Tageskalender: „Predigt über Epistel“

Nachmittagspredigt am fünften Sonntage nach Trinitatis 1822 am siebenten Heumonds. |

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Tex t. 1. Petri III, 8–15. Endlich aber seid allesammt gleichgesinnet, mitleidig, brüderlich, barmherzig, freundlich. Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort; sondern dagegen segnet und wisset, daß ihr dazu berufen seid, daß ihr den Segen ererbet. Denn wer leben will und gute Tage sehen, der schweige seine Zunge, daß sie nichts Böses rede, und seine Lippen, daß sie nicht trügen. Er wende sich vom Bösen und thue Gutes; er suche Frieden und jage ihm nach. Denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Gebet; das Angesicht aber des Herrn stehet gegen die da Böses | thun. Und wer ist, der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommet? Und ob ihr auch lei-

[Zu Z. 1 von Schleiermachers Hand:] NB. Der 4. Sonnt. n. Trin fehlt / NB. War Metgers Predigt 14–15 Am 30. Juni 1822 (4. SnT) hatte Friedrich Severin Metger für Schleiermacher den Vormittagsgottesdienst in der Dreifaltigkeitskirche gehalten (Tageskalender: „Predigte Metger für mich.“). Metger (geb. 1775 in Lengerich, gest. 1834 in Stolp) wirkte nach Schleiermachers Weggang 1802 als Prediger an der Charité und im Invalidenhaus in Berlin. Ab 1807 war er reformierter Prediger in Stolp / Pommern und wurde damit erneut Schleiermachers Nachfolger, der von 1802–1804 die Hofpredigerstelle innegehabt hatte. Schleiermacher und Metger standen von 1802 bis mindestens 1815 in Briefkontakt (vgl. KGA V/5, S. LIV–LVI).

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det um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig. Fürchtet euch aber vor ihrem Trozen nicht, und erschreket nicht. Heiliget aber Gott den Herrn in euern Herzen.

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M. a. F. Es leuchtet wohl einem jeden von selbst ein, daß wenigstens von den Worten an „vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Schelten mit Scheltwort“ der Apostel ganz vorzüglich von dem Betragen der Khristen, an die er schrieb, gegen diejenigen welche es nicht waren redet. Denn von den durch den neuen | gemeinsamen Glauben im Gegensaz gegen den größten Theil der Welt so eng verbundenen Khristen ist wohl nicht zu glauben, daß einer dem andern sollte Böses zugefügt haben, oder daß sie heftigen und gehässigen Leidenschaften gegen einander Raum gegeben hätten. Wenn wir aber bedenken, was für Gründe nun der Apostel anführt für die Befolgung der Regeln, die er den Khristen hier empfiehlt, indem er ihnen nämlich zuspricht „wer da leben will und gute Tage sehen, der befolge diese Regel“: so müssen wir uns darüber billig wundern, weil das nicht übereinzustimmen scheint mit dem | eigenthümlichen Sinn und Geist des Khristenthums, daß wir unser Verhalten darnach einrichten sollen, wie es uns gute Tage in der Welt bringt; und es könnte einer gar leicht denken, daß auch die Befolgung dieser Regeln der Apostel eben nicht sehr sicher gestellt hat. Denn wenn es freilich Zeiten gäbe, wo es das sicherste Mittel wäre unser Leben zu erhalten und gute Tage zu sehen, wenn wir unsre Zunge schweigen, daß sie nicht Böses rede, und unsre Lippen, daß sie nicht trügen, so giebt es eben so gut andre Zeiten, wo wir in dieser Hinsicht am besten für uns sorgen | würden, wenn wir unsre Zunge schweigen, daß sie nicht Gutes redete, und unsre Lippen, daß sie nicht die Wahrheit sagten. Denn es giebt freilich solche Zeiten, wo Trug und Lüge mehr gelten als die Wahrheit, und wo die Menschen auch nicht geneigt sind das Gute zu hören sondern das Böse. Einen solchen Unterschied aber hat der Apostel gewiß nicht machen wollen. Hiebei aber, m. g. F., müssen wir bedenken, daß die Worte, welche er nach den wiederholten anführt: „wer leben will und gute Tage sehen, der schweige seine Zunge, daß sie nichts Böses rede, und seine Lippen daß sie nicht trügen; er wende sich vom Bösen und | thue Gutes, er suche Frieden und jage ihm nach; denn die Augen des Herrn sehen auf die Gerechten, und seine Ohren auf ihr Gebet, das Angesicht aber des Herrn stehet gegen die da Böses thun“, Worte des alten Bundes sind aus einem der Psalmen. In dem alten Bunde aber da bedurfte das Volk des Herrn noch solcher Verheißungen, und das Wohlgefallen an dem Gesez war ja an dieselbe geknüpft „auf daß du lange lebest und es dir wohl gehe in dem Lande, das dir der Herr dein Gott geben wird“; und so auch wurde überwiegend dem Volke vorgehalten, als ihm das Gesez dargelegt ward, der Segen 30–35 Vgl. Ps 34,13–17

38–39 Dtn 5,16

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eben dieser jezt genannte irdische Segen, wel|cher die treue und sorgfältige Beobachtung des Gesezes begleiten würde, und der Fluch eben diesem jezt genannten Segen entgegengesezt. Wie aber der Apostel es sich gewendet hat, und ganz dem Geist des Khristenthums gemäß, was für ein sinnliches Volk in den Zeiten des alten Bundes auch sinnlich geredet war, geistig zu deuten, und ihm einen höhern Sinn beizulegen, das sehen wir aus den folgenden Worten unsrer Epistel, wo er sagt „wer ist der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommet? und ob ihr auch leidet um der Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig.“ Solche gute Tage also, meint der Apostel, sollen wir uns | denken als die natürliche Frucht der Regel, die er den Khristen für ihr Verhalten giebt, solche gute Tage, deren Seligkeit nicht gemindert wird, wenn wir auch um der Gerechtigkeit willen leiden, solche gute Tage, die auf demjenigen gegründet sind, woran uns niemand etwas schaden kann, solange wir dem Guten nachkommen. Das ist also der Grund, den uns der Apostel seinem khristlichen Sinn und Geist zufolge vorhält; und indem nun dieser in dem genausten Zusammenhange steht mit den Regeln, die er uns giebt, so laßt uns auch unsre Betrachtung dieser Worte so einrichten, daß wir zuerst auf die Verheißung und Er|munterung sehen, die uns der Apostel giebt, und dann die Vorschriften selbst, die er uns einschärfen will, mit einander ins Auge fassen. I. Zuerst also, m. g. F., laßt uns die Ermunterung recht zu Herzen nehmen und recht zu verstehen suchen, die der Apostel uns hier giebt, indem er sagt „wer kann euch schaden, so ihr dem Guten nachkommt? denn ob ihr auch um der Gerechtigkeit willen leidet, so seid ihr doch selig“. Ich bemerke zuerst, m. g. F., daß gewiß gar manchen Khristen auch dieses daß ich so sage nicht khristlich genug vorkommen wird, und ihnen scheinen, als sei es auf eine solche Weise geredet, wie auch ein | weiser und guter Mann und Lehrer, dem aber das Eigenthümliche des Khristenthums fremd wäre, sich selbst und andre Menschen ermahnen könnte, dem Guten treu zu bleiben, und alles dasjenige zu vermeiden, wovon der Apostel den Khristen abreden will. Denn es ist hier von dem Erlöser der Welt und von unserm Verhältniß zu ihm nicht die Rede, sondern es wird nur einander gegenüber gestellt das geistige Gut auf der einen Seite, wovon uns kein Schaden geschehen kann, wenn wir selbst dem Guten nachkommen, und das irdische auf der andern Seite, dessen Gewinn und Verlust, je nachdem der Mensch | es fürchten oder hoffen kann, sicher sein Verhalten gegen andre bestimmt; und die geistige Seligkeit, die nicht gemindert wird, wenn der Mensch auch leidet, so lange es nur um der Gerechtigkeit willen geschieht, der irdischen Zufriedenheit und Glükseligkeit, wobei es dem Menschen viel mehr auf den Genuß selbst ankommt, als auf den Grund, woraus er hervorgeht. So könnte man sagen, das hätte jeder Weise des heidnischen Alterthums auch sagen

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können „was kann euch schaden, so ihr dem Guten nachkommt? und wenn ihr um der Gerechtigkeit willen auch leidet, so seid ihr doch selig“; das eigenthümlich Khristliche darin aber das werde in diesen Worten vermißt. Laßt | uns bedenken, m. g. F., daß wenn zwei dasselbige sagen es nicht immer das Nämliche ist, sondern je nachdem es aus einem andern Grunde des Herzens und der Gesinnung hervorgeht auch wirklich ein Anderes ist. Denn wenn wir den Apostel fragen könnten – wie wir seine Worte auch nehmen mögen, wenn er sagt „wenn ihr dem Guten nachkommt, so kann euch niemand schaden“, ob er das Gute meint, oder ob er den Guten meint – aber wenn wir ihn fragen könnten, was denn das Gute oder wer denn der Gute wäre: so würde er uns gewiß auf die Rede des Erlösers verweisen, welcher als einer ihn anredete „guter Meister“ zu ihm sagte | „niemand ist gut denn der Einige Gott“, auf der andern Seite aber auch seinen Jüngern gar oft und viel einschärfte „wer mich siehet, der siehet den Vater“. Ist also niemand gut als Gott, sehen wir aber den Vater in Khristo: so ist er also der Gute, dem wir nachzuahmen suchen müßen; und was wir an ihm sehen und in ihm finden, das ist das Gute, dem wir nachkommen sollen. Und so ist es denn im eigentlichen Sinne khristlich geredet, was der Apostel sagt „wer kann euch schaden, so ihr dem Guten nachkommt?“ Wir sehen daraus, beiläufig zu sagen, m. g. F., wie gar leicht sich diejenigen irren können, wie wohl sie es auch meinen | mögen, und wie sehr ihnen auch die khristliche Wahrheit am Herzen liegt, welche glauben, es müße nun überall der Name des Erlösers genannt sein, es müße überall der eigenthümlichen Lehre und Wahrheit des Khristenthums namentlich Erwähnung geschehen, wenn eine Ermunterung zum Guten und Rechten, zu dem was Gott wohlgefällig ist, im ächt khristlichen Geist soll geredet sein. Denn eine solche namentliche Erwähnung finden wir hier in dieser sonst ausführlichen Vorschrift des Apostels nicht, und doch müßen wir gestehen, sie ist in der That ächt und rein khristlich, und so daß kein andrer, der mit dem Geist des Khristenthums nicht vertraut wäre, sie so wie der | Apostel verstehen und in ihrem ganzen Sinn befolgen kann. Wenn wir sie nun so verstehen, m. g. F., so wird es auch keiner großen und ausführlichen Erörterung mehr darüber bedürfen, was der Apostel meint, wenn er sagt „wer ist der euch schaden könnte, so ihr dem Guten nachkommt?“ Er meint nämlich dies damit: so lange unser Tichten und Trachten nur darauf gerichtet ist unserm Erlöser nachzuahmen, und dadurch in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm zu bleiben, mit ihm der sich das ebenfals zur Regel gemacht hatte, und von dem es gerühmt wird, daß er nicht wieder schalt als er gescholten ward, und nicht drohete als er litt, und daß er | niemandem Böses mit Bösem vergalt, sondern von Anfang seines Lebens unter den Menschen an 11–13 Vgl. Mt 19,16–17; Mk 10,17–18; Lk 18,18–19 39 Vgl. 1Petr 2,23

14–15 Joh 14,9

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bis zum Ende desselben nie etwas anderes als ihr wahres Wohl in allen seinen Handlungen und Reden, ja auch in seinen Gebeten und in den stillen Seufzern seines Herzens zu Gott, vor Augen gehabt hat und im Herzen genährt; so lange wir ihm nachahmen, wie schwer es uns auch äußerlich angesehen bekommen möge, wenn wir uns vom Bösen abwenden und zum Guten hin, wenn wir nicht Böses mit Bösem vergelten oder Schelten mit Scheltwort: so könne uns doch niemand etwas schaden; denn dem Ziele unsers irdischen Laufes kommen wir, so lange so | unser Sinn auf den Erlöser gerichtet ist, immer näher, und etwas anderes begehren wir nicht in diesem irdischen Leben zu erreichen als dies, daß wir, so weit wir es vermögen, dasjenige was wir hinter uns haben vergessen, und uns immer mehr streken nach dem was vor uns liegt, wenn wir auch gleich wissen, daß wir das Ziel der khristlichen Gottseligkeit, nämlich daß wir gleich sein sollen dem vollkommnen männlichen Alter Khristi, jeder für sich allein betrachtet niemals erreichen. – Und eben so leicht und sicher verstehen wir denn auch das, was der Apostel sagt „und ob ihr auch leidet um der | Gerechtigkeit willen, so seid ihr doch selig.“ Denn so wie, m. g. F., alle Unseligkeit darin besteht, daß die Menschen, wie der Apostel Paulus sagt, ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen – darin also, daß sie auch mit dem Bewußtsein Gottes nicht auf eine freudige Weise ihr eigenes Gefühl von sich selbst und das Zeugniß, welches sie sich selbst geben müßen, zu vereinigen im Stande sind, sondern wenn sie Gottes in Freude und Lust gedenken wollen am meisten suchen müßen sich selbst zu vergessen, und wenn sie ihrer selbst froh sein wollen wie sie sind alsdann ihr Auge abwenden müßen | von Gott; diese Trennung unsers eigenen Bewußtseins von uns selbst und der Richtung unsers eigenen Gemüths auf Gott, das ist die Quelle aller Unseligkeit – wenn nun dies wahr ist, so ist auch gewiß, daß wer in der Gerechtigkeit lebt, das heißt in der Gerechtigkeit die vor Gott gilt, und daß wiederum, wer sich im Glauben an den Erlöser sein Verdienst durch lebendige und unausgesezte Nachahmung anzueignen sucht, wer so in der Gerechtigkeit lebt die vor Gott gilt, der ist selig, gleich viel ob er um derselben willen leide in weltlicher und irdischer Hinsicht, oder ob ihm das Leiden und die Trübsal | in der irdischen Welt erspart sei. Das Eine ist von dem Andern zu unterscheiden, insofern wir auf das irdische Wohl des Menschen sehen, in der Seligkeit aber geht das Eine dem Andern nicht vor, und eben so selig kann der sein, der um der Gerechtigkeit willen leidet, als der welcher nichts zu leiden hat um ihret willen; aber auch eben so wenig ist das Leiden ein besonderes Verdienst und eine besondere Seligkeit, daß auch der eben so selig sein kann, dem das Leiden erspart ist, als der den es trifft. Das, m. g. F., das sind die Gründe, die uns der Apostel anführt, das ist die khristliche Ermunterung, die | er in unser Herz bringt, in Beziehung auf die 11–12 Vgl. Phil 3,13

13–14 Vgl. Eph 4,13

17–19 Vgl. Röm 3,23

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Vorschriften, die er uns giebt. Und nun laßt uns auch diese noch in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung mit einander erwägen.

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II. Sie sind freilich mannichfaltig, aber wir können sie alle zusammenfassen, wenn wir uns eines Wortes erinnern, welches unser Herr und Heiland selbst einmal geredet hat, indem er sagt „das menschliche Herz ist ein troziges und verzagtes Ding“. Das sind die beiden Fehler und Ausweichungen von der natürlichen und richtigen Stimmung des Gemüths, auf die sich alles was dem Willen Gottes zuwieder läuft, seiner Quelle nach zurükführen läßt. Denn wenn das menschliche Herz so geläutert ist durch den Geist Gottes, daß aller Troz auf der einen Seite aber auch alle Verzagtheit | auf der andern aus demselben verschwunden ist: dann ist es immer in derjenigen Gleichgültigkeit, in demjenigen stillen und ruhigen Gehorsam gegen den Geist, der die wahre Seligkeit des menschlichen Lebens ausmacht, die durch nichts Äußerliches getrübt werden kann. Und so sind nun alle die einzelnen Vorschriften des Apostels theils gegen den Troz theils gegen die Verzagtheit des menschlichen Herzens gerichtet. Böses mit Bösem und Schelten mit Scheltwort vergelten, das gehört zum Troz des menschlichen Herzens. Sich fürchten vor dem Trozen der Kinder dieser Welt, das gehört zu der Verzagtheit des menschlichen Herzens. Ja sich nicht von dem Bösen wenden zu wollen, welchem der größte Theil der Menschen anhängt | und folgt, und welches sie loben, und auch gegen ihren Willen und gegen ihre Zustimmung das Gute zu suchen, das gehört ebenfals zu der Verzagtheit des menschlichen Herzens. Wenn wir also dies beides vermeiden, so haben wir allen Vorschriften des Apostels in ihrem innersten Sinne Genüge geleistet. Worauf wir auch sehen mögen in unserm Betragen gegen andre Menschen, immer wird eins von diesen beiden die geheimste und innerste Quelle desselben sein. Wenn wir nun fragen, m. g. F., woher rührt denn und worin besteht denn eigentlich dieser Troz und diese Verzagtheit, welche der Erlöser dem menschlichen Herzen Schuld giebt, und gegen welche die Vorschriften | des Apostels gerichtet sind? so müßen wir dabei auf zweierlei sehen, einmal auf das Verhältniß des Geistes zu dem Fleisch in jedem Menschen selbst, dann aber auch zweitens auf das Verhältniß eines jeden zu den übrigen, die ihm Gott zugesellt hat, mit welchen er leben soll. Wenn der Mensch da, wo in andern, mit denen er verbunden ist, und von welchen er sein Leben nicht losreißen kann, die sinnlichen Bestrebungen herrschen und regieren, nicht das Herz hat, gegen dieselben dem Geist der in ihm spricht die Herrschaft zu sichern, und der Stimme desselben zu folgen: so ist das die Verzagtheit des Herzens, | welche eben am meisten der Ermunte6–7 Jer 17,9. Schleiermacher behandelt dieses Prophetenwort in der Regel als Christusrede.

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rung bedarf: wo ist der, liebes Herz, der dir schaden könnte? und wenn du auch um der Gerechtigkeit willen, die du suchst gegen das Beispiel und gegen die Lebensweise derer, die dich umgeben, wenn du um deretwillen auch leiden solltest: so würdest du doch selig sein; wenn du aber dem Gesez des inwendigen Menschen, in welchem die Lust an dem Willen Gottes schon gegründet ist durch seine Gnade, wenn du dem nicht folgst, sondern dich fortreißen läßest von dem Strome der sinnlichen irdischen leidenschaftlichen Bewegungen, von welchem andre schon fortgerißen sind; so giebst du deine Seele hin und hörst | auf dem Guten nachzukommen, und dann ist nicht nur die Gerechtigkeit verloren, um welcher willen du leiden und immer selig sein würdest, sondern du bist auch hingegeben in die Unsicherheit, daß der eine und der andre und jeder Einzelne und noch mehr die vereinte Menge der Menschen dir schaden kann; denn sie haben dir schon geschadet, indem du um ihretwillen aufhörst dem Guten nachzukommen. Anders, m. g. F., als so läßt sich das verzagte menschliche Herz nicht ermuntern; am allermeisten aber und am kräftigsten muß es hiezu ermuntert werden, wenn wir die Worte des Apostels in ihrem tiefsten und innersten | khristlichen Sinn verstehen und auffassen. Denn eben, m. g. F., wenn wir bedenken, daß dem Guten nachkommen nichts anders heißt als dem Erlöser nachgehen, und in der lebendigen Gemeinschaft des Lebens mit ihm sein: so müßen ja wohl wir, die wir glauben, daß die Fülle der Gottheit in ihm wohnt, mit der größten Zuversicht zu uns selbst sagen: wenn Gott für dich ist, wer kann wieder dich sein? wenn der dich schüzt, welchen schauend man den Vater sieht, und der eben deswegen der Weg geworden ist, auf welchem wir aus jenem Zustande, in welchem alle Menschen des Ruhmes ermangeln, den sie vor | Gott haben sollten, uns losmachen können: so ist ja dann Gott für uns, weil es sein Wille ist, den wir zu erfüllen suchen, und weil es die Gewalt der Liebe zu ihm ist, die uns auf diesen Weg zieht. Wer kann aber wohl wieder den sein oder dem schaden, welcher auf eine so offenbare Weise Gott für sich hat? Der Erlöser aber, m. g. F., der war auf das bestimmteste und vollkommenste entfernt von allen Fehlern der Verzagtheit des menschlichen Herzens; niemals hat er sich vor dem Troz seiner Feinde in der Förderung der guten und göttlichen Sache, um deret willen er erschienen war, gefürchtet, niemals | hat er sich einschreken laßen, deswegen nicht zu lehren was er für wahr und gut hielt, deswegen nicht zu tadeln was ihm als Verunstaltung des göttlichen Gesezes erschien, und sich nicht zu erklären gegen eine jede unrechtmäßige Gewalt, welche einzelne Menschen über die Gemüther ihrer Brüder gegen den Sinn des göttlichen Wortes ausüben wollten; und darauf hat er unter allen Um12 und der andre] und andre ; Ergänzung aus SAr 102, S. 137 21–22 Vgl. Kol 2,9 Röm 3,23

23 Vgl. Röm 8,31

24 Vgl. Joh 14,9

25–26 Vgl.

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ständen fest gestanden, und auch die Gewißheit der Verfolgung und die Nähe des Todes hat ihn davon nicht zurükgehalten. Wenn wir aber nun fragen, m. g. F., worauf denn wohl diese unerschütterliche Festigkeit unsers Herrn | in der Erfüllung seines Berufs gegründet war: so kommen wir freilich wieder darauf zurük, daß sie auf dem Bewußtsein ruhte, welches er von sich selbst hatte, daß es der Vater war, dessen Worte er verkündigte, und daß dasjenige, was sein Herz ihm sagte, ihm der gleichsam offenbart hatte, daß es die Werke des Vaters selbst waren, die er sah, und welche er den Seinen verkündigte, und daß er der Sohn des lebendigen Gottes war, eben deswegen weil er das ewige Wort desselben zugleich war und lebendig in sich trug; das war das Bewußtsein, kraft dessen er auf dem Wege, der ihm vorgezeichnet war, niemals wanken konnte. Und auch unsre Festigkeit, m. g. F., auch unser Wiederstand gegen die | verzagte Seite des menschlichen Herzens wird niemals sicher sein und fest, als wenn sie auf demselben Grunde ruht. Dazu aber ja sind wir mit ihm Eins geworden, dazu nennt er uns nicht nur seine Brüder, sondern er gewährt uns, daß wir uns Glieder seines Leibes nennen, wie er denn selbst gesagt hat, seine Jünger wären die Reben an ihm dem Weinstok, daß eben jenes kräftige herrliche göttliche Bewußtsein von ihm in uns übergehen soll, daß in dem Maaße als wir ihn lieben und ihm anhängen, wir auch die Fülle der Gottheit und die Kraft und den Beistand seines Geistes in uns wohnen fühlen, und eben so wie er es von dem Vater für uns begehrt hat, durch ihn mit dem Vater Eins | sein sollen, wie er mit ihm Eins war. Wer diesen rechten Glauben an den Erlöser hat, und auf eine solche Weise mit ihm verbunden ist, der kann auch nicht anders als nur dem Guten nachkommen, von dem muß jemehr jener in ihm wächst desto mehr auch alle Verzagtheit des menschlichen Herzens fliehen. Aber eben so, m. g. F., war der Herr auch fern von allen Fehlern, die aus dem Troz des menschlichen Herzens hervorgehen, wie er von sich selbst sagt, er sei sanftmüthig und von Herzen demüthig, und nur mit der Stimme der milden und barmherzigen Liebe die Menschen zu sich einlud, daß sie sich sollten von ihm erquiken | laßen und Ruhe bei ihm finden für ihre Seelen. Das, m. g. F., das ist am weitesten entfernt von allem Troz; denn der Troz ist die Stimmung des Menschen, durch Hülfe der Gewalt überall sein Eigen zu suchen; der Erlöser aber, wiewohl ihm alle Gewalt verliehen war im Himmel und auf Erden, wiewohl er selbst sagt, wenn er seinen Vater bitten wollte, so würde er ihm Legionen von Engeln senden zu seinem Dienst, er hat nie diese Gewalt gebraucht um seinen eigenen Vortheil zu 22 hat] Ergänzung aus SAr 102, S. 141 6 Vgl. Joh 14,10.24 8–9 Vgl. Joh 5,20 Joh 17,20–21 29–32 Vgl. Mt 11,28–29 Mt 26,53

17–18 Vgl. Joh 15,5 34–35 Vgl. Mt 28,18

21–23 Vgl. 35–37 Vgl.

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suchen, und das Leiden um der Gerechtigkeit willen, welches ihm beschieden war, von sich abzuwenden; ja des Menschen Sohn, so sagt er, ist nicht gekommen, | daß er sich dienen lasse und herrsche über die Seelen der Menschen, sondern daß er diene mit seinen Gaben, und suche was verloren ist. Wie könnten denn wir wohl dem Troz des menschlichen Herzens Raum geben, wenn wir mit einem solchen Erlöser auf eine wahre und lebendige Weise verbunden sind? Er war es auch nicht der Jesus von Nazareth als Mensch, der das ausrichten konnte, wozu er in die Welt gesandt war, sondern es war die Kraft und die Fülle der Gottheit in ihm; und so, m. g. F., ist es auch kein Einzelner von uns, der durch sich selbst etwas ausrichten könnte von dem, was der Endzwek | Gottes mit dem menschlichen Geschlecht ist, sondern es ist immer nur die Kraft und die Fülle der Gottheit, die als der Geist Gottes in der khristlichen Kirche ausgegossen ist, und fest in ihr gegründet sie beseelt und regiert. Denn kann wohl jeder Einzelne und muß von sich sagen, daß er selbst wenig ist und überflüssig, und daß der Herr sich immer statt seiner ein anderes Werkzeug bereiten kann: wie sollte er jemals dazu kommen, daß er seinen Dienst an dem Werke des Herrn auf die Rechnung sezen, daß er sein eigenes Dasein, sein eigenes vergängliches Wesen und Thun, seine eigene sinnliche Kraft sollte | schäzen wollen? Der Geist Gottes ruht doch nicht, wenn auch der eine oder der andre entweder ganz von dem Schauplaz dieser Welt hinweggenommen wird, oder ihm sein Wirkungskreis auf alle Weise abgeschnitten; sondern er ruft nur desto kräftiger andre Werkzeuge hervor, und nimmer wird die Kraft, die das Gute und Gottgefällige in der khristlichen Kirche wirkt, vertilgt werden, eben weil sie die göttliche Kraft ist. So darf also jeder sich selbst gering achten, jeder mit sich selbst und mit seinem ganzen Dasein dienen wollen, und keiner hat nöthig irgend jemals etwas Gewaltthätiges etwas | Leidenschaftliches und Unwürdiges zu thun zu seiner Rettung und zu seinem Handeln, sondern er kann das alles der Weisheit und der Macht Gottes anheimstellen, und soll nur dafür sorgen, daß er überall, wohin Gott ihn gestellt hat, dem Guten nachkommen möge aus allen Kräften. Das, m. g. F., das sind die Vorschriften, durch welche der Apostel uns überall in der Welt und in unserm Betragen gegen unsre Mitmenschen den Weg zeigt, den wir zu wandeln haben, und uns in der gleichmüthigen Stimmung des Gemüths zu erhalten sucht, worin wir gleich weit entfernt sind von | dem Troz und von der Verzagtheit, welche immer nur bezeugen, daß das menschliche Herz noch nicht beruhigt und geführt ist durch den Geist Gottes. So laßt uns denn darüber fest halten und das zu unserm Wahlspruch machen für unser ganzes Leben, daß niemand uns schaden kann, wenn wir 22 alle] Ergänzung aus SAr 102, S. 143 2–4 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

4–5 Vgl. Lk 19,10

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dem Guten nachkommen, und daß wenn wir auch um der Gerechtigkeit willen leiden wir doch selig sind: dann werden wir uns niemals fürchten vor dem Trozen der Kinder dieser Welt, aber auch nie verleitet sein Böses mit Bösem oder Schelten mit Scheltwort zu vergelten, da|mit Gutes herauskomme, sondern uns immer halten auf dem milden und allein seligmachenden Wege, auf welchem wir zu suchen haben das Böse zu überwinden durch das Gute. Amen.

6–7 Vgl. Röm 12,21

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Am 14. Juli 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,20–26 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 83, Bl. 82r–107v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 145–176; Andrae Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender „Predigt über Evangelium“

Predigt am sechsten Sonntage nach Trinitatis 1822 am vierzehnten Heumonds. |

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Tex t. Matthäi V, 20–26. Denn ich sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist, du sollst nicht tödten; wer aber tödtet der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnet der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt Rache, der ist des Raths schuldig; wer aber sagt „du Narr“, der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst, und wirst allda eindenken, daß dein Bruder etwas wieder dich habe: so laß allda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin und | versöhne dich mit deinem Bruder, und als dann komm und opfere deine Gabe. Sei willfertig deinem Wiedersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf daß dich der Wiedersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir, wahrlich du wirst nicht von dannen herauskommen bis du auch den lezten Heller bezahlest. M. a. F. Diese Worte sind aus der Bergrede unsers Erlösers, welche wir als einen der ersten seiner öffentlichen vor einer großen Menge Volks gehaltenen Vorträge ansehen können, wo er von dem ganzen Umfang seiner Lehre in einzelnen wich|tigen und bedeutenden Zügen Rechenschaft giebt, und 6 daß zu den Alten gesagt ist,] Ergänzung aus SAr 102, S. 146 und der Richter überantworte] Ergänzung aus SAr 102, S. 146

16–17 dem Richter,

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dasjenige bemerklich macht, wodurch sie sich von der bisherigen unterscheidet. Diese Auseinandersezungen über das, was bis dahin für recht und genügend gehalten war, eröffnet der Erlöser mit den Worten, die wir eben gelesen haben; und wir sehen also, wie er von Anfang an sein Werk der Belehrung, woraus doch alle Beseligung durch seine Erscheinung hervorgehen mußte, damit beginnt, daß er den Menschen etwas Größeres und Höheres vorhält als dasjenige was sie bisher gekannt hatten. Denn die Auslegungen der Schriftgelehrten und Pharisäer über das Gesez und die Propheten waren | in der That das Beste und Richtigste, was in der damaligen Zeit den Menschen zum Leitfaden für ihr Leben dienen konnte. Der Apostel Paulus, welcher selbst zur Schule der Pharisäer gehört hatte, rühmt sie, auch nachdem er zum Khristenthum übergetreten war, daß sie gewesen sei die reinste und genauste in Beziehung auf das dem Volke gegebne Gesez. Nicht also mit etwas Geringerm, worüber schon der eigene Verstand und das eigene Gefühl des Menschen hinweg wäre, sondern mit dem Geachtetsten und Besten der damaligen Zeit vergleicht der Herr seine Lehre und die Foderungen, welche er an diejenigen macht, die seine Jünger | sein wollten, indem er ihnen sagt: wenn eure Gerechtigkeit nicht besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen. Hirüber, m. a. F., wie der Erlöser in Beziehung auf alles, wodurch sich die Kraft des Geistes in dem Leben der Menschen beweisen sollte, den Seinigen etwas weit Höheres und Reineres zum Vorbild und Gesez stellt, als was vorher den Menschen bekannt gewesen war, darüber laßt uns jezt nach Anleitung unsers Evangeliums mit einander reden. Wir werden aber wohl thun, wenn wir zuerst das einzelne Beispiel, welches in den Worten unsers Textes enthalten ist, näher betrachten, nächst dem aber | zu dem Allgemeinen in der Art und Weise der Lehre und der Foderungen des Erlösers zurükgehen. I. Was nun das Erste betrifft, so fängt der Erlöser die ganze Reihe seiner Auseinandersezungen über das Gesez und über die menschlichen Auslegungen und Anwendungen desselben mit dem Gebot an „du sollst nicht tödten“, welches die natürliche Heiligkeit ausdrükt, die das Leben des Menschen für einen jeden Menschen haben muß; weswegen auch, sobald es nur irgend Bande der Geselligkeit und der Ordnung unter den Menschen giebt, eben diese Heiligkeit durch das Gesez ausgesprochen und Gerichte | niedergesezt werden, um die Verlezungen, die der Mensch dem Menschen anthut, und die gegen sein Leben gehen, zu ahnen und eben dadurch zu verhindern. So war das alte Gesez des Volkes auf die natürliche Stimme des 10–14 Vgl. Apg 26,5

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menschlichen Gefühls gegründet worden: wer Menschen Blut vergießt, deß Blut soll auch durch Menschen gefodert werden. Das war es was der Herr anführt, indem er sagt „ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist, du sollst nicht tödten; wer aber tödtet, der ist des Gerichts schuldig“, schuldig sich dem Spruche desselben, zu unterwerfen und zu fügen. Das Gericht aber konnte nicht anders als nach jenem allgemeinen zum | Grunde liegenden Gefühl sprechen. Nach demselbigen nun waren auch unter dem jüdischen Volk festgestellt die Ahnungen für alle geringere aber ähnliche Verlezungen, die ein Mensch dem andern zufügen möchte „Schade um Schaden, Auge um Auge, Zahn um Zahn“; was der Mensch seinem Bruder genommen das soll ihm wieder entzogen werden, um sein Gefühl für den Verlust aller menschlichen Güter und seine Werthschäzung derselben zu schärfen, und demjenigen Genugthuung zu geben, der durch die Missethat seines Bruders gelitten. Alles dieses aber erklärt nun der Erlöser für unzulänglich, und fügt diesem Gesez andre als Be|richtigung hinzu, die freilich die Sache tiefer ergreifen, und also eine weit größere Genauigkeit des sittlichen Werthes in dieser Beziehung dem Menschen vorhalten sollen, indem er sagt: nicht allein derjenige der seinen Bruder tödtet, ist des Gerichts schuldig, sondern auch der welcher seinem Bruder zürnt, ist des Gerichts schuldig, und derjenige der sich herabwürdigende Reden gegen seinen Bruder erlaubt, derjenige der das Heilige und Göttliche in seiner Person schmäht und gering achtet, der ist schuldig sich zu unterwerfen den Ermahnungen, den Belehrungen, ja dem entscheidenden Spruche des Rathes und der Ältesten der Gemeinde. | So, m. g. F., stellt der Erlöser auch in Beziehung auf die äußern Handlungen einen ganz andern und höheren Maaßstab auf als derjenige war, nach welchem sie zu seiner Zeit gerichtet und von den Weisen ihrer Zeit gelehrt wurden sich zu richten. Denn was kein Schade war, für welchen es einen unmittelbaren und gleichgeltenden Ersaz gab, was der Natur der Sache nach nicht dem einen eben so gut genommen werden konnte, als er es selbst seinem Bruder genommen hatte, das konnte auch nach jenem Geseze nicht gerächt werden, und blieb ohne Ahnung; und so erschien denn derjenige vorwurfsfrei und tadellos nach einem | Gesez, welches doch für das göttliche gehalten wurde, der nur seinen feindseligen und heftigen Leidenschaften einen solchen äußern Ausbruch versagte, und diesen so weit im Zaum hielt, daß er nicht unter eine nach jenem Maaßstab festgestellte Ahnung des Gesezes kommen konnte. Der Erlöser aber sagt, jeder Ausbruch zorniger und heftiger Leidenschaften ist insofern gleichen Werths; ja denjenigen dessen Zorn gegen seinen Bruder auf irgend eine Weise sichtbar wird, stellt er ganz auf die gleiche Linie mit demjenigen, der seinem Bruder das Leben genommen. Und in der That auch, wenn wir nur sehen 1–2 Gen 9,6

9–10 Lev 24,20

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auf | den Zusammenhang der innern Gesinnung und der Bewegungen des Gemüths mit dem äußern Thun des Menschen, ohne den Werth jener Gesinnung und jener Bewegungen für sich zu betrachten, müssen wir es wohl fühlen und gestehen, daß der Erlöser Recht hat. Hat einmal eine heftige und feindselige Bewegung des Gemüths aufgehört etwas blos Inneres zu sein, ist der Zorn hervorgebrochen und hat sich irgend wie zu erkennen gegeben: so sind auch die Gränzen überschritten, innerhalb welcher der Mensch für sich stehen und gutsagen kann. Nur wenn er die Bewegungen seines Gemüths im | Innern zurükhält, nur dann kann man sagen daß er Herr derselben ist; so wie sie heraustreten werden sie durch jeden Wiederstand geschärft, der ihnen entgegentritt, und es ist dann weit mehr das Werk des begünstigenden oder ungünstigen Zufals, der Art wie die äußern Verhältnisse sich gestalten, nach denen jede Leidenschaft, wenn sie einmal hervorgebrochen ist, ihr Ziel finden wird. Darum sagt der Erlöser: wer seinem Bruder zürnt, und seinen Zorn zu erkennen giebt, der ist eben so des Gerichts schuldig, als wer seinen Bruder tödtet, denn er ist auch in Beziehung | auf die menschliche Gesellschaft ganz jenem gleich zu achten, weil es nicht mehr sein Verdienst sein kann, wenn auch der heftigste und gefährlichste Ausbruch seiner Leidenschaften unterbleibt. – Aber weiter sagt der Erlöser: wer seinen Bruder schmäht mit herabwürdigenden Worten, wer den einen Thoren schilt und Unfähigen, der eben so gut wie er das göttliche Gesez und alle Erleuchtung desselben empfangen hat, der ist des Rathes schuldig; ja er ist schuldig, wenn er den Rath seiner Brüder nicht hört, aus der Gemeinschaft derselben hinausgestoßen zu werden – denn das ist der Sinn dieser Stelle in unserm Text. Das alles waren | solche Ausbrüche feindseliger Leidenschaften, für welche es in dem äußern Gesez des Volkes keine Ahnung gab; wie wir denn das auch alle fühlen und wohl wissen, daß jede Genugthuung, die für Verachtung und Beschimpfung äußere Geseze mit ihren Ahnungen geben können, nie das verlezte Gefühl befriedigt, daß dies ein Gebiet ist, wohin das äußere Gesez nicht reicht. Der Erlöser aber verlangt von den Seinigen, auch so weit sich in ihrer Gewalt zu haben, auch das was den Bruder kränkt und verlezt sich zu versagen, wofern es in der Ordnung und in dem Recht, welches die | menschliche Gesellschaft zusammenhält, entweder gar keine oder doch keine der Sache angemeßne und entsprechende Ahnung geben kann; und so will er also unter den Seinigen eine Sitte und eine Ordnung aufrichten, die schärfer und strenger alle Gefühle der Menschen in ihrem gemeinsamen Leben betrachten und ahnen soll, als es das äußere Gesez vermag; und nur derjenige soll zur Gemeinschaft der Seinigen gehören können, der sich diesem Gerichte des Allgemeinen fügt, der sich dem Ausspruch der öffentlichen Meinung, die durch das Wort Gottes geleitet wird, fügen und unterwerfen will. – Aber nicht nur für das Äu|ßere stellt der Erlöser einen so viel richtigern und zartern Maaß-

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stab auf, sondern wir sehen schon an dem was wir bis jezt betrachtet haben, und noch mehr an dem was folgt in den Worten unsers Textes, wie sehr er alles Äußere auf das Innre zurükführt. Dies that er gleich in den Worten als er sagte „nicht nur wer seinen Bruder tödtet, sondern auch wer seinem Bruder zürnt, ist des Gerichts schuldig“; noch mehr aber wenn er sagt „wenn du also zum Altar gehen willst, und deine Gabe allda opfern, und wirst eingedenk, daß dein Bruder etwas wieder dich habe; so laß allda deine Gabe zurük, und kehre erst um und versöhne | dich mit deinem Bruder, und alsdann komm und opfre deine Gabe wohlgefällig dem Herrn“. Laßt es uns wohl bemerken, m. g. F., nicht sagt der Erlöser: „wenn du eingedenk wirst, indem du deine Gabe opfern willst, daß du etwas wieder deinen Bruder habest“, nicht nur die feindseligen Bewegungen des Gemüths in unsrer eigenen Seele, als worüber er schon im Vorigen genugsam glaubt sich ausgesprochen zu haben, sondern wenn du eingedenk wirst, daß dein Bruder etwas wieder dich habe, so laß deine Gabe auf dem Altar, und erst wenn du dich mit ihm versöhnt hast kann | dein Opfer Gott angenehm sein; auch das die Liebe Störende und Hemmende, auch das Kalte Gleichgültige und Feindselige in der Seele deines Bruders soll dir keine Ruhe lassen, wenn du im Begriff bist deine Gabe dem Herrn darzubringen, sondern es soll dich in dir selbst treiben hinzugehen und dich mit ihm zu versöhnen, und dann erst kannst du dich würdig halten deine Gabe zu opfern. Hier, m. g. F., hier sehen wir das Unerschöpfliche und Tiefe und den Reichthum in der Weisheit des Erlösers. Wer selbst, sagt er, feindselige Bewegungen in seinem Gemüthe duldet gegen seinen Bruder, der ist eben so des Gerichts schuldig, als hätte er ihm das Leben schon genommen; aber | auch feindselige Bewegungen in dem Gemüthe andrer gegen uns sollen uns nicht gleichgültig bleiben, sondern wir sollen sie ansehen wie unsre eigene Schuld und Sünde, und sie erst zu tilgen suchen, ehe wir dem Herrn unsre Gabe opfern. Das ist die Meinung des Erlösers. Der lebendig in der Seele aufgegangene Gedanke an Gott, der den Menschen hintreibt zu höheren und heiligen Gefühlen, wie sie jedes Volk und jede Glaubensweise mit sich bringen mag, und wie sie auch unter dem Volke, welchem der Erlöser angehörte, herrschend waren, dieser lebendige das Gemüth bewegende Gedanke an Gott, der soll ihm alles vergegenwärtigen, was nur irgend in sein | Bewußtsein auch von dem Gemüthszustand seiner Brüder, so weit er sich auf ihn bezieht, hineinkommt, und soll sich ihm vergegenwärtigen, damit er alles ausgleiche, was das brüderliche Verhältniß stört, in welchem alle diejenigen unter einander stehen sollen, die Einen Gott und Vater anrufen, die Einem und demselben Gesez gefolgt sind von ihm ins Herz geschrieben, und denen er allen bereit ist seinen Geist zu geben und 31 jede] Ergänzung aus SAr 102, S. 157

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über sie auszugießen. Wer, sagt er, die Seele erfüllt haben kann von diesem Gedanken an den ewigen Vater im Himmel, so erfüllt, daß er Handlungen verrichtet, die nur unter der Voraussezung | des lebendigen Gedankens und Gefühls von Gott überhaupt einen Sinn und eine Bedeutung haben, o der muß auch den lebendigen Wunsch nicht nur nähren, sondern es sich auch als Aufgabe sezen, die er erst lösen muß, ehe er dem Herrn seine Gabe darzubringen wagt, alles auszugleichen, was die Menschen, die in treuer Liebe verbunden sein sollen von einander trennt. Nicht soll er bei sich selbst sagen: was mein Bruder wieder mich hat, das beruht auf einem Mißverständniß, welches er selbst verschuldet hat, auf einem Ärgerniß, welches nicht ich ihm aufgeregt, sondern er sich genommen hat, es ist sein Fehler und | seine Schuld und nicht die meinige, so mag er auch zusehen, wie er es wieder losbringt von seiner Seele – so, sagt der Erlöser, soll der welcher zu den Seinigen gehört nicht denken, sondern alle Schuld für eine gemeinsame halten, und die Tilgung derselben für eine gemeinsame Aufgabe; und eben so wie er nicht kann dem Herrn seine Gabe opfern, ehe er mit ihm gleichsam Richtigkeit gemacht hat über seine eigenen Fehler und Schulden, so soll er auch nicht eher zum Altar des Herrn treten, bis er allen Fleiß angewendet hat, so weit nur seine Kräfte reichen, das Gemüth seines Bruders von jedem Schaden, und besonders von jedem die Liebe beschränkenden und alle ihre | Bestrebungen hemmenden und zerstörenden Schaden, zu heilen. – Das, m. g. F., das ist das einzelne Beispiel von der Weisheit und Reinheit göttlicher Lehre unsers Herrn, welches in den Worten unsers Textes enthalten ist. II. Nun aber laßt uns zweitens zu der allgemeinen Betrachtung zurükkehren, die damit so genau zusammenhängt, indem wir eben den Grundsaz, den der Herr hier ausspricht, auf alle Verhältniße des menschlichen Lebens anwenden. – Wir sehen also, wie hier so auch überall[,] damit fing er das Werk der Erlösung, so weit es von der Lehre abhing, die er den Menschen vortrug, damit | fing er es an, daß er ihnen ein höheres Bild der Vollkommenheit vorhielt als das, in welchem sie bisher sich zu beschauen gewohnt waren. Und wohl, m. g. F., müssen wir es erkennen und fühlen, daß dies das Erste und Wichtigste in seinem Beruf auf Erden war, ohne welches alles andre uns nicht hätte frommen mögen. Wie Gott von Anbeginn den Menschen dazu geschaffen hat, daß sein Auge nicht wie das der andern Geschöpfe der Erde zugewendet sei, sondern seine Gestallt emporgerichtet und sein Auge dem Lichte und der Schönheit und der Unendlichkeit des Himmels sich zuwende: so, m. g. F., ist es auch mit dem | Auge des Geistes; der Mensch ist und bleibt fern von der Seligkeit, wenn es immer der Erde zugewendet bleibt; wenn er sich immer begnügt mit dem Niedern, dann gefällt

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er auch sich selbst, wie er an der Erde klebt und von ihren Gaben dürftig zehrt; aber das höhere Leben, welches erst dann entstehen kann, wenn die Sehnsucht nach dem Himmlischen in dem Menschen erwacht, das bleibt ihm fern. Woher aber hätte der Mensch dieses höhere Bild der Vollkommenheit nehmen sollen, wenn nicht der eingeborne Sohn des Vaters wäre Fleisch geworden und hätte unter uns gewandelt? Denn, m. g. F., wie damals so überall zeigt sich uns, daß der Mensch im Ganzen niemals weiser ist, noch ein höheres Bild des | Rechten und Guten in sich trägt als dasjenige, welches sich in der gemeinsamen Sitte und Ordnung und in den gemeinsamen Gesezen der menschlichen Gesellschaft ausspricht. Das richtig zu empfinden und zu würdigen was diese für gut erklärt, sich vor dem zu scheuen und davon sich zurükzuziehen, was diese verdammt: auf diesen Umfang ist das Gewissen, das sittliche und rechtliche Gefühl der meisten Menschen beschränkt; immer sind es nur von Zeit zu Zeit wenige Einzelne, denen der Herr das Auge des Geistes schärft, und gleichsam den innern Pulsschlag des geistigen Herzens besser erregt, welche dann | die Unvollkommenheit in menschlicher Sitte und in menschlichen Gesezen entdeken, und hie und da etwas Weniges daran zu bessern im Stande sind. Aber was aus einem so unvollkommnen Grunde hervorgeht, was so wenig sich nur über das schon Vorhandne erhebt, das kann auch selten sich und so erhalten, sondern indem auch die Menschen den bessern Sinn in sich aufnehmen und ihm Raum geben, wird doch derjenige, welcher auf der einen Seite über ihnen stand, wohl befugt und von Gott dazu ausgerüstet sie zu leiten, auf der andern Seite wieder zu ihnen herabgezogen, und was übrig bleibt ist nur dasjenige, was | in der Mitte liegt zwischen dem was lange geherrscht hat, und zwischen dem was die einzelnen Bessern wirklich erkennen und in seiner Tiefe aussprechen. Wie langsam, wie in beständigem Wechsel des Fortschreitens und der Rükfälle wäre also das geistige Leben der Menschen geblieben, wenn nicht der Sohn Gottes gekommen wäre, und das wahre Urbild der Vollkommenheit uns aufgestellt hätte, er der eben deswegen, weil er uns zwar in allem gleich war aber doch ohne Sünde, nicht herabgezogen werden konnte zu den übrigen Söhnen der Erde, er über den alles, was vor ihm und neben | ihm bestand, keine Gewalt hatte, sondern der erhaben war über jede menschliche Weisheit und über jedes Licht, welches auf Erden geschienen hatte als Offenbarung Gottes früherer Zeiten gegeben und ihnen angemessen, um die Menschen zusammenzuhalten unter dem Gesez und auch unter der Sünde, bis die Zeit, in der er es beschlossen hatte, gekommen war. Wenn also der Erlöser seine ganze Lehre darauf richtet, auf der einen Seite den Menschen einen höheren Maaßstab der Gottseligkeit und der Vollkommenheit darzulegen, und ihnen 20 sich] Hier fehlt offenbar ein Satzteil. 5–6 Vgl. Joh 1,14

36–38 Vgl. Gal 3,23

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vorzuhalten wie derjenige müsse | beschaffen sein, der sich würdig glauben könne in einer Gemeinschaft des Herzens mit Gott zu stehen, und wohlgefällige Gaben eines geistig erfüllten und lebendigen Gottesdienstes auf seinem Altar zu opfern; wenn er eben deswegen alles auf jedem einzelnen Gebiet des Lebens nur auf dieses als von dem Äußern auf das Innre zurükzuführen sucht, und alle Bewegungen des menschlichen Gemüths der einen, der Liebe zu Gott und der lebendigen Verehrung Gottes, unterzuordnen: so mögen wir auch ganz allgemein von einem jeden Theil seiner Lehre sagen, was er selbst in den ersten Worten unsers Textes | auch in der größten Allgemeinheit ausspricht: so nicht eure Gerechtigkeit besser ist als die der Schriftgelehrten und Pharisäer, so ihr nicht Foderungen an euch selbst macht, die strenger sind, tiefer und größer als alle diejenigen, welche die Weisen andrer Zeiten und früherer Geschlechter auch aufgestellt haben: so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen, das heißt also, m. g. F., ohne dieses reine Urbild der Vollkommenheit, welches uns der Sohn Gottes aufgestellt hat, ohne daß wir diesem mit unserm ganzen Herzen und Gemüthe huldigen, und es für die einzig gültige Regel | unsers Lebens ansehen, ohne das giebt es für uns kein Himmelreich. Der Mensch, m. th. F., ist von Natur der göttlichen Ordnung gemäß ein geselliges Wesen, er kann nicht leben und bestehen als nur in der Verbindung mit denen seines Gleichen; und so wird denn sein Leben beschüzt und gehalten durch mannichfaltige Bande der Ordnung und durch gemeinschaftliche Bestimmungen über die Einrichtung des Lebens; so werden seine Verhältnisse geordnet, daß so viel es möglich ist jeder für sich frei sich bewegen könne, aber doch die Bewegungen aller zusammenstimmen zu Einem Ziel ge|meinsamen Wohls. Das sind die Verbindungen der Menschen auf der Erde, das ist das Reich der Ordnung und der Geseze, das hat immer bestanden und würde auch immer bestanden haben, wenn auch der Erlöser nicht gekommen wäre; und je mehr die Menschen ihren ganzen Beruf auf Erden hätten kennen gelernt, je mehr sie sich erhoben hätten über jene engherzigen Schranken, denen auch noch das Volk, zu welchem der Erlöser gehörte, untergeordnet war, nämlich nur den der von gleichem Stamme war für den Bruder und Nächsten zu halten, jeden andern aber | je fremder und entfernter er war als Feind zu achten, den es erlaubt sei zu hassen, je mehr über diese engherzigen Schranken die Menschen sich wieder erhoben hätten, welches nothwendig geschehen mußte, wenn sie die menschliche Natur unter allen ihren verschiedenen Gestaltungen bei immer weiterer Verbreitung ihrer Kenntniß von der Erde überall erkannt hätten und sich zu ihr hingezogen gefühlt, um so mehr würden sich auch die Geseze der äußern Ordnung geläutert haben und vervollkommnet, um | desto mannichfaltigere Anstrengungen würden die Menschen darauf verwendet haben diese zu bewahren. Aber wie herrlich das auch wäre; das alles ist das Himmelreich nicht, das alles

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bezieht sich doch nur auf den Beruf des Menschen, die Erde zu beherrschen und nach dem Willen des Herrn über sie zu gebieten; aber der höhere Beruf, das Gesez Gottes in sich zu erhalten und zu befestigen, es immer herrlicher und reiner in sich darzustellen, wie es nur dargestellt werden kann, wenn der Mensch der Gesinnung voll ist „Gott ist die Liebe“, dieser höhere Beruf, dessen gemeinsame | Erfüllung allein das Himmelreich ausmacht, diesen hätten die Menschen nicht gefunden, wenn sie nicht geschaut hätten die Lebendigkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, wenn sie nicht in dem geschaut hätten das Ebenbild des göttlichen Wesens und den Abglanz seiner Herrlichkeit; immer wäre ihr geistiges Auge wieder herabgezogen worden zur Erde und an ihrem irdischen Beruf haften geblieben; und die heilige Liebe eines jeden zu sich selbst und eines jeden zu seinen Brüdern, die hätten sie nicht gefunden, wenn schon sich auch jene irdische Liebe von einem | Geschlecht zu dem andern immer mehr verklärt hätte. O, m. g. F., das müssen wir wohl fühlen, wenn wir nur uns selbst fragen und uns Rechenschaft darüber geben, wie es uns allen dem einen mehr dem andern weniger noch immer begegnet, herabgezogen zu werden von den Bestrebungen, die dem Himmelreich gehören, und uns zu begnügen mit denen, die sich auf die irdischen Verhältnisse der Menschen beziehen. Haben wir einmal die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater geschaut, haben wir einmal das neue Gebot vernommen, welches er uns gegeben hat, | daß wir uns unter einander lieben sollen, wie er uns geliebt hat, mit der erlösenden, mit der befreienden, mit der zum Himmel führenden und beseligenden Liebe: dann ist das Himmelreich in unsrer Seele gestiftet und begründet. Aber wenn wir uns nun fragen: wie treu streben wir denn dem Urbild der Vollkommenheit nach, das uns der Sohn Gottes gelaßen hat? wie genau treten wir dann in die Fußtapfen seines heiligen Lebens und Wandels? o dann müssen wir gestehen, unser eigenes Gewissen durch ihn erleuchtet und erhöht, unser | Gefühl für das, was löblich ist und wohlgefällig vor Gott und vor den Menschen, die den Namen des Herrn preisen und verkündigen, das wird immer geschwächt und zu einem geringern Maaßstab herabgezogen eben durch dies, weil die Menschen an den Verhältnissen ihres irdischen geselligen Lebens sich begnügen; und da entstehen denn in dem thörigten trozigen und verzagten menschlichen Herzen die Gedanken, die einander verklagen und entschuldigen. Wenn das tiefste Gefühl des Menschen ihm Unrecht geben will, daß er gesündigt habe vor seinem Vater im Himmel und abgewichen sei von dem Wege, den ihm sein Herr und Meister vorgezeichnet hat, o dann sagt ihm eine gefährliche und verderbliche 32 den] Ergänzung aus SAr 102, S. 169 1–2 Vgl. Gen 1,28 5 1Joh 4,8.16 21–22 Vgl. Joh 13,34; 15,12

9–10 Vgl. Hebr 1,3

19–20 Vgl. Joh 1,14

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Stimme ins Ohr, er sei ja | menschlicher Weise noch besser als andre, an dem, was er sich vorwerfe, werde die Welt nichts zu tadeln wissen, und er erscheine ja noch immer frei von allem Vorwurf und tadellos nach ihrem Maaßstabe. Und so werden wir immer wieder dem Himmelreich entfremdet, wenn wir nicht der Wahrheit die Ehre geben, wenn wir nicht der täuschenden Stimme des eigenen Herzens absagen, und dem Gefühl allein treu bleiben, welches aus dem Bilde des Erlösers hervorgeht und damit zusammenhängt. Und ohne diese Gerechtigkeit also, die besser ist als jede andre, ohne diese Gerechtigkeit, die keinen andern Grund hat als den Glauben an den Sohn Gottes, den Glauben daran, | daß er denjenigen, die an ihn glauben, von seinem Geiste gebe, aber daß auch der so Begabte keine geringere Foderung an sich selbst machen dürfe als die ihm immer ähnlicher zu werden – denn wer nicht im Geiste Khristi wandelt der ist nicht sein – wenn wir dieser Gerechtigkeit nicht nachtrachten, so verirren wir uns wieder aus dem Himmelreich, in welches wir schon aufgenommen waren. Aber dieser Betrachtung, m. g. F., stellt sich eine andre gegenüber, nämlich die, daß so wie dasjenige, was der Erlöser von uns fodert, das bei weitem Höhere ist, so ist es zu gleicher Zeit doch das Leichtere. Ja, m. g. F., das müssen wir seinen Worten glauben; sagt er nicht | eben zu denjenigen, die bisher geleitet wurden durch die Sazungen der Menschen „kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquiken, kommt her zu mir, mein Joch ist sanft, und wenn ihr das traget und ziehet, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen“? Und eben dies, m. g. F., muß uns mit der tiefsten Bewunderung erfüllen und mit der größten Freudigkeit des Herzens, daß eben das Höchste zugleich das Leichteste ist. Und so wunderbar dies klingt, so sehr muß es sich uns rechtfertigen, wenn wir nur unsre eigene Erfahrung und das Innerste unsers eigenen Gemüthes fragen. | Denn, m. g. F., was macht alle menschliche Ordnung und alles menschliche Recht so schwer und beschwerlich? Unstreitig dies, einmal daß es einzelne unter sich wenigstens für denjenigen, der das Ganze nicht übersehen kann, ohne sichtbaren Zusammenhang unter einander stehende Vorschriften und Regeln sind; und dann eben dies, daß es nur das Ansehen des Buchstaben und des Gesezes ist, welchem der Mensch in allen diesen Beziehungen folgt, weil eben das nicht zusammenhangende auch nicht vollkommen von ihm verstanden werden kann, und nicht aus seinem eigenen Innern hervorgeht. Je zusammengesezter | und mannichfaltiger daher die Vorschriften sind, desto unvermeidlicher auch die Vergehungen; und je unvermeidlicher sie sind, desto mehr auch werden sie entschuldigt, und desto mehr begnügt sich der Mensch bei der Unvollständigkeit seines Gehorsams mit allerlei äußerm Ersaz und äußern Reinigungen. Und das ist das Bild, 20–23 Vgl. Mt 11,28–30

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welches uns zur Zeit des Erlösers das Volk darstellt, unter welchem er wandelte; aber eben dieses ist es auch, welches unser eigenes sein würde, wenn von ihm nicht das Himmelreich wäre in unserm Herzen gegründet worden. Schon die Vorschriften, die der Mensch im geselligen Leben sich selbst giebt, | die der natürliche Verstand ausspricht und das natürliche Gefühl ehrt, sie gehen nur aus einzelnen Beziehungen hervor und haben hier ihren Grund. Auch hier schon hängt die eine mit der andern nicht nothwendig und natürlich zusammen, vielmehr noch die äußern Vorschriften, welche die Menschen in Beziehung auf ihre irdischen Verhältnisse vereinigen; da ist das Einzelne zu halten schwierig, und die Lust sich nicht ausgehen zu lassen ihnen nachzukommen, erscheint in der That als eine schwere Last und ein unerträgliches Joch. Aber die Geseze des Himmelreichs, m. g. F., die hangen alle unter einander zusammen, sie bilden Ein Ganzes – das fühlt und | erkennt ein jeder in seinem Herzen, wo das Himmelreich gegründet ist; und es ist keine Furcht, es ist kein äußeres Ansehen, worauf sie beruhen; und es ist nicht scheinbar das eine dem andern entgegengesezt und dem der es thun soll selbst unmöglich, denn es kommt alles aus dem Einen Grunde, es kommt alles aus der Liebe und geht in die Liebe zurük; und die ist es allein, in der der Mensch sich glüklich und selig fühlt. Kein anderes Joch zu tragen als das der Liebe, welch ein glükliches Loos für den Menschen! Sich bewußt zu sein, daß alles was er thun soll und thut, aus dem himmlischen Trieb der Liebe hervorgeht, wie frei muß sich der Mensch dann | fühlen, wie klar muß ihm sein ganzes Leben sein, wie genau muß in demselben alles unter einander zusammenstimmen! Und darum, m. g. F., ist das Höchste auch das Leichteste; und der Erlöser hat Recht beides gleich zu sezen, beides in Einem Wort auszusprechen und genau zu verbinden: euer strenger sein und kräftiger sein in Lehre und Handeln ist dasjenige, ohne welches ihr keinen Theil haben könnt an meinem Reiche; aber indem ich euch das gebiete, so lege ich euch nichts auf als ein leichtes Joch, und zeige euch den Weg, wie ihr Ruhe finden könnt für eure Seelen. Und das, m. g. F., ist die Erfahrung, die alle | wahren Khristen aller Zeiten in ihrem Leben immer gemacht haben. So wie sie das Himmelreich gefunden hatten, welches im Glauben an den Sohn Gottes gegründet ist, so blieb auch ihr geistiges Auge dem Himmel zugewendet, in welchem von da an ihr Vaterland war, so hatten sie eine Gerechtigkeit ins Auge gefaßt, die höher ist als alles dasjenige, was der Mensch von Natur finden kann; aber doch war ihr Leben von jedem drükenden Joch entledigt; und kein freierer Zustand als der der Kinder Gottes, kein leichteres Leben als das unter dem Gesez der unvergänglichen himmlischen Liebe, keine größere und tiefere Befriedigung und kein innigerer Wunsch der menschlichen Seele | unter allen Wechseln, die das irdische Leben mit sich bringt, als nur dieser Spur nachzugehen und diesem Gesez zu folgen. Das ist das große Wort, m. g. F., welches der Erlöser

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zu den Seinigen gesagt hat „ihr sollt vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“. Das Gesez, welches ihr euch auflegt, das soll der Ausdruk sein und das Ebenbild seines allwaltenden und die ganze Welt leitenden Verstandes, es soll kommen aus dem Worte Gottes, welches in Khristo ist Fleisch geworden und lebendig vor uns hingetreten, und in dem wir alle den Vater schauen mögen; und die Liebe, mit der wir diesem Geseze folgen, soll keine andre sein und keine geringere | als die, welche das ganze Wesen Gottes euers himmlischen Vaters begreift. Er ist die Liebe, und ihr sollt auch die Liebe sein. Jede Gerechtigkeit, jede Vollkommenheit, der ihr nachstrebt, soll nur aus der Liebe begriffen werden können, und Liebe abbildend und darstellend sein. Und wenn ihr vollkommen sein sollt wie der Vater im Himmel, so ist euch auch eben dadurch das heilige Recht gegeben und die frohe Zuversicht, daß ihr selig sein sollt wie er ist. Ja beides können und sollen wir sein und immer mehr werden, wenn wir nur dem folgen, der uns zur Gerechtigkeit und Weisheit geworden ist, und wenn wir den lieben, der uns zuerst geliebt hat. Amen.

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[Liederblatt vom 14. Juli 1822:] Am 6. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. [1.] Mein Heil in dieser Lebenszeit, / Das hohe Glück der Ewigkeit / Empfindet meine Seele. / Zum rechten Anschaun deines Lichts, / Riefst du mich Vater aus dem Nichts, / Dies dankt dir meine Seele. / Nicht zu der Freude dieser Zeit, / Zur Wonne jener Ewigkeit. / Dir einst zu werden ähnlicher, / Erschufst du mich Allmächtiger. / O Vater, Gott! Für mich gabst du den Sohn in Tod. / Wieviel thatst du für mich, o Gott. // [2.] Sohn, zum Erlöser mir gesandt, / Ich folge deiner sanften Hand, / Die mich zum Himmel leitet. / Für mich hast du vor Gottes Thron / Den unaussprechlich großen Lohn / Des Himmels zubereitet. / Zwar seh ich jezt mit schwachem Blick / Der seligen Verklärung Glück, / Und dunkel ist mir jene Welt, / Die Gott dem Glauben vorbehält. / Doch Jesu Christ: wenn einst mein Aug im Tode bricht, / Schau ich mein Heil in hellem Licht. // [3.] Geist Gottes unsre Zuversicht, / Verlaß, verlaß uns Arme nicht, / Und stärke unsern Glauben. / Zeuch uns zu Gott und seinem Sohn, / Und laß nichts unsern Gnadenlohn / In jener Welt uns rauben. / Lenk uns von Welt und Eitelkeit / Auf jenes Heil der Ewigkeit, / Daß wir, der Welt entrissen, dir / Hier leben Gott, einst sterben dir! / O Geist aus Gott! zeig 1–2 Mt 5,48 1Joh 4,19

11–13 Vgl. Mt 5,48

14–15 Vgl. 1Kor 1,30

15–16 Vgl.

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uns im Tod das Heil des Herrn, / So folgen wir zum Grabe gern. // (Jauersch. Ges. B.)

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Nach dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. [1.] Seinem eignen Herzen heucheln, / Sünde thun und sicher sein, / Sich mit falscher Tugend schmeicheln, / Und dann sagen, ich bin rein: / Selbst sein Elend nicht empfinden, / Welche bittre Frucht der Sünden; // [2.] Bin ich, wenn ich das nur hasse, / Was schon Menschen hassen, rein? / Wenn ich das nur unterlasse, / Was mir Andre nicht verzeihn? / Ists genug schon, nichts verbrechen, / Was der Menschen Strafen rächen? // [3.] Bin ich darum frömmer, besser, / Darum Gottes Kind und Freund, / Weil des Nächsten Schuld mir größer / Als die meinige erscheint? / Weil an eines Andern Sünde / Ich mich rein und schuldlos finde? // [4.] Oder weil durch äußre Werke, / Oft auch nur durch ihren Schein, / Ich mich in dem Wahne stärke, / Angenehm vor Gott zu sein? / Oder weil verheelte Sünden, / Menschenblicke nicht ergründen? // [5.] Nein, solch Blendwerk eitler Lügen, / Täusche meine Seele nie, / Müsse nie mein Herz betrügen! / Denn was haßte Gott, wie sie? / Sie, die mir den wahren Glauben, / Sie, die seine Huld mir rauben. // [6.] Keine Sünde soll ich lieben, / Auch den Wunsch der Sünder nicht; / Rein in allen meinen Trieben, / Frei von falscher Zuversicht! / Weh mir, wenn ich mich verblende, / Und mir selbst mein Heil entwende! // [7.] So will ich denn emsig dämpfen / Stolz und leere Sicherheit, / Muthig mit mir selber kämpfen, / Aber rein von Eitelkeit; / Laß mich nicht vergeblich ringen, / Hilf mir Herr zum Ziele dringen. // (Rig. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt ich meinem etc. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht! / Herr durch dich ist Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit! / Wer gleich dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust! / Friede wohnt in seiner Brust. / Wird er einst zu Gott erhöhet, / Dann mischt sich der Liebe Dank / In der Engel Preisgesang. //

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7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Waisenhauskirche zu Berlin Joh 8,31–32 Nachschrift; SAr 102, S. 177–204; Andrae Keine Nachschrift; SAr 83, Bl. 108r–125r; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 115r–115v; Gemberg Vertretung für Pischon (Tageskalender)

Predigt am siebenten Sonntage nach Trinitatis 1822 am ein und zwanzigsten Heumonds, gesprochen in der Waisenhauskirche. | Tex t. Johannes VIII, 31 und 32. Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: so ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger, und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. M. a. F., Wenn wir ein Kind sehen in jener ersten Zeit des Lebens, wo es noch in keiner Sache, Schlaf von Wachen, Wahrheit von Schein zu unterscheiden weiß: so ist dies für uns immer ein rührender Zustand wegen der Unbefangenheit der Natur auf der einen Seite, wegen ihrer Hilfslosigkeit auf der andern, am aller meisten aber wegen der Ungewißheit, ob sich nun hieraus die Wahrheit und die Erkenntniß, oder ob sich die Gleichgiltigkeit und der Trug daraus entwickeln werde. Wenn wir dann das Letzte sehen, 0 Schleiermacher vertrat in der Waisenhauskirche Friedrich August Pischon (geb. 1785 in Cottbus, gest. 1857 in Berlin). Pischon, der sich bereits während seines Theologiestudiums in Halle eng an Schleiermacher angeschlossen hatte, war von 1810–1815 reformierter Hilfsprediger an der Dreifaltigkeitskirche, wo er sich auch als Predigtnachschreiber besonders auszeichnete (vgl. KGA III/4). 1815 wurde Pischon Prediger am Friedrichswaisenhaus und Lehrer für Geschichte, Deutsch und Religion am Königlichen Kadettenkorps, wo er 1825 zum Professor ernannt wurde. 1827 wurde er 3. Diakon in der Nikolai-Kirche und später Archidiakon. Er war außerdem ab 1836 als Assessor am Konsistorium der Provinz Brandenburg tätig und ab 1843 Konsistorialrat. Kirchenpolitisch engagierte er sich in Schleiermachers Sinne. Pischon machte sich darüber hinaus einen Namen in der Pädagogik und auf dem Gebiet der Publizistik, wo er schon früh eine rege Tätigkeit entfaltete. Vgl. EPMB 2, S. 640; BBKL 7, Sp. 644–646.

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wenn die Wahrheit von der Lüge besiegt wird, wenn der Mensch mit der Wahrheit seinen Spott treibt, | oder sie einem vergänglichen Nutzen, irgend einem leeren Schein von Schaam und Ehre aufopfert: nichts ist wohl, was uns mehr von dem Menschen entfernt und unser Herz gegen ihn verhärtet, als eben dies. Aber auf der andern Seite, weit entfernt, daß wir deswegen nun sollten die reine Wahrhaftigkeit für dasjenige ansehen, was bei jedem Menschen auf eine natürliche Weise vorausgesetzt werde, müssen wir uns gestehen, daß nichts einen so tiefen und großen Eindruck auf uns macht, je seltener er scheint, der niemals im Kleinen so wenig als im Großen der Wahrheit untreu ist, der niemals, die Aussicht sei, welche sie wolle, sich eher beruhigt, als bis er den Grund einer Wahrheit gefunden hat, und ihr den Zugang zu seinem Herzen und den Durchgang durch seine Lippen verschafft. Zu dieser Aufstellung, m. g. F., finden wir den Schlüssel in den Worten unseres Textes: „wenn ihr die Wahrheit erkennen werdet, so wird euch die Wahrheit frei machen“; | und daraus nun sehen wir wohl, weshalb so viel und so Großes darauf beruht, wie der Mensch gegen die Wahrheit stehe. Laßt uns also nach Anleitung der Worte unseres Textes jetzt über das Verhältniß des Menschen zur Wahrheit mit einander reden. Wenn wir zuerst sehen, wie der Mensch sich befindet, der die Wahrheit nicht erkennt, und dann zweitens darauf Acht geben, wie eigentlich die Wahrheit den Menschen frei macht, dabei aber überall uns an die Worte unseres Herrn und Meisters selbst halten: so werden wir auf diese Weise wohl den Sinn derselben durchdringen, und ihn uns zu unserer Erbauung und zu unserem Wachsthum in der Heiligung aneignen können. I. Zuerst also laßt uns sehen, wie es um den Menschen steht, der die Wahrheit nicht erkennt. Es giebt aber einen zwiefachen Zustand dieser Art, wie ich auch vorher schon angedeutet habe: | der eine ist der, wenn der Mensch ohne die Wahrheit lebt, weil er keinen Theil daran nimmt, weil sie keinen Reiz für ihn hat; der andere ist der, wenn er gegen die Wahrheit streitet und sich der Lüge ergiebt. Laßt uns sehen, wie sehr in beiden Fällen der Mensch nöthig hat, daß er frei gemacht werde aus diesem Zustande. Nicht wenige Menschen giebt es in der That, m. g. F., auch immer noch, die sich in jenem ersten Zustande befinden, für welche die Wahrheit keinen Reiz hat, und die sich nicht um sie kümmern, sondern ganz und gar verflochten in solche Bestrebungen des Lebens, von denen sie glauben, daß sie dieselbe eben so wohl erreichen und ihres Zweckes theilhaftig werden können, ohne sich irgend um die Wahrheit zu bekümmern, leben sie auch ohne dieselbe. 3 Ehre] Ergänzung aus SAr 83, Bl. 109r Textzeuge: Zugang

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Wahrheit oder Schein – Eins gilt ihnen wie das Andere, weil sie nur in dem gegenwärtigen Augenblick und für diesen leben. Sehen wir nun auf keinen weitern Zusammenhang hinaus, dann ist es wahr, für den unmittelbaren Augenblick ist auch die unmittelbare | Empfindung des Menschen, dasjenige, was ihm seine Sinne sagen über die Gegenstände, das Einzige, worauf es ihm ankommt. Das kann wahr sein auf der einen Seite, es kann ein leerer und vorübergehender Schein sein auf der andern. Bleibt er in diesen Gränzen eingeschlossen, so gilt ihm das Eine wie das Andere. Eben deswegen aber ist auch ein solches Leben ohne allen Zusammenhang, und darf eben deswegen auch nicht sich selbst überlassen werden. Wie wir das Kind nicht sich selbst überlassen, welches noch so sehr unter der Gewalt des ersten sinnlichen Scheines ist, daß es meint die Flamme mit seinen Händen fassen und darin fest halten zu können, und den Mond zu erreichen, der ihm vom Himmel entgegenlächelt, sondern die Nothwendigkeit fühlen, daß ein solches müsse geleitet werden von der Kraft der Wahrheit, die es selbst noch nicht hat, und noch nicht erreichen kann: so wäre auch nichts verderblicher, als einen Menschen, der wiewohl im Besitz aller seiner geistigen Gliedmaaßen und Kräfte, doch aus Gleich|giltigkeit und Trägheit des Herzens noch nicht zur Wahrheit gekommen ist, einen solchen sich selbst zu überlassen. Indem er immer nur dem Scheine folgt und von ihm geblendet wird, so kann ihm nicht nur selbst das Unerfreulichste und Bitterste begegnen – denn das könnte man ihm wohl gönnen, damit er einmal durch Schaden klug werde, und endlich den Reiz fühle, Wahrheit und Schein von einander unterscheiden zu können – aber er kann eben so sehr durch Verbreitung seines sinnlichen Thuns und Treibens das Unerfreulichste und Bitterste über Andere bringen. Darum strebt nun auch ein jeder und mit Recht eine wohlthätige Herrschaft auszuüben über ein solches Gemüth, das Gefühl davon in mögligst enge Schranken zurückzuhalten, und ihm, wenn es auf das Wohlsein Anderer ankommt, so wenig als möglich freie Hand zu lassen; und so darf denn ein solcher Mensch nicht frei gelassen werden. Aber gesetzt auch, es kümmerte sich niemand um ihn: ist er wohl frei in sich selbst? was hat | er anderes, dem er folgen kann, weil ihm die Kraft der Wahrheit fehlt, als eben den sinnlichen flüchtigen Reiz des Augenblicks? Die unmittelbare Lust ist es, die ihn lockt, die unmittelbarste Furcht ist es, die ihn zurückhält; kein höheres Feuer, das ihm in seinem Innern angezündet wäre, treibt ihn, und nirgends hat er ein Maaß, eine Haltung in sich selbst. Wie können wir sagen, daß er in seinem Willen frei sei? Er ist dahingegeben jeder Lockung, die ihm der Zufall oder irgend ein Anderer entgegenbringt; immer ist sein Wille gebunden durch das, was entgegentritt. Die Wahrheit allein ist es, und die Unterscheidung derselben vom Schein, wodurch der Mensch fähig wird sich ein festes Ziel für sein Leben vorzustekken, es unermüdet und unablässig zu verfolgen, und in der Überwindung aller Hindernisse, die sich ihm entgegenstellen, seine Kraft zu stählen. Wer

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aber die Wahrheit nicht in sich trägt, der ist nicht frei; wer von der Wahrheit nicht geleitet wird, der ist das wankende Rohr, | das von jedem Winde bewegt, von jeder Luft erschüttert wird. So ist einem solchen Menschen nothwendig entweder, daß er in sich selbst frei werde – und er kann nur frei gemacht werden durch die Wahrheit, die ihm fehlt – oder daß er unter der Botmäßigkeit derer bleibe, die schon diese ihm fehlende Kraft in sich tragen, und daß sein Leben mit allem, was der Schöpfer von guten Gaben in seine Seele mag hineingelegt haben, nie für sich bleibe, sondern unter der Botmäßigkeit derer gehalten werde, die allein vermögen es zum Guten zu lenken, und in Übereinstimmung zu bringen mit den höheren und edleren Lebenszwecken derer, welche die Wahrheit erkannt haben und ihr folgen. Sehen wir nun zweitens auf denjenigen, der nicht nur ohne die Wahrheit lebt, sondern überall gegen dieselbe anstrebt, sie als etwas feindseliges von sich abzuhalten sucht, und in der Unwahrheit, in der Lüge seine Freude, seinen Lebensgenuß, seine Rettung sucht. Von ei|nem solchen kann man eigentlich nicht sagen, daß er die Wahrheit nicht erkenne, denn wer da lügt, der erkennt die Wahrheit, sonst wäre es keine Lüge, sondern der Irrthum, der so oft unverschuldete Irrthum, worin er wandelt. Aber mag auch der, welcher die Unwahrheit liebt und thut, eben deswegen die Wahrheit erkennen, so ist es doch nur die einzelne Wahrheit, die er erkennt. Er weiß, daß dasjenige falsch ist, was er sagt, er weiß, daß dasjenige leer ist, worauf er einen großen Werth zu legen scheint; und insofern erkennt er die Wahrheit. Aber sollen wir sagen, daß der die Wahrheit erkennt, der sie flieht, daß der die Wahrheit erkennt, der sie für etwas Nachtheiliges, für etwas Gefährliches, für etwas, was irgend jemals dem Menschen Unheil bringen kann, hält? Unmöglich kann der sie erkennen, sondern ihrem innersten Wesen nach ist sie ihm fremd, und er lebt ohne sie. Erkennte er die Herrlichkeit und Schöne der Wahrheit im Ganzen und in ihrem innersten Wesen; so würde er auch nicht anders können als immer im Einzelnen ihr huldigen, | und sich in ihr den theuersten Schatz bewahren für sein ganzes Leben, nicht aber ihn muthwillig von sich stoßen. Wer nun aber so der Unwahrheit lebt, m. g. F., können wir von dem sagen, daß er frei sei? Soll derjenige frei sein, der immer das Licht scheuen muß, in dessen Herrlichkeit und Glanz der Mensch immer leben soll? Soll derjenige frei sein, der nur immer suchen muß die Schatten der Finsterniß, um das Truggewebe seines Gemüths, seiner Gedanken und Entwürfe vor den Augen anderer Menschen zu verbergen, der immer sich selbst suchen muß in Schatten zu stellen, damit die Augen Anderer nicht eindringen in das Geheimniß der Unwahrheit und der 3 bewegt] Ergänzung aus SAr 83, Bl. 113r 2–3 Vgl. Mt 11,7; Lk 7,24

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Ungerechtigkeit, welcher er sich ergeben hat? Unmöglich, m. g. F., kann der frei sein, welcher der Lüge dient, und der Wahrheit die Herrschaft über sein Leben versagt; vielmehr, was der Herr in den Worten sagt, die auf unseren Text folgen: „wer die Sünde thut, der ist der Sünde Knecht“, das ist auf keinen so sehr anwendbar als auf den, welcher der Wahrheit untreu geworden ist, und indem er selbst fern ist von ihrem Besitz auch andern Menschen das | höchste und theuerste Gut der Menschheit mißgönnt, und dasjenige verachtet, worin gewiß der höchste Werth und die größte Auszeichnung des menschlichen Geistes besteht. Wenn nun, m. g. F., es sich in der That so verhält, möge der Mensch ohne die Wahrheit leben, und sich dem leeren und flüchtigen Schein des Lebens hingegeben haben, oder möge er sich selbst solcher Absichten und Bestrebungen rühmen, die es zu erfodern scheinen, daß er der Wahrheit nur eine beschränkte oder gar keine Gewalt über sein Leben gestattet: wir können nicht anders sagen, als: wer die Wahrheit nicht erkennt, der ist nicht frei, eben deswegen, weil der, welcher die Sünde thut, der Sünde Knecht ist. Denn nur die Sünde kann ein solches Opfer von dem Menschen fordern, daß er der Wahrheit auch selbst das Geringste von ihrem heiligen Recht auf die menschliche Seele entzieht; kein löbliches Bestreben, keine Liebe zu unsern Brüdern, keine Sorge für ihr Wohl, kurz nichts, was wir dem Edlen und Guten beizählen müssen, kann je von uns das Opfer der Wahrheit fodern. Denn: jeder, der das wahre Wohl der Menschen will, | jeder, der das erkannt hat und fühlt, daß darin allein das gemeinsame geistige Wohl Aller bestehen kann, wenn jeder in der Kraft der Liebe den Andern sich selbst gleich ja höher achtet als sich selbst, und eben so sehr und noch mehr dasjenige sucht, was des Andern ist, als was sein eigen ist, der könnte ja nicht anders als, wenn ihm irgend einer von seinen Brüdern einen, wenn auch noch so großen Vortheil verschaffen könnte auf Kosten der Wahrheit, der könnte nicht anders als zu ihm sagen: wie sollte ich ein so großes Übel thun, und gegen den Herrn, meinen Gott sündigen? Denn was könnte der Mensch gewinnen, das der Mühe werth wäre, wenn er Schaden litte an seiner Seele? nun aber ist mir die deinige wie die meinige, du müßtest sündigen wider den Herrn unsern Gott, wenn du mir oder irgend etwas Anderem die Wahrheit wolltest opfern. So ist es also die Sünde nur, die das Opfer der Wahrheit von dem Menschen fodern kann. Wer aber die Sünde thut, der ist der Sünde Knecht; und jeder, welcher der Sünde Knecht ist, bedarf, daß er frei werde. Wer aber die Wahrheit | deswegen nicht erkennt, weil er sie nicht liebt, wie sollte der anders sein als ein Knecht, der auch frei gemacht werden muß, weil er dasjenige, was sein Leben richtig leiten kann, nicht in sich trägt, sondern von etwas, was außer ihm liegt, geleitet werden muß. Wer aber selbst sein Leben nicht leitet, der ist nicht frei, sei es auch, was es wolle, dessen Knecht er ist. 4.15–16.35 Joh 8,34

23–26 Vgl. Phil 2,3–4

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II. So laßt uns nun aber zweitens sehen, wie denn der Mensch dadurch, daß er die Wahrheit erkennt frei wird nach der Verheißung des Erlösers. Um diese Worte des Herrn recht zu verstehen, müssen wir ja das nicht übersehen, was er sagt: „so ihr an meiner Rede bleibet, so werdet ihr die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“ Er will es uns nicht zugestehen, daß wir die Wahrheit so, daß sie uns frei macht erkennen, unabhängig von seiner Rede, sondern nur, wenn wir an seiner Rede bleiben. Und wer die köstliche Erfahrung des Glaubens gemacht hat, m. g. F., und wer von dieser Erfahrung aus zurücksieht auf alle Bestrebungen, und Zustände der Menschen, die der Offenbarung | Gottes in seinem Sohne vorangingen, der wird es wohl gestehen müssen, daß es unabhängig von ihm ein solches Erkennen der Wahrheit, die den Menschen frei macht, nicht gegeben hat. Wohl hat sich immer dieser Unterschied gefunden zwischen Menschen, welche die Wahrheit aufrichtig geliebt haben und gesucht, und zwischen solchen, denen sie gleichgiltig gewesen ist, und die sie in Ungerechtigkeit und Lüge verwandelt haben. Wohl hat auch Gott, der Gerechte und Barmherzige diesen Unterschied immer anerkannt und geehrt, und diejenigen belohnt, wo es treue Diener und Knechte gab, welche die Wahrheit suchten; und wer etwas von ihr erkannt hat, der ist auch etwas losgeworden von seiner Knechtschaft, und hat etwas gefunden von der edlen Freiheit. Aber wenn es keine vollkommene Erkenntniß der Wahrheit geben kann ohne die Erkenntniß Gottes, der allein ist die Quelle aller Wahrheit, und wenn, wiewohl wir in ihm leben, weben und sind, doch bis zur Erscheinung seines Sohnes der Verstand der Menschen immer ist umnebelt gewesen, daß sie, wie der Apostel sagt, die Erkenntniß, wodurch sich ihnen Gott, | der Schöpfer der Welt von Anfang offenbart hat, die Wahrheit, wozu sie immer den Keim in sich trugen, verwandelt haben in leere Bilder, vergängliche Wesen, und in Gesetze, und Regeln der Ungerechtigkeit: so müssen wir gestehen, die wahre und volle Erkenntniß der Gerechtigkeit giebt es nicht als nur in dem Zusammenhang mit dem Erlöser. Und davon werden wir uns leicht überzeugen, wenn wir nur auf zweierlei Achtung geben. Laßt uns zuerst im Zusammenhange mit den Worten des Herrn, die in so genauer Verbindung mit den Worten unseres Textes stehen, „wer die Sünde thut, der ist der Sünde Knecht“, an ein Wort desselben Jüngers denken, aus dessen Erzählung diese Textesworte genommen sind, wo er nämlich sagt: so wir sagen wollten, wir hätten keine Sünde, so verführeten wir uns selbst, und die Wahrheit wäre nicht in uns; so wir aber unsere Sünde bekenneten, so wäre Gott treu und gerecht, der uns unsere Sünde vergebe. Und wem sollte nicht hiebei das kräftige und ehrwürdige Wort | des alten göttlichen Sängers beifallen, da er sagt: „da ich meine Sünde verbergen wollte, da ver26–29 Vgl. Röm 1,18–23 Ps 32,3.5

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36–39 Vgl. 1Joh 1,8–9

41–2 Vgl.

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schmachteten meine Gebeine; als ich sie aber bekannte, da fühlte ich deine Treue und Gerechtigkeit, Herr, mein Gott!“ So ist es denn, m. g. F., der herrliche Sieg der Wahrheit im Menschen, aber auch der erste, nachdem er sich einmal von ihr entfernt hat, wodurch allein der Grund gelegt werden kann zu einer dauerhaften Herrschaft der Wahrheit im Menschen, das ist der, wenn er seine Sünde bekennt; die schmählichste Knechtschaft, in welcher der Mensch geht, ist die, wenn er sich scheut und fürchtet, das Wort – freilich klingt es schrecklich, freilich wünschen wir es lieber entfernen zu können, aber doch ist es die schmähliche Knechtschaft, in welcher der Mensch lebt – das Wort „du bist ein Sünder“ in dem tiefsten Innersten seines Herzens vor Gott zu bekennen, und es freimüthig auszusprechen; die falsche Schaam, das ist der gefährlichste Feind des Menschen, der ihn immer untüchtiger macht, sich zu beschauen in dem Spiegel der Wahrheit, wie er gestaltet ist. | Und ehe er dem nicht abdankt, ehe er nicht der Wahrheit Grund und Boden verschafft durch das Bekenntniß seiner Sünde vor Gott und vor seinem Gewissen, eher ist nicht daran zu denken, daß er durch die Wahrheit könnte frei gemacht werden. Aber, m. g. F., was wäre wohl auch die erste Stufe dieses höchsten Gutes, der Freiheit, was wäre ein sicherer Boden, worauf sie ruhen könnte, und ein herrlicherer Grund und Besitz, um die Herrschaft und den Genuß derselben uns immer mehr zu erweitern und zu verschönern, als wenn der Mensch fühlt, seine Sünden sind ihm vergeben, als wenn er fühlt die Freiheit, die am tiefsten und festesten in seinem Innern haftet und Wurzel schlägt, die ihn erhebt über den Zustand der Knechtschaft, und in der er sein Leben führt. Denn wenn der Mensch seine Sünde bekannt hat, und eben darin die Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes mitfühlt, daß der Herr ihm seine Sünde vergiebt: dann ist er auf dem Wege frei gemacht zu werden durch die Wahrheit, oder vielmehr dann hat er den Anfang der Freiheit sich glücklich errungen. Aber eben darum sagt der Erlöser nun auch kurz darauf, nachdem er | hinzugefügt hat, die Wahrheit wird euch frei machen: „so euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei.“ Denn, m. g. F., können wir von dem Menschen verlangen, dürfen wir es ihm zumuthen, daß er seine Sünde bekenne ohne die Hoffnung, daß mit dem Bekenntniß zugleich sie von ihm genommen und getilgt werde? Können wir ihm zumuthen, daß er mit diesem klar ausgesprochnen Bewußtsein der Sünde und mit der Aussicht es immer zu behalten leben soll? müssen wir es nicht natürlich finden, daß er in dem Maaße als er ohne die Hoffnung der Vergebung ist auch das Bekenntniß der Sünde meide, und lieber in dem Zustande bleibe, in welchem die Gedanken des Herzens sich einander beschuldigen und lossprechen, anklagen 16 eher] ehe 30–31 Joh 8,36

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und entschuldigen. Darum, m. g. F., konnte auch eher kein reines Bekenntniß der Sünde, kein klares Bewußtsein darüber von dem Menschen gefodert werden, als wenn ihm zugleich die nahe, die unmittelbare Rettung, die unmittelbare theure Gewißheit der Vergebung mit demselben Bewußtsein gegeben werden konnte. Dies ist aber dasjenige, was wir vor allem demjenigen verdanken, welcher vom Himmel herabgekommen ist | auch um der Wahrheit ihr Reich zu bereiten, wie er selbst von sich sagt „ihr wollt mich tödten, einen Menschen, der dazu von Gott gesandt ist, daß er der Wahrheit Zeugniß gebe.“ Sollte er uns empfänglich machen für die Wahrheit, sollten wir sie in ihm finden, sollte er der Weg dazu sein und das Licht; so mußte er derjenige sein, der uns das Gefühl der Vergebung unserer Sünde giebt, damit die Wahrheit erst in unserm Herzen sei und bleibe und über unsere Lippen komme, ohne welche es keine Wahrheit und keine Gewalt der Wahrheit über den Menschen giebt, nämlich die, daß er ein Sünder ist, der der Vergebung bedarf. – Das zweite aber, m. g. F., worauf wir zu sehen haben, um uns zu überzeugen, daß es keine Erkenntniß der Wahrheit abgesehen von der Verbindung mit dem Erlöser giebt, und also auch kein Freiwerden durch die Wahrheit als nur zu gleicher Zeit durch ihn, das ist dies, daß wir alles nur in dem Maaße erkennen und die Wahrheit finden, wenn wir es so erkennen, wie es vor Gott und in Gott ist und besteht. Was | wir nicht auf diese Quelle der Wahrheit zurückführen, m. g. F., womit sich nicht das Bewußtsein Gottes in unserem Herzen auf eine solche Weise verbindet, daß wir sagen können: das ist so wahr als Gott lebt, das erkennen wir auch nicht mit der rechten unumstößlichen Gewißheit, davon sagen wir uns selbst noch immer, daß wir es nicht vollkommen erkannt haben, daß wir nur noch erkennen in einem verdunkelten Spiegel, das Licht aber der Wahrheit noch nicht schauen. Und je mehr wir uns mit unsern Gedanken in solche Gebiete des Lebens und der menschlichen Seele begeben, wo wir sagen müssen, hier verliert sich in einem fremdartigen Tichten und Trachten die Richtung des Herzens auf Gott, hier ist das Gemüth des Menschen so gefangen genommen von andern, mögen sie auch noch so schön und herrlich lauten, irdischen und vergänglichen Bewegungen, daß das Bewußtsein Gottes damit nicht zugleich besteht: o dann fühlen wir es bestimmt, da sind wir auch in dem Gebiete der Ungewißheit und des Zweifels; das ist die Gegend, welche die Lüge sucht, ob sie etwas an dem Menschen habe; das sind die gefährlichen Pfade, auf denen er sich leicht von dem Wege der Wahrheit | verirrt. Denn nur in einem frommen Gemüth, nur in einer Gott suchenden Seele kann die Wahrheit sein und eine wohlthätige Herrschaft ausüben. Nur wenn alles auf das höchste Wesen bezogen wird, und jeder andre Zweck dem untergeordnet wird, daß dasselbe in unserem Herzen wohne und lebe, und unser Sinnen und Tichten in der Gemeinschaft mit 7–9 Vgl. Joh 8,40

25–27 Vgl. 1Kor 13,12

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Gott sei, nur dann ist die Wahrheit erkannt, und die Seele frei geworden durch die Wahrheit. Fragen wir uns nun, m. g. F., ob wir das selbst können? Die Geschichte nur laßt sie Zeugniß ablegen von den angestrengtesten und edelsten Bemühungen der Menschen: o was bietet sie uns anderes dar als freilich auf der einen Seite erfreuliche Annäherungen und herrliche Erscheinungen menschlicher Gradheit und Offenheit und eines kräftigen Strebens nach der Wahrheit? aber auf der andern Seite können wir uns auch der demüthigenden | Betrachtung nicht entziehen, wie wenig dies Stand gehalten, wie wenig es sich festgestellt und weiter verbreitet hat, und wie leicht die Menschen von jedem Schritte, den sie auf diesem Wege gethan hatten, zurückgetrieben sind durch fremde und unheilige Gewalten. Darum waren es immer nur einzelne unzureichende und von geringem Erfolge gekrönte Bemühungen, die Wahrheit festzustellen, und ihr ein Reich und eine Herrschaft zu bereiten auf Erden, bis derjenige kam, der von sich selbst sagen durfte: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; wer Mich sieht, der sieht den Vater“; bis der kam, der uns eben dadurch, daß wir in ihm erkennen mußten die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, auch die Erkenntniß des Vaters selbst erleichtert, und indem er uns die fröhliche Versicherung der Vergebung der Sünde brachte, so wir an ihn glauben und an seiner Rede bleiben, auch den Grund in uns gelegt hat, worauf die | Herrlichkeit der Wahrheit sich bauen kann und bestehen in unserer Seele. Darum, m. g. F., wie sehr wir auch erkennen mögen, daß uns wenig Erkenntniß nur in diesem Leben verliehen ist; wie sehr wir auch fühlen mögen, wie oft wir vergeblich das Auge unseres Geistes eröffnen und suchen, wo wir Flügel hernehmen möchten, um der Morgenröthe entgegen zu eilen, und das Licht eines hellern Tages zu schauen; wie sehr wir auch gestehen und fühlen mögen, wie viel Dunkles noch auf dem menschlichen Geiste liegt in diesem irdischen Leben, so daß auch derjenige, in welchem am meisten das Streben nach Wahrheit erwacht ist, am lautesten das Zeugniß giebt, daß die Seele sich hier befindet in einem dunkelen Kerker, in welchem nur sparsam und einzeln Strahlen des höhern Lichtes hineinfallen, mehr um Zeugniß zu geben von der Einsamkeit und Finsterniß, die drinnen herrscht, als von aller Schönheit und Herrlichkeit, die draußen ist; so sehr wir | dies alles auch erkennen und fühlen: so müssen wir doch auf der andern Seite gestehen, die Wahrheit, welche den Menschen frei macht, wenn er sie erkennt, die haben wir gefunden; die Wahrheit, die das Leben des Menschen zu leiten vermag, die haben wir gefunden eben deswegen, weil wir den Sohn erkannt haben, der von sich sagen durfte, daß er nichts von sich selbst rede und thue, sondern nur das, was er von seinem Vater gesehen und gehört, und was ihm dieser mitgetheilt habe. Denn das fühlen wir, wie alles, 15–16 Joh 14,6.9 14,10

16–17 Vgl. Joh 1,14

38–40 Vgl. Joh 5,19.30; 8,28.38; 12,49;

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was der Mensch von sich selbst redet und thut, alles was das Thun und Streben des einzelnen Menschen ist, darin zeigt sich die Unvollkommenheit des Irdischen, darüber verliert auch die Sünde niemals ihre Gewalt ganz, und die bringt dann auch nothwendig die Unwahrheit und die Lüge in uns [hervor]. Wir wissen, wir tragen sie alle in uns die Quelle der himmlischen Wahrheit, wir tragen ihn alle in uns den lebendigen Odem, den Gott dem ersten Menschen einblies, und wodurch er eine vernünftige Seele ward, der Wahrheit em|pfänglich nicht nur, sondern auch fähig sie aus sich selbst zu entwickeln. Aber beschnitten sind dieser himmlischen Kraft die Flügel in uns allen mehr oder weniger durch die Kraft der Sünde; und nur der Eine, der frei von ihr war, und auch frei von allem, wodurch sie das geistige Auge aller Menschenkinder verfinstert, daß es die Wahrheit nicht vollkommen schauen kann in diesem Leben, der nur konnte sagen, daß er keine andere Stimme in seinem Herzen höre als die Stimme des Vaters, daß das Streben nach keinem andern Licht aus seinen Augen hervorleuchte als nach dem reinen heiligen himmlischen Licht der Wahrheit, daß kein anderes Feuer als das, welches den Menschen treibt den Willen Gottes zu erfüllen, in seiner Seele brenne – der ist es, durch dessen Hilfe wir die Wahrheit erkennen, die uns frei macht. Und je mehr wir alles in unserem Leben auf ihn beziehen, desto mehr erkennen wir es in Gott; und wer alles in Gott sucht und findet, der erkennt auch die Wahrheit; und wo er die Schranken des mensch|lichen Geistes erkennen muß, da verläßt ihn doch die Wahrheit nicht, daß dies zu erkennen ihm in diesem Leben nicht beschieden ist; und so ist er denn in der Wahrheit, die er hier zu schauen vermag, und die ihn in der Erkenntniß fördert und zum Ziele führt, und in der Wahrheit, die ihm nicht beschieden ist zu durchdringen – in beiden ist er frei und wird immer mehr frei. Und so laßt uns halten an dem Worte des Herrn, wenn wir an seiner Rede bleiben, so werden wir die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird uns frei machen. Unerschöpflich sind die Keime der Wahrheit, unerschöpflich ist die Fülle aller heilbringenden Wahrheit, die in der Rede des Herrn liegt, und die dem Menschen alles dasjenige enthüllt, was ihm der himmlische Vater an heiligen Gaben für sein Werk gegeben hat. Je mehr wir an seiner Rede hängen, desto mehr werden wir von der Wahrheit erkennen; je mehr wir sein Joch auf uns nehmen und seine Last tragen | die liebe und die leichte, desto mehr werden wir frei werden von jeder fremden Gewalt, die den Menschen in unwürdigen Banden hält, am allermeisten aber frei von der Knechtschaft der Sünde, die dem Menschen den Zugang zu der beseligenden und himmlischen Wahrheit am meisten versperrt. Und so laßt uns denn ihm folgen, und von dem Geiste, den er über die Seinigen zu 6–7 Vgl. Gen 2,7

34–35 Vgl. Mt 11,30

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senden verheißen hat und gesendet hat, und der es von dem Seinen nimmt, und ihn immer mehr verklärt, laßt uns von ihm geleitet werden von einer Erkenntniß der Wahrheit zur andern: so werden wir auch erhoben werden von einer Stufe der Freiheit zur andern, und immer näher kommen dem Ziele, gleich zu werden dem vollkommnen Alter Christi, und mit ihm zu schauen, weil wir ihm gleich sind, denjenigen mit dem er Eins ist. Amen.

1 senden verheißen hat und gesendet] so SAr 83, Bl. 124v; Textzeuge: sendet ihm 1–2 Vgl. Joh 16,14–15

5 Vgl. Eph 4,13

5–6 Vgl. 1Joh 3,2

2 ihn]

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Am 28. Juli 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 7,15–20 Nachschrift; SAr 83, Bl. 125v–149v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 229–264; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 115v–116v; Gemberg Nachschrift; SAr 61, Bl. 130r–137v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) 125v

Predigt am achten Sonntage nach Trinitatis 1822 am achtundzwanzigsten Heumonds. |

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Tex t. Matthäi VII, 15–20. Sehet euch vor vor den falschen Propheten, die in Schaafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? Also ein jeglicher guter Baum bringt gute Früchte, aber ein fauler Baum bringt arge Früchte. Ein guter Baum kann nicht arge Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Ein jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. M. a. F. Wir können gewiß nicht ohne eine tiefe Wehmuth diese Worte des Herrn in unser Innres aufnehmen. Er hat dabei, | wie wir aus dem Ersten was wir gelesen haben sehen, diejenigen im Sinne, die er seine Heerde nennt, und vor denen warnen will, welche ihr verderblich werden müssen, ohnerachtet sie den äußern Schein von solchen tragen, die für sie sorgen und pflegen, und eben deswegen auch in dem von der Erde genommenen Schein vor sie hintreten. Daß unter einem Geschlecht, welches gewürdigt worden ist, daß der Sohn Gottes seine Natur annahm, daß unter diesem auch das Böse nicht [verschwunden] ist und immer wieder aufkeimt und lebt und wirkt, schon das, m. g. F., ist für uns Veranlassung genug, uns 1–2 Predigt ... Heumonds.] Dublette der Titelseite auf Bl. 126r

3 VII, 15–20.] VII, 15–21.

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einem wehmüthigen Gefühl zu überlassen. Wenn es nun aber nur da wäre, um diejenigen, deren Gemüth noch seinem verderblichen Einfluß offen und ihm mit | Lust und Freude hingegeben ist, früher oder später zur Erkenntniß zu bringen, welchen verderblichen Weg sie wandeln; wenn es nur dazu wäre, um denjenigen, die schon dem Bessern in sich Raum gegeben haben, zur Warnung zu dienen, und sie auf das verborgene Verderben der menschlichen Natur aufmerksam zu machen: wohl so möchten wir es immer als ein zwar herbes aber doch heilsames Mittel ansehen, dessen sich die göttliche Weisheit bedient. Daß aber nicht nur in dem menschlichen Geschlecht überhaupt, sondern in der Heerde des Erlösers selbst dieser Unterschied sein soll; daß in seinem Weinberge, den er sich selbst gepflanzt hat, und dessen er wartet und pflegt, außer dem fruchtbaren Weinstok und dem Feigenbaum auch die Dornen und Disteln | wachsen sollen, und daß eben diese Vermischung sogar denen, die von seiner Hand gepflanzt sind und von ihm angelegt, so gefährlich werden könne, daß es der Warnung bedarf, die er hier ausspricht: o dies mehr als alles andre muß uns wehmüthig machen und uns mit dem Gefühl erfüllen, in was für zerbrechlichen Schaalen wir das köstliche Kleinod der Erlösung und des ewigen Heils, das uns durch sie geworden ist, tragen müssen. Wenn aber der Erlöser uns eine so schmerzliche Warnung nicht vergeblich kann ertheilt haben – und es bedarf ja auch nur eines aufmerksamen Blikes auf die Geschichte der khristlichen Kirche im Großen und im Kleinen, um uns von der Nothwendigkeit derselben zu überzeugen; | wie oft ist sie theilweise durch solche, die sich als Hirten der Heerde anstellten, aber nur eigennüzige Miethlinge waren, oder wohl gar innerlich reißende Wölfe, von den verderblichsten Leidenschaften beseelt, an den Rand des Abgrundes geführt worden! wie oft geschieht es nicht noch immer, daß wahrhaft heilsbedürftige nach Ermunterung zum Guten durstende Seelen von einem falschen Schein geblendet sich einer verderblichen Begeisterung überlassen für diesen oder jenen, der in Wahrheit nicht zu denen gehört, welche die Heerde des Herrn weiden! und wie spät kommen nicht oft einzelne Seelen und kleine und große Häuflein von Khristen von | solchen Verblendungen des Herzens und von solchen Irrwegen des Geistes zurük! – wenn also auch immer noch nicht die Warnung vergeblich ist, die der Erlöser uns ertheilt, die Warnung nämlich, daß wir uns nicht sollen in den Angelegenheiten seines Reichs von einem falschen Schein, den auch das Verderbliche annehmen kann, blenden lassen: so laßt uns diese Warnung mit einander zu Herzen nehmen, indem wir zuerst die Regel betrachten, die der Erlöser uns giebt, um das Gute und Heilsame von dem Verderblichen zu unterscheiden; dann aber auch | auf dasjenige sehen, was uns selbst obliegt, wenn wir von der Vorschrift des Erlösers den richtigen und heilsamen Gebrauch machen wollen. 15 könne] können

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I. Zuerst also laßt uns sehen, m. g. F., welches ist denn die Regel, die der Herr den Seinigen giebt, damit sie nicht möchten verleitet werden von solchen, die in Schaafskleidern einhergehen, inwendig aber reißende Wölfe sind? Er faßt sie zusammen in den Worten: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen; denn wo gute Früchte sind, da ist auch ein guter Baum, wo aber schlechte Früchte sind, da ist auch ein | arger Baum, der sie hervorbringt. Allein, m. g. F., was ist eigentlich der Sinn dieser in bildliche Worte eingekleideten Regel des Herrn? Laßt uns genau darüber nachdenken; denn es ist nicht so leicht, als es im Augenblik scheint, ihn richtig zu fassen. So wie uns die Worte des Herrn zuerst entgegen kommen, scheinen sie uns nur neue Schwierigkeiten zu bringen in Beziehung auf das, worüber wir uns aufklären und belehren wollen. Er sagt, es giebt Menschen, die inwendig reißende Wölfe sind, sie gehen aber in Schaafskleidern einher. Dadurch macht er uns nun aufmerksam auf den Unterschied, der leider oft genug statt findet, zwischen dem Innern des Menschen und dem äußern Schein, den es annimmt; die | Wolfsnatur ist das Innre, der von außen umgeworfene Schein ist das Äußere. Wir sollen uns also nicht von dem Äußern blenden lassen, und davon einen falschen Schluß machen auf das Innre. Aber wenn nun der Herr, um uns vor diesem Irrthum zu bewahren, in ein anderes Bild übergeht und uns sagt wir sollen den Baum erkennen an seinen Früchten: wie ist denn die Frucht nicht auch etwas Äußeres, etwas in die Augen Fallendes und den Sinnen sich Darbietendes? So giebt er uns also nur ein Äußeres statt des andern; von dem einen sollen wir uns wegwenden und auf das andre sehen. Wie aber ist doch beides zu unterscheiden? Wenn wir eines andern Wortes | unsers Herrn gedenken, in welchem er nicht zwar diejenigen, die schon Mitglieder seiner Heerde waren, aber wohl das Volk, welches ihm zuhörte, und aus welchem seine Heerde sollte gebildet werden, vor solchen warnt, die eben so falsche und verkehrte Leiter desselben waren, nämlich vor den Schriftgelehrten und Pharisäern – so sagt er zu ihnen „richtet euch nach ihren Worten, aber folget nicht ihren Werken“ – so könnten wir also vielleicht meinen, dasselbe habe der Erlöser bei dieser Rede im Sinne; indem er von den Früchten des Baumes rede, so meine er die Werke, unter den Schaafskleidern aber verstehe er die Worte, denn die sind es ja doch vorzüglich, vermittelst deren der Mensch | einen falschen und blendenden Schein um sich zu werfen sucht. Aber, m. g. F., eine nähere Betrachtung wird uns wohl zeigen, daß dies nicht ausreicht. Denn sind Worte nicht etwa auch Werke und Thaten? Ach oft erfolgreicher im Bösen wie im Guten als irgend etwas anderes, was der Mensch zu vollbringen vermag; wie ja auch jener Apostel in seinem Briefe uns warnt dafür, daß die Zunge, ein kleines Glied, das allerwichtigste sei am menschlichen Leibe, 31 Vgl. Mt 23,3

40–2 Vgl. Jak 3,5

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und daß das Verderblichste eben so sehr als das Heilsamste und Segensreichste von demselben ausgehe. Aber auf der andern Seite sind nicht Werke auch sehr oft nichts anderes als eben der leere Schein, den der Mensch durch seine Worte | zu erreichen sucht? Thut nicht der, welcher einmal darauf ausgeht, andre zu hintergehen, auch vieles was nicht aus seinem Innern hervorgeht, um künstlicherweise und wohl überlegt den betrügerischen Worten eine Gewährleistung zu geben durch die That? Wo wäre also derjenige gebessert, der in einem solchen Falle die Worte des Menschen prüfen wollte nach seinen Thaten? Weiter könnten wir denken, das Gewand welches der Mensch umlegt, das ist eine Sache der Nothdurft auf der einen Seite, des Schmukes auf der andern, aber ohne irgend einen bestimmten Erfolg; wo wir uns aber des Wortes Frucht bedienen in irgend einem bildlichen und geistigen Sinne, da | verstehen wir allemal doch darunter, was irgend einen sei es nun guten oder bösen aber nur nicht unbedeutenden und geringen Erfolg in sich schließt, wie nämlich die Frucht den Samen und der Same den Keim eines künftigen Lebens und einer Reihe von Gestalten, die sich aus demselben nach einander entwikeln können. So möge also der Erlöser vielleicht dies gemeint haben, daß wir uns nicht richten sollen nach demjenigen in dem Thun des Menschen, was schon seiner Natur nach ohne einen bestimmten Erfolg ist, dessen er sich aber wohl bedienen kann, um das Urtheil andrer irre zu leiten, und die Gemüther an sich zu loken; wir | sollten daher immer nur auf dasjenige sehen, was das Fruchtbringende ist in seinem Leben, und darauf merken von welcher Art es sei, ob es einen guten oder einen üblen Erfolg hervorbringe in der Welt, die ihn umgiebt, und für die Menschen, unter welche er gesezt ist, und auf die er mit seinen Kräften wirken soll. Aber, m. g. F., auch das kann wohl der Sinn von den Worten des Erlösers nicht sein. Denn freilich sagt er: „jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.“ Aber wann, m. g. F., wann? Ach sehr oft erst, wenn es zu spät ist, dieses Zeichen zu gebrauchen, um ein richtiges Urtheil über die Frucht, die der Mensch gebracht hat, daraus | zu fällen. Das gehört zu der verborgenen Weisheit Gottes, daß der eigentliche und natürliche Erfolg von den Thaten des Menschen ihn oft erst spät trifft. Wenn dies, m. g. F., auf der einen Seite ein Trost ist, dessen die gläubige Seele und der nach der Gerechtigkeit trachtet, nicht entbehren kann – denn wie selten sieht er den Erfolg von seiner Mühe und Arbeit! wie oft wird das Beste, was er gemeint hat, nur mitverwikelt in den Strom der verkehrten Absichten und Bestrebungen derer, die bei ihrem Thun von ganz andern Gesichtspunkten ausgehen und ganz andre Zweke verfolgen! da muß er sich ja wohl trösten mit der verborgenen Weisheit Gottes, daß wie keine Thräne so auch keine Mühe des Gerechten umsonst sei | vor dem Herrn, sondern daß er früher oder 16 der Same] in dem Samen

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später aber gewiß irgendwann sie Frucht bringen läßt in seinem Reiche – wenn aber dies der Trost des Gerechten ist auf der einen Seite, so macht es auf der andern Seite diejenigen, die vor dem Einfluß des Bösen gewarnt werden sollen, unfähig die Vorschrift des Herrn anzuwenden, wenn sie diese sein soll. Denn eben so oft geschieht es auch, daß der natürliche und wahre Erfolg des Bösen erst spät sehr spät eintritt. Wie oft läßt nicht der Herr die Unternehmungen der Gottlosen gedeihen, und gedeihen auf eine solche Weise, daß man das Verkehrte, was sie gewollt haben, an der äußern Gestalt und dem äußern Ansehen dessen was sie bewirkt, nicht | unterscheiden kann; die Frucht sieht schön aus und prangt mit den herrlichsten Farben, sie schmekt auch vielleicht angenehm und erquiklich, wenn sie oberflächlich gekostet wird; aber das Faule, das Verderbliche und Giftige ruht vielleicht in dem innersten Kern, der seine Kraft erst später offenbart. Darum sollten wir mit unserm Urtheil an den Erfolg gewiesen sein, so wären wir an etwas gewiesen, was gleich weit über die Geseze der Natur des Menschen hinausgeht, und von ihm nicht mit Gewißheit geahndet werden kann eben deswegen weil er es selten vollständig sieht. Wenn wir uns nun fragen, was ist denn nun eigentlich der Sinn von dieser Vorschrift des Erlösers? | so können wir wohl bei nichts anderm stehen bleiben als bei Folgendem. Das Gewand legt sich der Mensch um von außen, und wählt es nach seinem Gefallen aus den Gegenständen, die ihm die Natur dazu darbietet; es hängt mit seinem Innern nicht zusammen, und eben deswegen kann er es auch jeden Augenblik jedem vorliegenden Zweke, mag er nun unmittelbar mit dem Gebrauch desselben zusammenhängen oder nicht, angemessen einrichten. Die Frucht aber, m. g. F., ist dasjenige, was aus dem innern Leben des Gewächses hervorgeht ohne Willen und ohne Absicht; und die Meinung des Erlösers diese, daß weil eben dasjenige in Worten sowohl als in Werken uns sehr leicht täuschen kann, was die Menschen thun und darstellen, um irgend eines | bestimmten Zwekes willen, so sollen wir, wenn wir aller Täuschung entgehen wollen, davon ab und immer nur auf dasjenige sehen, was durch die natürliche Einkleidung ihres Lebens und ihres eigenthümlichen Daseins, unabhängig und ohne daß sie etwas Bestimmtes dabei beabsichtigen aus ihnen herauswächst, und sich als eigenthümliche Frucht ihres Lebens beweist. Darin, m. g. F., liegt freilich eine tiefe Wahrheit. Denn weit kann der Mensch das Gebiet der Verstellung und des Scheines ausdehnen, von Worten und Gebehrden anfangend, zu wirklichen Handlungen übergehend, ja ganze Gebiete seines Lebens, ganze Regeln des Thuns und des Bestrebens kann er sich ausbilden und sich ihnen unterwerfen, nicht ohne | eine Gewalt die er sich selbst anthut, ohne daß irgend eine Wahrheit davon in seinem Herzen sei; aber ganz in ein Werk der Kunst und der Lüge sich verwandeln, das vermag kein Mensch; immer wird es Augenblike ge4 anzuwenden,] Hier fehlt eventuell ein Satzteil. 15 Geseze] Kj Gränze 25 zusammenhängen oder nicht, angemessen] Ergänzung aus SAr 102, S. 242

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ben, wo seine innre Natur sich in ihren Früchten zeigt, auf welche wir dann nur merken dürfen, um zu entdeken, wie der Baum beschaffen sein muß, auf welchem sie gewachsen sind. Das also, das sagt der Erlöser voraus, daß wir das Vermögen haben beides zu unterscheiden, und darum verweist er uns von dem einen auf das andre. Wie sich beides auf mannigfaltige Weise jedes in seiner Art zu erkennen giebt, das, m. g. F., ist die gemeinsame Erfahrung unsers Lebens. Wie diese Erfahrung auf das innerste Gefühl des achtsamen Menschen wirkt, wie leicht doch [dem], der einmal Wahrheit | und Falschheit neben einander gesehen hat, ein leiser Verdacht in seinem Innern entsteht bei alle dem, was das Gepräge der Wahrheit nicht trägt, das sagt uns unsre eigene Ueberzeugung, und sicher mögen wir sagen: ist es uns Ernst, so sind wir allemal im Stande dieser Regel des Herrn zu folgen. Aber, m. g. F., zwei Einwendungen dagegen werden doch wohl einem jeden von uns hier einfallen. Zuerst indem der Erlöser diese Worte richtet an diejenigen, die zu seiner Heerde gehören, und diejenigen, vor denen er warnt, bezeichnet als die falschen Propheten: was liegt uns da wohl näher in unserm gemeinsamen khristlichen Leben, als die Anwendung zu machen auf das Verhältniß derer, die das Wort Gottes hören, | sich aus demselben erbauen, und sich durch dasselbe fördern wollen, zu denen, welche berufen sind es zu lehren und den Gemüthern der Gläubigen nahe zu bringen? Wenn die nun, welche in dem Gewande der Hirten der Heerde einhergehen, und deren ganzes äußeres Wesen Leben und Thun die Gestalt derselben an sich trägt, doch innerlich reißende Wölfe sind: so giebt es gewiß kein größeres Verderben und kein gefährlicheres als eben dieses. Aber wie sollen die Khristen denn im Stande sein einer solchen Täuschung zu entgehen? Denn wo einer auftritt als ein Lehrer der Khristen, als ein Diener des göttlichen Wortes, da tritt er auf als einer, der eine bestimmte Absicht erreichen will, der sich alles wohl überlegt und ordnet, der auf die Be|schaffenheit derer welche ihn hören jede Rüksicht nimmt, welche die Mannigfaltigkeit und die Vermischung derselben gestattet. Wenn dem nun die innre Wahrheit nicht ist? wenn der betrügen will? In seinem ganzen Amte ist alles ein solches Gewand, welches er umlegen kann, und die Frucht, die seine innre Natur bringt, die bekommt in der unmittelbaren Ausübung seines Berufs niemand zu sehen. Für dasjenige also, wo es am nöthigsten thäte der Heerde des Herrn, scheint gar nichts vorgesehen zu sein in dieser Vorschrift, die er ertheilt. Dennoch, m. g. F., laßt uns guten Muth fassen zu dem Wort, das uns der Herr gesagt hat. Wie? wenn die Khristen sich versammeln, um sich aus dem Worte des Herrn zu | erbauen, kommen sie denn da, um irgend eines Menschen Stimme zu vernehmen? Kommen sie da, um sich von irgend einem Menschen leiten zu lassen, der doch nichts anderes kann als aus derselben Quelle schöpfen, zu der er sie hinführt, und der nur insofern ihnen vorangehen kann in der Erkenntniß des göttlichen Worts, als er 35 nichts] nicht

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bekennt, daß auch er sein Leben nicht aus sich selbst habe sondern von der Gnade des Herrn? Und was, wenn wir uns versammeln um uns aus dem Worte Gottes zu erbauen, um uns spenden zu lassen die geheimnißvollen Mittel der Gnade, die der Herr in dem Schooß der khristlichen Kirche niedergelegt hat, was | da auf unsre Seele wirkt, ist es die Kunst, ist es die Weisheit, ist es der Verstand, ist es die Einsicht und der eigenthümliche innre Sinn dessen, der da redet? Nein, m. g. F., es ist nichts als die Kraft des göttlichen Worts, die waltet da und wirkt, in diese muß auch derjenige hineingegangen sein, dem es nicht darum zu thun war die Seelen auf den Weg des Heils zu führen, sondern der sie bethören wollte mit seiner Rede; er könnte sie nur bethören, sofern dieselbe zusammenstimmen muß mit dem Worte, auf welches er zurükgehen muß, durch welches er alles begründen muß was er spricht, auf | welches er alles erbauen muß, was er den Gemüthern nahe zu bringen sucht, durch welches er alles anschaulich machen muß, wodurch er die ihn hören erregen will. So ist also, m. g. F., dieses Verhältniß den verderblichen Wirkungen des Betruges und der Heuchelei um so viel weniger unterworfen, als es die Kraft des göttlichen Wortes ist, die in demselben wirkt. Gesezt auch, derjenige der das Wort des Herrn verkündigt, glaubte selbst nicht daran, sondern es wäre ihm in seinem tiefsten Innern ein Ärgerniß und eine Thorheit: will er die Menschen, indem er es lehrt, betrügen, so muß er doch wenigstens den Schein annehmen, von der Kraft desselben ergriffen zu sein, und er muß das Hohe | und Herrliche, das Beseligende und Göttliche in demselben herausheben, um es dem Verstande klar zu machen und dem Herzen nahe zu bringen. So geht er mit seiner Kunst verloren, und das Wort Gottes trägt in dem Innersten der Hörer den Sieg davon über dieselbe; und keiner glaube, daß er Schaden gelitten habe an seiner Seele, wenn ihm das Wort Gottes verkündigt worden ist durch den Mund eines ungläubigen Dieners; denn wie sehr er auch sonst in seinem Innern mit dem göttlichen Wort zerfallen sei, so ist er doch ebenfalls in dem Augenblik der Verkündigung gebändigt gewesen von der hohen und heiligen Kraft desselben. Und wie der Herr in seiner verbor|genen Weisheit die verkehrten Gedanken und Bestrebungen der Menschen zum Guten wendet: so ist es dieses, freilich das Verkehrteste unter allem Verkehrten, was seine verborgene Weisheit immer und überall zum Guten lenkt. Ein anderes, m. g. F., ist es, wenn sich außer dem öffentlichen Verhältniß des Darbietens der Sakramente und der Belehrung aus dem göttlichen Wort ein Verhältniß größern Vertrauens, ein näheres Verhältniß der Freundschaft und Belehrung anknüpft zwischen dem Lehrer des göttlichen Worts und den Gliedern seiner Gemeinde; ja dann mögen diese wohl zusehen, ob er ein rechter Hirt der Heerde sei oder ein Miethling, ob er von ganzem Herzen der Schaafe pflege, | oder ob er innerlich eine Wolfsnatur 2 Herrn?] Herrn.

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verberge. Aber dann werden sie auch Gelegenheit haben seine Früchte zu sehen und ihn an seinen Früchten zu erkennen; denn dann müssen sie mit ihm heraustreten aus seinem öffentlichen Beruf in den Kreis seines häuslichen Lebens und seines unmittelbaren Daseins, da müssen sie ihn belauschen in den Augenbliken, wo er sich nicht mit einem feierlichen Schein umgeben hat, und es kann nicht fehlen, wenn es ihnen um die Wahrheit zu thun ist, daß sie ihn nicht sollten an seinen Früchten erkennen. – Aber, m. g. F., viel schwieriger zu beseitigen ist eine andre Einwendung, die gewiß einem jeden gekommen ist, der bei diesen Worten „an | ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ an seine eigene Brust geschlagen hat. Denn, m. g. F., wenn auch der Geist Gottes Wohnung gemacht hat in dem Gemüthe des Menschen, wenn er auch durch den Glauben umgewandelt ist in einen wahren Jünger des Herrn: ach die eigene sündliche und verderbte Natur sie wird doch nie ganz verwandelt und nie ganz erstikt; und darum eben scheut sich auch der Erlöser nicht, wohlkennend die Schwachheit seiner Brüder, das Gleichniß zu gebrauchen, dessen er sich bedient. Ja nicht nur die Traube und die Feige wächst in dem Weinberge des Herrn, sondern es zeigen sich immer noch die Spuren ja im Einzelnen auch noch die | Früchte von der Pflanze, worauf jenes verderbliche Gewächs gepfropft ist. Wenn dem nun so ist, m. g. F., wenn wir alle zweierlei Frucht tragen, die Frucht des Geistes, die erst allmälig zur Herrschaft über unsre ganze Seele gelangt, und die Frucht die noch herstammt aus der Zeit, welche der Kraft des Geistes entbehrt: wie sollen wir denn den Menschen nach seinen Früchten richten, wenn wir gar treffen den unglüklichen Augenblik, wo die Sünde noch ihr altes Recht über die Seele ausübt? Ja, m. g. F, hier weiß ich keinen andern Rath als daß wir uns in dem Glauben stärken, daß selbst in den unrechten, selbst in den sündlichen | Handlungen derer, die doch geweiht sind zum Leben des Geistes, immer noch etwas sein muß, was dem aufmerksamen Auge das wenn gleich in den einzelnen Handlungen zurükgedrängte und ohnmächtige Leben offenbart; es ist etwas, worin sich die Vergehungen dessen, der jedes Vergehen, so wie er zum Bewußtsein seiner selbst kommt, mit bittern Thränen büßt, von den Vergehungen des Menschen unterscheiden, der noch in Freude und Lust an der Sünde lebt. Schärfen wir also nur noch mehr unsre Aufmerksamkeit, so werden wir auch erkennen, welches der Baum ist, von welchem auch diejenigen Früchte kommen und auf ihm wachsen, die Zeugniß geben von dem Verderben der menschlichen Natur. Aber freilich | gehört dazu, m. g. F., daß wir auch 16–19 Ja ... gepfropft ist.] Diese Aussage ist im Predigtkontext unlogisch. Ihren korrekten Sinn verdeutlicht die Woltersdorff-Parallelüberlieferung, SAr 61, Bl. 135r: „... ach nicht nur die Traube u[nd] Feige wächst in dem Weinberge d[es] H[errn] sondern auch Disteln und Dornen. Wie ein Baum, auch wenn die edle Frucht schon auf ihn gepropft [!] ist – an einzelnen Zweigen Unedle [!] tragen kann, so der Mensch, der das Bessere erkannt u[nd] ergriffen, – auch er kann irregehn – “

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gerüstet sind mit allem demjenigen, was uns selbst obliegt, um die Regel des Herrn anzuwenden, und den richtigen und segensreichen Gebrauch von derselben zu machen, den er beabsichtigt; und das ist es, was wir in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung noch mit einander erwägen wollen. 5

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II. Vielleicht, m. g. F., geht es hiebei manchem von euch eben so wie mir, dem als ich diese Worte des Herrn mir vorhielt, um sie zum Gegenstande unsrer Untersuchung zu machen, zuerst einfiel, wie sie doch wohl eigentlich mit dem andern Worte des Herrn stimmen „richtet nicht, so werdet ihr auch nicht | gerichtet.“ Wenn wir über irgend einen Menschen das Wort aussprechen, das ist eine faule Frucht, deshalb ist er auch ein arger Baum: richten wir nicht? Wer über irgend einen Menschen das Wort ausspricht, mich täuscht nicht das milde Gewand, welches er um sich hängt, ich erkenne doch die innre reißende Natur: richtet der nicht? Wie sagt denn der Herr auf dem einen Blatte derselben Rede, wir sollen richten, damit wir nicht verführt werden; und wieder sagt er auf dem andern „richtet nicht“? Ich habe mir darüber, m. th. F., diese Rechenschaft gegeben. Es giebt eine gewisse Lüsternheit des Menschen, den andern zum Gegenstande seines Urtheilens zu machen; | und vor dieser warnt uns der Erlöser wenn er sagt „richtet nicht, damit ihr auch nicht gerichtet werdet“. Denn diese Lüsternheit sie ist immer verbunden mit der geheimen Neigung, daß uns das Falsche, das Verkehrte, das Unvollkommne in dem Thun und Sein unsrer Nebenmenschen nicht entgehen möge. Und indem wir das suchen – ach wie sollte es uns entgehen, daß wir es nicht finden sollten – aber eben deswegen wird es uns auch eben so gehen, daß wir der Gegenstand dieser Neigung andrer Menschen werden; und je mehr sie sich in uns offenbart, desto mehr unstreitig reizt sie die andern. Und darum hat der Herr dieses gefährliche Schwert des Geistes, diese Lust und Neigung zu richten, zurükgewiesen | in die Scheide durch das Wort: „richtet nicht, damit ihr nicht auch gerichtet werdet.“ Aber, m. g. F., wenn es uns nicht darauf ankommt, ein Urtheil zu fällen über den Menschen, und dadurch sein gar oft so geheimnißvolles verborgenes Dasein von unserm eigenen Wesen und Gemüth zu unterscheiden; wenn wir lediglich daran denken, wie wir von Gott in die Gemeinschaft der Menschen gesezt sind, wo keiner durch sich selbst etwas vermag, wo wir nur durch Vereinigung der Kräfte das Reich Gottes mit einander fördern können, und jeder seinen Beruf zur Verherrlichung Gottes und zum Wohl des Ganzen zu treiben im Stande ist: dann ist es uns | ja nothwendig, aus keiner andern Uhrsache als damit wir das Werk des Herrn treiben können, daß wir wohl erwägen wem wir selbst unsre Kräfte leihen, um seine Zweke zu fördern, und wen wir zu Hülfe rufen, um das Geschäft auszurichten, 9–10.16.20.29–30 Mt 7,1; Lk 6,37

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welches der Herr uns aufgetragen hat. So wir nur das wollen, nicht richten um zu richten, sondern uns hüten, daß wir nicht durch Unachtsamkeit und Uebereilung, daß wir nicht durch einen falschen Schein das Werk des Herrn verderben: dann, m. g. F., wollen wir nicht anders richten als wir verlangen gerichtet zu werden. Denn was können wir besseres wünschen als daß jeder, der uns zu Mitgenossen seiner Thätigkeit macht, eben so sehr unsre Fehler und Unvollkommenheiten erkenne, damit er ihnen ab|helfen und sie verbessern könne, und so das gemeinsame Werk ein schöneres und vollkommneres werde, wie wir selbst wünschen, daß wir die Vorzüge andrer erkennen, um sie zu benuzen. Wenn wir nun unsrerseits nichts wollen als ein richtiges Urtheil über die Menschen zu haben, insofern es für sie und für uns eine gemeinsame Arbeit giebt, und ein gemeinsames Werk des Herrn, und alle, die uns auf dem Wege des Lebens begegnen, uns förderlich sein können oder hinderlich: Dann fallen wir nicht unter jenes Wort des Herrn; aber dann müssen wir alle unsre Aufmerksamkeit anwenden, um unter das zu fallen, welches wir heute zum Gegenstand unsrer Betrachtung gemacht haben, und | den Segen des Herrn zu genießen. Wenn wir nun auf die Schwierigkeit sehen, die wir uns zulezt vorgehalten haben, und die die größte ist, wie sollte uns dann nicht das Wort des Erlösers einfallen „wenn dein Auge licht ist, so wird dein ganzer Leib licht sein; wenn aber dein Auge ein Schalk ist, so wird dein ganzer Leib finster sein“? Ein helles Auge des Geistes das ist es was wir bedürfen, um das Wort des Herrn anzuwenden, und den Segen desselben in unserm ganzen Leben zu genießen. Aber was gehört denn dazu, daß das Auge des Geistes, insofern es durch das Äußre hindurchdringen, und sich das Innre dem Menschen entdeken soll, daß das Auge in diesem | Bestreben hell sei und licht? Nur zweierlei, m. g. F., einfach und leicht. Das Auge nur wird hell sein, welches fleißig und aufmerksam nicht nur nach außen geht, sondern sich oft auch in sein eigenes Inneres zurükzieht, dem Äußern sich verschließend. Achten wir auf uns selbst, und machen uns selbst zu dem Gegenstand der nämlichen redlichen Betrachtung, daß wir auch in uns unterscheiden mögen die reife und edle Frucht von der faulen und verderblichen, die innre Natur von ihrer äußern Umgebung; wenn wir das für uns selbst wollen: o dann werden wir belehrende Erfahrungen einsammeln, um auch in andern, die doch verschwisterte Seelen sind, und derselben Natur mit uns theilhaftig, mit derselben | Gewißheit zu erkennen, was ihr Innres ist und was nicht. Aber zweitens, m. th. F., Wahrheit und Liebe das sind zwei Kräfte, die in dem Leben des Khristen eine der andern nicht entbehren kann; vereint aber bilden sie erst das reine und göttliche Leben, in welchem wir wandeln, und was sich auch ganz vorzüglich in unserm Verkehr mit den Menschen und in unserm Urtheilen über sie offenbaren soll. Darum sollen wir auch nur 20–22 Vgl. Mt 6,22–23; Lk 11,34

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Wahrheit suchen in Liebe, und darum soll unsre Liebe keinen größern Gegenstand haben und heilig halten, als die Wahrheit zu offenbaren. Die Wahrheit sollen wir suchen in Liebe; denn ein verhärtetes Gemüth das findet die zarte Wahrheit nicht, auf die es hier ankommt, wenn wir nicht aus Furcht von andern zurükgestoßen zu werden verhärtet uns selbst wiederum | täuschen. Und auch die Liebe soll nun keinen größern Gegenstand haben als die Wahrheit, weil wir wissen, mit aller Kraft der Liebe werden wir unsern Brüdern nur in dem Maaße behülflich sein können bei ihrem Streben nach dem gemeinsamen hohen und herrlichen Ziele, welches uns der Herr aufgestekt hat, als wir die Wahrheit ihres Lebens durch die Kraft der Liebe erkannt haben, als wir wissen, wo sie unsrer Hülfe bedürfen, und wo wir ihnen dienen können mit den Gaben, die uns Gott verliehen hat, um ihr inneres geistiges Wohl zu fördern. Das ist der helle Blik eines wahrhaft khristlichen Gemüths, welcher die Tiefen der Wahrheit nicht scheut – denn er ist geleitet von dem Geiste Gottes, der alle Tiefen der Wahrheit ergründet und erforscht – aber welcher auch die Wahrheit | nur sucht um das Reich der Liebe zu fördern, und jede gefundene Wahrheit in der Kraft der Liebe zu gebrauchen. Das ist das lichte Auge des Khristen, dem das richtige Bild seines Bruders, wo er dessen bedarf, recht entsteht, und das wir nur geöffnet zu haben brauchen, um der Vorschrift zu folgen, die der Herr uns ertheilt, und gewiß nicht hintergangen zu werden von einem faulen Baume, der arge Früchte trägt. Aber, m. g. F, wenn dieses reine auf nichts anderes als auf das Reich der Liebe und dessen Förderung durch die göttliche Gnade gerichtete, wenn dieses durch demüthige Selbsterkenntniß auf Wahrheit gerichtete Auge für uns genügt, um uns diese Vorschrift erfüllen zu helfen: ich will euch einen köstlicheren Weg zeigen. Ach diese | Vorschrift, die uns der Herr giebt, sie soll nicht bloß erfüllt werden, sondern sie soll entbehrlich gemacht werden. Der Leib des Menschen bedarf der Kleidung, er drükt dadurch sein ganzes Verhältniß zu der Welt, in die ihn Gott gesezt hat, aus, das Verhältniß der Herrschaft auf der einen Seite, aber der wohl erworbenen Herrschaft und des Bedürfnisses, worauf diese ruht, auf der andern Seite. Aber die Seele braucht sie eines Gewandes und soll sie eines tragen? Nein, sie soll jener Pflanze gleich sein, die alle Schönheit der Farben und alle Herrlichkeit der Gestalt rein aus ihrem eigenen innern Leben entwikelt, welches Gott in sie gelegt hat. So auch die Seele des Menschen, sie soll keines Gewandes brauchen und keines Schmukes; | alles was aus ihr hervorgeht, wie kräftig, wie stark es immer sein mag, soll doch zugleich so lieblich und erfreulich sein, daß es das Auge nicht schwächt und keinen wiedrigen Anblik darbietet. Denn alle khristliche Tugend und Gottseligkeit ist schön und anmuthig, wie der Herr selbst der größte Spiegel der Schönheit und Anmuth des Geistes gewesen ist. O, m. g. F., laßt uns doch das bedenken und tief fühlen, wie sehr wir uns in der 15–16 Vgl. 1Kor 2,10

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Entwiklung der Seele zur Reinheit und Schönheit zurükhalten, wenn wir nicht ganz der Wahrheit dienen, wenn wir die Seele mit einem Schmuk umgeben, der ihr fremd ist, wenn wir irgend etwas anlernen, was kein Eigenthum unseres innersten von Gott gepflanzten Lebens ist. Je mehr wir alle darnach trachten, den Schmuk entbehrlich zu machen, o desto leichter wird es uns sein bei | allen denen, die diesen Sinn nicht theilen, den Schmuk zu erkennen und von der Wahrheit zu unterscheiden. Aber nur eine Sache der Noth sei uns jener, diese der Gegenstand unsrer heiligsten und schönsten Bestrebungen. Denn wie können wir glauben, daß wir frei sind und in der Freiheit der Kinder Gottes wandeln, wenn noch irgend etwas von Trug und Schmuk an uns ist? Denn der Herr sagt: „Die Wahrheit wird euch freimachen“; und wenn er sagt „so euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“, so kommt es davon, daß er selbst der Weg und die Wahrheit und das Leben ist. So, m. g. F., giebt es allerdings in dem Leben des Khristen Tugenden der Nothdurft, die er üben muß; und wie wir unsre Betrachtung mit einem wehmüthigen Gefühl angefangen haben, so können wir | nicht anders als sie mit diesem wehmüthigen Gefühl schließen, daß es ein trauriges Zeichen ist von der Unvollkommenheit unsers irdischen Zustandes, davon wie wenig das Reich des Sohnes Gottes hier zu seiner Vollendung und Schönheit gelangt, daß wir diese Tugenden immer noch üben müssen und bedürfen, daß wir die Menschen erkennen an ihren Früchten. Wohl, so laßt uns denn damit uns trösten, daß wir auf das Schönere und Herrlichere sehen, und jeder suche sich selbst dadurch geschikt zu machen, daß er ganz in dem Lichte der Wahrheit wandeln soll. Denn das ist die höchste Vollendung dessen, der wie es denn unser gemeinsames Ziel ist, strebt gleich zu sein dem vollkommnen Mannesalter Khristi, der von sich sagen konnte, daß er die Wahrheit selbst sei. Amen.

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[Liederblatt vom 28. Juli 1822:] Am 8. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Auf dich hab ich gehoffet Herr, / Laß du mich nun und nimmermehr / Zu Spott und Schanden werden. / Ich bitte dich, / Erlöse mich / Von aller Noth der Erden. // [2.] Gott, mein Beschirmer, steh mit bei, / Mach mich von allen Banden frei, / Laß ritterlich mich kämpfen! / Ja stärke mich, / Damit durch dich / Den Feind ich möge dämpfen! // [3.] Ich baue sicher auf dein Wort, / Du bist allein mein Fels und Hort, / Mein einzig Heil, mein Leben. / Mein starker Gott / In aller Noth, / Wer mag dir widerstreben? // [4.] Groß 11 Joh 8,32

12 Joh 8,36

13.26 Vgl. Joh 14,6

24–26 Vgl. Eph 4,13

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ist der Trug der argen Welt, / Die heimlich ihre Neze stellt, / Um mich hinein zu ziehen. / Nimm meiner wahr / In der Gefahr, / Daß ich ihr mög’ entfliehen. // [5.] Gott Vater sei von uns gepreist, / Samt deinem Sohn und heilgen Geist, / Wir ehren deinen Namen. / Dein ist die Kraft, / Die Sieg uns schafft / Durch Jesum Christum. Amen. //

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Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Du sagst, ich bin ein Christ; / Wohl dir wenn Werk und Leben / Dir dessen, was du sagst, / Beweis und Zeugniß geben! / Der Name gnüget nicht; / Ein Christ muß ohne Schein, / Das, was er wird genannt, / Im Wesen selber sein. // [2.] Du sagst, ich bin ein Christ; / Bist du zur Kindschaft kommen, / Da du des Höchsten Sohn / Im Glauben angenommen? / Wo ist der fromme Sinn, / Wo ist der Kindschaft Geist, / Der auch in Kreuz und Noth / Gott Abba Vater heißt? // [3.] Du sagst, ich bin ein Christ; / Ist es auch dein Bemühen, / Den Herren Jesum Christ / In Wahrheit anzuziehen? / Fühlst du in dir so Trieb / Als Kraft zur Heiligkeit? / Jagst du dem Frieden nach? / Bist du zum Kreuz bereit? // [4.] Du sagst, ich bin ein Christ; / Die Christen sind auch Erben / Von ihres Vaters Reich, / Und können fröhlich sterben. / Blüht auch in deiner Brust / Die Hofnung jener Ruh, / Und schließest du darauf / Getrost die Augen zu? // [5.] Sag nicht, ich bin ein Christ, / Bei einem todten Glauben; / Denn Gottes Wort kann dir / Dies Rühmen nicht erlauben. / So lang du leer und bloß / Von Glaubensfrüchten bist, / So bist du noch ein Baum / Der reif zum Feuer ist. // [6.] Ach nahe dich zu Gott, / Gedrängt von Reu und Schmerzen, / Wirf dich vor seinen Thron, / Sprich mit zerknirschtem Herzen; / Herr flöß durch deinen Geist / Mir Buß und Glauben ein! / Dann bist du recht ein Christ, / Und wirst einst selig sein. //

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Nach der Predigt. – Mel. Hier legt mein Sinn etc. [1.] Stärk in mir Glauben, Hofnung, Liebe, / Und gieb daß ich sie thätig übe, / Daß ich entfernt von Heuchelei, / Ein wahrer Jünger Jesu sei. // [2.] Gieb daß ich so auf dieser Erde / Des Christen Namens würdig werd, / Und wirk in mir zu deinem Ruhm / Das ächte wahre Christenthum. //

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9. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,16–18 Nachschrift; SAr 84, Bl. 1r–23v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 265–298; Andrae Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 545–563 und S. 564–581 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Frühpredigt am neunten Sonntage nach Trinitatis 1822 | Tex t. Philipper II, 16–18. Auf daß ihr mir seid zu einem Ruhm an dem Tage des Herrn, als der ich nicht vergeblich gelaufen, noch vergeblich gearbeitet habe. Und ob ich geopfert werde über dem Opfer und Gottesdienst euers Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen. Desselbigen sollt ihr euch auch freuen, und sollt euch mit mir freuen. Der Apostel, m. a. F., hatte in den vorhergehenden Worten, die wir neulich mit einander erwogen haben, den Khristen die Ermahnung gegeben, sie sollten alles thun ohne Murren und ohne Zweifel, um ohne Tadel und lauter als Gottes Kinder zu wandeln mitten unter dem verkehrten Geschlecht, unter welchem sie scheinen möchten als Lichter in der | Welt, dadurch daß sie hielten ob dem Worte des Lebens. Und nun fügt er hinzu was wir eben gelesen haben „mir zu einem Ruhm am Tage Khristi“, und wie es weiter folgt. Der Apostel geht also hier, m. g. F., über von einer Ermahnung und Bitte, die in dem Verhältniß der Khristen zu ihrem Herrn selbst und zu ihrem Beruf in der Welt gegründet ist, vermöge dessen ja alle Khristen als Lichter scheinen sollen unter den übrigen Menschen, von dieser Ermahnung und Bitte geht er über, indem er ihnen Beweggründe dazu giebt, die in ihrem

[Zu Z. 1 von Schleiermachers Hand:] Phil. II, 16–18 8–13 Vgl. oben 23. Juni 1822 früh über Phil 2,14–16

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Verhältniß zu ihm selbst gegründet sind, indem er es ihnen als etwas Wünschenswertes darstellt, daß sie ihm zum Ruhme gereichen möchten am Tage Khristi. | Damit nun verband sich natürlicher Weise die Ungewißheit über sein damals ihm bevorstehendes Schiksal, und wie nahe ihm selbst für seine Person der Tag Khristi sein möchte. Darum fügt er hinzu die zweite Hälfte unsers Textes „und wenn ich auch selbst sollte geopfert werden in dem Dienst, den ich Gott leiste, durch die Verkündigung des Evangeliums unter euch und unter andern, so sollt ihr euch darüber freuen, wie ich mich auch freue.“ Auch diese Sache also bringt er hier unter den Gesichtspunkt seines Verhältnisses zu denjenigen, denen er das Evangelium verkündigte. Auf dieses Verhältniß also, m. g. F., weisen uns die Worte unsers Textes ganz besonders hin, und wir finden darin manches auf den ersten Anblik vielleicht | Schwierige und Dunkle, was uns aber näher erwogen gewiß wird zur Befestigung in der Wahrheit und zur Aufrichtung unsers Gemüthes dienen. I. Gleich das Erste also mag auf den ersten Anblik wohl aussehen, als wenn es nicht aus der ganz reinen khristlichen Ansicht über die menschlichen Verhältnisse hervorgegangen wäre. Denn wenn der Apostel den Khristen dazu, daß sie seiner Ermahnung Folge leisten möchten, den Beweggrund auch darlegt, daß er zu ihnen sagt, sie würden ihm darüber zum Ruhme gereichen am Tage Khristi, als einem, der nicht vergeblich gelaufen wäre, noch vergeblich gearbeitet hätte: so möchten wir wohl fragen, was denn der Apostel sich für einen Ruhm bereiten wollte durch die khristliche Gottseligkeit derer, | denen er das Evangelium verkündigte? er welcher ja selbst in seinem Briefe an die Korinther sagt: „so ist denn derjenige sowohl der da gepflanzt hat, als auch der der da begießt, sie sind beide nichts außer Gott allein, der da Segen giebt und Gedeihen.“ Und wenn wir es recht erwägen, wie sollte es auch möglich sein, daß sich irgend ein Mensch einen Ruhm machen könnte aus dem, was durch die Kraft des Evangeliums in den Seelen der Menschen gewirkt wird? Ja noch mehr, wie könnten wir uns wohl die Gemeine der Khristen vorstellen als auf eine solche Weise getheilt, zumal in Beziehung auf den Tag des Herrn, daß einige die sind, welche sich einen Ruhm | machen, an den andern, und alsdann wiederum andre, die weniger sich selbst als nur einem andern zum Ruhme gereichen? Wir sind so sehr überall in der Schrift – und das ist ja auch übereinstimmend mit der Stimme des khristlichen Glaubens in unserm eigenen Herzen – ganz und gar an den Einen gewiesen, der unser aller Meister ist, wie auch der 34 machen] machen, 26–28 Vgl. 1Kor 3,7

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Apostel sagt „niemand ist euer Meister denn Khristus.“ Dem also sollen wir zum Ruhme gereichen am Tage des Herrn, und zu dem verhält sich die ganze Schaar der Khristen so, daß er zwar allen Ruhm und alle Ehre von ihnen hat an seinem Tage, sie alle insgesammt aber nicht sich selbst, aber auch eben so wenig keiner dem andern, sondern alle demjenigen zum Ruhme gereichen, von wel|chem der Besiz aller Güter, die sie genießen, so wie die innerste Lebenskraft ihres Geistes und das volle Gefühl ihrer Seligkeit ausgegangen ist. So wie also der Apostel hier redet, so stellt er sich gleichsam in die Mitte zwischen den Erlöser und seine Gläubigen, gleichsam als einen untergeordneten Mittler, auf welchen sich auch ein großer Theil der Gemeine des Herrn auf eine besondre Weise bezöge, und der ähnlich dem Erlöser ebenfals eine Schaar von Erlösten aufzustellen hätte, die ihm zum Ruhme gereichen sollten. Wir sind alle weit entfernt – und das gehört mit zu dem Eigenthümlichen unsrer evangelischen Kirche und der in ihr herrschenden Lehre – den Beruf derer, die unter uns Diener des göttlichen Wortes sind, | auf eine solche Weise anzusehen, als ob sie irgendwie in der Mitte ständen zwischen Khristo und zwischen der Gemeine der Gläubigen, sondern wie Einer nur unser aller Meister ist, so haben wir auch nur Einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich Khristum Jesum, und zwischen ihm und uns bedürfen wir gar keines andern Mittlers, denn er hat sich selbst einem jeden verheißen, der an seinen Namen glaubt, ohne daß es dabei noch eines Dritten zwischen ihnen bedürfte. Von diesem Gefühl war auch der Apostel so durchdrungen, daß er sich nicht nur an der Stelle in seinem Briefe an die Korinther, die ich schon vorhin angeführt habe, sondern auch an vielen andern auf das deutlichste darüber ausspricht. | Und wenn er freilich auch an jener Stelle seines Briefes die Khristen ermahnt, daß sie diejenigen, die unter ihnen arbeiteten an dem Worte Gottes, achten sollten und ehren: so stellt er sie doch nur so dar, ob sie ihm oder andern Khristen sollten zum Ruhm und zur Ehre gereichen. Ja wenn wir es noch weiter überlegen, m. g. F., so muß uns auch von einer andern Seite einleuchten, daß das nicht so ist und nicht so sein kann. Denn wie Gott der Herr selbst überall in der menschlichen Welt sich menschlicher Mittel bedienen muß, um seine weisen und gütigen Absichten zu erreichen, und der Erlöser selbst, das Wort welches im Anfang bei Gott war, Mensch werden mußte und Fleisch, um | unter seinen Brüdern, die ihm gleich wären, den Willen seines himmlischen Vaters zu erfüllen; so bedient er sich auch, um durch die Kraft des Evangeliums die Seelen der Menschen zum wahren Heil zu führen, immer wieder menschlicher Mittel. Schon das geschriebene Wort Gottes, das wir in unsern heiligen Schriften finden, obwohl wir in demselben verehren und jeder nach seinem Maaße vernehmen die Stimme 1.18 Vgl. Mt 23,8.10 Joh 1,1.14

18–19 Vgl. 1Tim 2,5

23–24 Vgl. 1Kor 3,7

34–35 Vgl.

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des göttlichen Geistes, von welchem die Verfasser unsrer heiligen Bücher erfüllt waren, es ist doch auch menschliche Schrift und menschliche Rede. Und wiederum nur in dem gegenseitigen Umgang und Verkehr der Gläubigen unter einander, indem | der welcher hat, dem andern mittheilt was ihm fehlt, indem einer dem andern zu Hülfe kommt mit den Gaben des Geistes, die ihm verliehen sind, und indem jeder Stärkere dem Schwächern besonders in den Augenbliken, wo diesen die eigene geringe Kraft am meisten verlassen will, mit wohlwollendem Gemüthe beisteht, nur so kann eine Führung menschlicher Seelen Statt finden. Aber eben deswegen, m. g. F., weil es so ist, so kann auch keiner unter uns einen Ruhm haben an dem andern, weil keiner einen Maaßstab hat, um dasjenige darnach zu bestimmen, was er in dem Gemüthe des andern gewirkt hat. Denn so wie auch die reinsten und | lautersten Absichten können unwirksam gemacht werden durch entgegentretende Kräfte und durch den Wiederstand derer, die nach einem andern Ziele streben: so kommt auch jedem guten und reinen Willen in seiner Ausführung gar vieles zu Hülfe, was wir kaum wahrnehmen, was wir noch weniger mit einander vergleichen und nach seinem Werthe für unser Thun abschäzen können, aber wovon ein großer Theil der Wirkung welche erreicht wird abhängt. Das fühlen wir gewiß auch alle, so vielen unter uns anvertraut ist, auf andre Menschen leitend bewahrend ermunternd befestigend und stärkend zu wirken; immer ist einem jeden | der bestimmte Kreis seines Berufes angewiesen, in welchem er das Werk des Herrn nach bestem Vermögen fördern soll; aber wenn dieses gleich gedeiht, so weit er es zu überschauen vermag, und er Freude darüber hat, wie die Früchte seiner Bemühungen im Segen reifen, so wird er auch gestehen müßen, daß er das alles nicht für sein Werk allein halten kann, sondern wenn ihm neben allem Eifer, aller Treue, allem guten Willen, womit er selbst sein Werk nicht nur begonnen, sondern auch durchgeführt hat, nicht manches andere wäre zu Hülfe gekommen, er sich dieses Erfolges nicht würde erfreuen können. Ja wenn es nicht so wäre, wie sollten wir uns trösten über die Unscheinbarkeit – denn so ist es doch in den meisten | Fällen – dessen was jeder unter uns in dem ihm angewiesenen Berufskreise auszurichten vermag. Gewiß müssen wir sagen, daß wir Unrecht thun würden den Dienern des Herrn, wenn wir die Reinheit ihres Willens, die Lauterkeit ihrer Gesinnung, die Gottseligkeit ihres Strebens abmessen wollten nach dem demjenigen was sie wirklich ausrichten. Denn so wie dieses oft groß ist und in die Augen fallend, so auch hat es oft nur einen geringen Umfang und verschwindet als etwas Unscheinbares. Und so ist es in jedem Kreise menschlichen Berufs, daß der Erfolg unsrer Bemühungen nicht selten wenig oder gar nicht zum Vorschein kommt. Dann verlassen wir uns darauf, daß 6 jeder] Ergänzung aus SAr 102, S. 273 10 weil es so ist,] Ergänzung aus SAr 102, S. 274 29 andere] Ergänzung aus SAr 102, S. 275

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Gott das Gute, was jeder im Dienste seines Herrn gewirkt | hat, nicht verloren gehen läßt, daß der Erfolg desselben hierhin und dorthin zerstreut sei, vermischt mit der Thätigkeit und den Wirkungen andrer Menschen; aber Gott der Herr, so meinen wir, werde das schon zu scheiden wissen, und dann einem jeden das Seine geben. Gott giebt es auch, aber das ist, und selbst am Tage des Herrn, das Urtheil Gottes, der allein vermag so in das Innre des menschlichen Herzens zu dringen, und das ganze Gewebe des menschlichen Lebens, wie verwikelt es auch dem kurzsichtigen Auge des Menschen erscheinen mag, so zu durchschauen, daß er einem jeden seinen Theil zuschreiben kann; aber wir können es weder wahrnehmen, noch eine Gewißheit darüber erlangen, und das Urtheil Gottes kann sich uns nicht | mittheilen, weil sonst die Allwissenheit Gottes unser Eigenthum und Besiz werden müßte. Was aber einer sich zum Ruhme anrechnet, das muß in seinem Gemüthe eigene tiefe Wahrheit haben, er selbst muß eine Ueberzeugung davon haben und nicht ein andrer. Und so ist auch auf dieser Seite nicht zu verstehen, was der Apostel damit meint, daß die Khristen darin, so sie hielten ob dem Worte des Lebens, ihm zum Ruhme gereichen sollten am Tage des Herrn. Und wenn er hinzufügt, ihr sollt mir zum Ruhme gereichen „als der ich nicht vergeblich gelaufen bin, noch vergeblich gearbeitet habe“: so scheint auch dies noch im Wiederspruch zu stehen mit jenen andern seiner Worte, welche ich schon angeführt habe. Denn darin wird er wohl einig mit uns gewesen sein, daß auch der Erfolg nicht abhängt von der Arbeit des Menschen und von der Schnelligkeit seines Laufs, sondern alles von | dem allein, der das Gedeihen giebt, sei es viel oder wenig, sei es manchem der Arbeiter keins, nach seinem Wohlgefallen. Wir finden aber wohl allerdings den Schlüssel zu diesen Worten des Apostels in demjenigen, was unmittelbar vorhergeht, daß er nämlich sagt, dadurch daß ihr haltet ob dem Worte des Lebens werdet ihr mir zum Ruhme gereichen am Tage des Herrn. Denn er war es doch, der ihnen das Wort des Lebens gebracht hatte. Hätte er es ihnen nun nicht lauter gegeben und rein, wie er es von dem Herrn empfangen hatte, sondern mit Zusäzen menschlicher Weisheit, welches er aber immer von sich abweist, wie er denn auch zu den Khristen sagt, er werde nicht zu ihnen kommen mit hohen Worten menschlicher Kunst und mit stolzen | Reden menschlicher Weisheit, um ihnen die göttliche Predigt zu verkündigen; hätte er aber das gethan: dann würden sie ihm nicht haben ob dem Worte des Lebens zum Ruhme gereichen können, weil sie es wirklich nicht empfangen hätten, sondern statt der reinen göttlichen Wahrheit wäre es etwas Anderes, etwas Untergeordnetes, Menschliches, Unvollkommnes, Vergängliches gewesen, was sie 10 noch] Ergänzung aus SAr 102, S. 277 33–35 Vgl. 1Kor 2,1

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gehabt und nur für jene gehalten hätten; und dies würde ihm zur Unehre gereicht haben, daß er das Wort des Evangeliums nicht lauter und rein, sondern nach seinen eigenen Ansichten, Gemüthszuständen und Bedürfnissen auch eigenthümlich gestaltet verkündigt, und daß sich dann auch in der ganzen übrigen Gestaltung des Lebens in seiner Gemeine das Unvollkommne abgespiegelt hätte, was durch ihn selbst wäre hin|eingetragen worden. Der Apostel sagt anderwärts, wo er von der Verbreitung des Evangeliums durch das Mittel der Diener des Herrn und der Verkündigung seines Wortes redet, einen andern Grund könne eben keiner legen außer dem der gelegt ist, welcher ist Jesus Khristus; aber auf diesen Grund könne allerdings der eine bauen ein herrliches und dauerhaftes Gebäude aus reinem köstlichem Stoff, und ein andrer ein vergängliches aus nichtigem eitlem Gebilde, welches die Prüfung des Feuers nicht bewährt; jenes wird dann freilich dem, der es errichtet hat, zum Ruhme gereichen, das leztere hingegen seinem Urheber zur Unehre. Und so meint denn der Apostel hier, wenn er sagt, ihr werdet mir zum Ruhme gereichen | am Tage des Herrn, dadurch daß ihr haltet ob dem Worte des Lebens, dadurch daß deutlich hervorgeht, das Maaß, nach welchem ihr euch meßt, sei kein anderes als das reine Wort des Herrn, das Ziel, welches ihr zu erreichen sucht, sei nichts anderes als die Ähnlichkeit mit unserm Herrn und Meister, wie er euch der Wahrheit nach ist vor Augen gemahlt worden, eben dies würde ihm zum Ruhme gereichen, weil es ein Zeugniß ablege, daß er sein Amt und seinen Beruf treu erfüllt, und nichts von dem Seinigen hinzugethan habe. Und darum fügt er hinzu, ihr werdet mir zum Ruhme gereichen am Tage des Herrn „als der ich nicht vergeblich gelaufen bin, noch vergeblich gearbeitet habe“. Denn, m. g. F., so ist es wohl. Das Göttliche allein besteht, alles Menschliche aber vergeht. Wer nun seine | Mühe und seinen Fleiß daran wendet, ein menschliches Werk zu errichten, aber in der Meinung daß er dadurch das Reich Gottes bauen helfe, ja der läuft vergeblich und arbeitet vergeblich; das was er beabsichtigt und worauf sein ganzes Streben gerichtet ist, wird er nie erreichen, indem das Menschliche vergeht und nicht bestehen kann. Wir arbeiten alle an menschlichem Werk, und das ist ein großes Theil unsers Berufs; aber indem wir es thun, so wissen wir, daß wir etwas Vergängliches wirken, welches gut ist und nüzlich für eine kurze Zeit nach dem Willen Gottes, aber auch bestimmt von einem Bessern verdrängt zu werden, sobald seine Stunde geschlagen hat; und keiner kann etwas Beßres wünschen, als daß es dem Werk, woran er arbeitet, | und welchem er einen großen Theil seiner Lebenszeit und seiner Kräfte widmet, eben so ergehen möge, daß es bald durch etwas Vollkommneres und Beßres verdrängt werde. Sofern wir aber an der Gemeinde Gottes bauen, so arbeiten wir an einem Werke, welches nicht für die Zeit ist, sondern für die Ewigkeit, das ist dasjenige, was durch 9–15 Vgl. 1Kor 3,11–15

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keine feindselige Gewalt jemals soll überwunden werden, es ist dasjenige, worüber es auch niemals etwas Herrlicheres und Größeres geben kann, weil es das Werk Gottes und seines Sohnes selbst ist, und die göttliche Weisheit und Liebe sich darin spiegelt. Wer nun daran arbeiten will, der kann und soll auch nichts dazu nehmen, | als was die göttliche Gnade und Barmherzigkeit zur Förderung des Reiches Gottes in der Gemeine Khristi niedergelegt hat, das heißt: es kann in der Gemeinde Gottes nur gearbeitet werden durch die Gaben des göttlichen Geistes, die von oben kommen, und zu denen sich der Mensch nur verhält wie ein Werkzeug, in welchem die göttlichen Kräfte ruhen, und wodurch das Reich des Herrn immer mehr soll verherrlicht werden. Sofern aber ein jeder von seinem Eigenen und von demjenigen was andern gehört mit zunimmt, in demselbigen Maaße bringt er auch Vergängliches hinein, und indem er glaubt an dem | Unvergänglichen gearbeitet zu haben, hat er nichts anderes gethan als für dasjenige gewirkt, was der Vergänglichkeit unterworfen ist, und so hat er vergeblich gearbeitet; und indem er meint nach jenem höhern Ziele gelaufen zu sein, ist er eiteln Bestrebungen nachgegangen, und so ist er vergeblich gelaufen. Sehet da, m. g. F., das ist von dieser Seite angesehen das einzige Verhältniß zwischen denen, die an dem Worte Gottes arbeiten und ihm dienen, und zwischen denen, die es aus ihrem Munde vernehmen. Für die lezteren soll es etwas viel zu Geringes sein, daß sie einem Menschen zum Ruhme gereichen, sondern | sie sollen vielmehr dafür sorgen, daß sie selbst am Tage des Herrn ihm selbst zum Ruhm und zur Ehre gereichen, und das Ihrige beitragen, daß dann der Herr seinem und unserm gemeinsamen himmlischen Vater seine Gemeinde so darstellen könne, wie sie seiner würdig ist, ohne Tadel und Fleken. Und diejenigen, welche an dem Werke Gottes arbeiten, die sollen es wissen und fühlen, daß der Abstand, der zwischen ihnen und unserm gemeinsamen Herrn und Meister statt findet, nicht zuläßt, daß sie sich selbst in ihrem Verhältniß gegen ihn eine andre Stelle geben als die, welche allen Khristen eigen ist; auch sie sollen nicht glauben, daß sie am Tage des | Herrn mit irgend einem andern Ruhm vor ihn treten können, als alle diejenigen die wahrhaft an seinen Namen glauben, oder daß irgend etwas in der Gemeinde Gottes sich auf sie besonders beziehe und ihnen zum Ruhme gereiche, sondern alles nur auf denjenigen, dem allein Ruhm und Ehre gebühren kann. Aber etwas haben sie doch, nämlich dies, daß sie das Wort Gottes lauter und rein verkündigt haben, nichts davon genommen und nichts hinzugethan; das ist der einzige Ruhm, den sie vor Gott und den Erlöser bringen können. Aber was hat es mit diesem für eine Bewandniß? Die daß doch immer das Wort des Herrn wahr bleibt „so ihr alles gethan habt was ihr zu thun verpflichtet wart, so sprecht, wir sind unnüze Knechte“, | das heißt immer wieder solche, die sich keine besondre Frömmigkeit, 39–40 Lk 17,10

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welche sie sich erworben, keinen besondern Gehorsam, den sie ihrem Herrn und Meister geleistet, keine besondre Gemeinschaft des Herzens und des Willens, in der sie mit ihm gestanden, zuschreiben können als ihr Verdienst. Hätten sie aber das Wort Gottes nicht lauter und rein verkündigt, sondern von eigener oder fremder menschlicher Weisheit hinzugethan, dann hätten sie nicht mit Ruhm vor Gott treten können, sondern sie hätten dem Beruf, den ihnen der Herr gegeben, zur Unehre gereicht; und das nicht gethan zu haben, das ist der einzige Ruhm, mit dem sie sich am Tage des Herrn schmüken können. Wer nach etwas Anderm trachtet, der strebt nach etwas Verkehrtem, und will das | reinste und heiligste Verhältniß, welches unter Menschen besteht, doch nur zum Dienst der Eitelkeit und Selbstsucht benuzen. Wie fern aber der Apostel, der die Worte unsers Textes geredet hat, davon gewesen ist, das wissen wir alle, die wir seinen rastlosen Eifer und seine unermüdete Thätigkeit auf der einen Seite, so wie die Trübsale und Leiden auf der andern, die er um des Evangeliums willen ertragen, kennen aus seinen eigenen Schriften und aus andern Nachrichten in unsern heiligen Büchern. II. Und nun laßt uns zweitens sehen, was es für eine Bewandniß hat mit der andern Hälfte unsers Textes, wo der Apostel sagt „Und ob ich geopfert werde über dem Opfer und Gottesdienst euers Glaubens, so freue ich mich und freue mich mit euch allen; desselbigen sollt ihr euch auch freuen, | und sollt euch mit mir freuen.“ Wir wissen, m. g. F., wie in den ersten Zeiten der khristlichen Kirche, wo die Anhänger unsers Herrn verfolgt wurden von denjenigen, welchen sein Kreuz ein Ärgerniß war oder eine Thorheit, es eine gar weit verbreitete Gesinnung war, daß ein jeder es sich zum besondern Ruhme und zur Freude rechnete, um des Evangeliums willen zu leiden ja in den Tod zu gehen. Wir müssen dies auf der einen Seite halten für ein Zeichen von Festigkeit und Standhaftigkeit im Glauben, aber auch auf der andern Seite können wir nicht leugnen, es ist viel falscher Eifer, ja thörigter Wahn und eitle Selbstgefälligkeit dabei mit eingelaufen. Denn kann es wohl an sich ein Gegenstand der Freude | sein, wenn das Wort Gottes gehemmt wird, statt überall einen Zugang zum menschlichen Gemüthe zu finden, und wenn diejenigen, welche die Verkündiger desselben und die Werkzeuge des göttlichen Geistes unter den Menschen sind, entweder ganz oder theilweise aus dem Kreise ihres Berufs herausgerissen werden, statt daß man ihnen mit großer Schnelligkeit ihren Weg ebnen und ihre Bemühungen unterstüzen sollte. Durch den fleißigen Gebrauch des göttlichen Wortes auf dem natürlichen Wege wie viel mehr wäre ausgerichtet worden als durch die Verwiklung und Verwirrung der Umstände unter Trübsal und Leiden! Wenn nicht so viel rohe gesezwiedrige und wiedersinnige Kraft gebraucht | worden wäre, um den Gang der Sache Khristi auf Erden zu hemmen oder

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zu zerstören, und auf der andern Seite die ganze Kraft des Reiches Gottes sich nicht hätte richten müssen gegen die Feinde und Widersacher der Wahrheit und des Lichtes: hätte dann nicht eben diese Kraft mit großem Erfolg angewendet werden können zur Erbauung der khristlichen Kirche und zur weitern Verbreitung derselben auf Erden? Und so hätte man daher alles Leiden, welches über die Khristen kam, ansehen müssen als eine freilich von Gott verhängte, in seiner ewigen Weisheit gegründete und mit Ruhe und Ergebung in seinen Willen zu ertragende, aber doch als eine Hemmung in der weitern Verbreitung des Reiches Khristi, die doch nie etwas war, woran der eine Freude haben kann, für den es nichts Lieberes | giebt, als das Heil, welches Gott nach seiner Gnade den Menschen bereitet hat, zu fördern, und allen die dazu berufen sind den Genuß desselben zu bereiten. Darum haben auch zeitig diejenigen unter den Khristen, denen eine reinere Einsicht und eine richtigere Betrachtung aller menschlichen Verhältnisse eigen war, gegen diesen falschen Eifer sich gerichtet, und den Khristen zu bedenken gegeben, wie es ihre Pflicht sei, sich selbst als Werkzeuge des Herrn nicht zu verschwenden, und das Leiden des Herrn nicht zu ergänzen dadurch, daß sie es selbst suchten, und es sich zur Ehre und zum Ruhm anrechneten. Hier aber sagt der Apostel, wenn er selbst geopfert werde über dem Dienst, den er dem Herrn leiste in der Verkündigung des Evangeliums, | und um des Glaubens willen an den Erlöser, den er durch die Predigt des göttlichen Wortes in den Gemüthern der Khristen zu befestigen suche, so werde er sich freuen; er der doch fühlen mußte, mit welchen herrlichen Gaben er ausgerüstet war, und wie mächtig der göttliche Geist in ihm wirkte zur Vollbringung des großen Werkes, an welchem auch er arbeitete; er der so tief und innig die heiligen Bande fühlte, die ihn an die khristlichen Gemeinden und besonders an die von ihm gestifteten knüpften; er der auch den Zustand der khristlichen Kirche in jener Zeit wohl kannte, um zu wissen, wie viel Heilbringendes und Segensreiches durch ihn noch in diesem Leben ausgerichtet werden könne, und daß es unter den mancherlei Verfolgungen, Trübsa|len und Demüthigungen, welche die khristlichen Gemeinden von ihren Wiedersachern erlitten, eines so starken und standhaften Geistes wie er war bedurfte, um die Schwachen zu stärken, die Zagenden zu ermuthigen, und die Bande des Glaubens und der Liebe auch in entscheidenden Augenbliken, wo sie sich aufzulösen drohten unter Leiden und Wiederwärtikeiten, fest zusammenzuhalten und zu beschüzen; – er selbst sagt nicht nur, daß er sich freue, wenn er sollte unterliegen im Kampfe für die Wahrheit und im Dienste des Erlösers, sondern er muntert auch die Khristen auf sich mit ihm zu freuen. Wenn er nun Recht gehabt hätte sich zu freuen, so hätten sie auch Recht gehabt. Denn das ist die Verbindung, in der diese Worte mit dem Vorigen stehen. | Aus dem Vorigen 8 ertragende,] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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hatten wir gesehen, daß keiner ein Recht habe an dem andern sich einen Ruhm zu bereiten, daß sich dasjenige, was der Einzelne thut in der Gemeinde des Herrn, nicht unterscheiden lasse von dem was der andre thut, sondern alles ein gemeinsames Werk, eine gemeinsame Schuld, ein gemeinsamer Beruf, ein gemeinsames Verdienst, daher also auch eine gemeinsame Empfindung [ist] über alles, was von Bedeutung in der Gemeinde des Herrn vorgeht. Hat der eine Ursache sich zu freuen über dasjenige, was ihm in der Gemeinde des Herrn begegnet, so sollen sich alle andre mit ihm freuen; hat einer Ursach sich zu betrüben über das was ihn trifft in der Gemeinde, so sollen alle andre mit ihm traurig sein. Das also ist gewiß richtig und in dem | Verhältniß der Khristen gegründet, hatte der Apostel Ursache sich zu freuen, so mußten sich auch die Khristen, an welche er schrieb, mit ihm freuen, wie sehr sie auch sein Verhältniß beklagen, wie sehr sie auch wünschen mochten, ihn noch länger auf dem Schauplaz seiner Wirksamkeit zu sehen. Aber konnte er Recht haben sich zu freuen? Wir werden uns erinnern, wie er im ersten Kapitel unsers Briefes sagte, er habe Lust abzuscheiden und bei Khristo zu sein, aber indem er durch die längere Fortsezung seines Lebens seinem Herrn und Meister noch mehr Frucht schaffen könne, so wisse er nicht was er erwählen soll, sondern seine Seele werde hin- und hergezogen zwischen beiden. In dieser Unentschiedenheit | sagt er aber, soll ich geopfert werden in dem Dienste des Evangeliums, so freue ich mich. Damit konnte er nichts Anderes meinen, als wenn es geschehe, so wäre es der Wille Gottes, und so erkenne man daraus wohl, daß eben dies zur Förderung seines Reiches mehr würde beitragen als sein längeres Leben, weil sonst Gott nicht jenes sondern dieses würde haben geschehen lassen. Und das ist gewiß ganz im Geiste khristlicher Ergebung auf der einen Seite, und khristlicher Freudigkeit und Zuversicht auf der andern. Wenn wir freilich als das Gewöhnliche im menschlichen Leben, so wie wir dasjenige genauer betrachten, was sich darin bezieht auf Gott und seine heiligen Führungen, wenn wir es da als das Ge|wöhnliche finden, daß wir uns überhaupt freuen, wenn die Umstände und Verhältnisse des Lebens so sind, daß wir selbst sichere Hoffnung daraus schöpfen, Anderes aber mit Ergebung ertragen als dasjenige was Gott geordnet hat, in dessen Weisheit wir aber bei unsrer Kurzsichtigkeit nicht hineinschauen können: so müssen wir gestehen, es ist das Unvollkommne zwischen einem Beifall, den der Mensch giebt den göttlichen Fügungen, und zwischen der richtigen Erkenntniß dessen was Gott fügt; das Wahre aber und zugleich das innerste Wesen des Khristenthums ist dies was der Apostel an einer andern Stelle sagt „freuet euch in dem Herrn alle Wege“. Alle Wege | sollen wir uns in dem Herrn freuen, alles 28 wir] Ergänzung aus SAr 102, S. 292 16–20 Vgl. Phil 1,22–23

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was der Herr giebt und ordnet soll uns eine Freude sein, sollen wir nicht auf menschliche Werke beziehen, sondern auf Gott allein, und als ein göttliches Werk, als eine Gabe von oben betrachten; so soll es uns ein Gegenstand der Freude sein, aber bei der bloßen Ertragung und Ergebung soll der Khrist nie stehen bleiben. Schwer, m. g. F., ist es uns bei demjenigen, was sich minder unmittelbar auf das göttliche Werk auf Erden bezieht, aber bei dem soll es uns leicht sein was sich hierauf bezieht. Wenn wir durch den Tod einen geliebten Freund auf dem Wege des Lebens verlieren, so | wird es uns schwer, hierüber die natürliche Gelassenheit und Ergebung in den göttlichen Willen zu erlangen und zu bewahren. Aber ganz anders ist es bei demjenigen, was sich auf das Werk Gottes unmittelbar bezieht. Wenn er seine Diener in ihrem Laufe vollendet, wenn er seine Gläubigen durch Trübsal und Noth zu ihrer Bestimmung führt und uns weiser macht durch die Erfahrung, wenn er über seine Gemeinde Leiden und Wiederwärtigkeiten verhängt, unter denen das Blut der Zeugen der Wahrheit vergossen wird: dies soll dann allen im freudigen Glauben festen Khristen ein Gegenstand | der Freude werden weil wir es unmittelbar auf das Werk Gottes beziehen können und gewiß sein, Gott würde es nicht so geordnet haben, wenn es nicht nothwendig gewesen wäre, wenn er nicht vorher gewußt hätte, daß aus dem Blute seiner Zeugen eine größere Herrlichkeit seiner Gemeine sich entwikeln werde, als wenn alle ihre Angelegenheiten in dem gewöhnlichen ruhigen Gange geblieben wären. Und aus diesem Gesichtspunkt betrachtet der Apostel alles, was in dem damaligen Schiksal der Kirche ihn selbst traf. Sein Schwanken ist nun zur Ruhe gekommen, er hatte nun durch fortgesezte Betrachtung den wahren Mittelpunkt khristlicher Gottseligkeit gefunden, so daß seine Seele | nicht mehr zwischen jenen beiden Punkten sich bewegte, sondern er sagt: zu wünschen habe ich aufgehört, und Gott mein Schiksal anheimgestellt; aber ich weiß, daß mein Beruf, wenn ich ihn länger fortsezen kann durch Gottes Gnade, fruchtbar sein wird; aber wenn ich damit, daß ihr haltet ob dem Worte des Lebens, auch geopfert werde in dem Dienste des Evangeliums, durch den ich an euren Seelen arbeite, so wollen wir uns gemeinschaftlich darüber freuen, weil eben in dem Dienste des Herrn nach seinem heiligen Willen dasjenige geschehen muß, was am meisten zur Förderung seines Reiches beiträgt. Es kann scheinen, m. g. F., als ob diese Worte des Apostels weniger | für uns wirksam sein könnten, weil wir in einer Zeit leben, wo das Reich Gottes nicht mehr zu kämpfen hat mit der Macht des heidnischen Aberglaubens. Aber laßt uns nicht vergessen der Unsicherheit menschlicher Dinge, und daß wir nicht darüber hinaus sind, daß unsre Wege, wie wir sie in solchen Zeiten der Ruhe uns zu bilden pflegen, keinesweges die Wege des Herrn sind, sondern diese weit über die unsrigen erhaben; laßt uns nicht vergessen, daß auch der Friede der Kirche etwas Vergängliches ist, und daß auch Zeiten der Trübsal und der Verfolgung wie die früheren über sie kommen

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können, wenn wir auch nicht wissen woher; laßt uns wohl bedenken, daß die Wahrheit nicht vollkommen geför|dert und ans Licht gebracht werden kann in dem ruhigen Laufe aller menschlichen Angelegenheiten, und daß es solche Güter giebt in der Gemeinde des Herrn, die nur unter Leiden und Trübsal erwachsen. So kann es sein, daß der Herr nach seinem Wohlgefallen wieder solche Zeiten über die Khristenheit verhängt, damit sie immer mehr befestigt werde in der Wahrheit, und immer mehr bereit sei, alles was der Herr ihr schiken mag auf eine freudige Weise hinzunehmen. Und so laßt es uns in den Zeiten der Ruhe und des Friedens zu einem Wahlspruch nehmen, den wir durch unser ganzes Leben befolgen, daß wir uns jedes Opfers, welches der Herr schon von uns gefordert hat und noch fordern wird, erfreuen, | und daß uns nur Ein Ruhm ist, nämlich der Ruhm derer, die dem Herrn und Meister verpflichtet sind, und in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm sich selbst mit allem was sie haben lediglich ihm und demjenigen was zur Förderung seines Reiches gehört hingegeben haben. Daraus entwikelt sich auch in allem immer schöner und fester der Bund des Vertrauens und der Liebe, der unter Khristen bestehen soll, und so gereichen sie in ihrem gemeinsamen Leben nicht viele einigen und einige vielen, sondern alle unter einander zum Ruhme auf den Tag des Herrn. Den gebe er uns auch, indem er uns durch den Beistand seines Geistes immer weiter führe auf dem Wege der Gottseligkeit, damit unser Ruhm vor ihm nicht vergänglich sei an seinem Tage. Amen[.]

21–22 der Gottseligkeit, ... Amen[.]] Der letzte Satzteil ist nur als Ergänzung von Schleiermachers Hand erhalten. Den originalen Schluss, auf dessen Rückseite sich das Titelblatt der nächsten Predigt befand, hatte er zusammen mit jener zwecks Publikation im Festmagazin an die Setzerei gegeben.

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9. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 10,11–13 Nachschrift; SAr 84, Bl. 24r–42v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 299–327; Andrae Nachschrift; SAr 61, Bl. 139r–143r; Woltersdorff Vertretung für Herzberg (OGD)

Tex t. 1. Korinth. X, 11–13. Solches alles wiederfuhr ihnen zum Vorbilde, es ist aber geschrieben uns zur Warnung, auf welche das Ende der Welt gekommen ist. Darum wer sich läßt dünken er stehe, mag wohl zusehen daß er nicht falle. Es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten, aber Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht daß die Versuchung so ein Ende gewinne, dass ihr es könnet ertragen. M. a. F. Gewiß nicht ohne einen Wechsel sehr mannigfaltiger Empfindungen vermögen wir diese Worte des Apostels zu lesen. Er führt uns zuerst in die frühere Geschichte zurük, auf Beispiele | aus den Begebenheiten des jüdischen Volks hergenommen, um uns zu durchdringen mit dem Gefühl der Unsicherheit alles Guten, in dem Menschen, indem er daraus die Warnung herleitet, wer da steht, der sehe wohl zu, daß er nicht falle. Uns allen, m. g. F., wird unser eigenes Bewußtsein sagen, um die Wahrheit dieser Worte zu glauben hätten wir nicht nöthig uns weit umzusehen in der Geschichte andrer Menschen und vergangener Zeiten, sondern dies wäre ein Wort des Herrn, das jedem nahe genug ist in seinem eigenen Herzen, und das er aus seiner eigenen Erfahrung schöpfen kann. Aber dann richtet uns auch der Apostel wieder auf, und will uns ein Gefühl der Sicherheit | einflö-

[Zu Z. 1 Darüber am rechten oberen Seitenrand von Schleiermachers Hand:] 1822 9. p. trin. 0 Schleiermacher vertrat an der Dreifaltigkeitskirche den ehemals lutherischen Hilfsprediger David Friedrich Georg Herzberg (vgl. Einleitung, Punkt I.1.), der seit der Gemeindeunion ihm und seinem Kollegen Marheineke zu gleichen Teilen zugeordnet war.

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ßen, indem er sagt: Gott aber ist getreu, der euch nicht versuchen läßt über euer Vermögen, sondern [macht, daß] jede Versuchung ein solches Ende gewinne, daß ihr es möget ertragen. Wie nun diese Sicherheit und jene Unsicherheit sich gegen einander verhalten, welchem von diesen beiden entgegengesezten Gefühlen wir denn nun Raum geben müssen in unserm Herzen, darauf wird uns eine nähere Betrachtung der Worte des Apostels von selbst führen. Es ist aber dazu nöthig, daß wir zuerst eben auch auf dasjenige sehen, was uns am allerentbehrlichsten scheint, nämlich auf die Beispiele aus vergangenen Zeiten, die der Apostel anführt; und | dann daß wir den Trost genauer betrachten, den er uns in den lezten Worten unsers Textes mittheilt. I. Was nun das Erste betrifft, m. g. F., daß der Apostel in Beziehung auf die Warnung, wen da dünkt er stehe, der sehe wohl zu daß er nicht falle, uns nicht einen jeden auf sich selbst und auf die geheime ihm allein und auch ihm nur zum Theil bekannte Geschichte seines eigenen Herzens verweiset, sondern auf offenkundige frühere Beispiele, damit, m. g. F., hat es die Bewandniß: Alles was wir im Kleinen betrachten, das blendet unser Auge und verwirrt unsern Blik im Geistigen eben sowohl als im Leiblichen. Und wenn wir noch so vielfältige Erfahrungen davon ge|macht haben, wie sehr wir fähig sind, uns selbst in diesem und jenem zu täuschen, wie leicht uns verschwindet, was wir für ein sicheres geistiges Besizthum hielten; sobald wir der Uhrsache davon nachgehen: wie wenig Sicheres pflegen wir dann herauszubringen. Da entstehen eben die mannichfaltigen Gedanken und Betrachtungen im Menschen, die sich unter einander anklagen und entschuldigen; da ist er bald geneigt, den Grund davon in einem ihm verborgen gebliebenen Verderben seines eigenen Herzens zu suchen, und also sich selbst zu verklagen, daß er so lange falsch von sich gedacht hat, oder daß sein Auge verdunkelt gewesen ist über ihn; da ist er bald geneigt die Uhrsache in äußern Begebenheiten zu suchen, | die ihm zur Versuchung gereicht haben, und so sich selbst zu entschuldigen, daß eine Kraft über ihn gekommen, die stärker sei als er. Aber wenn der eine dieses, der andre jenes thut, wenn derselbe Mensch in dem einen Falle so, in dem andern anders sich das erkärt, was in seinem Herzen vorgeht: was hilft dann das Merken auf dasjenige was geschehen ist, und wie viel weiser werden wir dann durch das, was wir an uns selbst erfahren? Darum, m. g. F., weiset auch der Apostel die Khristen, das neue Volk des Herrn, das sich eben erst bildete, an die Geschichte des alten, aus welchem auch das neue Heil der 17–18 Bewandniß:] Bewandniß. 24–26 Vgl. Röm 2,15

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Welt abstammte. Denn das thut er in seinen frühern Worten der Epistel, | die ich nicht mit gelesen habe, anführend aus der bekannten Geschichte des jüdischen Volks die Beispiele von seiner Abtrünnigkeit von dem Gott, der es so wunderbar geführt hat, davon wie es sich habe verleiten lassen in die Abgötterei der benachbarten Völker, wie es nachgegeben habe den Reizen der sinnlichen Lust, wie es sich in Trübsalen und Wiederwärtigkeiten habe hinreißen lassen zum Murren gegen Gott – diese Beispiele hält er den Khristen vor und sagt, das alles sei jenen wiederfahren zum Vorbilde, geschrieben aber sei es ihnen zur Warnung, um daraus zu lernen, daß wer da glaubt er stehe, wohl Acht haben müsse, daß er nicht falle. Was aber stellt der Apostel in der Erzählung | jener Beispiele, die er anführt, vor? Im Anfange des Kapitels, woraus die verlesenen Worte genommen sind, sagt er: unsre Väter sind alle durch das Meer gegangen duch die wunderbare Hülfe Gottes, haben alle getrunken von dem auf eine wunderbare Weise dem Fels entlokten Wasser, sind alle gesättigt worden von der Speise, die ihnen der Herr auf eine unbegreifliche Weise gab; und dennoch, sezt er hinzu, haben sie sich verleiten lassen in die sinnliche Lust und in die Verirrungen der Abgötterei und unzufriedener Klagen. Hier also, m. g. F., stellt er uns in der Geschichte vor auf der einen Seite freilich die Versuchungen und den üblen Ausgang derselben, auf der andern Seite aber auch dasjenige, was in den Versuchungen hätte schüzen und aufrecht | erhalten sollen; und so im Großen angesehen geht uns denn allerdings ein helleres Licht auf über das, was in unserm eigenen Herzen vorgeht; indem der Apostel vorher erinnert an die wohlthätige und wunderbare Hülfe, die das Volk erhalten hat, gegründet auf die besondre Verbindung, in der es mit Gott stand, der es sich ausgewählt hatte aus allen Völkern der Erde, um unter demselben wiewohl oft schwach und verdunkelt seine Erkenntniß zu erhalten, bis auf die Zeit, da der kommen könnte, auf dem das Heil der ganzen Welt beruhen sollte – an diese Verbindung des Volkes mit Gott, an diese wunderbaren Geschichten, wodurch eben der Gott, der | es so weise und mächtig geleitet hatte, demselben beständig hätte gegenwärtig sein sollen, erinnert uns der Apostel zuerst, und dann an dasjenige, was in Lust und Unlust, in Freuden und Leiden dem Menschen zur Versuchung gereicht, und an den Ausgang, den jene Versuchungen in jenen Tagen genommen. Diese Betrachtung stellt uns denn dasjenige klar gegenüber, was versucht und was in der Versuchung schüzen soll. Versucht werden wir durch alles, was die Seele auf eine sinnliche und irdische Weise bewegt; denn einer jeden solchen Bewegung fehlt an und für sich selbst das Maaß des Rechten und Guten. Sie geht bisweilen nicht über dieses Maaß hinaus; und dann erliegt auch | der, welcher weniger sich selbst erkennt, dadurch nicht der 1–7.16–18 Vgl. 1Kor 10,7–10

13–16 Vgl. 1Kor 10,1–4

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Erfahrung von der Schwäche seines Herzens und von der Leichtigkeit, mit der es sich zur Sünde verleiten läßt. Aber eben so leicht können auch diese Bewegungen über ihr Maaß hinausgehen; und sind sie es einmal, wird die Seele durch sie allein erfüllt, so hängt auch ihre Stärke und Schwäche weniger von dem Menschen selbst ab als von demjenigen was den Menschen von außen reizt, und es ist auch eben so sehr das Angenehme und Wiedrige, das eine eben sowohl als das andre, nur unter den einen Umständen mehr dieses, unter den andern mehr jenes, bei der Gemüthsart des einen Menschen mehr dieses, bei der des andern mehr jenes, was zur Versuchung gereicht; aber eben darin erscheint die allgemeine | Gleichheit. Denn wenn der eine Mensch mehr durch dieses, der andre mehr durch jenes versucht wird, so ist auch auf der andern Seite das Angenehme und das Unangenehme, die Lust des Lebens und das Trübe desselben eben so unter einander gemischt, wie die verschiedenen Gemüthsarten der Menschen es sind. Was ist aber nun, m. g. F., das Einzige, was in den Versuchungen schüzen kann? Nichts anderes als die Verbindung des Menschen mit Gott. Wenn der Apostel, indem er jene Beispiele aus der Geschichte des Volkes Israel anführt, allerdings der Meinung ist, sie hätten nicht sollen wie die Heiden sich hingehen lassen die Versuchungen der irdischen Lust; sie hätten nicht sollen die natürliche Erkenntniß Gottes, die allen Menschen | in das Herz geschrieben ist, durch Ungerechtigkeit aufhalten lassen, und wie es die Heiden thaten in Abgötterei verkehren; sie hätten nicht sollen unzufrieden sein mit demjenigen, was sie als Schikung Gottes erkennen mußten – warum? weil sie in Verbindung mit dem Höchsten standen, weil die Ehrfurcht vor dieser Verbindung, vermöge welcher Gott ihr Herr, ihr Gesezgeber, ihr Beschüzer war, der die Fülle gnädiger Verheißungen über sie ausgegossen hatte, ihnen hätte gegenwärtig sein sollen in jedem Augenblik ihres Lebens – und wenn, so lange dasjenige, was in unserm eigenen Herzen vorgeht, im Einzelnen und im Kleinen betrachtet wird, dieses uns gar leicht verwirrt über | die Ursachen der Versuchung und unsers Unterliegens in denselben: so werden wir gewiß, so wir dies nur im Großen und Ganzen betrachten, mit dieser Ansicht des Apostels übereinstimmen. Es ist nichts was den Menschen schüzen kann in der Versuchung, als die Gegenwart Gottes in seiner Seele. Die sinnliche Erregbarkeit unsers Gemüths giebt jedem bösen Geiste Raum und weiset ihm einen Ort an, von welchem aus er die Seele angreifen kann. Erwacht aber das Bewußtsein Gottes in der Seele, ist das in der Seele lebendig und stark, so weicht vor demselben ein jeder böse Geist; und so wie die menschliche Seele das Bewußtsein Gottes | lebendig in sich aufnimmt in der Betrachtung seiner Liebe und Heiligkeit, seiner Weisheit und Gnade, so theilt sich ihr dadurch eine Kraft mit, die jeder Versuchung Wiederstand 7 eine] Ergänzung aus SAr 102, S. 307

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leisten kann; und je mehr dann die Seele sich ablenkt von der Betrachtung des Sinnlichen, und der Betrachtung des höchsten Wesens sich zuwendet, desto mehr wächst diese Kraft, desto mehr stumpft sich jeder Reiz ab, der sie von der Gemeinschaft mit Gott lenkt, und zu dem, was ihrer Verbindung mit ihm zuwieder ist, hintreiben möchte. Wenn nun aber, m. g. F., selbst jenes Volk Gottes, welches so ausgezeichnet war durch die Wege, die der Höchste es geführt hatte, welches in dem Eigenthümlichen | seiner Gesezgebung und seiner Sitten, die es überall umgaben, und tief in sein ganzes Leben eingriffen, eine beständige Erinnerung hatte an denjenigen, von dem jenes Gesez ausgeflossen war, und an die wunderbaren und heiligen Geschichten, die demselben vorangegangen und nachgefolgt waren, wenn demohnerachtet das Volk so oft unterlag in den Versuchungen, welche über dasselbe kamen: so entsteht uns eben daraus das Gefühl der menschlichen Unsicherheit, und wir sagen Ja und Amen zu jenen Worten des Apostels „wen da dünkt er stehe, der sehe wohl zu, daß er nicht falle“. Denn betrachten wir nur unsern gegenwärtigen Zustand, wie er von Gott | geordnet ist: wie viel haben wir Beweise von der göttlichen Gnade! wie umgiebt uns überall in unserm ganzen Leben die Erinnerung an unsern Erlöser! wie trägt die ganze Gestaltung desselben in seinen verschiedenen Theilen das Gepräge dessen an sich, der als das Heil der Welt erschienen ist! wie oft schallt sein Name in unsern Ohren, und bringt uns sein heiliges Bild in die Seele! ja wir können nicht anders sagen, als daß wir in ihm leben weben und sind, daß unser ganzes Leben und Dasein eingetaucht ist in sein himmlisches Leben und in seine heilige Nähe. Aber welch ein Unterschied, das ewige Leben, dessen un|erschöpfliche Quelle er selbst ist, und allen denen giebt die an ihn glauben, dieses Leben haben und nicht leugnen, daß wir es haben; aber es auch in jedem Augenblik gewiß haben, wo wir es bedürfen, und in der Kraft desselben über jede Gewalt der Versuchung siegen, die uns angreift! Ja diesen Unterschied müssen wir fühlen. Die Fülle der göttlichen Gnade in Khristo, die uns allen eröffnet ist in der Gemeinschaft des höheren Lebens, die macht, daß wir uns dünken zu stehen. Und allerdings haben wir auch Recht unsre Hoffnung darauf zu bauen, daß wir fest gegründet stehen auf einen Felsen, der nicht erschüttert werden kann. Aber die Erfahrung der Sünde, die sich auch in dem Leben | des Khristen wiederholt, die macht daß wir mit dem Apostel sagen müssen; „wen da dünkt er stehe, der sehe wohl zu daß er nicht falle“, und giebt uns das Gefühl, als ob wir das köstliche Kleinod, das uns für immer sicher stellen soll gegen die Gewalt der Sünde, trügen in einer zerbrechlichen irdischen Schaale, ja als ob dasjenige, was beständig glänzen soll vor den Augen unsers Geistes, und immer schöner und herrlicher leuchten in den Tiefen unsers Herzens, daß sich dies 22 Vgl. Apg 17,28

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bisweilen so verdunkeln könnte, als ob es gar nicht da wäre. Das ist die Warnung, die der Apostel uns giebt, und deren Wahrheit wir tief fühlen.

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II. Aber nun laßt uns zweitens | sehen, wie steht es um den Trost, den er uns auf der andern Seite giebt, und um die Sicherheit, die er uns einflößen will, indem er sagt: „es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten; aber Gott ist getreu, der euch nicht läßt versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr es könnet ertragen.“ Wenn er sagt: „es hat euch noch keine denn menschliche Versuchung betreten“ so meint er unter dem Menschlichen wie alles Menschliche das Geringe und Schwache; keine andre Versuchung, meint er, habe die Khristen getroffen, als die welche schwach und gering wäre und leicht zu überwinden. Und wenn das wahr ist von der damalichen Zeit, wo das Khristenthum in dem heftigsten Streit begriffen war mit entgegengesezten Ansichten des menschlichen | Lebens, wo bald durch die List, welche die Ungläubigen sich erlaubten, die Khristen gelokt werden sollten von dem Wege des neuen Glaubens an das Heil, welches in Khristo erschienen war, bald durch die Gewalt der Verfolgungen, welche die Feinde des Reiches Gottes gegen die Gläubigen erhoben, wankend gemacht auf dem Wege, den sie betreten hatten; wenn doch von jener Zeit, in der der Apostel so oft klagt über die Hize, welche die Khristen erdulden mußten, das gilt, daß sie keine andre als menschliche Versuchungen den Khristen gebracht hat: um wie viel mehr müssen wir dasselbige von uns sagen, die wir gewürdigt sind, in Ruhe und | Frieden und ohne von außen bedrängt zu werden von den Wiedersachern des Kreuzes Khristi, aller Segnungen des Evangeliums zu genießen, die göttliche Wahrheit zu betrachten, und immer mehr in das Herz zu schließen; um wie viel mehr müssen wir sagen, gegen diese Kraft der Gottseligkeit, die uns zu Gebote steht, ist alle Versuchung, welche uns treffen kann, etwas Geringes und Schwaches. Aber dennoch machen wir die Erfahrung in diesem irdischen Leben, daß wir so oft fallen, wenn uns dünkt als stünden wir fest. Da tröstet uns nun der Apostel, indem er sagt: „Gott ist getreu, der euch nicht läßt | versuchen über euer Vermögen, sondern macht, daß die Versuchung so ein Ende gewinne, daß ihr es könnet ertragen.“ Ja, m. g. F., da entsteht uns nun aber die große Frage, was ist denn das Vermögen des Menschen? Dasjenige was er im Allgemeinen sein nennen kann? oder nur dasjenige, was er in dem Augenblik auch wirklich besizt und bei der Hand hat, wo es Noth thut? Wenn jenes es ist, o dann sind wir übel daran, es könne jede Versuchung ein solches Ende gewinnen, daß wir es nicht zu ertragen vermögen. Denn, m. g. F., was giebt es wohl, was uns fehlt, das uns aufrecht erhalten kann unter den Versuchungen des 8 die Versuchung so ein Ende gewinne, daß] Ergänzung aus SAr 102, S. 313

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Lebens? Müssen wir nicht mit dem Apostel sagen: Gott ist hier, der uns seinen Sohn geschenkt hat; Khristus | ist hier, der verheißen hat mit uns zu sein bis an das Ende der Tage; sein Geist ist hier, den er ausgegossen hat über alles Fleisch? Was fehlt uns denn, um den Sieg zu erringen, um in jeder Versuchung zu bestehen, und in der Kraft dieses Glaubens alles zu überwinden, was die Welt uns entgegenstellen kann? Aber, m. g. F., wenn wir unser Vermögen berechnen wollen nach dem, was wir in jedem Augenblik besizen und bei der Hand haben: wie schrumpft es da zusammen, und erscheint unbedeutend und gering, so daß es sich nicht messen kann gegen dasjenige, was auf der Seite der Versuchung ist. Denn wie oft werden wir so vom Irdischen und Vergänglichen befangen und regiert, daß | das Bewußtsein Gottes sich in unsrer Seele verdunkelt! wie oft sind wir in solchen Betrachtungen über das menschliche Leben und über die Art es zu handhaben begriffen, daß es scheint, als ob in denselben derjenige nicht gegenwärtig und leitend wäre, der der Weg ist die Wahrheit und das Leben, der uns das Ziel zu unserm Vaterlande gestekt und Unsterblichkeit ans Licht gebracht hat! Wenn Gott uns nicht versuchen läßt über jenes Vermögen: ach das ist ein geringer Trost; und wenn er uns nicht versuchen läßt über dieses Vermögen, ach dann müßte er uns so zart und weichlich behandeln wie Eltern ihre Kinder, so daß sie nicht zu einer erfreulichen und gesegneten Entwiklung ihrer Kräfte gelangen. | Läßt uns aber Gott versucht werden über dieses Vermögen, so fallen wir. So wäre es auch, m. g. F., wenn der Mensch in der Versuchung allein stünde, allein mit seiner freilich so sehr schwachen und ungleichen Kraft. Aber so ist es nicht. Eben deswegen hat der Apostel auch seine warnenden Beispiele nicht hergenommen aus der Geschichte einzelner Menschen als solcher, sondern aus der Geschichte des Volkes Gottes; und indem er jene zur Warnung und zum Vorbilde aufstellt, so will er, daß wir uns ansehen sollen nicht jeden Einzelnen für sich, sondern in dem Volke Gottes, dem wir angehören. Da finden wir die Wahrheit des Trostes, | den der Apostel uns giebt. Denn wenn gleich in jedem einzelnen Menschen die Kraft des Guten, das lebendige Bewußtsein, welches er hat von Gott und dem Erlöser, sehr ungleich ist, oft stark und kräftig, so daß er zu sich selbst sagen kann, wenn er jezt nur Gelegenheit hätte, etwas Großes und Schönes zu unternehmen im Dienste des Herrn, er würde es schon ausrichten ohne zu ermüden, wenn ihm jezt nur, so durchdrungen wie er sich fühlt von Andacht und Frömmigkeit und von dem Bewußtsein der 1–4 Müssen ... Fleisch?] Vgl. Woltersdorff-Parallelüberlieferung, (SAr 61, Bl. 141v): „... mögen wir mit vollem Recht sagen: wir stehen; denn Gott ist hie der uns mit seinem Sohn Alles schenkt, Christus ist hie der uns gerecht macht, der Geist ist hie der uns in alle Wahrheit führt!“ 1–3 Vgl. Mt 28,20; Röm 8,32–34

15 Vgl. Joh 14,6

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Gegenwart Gottes in seinem Herzen, die Versuchung nahen könnte, es sei welche es wolle; aber oft auch so schwach, daß er von | dem leisesten Hauche der Luft angegriffen und umgestoßen wird, und daß es jedem Feinde gelingt ihn zu überwinden; wenn auf diese Weise, sage ich, die Kraft des Guten in dem einzelnen Menschen ungleich ist: so ist sie doch in dem Volke Gottes nicht so ungleich; in dem hat der immer gleiche göttliche Geist seinen Siz, dessen Kraft sich nicht verringert, in dem ist das Wort unveränderlich, stark lebendig und mächtig, in dem ist jede Kraft der Liebe und des Glaubens ungeschwächt, ja vielmehr in einem immerwährenden Wachsthum begriffen, weil unaufhörlich dieselbe Kraft Gottes und derselbe Geist aus der Höhe fortwirkt in demselben, um es immer mehr zu heiligen. Betrachten wir uns nun in diesem Volke | Gottes, so sind wir nicht an uns selbst gewiesen sondern an die Gemeinschaft der Heiligen. Sind wir schwach, so sind andre stark, um den Mangel unsrer Kräfte zu ersezen; ist unser Herz für die Sünde empfänglich, wohl so steht ein andrer in einem von jenen seligen Augenbliken, wo er selbst mit dem, was Gott der Herr ihm verliehen hat, uns aushelfen kann, und die Kräfte, deren Bewußtsein ihn in dankbarer Freude erhebt, uns in der gefährlichen Versuchung schüzen können. So wie wir uns nur in dieser Gemeinschaft fühlen, so sind wir sicher, wenn wir in der Versuchung nicht allein stehen wollen, sondern Hülfe suchen bei befestigten Gemüthern, in der Kraft der Liebe, die in der khristlichen Ge|meinde waltet und gegenseitige herzliche Mittheilung hervorruft; so können wir jeder Versuchung Herr werden. Der Erlöser, m. g. F., als er versucht werden sollte, war er allein, und nur deshalb weil er der eingeborne Sohn vom Vater die Fülle der Gottheit in sich trug, konnte er die Versuchung allein bestehen, und ohne überwunden zu werden zulezt zu dem Versucher sprechen „hebe dich von mir.“ So steht nun, m. g. F., die khristliche Kirche, beseelt und geleitet von dem göttlichen Geist, auch der Versuchung allein gegenüber, und sie muß deswegen auch eben so sicher wie der Erlöser selbst siegen; und darum sagt er auch von ihr, was er von sich selbst | sagen konnte, daß auch die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollten. Aber der einzelne Mensch der kann und soll der Versuchung nicht allein gegenüber stehen; er ist aber auch nicht allein, sondern wie dem Herrn, nachdem er den Versucher von sich gewiesen hatte, die Engel vom Himmel nahten und ihm dienten, so auch ist jeder unter uns immer unter dem Geleite und dem Schuz der Engel – nicht meine ich unsichtbare und verborgene Mächte, sondern jeder von dem Worte Gottes erleuchtete, jeder von dem Geiste Gottes beseelte soll der Engel dessen sein, der in der Stunde der Versuchung seiner Unterstüzung bedarf; jeder Schwache, jeder der in Gefahr ist zu sinken, soll einen | haben oder mehrere, zu denen er seine Zuflucht nehmen kann, und die im Stande sind ihm unter die Arme 27 Vgl. Mt 4,10; Lk 4,8

31–31 Vgl. Mt 16,18

34–34 Vgl. Mt 4,11

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zu greifen und dadurch ihre eigene Kraft zu stählen. Wenn wir das aber verabsäumen, dann freilich weisen wir die hülfreiche Hand von uns, die sich uns nahet, dann verstoßen wir den Reichthum göttlicher Gnade, der uns gegeben ist, dann schaffen wir die schüzenden Kräfte selbst von unsrer Seite und entfernen sie dahin, wo sie nicht wirksam sein können zu unserm Beistande; und der Herr ist doch getreu gewesen und hat uns doch nicht versucht werden lassen über unser Vermögen; aber wir haben unser | Vermögen nicht gebraucht. Aber selbst in einem solchen Falle wird doch das Wort wahr sein, welches der Apostel spricht „der Herr läßt jede Versuchung ein solches Ende gewinnen, daß wir es können ertragen.“ Denn wenn jede Versuchung nur ein solches Ende gewönne, daß wir es ertragen könnten, das würde uns ja nicht genug sein und gäbe uns auch nicht Veranlassung den Herrn zu preisen; die meisten Versuchungen sollen ein solches Ende gewinnen, daß wir uns dessen freuen und rühmen können die göttliche Gnade, die uns den Sieg verliehen hat durch Jesum Khristum unsern Herrn und durch den Bund der Liebe und Treue, den er auf Erden gestiftet hat. Aber auch die Ver|suchungen, deren Ende wir uns nicht freuen und rühmen können, auch die welche uns eine neue Erfahrung davon geben, wie leicht diejenigen fallen können, welche da dünkt, daß sie stehen, kurz die welche sich mit der Sünde endigen, läßt doch Gott ein solches Ende gewinnen, daß wir es können ertragen. Das ist eine Verheißung, die allen Khristen in diesen Worten des Apostels gegeben ist, und deren wir uns immer getrösten sollen. Ja selbst wenn wir der Versuchung unterliegen, so ist es ein Ende, das wir zu ertragen vermögen. Denn wir sollen und dürfen ja nicht in der Sünde liegen bleiben, sondern in der Kraft des Herrn wieder aufstehen von unserm | Fall; aber wir und andre sind weiser geworden, wenn ein trauriges Beispiel mehr uns und ihnen zur Warnung gedient hat. Und wenn wir an jedem solchen Beispiele die Erfahrung machen, daß das Band der Liebe unter uns noch nicht fest genug geknüpft ist, daß jeder unter uns noch nicht bereit genug ist dem andern Beistand zu leisten in der Versuchung, so werden wir dadurch einsehen und fühlen, daß wir uns noch inniger vereinigen müssen und immer mehr wachsen in der Kraft des Glaubens und der khristlichen Liebe; und das ist ein Ende, das wir wohl ertragen können. Denn wie wir auch gestellt sind in unserm Verhältniß zu Gott, so sind wir doch durch unsern Fall weiser geworden zur | Seligkeit; und was uns wiederfahren ist, das ist andern zur Warnung geschehen: und kann auf diese Weise nicht verloren sein. Der Apostel aber, m. g. F., der sagt, das was sich in jener früheren Zeit ereignet hat, das ist zur Warnung aufgeschrieben für uns, auf welche das Ende der Welt gekommen ist. Das sagt er schon vor so vielen hundert Jahren; und noch, m. g. F., sehen wir ja nicht, wie das Ende der Welt kommt, und sezen es in unsern Gedanken weit hinaus in eine unbestimmte Zukunft. Dennoch aber ist dieses Wort des Apostels wahr. Das Ende der Welt ist auch uns gekommen; denn die Welt besteht ja nur in

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demjenigen was sich verändert. Nun aber ist die ganze Fülle der | göttlichen Gnade ausgegossen durch Khristum über das menschliche Geschlecht, und nichts Neues mehr zu erwarten. Der Segen, der uns durch Khristum zu Theil geworden ist, bildet den lezten Zeitraum in der Geschichte der Welt; und so ist das Ende dieser Welt auch auf uns gekommen. Aber doch hört nicht auf, daß was früher geschehen ist, zur Warnung und zum Vorbilde sein soll für uns und für alle künftige Geschlechter. Auch aus unsern Fehltritten, auch da wo wir gestrauchelt sind, sezt sich zusammen eine im Einzelnen oft zwar dunkle und verworrene, im Großen und Ganzen aber immer lehrreiche und zur Heiligung führende Geschichte, die wieder | künftigen Geschlechtern, auf die sich der Segen Gottes forterben wird, zur Warnung geschieht, damit sie lernen, den Reichthum der göttlichen Kraft, die unter ihnen wirksam ist, besser zu gebrauchen, die Fülle der göttlichen Gnade, die der Erlöser auch ihnen offenbart, besser zu benuzen, und indem sie in eine immer innigere Gemeinschaft mit dem Göttlichen treten, sich selbst zu stärken gegen jede Versuchung; daß keine ein solches Ende gewinne, daß sie es nur ertragen können, sondern in jeder in vollem Maaße gepriesen werden könne der Name dessen, der den Menschen gereichen soll zur Nahrung und zur Kraft eines göttlichen Lebens. Amen.

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Am 11. August 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 19,41–48 (Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 328–347 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 416–431; 21844, S. 467–483 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 340–353 b. Nachschrift; SAr 102, Bl. 328–357; Andrae Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender: „Über Perikope“

a. Drucktext Schleiermachers Der Erlöser, die Zerstörung Jerusalems weissagend und den Tempel reinigend.

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Text.

Evangel. Luc. 19, 41–48.

M. a. F. Lehrreicheres und Erbaulicheres für uns Alle kann es nicht geben, als wenn wir uns irgend etwas aus dem menschlichen Leben unsers Erlösers vorhalten. Ueberall finden wir, was er auch rede und thue, die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, überall erkennen wir den Geist und den Sinn dessen, der nichts weder von ihm selbst wollte, noch für sich selbst, sondern nur gekommen war, daß er den Willen seines Vaters erfülle. Treffen wir nun auf etwas Einzelnes und scheinbar Geringes, was wir sogleich seinem ganzen Inhalte nach verstehen: wohl, so haben wir desto leichter zugleich auch auf das menschliche Leben, wie es vor uns liegt, zu sehen, und auf die mancherlei ähnlichen Fälle, die es uns darbietet, das Beispiel des Erlösers in fruchtbarer Lehre anzuwenden. Ist es dagegen etwas schon für den ersten Ueberblick Inhaltreiches und Zusammengesetztes, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht: ja dann haben wir freilich für 8 Vgl. Joh 1,14

9–11 Vgl. Joh 5,30

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einmal genug gethan, wenn wir nur suchen, es so viel möglich ganz aufzufassen, und in das Innerste unsers Herzens aufzunehmen. Je mehr dann dieses davon erfüllt und durchdrungen wird, um desto sicherer können wir seyn, daß, wo sich irgend Gelegenheit dazu findet, das theure und herrliche Bild, welches wir in uns aufgenommen haben, sich auch | wirksam zeigen wird in unserm eigenen Leben. Dies, m. gel. Fr., beruhigt mich bei dem vielbedeutenden und mannichfaltigen Inhalte des eben verlesenen evangelischen Abschnittes. Laßt uns dem gemäß für heute nur zufrieden seyn, wenn es uns gelingt, uns das, was der Erlöser hier gethan, recht zu entwikkeln, und in unser Inneres aufzunehmen! Es wird uns dann von selbst eine Quelle des Muthes und der Erhebung, des Glaubens und der Treue werden, wenn wir irgend in den Fall kommen mögen, Gebrauch davon zu machen im Großen oder im Kleinen. Es sind aber offenbar zwei, wenngleich unmittelbar auf einander folgende, doch ihrem Inhalte nach ganz verschiedene Auftritte in dem Leben unsers Erlösers, welche der verlesene Abschnitt des Evangeliums zusammenfaßt. So wollen wir sie denn auch nicht von einander trennen in unserer Betrachtung, sondern erst den einen, und dann den andern, Aeußeres und Inneres, That und Beweggründe zusammenhaltend, recht genau erwägen, dann aber zuletzt noch das Verhältniß beider gegen einander zum Gegenstande unsrer Aufmerksamkeit machen. I. Das Erste also, m. a. F., was der verlesene Abschnitt erzählt, das sind die schmerzlichen Empfindungen des Erlösers über die seiner Seele vorschwebenden künftigen Schicksale seines Volkes und der heiligen Stadt, in welche er eben im Begriff war, zum letzten Male vor seinem Leiden feierlich einzugehen. Als er nahe hinzukam, heißt es, weinte er über sie, und sprach: „Wüßtest du, wenn auch nur jetzt noch, gleichsam in der letzten Stunde, wo es dir heilsam seyn kann, was zu deinem Frieden dient! aber es ist vor deinen Augen verborgen.“ Hier könnten wir uns wohl versucht finden, zu fragen: Wie? der Sohn Gottes, derjenige, der von sich selbst sagen konnte: „Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden,“ derjenige, welcher sagt voll des festesten Glaubens: „wenn ich meinen Vater bäte, würde er mir senden Legionen Engel zu meinem Dienste,“ der, wenn nun 1 viel] zu ergänzen wohl: als 33–34 Mt 28,18

2 aufzunehmen] aufnehmen

35–36 Vgl. Mt 26,53

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wirklich die Zerstörung, die sei|nem Volke bevorstand, ihn so tief bewegte, kann und will nichts Anderes, als weinen über das traurige Schicksal? Wenn der nicht zu helfen vermochte unter solchen Umständen: wo dann soll Hülfe herkommen, so oft sich ein Theil des menschlichen Geschlechts an gleichem Rande des jähen Abgrundes befindet? Aber die Antwort liegt uns nahe, m. g. F.: wiewohl er göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub, Gott gleich zu seyn, und in der Gestalt äußerer Macht und Herrlichkeit zu erscheinen, sondern er nahm Knechtsgestalt an. Diener wollte er nicht haben, die als solche für irgend eine Art irdischer Macht mit irdischen Waffen kämpften; sondern von wenigen unangesehenen Männern umgeben, ging er umher, daß er diene, und suche demüthig und bescheiden, was sich von ihm wollte finden und helfen lassen. Also jeder irdischen Gewalt hatte er sich einmal für immer völlig entäußert. Es war der ewige Rathschluß Gottes und sein ewiges Wohlgefallen, daß der Sohn Gottes auf Erden erscheinen sollte, nicht bekleidet mit einer gesetzlichen Gewalt, um über die Menschen zu herrschen, sondern an der bescheidenen Stelle derer, die selbst dem Gesetze unterworfen sind, wie auch der Apostel von ihm sagt, daß, als die Zeit erfüllet war, Gott seinen Sohn gesandt habe, unter das Gesetz gethan. Darum nun lag ihm nicht ob, in den bürgerlichen Verhältnissen seines Volkes Hülfe zu schaffen; von ihm konnte nicht verlangt werden, er solle die Handlungsweise der Einzelnen und die gemeinsamen Bestrebungen seines Volkes durch zweckmäßige Verbote und durch weise Befehle und Anordnungen in diejenigen Wege leiten, in welchen Rettung und Heil lag. Denn gewiß, hätte ihm dieses obgelegen, so hätte er kein Recht gehabt, zu weinen, als nur über sich, wenn er rathlos gewesen wäre, das Rechte zu finden, oder unvermögend, sich Gehorsam zu verschaffen. So aber, indem er nun fand, daß weder von selbst das Volk diese Wege einschlage, noch auch zum richtigen angehalten wurde von denen, welche den Beruf hatten, dasselbe zu lenken durch das ihnen verliehene, wenngleich noch so geschwächte, Ansehen, indem diese entweder verblendet waren über das, was | heilsam sey oder nicht, oder auch das gemeinsame Beste ihrem eigenen Vortheil und ihrem persönlichen Ansehen aufopferten: was blieb ihm übrig, als er nahe hinzukam, und sich ihm Alles, was bald geschehen sollte, um so lebendiger vergegenwärtigte, weil er nun zum letzten Male die heilige Stadt, aus der er nicht wieder herauskommen sollte, ohne durch seinen Tod gebüßt zu haben für das menschliche Geschlecht, in ihrem festlichsten Glanze und in der Fülle ihrer Pracht und Herrlichkeit vor sich liegen sah, was blieb ihm übrig, als zu weinen! 6–9 Vgl. Phil 2,6–7

19–20 Vgl. Gal 4,4

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Allein gab es denn wirklich keinen Mittelweg für den Erlöser, so daß er sich, da er mit keiner gesetzlichen Gewalt bekleidet war, um sein Volk nach richtiger Einsicht zu führen, beschränkt gesehen hätte auf einen unthätigen Schmerz über die thörichten Wege, auf denen es seinem Verderben entgegenging? Das dürfen wir freilich nicht glauben, m. gel. Fr., wenn wir ihn auch nur ganz menschlicherweise betrachten auf der Stelle, die er in der Gesellschaft einnahm. So ungleich hat überhaupt Gott die Menschen nicht gestellt, daß außer denen, welchen die obrigkeitliche Gewalt übertragen ist, Niemand etwas beitragen könnte, um drohende Uebel von dem gemeinen Wesen abzuwenden. Vielmehr vermag Jeder etwas zu thun, ja genug nicht nur, um sich selbst der Mitschuld zu entladen, sondern auch um, wenn nicht Alles zu verhindern, doch Einiges zu mildern und zu verzögern. Auch gab der Erlöser sich hierüber selbst das beruhigendste Zeugniß in einer andern Rede, auch aus seinen letzten Tagen, worin er ausruft: „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küchlein unter ihre Flügel lockt; aber du hast nicht gewollt.“ Und nur weil er sich mit so gutem Gewissen sagen konnte, daß er selbst nichts verabsäumt hatte, was irgend in seinen Kräften stand, um das Heil seines Volks zu fördern, und es von dem drohenden Jammer zu retten, und nur sie nicht gewollt hatten, nur deßhalb konnte er so reine Thränen vergießen. Und wir, m. g. F., können den Schmerz des Erlösers, wie unser Text ihn schildert, weder verstehen, | wenn wir nicht auf jene frühere Thätigkeit zurücksehen, an welche er in der eben angeführten Rede erinnert, noch dürfen wir je in Fällen ähnlicher Art uns jenen Schmerz aneignen, wenn wir nicht auch dieses Zeugniß für uns in Anspruch nehmen können. Wie hätte er denn also die Söhne und Töchter Jerusalems zu sich sammeln wollen? Gewiß, nur ganz boshafte und oder ganz unverständige Menschen konnten damals, oder nachher, ihn beschuldigen, er habe dennoch im Schilde geführt, sich irgend eine Gewalt anzumaßen, die ihm nicht zukam, und habe heimliche Anschläge geschmiedet durch vielleicht uns unbekannte Freunde und Jünger, um das Volk zu verführen, daß es sich, wenn er zu gelegener Zeit das Zeichen dazu geben würde, auflehnen sollte, gleichviel ob gegen die fremde Herrschaft der Römer, oder gegen das Ansehen der Priester und die Verfassung des Tempels. Nein, die Geschichte seines ganzen Lebens und aller der Seinigen zeigt deutlich genug, wie fremd er allen Unternehmungen dieser Art immer geblieben war, und mit wie vollem Rechte er in der einen Hinsicht sagen konnte, er sey nicht gesonnen, auch nur einen Titel der gesetzlichen Verfassung zu lösen, und in der andern, sein Reich sey durchaus 16–18 Mt 23,37; Lk 13,34

40–41 Vgl. Mt 5,17–18

41–1 Vgl. Joh 18,36

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nicht von dieser Welt. Vielmehr, wenn er verlockt werden sollte zu ähnlichen Unternehmungen, war er geflohen, und hatte sich verborgen, wenn sie ihn zum Könige ausrufen wollten, und ihnen verwiesen den Unverstand, mit welchem sie seine Worte und Thaten falsch deuteten und schätzten. Ja nicht nur Er selbst war geflohen, sondern auch schon auf die von ihm vorausgesehene Zukunft hin hatte er seinen Jüngern gerathen, Judäa zu fliehen, wenn es anfangen würde, sich mit solchen Gräueln zu bedecken. Und als die Häupter des Volkes auf eine listige Art entweder seine Gesinnung erforschen oder ihm Fallstricke legen wollten durch die Frage: ob es auch Recht sey, dem Kaiser Zins zu geben? da wies er sie auf eine so einfache Weise ab durch die bekannte Frage: weß das Bild und die Ueberschrift sey auf der Münze, die ihnen den heilsamen Schutz einer herrschenden und leitenden Macht vergegenwärtigte, und durch deren Gebrauch sie diesen | Schutz selbst anerkannten, daß wohl Niemand glauben konnte, er halte noch mit etwas hinter dem Berge: sondern gerade und schlicht war sowohl seine Ermahnung, dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sey, als seine Aufforderung, sich dabei immer auch das gute Gewissen zu bewahren, daß sie Gotte immer gäben und gegeben hätten, was Gottes sey. Mit seinem Bestreben aber, die Kinder seines Volkes zu sammeln unter seinen schützenden Fittig, hatte es, wie wir aus seiner ganzen Geschichte sehen, diese Bewandniß. Immer noch stolz auf die alten Vorzüge der göttlichen Erwählung und auf die von Gott besonders geliebten und gesegneten Väter, erhob sich in seinen Gedanken das Volk, zu dem der Erlöser gehörte, über die heidnischen Völker, die es umgaben, ja eben so auch über das Volk, von dem es schon seit geraumer Zeit beherrscht wurde; darum trug es sein Joch nur mit einem schwer verhaltenen Unwillen, welcher bei geringen Veranlassungen leicht ausbrach in übel ersonnene, thörichte Unternehmungen. Indem nun der Erlöser, fortsetzend die Predigt des Johannes, seinem Volke verkündigte ein Reich Gottes, welches nahe herbeigekommen sey, und hierauf ihre ganze Aufmerksamkeit und alle ihre Bestrebungen hinrichtete, ihnen dabei aber eben so wenig als Johannes verhehlte, daß sie an demselben Theil zu nehmen keinesweges etwa schon berechtigt wären durch ihre Geburt und ihre Abstammung, sondern Buße thun müßten, und ein neues Leben im Geiste beginnen, zu welchem er ihnen Kraft geben und selbst vorleuchten wollte: so wußte er, wenn es ihm gelänge, sie ganz oder größtentheils in dieses Reich Gottes zu sammeln, welches er zu stiften berufen war, und welchem 1–3 Vgl. Joh 6,15 5–8 Vgl. Mk 13,14 8–20 Vgl. Mt 22,15–22; Mk 12,13–17; Lk 20,20–25 20–21 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34 30–36 Vgl. Mt 3,2.8–9; 4,17; Lk 3,8

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alle irdischen Zwecke fremd waren, die den Lauf menschlicher Ordnungen und Gesetze hätte stören können, so würde auch in diesem ihr eitler Stolz gedemüthiget, ihre Leidenschafen gemäßiget, und fromme Ergebung auf der einen Seite, aber auch fromme Zuversicht und Weisheit auf der andern, immer weiter unter ihnen verbreitet werden, so daß sie nicht mehr, wie bisher, ihr Verderben beschleunigen, und das Gericht Gottes auf sich ziehen würden. Denn wenn sie sich so um|wandelten, war auch zu hoffen, daß der Argwohn der über sie herrschenden Römer, zu welchem diese nicht mit Unrecht gereitzt wurden durch das häufige empörerische Beginnen, sich allmählig verlieren würde, wenn das Volk in den stillen Gang des innern und seligen Friedens mit Gott eingeleitet, und alles Irdische nur als Mittel zu dem Ewigen ansehend, seine, wenngleich nicht ungegründeten, Ansprüche ruhen ließ, und das Geschick, das ihm mit so vielen Völkern gemein war, lieber ruhig ertrüge und die gewaltthätigen Versuche nicht mehr erneuerte, welche doch nur dienen konnten, die Empfindung des erlittenen Unrechts kund zu thun und aufzufrischen, als es wirklich abzuwälzen. So gedachte der Erlöser, Jerusalems Söhne zu sammeln unter seine Flügel und zu schützen vor dem Unglück, welches sie sich selbst bereiteten. Aber sie hatten nicht gewollt; und indem er sich nun dessen bewußt war, wie er seinerseits nichts verabsäumt hatte, was zu ihrem Frieden dienen konnte, bis zu dieser letzten Stunde seiner öffentlichen Wirksamkeit unter ihnen, so blieb ihm nun nichts weiter übrig, als zu weinen über die Stadt und über das Volk. Aber über wen eigentlich weinte der Erlöser, als er die Stadt ansah? In derselben wohnten, wie sich nicht nur schon ohnehin vermuthen läßt, sondern wir auch aus späteren Erzählungen bestimmt wissen, auch Jünger von ihm, mögen sie auch nur ein kleines Häuflein gebildet haben; und so durfte er voraussetzen, daß deren auch noch zu jener Zeit daselbst seyn würden, von der er redete. Weinte er über diese zunächst und vorzüglich? Wohl nicht, obgleich wir glauben möchten, sein Mitgefühl werde sich auch auf die vornämlich bezogen haben, die seinem Herzen die Nächsten waren. Denn wenn er über diejenigen weinte, welche er zwar hatte gewollt unter seine Flügel sammeln, die aber selbst nicht gewollt hatten, über diejenigen, vor deren Augen immer noch verborgen geblieben war, was zu ihrem Frieden diente: so schloß er ja vielmehr gerade diejenigen aus von seinem Mitgefühle, welche er in sein Reich wirklich gesammelt, und die durch 36–37 ihrem Frieden] ihremFrieden 18–20.34–35 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34

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ihn den Frieden schon gefunden hatten, anstatt | dessen die übrigen einem ganz andern Ziele vergeblich nachjagten. Dieses kann uns hart scheinen; aber auch anderwärts finden wir den Erlöser so. Ohne Spuren einer solchen weichen Gemüthsstimmung bereitet er sie darauf vor, was für Unruhen und Leiden sie würden durchzumachen haben, unschuldig für ihr Theil, mit eben Jenen, die durch Verschmähung der dargebotenen göttlichen Hülfe sich und sie in das Verderben gestürzt hatten. Und trockenen Auges verkündigt er ihnen vorher, was sie, unabhängig von jenem allgemeinen Geschick, als seine Verkündiger um seines Namens willen nicht minder Hartes würden zu erleiden haben. So scheint er denn der Meinung gewesen zu seyn, daß das öffentliche Unglück, welches von seinem Volke nicht mehr abzuwenden war, da seine heilsamen Bestrebungen bei demselben keinen Eingang fanden, immer noch am Leichtesten von denen getragen werden konnte, welche dasselbe mit ihm gewollt, selbst wenn sie außer ihrem Antheil an dem allgemeinen Leiden noch besonders dafür zu erdulden haben sollten, daß sie nicht aufhörten, zum Guten zu rathen, und den wahren und bleibenden Frieden zu verkündigen. Diese also beweinte er nicht, sondern tröstete sie mit dem Bewußtsein, daß sie dennoch das Salz der Erde seyen, welches seinen Werth und seine Wirksamkeit behalte, so lange es nur nicht dumpf werde, und daß sie, wie unheilbar auch die Gesellschaft darniederliege, welcher sie durch die Geburt angehörten, sie doch auf der andern Seite der Heerde einverleibt wären, welche, wenn auch der Hirt geschlagen und sie scheinbar zerstreut würde, doch immer wieder sollte gesammelt, und allmählig das ganze menschliche Geschlecht durch sie veredelt werden. – Ueber die er aber weinte, das war auf der einen Seite der große Haufe derer, welche deßwegen die Zeichen der Zeit, wie der Erlöser klagt, nicht verstanden, weil sie sich überhaupt nur um die Zeichen des täglichen Wetters bekümmerten, und, in die Sorge für irdische Befriedigungen versunken, keinen Sinn hatten für die größeren Angelegenheiten ihres Volkes. Ueber diese weinte er, weil sie nicht begreifen wollten, daß eine solche Gesinnung überhaupt niemals und unter keinen Umständen, wie | scheinbar sie auch oft möge angepriesen werden, den wahren Frieden des Menschen fördern kann. Auf der andern Seite aber weinte er über das wohl eben so zahlreiche, nicht gleichgültige, aber wankelmüthige Volk, von welchem schon bald im Anfange des öffentlichen Lebens unseres Herrn Johannes sagt: es hätten zwar in Jerusalem eine Menge an ihn geglaubt, weil sie die Zeichen gesehen, welche er that; 8–10 Vgl. Mt 10,17–18.21–22; Mk 13,9.12–13; Lk 21,12–13.16–17 19–21 Vgl. Mt 5,13 23–26 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7); Joh 10,16 27– 32 Vgl. Mt 16,1–3; Lk 12,54–59 38–1 Vgl. Joh 2,23–24

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er aber habe sich ihnen nicht vertraut, denn er habe sie Alle gekannt. So wußte er wohl, daß auch Viele von denen, welche ihm jetzt: Hosianna dem Sohne Davids, zuriefen, in wenigen Tagen auch: Kreutzige! kreutzige! rufen würden, und wie sie ihm leichtlich geglaubt hatten, aber bald hinter sich gegangen waren, nachdem der erste Eindruck sich verloren hatte, und seine Forderungen ihnen in klarer Strenge vor Augen traten, so auch in jenen Zeiten allgemeiner Verwirrung leichtlich sich würden verleiten lassen, wenn ihnen Einer zurief: Hier ist Christus, oder da ist Christus. Nichts konnte wohl beweinenswerther seyn für den Freund der Menschen, der es besonders darauf angelegt hatte, daß das Herz fest werden sollte, als diese unsichere Beweglichkeit, dieses hohle Schwanken, diese schauderhafte Leichtigkeit, Vertrauen zu geben und zu entziehen, Grundsätze und Ansichten anzunehmen und wieder abzuwerfen. Und wie häufig damals ein solches wetterwendisches, jedem Eindruck des Augenblickes folgendes Wesen unter denen muß gewesen seyn, welche für etwas gelten wollten, das sehen wir am Besten daraus, daß der Herr selbst sich veranlaßt sah, dem Johannes ausdrücklich, und als ob dieß eher eine Seltenheit sey, das Zeugniß zu geben: er sey nicht ein solches von jedem Winde bewegtes Rohr. – Neben jenen Gleichgültigen und diesen Allzubeweglichen gab es gewiß in Jerusalem nun eine weit kleinere Anzahl solcher, welche mit vollem Bewußtseyn und beharrlichem Willen, sey es nun aus Eigennutz oder aus Herrschsucht, oder aus Eifer um Gott, aber ohne Verstand, wahre Widersacher und thätige Feinde des Erlösers waren. Siegen konnte diese kleine Anzahl demohnerachtet für den Augenblick, weil, wie die Kinder der Finsterniß klüger sind, als die | Kinder des Lichts seyn wollen, auch diese verstanden aus der Unthätigkeit der Gleichgültigen Vortheil zu ziehen, und die Beweglichen für den Augenblick zu gewinnen und zur leidenschaftlichsten Feindseligkeit gegen den Erlöser zu entflammen. Ob nun seine Thränen auch diesen gegolten haben: wer könnte das bezweifeln, der sich seiner Fürbitte für sie am Kreutze erinnert! Aber auch das dürfen wir nicht übersehen, daß er ihrer hier gar nicht besonders gedenkt, und, vom Jammer über die dringende gemeinsame Gefahr durchdrungen, weder dessen, was ihm selbst unmittelbar bevorstand, noch der persönlichen Feindschaft der Angesehenen im Volke gegen ihn auch nur mit Einem Worte erwähnt.

2–3 Vgl. Mt 21,9.15 3–4 Vgl. Joh 19,6; vgl. Lk 23,21 8–9 Vgl. Mt 24,23; Mk 13,21 17–20 Vgl. Mt 11,7; Lk 7,24 26–27 Vgl. Lk 16,8 32 Vgl. Lk 23,34

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II. Nun aber, m. gel. Fr., laßt uns dem Erlöser folgen von seinen frommen Thränen, den Zeugen seines Mitgefühls und seiner Selbstverläugnung, zu seiner Geschäftigkeit im Tempel, wo er kaum angelangt war, als er anfing, diejenigen hinauszutreiben, welche in den Vorhöfen desselben kauften und verkauften. Hätte nun dieses äußerliche Treiben nur in dem Maße statt gefunden, wie es die wirklichen Bedürfnisse des Tempeldienstes erforderten, und mit der Zurückgezogenheit und Stille, die einem so untergeordneten Geschäfte in der Nähe der heiligsten Stätte wohl anstand: so würde der Erlöser gewiß mehr Nachsicht gebraucht, und nicht das harte Wort gesprochen haben: „Es stehet geschrieben: mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht.“ Doch um diese Handlung unsers Herrn in ihrer ganzen Bedeutung zu verstehen, laßt uns doch jene heiligen Räume, in denen sie statt fand, uns näher vergegenwärtigen, und bedenken, was es noch sonst darin gab, was die Aufmerksamkeit des Erlösers hätte auf sich ziehen können. Er war gewohnt gewesen, und bis auf den Tag, wo er zum letzten Male die Stadt verließ und in die Hände seiner Feinde gegeben wurde, war er der Gewohnheit treu geblieben, so oft er zu festlichen | Zeiten in die heilige Stadt kam, und so lange er dann darin verweilte, täglich in den Höfen und Hallen des Tempels zu lehren. Aber nicht er allein that dieses, sondern neben ihm lehrten auch die Schriftgelehrten, deren Zuhörer und Schüler er in seiner Kindheit an eben dieser Stelle gewesen war, Sadducäer und Pharisäer, Beide oft von ihm, und nicht selten durch strenge und harte Rede, widerlegt, oft von ihm bitter getadelt über die Art, wie sie sich ihres Ansehens bei dem Volke bedienten. Allein wenngleich diese noch immer fortfuhren, dasselbige wie sonst zu lehren neben ihm, und gewiß auch lehrend nicht unterlassen haben werden, gegen ihn zu arbeiten, um das Volk von ihm abzuwenden, so wie sie auch ihn selbst im Tempel mit spitzfindigen Fragen aus böser Absicht hinterlistig verfolgten: gegen sie that er dennoch nichts, er richtete keine Art von Gewalt gegen sie, und sagte nicht von ihnen, daß sie durch ihr Lehren seines Vaters Haus entheiligten und zur Mördergrube machten. Vielmehr mußte die Ruhe und Stille, die er in den Umgebungen des Tempels herzustellen suchte, ihnen nicht minder zu gute kommen, als ihm selbst. So ließ er sie immerfort neben 2 dem] den 24–25 Vgl. Lk 2,46–47

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sich lehren, nicht als ob er seine Meinung von ihrer Lehre und von der Gesinnung eines großen Theiles unter ihnen geändert hätte; sondern weil doch Viele von ihnen es im Innern ihres Herzens redlich meinten, nach ihrer Weise, und, wenngleich nicht mit richtiger Einsicht, und nicht ohne schädliche Vorurtheile zu begünstigen, doch Eiferer waren, nicht gerade nur für sich selbst und ihr Ansehen, sondern doch auch für das Gesetz, und daß es auch unter ihnen Männer gab, bei denen das, was sie lehrten, wahrhafte Ueberzeugung war, die sie durch fleißiges, wenngleich irregeleitetes, Forschen in der Schrift erworben hatten. Wenn nun gleich er, welcher wohl wusste, was in jedem Menschen war, gar wohl vermochte, die Wohlmeinenden von den Andern zu scheiden: so gehörte es doch mit zu seiner Entäußerung, diese Scheidung nicht durch eine äußere That geltend zu machen. Und darum wollte er lieber sie Alle nicht stören, um diese herrliche Lehrfreiheit, deren er im Tempel und in den Schulen sich | selbst erfreute, nicht zu verkürzen durch eine solche Ausübung seiner Gewalt, wie er sie hier gegen diejenigen richtete, die im Tempel verkauften und kauften. So hat er denn hier aus der tiefsten und innigsten Ueberzeugung gehandelt, daß in Sachen der Ueberzeugung mit keiner anderen Kraft, als mit der Kraft der Wahrheit, auf die menschliche Seele gewirkt werden könne und dürfe. Darum, so wenig er gewaltthätig gegen diese seine Widersacher auftreten wollte, so wenig entzog er sich übrigens der Gemeinschaft mit ihnen. Vielmehr wenn sie ihm Fragen vorlegten aus der Schrift, so beantwortete er sie ihnen, mochten sie es nun ehrlich gemeint haben oder arglistig, und nicht nur das, sondern er wandte sich dann auch seinerseits an sie, und legte ihnen selbst Fragen vor, um zu versuchen, wie weit er es darin bringen könne, sie ihrer Irrthümer entweder zu zeihen, oder dieselben wenigstens unschädlich für Andere zu machen, wenn diese sähen, wie wenig die gepriesenen Meister im Stande wären, sich gegen die göttliche Kraft der Wahrheit, die aus ihm redete, zu vertheidigen. Eben so aber auch, wenn er die Pharisäer ergriff bei ihrer hochmüthigen geistigen Herrschsucht, welche dem Volke Lasten aufbürden wollte, welche sie selbst nicht zu tragen gedachten, oder bei der Heuchelei, die sich den äußeren Schein von etwas zu geben wußte, wovon das innere Wesen ihnen fremd war; dann züchtigte er sie ohne Schonung, jedoch immer nur mit dem Schwerdte seines göttlichen Wortes, und rief das Wehe aus über ihre Heuchelei, wodurch sie das Volk hinderten, den Sinn für das Reingute und Göttliche in sich zu entwickeln, und der lauten Stimme der Wahrheit zu folgen. 10–11 Vgl. Joh 2,25

32–40 Vgl. Mt 23,1–33; Mk 12,38–40; Lk 11,39–44

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Nur gegen diejenigen, die das Heiligthum entehrten durch ein unreines, unsicheres und desto leichter betrügerisches Verkehr, gegen diese gebrauchte er eine gebietende Gewalt, und fing an, sie aus dem Tempel herauszutreiben. Aber was für eine Gewalt war auch diese? Unsere Erzählung möchten wir in dieser Hinsicht wohl ausführlicher wünschen, auf welche Weise sich denn der Erlöser Gehorsam verschafft habe von diesen Menschen, | und wie es zugegangen, daß die Wechsler und die Taubenkrämer es so ruhig hingenommen, als Christus, nach der Erzählung des Matthäus, ihre Tische und ihre Stühle umstieß. Würden doch wohl die Aufseher des Tempels mit ihrer Wache, wenn es ihnen Ernst gewesen wäre, Ordnung zu erhalten, glimpflicher angefangen, und erst, wenn sie Widerstand erfahren hätten, solche Gewalt gebraucht haben! Und Christus konnte sich auf gar kein obrigkeitliches Ansehen berufen, und gar keine äußere Hülfe stand ihm zu Gebote, wenn diejenigen sich nicht fügen wollten, die er hinaustrieb: viel eher hätten sie es wagen können, die Hülfe der Tempelwache in Anspruch zu nehmen. Eben daraus aber sehen wir, daß es auch hier keine äußere Gewalt war, welche der Herr ausübte. Und wenngleich eine ausführlichere Erzählung des Johannes von einer früheren ähnlichen Handlung Christi sagt: er habe eine Geißel gedreht mit seinen Händen, und damit die Käufer und Verkäufer herausgetrieben, – wie sollte das wohl angesehen werden können als eine eigentliche leibliche Gewalt, da ein Einzelner eine solche gegen eine große Menge von Menschen unmöglich ausüben kann; sondern auch die Geißel kann nicht als Strafe oder durch den Schmerz wirksam gewesen seyn, den sie verursachte, vielmehr war sie nur ein Zeichen von dem Ernste, womit er seinen Willen aussprach, und davon, wie dringend und eilig er ihn wollte erfüllt sehen. Hierdurch nun, und mithin durch eine geistige Gewalt, wurde die Menge erschüttert, so daß sie sich seinem Willen fügte. Also auch in diesem Falle übte der Herr keine andere Gewalt aus, als diejenige, welche ihm allein geziemte, immer nur die Gewalt des Wortes und die Gewalt des starken Willens, mit welchem er das göttliche Wort befehlend aussprach und in die Gemüther der Hörenden gleichsam hineindonnerte, daß sie nicht anders konnten, als verwundert und gleichsam betäubt folgen, und thun, was er gebot. Zuletzt aber, m. g. F., können wir uns der Frage wohl nicht enthalten: welchen Erfolg nun eigentlich diese Handlung | des Erlösers gehabt habe? An dem augenblicklichen läßt uns freilich der ganze Ton der Erzählung nicht zweifeln; und daß er selben Tages hat ruhig im Tempel lehren und heilen können, ohne durch jenes Getümmel gestört 7–10 Vgl. Mt 21,12

20–22 Vgl. Joh 2,15

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zu werden, ist wohl gewiß. Aber Johannes erzählt uns, daß auch früher schon, bald am Anfange seines öffentlichen Lebens, als er zum ersten Male zu Jerusalem auftrat im Tempel als Lehrer und Ausleger der Schrift und als Verkündiger des Reiches Gottes, der Erlöser eine ähnliche Handlung verrichtet habe. Er war nun also zum zweiten Male in dem Falle, dasselbe zu thun; und wie er zum ersten Male nur eine augenblickliche Wirkung hervorgebracht hatte, und wir nicht wissen können, ob nicht, so oft er auf den hohen Festen seines Volks in dem Tempel erschien, er es erst eben so habe machen müssen, ohne daß die heiligen Geschichtschreiber es uns hinterlassen haben, – so wird auch wohl diesmal der Erfolg nur ein vorübergehender gewesen seyn. Für seinen nächsten Berufszweck, ruhig im Tempel zu lehren, hatte er nun auch daran genug gehabt; ja er würde mit aufmerksamen und eifrigen Zuhörern immer noch irgendwo einen geräuschlosen Aufenthalt gefunden haben. Aber er tadelt, ohne Rücksicht auf sein Bedürfniß, an und für sich, daß das heilige Haus, welches ein Bethaus seyn sollte, in solchem Grade zu irdischen Zwecken gemißbraucht ward; und wir sehen, daß er, wenngleich schon eine frühere Erfahrung ihm gezeigt, wie wenig er allein gegen einen so alten Mißbrauch auf die Länge ausrichten konnte, demohnerachtet nicht ermüdet, immer wieder nicht nur seinen Tadel öffentlich auszusprechen, sondern auch sich dem Uebel kräftig entgegenzusetzen, so weit es nur irgend in seiner Macht stand. Und so ging an ihm, wie Johannes sagt, indem er uns die frühere Begebenheit schildert, das Wort in Erfüllung: „der Eifer und dein Haus hat mich verzehret.“ So konnte der Herr nicht anders als unbekümmert um den Erfolg sich ganz diesem Eifer hingeben, und nichts, was in seinen Kräften stand, wollte und konnte er unterlassen, um seinerseits unschuldig daran zu seyn, wenn das Haus seines Vaters, wie er | es nannte, entweiht wurde. Soviel an ihm war, sollte es ein Bethaus seyn und bleiben, und nichts Anderes. III. Und nun, nachdem wir die wehmüthigen Thränen des Erlösers und sein frisches Hintreten zur kräftigen That nach einander betrachtet haben, – laßt uns auch auf die Verbindung, die zwischen beiden statt findet, unsere Aufmerksamkeit richten; indem uns auch dadurch des Erlösers Sinn und Weise noch deutlicher werden muß. Wenn wir zuerst schon eben gesehen haben, wie der Erlöser dasjenige, was er als Recht in sich fühlte, wozu sein Gewissen, sein Eifer, 1–5 Vgl. Joh 2,13–17

23–25 Joh 2,17

28–30 Vgl. Joh 2,16

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sein Beruf ihn trieb, es wenigstens zu versuchen, auch immer wieder gethan und versucht habe, wenn auch mit dem bestimmten Voraussehen eines geringen Erfolgs: so sehen wir, wenn wir von dieser That zurückdenken an jene früheren weissagenden Worte des Erlösers, noch von einer andern Seite, wie ihm das Zeugniß, welches er durch seine That ablegte von seiner Gesinnung, weit mehr werth war, als irgend ein Erfolg. Denn wenn der Erlöser nun doch wußte: bald werde die Zeit kommen, wo dieser Tempel zerstört werden sollte, so daß kein Stein auf dem andern bliebe, und bald also werde dieses Haus seines Vaters nicht mehr jenen heiligen Geschäften gewidmet seyn, aber auch nicht mehr von leichtsinnigen, weltlich gesinnten, eigennützigen Menschen frevelhaft können entweiht werden; wenn sein Gemüth so eben erfüllt war mit dem Bilde dieser gar nicht mehr fernen Zukunft: wie konnte er es wohl, zumal er darauf ausging, ein ganz neues Reich Gottes zu stiften, das gar keines Tempels in diesem Sinne bedurfte, wie konnte er es noch der Mühe werth halten, mißliche und wenig begünstigte Verbesserungsversuche zu machen mit einer Anstalt, von deren baldigem Untergang er so überzeugt war? Laßt uns dabei an jenes andere Wort des Herrn denken: daß er nicht gekommen sey, das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen. Und gewiß werden wir recht thun, wenn wir dieses Wort des Herrn | nicht nur auf den sittlichen Kern, sondern auf die ganze Ordnung der jüdischen Gottesdienste, wie sie im Gesetze enthalten ist, und von der Stiftshütte auf den Tempel übertragen war, anwenden. Diese wollte er nicht zerstören; er wußte, daß ihre Stunde bald schlagen würde, aber von ihm selbst sollte die Zerstörung dessen, was ihm ein heimisches, vaterländisches Heiligthum war, nicht ausgehen. Hiernach also hat der Erlöser auch hier gehandelt, wohl wissend, daß so fest gegründete und weitverbreitete menschliche Anstalten, zumal die sich auf göttliche Dinge beziehen, niemals untergehen ohne Schuld. Wer nun das Verderben walten läßt, ohne es zu hemmen, wie er kann, der theilt immer die Schuld, die Zerstörung geht mit von ihm aus, und er kann nicht sagen, er habe nur untergehen lassen, was schon dem Untergange geweiht war. Denn wenn Alle sich verbinden, dem Verderben zu wehren: so wird auch der Untergang wenigstens aufgehalten. Wollte also der Erlöser jenem Worte treu bleiben, so durfte auch die festeste Ueberzeugung von der bald bevorstehenden Zerstörung des Tempels ihn nicht hindern, so zu handeln, wie er that. Sein Gemüth mußte aufgeregt werden, wo er Mißbrauch und Entweihung sah; sein innerstes Gefühl 30 niemals] ni mals 7–9 Vgl. Mt 24,2; Mk 13,2; Lk 21,6

19–20 Vgl. Mt 5,17

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forderte ihn für den Augenblick auf zum Widerstande; dieser Widerstand war zugleich der natürlichste Ausdruck seines Willens, das leuchtendste Beispiel, auf daß sich Niemand entschuldigen könne, und die bezeichnendste Stimme der Lehre und der Warnung. Und darum, m. g. F., weil der Erlöser dieser Handlungsweise nie untreu ward, konnte auch dieses Beides in ihm auf eine so wunderbare Weise in einander erscheinen, und sich in einander verlieren: der weissagende Blick in die Zukunft, der dem geziemte, welcher höher war und mehr, als alle Propheten, und das bescheidene sich genügen lassen an der menschlichen Gegenwart, welches dem Menschensohne geziemte, dessen Wahlspruch war: daß der Vater Zeit und Stunde sich selbst vorbehalten habe, ihm aber und uns nichts gebühre, als in jedem Augenblicke den Willen des Vaters zu erfüllen. Darum fragte er eben so wenig nach nah oder fern, lang oder kurz, als nach gewissem oder zweifelhaftem | Erfolge, sondern that zu jeder Stunde aus dem innersten und reinsten Gefühle für das Rechte und Gute, was ihm vor Handen kam, zu thun. Zweitens aber, wenn wir uns bei dem Worte des Erlösers: „mein Haus ist ein Bethaus,“ in Verbindung mit seinen wehmüthigen Thränen und dem weissagenden Worte: „und sie werden keinen Stein auf dem andern lassen,“ an jene frühere Rede des Herrn erinnern, als er sprach: „es wird die Zeit kommen, wo man weder auf diesem Berge – wo das Heiligthum der Samariter stand – noch zu Jerusalem wird den Vater anbeten; seine Anbeter aber werden seyn Anbeter im Geiste und in der Wahrheit, und solche will er auch jetzt schon haben,“ und also offenbar sehen, die Absicht des Erlösers sey vom Anfange an dahin gegangen, das Haus des Herrn auf eine vor ihm nirgend bekannte und auch nur durch ihn mögliche Weise zu vergeistigen, indem er einen Dienst Gottes stiftete, bei dem es nicht mehr möglich wäre, sich dem Herrn mit den Lippen zu nahen, mit dem Herzen aber fern von ihm zu bleiben, Gott Opfer zu bringen und Gelübde zu bezahlen, ihm aber den Gehorsam des Herzens zu verweigern, kurz eine reine Anbetung des Geistes im Geiste und in der Wahrheit; wenn das nicht nur vom Anfange an seine Absicht war, sondern er auch darin seiner Sache so gewiß war, daß mit eben so großer Sicherheit, als er hier trauernd von der bevorstehenden Zerstörung redet, er anderwärts auf das Freudigste die Unvergänglichkeit des von ihm zu stiftenden Gottesreiches ver33 des Geistes] Kj Gottes 11–12 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32; Apg 1,7 18–19 Vgl. Mt 21,13; Mk 11,17; Lk 19,46 22–25 Vgl. Joh 4,21.23 29–31 Vgl. Jes 29,13 (zitiert in Mt 15,8)

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kündigt, und die Unmöglichkeit, daß irgend etwas diejenigen aus seiner Hand reissen könne, welche der Vater ihm gegeben, so daß er auch gewiß von allen Gräueln der Verwüstung in Jerusalem und Judäa keine Verführung seiner Gläubigen fürchtete: wie sollen wir es uns erklären, daß er über Begebenheiten weinte, welche der Erreichung seiner Absichten mächtigen Vorschub leisten, und mehr als irgend etwas den Anbau seines Reiches fördern mußten? Oder war es nicht so, daß so lange der Tempel in Jerusalem noch stand, und das Volk des alten Bundes noch im Besitze des | gelobten Landes war, so lange auch nicht nur einem großen Theile des Volkes das Evangelium von Jesu ein Aergerniß bleiben mußte, weil es Veranlassung genug fand, die alten Verheißungen anders zu deuten, sondern daß so lange auch die heilsbegierigen Heiden sich natürlich theilten, und nur Einige das Evangelium vom Kreutze annahmen, Andere aber sich zu der Herrlichkeit jenes Tempels wandten? Mußte nicht auf alle Weise das alte Jerusalem vergehen, damit der neue Bau sich desto kräftiger und schöner erheben konnte? Und wie es war, so hat es auch gewiß der Herr vorausgesehen; und doch weinte er! Hätte es diesem starken Helden Gottes nicht besser geziemt, in thränenloser Heiterkeit daran zu denken, wie dies veraltete Heiligthum mit allen seinen Einrichtungen zu Grunde gehen würde, um einer anderen und weit vortrefflicheren Anstalt eine um soviel bessere Stätte zu bereiten? Hätte er nicht mit Freuden einer Zerstörung entgegensehen sollen, bei der soviel Unvollkommenheit, soviel irdischer Wahn, ja soviel verderblicher Frevel mit zerstört wurde, und also ein freier Raum für die Wahrheit gewonnen ward? Und doch weinte er? – Ja, wie sicher auch sein ahnungsreiches göttliches Gemüth in eine segensreiche Ferne hinaussah; wie viel mehr Ursache er hatte, sich über die Auswahl Gottes aus den damaligen und späteren Geschlechtern zu freuen, als sich zu betrüben über das Elend, das verstockte Herzen traf, und über den Untergang dessen, was doch nicht mehr zu retten war: er weinte doch! So sehen wir denn hinreichend, daß jene empfindungslose Stärke nicht die des Erlösers war. Mit dem festesten Willen, das zu bewirken, wozu er gesendet war, mit der reinsten und unermüdetsten Hingebung aller seiner Kräfte und seines Lebens selbst für diesen Beruf, mit der erhabensten Stärke im eigenen Leiden, verband sich bei ihm eine so menschliche Regsamkeit des Gefühls, daß er trauern und weinen mußte darüber, daß auch das neue Reich Gottes, welches zu begründen er gekommen war, unter den Menschen nicht könnte zum frischen und kräftigen Leben gedeihen, ohne daß seiner Pflanzung auch gewaltsame | Erschütterungen und zerstörende Gerichte des Höchsten zur Seite gin1–2 Vgl. Joh 10,29

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gen. Freuen konnte er sich nicht über die überschwenglichen Leiden, durch welche seinem Volke und dessen Führern der blinde Haß und die stumpfe Gleichgültigkeit gegen ihn vergolten ward; sondern gefreut würde er sich nur haben, wenn sie noch zur rechten Zeit beherzigt hätten, was zu ihrem Frieden diente und sich dem neuen Bunde so zugewendet, daß durch die Verbesserung ihres Inneren alle Veranlassung vermieden worden wäre zur Zerstörung der heiligsten Verhältnisse und ihrer erhabensten Denkmäler. Gleichgültig konnte es ihm nicht seyn, daß Tausende zu seiner Rechten fielen und Zehntausende zu seiner Linken, sondern auch ihn schauderte vor den Verwüstungen des Schwerdtes und den Gräueln feindseliger Wuth, wie vor Allem, was nicht anders kann als von Unthaten begleitet seyn. Gleichgültig konnte es ihm nicht seyn, daß ein ganzes Volk sich bei dieser großen Scheidung zweier Zeiten gewaltsam losreissen sollte von allen Vorstellungen und Sitten, die seit Jahrhunderten tiefe Wurzel in ihm geschlagen hatten, sondern er fühlte den Schmerz zerrissener und aus ihrem ruhigen Gleichgewichte gebrachter Seelen, welche dann am Meisten in Gefahr waren, von jeder leeren Hoffnung, von jedem blinden Gerücht: ,,hier ist er, da ist er“, irre geleitet zu werden. Aber indem er so durch sein Mitgefühl das unsrige heiligte, daß auch wir uns nicht scheuen dürfen, jeder natürlichen Vorliebe in den großen Verhältnissen der Menschen schonend zu begegnen, und die Schmerzen mitzufühlen, welche unvermeidlich sind, wenn das Alte zerstört werden muß, um dem Neuen Raum zu machen: so nahm er doch nichts zurück von seinen Aufträgen an seine Jünger, und wankte keinen Augenblick, ob er das neue Evangelium verkündigen sollte, oder nicht, ob er selbst dafür in den Tod gehen und auch seine Jünger gleicher Gefahr aussetzen solle, oder nicht. Und in eben dieser Vereinigung des reinsten menschlichen Mitgefühls und der theilnehmenden Wehmuth bei aller Zerstörung mit dem lebendigsten, keiner Furcht und keiner irdischen Hoffnung unterliegenden, Eifer für das, was der Wille seines Vaters | an ihn und an das menschliche Geschlecht war, – in dieser Vereinigung zeigt sich das Göttliche des Erlösers. Dieser Vereinigung immer näher zu kommen, und weder rechts noch links abgelenkt zu werden von diesem allein richtigen Pfade, dies bewirkt der Herr durch den Beistand seines Geistes allen denen, die sein Werk auf Erden treiben wollen, so oft er sie, gleichviel ob im Großen oder im Kleinen, in ähnliche Verhältnisse und Beziehungen hineinführt. Und 36 Geistes] zu ergänzen wohl: in 19 Vgl. Mt 24,23; Mk 13,21

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daran wird man zu allen Zeiten, und am Meisten bei großen Entscheidungen und Umwälzungen, seine Jünger erkennen, daß die Kraft der Liebe, welche der seinigen gleicht, niemals in ihnen erstirbt, und daß auch unter den härtesten Kämpfen sie für sich, und soweit es in ihrer Hand liegt, das Böse niemals anders überwinden wollen, als durch das Gute, nämlich durch die Kraft des seligen Glaubens und der göttlichen Liebe, welche die besten Segnungen sind für die Welt. Amen.

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Schl.

b. Nachschrift 328 329

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Predigt am zehnten Sonntage nach Trinitatis 1822. | Tex t. Lukas XIX, 41–48. Und als er nahe hinzu kam, sahe er die Stadt an und weinete über sie, und sprach: Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dient; aber nun ist es vor deinen Augen verborgen. Denn es wird die Zeit über dich kommen, daß deine Feinde werden um dich und deine Kinder mit dir eine Wagenburg schlagen, dich belagern und an allen Orten ängsten, und werden dich schleifen und keinen Stein auf dem andern lassen darum, daß du nicht erkannt hast die Zeit, darinnen du heimgesucht bist. Und er ging in den Tempel, und fing an auszutreiben, die drinnen verkauften und kauften, und sprach zu ihnen: es stehet geschrieben, mein Haus ist ein Bethaus; ihr aber habt es gemacht zur Mördergrube. Und er lehrete täglich im Tempel, aber die Hohenpriester und Schriftgelehrten und die Vornehmsten im Volk trachteten | ihm nach, daß sie ihn umbrächten, und fanden nicht, wie sie ihm thun sollten; denn alles Volk hing ihm an, und hörete ihn. M. a. F., Lehrreicheres und Erbaulicheres für alle Christen kann es nicht geben, als wenn sie sich irgend etwas aus dem menschlichen Leben unseres Erlösers vorhalten. Denn wir finden darin überall die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, überall erkennen wir den Geist und den Sinn dessen, der nichts von ihm selbst wollte, sondern nur gekommen war den Willen seines Vaters zu erfüllen. Ist es nun etwas Kleines und Einzelnes, was unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann haben wir es desto leichter, 1–3 Vgl. Joh 13,35 Joh 5,30

5–6 Vgl. Röm 12,21

28–29 Vgl. Joh 1,14

30–31 Vgl.

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es anzuwenden auf uns selbst und uns die verschiedenen Fälle in dem menschlichen Leben vorzuhalten, für welche sich Lehre und Beispiel daraus nehmen läßt. Ist es aber etwas Großes und Zusammengesetztes, ja dann haben wir genug gethan, wenn wir es nur ganz auffassen und in das Innerste unseres Her|zens aufnehmen. Je mehr dann dieses davon erfüllt und durchdrungen wird, um desto mehr können wir sicher sein, daß, wo sich die Gelegenheit findet, das theure und herrliche Bild, welches wir in uns aufgenommen haben, sich wirksam zeigen wird in unserem eigenen Leben. Dies beruhigt mich bei dem großen und herrlichen Inhalt des verlesenen evangelischen Abschnittes. Laßt uns denn, m. g. F., nur daran denken, was der Erlöser hier gethan, recht zu entwickeln und in unser Inneres aufzunehmen; es wird uns werden eine Quelle des Muthes und der Erhebung des Glaubens und der Treue, wenn wir irgend in den Fall kommen mögen, Gebrauch davon zu machen im Großen oder im Kleinen. Es sind aber, m. g. F., gleichsam zwei ganz verschiedene Auftritte in dem Leben unseres Erlösers, wenngleich unmittelbar auf einander folgend, die der verlesene Abschnitt des Evangeliums umfaßt. So wollen wir sie denn auch nicht von einander trennen in unserer Betrachtung, sondern erst den einen und dann den andern | recht genau erwägen, Äußeres und Inneres, That und Beweggründe zusammenhalten, und dann noch zuletzt das Verhältniß beider gegen einander zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit machen. I. Das Erste also, m. g. F., was der verlesene Abschnitt erzählt, das sind die schmerzlichen Gedanken des Erlösers über die seiner Seele vorschwebenden künftigen Schicksale seines Volks, als er im Begriff war, vor seinem Leiden in die heilige Stadt einzugehen. Als er nahe hinzu kam, weinte er über sie und sprach: wüßtest du, wenn auch nur jetzt noch, gleichsam in der letzten Stunde, wo es dir heilsam sein kann, was zu deinem Frieden dient! aber es ist vor deinen Augen verborgen. Hier könnten wir uns fragen: Wie? Der Sohn Gottes, derjenige, der von sich selbst sagen konnte: „mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, derjenige, welcher sagt: „wenn ich meinen Vater | bäte, würde er mir senden Legionen Engel zu meinem Dienst“, der kann nichts und will nichts als weinen über das traurige Schicksal, welches seinem Volke bevorsteht? Wenn der nicht zu helfen vermochte unter ähnlichen Umständen, wo denn soll Hilfe herkommen, so oft sich ein Theil des menschlichen Geschlechts am gleichen Rande des 35 herkommen] kommen 30–31 Mt 28,18

36 am] an

32–33 Vgl. Mt 26,53

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jähen Abgrundes befindet? Aber die Antwort liegt uns nahe, m. g. F. Wie wohl er in göttlicher Gestalt war, hielt er es nicht für einen Raub darin zu erscheinen, sondern nahm Knechtsgestalt an, er sagte von sich selbst, er sei nicht gekommen ihm dienen zu lassen, sondern daß er diene und suche demüthig und bescheiden, was sich von ihm wolle finden und helfen lassen. Also der irdischen Gewalt hatte er sich entkleidet und völlig entäußert. Es war der ewige Rathschluß Gottes und sein ewiges Wohlgefallen, daß er auf Erden erscheinen sollte nicht bekleidet mit einer gesetzmäßigen Gewalt, um über die Menschen zu herrschen, sondern an der bescheidenen Stelle derer, die dem Gesetz | unterworfen sind, wie auch der Apostel von ihm sagt, daß als die Zeit erfüllet war, Gott seinen Sohn gesandt habe unter das Gesetz gethan. Darum nun lag ihm nicht ob Hilfe zu schaffen; von ihm konnte nicht verlangt werden, die Bestrebungen seines Volks durch das Ansehen des Gesetzes in diejenigen Wege zu leiten, in welchen Rettung und Heil lag; und indem er nun fand, daß sie diese Wege nicht einschlugen, indem er fand, daß diejenigen, welche im Stande waren das Volk zu lenken durch die ihnen verliehene Gewalt, entweder verblendet waren über das, was heilsam sei oder nicht, oder auch das gemeinsame Beste ihrem eigenen Vortheil und ihrem persönlichen Ansehen aufopferten: was blieb ihm übrig, als da er nahe hinzukam, und sich ihm alles vergegenwärtigte, was bald geschehen würde, bald wenigstens für ihn, weil er nun zum letztenmal die heilige Stadt vor sich liegen sah, aus der er nicht wieder herauskommen sollte ohne durch | seinen Tod gebüßt zu haben für das menschliche Geschlecht, als er nahe hinzukam, und sie liegen sah in aller ihrer Pracht und Herrlichkeit, da weinte er. Allein ist denn kein Mittelweg, m. g. F.? giebt es nichts zwischen beiden, der Kraft und wohlgeordneten Macht derjenigen, denen Gesetz und Ordnung die Gewalt in die Hände gegeben hat, um die Bestrebungen der Menschen zu leiten auf der einen Seite, und dem unthätigen Schmerz bei denen, welche dieser Gewalt nicht theilhaftig nun auch gar nichts sollten thun können, um abzuwenden, was verderblich droht auf der andern Seite? Nein, m. g. F., so ist es freilich nicht, so ungleich hat Gott die Menschen nicht gestellt und so nicht vertheilt die verschiedenen Gaben und Kräfte. Aber laßt uns gedenken einer andern etwas spätern Rede des Herrn in den letzten Tagen vor seiner Gefangennehmung und seinen Leiden, wo er sagt: | „Jerusalem, Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne unter ihre Flügel lockt ihre Küchlein; aber du hast nicht gewollt.“ So war es denn, daß er sich mit gutem Gewissen sagen konnte, nichts verabsäumt zu haben was in seinen Kräften stand, um das Heil seines Volkes zu fördern und es zu retten von dem drohenden Jammer; aber sie hatten nicht gewollt. So können wir denn, m. g. F., den 1–3 Vgl. Phil 2,6–7 3–6 Vgl. Mt 18,11; 20,28; Mk 10,45; Lk 19,10 Gal 4,4 35–37 Mt 23,37; Lk 13,34

11–12 Vgl.

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Schmerz des Erlösers, den uns unser Text schildert, auch nicht verstehen, wenn wir nicht zurücksehen auf jene frühere Thätigkeit, an welche er in der eben angeführten Rede erinnert. Wie hatte er denn die Söhne und Töchter Jerusalems unter sich sammeln wollen? Wie? führte er es etwa doch im Schilde sich irgend eine ungesetzmäßige Gewalt anzumaßen? hatte er etwa heimliche Anschläge geschmiedet durch vielleicht nur unbekannte Freunde und Jünger, um das Volk zu locken und gegen die gesetzmäßige Gewalt zu empören? | Nein, m. g. F., das lehrt uns die Geschichte seines ganzen Lebens, wie sie vor uns liegt, wie fern er davon war, daß wir seinen Worten solche argwöhnische Deutung geben dürften. Vielmehr wenn er verlockt worden war zu ähnlichen Unternehmungen, dann war er geflohen und hatte sich verborgen, wenn sie ihn zum Könige ausrufen wollten, und ihnen verwiesen den Unverstand, mit welchem sie seine Worte und Thaten falsch deuteten und falsch schätzten. Und wenn ihm von den Listigen unter den Gewaltigen Fallstricke gelegt wurden und er gefragt, ob es auch Recht sei dem Kaiser Zins zu geben; dann legte er ihnen die einfache Frage vor, weß das Sinnbild und die Überschrift wäre auf der Münze, die ihnen den heilsamen Schutz der Macht, der sie untergeordnet waren, und die Gesetze, unter denen alle ihre Bestrebungen standen, vergegenwärtigte, und ermahnte sie eben dadurch dem Kaiser zu geben, was des Kaisers sei, wenn sie nur dabei | auch das gute Gewissen haben könnten, Gott immer zu geben und gegeben zu haben, was Gottes sei. Wie denn also hatte er sie sammeln wollen unter seinen schützenden Fittich? Sie waren stolz auf die Vorzüge eines alten auserwählten Volkes Gottes, und erhoben sich in ihren Gedanken über die heidnischen Völker, die sie umgaben, und auch über das, welches sie beherrschte, und darum trugen sie das Joch nur mit einem schwer verhaltenen Unwillen, welcher bei geringen Veranlassungen leicht ausbrach in übel ersonnene thörichte Unternehmungen. Diesen Stolz suchte der Erlöser zu demüthigen, indem er fortsetzend die Predigt des Johannes ihnen verkündigte ein Reich Gottes, welches nahe herbeigekommen sei, würdig ihrer ganzen Aufmerksamkeit und aller ihrer Bestrebungen, aber zu welchem Behuf, um an demselben Theil zu nehmen, sie noch nicht etwa berechtigt wären durch ihre Geburt und ihre | Abstammung, sondern Buße thun müßten und ein neues Leben im Geiste beginnen, zu welchem er ihnen vorleuchten wollte; und in diesem Reiche Gottes, welches er zu stiften gedachte, und welchem alle irdischen Zwecke fremd waren, die den Lauf menschlicher Ordnungen und Gesetze hätten stören können, in diesem gedachte er ihren Stolz zu demüthigen, ihre Leidenschaften zu mäßigen, und 33–34 müßten] nüßten

37 hätten] hätte

10–12 Vgl. Joh 6,15 14–22 Vgl. Mt 22,15–22; Mk 12,13–17; Lk 20,20–25 23 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34 29–34 Vgl. Mt 3,2.8–9; 4,17; Lk 3,8

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fromme Ergebung auf der einen Seite, aber auch fromme Zuversicht und Weisheit auf der andern immer weiter unter ihnen zu verbreiten durch die Kraft des göttlichen Wortes. Und auf dieselbe Weise dann glaubte er auch immer mehr den Argwohn derer, die über sie herrschten, und die nicht mit Unrecht gereizt wurden durch das häufige empörerische Beginnen, diesen zu mäßigen, wenn das Volk in den stillen Gang des innern und seligen Friedens mit Gott eingeleitet würde, und alles Irdische nur ansähe als Mittel zu dem Ewigen, welches er unter ihnen ver|gegenwärtigen und lebendig machen wollte. Das war es, wie er gedachte, sie zu sammeln unter seine Flügel und sie zu schützen vor dem Unglück, welches sie sich selbst bereiteten. Aber sie hatten nicht gewollt; und indem er sich nun dessen bewußt war, daß er nichts verabsäumt hatte bis zu dieser letzten Stunde seiner öffentlichen Wirksamkeit unter ihnen, da nun hatte er das Recht zu weinen über die Stadt und über das Volk. Aber wie? Wenn gleich der Erlöser sich auch der göttlichen Kräfte, die ihm einwohnten, entäußerte, und oft genug bekannte dieses oder jenes nicht zu wissen, weil der Vater es sich allein vorbehalten habe: so können wir nicht leugnen, mit derselben traurigen Gewißheit, mit welcher er hier die künftigen Schicksale seines Volkes ausspricht, mit derselben frohen Gewißheit spricht er auch über die Sicherheit und Festigkeit des göttlichen | Reiches, welches zu stiften er gekommen war, daß es nicht vergehen werde, daß die, welche ihm Gott gegeben, niemand aus seiner Hand reißen werde, daß die Gewalt, die ihm der Vater verliehen, kein Ende nehmen könnte, und daß die Gemeine, die er dadurch stiften würde, auch die Kräfte der Hölle nicht überwältigen sollten. Warum weinte er wohl? Sah denn nicht sein ahnungsreiches göttliches Gemüth in eine weite Ferne hinaus? Konnte er nicht [sehen] die wenngleich kleine doch desto kräftigere Auswahl aus dem damaligen und aus den künftigen Geschlechtern, welche, wie er es öfters vorhergesagt hatte, die Kunde des Reiches Gottes empfangen und aufnehmen würde? und mußte er sich nicht an diesen mehr erfreuen als sich betrüben über den Untergang dessen, was nun einmal nicht zu retten war? sah er nicht voraus, was wir, die wir so weit nicht sehen, doch immer | vertrauungsvoll glauben in ähnlichen Fällen, daß eben aus jener Zerstörung ein desto herrlicherer Bau werde hervorgehen, daß das alles vergehen müsse, damit das Neue mit frischer Kraft leben könne, und daß eben die Zerstörung des Tempels, an welchen sich so viel falscher Wahn geheftet hatte, die Zerstreuung des Volkes, das eben dadurch mit allem Guten, was der Herr ihm bereitet hatte, desto kräftiger wirken konnte auf die, welche es umgaben, ein nothwendiges und herrliches Mittel 9 wie] was 9–10 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34 15–17 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32 Joh 10,28–29 22–23 Vgl. Mt 28,18 23–24 Vgl. Mt 16,18

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wäre, die christliche Kirche schneller zu verbreiten, fester zu gründen und mehr von allem Fremdartigen zu reinigen? sollte er das nicht auch vorausgesehen haben in derselben Stunde? O gewiß, m. g. F.! Ach um so mehr aber sind uns ja willkommen seine Thränen, damit wir wissen, wir brauchen uns der unsrigen nicht zu schämen. Wissen wir es nicht auch, m. g. F., daß der menschliche Geist erst frei | werden muß von den Banden des irdischen Lebens, um einen höheren Grad von Vollkommenheit zu erreichen? und doch weinen wir, wenn irgend ein geliebtes und theures Haupt diesem irdischen Schauplatz entrissen wird. Wissen wir es nicht, daß jedes Geschlecht und jedes Zeitalter sein eigenes Gutes hat, nicht mehr tauglich für das künftige, und seine eigenen Mängel, welche, wenn man sie gewähren ließe, das künftige Gute verhindern würden? wissen wir nicht, daß durch mancherlei Wechsel von Erhöhung und Erniedrigung, von Kraft und Schwäche, der Herr in einzelnen Theilen des menschlichen Geschlechts seinen weisen und väterlichen Rath ausführt? und doch weinen wir, wenn wir uns trennen sollen in solchen Scheidungen menschlicher Dinge von demjenigen, womit wir aufgewachsen waren und erzogen, was unser eigenes Leben mehr oder minder gewirkt hat. Wohl | laßt uns weinen, laßt uns der menschlichen Natur ihr Recht geben, der Herr selbst hat doch seine Thränen fließen lassen, indem er die heilige Stadt zum letztenmal vor sich sah; er vor dessen Auge die Zukunft heller war als vor dem unsrigen, er dessen Glaube ein beständiges Schauen war, doch weinte er über das, was seinem Volke bevorstand. II. Laßt uns ihm nun, m. g. F., folgen von seinen frommen mitleidigen Thränen zu seinem Wirken in dem Tempel. Als er dahin kam, da fing er an auszutreiben, die da im Tempel und in seinen Vorhöfen verkauften und kauften, und sprach zu ihnen: es stehet geschrieben, mein Haus ist ein Bethaus, ihr aber habt es zur Mördergrube gemacht, indem ihr Gefäße für irdischen Gewinn und zeitlichen Vortheil aufrichtet, mit einem solchen irdischen Sinn, der den Nachtheil der Andern gering achtet, und seine heilige Umgebung | mit Füßen tritt. Um, m. g. F. diese Handlung unseres Erlösers recht zu verstehen, laßt uns doch jene heiligen Räume uns näher vergegenwärtigen, um zu sehen, was es noch darin gab, was die Aufmerksamkeit des Erlösers hätte auf sich ziehen können. Er war gewohnt gewesen, und that es auch noch bis auf den Tag, wo er die Stadt zum letztenmal verließ, und in die Hände seiner Feinde gegeben wurde, er war gewohnt gewesen, sage ich, so oft er in der heiligen Stadt war, zu lehren in den Höfen und Hallen des Tempels; aber nicht allein, sondern neben ihm lehrten die Sadducäer und Pharisäer, 25 ihm] ihn

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beide oft von ihm widerlegt, oft von ihm getadelt, beide auf eine verschiedene Weise ihm und seinen Bestrebungen feindlich gesinnt. Aber gegen diese richtet er seine Gewalt nicht, sondern er läßt sie neben sich hingehen und lehren, wohl wissend, daß sie doch in dem Innern ihres Herzens, freilich jeder nach seiner Weise und aus einem | eigenen Gesichtspunkt, Eiferer waren für das Gesetz, wohl wissend, daß es auch unter ihnen Männer gab mit dem redlichen Willen, ihrer Überzeugung, die sie sich durch fleißiges Forschen erworben hatten, zu folgen. Und sie gedachte er nicht zu stören, und diese herrliche Lehrfreiheit des Tempels, der er sich selbst erfreute, nicht zu verringern durch eine solche Ausübung seiner Gewalt, wie er sie hier richtete gegen diejenigen, die im Tempel verkauften und kauften. Das war seine tiefste und innigste Überzeugung, daß auf die Überzeugung des Menschen mit keiner andern Kraft als mit der Kraft der Wahrheit gewirkt werden könne. Darum entzog er sich ihnen nie; wenn sie ihm Fragen vorlegten aus der Schrift, so beantwortete er sie ihnen, und dies nicht nur, sondern er wandte sich dann auch an sie, und legte ihnen selbst Fragen vor, um zu versuchen, wie weit er es darin bringen könnte sie ihrer | Irrthümer entweder zu zeihen, oder dieselben unschädlich für Andere zu machen, wenn sie sähen, wie wenig sie im Stande wären, sich gegen die göttliche Kraft der Wahrheit, die aus ihm redete, zu vertheidigen. Aber wenn er die Pharisäer ertappte auf der Heuchelei, dem Volke aufzubürden, was sie selbst nicht zu thun gedachten, oder auch sich einen äußeren Schein dessen zu geben, wovon das innere Wesen nicht in ihnen war; dann züchtigte er sie wohl auch mit nichts anderem als mit dem Schwerte seines göttlichen Wortes, und rief das Wehe aus über ihre Heuchelei, wodurch sie das Volk hinderten, den Sinn für das reine Gute und Göttliche in sich zu entwickeln, und der lauten Stimme der Wahrheit zu folgen. Aber gegen diejenigen, die das Heiligthum entehrten durch ein unreines unsicheres und desto leichter betrügerisches Verkehr, gegen diese wandte er seine Gewalt, und fing an sie aus dem Tempel herauszutreiben. | Aber was für eine Gewalt? Der Herr war allerdings der Hirt der Heerde, welche gesammelt werden sollte und zum Theil schon gesammelt war, aber klein und unscheinbar; er war der oberste Bischof der Seelen, welchem folgend die Verirrten zurückkehren konnten auf den Pfad des Lebens; er war der, den der Herr von oben gesandt hatte als den geistigen Gebieter des neuen geistigen Reiches, welches auf Erden sollte gestiftet werden; aber in dem Tempel, in dem Heiligthum des Gesetzes und des Gottesdienstes, hatte auch er keine Gewalt, weil diese allein nach der Ordnung des jüdischen Volkes dem priesterlichen Geschlecht zukam, dem er nicht angehörte. Darum war es auch hier keine äußere Gewalt, 6 wissend] wissen 20–27 Vgl. Mt 23,1–33; Mk 12,38–40; Lk 11,39–44

32–34 Vgl. 1Petr 2,25

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die er ausübte. Denn das sagt uns freilich eine ausführlichere Erzählung, er habe eine Geißel gedreht mit seinen Händen, und sie damit herausgetrieben; wie wollte das wohl angesehen werden können als eine leibliche Gewalt, die ein Einzelner ausübt gegen eine große Menge | von Menschen; sondern diese war nur das Zeichen, sie war nur die begleitende Handlung von dem Ernst und der Würde, womit er seinen Willen aussprach, von welcher die Menge erschüttert wurde und seinen Willen erfüllte. So übte er auch in diesem Falle keine andere Gewalt aus als diejenige, welche ihm allein geziemt, immer nur die Gewalt des Geistes, die Gewalt des starken Willens, mit welchem er das göttliche Wort befehlend aussprach und in die Gemüther der Hörenden gleichsam hineindonnerte, daß sie nicht anders konnten als verwundert und erstaunt folgen und thun, was er gebot. Aber; m. g. F., mit welchem Erfolg? Die Evangelisten erzählen uns, daß auch am Anfang seines öffentlichen Auftretens im Tempel als Lehrer und Ausleger der Schrift und als Verkündiger des Reiches Gottes, er eine ähnliche Handlung verrichtet habe, und er war nun also zum zweitenmal in dem Fall dasselbe zu thun. Es war vorher nur eine augenblickliche Wirkung gewesen, die er her|vorgebracht hatte; und wer weiß, ob nicht, so oft er auf den hohen Festen seines Volks in den Tempel kam, er dasselbe habe thun müssen, ohne daß die heiligen Geschichtschreiber es uns hinterlassen haben? So laßt uns das auch nicht vergessen, daß er weit entfernt war, seine Thätigkeit abzumessen nach dem Erfolg, und öffentlich, was er für Recht hielt, zu unterlassen, weil eine leichte Erfahrung konnte zeigen, daß er nichts dadurch bewirken würde, sondern, wie ein anderer Evangelist sagt, indem er eine ähnliche Begebenheit schildert: „da ging das Wort in Erfüllung: der Eifer um dein Haus hat mich verzehret“: so konnte er nicht anders als, absehend von dem Erfolg, sich ganz hingeben diesem Eifer, und alles thun, was in seinen Kräften stand, damit das Haus seines Vaters, wie er es nannte, ein Bethaus sei und bleibe und nichts anderes würde[.] III. Und wenn wir nun so, m. g. F., die wehmüthigen Thränen des Erlösers und sein frisches | Hintreten zur kräftigen That nach einander betrachtet haben: so laßt uns nun auch auf die Verbindung, die zwischen beiden Statt findet, unsere Aufmerksamkeit richten; denn auch diese wird Lehrreiches für uns enthalten. So eben, m. g. F., habe ich gesagt, der Erlöser habe gethan, was er als Recht in sich fühlte, wozu sein Gewissen, sein Eifer, sein Beruf ihn trieb, es wenigstens zu versuchen, es zu versuchen, wenn auch mit dem Bewußtsein eines geringen Erfolgs. Sehen wir aber von dieser That zurück auf jene früheren Worte, so erscheint uns in derselben noch etwas anderes. Denn 1–3 Vgl. Joh 2,15

13–16 Vgl. Joh 2,13–17

25–26 Vgl. Joh 2,17

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wir könnten uns fragen, wenn der Erlöser nun doch wußte, bald werde die Zeit kommen, wo von diesem Tempel kein Stein auf dem andern bleiben [würde], wo also auch das Haus des Herrn nicht mehr jenen heiligen Geschäften gewidmet, auch nicht mehr von leichtsinnigen weltlich gesinnten eigennützigen Menschen frevelhaft könnte entweiht werden; wenn sein Gemüth so eben erfüllt | war mit dem Bilde dieser ja nicht mehr fernen Zukunft: wie kommt es denn, daß er es dennoch der Mühe werth hielt dasjenige zu thun, was doch so bald nicht mehr nöthig sein würde und keine Veranlassung dazu? So sehen wir denn, wie auch die gewisseste Voraussicht der Zukunft bei ihm keinen Einfluß hatte auf sein Handeln, sondern wie er darin immer nur demjenigen folgte, was der Augenblick forderte, wie dieser sein Gemüth bewegte, wie dieser sein Gewissen aufrief, was ihm in diesem erschien als der natürliche Ausdruck seines Willens als die bezeichnendste Stimme der Lehre, der Warnung und des Beispiels für das Volk, unter welchem er lebte. Darum, m. g. F. konnte auch in ihm beides auf eine so unmerkliche Weise in einander erscheinen und in einander sich verlieren, der prophetische weissagende Blick in die Zukunft dessen, der höher war und mehr als alle Propheten, und das bescheidene sich genügen lassen an | der Gewalt des Menschensohnes, dessen Wahlspruch war, daß der Vater sich Zeit und Stunde vorbehalten habe, und daß ihm nichts gebühre als in jedem Augenblick den Willen seines Vaters zu erfüllen. Darum konnte er auch nicht fragen nach großem oder geringem, nach gewissem oder zweifelhaftem Erfolg, weil es überhaupt nicht der Erfolg war, um dessentwillen er handelte, sondern nur das innerste Gefühl des Rechts und der Pflicht. Zweitens aber erinnert uns das Wort des Erlösers „mein Haus ist ein Bethaus“, in Verbindung mit jenem Worte „und sie werden keinen Stein auf dem andern lassen“, an jene frühere Rede des Herrn, als er sagt „es wird die Zeit kommen, wo man weder auf diesem Berge – wo das Heiligthum der Samariter stand – noch zu Jerusalem wird den Vater anbeten; seine Anbeter aber werden sein Anbeter im Geist und in der Wahrheit und solche, will er auch jetzt schon haben“. Wenn es also sein Wille | war, das Haus des Herrn auf eine solche Weise zu vergeistigen, einen Dienst und eine Anbetung Gottes zu stiften, welcher unabhängig wäre von allem Äußerlichen, rein ein Dienst des Geistes im Geist und in der Wahrheit, wenn das seine Absicht war: wie konnte er denn weinen über diejenigen Begebenheiten, die nur dieser Absicht zu Hilfe kamen, die nur dasjenige erleichterten, was er zwar gewollt und seinen Willen thätig ausdrückte, aber doch nur auf eine vorüberge16–17 der prophetische weissagende] den prophetischen weissagenden sich ihm 30 will er] wie wir 19–20 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32; Apg 1,7 Joh 4,21.23

20–21 Vgl. Joh 5,30

19 sich]

27–31 Vgl.

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hende Weise bewirken konnte? Wenn wir schon vorher uns gefragt haben, wie denn auch der Herr habe weinen können, der hinter einer traurigen Zukunft eine fröhliche vorhersah: so müssen wir uns hier fragen, wie er denn habe weinen können über dasjenige, was seinen eigenen Bestrebungen zu Hilfe kam, wie er nicht in diesem Augenblick sagen konnte: mit Freuden sehe ich die künftige Zerstörung, wo alle Einrichtungen des Heiligthums ihr Ende nehmen werden, mit Freuden sehe ich sie nun, da doch sein innerer | Grund schon wankend geworden ist; und da doch eine andere Zeit kommt und eine andere Ordnung menschlicher Dinge; mit Freuden sehe ich diese Zerstörung, die aller Frevel und alle Unvollkommenheit und aller irdische Wahn der Zeit theilen wird. Aber auch dies konnte die heilige Seele des Erlösers nicht; sondern es verband sich in ihm allerdings der festeste Wille, die treueste Überzeugung, die unermüdetste Aufopferung aller seiner Kräfte ja selbst seines Lebens in dem Beruf, den ihm Gott gegeben hatte, mit der Trauer darüber, daß auch dies nicht könne zum Leben kommen ohne gewaltsame Erschütterungen, ohne zerstörende Gerichte des Höchsten. Das, m. g. F., das ist das rein menschliche und fromme Gefühl in der Seele des Erlösers, die keiner Freude fähig war über die traurigen Begebenheiten, in denen ein unheiliges Gemüth eine süße und willkommene Rache gefunden hätte an den Feinden, die sich | seinen Bestrebungen widersetzt hatten. In seiner Seele kam keine Freude darüber [auf ], daß das Gute schneller sollte bewirkt werden auf eine solche gewaltsame Weise; sondern ihm wäre es erfreulich gewesen, hätten sie vernommen und beherzigt von ihm, was zu ihrem Frieden dient, und hätte das Reich Gottes gegründet werden können ohne die gewaltsame Zerstörung aller auch der unheiligsten Verhältnisse. So [blieb er] denn beständig [in] dem unnachläßlichen Eifer in der Erfüllung seines Berufs verbunden mit dem reinsten menschlichen Mitgefühl, mit der Freude und dem Wohlgefallen an menschlicher Ordnung und an einem leichten und regelmäßigen Gange der menschlichen Dinge, mit der theilnehmenden Wehmuth über alles, was zerstörend ist, und dem Schreck vor allem, was nicht sein kann, ohne von Unthaten begleitet zu sein – in dieser Vereinigung liegt das Göttliche des Erlösers, welchem nahe zu | kommen durch die Kraft seines Geistes der Herr allen Seelen, die dem Beispiel des Erlösers folgen, schenkt, wenn sie, sei es im Großen oder im Kleinen, in ähnliche Beziehungen und Lagen des Lebens kommen. Und es ist das Sinnbild, woran man immer und ewig seine Jünger erkennen wird, daß niemals in ihnen und unter keinen Umständen die Kraft der Liebe erstirbt, und daß sie für sich und in ihrer Hand das Böse 26 unheiligsten] heiligsten 36–38 Vgl. Joh 13,35

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wollen niemals anders überwinden als nur durch das Gute und in der Kraft des Glaubens und der Liebe, in welcher der Segen ist für die Welt. Amen.

[Liederblatt vom 11. August 1822:] Am 10. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Dir dir Jehovah, will ich singen! / Denn wo ist wohl ein solcher Gott wie du? / Dir will ich meine Lieder bringen: / Ach gieb mir deines Geistes Kraft dazu, / Daß ich es thu’ im Namen Jesu Christ, / So wie es dir durch ihn gefällig ist. // [2.] Zeuch Vater mich zu deinem Sohne, / Damit dein Sohn mich wieder zieh zu dir! / Dein Geist in meinem Herzen wohne / Und Sinnen und Verstand allein regier, / Daß ich des Himmels Frieden schmeck und fühl, / Und dir darob im Herzen sing und spiel. // [3.] Erfüllt mich, Höchster, dieser Friede, / So ist vor dir mein Singen recht gethan, / So klingt es schon in meinem Liede, / Im Geist und in der Wahrheit bet’ ich an: / So hebt dein Geist mein Herz zu dir empor, / Daß ich dir Psalmen sing im höhern Chor. // [4.] Denn er kann mich bei dir vertreten / Mit Seufzern erst, die unaussprechlich sind; / Dann lehrt er mich recht gläubig beten, / Giebt Zeugniß meinem Geist, ich sei dein Kind, / Miterbe meines Herren Jesu Christ, / Durch den du mein versöhnter Vater bist. // [5.] Wohl mir, daß ich dies Zeugniß habe! / Drum bin ich voller Trost und Freudigkeit, / Und weiß du giebst mir jede Gabe, / Die jezt und ewig mir zum Heil gedeiht. / Wohl mir, den deine Huld so hoch erfreut, / Preis und Anbetung dir in Ewigkeit. // Nach dem Gebet. – Mel. Meine Hofnung etc. [1.] Auf ihr Christen, Christi Glieder, / Hanget fest an eurem Haupt! / Auf, wacht auf, ermannt euch wieder, / Eh der Feind die Seele raubt: / Denn er beut / Kampf und Streit / Christo und der Christenheit. // [2.] Folgt des Heilands Kreuzesfahne. / Trauet seinem starken Arm; / Tobt gleich auf des Kampfes Plane / Seiner Feinde wilder Schwarm! / Christi Heer / Kann viel mehr, / Wenn es stehet um ihn her. // [3.] Nur auf Christi Wort gewaget / Mit Gebet und Wachsamkeit! / Dies allein macht unverzaget / Und recht tapfre Kriegesleut; / Christi Wort / Ist der Hort, / Der uns schirmet fort und fort. // [4.] Seine Kraft hat schon empfunden / Vieler Heilgen starker Muth, / Wenn sie haben überwunden / Fröhlich durch des Lammes Blut. / Sollten wir / Nun allhier / Nicht auch streiten für und für? // [5.] Wer der Sünde Knechtschaft liebet, / Der hat wenig Lust zum Streit; / Wer sich ihrem Dienst ergiebet, / Der versäumt die Gnadenzeit; / Sündennacht, / Höllenmacht / Hat ihn in den Schlaf gebracht. // [6.] Aber wen die Weisheit lehret, / Freiheit sei des Christen Theil, / Wessen Herz zu Gott sich kehret, / Seinem allerhöchsten Heil, / Sucht allein, / Ohne Schein, / Christi freier Knecht zu sein. // [7.] Gott giebt seinen

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frommen Knechten / Dort der Treue Gnadenlohn; / In den Hütten der Gerechten / Schallet dann ihr Siegerton, / Wo führwahr / Gottes Schaar / Christum lobet immerdar. // 5

Nach der Predigt. – Mel. Ich ruf zu dir Herr etc. Laß den Beruf, darin ich steh, / Herr, deine Liebe zieren, / Und wo ich etwa irre geh, / Alsbald zurecht mich führen: / Daß ich auch Andre deinen Rath / Und gute Werke lehre, / Sünden wehre; / Und den, der Böses that, / Mit Ernst zu dir bekehre. //

Am 18. August 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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11. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,19–30 Nachschrift; SAr 84, Bl. 43r–65r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 358–389; Andrae Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 582–598 und S. 599–611 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Frühpredigt am elften Sonntage nach Trinitatis 1822. | Tex t. Philipper II, 19–30. Ich hoffe aber in dem Herrn Jesu, daß ich Timotheum bald werde zu euch senden, daß ich auch erquikt werde, wenn ich erfahre, wie es um euch stehet. Denn ich habe keinen, der so gar meines Sinnes sei, der so herzlich für euch sorget. Denn sie suchen alle das Ihre, nicht das Khristi Jesu ist. Ihr aber wisset, daß er rechtschaffen ist; denn wie ein Kind dem Vater hat er mir gedienet am Evangelio. Denselbigen hoffe ich werde ich senden von Stund an, wenn ich erfahren habe, wie es um mich stehet. Ich vertraue aber in dem Herrn, daß auch ich selbst schier kommen werde. Ich habe es aber für nöthig angesehen, den | Bruder Epaphroditum zu euch zu senden, der mein Gehülfe und Mitstreiter und euer Apostel und meiner Nothdurft Diener ist; sintemal er nach euch allen verlanget hatte und war hoch bekümmert darum, daß ihr gehört hattet, daß er krank war gewesen. Und er war todt krank, aber Gott hat sich über ihn erbarmet, nicht allein aber über ihn, sondern auch über mich, auf daß ich nicht eine Traurigkeit über die andre hätte. Ich habe ihn aber desto eilender gesandt, auf daß ihr ihn sehet und wieder fröhlich werdet, und ich auch der Traurigkeit weniger habe. So nehmet ihn nun auf in dem Herrn mit allen Freuden, und habt solche in Ehren; denn um des Werks Khristi | willen ist er dem Tode so

[Zu Z. 1 von Schleiermachers Hand:] Phil. II, 19–30

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nahe gekommen, da er sein Leben gering bedachte, auf daß er mir dienete an eurer statt.

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Wie der Apostel in dem Vorhergehenden, m. a. F., vorzüglich redet von seinem Verhältniß zu der Gemeinde, an die er schrieb, und wiederum von dem ihrigen zu ihm, indem er nämlich sagt, sie sollten halten ob dem Worte des Lebens ihm zu einem Ruhm am Tage Khristi, daß er nicht vergeblich gelaufen sei, noch vergeblich gearbeitet habe; und falls er sollte geopfert werden um des Dienstes willen, den er dem Glauben leiste, sollten auch sie sich mit ihm freuen: | so redet er nun in diesem andern Theile des Kapitels vorzüglich von dem Verhältniß Einzelner unter den Brüdern zu ihm. Da erwähnt er des Timotheus, des Epaphroditus und auch andrer, die er nicht nennt, von denen er aber sagt, sie suchen mehr das Ihrige als was Khristi ist. Wenn er aber nun jene beiden vorzüglich hier heraushebt, und das nähere Verhältniß, in welchem er zu ihnen steht, schildert: so giebt uns dies Veranlassung zu reden über die besondre brüderliche Liebe, die unter vielen Khristen auf eine eigenthümliche Weise statt findet. Freilich werden wir nicht alles ganz unmittelbar auf | unsre Verhältnisse anwenden können, weil der Apostel hier alles auf seinen Dienst an dem Evangelio und auf sein Verhältniß als Stifter und Lehrer so vieler khristlicher Gemeinden bezieht. Aber wir wissen ja, m. g. F., wie wir alle in Khristo Jesu denselben Beruf haben, und wie hier also nur der Unterschied statt findet, daß dem einen mehr dem andern weniger anvertraut ist, daß der eine mehr der andre weniger leisten kann, Sinn und Geist aber derselbige sein soll. So laßt uns denn darauf sehen, was wir aus dem verlesenen Abschnitt des Briefes hier von dem Apostel aus dem Innersten seines Gemüths | heraus gesprochen vernehmen. I. Zuerst, m. g. F., wir kennen das alle mehr oder weniger aus eigener Erfahrung oder aus dem, was wir um uns her sehen, daß sich oft im menschlichen Leben ein besonders genaues und vertrautes Verhältniß Einzelner unter einander entwikelt, ohne daß sie durch die Natur an einander gewiesen sind, sondern es geschieht vermöge eines Zuges, der sie geistig an einander treibt. Wenn wir fragen, was davon der gewöhnliche Grund ist, so müssen wir es größtentheils zurükführen entweder auf eine besondre Ähnlichkeit in der Gemüthsart und in der herrschenden Richtung derselben, oder auf ein Zusammenstimmen | mit dem, was jeder im Leben auszurichten sucht, also auf eine gleiche Liebe zu den Beschäftigungen des menschlichen Geistes, zu diesem oder jenem von den Werken, die durch den Menschen auf Erden sollen gefördert werden. Der Apostel läßt uns, indem er hier von 5–9 Vgl. Phil 2,16–18

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seinem gegenseitigen Verhältniß zu dem einen oder dem andern redet, dergleichen nichts merken. Denn er sagt zwar von dem Timotheus, er habe keinen, der so sehr seines Sinnes sei; aber im Zusammenhange seiner Rede finden wir keine Ursache dies auf seine besondre Gemüthsart zu beziehen, sondern er erklärt es gleich durch das Folgende „indem er so herzlich für euch | sorget“. Und wenn wir darauf sehen, was er von andern sagt, wie er sie gleichsam zurükstellt und in Schatten im Vergleich mit dem Timotheus: so ist das, was er an ihnen tadelt, eben dies, daß sie nicht das suchen was Khristi Jesu ist, sondern das Ihrige. Und so sehen wir, das ist das erste Unterscheidende einer jeden besondern Liebe, insofern sie recht khristlich ist, daß sie eine rein brüderliche sei, das heißt auf nichts anderes gegründet und durch nichts anderes hervorgerufen als durch diejenige Gleichheit der Gemüthsart, vermöge deren wir alle wissen und fühlen, daß nur unsre Verbindung mit dem Erlöser das Eine sei was Noth thut, und eben so durch keine andre Gleichheit | der Geschäfte und des Berufes als durch den einen, den wir alle mit einander gemein haben in Khristo Jesu – kurz es ist die Liebe zu dem Erlöser, die Theilnahme und die Sorge für sein Reich, durch welche jede wahrhaft khristliche Liebe unter einander muß hervorgerufen werden. Wollen wir dadurch etwa, m. g. F., jede andre ausschließen? Das sei ferne! Wir wissen es recht gut, außer unserm gemeinsamen khristlichen Beruf hat jeder unter uns noch seinen besondern Beruf in der menschlichen Gesellschaft; außer dem, was wir alle ein jeder nach seinen Kräften thun können das Werk Khristi zu fördern, hat jeder noch sein Theil an dem gemeinsamen Beruf aller Menschen, | wozu Gott den Menschen in die Welt gesezt hat, nämlich diese Erde sich anzueignen und zu beherrschen. Und so können wir es nicht tadeln sondern müssen es der Ähnlichkeit wegen loben, wenn auch in Beziehung auf diese andern Geschäfte, die mit unserm gegenwärtigen Leben so genau zusammenhangen, unter denen, die sie aus Einem Gesichtspunkt unter einer Beziehung und mit gleichem Eifer treiben, ein Verhältniß inniger Liebe und innigen Vertrauens entsteht, weil sie dann ebenfalls desto inniger ihre Kräfte zum Streben nach dem gemeinsamen Ziele vereinigen und mit vereinten Kräften desto mehr ausrichten können von dem, was Gott ihnen anvertraut und wozu er sie berufen hat. Und eben so wissen wir, daß außer unsrer Liebe zu dem Erlöser, wiewohl wir sie für | das Höchste und Herrlichste halten was wir besizen, und für das theuerste Kleinod, welches wir nicht genug schäzen und bewahren können, doch einem jeden ebenfalls durch die göttliche Gnade mancherlei Gaben und Kräfte des Geistes mitgetheilt sind. Und so können wir es nicht tadeln, wenn jeder an dem andern das Gleiche liebt; so werden jene, in denen auf diese 26 Ähnlichkeit] SAr 102, S. 365: Göttlichkeit 25 Vgl. Gen 1,28

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Weise das Gleiche ist, sich zusammenfinden, um sich zu stärken und zu ermuntern und zu reizen zu immer höherer Entwiklung der Kräfte, mit denen ihre Natur ausgerüstet ist, und um sich zu belehren in Rüksicht ihrer Wirksamkeit auf diejenigen, denen Gott ähnliche Gaben gegeben hat. Wenn also auch in der Gemeinde | der Khristen Einzelne sich verbinden, weil eine nähere Verwandtschaft des Geistes unter ihnen ist, weil schäzbare Bande des geistigen Lebens sie anziehen: so können wir das nicht tadeln oder solche Verbindungen einzelner Menschen verwerfen, wenn sie auch nicht unmittelbar Khristum den Herrn und sein Reich zum Gegenstande haben. Aber unterordnen werden wir sie doch der Gemeinschaft, in welcher wir als Diener Khristi und als Arbeiter in seinem Weinberge stehen, und werden uns dies auf das klarste und bestimmteste bewußt sein. Denn genau genommen soll alles unter uns in der Liebe Jesu Khristi und in der Sorge für sein Reich aufgehen, immer mehr sollen wir lernen, den Gegensaz zwischen | dem Himmlischen und Irdischen, zwischen dem Geistigen und Weltlichen aufheben und vernichten in unsrer Seele; sondern alles was nur irgend einen Werth für den Menschen haben kann, soll auf das Himmlische und Geistige bezogen werden und nur so viel uns werth sein, als es dort Werth hat und dort seinen Werth bewahren kann. Wäre es nun so, m. g. F., daß alles wofür wir in der Welt leben und worauf wir unsre Thätigkeit richten, und was wir um deßwillen mit Liebe umfaßen, in unsrer Liebe zu Khristo und zu seinem Reiche aufgegangen wäre – wohl gemerkt aber nicht etwa auf diese Weise, daß wir alles von uns thun wollten und alles für gering oder wohl gar für verderblich | halten, wo von wir nicht einsehen, wie es mit dem Reiche Khristi zusammenhangen und zur immer festern Begründung und immer weitern Verbreitung desselben dienen könne, denn das würde eine enge Beschränkung und einen Nichtgebrauch derjenigen Gaben Gottes zur Folge haben, wofür wir ihm eben Rechenschaft ablegen sollen; sondern so soll es darin aufgehen, daß wir alles, was uns verliehen ist von natürlichen und geistigen Gaben als ein von Gott uns anvertrautes Pfund, womit wir seinem Willen gemäß wuchern sollen, oder als ein aus den bestehenden Verhältnissen der Menschen unter einander, in welche wir gesezt sind, hervorgegangenes Streben oder Wirken, | daß wir das suchen sollen aufzunehmen in die Gemeinschaft mit Khristo und sorgfältig darauf achten, wie es für die ewige und unvergängliche Sache unsers Herrn benuzt werden kann und also in unsern Händen fruchtbar sein für den Dienst, den wir dem Erlöser leisten – wenn wir, sage ich, auf diese Weise dahin gekommen wären, daß alle unsre Bestrebungen aufgingen in unsrer Liebe zu Khristo dem Herrn und in der Sorge für sein Reich auf Erden: dann würde niemals ein Streit in dieser Hinsicht stattfinden, sondern jede besondre Liebe, die sich auf irgend einem löblichen und schönen Grunde 16 Seele;] Hier fehlt eventuell ein Satzteil.

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in uns entwikelte, wäre dann eine brüderliche, und alle einzelne | würden kräftig und tief sein in dem Maaße, als die Verbindung derselben, worauf sie sich gebaut haben, mit jener Einen und ewigen eine genaue und innige wäre. So lange dies aber nicht der Fall ist – und das ist ein Zustand der Vollkommenheit, von dem wir noch weit entfernt sind, und dem nur allmälig in ihrer geschichtlichen Entwiklung die khristliche Kirche näher kommen kann – so lange aber dieser nicht ist, so kann es wohl sein, daß die eine Liebe mit der andern in Streit geräth, so kann es wohl geschehen, daß Anmuth des Geistes und Reichthum geistiger Gaben an einem Menschen, von welchem wir aber nicht sehen, wie er alle Gaben, die ihm | der Herr verliehen, dem Reiche Khristi zuwendet und weiht, uns doch auf eine stärkere Weise anzieht als der lebendige Eifer und die innige Liebe zu Khristo und zu seinem Reiche, wenn sie sich in minder begabten und weniger ausgezeichneten Seelen finden, und uns in ihrer einfachen Gestalt zur Vereinigung mit denen einladen, denen sie eigen sind. Dann müssen wir fest stehen, damit wir nicht das minder Wichtige dem Wichtigern vorziehen, und müßen uns den Wahlspruch vorhalten und in unser Herz aufnehmen, den der Apostel in dem folgenden Kapitel unsers Briefes ausspricht, daß wir alles andre müssen für Schaden achten können, damit wir | nur in Khristo erfunden werden; dann müssen wir dem Einen was Noth thut alles andre unterordnen, sobald es nach dem jedesmaligen Zustande der Erleuchtung unsers Geistes und der Festigkeit unsers Gemüths mit unsrer Liebe zu Khristo und seinem Reiche in Streit geräth. Und daher nun ist es auch so: jede besondre und vorzügliche Liebe eines Einzelnen zu irgend einem Einzelnen, in dem Maaße als sie khristlich sein soll, muß sie eine allgemeine brüderliche sein, und sie ist dies nur in dem Maaße, als sie auf dasjenige gerichtet ist, was wir für unser gemeinsames Werk und für unsern gemeinsamen Beruf, insofern wir alle Khristo einverleibt | sind, anzusehen haben. Und so giebt es denn und hat es immer gegeben und wird auch in Zukunft geben in der khristlichen Kirche besondre und genaue Verbindungen khristlicher Seelen unter einander auf diese Weise, und zwar nicht nur unter solchen, die von gleichem Alter sind und mit gleichen Gaben des Geistes ausgerüstet, sondern auch unter solchen, die sich zu einander verhalten, wie Paulus und Timotheus sich zu einander verhielten, indem nämlich der Apostel Paulus den Timotheus überall sein Kind nennt, weil derselbe durch ihn, wenn auch nicht erst in den ersten Wahrheiten des Khristenthums unterrichtet | und zum Glauben an den Erlöser geführt, doch in denselben war befestiget worden und immer mehr vervollkommnet in Beziehung auf seine Erkenntniß der Gnade Gottes, die in Khristo erschie10 er] es 19–20 Vgl. Phil 3,8–9

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nen ist, und seiner erlösenden Liebe, und weil derselbe, als Paulus schon ein Apostel von reiferm Alter war und viel gethan hatte für die Verbreitung des Reiches Gottes auf Erden unter den Völkern, die ohne das Licht des Evangeliums im Schatten des Todes saßen, sich in der Blüthe des jugendlichen Lebens an ihn angeschlossen hatte, weshalb er ihm auch hier in unserm Textesabschnitt das Zeugniß giebt, wie | ein Kind dem Vater so sei er ihm dienstbar gewesen in seinem Werk der Verkündigung des neuen göttlichen Heiles. Und so müßen wir denn, m. g. F., solche vertraute Verbindungen einzelner Khristen, die nichts anderes zum Zweke haben als daß sie sich selbst unter einander in der Liebe zu Khristo dem Herrn stärken und befestigen, und daß sie ihre Kräfte vereinend desto reger und vielseitiger thätig sein können, um die Seelen ihrer Brüder ihm immer mehr zu gewinnen, um die Erkenntniß des ewigen göttlichen Rathschlusses immer mehr zu verbreiten, und so das Werk dessen auf Erden zu fördern, den der himmlische Vater zum Herrn und Khrist gesezt hat, alle solche Verbindungen, | sage ich, müssen wir für ein großes und gemeinsames Gut ansehen und uns derselben überall wo wir sie finden herzlich freuen, wohlwissend daß dadurch von Anbeginn der khristlichen Kirche an das Größte und Wichtigste ist geleistet worden. Denn welch ein herrliches und auserwähltes Rüstzeug Gottes und des Erlösers auch der Apostel Paulus war, ausgerüstet mit seltener Schärfe des Verstandes, um in den Reichthum der göttlichen Weisheit und Gnade einzudringen, voll unerschütterlichen Muthes unter den größten Gefahren, voll unermüdeter Ausdauer unter den schwersten Anstrengungen und voll hingebender aufopfernder Liebe zu seinem Herrn: wie wäre | es möglich gewesen, daß er so viel hätte ausrichten können, wie wir in der Apostelgeschichte von ihm lesen, wenn er nicht solche einzelne Seelen, deren er in unserm Texte zwei nennt den Timotheus und Epaphroditus, gefunden hätte, die sich mit ihm auf das innigste verbanden? und wiederum diese, wie hätten sie so treu sein können in ihrem Dienst, wenn sie nicht wieder unter einander mit einer gleichen und wahrhaft brüderlichen Liebe wären vereint gewesen? II. Aber damit nun eine solche Verbindung immer dem Geiste treu bleibe, aus welchem sie hervorgegangen ist; damit nicht das daraus entstehe, daß jeder | in dem andern, den er mit inniger Liebe umfaßt, vorzüglich doch nur sich selbst liebt, das heißt auch im khristlichen Sinne nur seine eigene besondre Ansicht vom Reiche Gottes und von der Art, wie dasselbe müsse gefördert werden, nur seine eigene Art und Weise das Khristenthum immer mehr zu befestigen und immer weiter zu verbreiten, und seine Vorliebe für irgend etwas Einzelnes in demselben mit Hintansezung des Andern; damit das nicht geschehe – denn das ist allemal eine Ausartung dessen was auf einem guten Grunde entstanden ist – : so muß sie auch zweitens dem ähnlich

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sein, was der Apostel hier in unserm Texte schildert, daß sie nämlich nichts anderes ist als die Verbindung des Einzelnen mit der ganzen Gemeinde des Herrn. Denn | wie stellt uns der Apostel sein Verhältniß zu den beiden, von denen er hier besonders redet, dar? Von dem Timotheus sagt er, er freue sich, daß er ihn bald zu den Philippern werde senden können, und daß er so herzlich für sie sorgen werde, als er selbst nur würde vermocht haben, wenn er schon zu ihnen gekommen wäre. Und auf der andern Seite sagt er von dem Epaphroditus, er sei der Abgesandte der Philipper an ihn gewesen, von der Gemeinde an ihn geschikt, um ihm Hülfsleistung zu gewähren in Beziehung auf seine Nothdurft, und in dieser Hinsicht bezeichnet er ihn als seinen Mitstreiter und ermahnt die philippische Gemeinde, sie sollte ihn aufnehmen in dem Herrn mit allen Freuden; denn | um des Werkes Khristi willen sei er, wenn gleich auf einem zufälligen Wege und durch eine schwere Krankheit, die ihn getroffen, in welcher sich aber die Barmherzigkeit Gottes an ihm zur Genesung verherrlicht hatte, dem Tode so nahe gekommen, indem sich dadurch bewiesen habe, wie er sein Leben gering bedachte. So nun muß es immer sein unter Khristen. Eine besondre Liebe Einzelner, damit sie nur unter einander sich fördern in der Erkenntniß des Evangeliums, nicht auch in andern das Werk des Geistes zu höherer Vollkommenheit bringen, ist immer etwas Bedenkliches, ja etwas Gefährliches. Denn je inniger zwei mit einander verbunden sind, desto mehr werden sie nun Eins. Was also der eine dem andern thut, das ist etwas, was jeder | indem er in seiner Vereinigung mit dem andern so innig geworden ist, sich selbst thut; es ist also, je inniger sie mit einander verbunden sind, um so mehr eine Selbstliebe. Die aber, m. g. F., kann es in Beziehung auf das Khristenthum und auf das Reich Gottes durch Khristum nicht geben. Und das muß auch ein jeder fühlen und kann nicht anders als fühlen, daß er nicht im Stande ist sich selbst zu fördern, und auch das nicht sein Beruf ist sich weiter zu fördern; sondern daß jeder nur kann gefördert werden durch den Zusammenhang mit dem Ganzen, und eben so daß jeder nur kann mit den Kräften, die Gott ihm gegeben hat, ein | Werkzeug sein das Ganze zu fördern. Einer jeden Liebe also, die einen mit dem andern verbindet, muß zum Grunde liegen die Liebe eines jeden zum Ganzen, so wie sie auf der andern Seite ein Werk und ein Erfolg sein kann von der Liebe des Ganzen zum Einzelnen. Nur wenn wir so eine besondre Liebe ansehen können als eine Neigung, womit einer dem andern im Namen des Ganzen zugethan ist nur um des Ganzen willen: dann erst ist sie eine wahrhaft khristliche und brüderliche Liebe und trägt in sich jene Fülle von Segnungen, wodurch das Reich Gottes auf Erden immer schöner erblühen und immer kräftiger sich gestalten kann. Denn nur im Zusammenhange mit der Gemeinde des Herrn erfreuen wir | uns alle der Gaben und Wirkungen des göttlichen Geistes. 19 auch] Ergänzung aus SAr 102, S. 377

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Ja selbst wie wir das wohl wissen, und dies auch zu dem Schönsten und Köstlichsten in unserm khristlichen Glauben gehört, daß die Kräfte des göttlichen Geistes niedergelegt sind in dem göttlichen Wort: so wissen wir doch dies, daß selbst der Segen des göttlichen Wortes dem Einzelnen nicht zufällt für sich, sondern daß auch hier die Kräfte des Ganzen vereinigt sind, um das göttliche Wort immer tiefer aufzufassen, und es immer mehr in seiner ganzen Herrlichkeit zu genießen; und alles Einzelne, was etwas für sich sein und als solches sich geltend machen wollte, ist aus dem khristlichen Leben hinaus|gewiesen. Denn der Herr hat den Bund der Gläubigen nicht dazu gestiftet, daß jeder für sich den Erlöser und um des Erlösers willen sich selbst lieben soll, sondern alle unter einander sollen dem treu ergeben sein, der sie zuerst so hoch geliebt hat, und alle sollen verbunden sein als Glieder an Einem Leibe, dessen Haupt Khristus der Herr ist, und aus diesem gemeinsamen Leibe, wodurch alle Ein Leib werden, soll jedem Einzelnen seine geistige Nahrung, seine geistige Stärkung und Erfrischung zufließen. Das Verhältniß also des Einzelnen zu der ganzen Gemeinde ist darin vollkommen, und von da muß jedes andre ausgehen. So war | Epaphroditus von der Gemeinde der Philipper an den Apostel Paulus gesandt, um ihm zu dienen und ihm Unterstüzung [zu] gewähren in dem Zustande der Gefangenschaft, in welchem er sich befand. Also der Dienst, den er dem Apostel leistete, die Neigung womit er ihm zugethan war, sie war die Darstellung der Liebe der ganzen Gemeinde zu ihm dem Apostel eben durch diesen Einzelnen den sie erwählt hatten, um ihn in seiner gegenwärtigen Lage zu unterstüzen; und der Apostel liebte nun in dem Epaphroditus nicht ihn selbst sondern die Gemeinde die ihn zu ihm geschikt hatte. Und so war das | Band, durch welches sie mit einander verbunden waren, im wahren Sinne des Wortes ein khristliches. Der eine kommt zu dem andern, ihm im Namen der Gemeinde zu dienen; und dieser ihn aufnehmend als den, welchen ihm die ganze Gemeinde zugeordnet hatte, sucht sich dadurch das brüderliche Verhältniß, worin er zu ihr stand, zu vergegenwärtigen. So wollte Paulus den Timotheus nach Philippi senden, damit derselbe, wie er eines Sinnes mit ihm war, auch für das Beste der Gemeinde sorge an seiner Statt, und er wollte sich in der erzwungenen Entfernung, worin er von ihr lebte, dadurch stärken, daß der Dienst des Glaubens | und der Liebe, den er um Khristi willen an ihren Seelen verrichtet hatte, doch nun nicht aufgehoben wurde, und das Segensreiche desselben nicht verloren ging. Und so wollte er nicht unter ihnen ein Abbild seines Lebens zurüklassen, welches auch dann noch in ihnen lebendig und wirksam bleiben sollte, wenn er etwa früher als sie es gewünscht und gehofft gesammelt würde in die himmlische Gemeinde 14–15 geistige Nahrung, seine] Ergänzung aus SAr 102, S. 380 29 ganze] Ergänzung aus SAr 102, S. 381 39 Gemeinde] Ergänzung aus SAr 102, S. 382

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dort oben, den irdischen Schauplaz seiner Wirksamkeit verlassend, denn davon erfahren wir nichts in unserm Texte; sondern damit er auf dieselbe Weise, wie wir es an ihm sehen in den Tagen, wo er noch nicht von den | Feinden des Reiches Gottes gefangen das Evangelium frei verkündigte, so auch jezt nicht weniger frei, wie denn jeder, der durch die Kraft der Wahrheit frei geworden ist, auch frei bleibt in seinem ganzen Leben, so auch jezt mit demselben Eifer, mit derselben Kraft, aus derselben Erkenntniß der Wahrheit die khristliche Gemeinde stärke. Wenn also der Apostel den Timotheus auf diese Weise liebte, so geschah es in Hinsicht auf die Gemeinde, der er nun würde in seiner Stelle; und eben so seine Liebe zu der Gemeinde war der Grund dieser besondern Liebe zu | dem Epaphroditus. Und so ist es denn das Schönste und Beste, was es unter Khristen geben kann, wenn sich einige Wenige auf diese Weise verbinden – wie dies denn immer nur wenige sein können – aber nicht um sich von den übrigen zu trennen, und an einander eine besondre Freude zu haben, sondern immer nur getrieben von reiner Liebe zu der ganzen Gemeinde Khristi, die nichts anderes ist als Liebe zu ihm, denn die Gemeinde ist sein Leib. III. Aber, m. g. F., ganz können wir uns die Schattenseite nicht verbergen, die in der Vergleichung liegt, welche der | Apostel hier aufstellt, in dem Verhältniß Einzelner unter einander, indem er sagt, er habe keinen, der so ganz seines Sinnes sei, der so herzlich für die Gemeinde der Philipper sorge. Nur, m. g. F., müssen wir uns das nicht schlimmer und ärger denken, als der ganze Zusammenhang seiner Worte, wie sie vor uns liegen, es mit sich bringt. Denn wenn er dabei an die falschen Brüder dächte, von denen er sonst wohl redet, und vor denen auch schon unser Herr die Seinigen gewarnt hat: so könnte er nicht so davon reden, wie er es hier thut, mit solchen | könnte er den Timotheus nicht vergleichen. Indem er sie aber mit dem Timotheus vergleicht, so zeigt er, daß sie mit derselben Freundschaft als er an ihm hingen; und nur darin unterscheidet er sie, daß sie das Ihrige suchen, nicht aber das was Khristi ist. Damit nun kann er nichts anderes gemeint haben, als eine äußere Beschränkung in der besondern Theilnahme an der Gemeinde des Herrn, und die innere Neigung dieser äußern Beschränkung nachzugehen. Timotheus hatte alle seine äußern Verhältniße im Stich gelassen, um sich in der Gemeinde des | Herrn mit dem Apostel dem Dienste Khristi ganz zu weihen. Andre, die nicht in diesen Jahren der Jugend wie er, zu einer Zeit wo sie noch keine andre Verhältniße angeknüpft hatten, sondern erst später wo schon manche Verhältniße sie umschlangen und manche Verpflichtungen auf ihnen ruhten, in Bekanntschaft mit dem Apostel gekommen waren, die konnten sich nicht so ganz unbesorgt und rük-

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sichtslos der Gemeinschaft mit dem Apostel widmen, sondern sie waren eben gebunden an bestehende Verhältniße; sie konnten nicht so ganz ungetheilt und ausschließlich für die Gemeinde sorgen, sondern sie mußten | sorgen für die Ihrigen, sie mußten die Stelle, die ihnen in der menschlichen Gesellschaft angewiesen war, zu behaupten suchen; und deswegen hing es nicht immer von ihnen ab, alles zu thun im Dienste Khristi, was sie selbst gern thun mochten. Und das, m. g. F., mag uns zum Troste dienen, wenn wir an die Beschränkung denken, in welcher eine solche besonders hervorragende khristliche Liebe vorhanden ist. Nicht jeder ist in aller Hinsicht eben so frei wie der andre, sondern manchem hat Gott seinen Wirkungskreis so gestellt, daß wenn er den Foderungen seines Gewissens ganz nachkommen will, er nicht eben so unmittelbar und ausschließlich sich dem ganzen | Dienst Khristi weihen kann. Der wird von der besondern khristlichen Liebe abgezogen in eine Menge von andern hinein, die jene begränzen. Darüber nun sollen wir nicht ungehalten sein, eben so wenig wie der Apostel, da er doch mit aller Ruhe von denen spricht, die auf diese Weise neben ihrer Sorge für die khristliche Gemeinde noch andre Pflichten zu erfüllen hatten; und wir sollen eben so wenig ihnen einen Vorwurf daraus machen wie der Apostel, sondern die Verschiedenheit der menschlichen Verhältnisse uns gegenwärtig halten, und jeden Beruf nach der Lage ansehen, in welche Gott den Menschen gesezt hat. Auch die, von denen der Apostel sagt, er könne sie nicht so ganz im Dienste des Evangeliums | gebrauchen wie den Timotheus, weil sie nicht so Eines Sinnes mit ihm wären, daß sie nicht so herzlich für die Gemeinde sorgten wie jener, auch diese brauchen nicht diejenigen zu sein, die er vorzüglich im Sinne hat, wenn er an einer andern Stelle sagt: „ein jeder suche nicht das Seinige.“ Es war aber auch ihr Beruf ein andrer, nämlich ein solcher, der sie an mancherlei irdische Beschäftigungen wies, und der sie von jenem besondern ausschließlichen Dienst für das Evangelium abzog. Aber sie konnten nun auf eine andre Weise und in andern Kreisen für das sorgen, was Khristi Jesu war, um auf eine unmittelbare Weise das Reich Khristi zu fördern. Aber da müssen wir besonders bedenken, daß solche, die weniger | im Stande sind, sich auf eine ausgezeichnete Weise mit Hintansezung aller irdischen Verhältnisse dem Dienst des Erlösers zu weihen, solche die sich in mancherlei Verhältnisse zertheilen müssen, nicht dahin kommen, ein solches inniges Verhältniß khristlicher Liebe anzuknüpfen, und daß wir sie daher anzusehen haben als solche, für die wir sorgen sollen, indem wir das ergänzen, was ihnen durch sich selbst nicht werden kann, und es für einen gemeinsamen Beruf ansehen, daß diejenigen, die auf eine unmittelbare Weise dem Evangelio leben können, und ihre persönlichen Verhältnisse aus diesem Gesichtspunkt einrichten, ganz vorzüglich denen dienen müssen, welche durch ihre weltlichen und irdi26 Phil 2,4

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schen Verhältnisse, die ihnen | von Gott angeordnet sind, mehr abgerufen und zerstreut zu werden scheinen von dem gemeinsamen Zwek und Gegenstande unsrer aller Liebe und unsers Dienstes. Für diese müssen wir sorgen, daß ihnen nichts entgehe von dem, was aus dem gemeinsamen Leben der Khristen das Gemüth Erhebendes und Stärkendes hervorgeht; die müssen wir mit besondrer khristlicher Liebe erreichen und umfassen, um den Mangel, der ihnen aus den natürlichen Verhältnissen ihres irdischen Lebens entsteht, wieder gut zu machen, damit sich dadurch auch die Herrlichkeit Khristi offenbare. Ja darin möge uns Gott der himmlische Vater und der Geist seines Sohnes | in allen Abstufungen ihrer Wirksamkeit in der khristlichen Kirche immer mehr befestigen, damit das neue Gebot, welches er uns gegeben hat, daß wir uns unter einander lieben sollen, wie er uns geliebt hat, und in der Liebe Eins sein wie er mit seinem Vater im Himmel Eins ist, immer mehr erfüllt werde, und damit die Gemeinde Gottes in ihrer geistigen Kraft als der Segen und das Licht der Welt erscheinen möge. Amen.

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13–14 Vgl. Joh 17,22

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12. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 7,31–37 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 102, S. 390–423; Andrae Keine Nachschrift; SAr 84, Bl. 65v–73v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 133r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwölften Sonntage nach Trinitatis 1822. |

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Tex t. Markus VII, 31–37. Und da er wieder ausging von den Gränzen Tyri und Sidon, kam er an das galiläische Meer mitten unter die Gränze der zehn Städte. Und sie brachten zu ihm einen Tauben, der stumm war, und sie baten ihn, daß er die Hand auf ihn legte. Und er nahm ihn dem Volk besonders und legte ihm die Finger in die Ohren und spützte, und rührte seine Zunge und sahe auf gen Himmel, seufzte und sprach: Hephatha, das ist: thue dich auf. Und also bald thaten sich seine Ohren auf, und das Band seiner Zunge ward los, und redete recht. Und er verbot ihnen, sie sollten es niemand sagen; je mehr er aber verbot, je mehr sie es ausbreiteten, und verwunderten sich über die Maaße, und sprachen: er hat alles wohl gemacht; die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend. M. a. F., Über nichts können wir uns wohl weniger wundern als darüber, daß unser | Herr und Erlöser, als er auf Erden lebte, auf eine unbegreifliche und wunderthätige Weise auch dem äußern und leiblichen Elend der Menschen zu Hilfe kam; es war dieselbe Liebe, die ihn drängte der Helfer des menschlichen Geschlechts zu sein, es war dieselbe göttliche Kraft, die auch für das Äußere sorgend und hilfreich sich bewies; nur freilich war das eine die Hauptsache seines göttlichen und heilsamen Berufs, das andere etwas scheinbar Zufälliges, welches aber zum Zeichen dienen sollte von jenem. Als der geistige Erlöser der Menschen ladet er zu sich ein die Mühseligen und Beladenen, damit sie bei ihm Ruhe fänden und Erquickung, als der leibliche Helfer der Elenden und Gedrückten nahm er sich derer an, die sich 22–23 Vgl. Mt 11,28

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an ihn wendeten, und mit Vertrauen und Glauben von dem, den sie für den Sohn des lebendigen Gottes erkannten, Hilfe und Erleichterung erwarteten. Wenn aber alle | diese wunderthätigen Hilfsleistungen, die der Erlöser Einzelnen zur Zeit seines irdischen Lebens erwies, uns ein Zeichen sind von der Kraft, die in ihm niedergelegt war, von der göttlichen Macht, die ihm gegeben war auf Erden: so sind sie es doch nicht alle auf gleiche Weise. Nicht leicht aber mögen wir eine von diesen Geschichten so sehr ansehen als ein Sinnbild von der Erlösung der Menschen durch Christum, wie eben die, welche der verlesene evangelische Abschnitt beschreibt. Aus diesem Gesichtspunkt wollen wir sie dann mit einander jetzt näher betrachten, wie sie uns in allen ihren wesentlichen Theilen ein Sinnbild ist, welches uns die ganze Art und Weise der geistigen Erlösung der Menschen durch Christum anschaulich macht und vergegenwärtigt. Laßt uns dabei sehen zuerst auf das Übel, zum andern auf die Heilung, aber dann auch drittens auf das, was darauf folgt, und womit der verlesene Abschnitt folgt. | I. Zuerst also das Übel. „Sie brachten zu ihm einen Tauben, der war stumm, und baten ihn, daß er die Hand auf ihn legte.“ Es ist allerdings, m. g. F., mit diesem Übel, wofür Erleichterung und Ersatz geschafft zu haben gewiß zu den erfreulichsten Verhältnissen unserer Zeit gehört, es ist mit diesem Übel grade so, wie unser Text sagt, es sind Taube, die stumm sind, das heißt deswegen stumm, weil sie taub sind; es ist nicht das Werkzeug und die Gabe der Rede selbst, was ihnen genommen ist durch die Mißbildung ihrer Sinneswerkzeuge, sondern es ist zunächst das Gehör. Weil sie aber nicht hören, so vermögen sie auch nicht die ihnen angeborne Gabe der Sprache an’s Licht zu bringen, weil ihnen das vergleichende Maaß, weil ihnen alle die Gaben fehlen, welche Beispiel und Anstrengung dem Menschen geben. Aber, m. g. F., die Rede ist nur die äußere Seite des Denkens, das Hören ist das äußere Mittel zu dem | Vernehmen. Wie derjenige nicht reden lernt, der nicht hören kann, so vermag auch derjenige nicht zu denken, der nicht die Gedanken anderer Menschen vernimmt, nicht vernimmt, weil er sie nicht vernehmen kann, oder auch weil er sie nicht vernehmen will; denn auch dem fehlt es an dem Maaß und an der Rede. Je weniger der Mensch bei der Anordnung und Hervorbringung seiner Gedanken auch den Gedanken Anderer Gehör giebt, desto mehr wird sich alles in ihm verwirren; und wenn ja später in seinem Leben eine Zeit kommt, wo er sich verstockt gegen die menschliche Stimme um ihn her, und nichts anderes will als sich sättigen an den Gedanken der früheren Zeit, sich das ehedem Vernommene vergegenwärtigen und wiederholen: so verliert sich auch das Leben aus der Hervorbringung seiner eigenen Gedanken, weder bilden sie sich in ihm selbst nun mehr aus, sondern sie bleiben das Denkmal | seiner frühern Gaben, noch vermögen sie auf andere Menschen zu wirken, weil sie unruhig

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auf die Vergangenheit gerichtet sind, grade wie es auch den bedauernswerthen unserer Brüder geht, die erst in spätern Jahren des Lebens die Gabe des Gehörs verlieren. Je mehr sich dieses verliert, desto mehr verliert sich auch das Maaß aus ihrer Rede, und sie werden am Ende eben so unverständlich als diejenigen, denen von Anfang beides fehlt. – Und, m. g. F., in welchem Zustande fand der Erlöser, als er auf Erden erschien, das menschliche Geschlecht? Ach es waren Taube, die stumm waren, stumm weil sie taub waren, sein mußten oder sein wollten; denn wer unter uns wollte sich heraus nehmen, dies zu entwickeln? Wenn der Apostel das alte prophetische Wort aufnimmt und spricht: „sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie bei Gott haben sollten“, welches, m. g. F., ist dieser Ruhm? Der Mensch ist das einzige Geschöpf auf Erden, | welches fähig ist Gott zu erkennen, und so wie er Gott erkennt, so ist es auch sein schönster und höchster Beruf, die großen Thaten Gottes zu verkündigen, Zeuge zu sein mit seinem ganzen Leben und Dasein von demjenigen, der ihn und alles erschaffen hat, von demjenigen, in welchem er lebt und webt und ist, und es fühlt und inne wird, daß er in ihm lebt, webt und ist, von demjenigen, dessen Güte und Gerechtigkeit er in jedem Augenblick seines Daseins erfährt, und dem er sich bei allem, was in seinem eigenen Geist und Dasein ihm selbst erfreulich ist und löblich und wohlthätig, auch nahe fühlt und verwandt. So sollten die Menschen reden und zeugen von Gott ihrem Vater; aber sie waren verstummt. Warum m. g. F.? Weil sie taub waren. Es ist eine Stimme Gottes, die der Mensch vernehmen muß, wenn das in ihm schlummernde Vermögen Gott zu erkennen und von Gott zu zeugen in ihm erwachen soll. Es ist, m. g. F., | wenn wir auf die Zeiten zurücksehen, die der Erscheinung des Erlösers vorangingen, auf die Zeiten, wo das Wort, welches bei Gott war, noch nicht war Fleisch geworden, so ist es zuerst die Stimme des Himmels und der Erde, welche die Ehre Gottes verkündigt, daß ein Tag sie erzählt dem andern und eine Nacht der andern; das ist die erste Stimme Gottes, die der Mensch vernehmen muß, wenn er reden soll und zeugen von Gott. Wenn sie aber nun, ohnerachtet Gott sich ihnen nicht hat unbezeugt gelassen, sondern sie seine göttliche Macht wahrnehmen können, wenn sie achten auf seine Werke, nämlich auf die Schöpfung der Welt, doch alles, was sie umgiebt, aus einem andern Standpunkt betrachten, und auf eine ganz andere Weise behandeln, wenn sie alles nur dienstbar machen wollen ihrem äußern Leben und ihrem vergänglichen irdischen Wohlergehen, alles nur auf dieses oder auf sich | selbst beziehen, was, nachdem es ein kurz scheinender Tag gewesen ist, sehr bald wieder untergeht in der 27 noch nicht war] Ergänzung mit SAr 84, Bl. 71r 10–11 Röm 3,23 1,19–20

26–27 Vgl. Joh 1,1

27–29 Vgl. Ps 19,1–2

31–33 Vgl. Röm

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allgemeinen Nacht; wenn sie so betäubt sind und sich selbst betäuben in dem Rausch ihrer Sinne gegen die herrliche und erhabene Stimme des Himmels und der Erde: dann vermögen sie auch nicht zu reden. Aber noch mehr – Gott hat dem Menschen, als er ihn schuf eingehaucht die vernünftige Seele. Ein Hauch Gottes ist sie gewesen von Anbeginn, welcher den Funken des höhern geistigen Lebens in dem Menschen entzündet hat. Und einwohnend allen hat sich dieser göttliche Funke offenbart in allen, aber in einem verschiedenen Maaße. Und wenn die Schrift sagt, daß Gott vor Zeiten geredet habe zu dem Volke durch die Propheten, so war das nichts anders als eine lebendigere kräftigere Regung jenes göttlichen Hauches, der keiner menschlichen Seele fremd ist, es | war ein Wort des Herrn, das zu ihnen geschah, aber welches sie nur vernahmen und vernehmen konnten, weil nun schon dieser göttliche Hauch ihr ganzes Dasein beseelte und erfüllte; und das Vernommene sprachen sie dann aus und wurden die Zeugen Gottes. Und zu jedem redet die innere Stimme Gottes, der diesen göttlichen Hauch in sich nicht betäubt und übertäubt. Aber freilich wurde er betäubt, wenn der Mensch mit seinem ganzen Tichten und Trachten nur dem Irdischen und Vergänglichen nachging; da verkehrte sich die innere und angeborne Wahrheit, wie der Apostel sagt, in Irrthum durch die Gewalt der Ungerechtigkeit; da, weil die Menschen sich selbst nicht das Recht gaben, sich zu erheben über das sinnliche und irdische Leben, und den Geist Gottes, den Hauch Gottes in sich walten zu lassen, da verkehrte sich die Wahrheit in Irrthum; was sie redeten von | göttlichen Dingen, das war nichts anderes als Verunstaltung der Wahrheit, die ihnen hätte heller und deutlicher kund werden mögen, wenn sie gehört hätten auf die Stimme Gottes in ihrem Innern. So waren sie denn, wie der Apostel sagt, allzumal Sünder, mangelnd des Ruhmes, den die bei Gott haben sollten, allzumal unfähig zu reden, zu reden von demjenigen, dessen Einiger Zeuge der Mensch auf Erden sein soll, weil sie nicht fähig gewesen waren in dem Zustande, in welchen sie sich einmal hinabgesenkt hatten, zu vernehmen und zu hören. – Aber, m. g. F., wie nun in dem Beispiele unseres Textes, sei es der Leidende selbst oder diejenigen, die ihm zunächst befreundet waren, den Tauben, der stumm war, zu dem Erlöser brachten, ihn bittend, daß er die Hand auf ihn lege: so, m. g. F. war denn auch in dem menschlichen Geschlecht, ohnerachtet es stumm war, weil taub, die | Sehnsucht niemals erloschen, daß diesem Unglück möchte abgeholfen werden und diese unheilbare Krankheit geheilt, und diejenigen unter den Kranken, in welchen diese noch am meisten rege war, die wandten dann das sehnsüchtige Auge gen Himmel und flehten die Hilfe von oben herab: „o daß du den Himmel zerrisset“ so ertönte die Stimme der Sehnsucht, der Seufzer, der kaum mehr 4–5 Vgl. Gen 2,7 8–9 Vgl. Hebr 1,1 Röm 3,23 39–40 Vgl. Jes 64,1

18–20 Vgl. Röm 1,18

26–27 Vgl.

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zu sprechen vermochte; – „o daß du den Himmel zerrissest und kämest herab.“ Und er kam als die Zeit erfüllet war. Und laßt uns nun zweitens an dem Beispiel unseres Textes sehen, wie denn die Hilfe des menschlichen Geschlechts vor sich ging. 5

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II. Derselbe Evangelist, m. g. F., erzählt uns kurz vor dieser eine andere Geschichte, wo nämlich ein heidnisches Weib Christum anfleht, ihrer Tochter zu helfen, die von einem bösen Geist | übel geplagt sei, und er sie anfangs von sich wies als außer dem Kreise seines Berufs liegend; als sie aber nicht abließ, sondern ihm bemerklich machte, wie unerschöpflich tief die Fülle seiner göttlichen Kraft sei, und wie daher immer noch etwas übrig bleiben müsse, wenn er auch ganz und vollständig für diejenigen gesorgt habe, denen er gesandt sei, da sprach er: „gehe heim, der böse Geist ist von deiner Tochter ausgefahren“; und als sie heim kam, fand sie ihre Tochter genesen. Die hatte der Erlöser nicht einmal gesehen, nicht mit ihr geredet, sie nicht berührt. Solche Beispiele seines wunderbaren göttlichen Wirkens in die Ferne finden wir mehrere in den Evangelien erzählt. Diesem aber in unserem Texte [geschahe] nicht also, sondern er nahm ihn besonders vom Volke, und legte die Finger in seine Ohren, und spützte und rührte seine Zunge. M. g. F., auch wir kennen viele große und herrliche Wirkungen der gött|lichen Macht und Barmherzigkeit, zu welchen es solche besondere Veranstaltungen, wie hier die waren, die der Erlöser machte, nicht bedarf. So wie die Schrift sagt: „wenn er spricht, so geschieht es, wenn er gebeut, so steht es da“; so ordnet Gott der Herr nach ewigen Gesetzen von Anbeginn das ganze Werk der Schöpfung; und durch diese ohne irgend ein anderes Dazwischentreten wie vieles gleicht sich nicht aus von demjenigen, was an und für sich betrachtet als Übel und Elend erscheint. Aber als dem menschlichen Geschlecht sollte geholfen werden, als dieser große Taubstumme wieder sollte zum Hören und dadurch zum Reden gebracht werden: da war eine andere göttliche Veranstaltung nöthig. Wie hier der Erlöser leiblich den leiblich Leidenden berührte, so mußte der Geist unmittelbar das Geistige berühren, wenn den Menschen sollte geholfen werden. Nicht der | Wille, der unabänderliche Wille Gottes, ohne irgend ein besonderes Zeichen und eine eigenthümliche Veranstaltung, sollte es vermögen, nicht der erlösende Wille des Herrn, das Wort, welches bei Gott war; sondern es mußte herabkommen, es mußte Fleisch werden; der Sohn, in welchem wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater schauen, der mußte unmittelbar den Geist der Verwundeten, der Kranken, den fast erstorbenen Geist der Menschen berühren, und so ihn berührend mit seinem kräftigen

1–2 Jes 64,1

6–15 Vgl. Mk 7,24–30

23–24 Ps 33,9

35–37 Vgl. Joh 1,1.14

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Worte beleben; und so nur durch die unmittelbare Berührung der Fülle der Gottheit, die in dem Erlöser war, mit unserem Geist, der in der Sünde erstorben, der taub und stumm war, nur durch die vermochten wir geheilt zu werden, nur die konnte die geistige Lebenskraft, die erstorbenen Sinneswerkzeuge und die Kraft von | Gott zu zeugen und seine große Thaten zu verherrlichen wieder in uns beleben. So sehen wir es, m. g. F., in der ganzen Geschichte der Erlösung von ihrem ersten Anfang bis auf den gegenwärtigen Augenblick; und nichts können wir, die wir die Kraft der Erlösung erfahren haben, nichts können wir für eine solche Gemeinschaft voraussetzen, als wie es auch die Apostel thun, daß kein anderer Name den Menschen gegeben, darin sie selig werden sollen als der Name Jesu Christi von Nazareth, und daß nichts anderes als die unmittelbare geistige Wirkung und Nähe des Erlösers, die unter uns und in uns nach seiner gnädigen Verheißung sein wird bis an das Ende der Tage, eine lebendige und eine rechte Quelle sei des unvergänglichen geistigen Heils für alle Menschen, und seine beständige Sprache, die das durch ihn empfangene | Leben auch erhalten und immer weiter fortpflanzen kann. So gewann sich der Erlöser seine ersten Jünger. Wenn einer zu dem andern sprach: „wir haben den Messias gefunden“, dann konnte er dem, der nicht glauben wollte, nichts anderes sagen als: „komm und sieh.“ Wenn er dann hörte die Worte der Liebe, der Wahrheit und der göttlichen Weisheit aus seinem Munde, dann stimmte er ein mit den Andern, und sagte: „ja wahrlich, du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes, und der Heiland der Welt.“ Wenn solche, die mit ihm geredet hatten, oder die seine wunderthätige Hilfe erfahren hatten, zu den Ihrigen gingen, und sagten, wie jene samaritische Frau: „ich habe den Messias gefunden, das hat er mit mir geredet, das hat er mir gezeigt“: so eilten sie hin, und nicht eher genossen sie des Heils, welches ihnen zu geben er gekommen war, als bis | sie in Wahrheit sprachen: „wir glauben nun nicht mehr um deiner Rede willen, sondern dem, was wir selbst erfahren haben, daß dieser wahrlich Christus ist, der Welt Heiland.“ So war es immer die unmittelbare Berührung dessen, was in dem Erlöser wohnte, was den erstorbenen Geist wieder zum Leben, zum Vernehmen und zum Sprechen brachte. Aber, m. g. F., eben so ist es auch unter uns noch und keinesweges anders. Als zuerst seine Jünger das Evangelium verkündigten ihrem Volk und auch den Heiden, welche es hören wollten, da geschah es, daß plötzlich mitten unter ihrer Rede der Geist über die Hörer kam, und daß sie die großen Thaten Gottes verkündigten. Da sprachen sie: das war die Rede des wiedererwachten Geistes. Aber sie redeten, weil sie 10–12 Vgl. Apg 4,12 13–14 Vgl. Mt 28,20 18–20 Vgl. Joh 1,41.46 23 Vgl. Mt 16,16; Joh 4,42; 6,69 25–27 Vgl. Joh 4,29 28–30 Joh 4,42 37 Vgl. Apg 10,44–46

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gehört hatten. Und was denn gehört? O nicht Worte | sterblicher Menschen, sondern nur durch ihren Mund die heilsamen Worte des Erlösers selbst. Nur den Erlöser darstellen, nur seine Worte wiedergeben, nur seine unvergänglichen Worte an die geistigen Ohren der Menschen bringen, weiter vermögen doch die nichts, die das Evangelium verkündigen; und immer ist es die Berührung seines Geistes, die in seinen Dienern lebt, und aus ihnen redet, die das Wunder bewirkt, daß auch durch den Geist Gottes das schon erstorbene Gemüth des Menschen wieder erweckt, beseelt und erfüllt wird. Wenn hier der Erlöser seine Finger in die Ohren des Unglücklichen legt, den man ihm gebracht hatte, und zugleich seine Zunge rührt, an beiden Enden das Übel anfassend mit seiner göttlichen Kraft, und die Augen gen Himmel gerichtet spricht: „Hephatha, das ist, thue dich auf“: ja das, m. g. F., ist die wunder|bare Geschichte, wie sie sich überall erneuert, so oft eine Seele gläubig wird an den Namen des Herrn, und von der Kraft seines Wortes und seiner Erlösung ergriffen. An beiden Enden angefaßt von dieser göttlichen Kraft, zugleich wieder geöffnet das erstorbene Werkzeug, womit der Mensch die Stimme Gottes zu vernehmen im Stande ist, und was nicht wieder wäre geöffnet worden, wenn nicht der Funke der Gottheit in dem gewohnt hätte und aus ihm geredet, den Gott der Herr den Menschen zum Einigen Heiland und Erlöser gegeben hat; aber zugleich auch durch seinen milden, freudigen, stärkenden Geist das Werkzeug berührt und geöffnet, mit welchem der Mensch von Gott Zeugniß zu geben, mit welchem er seine großen Thaten zu verkündigen vermag; Verstand und Wille, Vernehmen und Thun des Menschen von dem | Erlöser zusammengehalten, von seiner geistigen Kraft auf einmal gleichzeitig ergriffen: das ist das Geheimniß der Wiedergeburt des Menschen, das Geheimniß der Verkehrung dessen, der mit dem Erlöser begraben in den Tod, durch seinen Geist wieder aufersteht mit ihm; das ist die neue Kreatur, die Christum angezogen hat, weil er zu beiden Enden ihres geistigen Wesens in dieselbe eingegangen ist, und sie sich seiner bemächtigt hat. Und wenn er seufzend die Augen gen Himmel richtet: das ist die versöhnende Liebe, mit welcher er, wie wir alle als Christen gläubig davon erfüllt sind, uns seinem Vater zuführt, daß er für uns genug gethan habe; das ist der Seufzer, mit welchem er diejenigen begrüßt, die er seinem himmlischen Vater als sein Eigenthum kund machen kann, und die nun nicht mehr für sich, sondern mit ihm in der innigsten Verbindung, und so nur in ihm | wie durch ihn leben; und mit dem zugleich spricht er das kräftige Wort: „thue dich auf“; und so lebt der Mensch das ewige Leben, welches ihm nur die Gnade in Christo geben kann; und nun ist sein Ohr geöffnet für die Stimme dessen, in welchem wir schauen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, der gekom27–28 Vgl. Röm 6,4

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men ist das Verlorne zu suchen und selig zu machen, für die Stimme des obersten Hirten und Bischoffs der Seelen, der uns aus der Irre zurückgeführt hat und vereinigt in Ein Ganzes, welches er selbst würdigt seinen für die Erlösung der Menschen sterbenden, seinen von ihm beseelten und regierten Leib auf Erden zu nennen. Und diese wunderbare Geschichte, m. g. F., sie ereignet sich nie anders als daß der Erlöser den Menschen wie hier besonders nimmt von dem Volke. Nicht als ob nicht sein Wort kräftig und belebend gewesen wäre, wenn er zu den Tausenden sprach, die um ihn | sich versammelt hatten, nicht als ob nicht eben so seine Jünger gewirkt hätten, nicht auf die einzelnen Gemüther – o wie hätte denn sonst in so kurzer Zeit die Gemeine des Herrn entstehen können – sondern auf große Versammlungen von Menschen, denen sie das Wort vom Kreuze verkündigten. Aber immer ist es ein besonderes Leben des Menschen, in welchem dieses innere Wunder der Seele vorgeht, ein Zustand geistiger Stille und Insichgekehrtheit, etwas in der Seele zwischen dem Erlöser und der Seele selbst. Ereignet sich auch dasselbe in tausend Seelen zugleich, doch ist etwas besonderes zwischen dem einzelnen Menschen und dem Erlöser. Und nur dann erst, wenn es so vor sich gegangen ist, wird der einzelne Mensch ein Mitglied der ganzen Gemeine des Herrn, nur dann erst tritt er ein in den großen | Bund, in welchem nicht jeder für sich, sondern jeder in der innigsten Gemeinschaft mit dem Ganzen, nicht sich selbst, sondern das Ganze findet, und nur in seinem Geiste redet und zeugt von den großen Thaten Gottes. III. Aber, m. g. F., nachdem wir uns so der Hauptsachen in der Erzählung unseres Textes versichert haben, so laßt uns auch noch einige Augenblicke unsere Aufmerksamkeit demjenigen widmen, was mir als eine Nebensache dabei erscheint. Der Evangelist erzählt uns, daß, nachdem der Herr seine Heilung vollbracht hatte, die Ohren geöffnet waren und das Band der Zunge gelöst, so habe er allen verboten, sie sollten es niemand sagen; je mehr er aber verboten, desto mehr hätten sie es ausgebreitet, und sich über die Maaße gewundert und zu seinem Lobe gesagt: „er hat alles | wohl gemacht, die Tauben macht er hörend und die Sprachlosen redend.“ Wie? m. g. F., der Erlöser, der zu seinen Jüngern doch selbst sagt, „eine Stadt, die auf dem Berge wäre, die vermöchte nicht unbemerkt und verborgen zu bleiben“, so wie auch sie nun sollten ihr Licht leuchten lassen vor aller Welt, der Erlöser, der bei einer andern Gelegenheit, als er zehn Aussätzige geheilt hatte, sich wundert, daß nur einer umkehrt, um ihm die Worte seines gerührten und innigen Dankes zu sagen, der befiehlt hier, es solle nicht ausgebreitet werden, welche Wohlthat er dem Unglücklichen erzeigt habe? und 1–3 Vgl. 1Petr 2,25

34–36 Vgl. Mt 5,14.16

37–39 Vgl. Lk 17,11–19

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wenn er uns nicht auch lehrt in diesem Falle, soll das auch ein Sinnbild sein für das, was diejenigen zu thun haben, denen durch ihn geistig geöffnet sind die Ohren, und das Band ihrer Zunge gelöst? Ja, m. g. F., auch dies. Denn freilich den Dank des Erlösten hat der Herr niemals | verschmäht; und daß seine Kirche vereint wie sie ist als Ein großes Ganze, welches sein Geist regiert, und in welchem sein Wort die Regel alles Thuns ist, und sein Bild dasjenige, welchem alles ähnlich zu werden strebt, daß diese nicht verborgen bleibe, sondern sich selbst kund gebe der Welt – das ist sein heiliger Ernst und unsere heilige Pflicht. Aber, m. g. F., laßt uns bedenken, etwas ganz anderes ist es mit diesem verborgenen geistigen Ereigniß zwischen dem Erlöser und der einzelnen Seele. Wenn der Herr dies zu dem Taubstummen, den er geheilt hatte, und zu denjenigen, die ihn gebracht hatten, sagt, sie sollten es nicht ausbreiten: ach möchten wir gedenken, daß er dies zu uns allen sagt. Denn, m. g. F., viel zu reden von dieser Führung der einzelnen Seele, wie es bei unserer Heiligung hergegangen, wie erst andringend, dann immer näher und stärker das Gemüth ergreifend das Wort des Herrn | auf diese oder jene Weise auf uns gewirkt hat und die Seele vorbereitet weich gemacht und dann – können wir es doch selbst nicht beschreiben wo; wissen wir es doch selbst nicht anzugeben wann – so mit dem Erlöser vereinigt, daß wir in ihm leben und er in uns; davon viel zu reden, m. g. F., das übersteigt auf der einen Seite unser Vermögen. Denn gilt es von irgend etwas, so am meisten davon, daß der Geist uns nur vertritt mit unausgesprochenen Seufzern, weil wir selbst nicht wissen, was wir reden sollen. Wir vermögen das Geheimniß der Umwandlung unseres Wesens oder der Wiedergeburt nicht zu beschreiben; und es an einzelnen Auftritten unseres Lebens vergegenwärtigen macht es nicht deutlich, es an diese oder jene Augenblicke anknüpfen und Tag und Stunde, wo es in uns vorgegangen ist, bestimmen wollen, muß eben so falsch sein. Daher zunächst sagt der Erlöser, wir sollen es nicht ausbreiten, | sondern es still in uns bewahren, und nicht für uns, sondern, nachdem ein jeder umgewandelt durch den Geist des Herrn eingeführt ist in seine Gemeine, soll ein jeder, ohne daß er zu sagen weiß, was seine That und sein Verdienst dabei ist, leuchten auf dem heiligen Berge, wo nicht erschüttert von den Stürmen des Erdenlebens die große Stadt des Herrn liegt; hier, wohin der Herr seine Gemeine gesetzt hat, soll aber jeder das Geheimniß seines Herzens bewahren. Aber gedenken wir dessen, wie es zu gehen pflegt, daß viele, anstatt dieses heilige Geheimniß zu bewahren, nicht früh genug eilen können, es unter andern zu verbreiten: so wird uns dies ein zweiter Grund, das große Ereigniß, welches sich in unserem Verhältniß zwischen dem Erlöser und uns zugetragen 11 zu dem] zu den 22–23 Vgl. Röm 8,26

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hat, auch in uns zu verschließen, daß nämlich keiner | für sich gut sagen kann, wenn er auch weit davon entfernt ist, seinen Antheil an dem Werke der Wiedergeburt seines Innern auszuschälen, wenn er auch nichts anderes will als Gott die Ehre geben, sein Lob verkündigen und alles auf ihn zurückführen, der sich seiner mit väterlicher Liebe angenommen hat, und nur den Namen des Erlösers preisen, der die Seele von dem Wege des Irrthums und des Verderbens in der Sünde abzulenken, und so mit sich zu vereinigen wußte, daß sie nun nicht mehr ihr eigenes Leben führt, sondern in ihm lebt; wenn nun auch dies alles der Fall ist; so kann doch keiner für sich gut sagen, daß nicht ein solches Reden von dem Geheimniß des Herzens und von dem stillen milden Wirken des Erlösers in seiner Seele Eitelkeit und geistigen Hochmuth erzeugt, das Übelste freilich, was uns in Folge des größten Gutes begegnen kann. Eine weit verbreitete, | eine oft wiederholte Erfahrung, m. g. F., bestätigt dies. Wie demüthig auch die Rede der Menschen von den Wundern der göttlichen Gnade durch Christum in ihrem eigenen Herzen erscheinen mag; wie sehr sie sich auch dabei bestreben, alle Schuld ihres früheren von Gott abgewendeten Zustandes sich selbst nur beizumessen; wie ernstlich sie es auch dabei meinen ihr Stumm- und Taubsein nur auf ihren eigenen verderbten Willen zurückzuführen, und alles, was in ihnen gegen die Stimme des göttlichen Geistes gewirkt hat, vorher kundig zu machen vor den Ohren der Menschen; wie demüthig dies alles auch erscheinen möge, und wie sehr es dabei auf nichts anderes abgesehen ist als den Erlöser zu verherrlichen, und ihn vor aller Welt als denjenigen zu preisen, dessen Weisheit und Macht alles wohl gemacht hat: Doch schleicht sich jenes verderbliche Gift nur | allzuleicht ein, und doch wächst aus dieser falschen Demuth der geistige Hochmuth hervor, der das Werk der göttlichen Gnade, ich will nicht sagen vernichtet, aber ihm doch seine Sicherheit uns seine Schönheit nimmt, und es auf mancherlei Weise entstellt. Es ist nicht anders möglich, m. g. F., wenn der Mensch sich zuviel mit sich selbst beschäftigt, wenn er diese Beschäftigung mit sich selbst zum Gegenstand seiner Darstellung macht: so wird diese Neigung sich selbst zu sehen, auf sich selbst zu achten und alles auf sich selbst beziehen zu wollen, sie wird auf’s neue erweckt und belebt; und diese ist sündlich, weil sie das einzelne Leben hervorhebt, was vor Gott nicht ist und vor ihm nichts gilt. Wir sind nur etwas in der Gemeinschaft mit dem Erlöser und Werkzeuge seiner Gnade. Da ist alles nur ein gemeinsames Gut, ein gemeinsames Verdienst – das des Erlösers, eine gemeinsame Schuld | wovon keiner vermag sein Theil auszumitteln und von dem andern zu scheiden. Diese Gemeinschaft sollen wir verkündigen, das ist unser; kund sollen wir machen und nicht für uns behalten, daß wir nur in ihr unsere Ruhe, unsere Zufriedenheit, unser Heil auf Erden finden, das uns der Herr verheißen hat; aber sich selbst hervorheben, wenn auch mit seinem Verderben, wenn auch mit allem, was man ist nur als das Werk des Erlösers, das nährt den Hochmuth der menschlichen

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Seele; darum hat es der Erlöser verboten; und weise wird immer der sein, der an diesem Gebot treu hält. Verborgen bleibt deswegen das Werk des Herrn doch nicht; denn viele giebt es, denen sich die Kunde davon nicht entziehen kann. Wir dürfen schweigen: die Steine werden sprechen, die Unmündigen werden das Lob Gottes verkündigen, ja diejenigen, welche es sich am wenigsten deutlich machen können, was es damit zu bedeuten hat – so wie es denn | viele Zeugen der wunderthätigen Hilfe des Herrn gab. Schweigen konnte der, der sie von ihm erfahren hatte: sein Lob breitete sich doch aus. Und wenn wir auch nichts sagen von dem, was jedem Einzelnen unter uns in seiner Seele begegnet ist: seine Gemeine steht da als sein Zeuge, der neue Mensch steht da im Gegensatz gegen den alten, nicht mehr taub, nicht mehr stumm, immer geöffnet die Ohren die Stimme des Herrn zu vernehmen, immer geöffnet mit allem, was vernehmen kann, um die großen Thaten Gottes zu preisen, am meisten aber den zu verherrlichen, der immer wieder die Stummen redend und die Tauben hörend gemacht hat, zu Zeugen seiner Macht, seiner Herrlichkeit und seiner Barmherzigkeit. Amen.

[Liederblatt vom 25. August 1822:] Am 12. Sonnt. nach Trinit. 1822. 20

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Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Man lobt dich in der Stille / Du großer hocherhabner Gott! / Des Ruhmes ist die Fülle / Vor deinem Thron, Herr Zebaoth, / Du bist doch Herr auf Erden / Der Frommen Zuversicht; / In Trübsal und Beschwerden / Läßt du die Deinen nicht. / Drum soll dich stündlich ehren / Mein Mund vor jedermann; / Und deinen Ruhm vermehren, / So lang ich lallen kann. // [2.] Es müsse dein sich freuen, / Wer deine Macht und Güte kennt, / Und stets dein Lob erneuen, / Wer dich in Christo Vater nennt. / Dein Name sei gepriesen, / Der große Wunder thut; / Du hast auch mir erwiesen / Was mir ist nüz und gut. / Nun das ist meine Freude / Zu hangen fest an dir, / Daß mich von dir nichts scheide, / So lang’ ich walle hier. // [3.] Herr du hast deinen Namen / Gar herrlich in der Welt gemacht; / So oft die Schwachen kamen, / Hast du gar bald an sie gedacht. / Du hast mir Gnad’ erzeiget, / Herr, wie vergelt ichs dir? / Ach bleibe mir geneiget, / Dein Segen ruh auf mir! / Den Kelch des Heils erheben / Will ich dann allezeit; / Dich preisen hier im Leben / Und dort in Ewigkeit. // 4 schweigen:] schweigen:, 4 Vgl. Lk 19,40

4–5 Vgl. Mt 21,16 (mit Zitat aus Ps 8,3)

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Am 25. August 1822 vormittags

Nach dem Gebet. – Mel. Preis, Lob, Ehr, Ruhm etc. [1.] Komm beuge dich mein Herz und Sinn / Vor Christi Throne tief darnieder! / Zu seinen Füßen sinke hin / Und bring ihm deines Dankes Lieder! / Erkenne wie du selbst aus dir nichts bist, / Wie Gott in dir und Allen alles ist. // [2.] Wo wär’ in dir ein Funken Kraft, / Wenn du sie nicht erlangt von oben? / Wer hat dir Fried und Ruh geschafft / Vor aller deiner Feinde Toben? / Wer bändigte des Bösen finstre Macht? / Wer hat die Wahrheit stets ans Licht gebracht? // [3.] Ja deine Hand hat uns gefaßt, / Und über all Verdienst und Hoffen, / Hinweggethan der Sünde Last, / Daß nun der Himmel uns steht offen. / Du machst das Herz von Furcht und Zweifel leer, / Und sel’ger Friede waltet um uns her. // [4.] Was zwischen uns sich drängen will, / Hat deine Kraft gar bald vernichtet; / Du hältst den Tempel rein und still, / Den du dir selbst in uns errichtet. / Ja fest besteht sie nun, die Herrlichkeit, / Zu der in dir der Vater uns geweiht. // [5.] Du überschüttest uns mit Lieb’, / Und reinigst Herzen Mund und Sinnen, / Daß wir aus deines Geistes Trieb / Dich immer lieber noch gewinnen. / Du drückst dem Geist der Reinheit Siegel auf, / Daß unbefleckt wir enden unsern Lauf. // [6.] So nimm dafür zum Opfer hin / Uns selbst mit allem was wir haben; / Nimm Leib und Seel, nimm Herz und Sinn / Zum Eigenthum statt andrer Gaben. / Bereite selbst dir aus der Schwachen Mund / Ein würdig Lob; mach deinen Namen kund. // [7.] Hierzu gieb Einen Sinn und Muth, / Halt deine Gläubigen fest zusammen, / Daß unser Herz voll heilger Glut / Entbrenn in deiner Liebe Flammen. / Zu deinem Thron steigt unser Dank empor, / Bis würd’ger er erschallt im höhern Chor. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu clemens etc. [1.] Gieb uns Kraft die Seligkeiten / Deiner Liebe auszubreiten, / Auch der Leiden und der Thränen / Derer die nach dir sich sehnen. // [2.] O unendlich hohes Wesen, / In dem wir allein genesen, / Mach uns würdig dich zu sehen, / In den Himmel einzugehen. //

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Am 8. September 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

14. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 17,12–19 (Sonntagsperikope) a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 297–313 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 390–403; 21844, S. 441–454 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 319–330 b. Nachschrift; SAr 102, S. 453–485; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 61, Bl. 144r–150v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender: „über Perikope“

a. Drucktext Schleiermachers Von der verschiedenen Art, wie die Wohlthaten des Erlösers aufgenommen werden. Text. 5

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Luk. 17, 12–19.

M. a. F. Auch diese wunderbare Hülfleistung unsers Erlösers, eben wie jene, welche wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung machten, führt uns von dem einzelnen Falle und dem leiblichen Elend auf das geistige und auf die allgemeinen Wohlthaten, die der Erlöser dem menschlichen Geschlechte erwiesen hat, zurück. Wie oft ist nicht die Sünde mit eben jener Krankheit, von welcher er hier zehn Unglückliche befreiete, verglichen worden, wegen der das Leben allmählig aufzehrenden Schärfe, wegen der großen und gefährlichen Anstekkung, mit welcher sie sich von dem Einen zum Andern verbreitet, wegen der Unzulänglichkeit aller menschlichen Kunst, um eine irgend sichere Hülfe gegen sie zu gewähren. Und wie verschieden wir hier das Betragen derer finden, die an dieser leiblichen Hülfe des Erlösers Theil nahmen: so, m. g. F., sehen wir es auch in Beziehung auf die geistigen Wirkungen, die seine Erscheinung auf Erden unter dem menschlichen Geschlechte hervorgebracht hat. 6–7 Vgl. oben 25. August 1822 vorm.

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Laßt uns nun eben darauf unsere andächtige Aufmerksamkeit richten, und uns diese Geschichte als ein Beispiel vorhalten von der verschiedenen Art, wie die Wohlthaten, die der Erlöser den Menschen er| zeigt, empfangen werden. Indem wir aber dieses, bezüglich auf uns insgesammt und auf das ganze Geschlecht der Menschen, in Betrachtung ziehen wollen, dürfen wir wohl das nicht übersehen, sondern müssen es zum Preise des Herrn bekennen, daß uns, wie Allen, die seine Wohlthaten wirklich genießen, auch außerdem noch durch seine Berufung das schöne und herrliche Loos zu Theil geworden ist, diese Wohlthaten auch Andern mitzutheilen und sie weiter zu verbreiten, und hierdurch, wie wenig es auch sey, doch immer seine Werkzeuge, seine Mitarbeiter und Helfer in dem großen Geschäfte der Erlösung zu werden. Wir würden daher auf uns selbst nur eine sehr unvollständige Anwendung dieser Geschichte machen, wenn wir nicht, nachdem wir zuerst auf diejenigen werden gesehen haben, welche die Wohlthat des Erlösers auf eine so verschiedene Weise empfingen, auch dann zweitens auf ihn selbst sähen, um uns darüber zu belehren, was für einen Eindruck denn diese Verschiedenheit auf ihn machte, und wie er sich dabei verhielt. Das seyen also die beiden wichtigen Gegenstände unsers gemeinsamen Nachdenkens. I. Wenn wir zuerst, m. a. F., von dieser Erzählung unsers Textes die Anleitung nehmend, näher erwägen wollen, wie verschieden von den Menschen die Wohlthaten des Erlösers aufgenommen werden: so könnte sich wohl bei Manchem ein Zweifel regen, ob auch wohl hier eine Aehnlichkeit wirklich vorhanden sey, und der eine Fall mit dem andern mit Recht könne verglichen werden. Zehn flehten mit einander die Hülfe des Erlösers an, Einer von ihnen kehrte um, um danksagend Gott die Ehre zu geben, und sich zu den Füßen des Erlösers niederzuwerfen; die Andern waren aber doch Alle auch rein, und also derselben Wohlthat theilhaftig geworden, nur daß sie hernach Jeder seines Weges gingen. Verhält es sich nun aber eben so mit den Menschen, sofern ihnen der Herr die Erlösung von der Sünde anbietet? Können wir wohl sagen, daß diejenigen dennoch wirklich rein geworden sind, die nicht umkehrten, um Gott die Ehre zu geben, und sich zu den Füßen des Erlösers nieder|zuwerfen? So scheint es wohl; aber, m. g. F., wenn wir es genauer betrachten und mit einem recht gläubigen und christlichen Gemüth, so wird uns doch, denke ich, die Aehnlichkeit nicht entgehen. Sagt es doch der Erlöser selbst, daß er gekommen sey, sein Blut zu vergießen für die Sünde der ganzen Welt, sieht er sich doch immer an und stellt sich dar als das gemeinsame Eigenthum und 38–39 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

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Heil des ganzen menschlichen Geschlechts; und wir sollten glauben, m. g. F., daß seine Wirksamkeit, die Wirksamkeit des Sohnes Gottes, die Kraft der Gottesfülle, die in ihm wohnte, könnte gehemmt werden und aufgehalten, oder gar nichtig und unkräftig gemacht durch die Unvollkommenheit der Menschen? Nein, m. g. F., die ist etwas viel zu Geringes, um den heilsamen und gnädigen Rathschluß Gottes in seiner Erfüllung aufzuhalten. Und wenn ihr mich fragt: wie ist es also, sind denn alle die Zehn rein geworden im geistigen Sinne des Worts? so kann ich nicht anders antworten, als Ja. Alle, die seinen Namen angerufen haben, in der Hoffnung, rein zu werden, sind auch rein geworden; und so weit in dem menschlichen Geschlechte die Anrufung des Herrn verbreitet ist, so weit ist auch die Sünde gewiß getilgt, eben so gewiß, als wie der Herr gekommen ist, das ganze menschliche Geschlecht zu erlösen, es auch gewiß ganz erlöset ist. Um aber genauer zu verstehen, wie ich es meine, so erwäget noch dieses. Diejenigen, welche des Erlösers Hülfe anzuflehen gekommen waren, und denen sie auch zu Theil ward, wurden das nicht eher inne, als bis sie nach des Herrn Gebot hingingen zu den Priestern. Diese waren im Besitz einer alten und aufrichtigen Ueberlieferung, um die gefährliche, verderbliche und ansteckende Krankheit, von der hier die Rede ist, von manchen unbedeutenden zu unterscheiden, die ihr aber äußerlich so gleich kamen, daß kaum ein Anderer, als wer diese tiefere, geheime Kunde der Sache besaß, die gefährliche mit Sicherheit erkennen konnte. Das Elend, unter welchem das menschliche Geschlecht erliegt, wenn wir von dem Erlöser und seiner heilenden Kraft absehen, ist Allen bekannt; es ist immer allgemein gefühlt und beseufzt, jedoch das Wesentliche desselben keineswe|ges von Allen unterschieden worden. Aber immer hat es doch unter dem menschlichen Geschlechte einige Solche gegeben, denen Gott, der Herr, ein gesundes Auge verliehen hatte, um damit zu erkennen, was in dem Menschen ist, und ein richtiges Gefühl, um die verschiedenen Gestalten und Abstufungen des menschlichen Verderbens zu unterscheiden. Wohlan, laßt uns zu denen gehen, welche diese Kunde der Sache haben, welche den Gesundheitszustand des menschlichen Geschlechts mit einem geübteren Auge im Großen betrachten, deren geistiges Gefühl geschärft ist für den Gegensatz des Reinen und des Unreinen; und laßt sie uns fragen, was denn ihre Meinung ist von allen jenen Völkern ohne Unterschied, welche von Alters her die Hülfe des Erlösers angefleht, und sich, indem sie auf seinen Namen getauft wurden, mit ihm, wenn ihr gleich meint nur äußerlich, in Verbindung gesetzt haben, ob sie alle rein geworden sind, oder nicht? und ich glaube, jeder aufrichtige und 3 Vgl. Kol 2,9

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wahrheitsfähige Priester des menschlichen Geschlechts und seiner Geschichte wird nicht anders antworten, als ja; eben wie damals die Priester allen Zehnen das Zeugniß gaben, daß sie rein seyen von ihrem Aussatze. Freilich, m. g. F., nicht als ob die Sünde unter den christlichen Völkern ausgerottet und nicht mehr vorhanden wäre. Aber auch jene Zehn konnte gewiß der sachkundige Priester gar wohl unterscheiden von solchen, welche diese gefährliche Krankheit nie gehabt hatten; und gewiß doch nur deßhalb, weil noch irgend etwas, sey es nur ein kleines unscheinbares Zeichen, sey es nur eine entfernte Folge von der Krankheit, zurückgeblieben war. So nun verhält es sich auch mit der Sünde. In allen denen, welche den Namen des Herrn anerkennen und zu ihm sagen: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser! wird sie gewiß getilgt, insofern wenigstens, daß ihr verderbliches Gift geschwächt wird, daß ihre ansteckende Kraft abnimmt und sich verliert; wenn gleich die Zeichen und die Spuren davon in verschiedenem Maße zurückbleiben, worin aber auch jener Zehnte nicht besser daran war, als die Neun. Rein sind Alle, und immer wird man unterscheiden können ein christliches Volk, sey | es auch noch in einem Zustande mannichfaltiger Unvollkommenheit und Mängel, von einem solchen, zu welchem die Segnungen des Evangeliums noch nicht gedrungen sind; unterscheiden wird man immer können, hier ist die Wirksamkeit der göttlichen Gnade, die das menschliche Geschlecht aus dem Abgrunde des Verderbens hervorgezogen hat. Rein also, m. g. F., mögen wir sagen, daß sie Alle sind. Aber sind sie auch Alle selig? Selig gewiß war unter den Zehnen nur der Eine, der umkehrte und Gott die Ehre gab und sich zu den Füßen des Erlösers niederwarf. Die Andern, wie war es mit ihnen? Sie waren rein geworden, die Priester verkündigten es ihnen, der bisher verbotene Umgang mit Menschen ward ihnen wieder erlaubt, sie durften zurückkehren zu ihren Geschäften und zu den Ihrigen, die sie so lange hatten meiden müssen, und so hatten sie denn nichts Eiligeres zu thun, als eben dies. Da mögen sie, wir wollen es ihnen zutrauen, die wiedererhaltenen Kräfte gebraucht haben auf eine heilsame und nützliche Weise, und damit Gutes gestiftet haben in einem kleineren oder größeren Kreise. Weil sie aber zu demjenigen, der ihnen diese mit nichts zu vergleichende Wohlthat erwiesen hatte, nicht umkehrten, um sich auf’s Neue und in eine bleibende Verbindung mit ihm zu setzen: so mußte er ihnen natürlich in ihrem emsigen Geschäftsleben allmählig mehr und mehr aus dem Gedächtnisse kommen. Vergessen wurde allmählig auch der alte Zustand, wie das ja allerdings etwas Heilsames ist in der menschlichen Natur, daß die Erinnerung an vergangene Leiden immer schwächer wird, wenigstens ihr Herbes und Bitteres verliert; aber mit der Erinnerung an ihren vorigen Zustand verschwand auch natürlich die Erinnerung an den

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Uebergang aus dem einen in den andern, und an die Art und Weise, wie er bewirkt worden war. Und wenn diese Erinnerung geschwächt wurde und verschwand, wie leicht konnte es dann nicht geschehen, daß, wenn Jemand ihnen die Zeit der Krankheit wieder zurückrief, und sie Rede und Antwort geben sollten von der Art, wie sie davon befreit waren, sie dann auch bei sich selbst nicht mehr gewiß waren, wie es zugegangen sey. | Hingekommen wären sie zu Jesu von Nazareth und hätten ihn angefleht, werden sie sagen, aber sie selbst hätten im Augenblick keine bedeutende Veränderung bei sich gefühlt; als sie indeß zu den Priestern gekommen, um sich ihnen zu zeigen, hätten die zu ihnen gesagt: „gehet hin, bringt Gott eure Opfer, ihr seyd rein;“ aber ob sie es nicht schon vorher gewesen, ob sie es nicht von ungefähr zu derselben Zeit geworden, oder ob es wirklich durch Jesum geschehen, das vermöchten sie nicht mit Sicherheit zu bestimmen. In solcher Vergessenheit des Erlösers, in solchem aus Gleichgültigkeit entstandenen Zweifel an der Beschaffenheit der Hülfe, die ihnen widerfahren war, – darin ist die Seligkeit nicht; waren sie also auch rein, selig waren sie doch nicht. Solche Bewandniß hat es freilich auch mit gar Vielen in jedem christlichen Volke. Reiner sind die Menschen um Vieles, überall, wo der Name des Erlösers genannt wird, und sein Evangelium verkündigt. Da werden die wilden Leidenschaften gebändigt, da wird das Gewissen geschärft, da mildern sich die zügellosen und unreinen Triebe, da greift mehr und mehr die Liebe um sich, die von dem Höheren ausgeht, und knüpft die Menschen zusammen, daß gar mancherlei erquickende und belebende, ernste und heilige Verhältnisse unter ihnen entstehen, und so wird des Bösen und Verkehrten immer weniger und des Guten immer mehr. Wenn man sie aber fragt, von wo dieses neue Leben komme, so müssen sie zwar wohl gestehen, es sey entstanden, seitdem das Christenthum unter ihnen Wurzel gefaßt habe. Aber wie vergessen dies die Meisten in dem gewöhnlichen Laufe des Lebens! wie zweifeln Andere wenigstens daran, ob dies Zusammentreffen auch ein wirklich innerer Zusammenhang sey, oder ob nicht durch die allmählig fortschreitende Entwickelung des menschlichen Geschlechts dasselbe erfolgt seyn würde, wenn auch der, den die Gläubigen den Sohn Gottes nennen, niemals erschienen wäre auf Erden! – und in jener Vergessenheit, oder in diesem zweifelnden Mangel an Glauben, darin freilich ist die Seligkeit und der Friede des Herzens nicht. Der aber, welcher anerkennt, daß alle guten Gaben, die von Oben herabkommen, | uns entweder überhaupt zuerst mitgetheilt oder wenigstens befestiget und sicher gestellt worden sind durch den, in dessen Namen allein Heil zu finden ist für die Menschenkinder; wer das erkennt und Gott sein Lob und seinen Preis für nichts Anderes darbringt, als dafür, daß er seinen Sohn gesandt hat zum Erlöser der

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Welt, wer sich dann zu dieses Füßen niederwirft, und, wie ja doch so Viele von denen thaten, die von ihm geheilt worden sind, ihn um die Vergünstigung bittet, ihm nachfolgen zu dürfen, und seinen Namen auszubreiten und zu verherrlichen, – der ist selig. Und wie es auch mit der Reinheit des Lebens, mit der Läuterung des Innern der Seele stehe: der Grund jeder unwandelbaren Seligkeit liegt für den Menschen immer nur in dieser wenigstens beginnenden Gemeinschaft mit dem Erlöser. Nur wer im Glauben an den Sohn Gottes lebt, hat schon hier das ewige Leben, wovon jedes andere nur die Fortsetzung und die weitere Entwickelung seyn kann. Wohlan, m. g. F., wir, die wir das Andenken an die Wohlthaten des Erlösers in uns lebendig erhalten, und, wenn wir uns in seinem Namen versammeln, auch bei ihm und in seiner Fülle Gnade um Gnade suchen, so daß wir uns aus seinem Wort und an seinem Bilde stärken, und in allem Guten befestigen, und eben deßhalb auch uns nicht anders, als in seinem Namen, im Gebet und in der Danksagung an Gott den himmlischen Vater wenden, wir also wären, ihm sey es Dank, die nicht nur Reinen, sondern auch Seligen. Wenn auch wir uns aber dennoch, wie ich voraussetzen muß, noch lange nicht genügen: so werden auch wir wohl müssen an unsre Brust schlagen, und uns fragen, ob nicht noch etwas in uns ist von jener Vergessenheit des Erlösers, durch welche die Neun sich unterschieden von dem Zehnten, oder doch noch etwas von jenem zweifelnden Unglauben, sondern ob wir ganz mit einfältigem, in der Treue fest gewordenen Herzen ihn in allen Gebieten unsers Lebens walten lassen, Alles auf ihn und sein Reich beziehen, und Alles in dem Maße, als wir es für gut und förderlich anerkennen, auch ihm allein zuschreiben, und mit inniger Dankbarkeit, als das von | ihm Erworbene, auch ihm weihen und in seinem Sinne gebrauchen. Wenn wir das fragen, was werden wir anders sagen können, als daß auch wir noch oft seiner vergessen, daß auch unser Leben noch getheilt ist, und wir viel Gutes und Schönes genießen und mittheilen, ohne dabei unser Gemüth auf ihn zu richten, und nach dem Zusammenhange zu fragen, in welchem der Gegenstand unserer Freude stehen könne mit der einen göttlichen Wohlthat, in der doch alle andere aufgehen sollen; – daß uns noch vieles Erfreuliche in diesem irdischen Leben begegnet, bei dessen Genuß wir nicht über die nächste in die Augen fallende Ursache und Absicht hinausgehen, und es nicht zurückführen auf jenen lebendigen Zusammenhang mit dem Reiche des Erlösers, der den Augen der Gläubigen immer und überall 8–9 Vgl. Joh 3,36; 6,40

13–14 Vgl. Joh 1,16

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sichtbar seyn sollte. So müssen wir denn immer wieder umkehren zu ihm, so oft wir über irgend etwas wieder sind rein gesprochen worden. Keine Erleuchtung des Geistes aus der Tiefe menschlichen Nachdenkens und den Schätzen der Menschengeschichte, kein froher und seliger Genuß der wiedergeheiligten Natur, kein Gefühl brüderlicher Liebe auch im Betrieb der gemeinsamen menschlichen Angelegenheiten, kein frommer Dank für irgend ein Wohlgelingen, kein überwundener Schmerz bei den Trübsalen und Widerwärtigkeiten des Lebens, keine Festigkeit im Kampfe mit der Welt, keine Ruhe unter allen Stürmen, welche menschliche Verkehrtheit erregt – nichts möge es geben, berühre es nur irgend das geistige Gebiet des Lebens, daß wir es nicht dem Erlöser weihen, und indem wir uns zu seinen Füßen niederwerfen, vor Gott bekennen sollten, es sey uns nur durch ihn geworden und um seinetwillen. II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch auf den Erlöser sehen, wie er sich bei dieser großen Verschiedenheit unter denen, die doch alle seiner Wohlthat theilhaft wurden, verhielt. Er, der da wußte, was im Menschen war, so daß es ihm Niemand zu sagen brauchte, sollte nicht schon, als die Zehn vor ihn hintraten und ihn mit den Worten: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser,“ um seine Hülfe anflehten, nicht damals | schon sollte er gewußt haben, oder haben wissen können, daß unter ihnen allen nur der Eine, der ihn, nicht nur menschlicherweise angesehen, sondern auch nach dem, was er selbst bei einer andern Gelegenheit über diesen Theil seines Berufs sagt, als Fremdling am Wenigsten anging, daß nur dieser allein umkehren würde, um Gott zu danken? Wohl! wenn er es gewußt hat, so hat es ihn also wenigstens nicht abgehalten, seine Hülfe den Neunen eben so gut angedeihen zu lassen, als dem Zehnten; und auch das schon wäre für uns eine heilsame Erwägung. Allein, m. g. F., wir müssen wohl noch weiter gehen und sagen, er hat es nicht gewußt, nicht als ob er es nicht hätte wissen können, sondern weil er es nicht wissen wollte, und also auch seine Gedanken nicht darauf lenkte. Er hat es nicht gewußt; denn wie würde er sich sonst gewundert haben, als nur der Zehnte umkehrte, um Gott und ihm zu danken? Diese Verwunderung wäre eine bedenkliche Verheimlichung dessen vor seinen Jüngern gewesen, was ihm doch jetzt wieder vor seiner Seele stehen mußte, oder eine Täuschung, die er dem vormachte, der zu ihm umkehrte. Also werden wir wohl sagen müssen, wenn gleich der Erlöser im Allgemeinen die menschliche Natur genau kannte, und so auch jeden Einzelnen kennen konnte in seinem ganzen Gemüthszustande: so habe er doch in den 17–18 Vgl. Joh 2,25

23–25 Vgl. Mt 15,24.26; Mk 7,27

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meisten Fällen nicht darnach gefragt und es nicht untersuchen wollen; sondern auch hier hat er sich nur dadurch bestimmen lassen, daß sie alle Zehn gleichmäßig ihr Verlangen äußerten, und alle flehend zu ihm kamen. Wie können wir uns aber wohl in dieser Hinsicht mit dem Erlöser vergleichen? Freilich gar nicht! Er hatte Alles, was er aus seiner Fülle zu geben vermochte, in sich selbst. Ein göttlicher Reichthum wohnte in ihm, und von dem gab er. So war es der Wille seines himmlischen Vaters, und er, der nichts wollte von sich selbst thun, sondern immer nur wie er den Vater thun sah, gewährte auch hier, wie er sah, daß sein Vater seine Sonne scheinen ließ über Böse und Gute, so auch er Allen, die aus seiner Fülle nehmen wollten. Wir hingegen haben nichts aus uns selbst, sondern sind selbst Alle be|dürftig; und was wir haben, ist nicht eine unendliche Fülle, sondern ein bestimmtes Maß anvertrauten Gutes. Da können wir denn nicht Allen gewähren, und müssen suchen, das Rechte zu treffen im Gewähren und im Versagen, damit wir nicht auf der einen Seite in den Fall kommen, da nicht mehr zu haben, wo wir am Liebsten geben möchten; auf der andern aber auch nicht in den Fall, daß man uns sagen könne: du Narr, was sammelst du und sparst? Diese Nacht wird man deine Seele von dir nehmen, und wie du nichts in die Welt gebracht hast, kannst du auch nichts mit hinaustragen. Insofern also können wir uns nicht mit ihm vergleichen. Aber wenigstens mit den geistigen Gaben, die auch wir aus seiner Fülle immer auf’s Neue nehmen können, sollen wir doch, weil sie nichts Anderes sind, als seine göttliche Kraft selbst, auch eben so haushalten und handeln, wie er mit allen den himmlischen Gaben, die sein Vater ihm verliehen hatte, auf Erden gewirkt hat. So laßt uns denn in Einfalt des Herzens eben so thun, wie er; auch wir sollen keinen andern Bestimmungsgrund haben, als das Verlangen der Menschen, unter die uns Gott gesetzt hat, um an und in ihnen das Reich des Herrn zu fördern. Was wir können, ist ja doch nur, daß wir denen, die dem Bunde des Glaubens und der Liebe schon angehören, mit den Gaben dienen, die wir selbst empfangen haben, den Andern aber nach unserer innern Ueberzeugung antworten, wenn wir irgendwie die Frage auch nur erst auf ihren Lippen ahnen: Ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun, daß wir selig werden? – Wo nun das Ohr noch nicht geöffnet ist, die Stimme zu vernehmen: wir bitten euch an Christi Statt, lasset euch versöhnen mit Gott, – da kehrt das Wort mit seinem Segen zurück zu denen, von denen es gekommen ist. Wo wir aber ein Verlangen darnach bemerken, da soll 8–9 Vgl. Joh 5,19.30 10–11 Vgl. Mt 5,45 19–20 Vgl. Lk 12,20 20–21 Vgl. 1Tim 6,7 34–35 Vgl. Apg 2,37; 16,30 36–39 Vgl. Mt 10,13; Lk 10,6; 2Kor 5,20

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auch unser Eifer geschäftig seyn, das Wort der Versöhnung zu reden, und das Heil in Christo anzupreisen mit Wort und That, so gut wir es können. Selig ist nur der, welcher hiebei eben so wenig wie der Erlöser daran denkt und darnach fragt, wie Viele oder Wenige wohl von denen, welchen das | Wort zu Herzen geht, wirklich umkehren werden, um ihren Dank gegen Gott uns mitzutheilen. Nur wer so gesinnt ist, wird auch mit derselben Einfalt wie der Erlöser das ihm beschiedene Werk Gottes auf Erden vollbringen. Selig ist der, der sich hernach zwar, wenn ihm der Unterschied einmal augenscheinlich geworden ist, wundert über die, welche umkehren, wie Wenige es doch sind; doch aber, wenn er dies auch erfahren hat, dadurch nicht in seinem einfältigen Eifer gestört und aufmerksam gemacht wird, in einem nächsten Falle im Voraus hieran zu denken. Denn wenn wir aus unserer eigenen Erfahrung sprechen wollen, müssen wir wohl wissen, wie sehr uns das lässig macht in dem Werke des Herrn, wenn wir bei uns denken, von Zehn, die sich an dich wenden, um durch dich mitgetheilt zu erhalten, was nicht dein ist, sondern die freie Gabe des Erlösers, werden immer Neun als Undankbare weggehen, und den Segen, der ihnen geworden ist, vergessen, und nur Einen etwa werden sie unter sich haben, der dankbaren Herzens gegen den Herrn umkehrt, um Gott zu preisen. Können wir nun nicht läugnen, daß eine solche Betrachtung niederschlagend und störend ist: wie sollten wir nicht Alle einstimmen in die Seligsprechung dessen, der, wie der Erlöser that, hieran auch nicht einmal denkt. Aber wird Jemand sagen, unwillkührlich geschieht es, daß sich uns diese Betrachtung aufdringt; zu oft kehrt die unglückliche Erfahrung wieder, daß, wenn wir Früchte eben noch nicht, wohl aber die natürliche Dankbarkeit des Herzens erwartet haben für das himmlische Gut, die Früchte sich in einem gewissen Grade finden, das dankbare Herz aber nicht. Der Erlöser, m. g. F., war auch ein Mensch, wie wir, und als Mensch eben diesem Unwillkührlichen unterworfen; aber wir sehen, er hat das vergessen, und die Undankbarkeit der Menschen hat ihn nie lässig gemacht. Ach wie oft, wenn er das Wort vom Reiche Gottes redete, mag nicht etwa schon unter Zehnen, die ihn hörten, sondern unter Hunderten kaum erst Einer gewesen seyn, der wieder umkehrte und Gott dankend sich zu seinen Füßen niederwarf, wenn gleich an allen Hunderten seine Rede nicht vergeb|lich war. Aber nie hat er deßhalb aufgehört, seinen Beruf zu erfüllen, und immer mit gleicher Freudigkeit. Was ihn dazu menschlicher Weise in den Stand setzte, das, m. g. F., muß auch uns dazu verhelfen; und was anders als dies, wie es auch einer seiner getreuesten und eifrigsten Apostel sagt, dem sich eben so oft in seinem Leben diese traurige Erfahrung wiederholt hat,

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und der ebenfalls im Eifer für das große Werk des Herrn deßhalb nicht still stand bis an seinen Tod, den ihm der Herr um seines Namens willen bestimmt hatte, wie der sagt: „Ich vergesse, was da hinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorn ist.“ Dies gilt nicht nur von dem, was der Mensch an sich selbst thut und arbeitet, sondern es muß auch vorzüglich von demjenigen gelten, was wir Alle in unserm gemeinsamen christlichen Berufe zu leisten haben. Immer vergessen, was hinten ist, und sich strecken in jedem Augenblick des Lebens nach dem Herrlichen und Gottgefälligen, was noch vor uns liegt, und was wir lange im Auge hatten, nur noch nicht dazu schreiten konnten, weil wir eben das Vorige noch nicht hinter uns hatten, – dieses Vorwärtsstreben, ohne welches wir doch das Lob, daß wir getreue Knechte sind, nie erhalten können, diese Bereitwilligkeit, alle Werke, die wir schon durch die Gnade Gottes vollbracht haben, leicht zu vergessen über dem Neuen, was unsre Kräfte in Anspruch nimmt, wie es denn immer zu thun giebt für diejenigen, die nichts Anderes wollen, als den Willen Gottes erfüllen; dieses sichert uns am Besten dagegen, eine kleinliche und unsere Zufriedenheit nur störende Rechnung anzulegen mit denen, an welchen wir unter Gottes Beistand etwas Gutes wirken konnten. Und so wird das Zurückdenken an die Art, wie sie das Gute hingenommen, wenn es einmal nicht vermieden werden kann, uns eben so wenig stören, und unsere Thätigkeit einschränken, als dies bei dem Erlöser der Fall war. Und sollten wir etwa nicht zufrieden seyn, m. g. F., daß das Verhältniß immer noch dasselbige ist, daß immer noch alle Kräfte der Gläubigen in Anspruch genommen werden, um das Reich Gottes theils in sich selbst zu befestigen und zu schmücken, theils | es nach außen hin immer weiter zu verbreiten, und daß wir noch nicht nöthig haben auf das Vergangene, was hinter uns liegt, zurückzusehen! Vorn hat Gott das menschliche Auge gesetzt, und wie leiblich, so auch geistig, ist es uns doch immer das Natürlichste, nach Vorne zu sehen. So schaute auch der Herr immer vorwärts, und weil er immer Neues zu wirken hatte, so lange es Tag war, so gedachte er auch dessen nicht mehr, was für ihn schon in die Nacht der Vergangenheit gesunken war, sofern er dabei nichts mehr zu wirken hatte. So gedachte er denn in dieser unermüdeten Thätigkeit auch der Zehne nicht mehr, die er, wie so viele Andere, geheilt; und sie kamen ihm erst wieder in’s Gedächtniß, als der Eine von ihnen ihn wieder aufsuchte. Denn wenn er von Anfang an sie genau betrachtet, und dann noch fortwährend ihrer gedacht hätte: so würde er auch gewußt haben, wie es um sie stand, und hätte sich nicht verwundert. So sollen auch wir es halten, und uns das Leben in der Vergangenheit 3–4 Phil 3,13

12–13 Vgl. Mt 25,21.23

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für die Zeit vorzüglich ersparen, wo wir nicht mehr in dem gewohnten Maße wirken können; bis dahin aber, hinschauend auf Alles, was noch vor uns liegt, des Vergangenen nur dann gedenken, wenn die Gegenwart selbst es uns wieder vor Augen bringt, nicht aber mit einem ängstlichen Bestreben, zu überschlagen, wieviel wohl unsere Thätigkeit Frucht gebracht habe. Dann bleiben wir unbewegt durch die meisten der Fälle, in denen der Erfolg hinter unserer Absicht und billigen Erwartung zurückgeblieben ist; und wenn uns ein solcher dennoch von selbst vor Augen kommt: so werden wir uns wundern, wie sich der Erlöser wunderte; aber auch ein solcher Fall soll uns dann wohl eben so wenig, wie den Erlöser, hindern, immer wieder auf’s Neue zu wirken in demselben guten Vertrauen, und demselben unbefangenen Vorwärtsstreben. Aber noch Eines ist in der Handlungsweise des Erlösers, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen. Der Eine, welcher umkehrte, sagte Gott seinen Dank für die von ihm erhaltene Wohlthat; aber er that es da, wo er den Erlöser antraf, und er warf sich dann auch zu dessen Füßen nieder, um | ihm zu danken. Der Erlöser aber, was sagt er und wie drückt er seine Verwunderung aus? „Ist unter den Zehnen nur Einer, der umgekehrt ist und Gott die Ehre giebt?“ An den Dank, der ihm selbst wurde, dachte er nicht, sondern nur das zog seine Aufmerksamkeit auf sich, daß das richtige Verhälniß zu Gott, dem Ursprunge alles Guten, sich nur in dem Einen ausgedrückt hatte. Wenn wir nun, m. g. F., schon vorher sahen, daß in gewisser Hinsicht wir uns mit dem Erlöser gar nicht vergleichen konnten, so gewiß hier noch weit weniger. Denn was kann uns für Dank gebühren, die wir nichts thun, wenn wir Alles gethan haben, als auf der einen Seite das, was wir zu thun schuldig sind, und auf der andern Seite doch nur fremdes Gut vertheilen, und nach dem Willen des rechten und einzigen Herrn davon Gebrauch machen. Darum, m. g. F., sollte es wohl ganz überflüssig seyn, ein Wort der Ermahnung darüber zu sagen, daß auch wir noch viel weniger Anspruch machen sollen auf einen Dank, der uns etwa gebühre, und uns darüber wundern, wenn er ausbleibt, oder uns freuen, wenn wir ihn empfangen. Nur zu sehr, m. th. F., verunreinigen wir ein jedes Werk der christlichen Liebe, wenn wir auch nur im Geringsten eine solche Rücksicht dabei walten lassen. Ja, wenn auch die Hoffnung auf Erweisungen der Dankbarkeit uns nicht von Anfang bestimmt, aber es doch hernach einen bedeutenden Einfluß auf unsere Gemüthsstimmung hat, und uns mißmüthig macht, wenn die Menschen nicht dankbar genug erkennen, was und mit welcher Aufopferung und Anstrengung wir ihnen geleistet haben: so ist auch das nur eine selbstsüchtige Bewegung, die nicht anders als nachtheilig auf unsern Eifer im Guten wirken kann. Aber, m. g. F.,

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wie ungerecht sind wir auch dabei! Denn wie wenig können wir bestimmen, was eigentlich wir gethan haben. Auch da, wo wir am Meisten allein gehandelt zu haben glauben, was hat doch Alles mitgewirkt auf die Seele, und sie geschickt gemacht, unsern Einfluß aufzunehmen! wie Vieles kommt uns oft zu Hülfe, um auch aus geringen Anstrengungen unserer Kräfte etwas Gutes und Schönes hervorzubringen! Was giebt | es wohl für glückliche Erfolge an den Seelen und in dem Leben unserer Brüder, die wir mit irgend einiger Sicherheit unsern Thaten zuschreiben könnten? Können wir von irgend Etwas sagen: das ist durch Gottes Gnade mein Werk? Gewiß nicht; und eben deßhalb, weil wir unsern Antheil daran nicht auszuscheiden vermögen, sind wir viel weniger berechtigt, Dank zu fordern, als der Erlöser. Er wußte es, daß die Kraft, durch welche jene Leidenden geheilt wurden, von ihm ausgegangen war; wir aber vermögen nicht zu unterscheiden das, was seine Kraft durch uns wirkt, von dem, was sie durch Andere wirkt. Und wie es nichts Großes und Gutes giebt, wozu nicht Viele mitwirken müssen: so sollen wir eben deßhalb Jeder seinen Antheil gern gleichsam verlieren an das Ganze, und unser Eigenes nicht ausscheiden und abgesondert haben wollen von dem Uebrigen, unsern eignen Ruhm dafür verlangend, und unsern eignen Dank; denn nur Einem gebührt Dank – dem, von welchem alle gute Gaben kommen, und nicht in den Einzelnen verherrlicht er sich, so daß sie für sich gerühmt werden könnten, sondern in der Gemeinschaft der Gläubigen, welche als die Seinige Eines seyn soll, und nicht getheilt. Endlich, m. Gel., laßt uns noch dieses bedenken. Wenngleich der Erlöser keines Danks bedurfte, noch ihn verlangte, und, indem ihm der Erfolg seines heilenden Wortes vor Augen trat, sich ebenso darüber gefreut haben würde, wenn die Geheilten nur Gott gedankt, und Gott die Ehre gegeben hätten, ohne daß Einer zurückkehrte, um sich gerade zu seinen Füßen niederzuwerfen, und auch ihm zu danken: so darf es uns doch nicht genügen, wenn unsere Brüder, sey es nun für leibliche oder geistige Wohlthaten, sich Jeder Gott dankbar beweisen, des Erlösers aber dabei vergessen. Dies wäre eine Gleichgültigkeit gegen ihn, welche wir nicht würden rechtfertigen können. Sondern wie wir von unserm Vater im Himmel Alles im Namen Christi und um seinetwillen erbitten: so gebührt uns auch, darauf bedacht zu seyn, daß Gott überall nur im Namen Christi | gedankt, und er nur so gepriesen werde; denn das ist sein Wohlgefallen. Und gewiß sind das nicht leere Worte, die nur können, wie es wohl oft geschehen mag, gedankenlos ausgesprochen werden. Sondern überall, wo der Name des Herrn mit Ehrfurcht genannt wird, also in dem ganzen Umfange der christlichen Kirche, sind alle menschlichen Einrichtungen, wie unvollkommen sie auch in vieler Hinsicht seyn mögen, so durchdrungen

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von dem Geiste der christlichen Liebe, so verschmolzen auf mannigfaltige Weise mit den Anstalten zur Erhaltung und Fortpflanzung der christlichen Kirche selbst, daß auch für Alles, was uns durch die Einrichtungen unseres bürgerlichen und geselligen Lebens und durch ihr Zusammenwirken mit der Natur im Leiblichen Gutes zufließt, ihm der Dank gebührt. So wie auf der andern Seite wir alles Gute nur insofern wirklich als Gutes genießen mit dem Antheile an der Unvergänglichkeit, der allem Guten zukommt, wenn wir uns dabei der Beziehung auf den Dienst Christi und auf die Förderung seines Reiches bewußt sind. Darum ist die wahrhaft christliche Dankbarkeit gegen Gott auch für dasjenige, was nicht unmittelbar zu dem ewigen Heile zu gehören scheint, nur die Dankbarkeit im Namen Jesu. Wo wir also eine Neigung finden, Gott zu danken, aber ohne daß dabei des Erlösers gedacht wird, da sollen wir es auf alle Weise fühlbar zu machen suchen, daß Gott nur gedankt und gepriesen seyn will in seinem Sohne, und daß dieses mit gehöre zu der Anbetung im Geiste und in der Wahrheit, welche der Vater haben will. Nur daß wir sie nie anders zu befördern suchen, als indem wir mit derselben Liebe, mit welcher Christus uns Alle geliebt hat, als wir noch Feinde waren, auch denen zugethan bleiben, welche in Gefahr stehen, den Vater zu verlieren, weil sie ihn nicht erkennen und haben wollen in dem Sohne; und nur aus der freudigen Dankbarkeit des Herzens gehe hervor die Stimme des Glaubens und das milde Werk der Liebe, welche gern durch die Kraft der eigenen Erfahrung auch Andere dem gewinnen möchte, mit welchem Gott uns alles Andere schenkt. Möge es nun viel oder wenig seyn, was wir hierzu beizutragen | gewürdigt werden, laßt uns Gott danken, so oft auch nur Ein geheilter und erquickter Bruder umkehrt, um Jesu von Nazareth die Ehre zu geben, die ihm gebührt, und laßt uns des Glaubens leben, daß aus Wenigem Viel wird, wenn nur die treu bleiben, die über Weniges gesetzt sind, und daß nur auf diese Weise immer mehr gewirkt werden kann in dem Reiche Gottes. Amen. Schl.

16–17 Vgl. Joh 4,23

24–25 Vgl. Röm 8,32

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b. Nachschrift 453 454

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Predigt am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis 1822 | Tex t. Lukas XVII, 12–19. Und als Jesus in einen Markt kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die standen von fern und erhoben ihre Stimmen, und sprachen: Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser. Und da er sie sahe, sprach er zu ihnen: gehet hin und zeiget euch den Priestern. Und es geschahe da sie hingingen wurden sie rein. Einer aber unter ihnen, da er sah, daß er gesund geworden war, kehrte er um, und pries Gott mit lauter Stimme, und fiel auf sein Angesicht zu seinen Füßen, und dankte ihm; und das war ein Samariter. Jesus aber antwortete, und sprach: sind ihrer nicht zehn rein geworden? wo sind aber die neun? hat sich sonst keiner gefunden, der wieder umkehrte, und gebe Gott die Ehre, denn dieser Fremdling? Und er sprach zu ihm: stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen. | M. a. F., Auf diese wunderbare Hilfsleistung unseres Erlösers, eben wie die, welche wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung machten, führt uns von dem einzelnen Fall und dem leiblichen Elend auf das geistige und auf die allgemeinen Wohlthaten, die der Erlöser dem menschlichen Geschlecht erwiesen hat, zurück. Wie oft ist nicht die Sünde, von welcher er gekommen ist die Welt zu befreien, verglichen worden eben mit jener Krankheit, von welcher er hier zehn Unglückliche befreit, eben wegen der das Leben allmälig aufzehrenden Kraft, wegen der großen und gefährlichen Ansteckung, mit welcher sie sich von dem einen zum andern verbreitet, wegen der Unsicherheit jeder gewöhnlichen Hilfe, die menschliche Kunst zu leisten vermag. Und wie wir hier ein so sehr verschiedenes Betragen finden derer, die an der Hilfe des Erlösers Theil genommen haben, so m. g. F., sehen wir es auch in Beziehung auf die geistigen Wirkungen, die sei|ne Erscheinung auf Erden unter dem menschlichen Geschlechte hervorgebracht hat. Laßt uns eben darauf unsere andächtige Aufmerksamkeit richten, und uns diese Geschichte als ein Beispiel vorhalten von der verschiedenen Art, wie die Wohlthaten, die der Erlöser den Menschen erzeigt, empfangen wurden. Indem wir aber, m. a. F., dies in Beziehung auf uns insgesammt und auf das ganze Geschlecht der Menschen betrachten, so müssen wir ja wohl bekennen zum Preise des Herrn, daß wir nicht nur unter diejenigen gehören, die seine Wohlthaten empfangen, sondern daß uns 1 1822] 1821

15 M. a. F.,] M. a. F..

15–16 Vgl. oben 25. August 1822 vorm.

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auch durch seine Berufung das schöne und herrliche Loos geworden ist, sie mitzutheilen und zu verbreiten, und wie wenig es auch sei, doch seine Werkzeuge, seine Mitarbeiter und Helfer in dem großen Geschäft der Erlösung zu sein. Wir würden also nur eine unvollständige Anwendung dieser Geschichte auf uns machen, wenn wir nicht, nachdem wir zuerst auf die|jenigen werden gesehen haben, welche die Wohlthat der Erlösung auf eine so verschiedene Weise empfingen, auch dann zweitens auf ihn selbst sähen, um uns darüber zu belehren, was für einen Eindruck denn diese Verschiedenheit auf ihn machte, und wie er sich in Beziehung auf dieselbe verhielt. Das seien also die beiden Gegenstände unseres gemeinsamen und wichtigen Nachdenkens. I. Wenn wir zuerst, m. a. F., von dieser Erzählung unseres Textes die Anleitung nehmend näher erwägen wollen, wie verschieden die Menschen die Wohlthaten des Erlösers annehmen, so könnte sich da freilich bei manchem ein Bedenken äußern, ob auch wohl die Ähnlichkeit eine richtige sei, und der eine Fall mit dem andern könne verglichen werden. Zehn flehten mit einander die Hilfe des Erlösers an, einer von ihnen kehrte um, um Gott danksagend die Ehre zu geben, und sich zu den | Füßen des Erlösers niederzuwerfen, die andern alle derselben Wohlthat theilhaftig geworden gingen hin ein jeder seines Weges. Ist das eine Ähnlichkeit mit dem Verhältniß des Erlösers als Erlöser zu den Menschen denen er die Erlösung bringt? können wir sagen, daß diejenigen rein geworden sind, die doch nicht umkehrten um Gott die Ehre zu geben, und sich zu den Füßen des Erlösers niederzuwerfen. So scheint es wohl; aber, m. g. F., wenn wir es genauer betrachten, und mit einem recht gläubigen und christlichen Gemüth, so wird uns doch, denke ich, die Ähnlichkeit nicht entgehen. Sagt es doch der Erlöser selbst, daß er gekommen sei, sein Blut zu vergießen für die Sünde der ganzen Welt; sieht er sich doch immer an, und stellt sich dar als das gemeinsame Eigenthum und Heil des ganzen menschlichen Geschlechts; und wir sollten glauben, m. g. F., daß die Wirk|samkeit, die Wirksamkeit des Sohnes Gottes, die Kraft der Gottesfülle, die in ihm wohnte, könnte gehemmt werden und aufgehalten oder gar nichtig und unkräftig gemacht durch die Unvollkommenheit der Menschen? Nein, m. g. F., die ist etwas viel zu Geringes, um den heilsamen und gnädigen Rathschluß Gottes in seiner Erfüllung aufzuhalten. Und wenn ihr mich fragt, wie ist es, sind denn alle diese zehn rein geworden im geistigen Sinne des Wortes? so kann ich nicht anders sagen als: Ja. Der Herr ist gekommen um das ganze menschliche Geschlecht zu 26 christlichen] christlichem 28–29 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

32 Vgl. Kol 2,9

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erlösen, und es ist auch gewiß ganz erlöset; er ist gekommen um die Sünde zu tilgen, und sie ist auch gewiß ganz getilgt. Die aber, welche seine Hilfe anzuflehen gekommen waren, und denen sie auch zu Theil ward, die wurden das nicht eher inne als bis sie gingen zu den Priestern. Die waren im Besitz einer alten und aufrichtigen Überlieferung, um [die] gefähr|liche, verderbliche und ansteckende Krankheit, von der hier die Rede ist, zu unterscheiden von manchen ähnlichen und unbedeutenden, die ihr aber äußerlich sehr gleich kamen, so daß kaum ein Anderer, als wer diese tiefe und geheime Kunde der Sache besaß, beide von einander unterscheiden konnte. Das Elend des menschlichen Geschlechts, m. g. F., wenn wir absehen von dem Erlöser und seiner heilenden Kraft, ist allen bekannt, es ist immer allgemein gefühlt und beseufzt worden. Aber immer hat es unter dem menschlichen Geschlecht solche gegeben, denen Gott der Herr ein gesundes Auge verliehen hatte, um damit zu erkennen, was in dem Menschen ist, und ein richtiges Gefühl um die verschiedenen Grade des menschlichen Verderbens zu unterscheiden. Wohlan, laßt uns zu denen gehen, welche diese Kunde der Sache haben, welche die Ereignisse des menschlichen Geschlechtes | mit einem gesunden Auge im Großen betrachten, deren geistiges Gefühl geschärft für den Gegensatz des Reinen und Unreinen, und laßt sie uns fragen, wie es denn ist, ob nicht alle jene alten Völker ohne Unterschied, welche die Hilfe des Erlösers angefleht, und sich mit ihm in diese, wenn gleich nur äußerliche Verbindung gesetzt haben, ob sie nicht alle rein geworden sind? und ich glaube, jeder aufrichtige und wahrheitsliebende Priester des menschlichen Geschlechts und seiner Geschichte wird nicht anders antworten als Ja; wie auch damals die Priester allen Zehn das Zeugniß gaben, daß sie rein seien von ihrem Aussatz. Nicht, m. g. F., als ob die Sünde nicht mehr vorhanden wäre. Auch jene waren wohl zu unterscheiden durch die sachkundigen Priester von solchen, die etwa diese gefährliche Krankheit nie gehabt hatten; und woran konnten sie unterschieden werden als daran, daß doch noch irgend etwas, sei es nur ein | Anschein, sei es nur eine entfernte Folge, von der Krankheit übrig war. So, m. g. F., ist es auch mit der Sünde. Sie wird getilgt unter allen denen, die den Namen des Herrn anerkennen, unter allen denen, die zu ihm sagen: Jesu, lieber Meister, erbarm dich unser! sie wird unter allen denen getilgt insofern als das ihrer Seele verderbliche Gift geschwächt wird, insofern ihre ansteckende Krankheit abnimmt und sich verliert; aber die Zeichen und die Spuren davon bleiben zurück in verschiedenem Maaße. Rein sind alle, und immer wird man unterscheiden können ein christliches Volk, sei es auch noch in einem Zustande mannigfaltiger Unvollkommenheit und Mängel, von einem solchen, zu welchem die Segnungen des Evangeliums noch 4 Priestern] Priester damal

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nicht gedrungen sind; unterscheiden wird man immer können, hier ist die Wirksamkeit der göttlichen Gnade, die das menschliche Geschlecht aus dem Abgrunde des Verderbens hervorgezogen hat: Rein also, m. g. F., | mögen wir sagen, daß sie alle sind. Aber sind sie auch alle selig? Selig war unter den Zehnen nur der eine, der umkehrte und Gott die Ehre gab, und sich zu den Füßen des Erlösers niederwarf. Die andern wie war es mit ihnen? Rein waren sie geworden, die Priester verkündigten es ihnen, der bisher verbotene Umgang mit der Gesellschaft der Menschen ward ihnen wieder erlaubt, sie durften zurück zu ihren Geschäften und zu den Ihrigen, die sie hatten meiden müssen, und so hatten sie denn nichts Eiligeres zu thun als eben dies. Da mögen sie dann, wir wollen es ihnen zutrauen, die wiedererhaltenen Kräfte gebraucht haben auf eine heilsame und nützliche Weise, da mögen sie Gutes gestiftet haben unter ihrem Volk nach ihrem besten Vermögen. Derjenige aber, der ihnen die Wohlthat erwiesen hatte, weil sie nicht umkehrten zu ihm, um sich auf’s Neue und in eine bleibende Verbindung mit ihm zu setzen, der mußte ihnen | in ihrem Geschäftsleben allmälig mehr und mehr aus dem Gedächtniß kommen. Vergessen wurde der alte Zustand, wie das ja allerdings etwas Heilsames ist in der menschlichen Natur, daß die Erinnerung an vergangene Leiden immer schwächer wird, wenigstens ihr Herbes und Bitteres verliert; aber mit der Erinnerung an ihren vorigen Zustand verschwand auch natürlich die Erinnerung an denjenigen, der den Übergang bewirkt hatte aus dem einen in den andern. Und wenn die Erinnerung an ihn geschwächt wurde und verschwand, wer weiß, wie leicht es geschehen konnte, daß wenn ein anderer den vorigen Zustand wieder zurückführte in ihr Gedächtniß, dem sie Rede und Antwort geben sollten von der Art, wie sie davon befreit waren, wie leicht mochte es kommen, daß sie dann sagten, sie seien bei sich selbst nicht gewiß woher, gegangen wä|ren sie zu Jesu von Nazareth, und hätten ihn angefleht, im Augenblick aber hätten sie keine bedeutende Veränderung bei sich bemerkt; als sie zu den Priestern gekommen um sich ihnen zu zeigen, hätten sie zu ihnen gesagt: „gehet hin, bringt Gott eure Opfer, ihr seid rein“; aber ob sie es nicht schon vorher gewesen; ob sie es nicht von ungefähr zu derselben Zeit geworden, das vermöchten sie nicht zu unterscheiden. Und in dieser Vergessenheit des Erlösers, in diesem unsäglichen Zweifel auch an seiner Hilfe, darin ist die Seligkeit nicht; und waren sie auch rein, selig waren sie nicht. So, m. g. F., ist es auch mit dem größten Theil des menschlichen Geschlechts. Reiner ist es um vieles überall, wo der Name des Erlösers genannt wird und sein Evangelium verkündigt, es bändigen sich die wilden Leidenschaften, es mildern sich die zügellosen und unreinen Triebe, es | greift die Liebe mehr um sich, die von dem Höhern ausgeht, und knüpft die Menschen zusammen, es entstehen mancherlei süße und köstliche, erste und heilige Bande unter den Menschen, und so wird das Böse immer weniger und das Gute immer mehr. Und wenn man sie fragt, von wo das

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kommt, so müssen sie es wohl gestehen, daß dies geschehen sei, seitdem das Christentum unter ihnen Wurzel gefaßt hat. Aber wie vergessen es die meisten in dem gewöhnlichen Laufe des Lebens! wie zweifeln die andern daran, ob das auch ein wirklicher innerer Zusammenhang sei, oder ob nicht auch dasselbe geschehen sein würde durch die allmälige Entwicklung des menschlichen Geschlechts, wenn der, den die Gläubigen den Sohn Gottes nännten, auch nicht erschienen wäre auf Erden – und in jener Vergessenheit und in diesem zweifelnden Mangel an Glauben darin ist die Seligkeit und der | Friede des Herrn nicht. Der aber, welcher es erkennt, daß alle gute Gaben, die von oben herabkommen, uns entweder überhaupt nur geworden sind oder befestigt oder sicher gestellt durch den, in dessen Namen allein Heil ist für die Menschenkinder, der das erkennt, der Gott sein Lob und seinen Preis darbringt für nichts anderes als dafür, daß er seinen Sohn gesandt hat zum Erlöser der Welt, der sich dann zu dessen Füßen niederwirft, und wie ja doch so viele von denen thaten, die von ihm geheilt worden sind, ihn um Erlaubniß bittet, ihm nachzufolgen, und seinen Namen auszubereiten und zu verherrlichen: der ist selig. Und wie es mit der Reinheit des Lebens, mit der Läuterung des Innern der Seele stehe: der Grund der künftigen Seligkeit des Menschen liegt nur in dem Anfange dieser Gemeinschaft mit dem Erlöser. Nur der, der im Glauben an den Sohn Gottes lebt, hat schon hier das ewige | Leben, wovon jedes andere nur die Fortsetzung und die weitere Entwicklung sein kann. Wohlan, m. g. F. wir, die wir den Namen des Erlösers bekennen, wir die wir uns so oft versammeln, um ihn gemeinschaftlich zu verherrlichen, wir, die wir uns nicht anders im Gebet und in der Danksagung zu Gott dem himmlischen Vater machen als nur in seinem Namen, wir sind – ihm sei es Dank – die nicht nur Reinen, sondern auch Seligen. Aber, m. g. F., wir sind es noch lange nicht genug. O laßt uns an unsere Brust schlagend uns fragen, ob nichts mehr in uns ist von jener Vergessenheit des Erlösers, durch welche die neun sich unterschieden von dem Zehnten, ob nichts mehr in uns ist von zweifelndem Unglauben, sondern wir mit einfältigem aber feststehendem Herzen alles, was wahrhaft gut ist und seligmachend ihm allein zuschreiben, und es auch mit inniger Dankbarkeit anerkennen | als das von ihm Erworbene. Wenn wir das fragen, was werden wir anders sagen können, als daß auch wir oft seiner vergessen, daß es auch viele giebt der herrlichsten Gaben und Wohlthaten des Heils, die wir genießen, ohne zu fragen nach dem Zusammenhang, in welchem sie stehen mit der Einen göttlichen Wohlthat, in der doch alle andern aufgehen sollen? daß uns noch vieles Erfreuliche wird im menschlichen Leben, bei dessen Genuß wir stehen bleiben bei der nächsten in die Augen fallenden Ursache, und sie nicht zurückführen auf den großen den Augen der Gläubigen sichtbaren Zusammenhang mit der Einen großen 20–21 Vgl. Joh 3,36; 6,40

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Wohlthat des Erlösers. O, m. g. F., laßt uns immer umkehren zu ihm. Keine göttliche Wohlthat, keine frohe und selige Stunde unseres Lebens, kein Genuß brüderlicher Liebe, keine fromme Erhebung des Herzen zu Gott, kein Schmerz des Gemüths unter den Trübsalen und Widerwärtigkeiten des Lebens, keine Festigkeit bei eigener Herabsetzung unter den Stürmen und Verkehrtheiten der Welt – nichts möge es geben, | wobei wir nicht dem Erlöser unseren Dank darbringen und uns zu seinen Füßen niederwerfen, wobei wir nicht vor Gott bekennen, daß es uns nur durch ihn geworden ist und um seinet willen. II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch auf den Erlöser sehen, wie er sich zu dieser großen Verschiedenheit der Menschen, die alle seine Wohlthat empfingen, verhält. Er, m. g. F., der da wußte, was im Menschen war, so daß es ihm niemand zu sagen brauchte, sollte er es nicht gewußt haben oder haben wissen können, als die zehn vor ihn hintraten und ihn anflehten um seine Hilfe: „Jesu, lieber Meister, erbarme dich unser“, hätte er es nicht sollen wissen können, daß nur der eine und zwar der Fremdling, der ihn natürlicherweise angesehen am wenigsten angehen würde unter allen, umkehren würde um Gott zu danken? Wenn er es gewußt hat, so hat es ihn wenig|stens nicht abgehalten, seine Hilfe den neun eben so angedeihen zu lassen als dem zehnten. Aber, m. g. F., wir dürfen nun weiter gehen und sagen, er hat es nicht gewußt, nicht weil er es nicht hätte wissen können, sondern weil er es nicht wissen wollte. Er hat es nicht gewußt; denn wie würde er sich sonst gewundert haben, als der zehnte umkehrte, um Gott und ihm zu danken? Das wäre ja eine Verheimlichung gewesen dessen, was vor seiner Seele stand, oder eine Täuschung, die er dem machte, der zu ihm umkehrte. Also, m. th. F., wie wohl im Allgemeinen kundig der geistigen Natur unter den Menschen hat der Erlöser im Einzelnen nicht darnach gefragt und es nicht untersuchen wollen; er hat sich nur bestimmen lassen dadurch, daß sie alle ihr Verlangen äußerten, nur dadurch, daß sie alle bittend zu ihm kamen. M. g. F., wie können wir uns mit dem Erlöser vergleichen? Freilich ja nicht. Er hatte alles, was er zu geben vermochte aus seiner | eigenen Fülle und aus seinem eigenen göttlichen Reichthum; in ihm wohnte es, so gab er es. Es war der Wille seines himmlischen Vaters, daß er es geben sollte, und der, der nichts wollte von sich selbst thun, hatte und konnte auch keinen andern Willen [haben] als alle Kräfte und alle Segnungen, die in ihm im reichsten Maaße lagen, auszuspenden unter den Menschen; er gewährte sie aber allen, welche ihn darum anflehten. Wir, m. g. F, 21 nun] nur 13–14 Vgl. Joh 2,25

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wir haben nichts aus uns selbst; keiner vermag etwas zu geben, alle sind bedürftig; was wir haben ist nicht unser Eigenthum, sondern sein. In sofern also können wir uns nicht mit ihm vergleichen. Aber eben weil es sein ist, so sollen wir so damit haushalten und handeln, wie er selbst mit den himmlischen Gaben, die sein Vater ihm verliehen hatte, auf Erden gewirkt hat. O so laßt es uns denn in Einfalt des Herzens eben so machen wie er; auch wir sollen keinen andern Bewegungsgrund | haben als den des Verlangens der Menschen, mit denen wir leben, und unter die uns Gott gesetzt hat, das Reich des Herrn zu fördern. Was wir können, m. g. F., ist nichts anderes als denen, die dem Bunde des Glaubens und der Liebe, den der Erlöser gestiftet hat, schon angehören, dienen mit den Gaben, die wir empfangen haben, den andern aber zurufen und sie bitten an Gottes Statt, laßt euch versöhnen mit dem, in welchem die Fülle der Gottheit gewohnt hat, damit Gott die Welt durch ihn ihm selbst versöhne. Wo das Ohr nicht geöffnet ist die Stimme zu vernehmen, da kehrt sie zurück zu denen, von denen sie gekommen ist. Wo wir aber ein Verlangen darnach bemerken, da soll auch unser Eifer geschäftig sein, das Wort der Versöhnung zu reden denen, welchen wir es können. Selig der, der dabei eben so wenig erfüllt ist von jenem großen Unterschied der Menschen als der Erlöser; der wird auch mit derselben Einfalt wie er das ihm beschiedene Werk | Gottes auf Erden vollbringen. Selig der, der sich erst hernach, wenn in irgend einem Falle der Unterschied augenscheinlich geworden ist, wundert über die, welche umkehren und Gott ihren Dank darbringen in dem Namen des Erlösers; aber wenn er ihn irgend wahrgenommen hat, dadurch doch nicht aufmerksam gemacht wird, in irgend einem andern einzelnen Falle im voraus daran zu denken. Wenn wir nun aus unserer eigenen Erfahrung wissen, wie sehr uns das lässig macht in dem Werke des Herrn, wenn wir bei uns denken, von zehn, die sich an dich wenden, um durch dich mitgetheilt zu erhalten, was nicht dein ist, sondern das dir verliehene Pfund des Erlösers, werden immer neun Undankbare weggehen und den Segen, der ihnen geworden ist, vergessen, und nur Einen werden sie unter sich haben, der dankbaren Herzens gegen den Herrn umkehrt um Gott zu preisen; wenn wir, sage ich, aus unserer eigenen Erfahrung wohl wissen, wie niederschlagend und störend eine | solche Betrachtung ist: so werden wir alle einstimmen in diese Seligsprechung dessen, der, wie der Erlöser that, nicht daran denkt. Aber wird jemand sagen, unwillkürlich ist es, daß sich diese Betrachtung dem Herzen aufdringt; zu oft kehrt die unglückliche Erfahrung wieder, zu häufig zeigt sie sich, daß wenn wir noch nicht die Früchte empfangen, sondern nur die natürliche Dankbarkeit des Herzens erwartet haben für das himmlische Gut, das Erste sich in einem gewissen Grade findet, das Zweite 12–14 Vgl. 2Kor 5,20; Kol 2,9

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aber nicht. Der Erlöser, m. g. F., war auch ein Mensch wie wir und als Mensch eben diesem Unwillkürlichen unterworfen; aber wir sehen, er hat das vergessen, und die Undankbarkeit der Menschen hat ihn nie lässig gemacht. Ach wie oft unter denen, zu denen er das Wort vom Reiche Gottes gebracht hat, wie oft mag nicht etwa unter zehn nur einer gewesen sein, sondern unter hunderten nur einer, der wieder umkehrte und Gott dankend sich zu seinen Füßen niederwarf! Aber nie hat er deshalb aufgehört seinen Beruf zu erfüllen, und immer mit gleicher Freudigkeit. | Was ihn dazu menschlicher Weise in den Stand setzte, das, m. g. F., muß auch uns dazu verhelfen; und was anders als dies, wie es auch einer seiner getreusten und eifrigsten Apostel sagt, dem sich eben so oft in seinem Leben diese traurige Erfahrung wiederholt hat, und der auch im Eifer für das große Werk des Herrn nie still stand bis an seinen Tod, den ihm der Herr um seines Namens willen bestimmt hatte, wenn der sagt: „ich vergesse, was da hinten ist; und strecke mich zu dem, was da vorn ist.“ Das, m. g. F., gilt nicht nur von dem, was der Mensch an sich selbst thut und arbeitet, sondern es gilt auch und muß gelten vorzüglich von demjenigen, was wir alle in unserem gemeinsamen christlichen Beruf leisten. Immer vergessen, was hinten ist, und sich strecken nach dem Herrlichen und Gottgefälligen was vor uns liegt, und wozu der Mensch Gottes geschickt sein soll, dazu alle Kräfte benutzen, die uns | der Herr verliehen hat, und die allein seine Allmacht zusammenhalten kann, ja dazu alle Werke, die wir schon durch die Gnade Gottes vollbracht haben, vergessen, weil es immer etwas Neues, was unsere Kräfte in Anspruch nimmt, zu thun giebt für diejenigen, die nichts anderes wollen als den Willen Gottes thun. Sehen wir immer nur auf das, was wir als Arbeiter in dem Weinberge des Herrn zu thun haben, vergessen wir nicht fleißig unser Auge zu werfen auf diejenigen Theile des göttlichen Reiches auf Erden, in denen sich noch vorzüglich die Gnade Gottes verherrlichen kann durch das treue Wirken seiner Diener: o dann werden die Gedanken, welche die Vergangenheit bringt, uns nicht stören, dann wird uns was in früherer Zeit geschehen ist, eben so wenig abhalten und einschränken wie den Erlöser. Und sollten wir denn nicht Gott danken, m. g. F., daß das Verhältniß immer noch dasselbe ist? Immer noch werden alle Kräfte der Gläubigen in Anspruch genommen, um das Reich | Gottes theils in sich selbst immer mehr zu befestigen und immer herrlicher zu schmücken, theils nach außen hin immer weiter zu verbreiten; und wir haben noch nicht nöthig unsere Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Vergangenheit zu richten. Vorn hat Gott das menschliche Auge gesetzt, und wie leiblich so auch geistig sollen wir nach vorn sehen. Sehen wir das Feld reif zur Ernte und alle Kräfte, die der 24 nichts] nicht 14–15.18–19 Vgl. Phil 3,13

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menschliche Geist empfangen hat, in Thätigkeit zu dem heiligen Geschäft: so werden wir von selbst vergessen, was da hinten ist, und uns strecken nach dem, was da vor uns liegt. Wie aber vorher, m. g. F., die Kenntniß, die auch der Erlöser aus seiner Erfahrung hatte von jenem großen Unterschied unter den Menschen, ihn so wenig hemmte, daß auch in einem einzelnen Falle er sich hernach darüber wunderte, daß von den zehn nur einer umgekehrt war: so, m. g. F., sollen auch wir durch jene Erfahrung im Einzelnen nie gestört werden, son|dern immer unsern Brüdern das Beste zutrauen, und uns freilich wundern, wenn unter zehn nur Einer wirklich umkehrt und Gott seinen Dank darbringt, aber auch dieser Fall soll uns nicht hindern, immer wieder aufs neue zu wirken in demselben guten Vertrauen. – Aber noch eins ist es, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen in der Betrachtung des Erlösers. Der Eine, welcher umkehrte sagte Gott seinen Dank für die von ihm erhaltene Wohlthat, aber er that es da, wo er den Erlöser antraf, und er warf sich dann auch zu seinen Füßen nieder, um ihm zu danken. Der Erlöser aber, was sagt er und wie drückt er seine Verwunderung aus? „Ist unter den zehn nur Einer, der umgekehrt ist und Gott die Ehre giebt?“ An den Dank, der ihm selbst wurde, dachte er nicht, sondern nur das zog seine Aufmerksamkeit auf sich, daß das richtige Verhältniß zu Gott, | der Quelle alles Guten, sich nur in dem Einen ausgedrückt hatte. Wenn wir, m. g. F., schon vorher sehen, inwiefern wir uns mit dem Erlöser gar nicht vergleichen können, so gewiß hier, und hier noch weit weniger. Denn was kann uns für Dank gebühren, die wir nichts thun, wenn wir alles gethan haben, als auf der einen Seite das, was wir zu thun schuldig sind, und auf der andern Seite nichts als fremdes Gut vertheilen und nach dem Willen des Herrn und Besitzers damit haushalten. Darum, m. g. F., sollte es wohl ganz überflüssig sein, ein Wort der Ermahnung darüber zu sagen, daß auch wir noch viel weniger Anspruch machen sollen auf einen Dank, der uns etwa gebühre, uns darüber zu wundern, wenn er ausbleibt, oder uns freuen, wenn wir ihn empfangen. Nur zu sehr, m. th. Freunde, verunreinigen wir ein jedes Werk der christlichen Liebe, wenn auch nur im | geringsten eine solche Rücksicht dabei ist. Ja wenn sie uns auch nicht von Anfang bestimmt, aber hernach einen bedeutenden Einfluß auf die Neigungen unseres Gemüths hat, uns mißmuthig macht, wenn die Menschen nicht genug erkennen den großen Vortheil, den sie haben an dem Gut, das ihnen geworden ist: so kann das nicht anders als nachtheilig auf uns wirken. Aber, m. g. F., wie ungerecht ist es auch; wie wenig können wir bestimmen, was wir gethan haben; was wirkt doch alles mit auf die menschliche Seele und macht sie geschickt unsern Einfluß aufzunehmen; wie vieles kommt uns zu Hilfe, um aus geringen Anstrengungen unserer Kräfte etwas Gutes und Schönes zu bewirken. Können wir, was nur irgend auf diese Weise geschieht 2–3 Phil 3,13

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in unserem Verhältniß zu den Seelen unserer Brüder, können wir das unseren Thaten zuschreiben? Gewiß nicht; und eben deshalb, weil wir unsern An|theil daran nicht auszuscheiden vermögen, sind wir viel weniger berechtigt Dank zu fordern als der Erlöser. Der wußte es, daß die Kraft, durch welche jene Leidenden geheilt wurden, von ihm ausgegangen war; wir aber vermögen nicht zu unterscheiden, was seine Kraft in uns und durch uns wirkt, von dem, was sie in andern wirkt. Und wie es nichts Großes und Gutes giebt, wozu nicht viele mitwirken müssen, so soll jeder seinen Antheil verlieren an das Ganze, und ihn nicht ausscheiden und erkennen wollen in seinem Unterschiede von andern, und nicht einen Dank dafür verlangen; denn nur Einem gebührt Dank, dem von welchem alle gute Gaben kommen. Aber sollen wir uns dabei begnügen lassen, wenn die Menschen Gott preisen und danken? soll es uns nicht eben so wichtig sein, daß sie dem [Erlöser] ihren Dank darbringen? wäre das nicht eine Gleichgiltigkeit gegen ihn, die wir nicht verantworten | können? und sind wir nicht in einem andern Verhältniß als er war? Er bedurfte des Dankes nicht und würde den Erfolg seiner Bemühung übersehend sich eben so darüber gefreut haben, wenn der, den er geheilt, nur Gott gedankt und Gott die Ehre gegeben hätte, als wenn er sich zu seinen Füßen niederwarf und ihm dankte. Wir aber sollen auch auf den Preis des Erlösers bedacht sein, und das soll unsere Freude sein, wenn Gott gepriesen wird in Christo dem Herrn. Ja, m. th. F., so ist es. Aber laßt uns bedenken, daß niemand zum Vater kommt, es sei denn durch den Sohn, und daß in dem Gebiete, wo das Evangelium verkündigt wird und gehört, in dem Gebiete, wo der Erlöser genannt wird und verherrlicht, daß es da keinen aufrichtigen Preis Gottes giebt als nur in Christo unserem Herrn. Wenn also unsere Brüder für die geistigen Wohlthaten, die sie genießen, Gott danken, aber den | Erlöser vergessen: o so muß uns das zu einem neuen und stärkern Antriebe dienen, ihnen den zu verkündigen, ihnen das fühlbar zu machen, daß auch sie Gott nur danken können durch ihn, daß auch ihre freudige Erkenntniß Gottes, ihres Vaters im Himmel durch ihn kommt, und daß er das Werkzeug ist, durch welches Gott alle Wohlthaten ihrem Leben zufließen läßt. So laßt uns nicht müde werden in dem richtigen Wandel vor Gott durch den Erlöser unserem christlichen Beruf nachzugehen, damit ein desto lebendigeres und kräftigeres Werk daraus entstehe, und immer mit inniger Liebe an denen hängen, die in Gefahr sind den Vater zu verlieren, weil sie ihn nicht erkennen und haben wollen durch den Sohn. Aber in freudiger Dankbarkeit des Herzens knüpfe sich auch das Werk christlicher Liebe, die Stimme des Glaubens, der mit der Kraft der eignen Erfahrung die Seelen dem Erlöser | zuzuführen sucht. Wo 21 Ja,] Ja. 22–23 Vgl. Joh 14,6

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wir finden eine Neigung Gott zu danken, o da wird es nicht fehlen Gott zu erkennen und fühlbar zu machen, daß wir ihn nur verherrlichen können in seinem Sohne und durch ihn. Und so laßt uns in dem Erlöser Gutes thun und nicht müde werden. Aber es giebt kein anderes Gutes als das Heil, welches der Erlöser den Menschen gebracht hat, daß wir sie seinen Namen verherrlichen machen und sie im Glauben und in der Liebe zu ihm befestigen. Und möge es dann viel oder wenig sein, wovon wir sagen können, daß diese göttliche Kraft in ihnen Platz nimmt und ihre Seelen läutert und beseligt: für alles laßt uns Gott dem Herrn danken um des Glaubens willen, daß aus wenigem viel wird, so nur die, welche über weniges gesetzt sind, treu sind, damit immer mehr könne geschafft werden im Reiche Gottes. Amen.

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[Liederblatt vom 8. September 1822:] Am 14. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Ich habe gnug; mein Herr ist Jesus Christ, / Mein Herr ist er allein; / Wer nur sein Knecht und treuer Jünger ist, / Darf ohne Sorge sein. / Ich will ganz meinem Gott anhangen, / Und nicht mehr nach der Welt verlangen, / So habe ich gnug. // [2.] Ich habe gnug; ich bin der Sorgen los / Und kränke nicht mein Herz; / Ich bin vergnügt, und siz’ in Gottes Schooß, / Der lindert allen Schmerz. / Ich sorge nicht mehr für mein Leben; / Der Höchste kann mir alles geben: / Ich habe gnug. // [3.] Ich habe gnug, und sorge für den Geist, / Das Andre fällt mir zu: / Nur Gottes Reich, das Jesus suchen heißt, / Das giebt mir wahre Ruh. / Ich trachte nur des Vaters Willen / In Kraft des Geistes zu erfüllen, / Drum hab ich gnug. // [4.] Ich habe gnug; ich lieg an Jesu Brust / Und stille da mein Herz; / Was will ich mehr? das giebt mir Himmelslust, / Durchsüßet meinen Schmerz. / Im Vorschmack weiß ich schon auf Erden / Was mir im Himmel einst soll werden; / Ich habe gnug. // Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] O daß ich Gott erkennen lernte / Und wandelte den Weg des Rechts! / Daß ich vom eitlen mich entfernte, / Denn ich bin göttlichen Geschlechts. / Der Herr ist über alle Schäze, / Er ist und bleibt das höchste Gut; / Und wenn ich mich an ihm ergöze, / So fühl’ ich, wo man sicher ruht. // [2.] Denn was hier herrlich scheint auf Erden, / Ist wie ein Rauch, der schnell vergeht; / Ein Reichthum, der geraubt kann werden, / Ist Lust die nur im Traum besteht. / 5 welches] welcher 3–4 Vgl. Gal 6,9

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Ein solcher Schaz wird nicht besessen, / Und solcher Trost schwächt nur den Muth; / Die irdische Freud ist leicht vergessen, / Gott aber ist ein ewges Gut. // [3.] Und dieses Gut ist lauter Liebe, / Dies rufet alle Kreatur. / Gott schuf in heißem Liebestriebe / Die ganze herrliche Natur. / Sie soll zu ihm hinauf uns ziehen, / Uns Zeuge sein von seiner Kraft, / Vor der das Dunkel muß entfliehen, / Die alles aus dem Nichts erschafft. // [4.] Durch Lieb allein ward er bewogen, / Daß er uns arme Menschen schuf, / Und als die Sünd’ uns ihm entzogen, / Uns wieder rief mit gnädgem Ruf. / So, Seele, sucht er auch noch heute, / Wie er mit Liebe dich umfah; / Schenkt gern dich seinem Sohn zur Beute, / Und bleibt dir dann in Gnaden nah, // [5.] Er überschüttet dich mit Segen, / Er speiset dich mit Himmelsbrodt; / Er ist dein Licht auf deinen Wegen, / Und führt dich mächtig aus dem Tod. / Er tränkt dich aus den Lebensbächen, / In Nöthen stehet er dir bei, / Im Kreuz wird er dir Heil versprechen, / Und stets bleibt seine Liebe neu. // [6.] O Seele, die dies Gut darf schmecken, / Und seine Kraft erfahren hat; / Laß immer stärker dich erwecken / Und such’ es eifrig früh und spat: / O ringe drum mit heißen Thränen, / Nichts halte dein Verlangen auf, / Beginne stets mit neuem Sehnen, / Nichts locke dich vom rechten Lauf, // [7.] Kein Kreuz und keine Lust soll stören / Die Liebe zu dem ewgen Gut; / Nein, alles muß die Glut vermehren / Und stärken unsern Glaubensmuth, / Uns mehr und mehr zum Himmel treiben, / Der Andacht Feuer fachen an, / Uns Christo inn’ger einverleiben, / Der unsre Seelen sich gewann. // Nach der Predigt. – Mel. Hier legt mein Sinn etc. [1.] Stärk in mir Glauben, Hofnung, Liebe, / Und gieb daß ich sie thätig übe, / Daß ich entfernt von Heuchelei, / Ein wahrer Jünger Jesu sei. // [2.] Gieb daß ich so auf dieser Erde / Des Christen Namens würdig werde, / Und wirk in mir zu deinem Ruhm / Das ächte wahre Christenthum. //

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19. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,1–3 Nachschrift; SAr 102, S. 486–514; Andrae SW II/10, 1856, S. 612–624 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 61, Bl. 152r–155v; Woltersdorff Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis 1822, am dreizehnten Weinmonds | Tex t. Philipper III, 1–3 Weiter lieben Brüder freuet euch auch in dem Herrn! Daß ich euch immer einerlei schreibe verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser. Sehet auf die Hunde, sehet auf die bösen Arbeiter, sehet auf die Zerschneidung. Denn wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu, und verlassen uns nicht auf Fleisch. M. g. F., die eben verlesenen Worte des Apostels: „daß ich euch immer einerlei schreibe, verdrießt mich nicht, und macht euch desto gewisser“, sind ausnehmend tröstlich für einen christlichen Lehrer des göttlichen Wortes. Denn wenn er den ganzen Umfang seines Berufs bei sich selbst erwägt, so kann er nicht umhin an das Wort desselben Apostels zu denken, welches er in einem andern Briefe zu einer christlichen Gemeine sagt: „ich rufe Gott zum Zeugen | und danke ihm dafür, daß ich euch nichts verhalten habe von dem Worte des Lebens, sondern habe euch alles mitgetheilt, was mir der Herr gegeben.“ Nach diesem Maaße soll ein jeder Lehrer des göttlichen Wortes es messen, und es bedarf des Zeugnisses von Gott, daß er seinen Brüdern, die ihm anvertraut waren, nichts verhalten habe von dem Worte des Lebens, sondern ihnen alles mitgetheilt. Wie können wir aber das eben bei dem unendlichen Reichthum des göttlichen Wortes, bei der unerschöpflichen Fülle göttlicher Weisheit, die darin liegt, über welche der Apostelebenfalls in einem andern Briefe erstaunt, wenn er ausruft: „o welch eine 15–18 Vgl. Apg 20,26–27

24–1 Vgl. Röm 11,33

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Fülle und Tiefe der Weisheit und der Erkenntniß Gottes!“ Da kommt nun, m. g. F., dieses Wort des Apostels und tröstet uns: „daß ich euch immer einerlei schreibe, oder daß ich immer einerlei zu euch rede – denn das ist wohl gewiß dasselbe – | verdrießt mich nicht und macht euch desto gewisser.“ Denn was ist doch der ganze Zweck aller christlichen Lehre und aller Auslegung des göttlichen Wortes? Es wird ja nur an solche gerichtet, deren Herz von der göttlichen Gnade schon ergriffen ist. Denn wir sehen uns hier und versammeln uns und unterreden uns mit andern als solche, die da bekennen den Namen des Herrn zu verkündigen. Aber daß das Herz fest werde, das ist ein köstliches Ding; das ist der große Zweck, der bei allen erreicht werden soll, daß wir nirgends mehr wanken und ungewiß seien; sondern das Herz ganz gewiß werde, daß wir nicht mehr bewegt werden von einem jeden Winde der Lehre oder der sinnlichen menschlichen Lust, sondern fest und unwandelbar stehen auf dem Einen Grunde, den Gott selbst durch seinen Sohn gelegt hat. Wenn nun dies erreicht werden kann dadurch, daß immer einerlei | geredet und geschrieben wird, nun so dürfen wir uns wohl kein großes Bedenken darüber machen, ob wir auch unseren Brüdern irgend etwas verhalten haben von dem Worte des Lebens. Aber ist denn nun diese ruhige Zuversicht des Apostels, mit welcher er die Worte unseres Textes ausspricht: „daß ich euch immer einerlei schreibe verdrießt mich nicht, und macht euch desto gewisser“, und jene gleichsam ängstliche Selbstprüfung, die jeder Lehrer des göttlichen Wortes mit sich anzustellen hat bei tausend Veranlassungen, und wovon er das Ergebniß mit den Worten ausspricht: „ich rufe Gott zum Zeugen und danke ihm, daß ich euch nichts verhalten habe von dem Worte des Lebens“, ist dies beides mit einander im Widerspruch? Das können wir uns wohl nicht denken; aber das eine fordert uns auf, auf das andere zu sehen und beides | mit einander auszugleichen. Das Wort des Lebens, m. g. F., das ist freilich nur Eins; es ist die Stimme, welche dem Menschen sein Verhältniß zu Gott aufdeckt und kund thut, und das kann nicht anders als einfach sein, wie das höchste Wesen selbst einfach ist. Aber der Mensch im Gewirre des irdischen Lebens, welches sich so unendlich zerspaltet und zertheilt, bedarf immer wieder auf dieses Wort des Lebens zurückgeführt zu werden, und das kann nicht anders geschehen als von dem aus, was ihn eben bewegt, und in Beziehung auf das Einzelne in seinem Leben, wozu das göttliche Wort ihn eben auffordern soll. Dieses nun Alles zu ergreifen, alles, was die Seelen der Gläubigen bewegen kann, dazu zu benutzen, um sie immer wieder auf das Wort des Lebens zurückzuführen, und das Eine und | ungetheilte Wort des Lebens auf alles anzuwenden, was zur richtigen Benutzung der Gaben gehört, für welche alle Chri25 nichts] so SW II/10, S. 613; Textzeuge: nicht 24–25 Vgl. Apg 20,26–27

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sten Gott, dem Herrn, Rechenschaft schuldig sind, das ist die Sorge dessen, der ihnen das göttliche Wort zu verkündigen hat, in Beziehung auf die Mannigfaltigkeit und den Umfang seiner Darstellung. Aber was ist denn nun, m. g. F., das Eine, und wie muß wohl ein solches beschaffen sein, welches immer zu wiederholen und immer dasselbe zu reden den, der da redet, nicht verdrießt, und den, der da hört, immer fester und gewisser macht? Der Apostel der drückt es aus mit den vorhergehenden Worten – denn auf die geht diese Rede – „weiter lieben Brüder, freuet euch in dem Herrn“; und er wußte so gewiß, daß dies das Eine sei, welches er in verschiedenen Gestalten immer wiederholte, | und war so fest davon überzeugt, daß es weder ihn verdrieße, es immer von neuem zu reden, noch seinen Hörern jemals zu irgend etwas anderem gereichen könne, als zur Befestigung des Herzens: daß er bald darauf in dem folgenden Kapitel desselben Briefe das Nämliche schreibt: „freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich, freuet euch“; so wenig kann er es genug haben. Von dem Apostel Johannes wird uns erzählt von denen, die ihn noch in den spätesten Tagen seines Lebens gekannt haben, daß als er eben schon hinfällig gewesen, und sich wegen Alterschwäche dem öffentlichen Dienst der Lehre in der Gemeine habe entziehen wollen, er von der Gemeine angegangen sei, daß er ihr doch das Wort der Lehre und der Ermahnung nicht verhalten möge. Da habe er sich denn stets in die gottesdienstlichen Versammlungen tragen lassen und sich da | immer auf das Eine zurückgezogen und den Anwesenden die Worte zugerufen: „Kindlein, liebet euch unter einander.“ Und als ihn einer von den Zuhörern gefragt, warum er denn aus dem reichen Schatz seiner Weisheit und Erfahrung und seines Umganges mit dem Erlöser und seiner Beschäftigung mit dem göttlichen Wort diesen Zuruf unablässig wiederholte, und nichts anders sage als das Eine: „liebet euch unter einander“: da habe er geantwortet, das sei das neue Gebot, welches uns der Herr gegeben hat, daß wir uns unter einander lieben sollen, wie er uns geliebt hat; und werde das erfüllt, so sei es genug. Ist denn nun das Eine des Apostels Johannes: „Kindlein, liebet euch unter einander“, so wie er es erklärt, und das Andere des Apostels Paulus: „freuet euch in dem Herrn“, ist dies beides Eins und dasselbe? und ist beides ein solches, von welchem man | mit gewisser Zuversicht sagen kann, daß es niemals den Redenden verdrießt, und daß es den Hörenden immer gewisser macht? 14–15.32–33 Phil 4,4 15–30.31 Die Legende findet sich erstmals bei Hieronymus, comm. in Gal. III, 6,10: “Beatus Iohannes Evangelista, cum Ephesi moraretur usque ad ultimam senectutem et vix inter discipulorum manus ad ecclesiam deferretur nec posset in plura vocem verba contextere, nihil aliud per singulas solebat proferre collectas nisi hoc: ‘Filioli, diligite alterutrum’; tandem discipuli et fratres qui aderant taedio quod eadem semper audirent dixerunt: ‘Magister, quare semper hoc loqueris?’ qui respondit dignam Iohanne sententiam: ‘Quia praeceptum Domini est et si solum fiat, sufficit’.” Auf welche Quelle Schleiermacher rekurriert, ist unklar.

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Fragen wir uns zuerst, wie muß denn ein solches beschaffen sein, was den Redenden nie verdrießt, so oft er es auch wiederholt? so müssen wir freilich sagen: Wenn das Gemüth des Menschen auf Mannigfaltiges gerichtet und vielfach angeregt ist: so muß es ihn verdrießen immer dasselbe zu wiederholen; ungern kann er dann nur bei Einem bleiben, sondern wie eben seine Empfindungen mancherlei Art sind, so treibt eine innere Lust und ein inneres Verlangen seine Gedanken von dem Einen auf das Andere; das Eine verdrießt ihn, und läßt ihn unbefriedigt, aber das Mannigfaltige allein ergötzt ihn und erfüllt ihn mit dem Gefühle der Sättigung. Und eben so ist es in Beziehung auf diejenigen, die des Zuspruchs und der Lehre bedürfen. | Wenn das Leben auf eine mannigfaltige Weise vor ihnen liegt; wenn sie sich in diese oder jene Verhältnisse verwickelt sehen, wo es darauf ankommt mit Weisheit und Überlegung zu handeln; wenn mancherlei Schicksale sie ergreifen und ihr Inneres dadurch vielseitig beschäftigt ist, und sie gehen dahin, wo sie Rath und Belehrung verlangen: so verdrießt es sie dasselbe immer wieder zu hören, statt den einzelnen Erregungen ihres Gemüthes begegnet zu sehen und auf die vielfachen Fragen, die sie bei sich selbst aufgeworfen haben, eine Antwort zu erhalten. Wenn aber, m. g. F., das Herz nur Eines voll [ist]: dann kann es auch nur von dem Mannigfaltigen auf das Eine übergehen, und thut dies ohne Verdruß und ohne Ermüdung. Und wenn das ganze Verlangen des Herzens nur auf Einen Gegenstand gerichtet ist: o so will es auch immer nur | von diesem Einen hören, so will es sich immer tiefer in denselben versenken und in ihm immer fester werden. Was also so beschaffen ist, daß Alles Andere darin liegt, daß Alles sich darin wiederfindet und daraus entwickelt werden kann, das ist ein solches, was immer zu wiederholen doch nicht verdrießen kann den, welcher redet, und wodurch, wenn es auch noch so oft wiederholt wird, das Herz dessen immer fester und gewisser wird, der es hört. Was aber nur Eins ist von dem Vielen und Mannigfaltigen, worin sich die Bestrebungen der Menschen theilen, das bedarf eben deswegen von dem Andern abgelöst zu werden, und hat seinen Werth nur im Wechsel. Wie erscheint uns nun, wenn wir diesen Maaßstab anlegen, das Eine des Apostels Paulus und das Eine des Apostels Johannes? und wie verhält es sich zu einander? daß nun beides Eins und dasselbe ist, kann uns leicht dünken. Denn indem sich der Apostel Jo|hannes auf das neue Gebot des Herrn berief, das er seinen Jüngern gegeben hat, daß sie sich unter einander lieben sollen, wie er sie geliebt hat: so mußte er darauf den höchsten Werth legen, daß wenn er sagte: „Kindlein, liebet euch unter einander“, er nicht diese oder jene selbstsüchtige und vorübergehende menschliche Liebe meinte, sondern wie der Herr sagt: „liebet euch, wie ich euch geliebt habe“, nur die reine und göttliche Liebe des Erlösers zu allen Menschen darunter verstand. Wie ist es aber möglich, daß 35–36.39–40 Vgl. Joh 13,34; 15,12

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wir unsere Brüder lieben können, wie der Herr uns geliebt hat, wenn nicht in jedem diese Liebe zu den Brüdern die höchste und herrlichste Freude seiner Seele ausmacht? Ob also der Apostel Johannes im wahrsten und umfassendsten Sinne des Wortes sagt: „Kindlein, liebet euch unter einander“, oder ob der Apostel Paulus sagt: „weiter lieben Brüder, freuet | euch in dem Herrn“, so ist beides dasselbige. Denn die rechte Liebe der Christen unter einander kann sich nur darauf gründen, daß das Herz sich freue seines Heiles, daß das Gemüth des Menschen erfüllt sei von der erlösenden Liebe Christi, und sich immer weiter in dieselbe verliere und immer mehr an ihr sättige; sie kann in nichts Anderem ihre Sicherheit finden, diese Liebe der Christen unter einander, als daß wir uns auf dem Grunde jener innigen Freude in der Erhebung über alles Einzelne und Vergängliche mit Christo verbinden, der uns zu Gliedern seines Leibes berufen hat. Dann werden wir verklärt aus einer Klarheit in die andere, und der Abglanz des göttlichen Wesens, den die gläubige Seele in dem eingeborenen Sohne des Vaters schaut, verbreitet sich dann auch über uns, die von seiner Liebe erfüllt sind, und die er würdigt seine Brüder zu nennen, und strömt auch aus in | alle diejenigen, welche er gekommen ist selig zu machen, und die mit uns Erben seines Reiches sein sollen, und wie Christus die Liebe ist und als der Abglanz der göttlichen Herrlichkeit nichts anders sein kann als die Liebe des ewigen Vaters selbst, so werden wir auch durch diesen Abglanz der Herrlichkeit des göttlichen Wesens geführt zu der Liebe Christi. Das ist die Freude des Christen an dem Herrn, wie sie ruht allein auf der unendlichen Fülle der Erlösung, die uns durch Christum geworden ist; und in der Fülle dieser Einen liegt schon die Fülle alles Anderen, was uns theuer und werth sein kann, und entwickelt sich daraus von selbst. Und so kann es geschehen, wie auch das Wort der Erlösung, das Wort der Belehrung, das Wort der Stärkung und Beruhigung aus dem göttlichen Worte an uns ergeht, daß wir uns unter einander lieben mit der erlösenden Liebe des Herrn: so wird ja jeder Einzelne bewegt | von alle dem, was auch das Herz seiner Brüder bewegt; und indem ihm nur vor Augen steht, daß er in dem ganzen Umfange seines Berufes erfunden werde als ein treuer Haushalter der Gaben, die er empfangen hat, und als ein rechtschaffener Diener Christi, so muß ihm damit zugleich auch vor Augen stehen, was der Herr von seinem Bruder, den er neben ihn gesetzt hat zum Arbeiter in seinem Weinberge, fordert; und so ergießt sich die Freude seines Herzens an dem Herrn, die er als den Mittelpunkt seines Daseins erkennt und empfindet, über das ganze menschliche Leben, immer wieder zurückkehrend zu dem Einen, was uns nie verdrießt zu verkündigen und das Herz der Hörer immer fester und gewisser macht. 10 finden,] Ergänzung aus SW II/10, S. 617 4–5 Hier., comm. in Gal. III, 6,10

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Wie nun, m. g. F., der Apostel indem er den Christen zurief: „freuet euch in dem Herrn“, auch gedacht hat an das göttliche und vollkommene Gebot der christlichen Liebe, und bei diesem Zuruf darauf bedacht gewesen ist, daß diejenigen, die sich an dem Herrn freuen | mögen, auch ihre Freude offenbaren sollen in ihrem ganzen Leben durch treue Erfüllung des göttlichen Willens in unermüdetem Arbeiten an dem Werke Gottes, das sehen wir aus den folgenden Worten, indem er fortfährt: „sehet auf die Hunde, sehet auf die bösen Arbeiter, sehet auf die Zerschneidung; denn wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu und verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Das erste von diesen Worten, m. g. F., hart klingend und die Christen gradezu ablenkend von dem Gegenstand ihrer Freude auf das, was ihr entgegengesetzt ist, kann uns freilich in diesem Zusammenhang Wunder nehmen. Wenn der Apostel gleich das zusammengefaßt hätte, freuet euch in dem Herrn, denn ihr seid durch ihn das wahre priesterliche Geschlecht, das wahre im Geiste auserwählte Volk Gottes, weil ihr nach der Anweisung des Herrn Gott im Geiste dient und euch nicht auf Fleisch verlasset, sondern euch von Christo Jesu rühmet: so würden | wir dabei ein ganz reines Gefühl haben. Aber nun, nachdem er uns kaum das Erste vor Augen gestellt hat, lenkt er unsere Aufmerksamkeit ab von dem Gegenstand der Freude auf etwas, was uns verdrießt, indem er sagt: „sehet auf die Hunde, sehet auf die bösen Arbeiter, sehet auf die Zerschneidung.“ Und wie kann doch der Apostel, indem er auf den Gegenstand der Freude kommt, eine solche harte Rede gebrauchen, die das Milde, was er kurz vorher ausgesprochen hat, gar nicht schont? Und doch, m. g. F., müssen wir uns das nicht verdrießen lassen. Wenn der Apostel sagt: „freuet euch in dem Herrn allewege“, so sehen wir, es ist dasselbe als was er nachher sagt: „rühmet euch Christi Jesu.“ Wenn er nun das sagt, so muß er auch das im Auge haben: rühmet euch Christi allein und keines andern. Wenn er nachher sagt: „wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu, und verlassen uns nicht auf Fleisch“ – und das konnte er nicht anders als indem | die christliche Kirche getrübt wurde von solchen, die freilich dem Evangelio anhingen, aber doch nicht aufhören wollten sich auf Fleisch zu verlassen; so wie auch auf der andern Seite angesteckt von solchen, denen das Evangelium ein Ärgerniß war und eine Thorheit – wenn er also das sagt, so mußte er auch auf diejenigen sehen, denen die Freude an dem Herrn entweder ganz fehlte, oder bei denen sie doch gestört war auf eine unwürdige Weise. Und je mehr nun diese Einfluß hatten auf die christliche Kirche, desto 1 der Apostel] Ergänzung aus SW II/10, S. 618 26 Phil 4,4

3 darauf] Ergänzung aus SW II/10, S. 618

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mehr mußte sich an das Wort der Freude, das Wort der Warnung anschließen. Was aber das Wort der Warnung betrifft, so schwebte dem Apostel dabei ein Wort aus dem Propheten Jesaias vor, welches der Herr bei dem allgemeinen Verderben und in dem tief gesunkenen Zustande des jüdischen Volkes durch den Mund des Propheten diesem Volke zurufen läßt: „ihre Wächter sind blind, stumme Hunde sind sie, | die liegen und schlafen“, das heißt solche, die sich nicht rührten, die keinen Finger in Bewegung setzten für das allgemeine Wohl, und die nicht im Stande waren, denen Schutz zu bereiten, welche der Herr an sie gewiesen hatte. So mußten dem Apostel in seiner Zeit alle diejenigen erscheinen, denen die Gefahren des beginnenden Reiches Gottes auf Erden gleichgiltig waren; und indem er sagt: „freuet euch in dem Herrn“, so mußte er auch sagen: freuet euch nicht an denen, die seinen Namen mit den Lippen bekennen, aber denen alles gleichgiltig ist, was sein Reich unter uns stört oder wohl gar zu verwüsten droht, obgleich es ihr Beruf ist, darüber zu wachen, daß dasselbe sich immer fester gründe. Und eben so, wie wir uns an dem Herrn nicht freuen können, ohne uns unter einander mit seiner Liebe zu lieben und das Reich Gottes mit gemeinsamen Kräften zu bauen: wie konnte er dabei anders als derer ge|denken, die schlechte und träge Arbeiter sind in dem Weinberge des Herrn, und eben deshalb, weil sie nicht mit ihm sammeln, gewiß nur zerstreuen? Er konnte nicht anders als indem er den Christen zurief: „freuet euch in dem Herrn“, sie auch auf dasjenige aufmerksam machen, was diese Freude ihres Herzens zu stören oder zu verringern vermochte, und wovor sie sich hüten mußten, wenn sie diese Freude rein und ungetrübt genießen wollten, wie der Herr es ihnen zugedacht hatte. Aber wir können ja das nicht anders glauben, als indem wir, eben weil der Apostel diese Worte auf jene folgen läßt, auch noch die ganze Kraft von jenen in diese hineinlegen, wie sie im Gegensatz gegen die reine und schützende Freude dessen, der sich an dem Herrn freut, und darin einen guten Grund seines Lebens hat, strenger diejenigen hervorheben, welche faule Hunde sind, und die, welche von dieser Freude nicht erfüllt sind. Denn weil die Freude das Herz gewiß macht, so regt sie eine | feste und große Zuversicht in demselben auf. Wer sich des Herrn freut, der ist dessen gewiß, daß Gott ihm einen Namen gegeben hat, der über alle Namen ist; und so sieht er mit gutem Muth und mit fester Zuversicht auch auf alles, was dem Reiche Gottes Gefahr droht, und indem er es sieht, hat er schon im voraus seine Freude an dem Herrn, der früher oder später in der Kraft der Liebe, die von ihm ausgeht, und die eine Gewalt ist, welche Gott demjenigen verliehen hat, dem alle Gewalt gegeben 26 indem wir,] Ergänzung aus SW II/10, S. 620 6 Vgl. Jes 56,10 Mt 28,18

20–21 Vgl. Mt 12,30

33–34 Vgl. Phil 2,9

38–1 Vgl.

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ist im Himmel und auf Erden, das Böse mit Gutem überwinden, und an die Stelle der faulen Arbeiter gute setzen, und sie erfüllen werde mit der Kraft der Weisheit und der Zuversicht, die in ihm ist. Und diese Zuversicht läßt keinen Haß aufkommen in unserer Seele und bewahrt uns, daß wir auch alles Böse nur so gebrauchen um es mit Gutem zu überwinden, wie sehr es uns auch bange macht, und erhebt uns | zu dem Gefühl, daß es denen, die das Reich Gottes zu zerstören suchen, doch nicht gelingen wird, die Kraft der Liebe und das volle Gefühl des Glaubens an den Erlöser der Welt in dem Herzen derer zu schwächen, die seinen Namen bekennen. Und darum fährt der Apostel auch in einer solchen Freude fort: „so sind wir nun die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu, und verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Wir alle, wie auch die alten Propheten schon sagen – das Gott geweihte Volk muß beschnitten sein an Herzen und Ohren, es muß das Zeichen der Weihe empfangen haben im Innern der Seele, und zwar nicht nur diejenigen, welche das Wort Gottes aufnehmen, sondern auch die es darstellen und verkündigen in ihrem Leben – so sagt uns der Apostel: wir die wir uns so freuen, sind die wahre Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo, und verlassen uns nicht auf Fleisch. Diese Worte, | m. g. F., führen uns zurück auf etwas, was ich schon vorher ausgesprochen habe über das Verhältniß des Einen, was das Herz gewiß macht, zu der unendlichen Fülle der göttlichen Weisheit, die in dem Worte Gottes liegt. Denn wenn der Apostel sagt: „wir rühmen uns von Christo Jesu“, so setzt er dem entgegen: „wir verlassen uns nicht auf Fleisch.“ Eben dies sich auf Fleisch verlassen ist auch dem entgegengesetzt: „Gott im Geiste dienen“. Worin besteht dieser Gegensatz? Offenbar, m. g. F., alles Einzelne und Besondere, wenn es von der Einen Quelle des Lebens getrennt ist, wie schön und herrlich es auch erscheinen möge, ist nur Fleisch. Wenn der Apostel auch hier zunächst daran denkt, daß das jüdische Volk sich rühmte seiner Abstammung von den von Gott gesegneten Vätern und glaubte deshalb Ansprüche zu haben auf das Reich Gottes: so ist doch auch alles Andere, was menschlich ist, nichts als Fleisch. Verlassen wir uns auf menschliche | Weisheit: das ist Fleisch. Zählen wir her einzelne Tugenden, aber getrennt von der Wurzel des Lebens: so sind sie Fleisch und nicht Geist, und wir können uns auf sie nicht verlassen. Aber sich von Christo Jesu rühmen und Gott im Geiste dienen, das ist der Gegensatz von allem Fleisch, es ist das, was das Herz immer gewisser macht, und worin alle göttliche Gebote zusammengefaßt sind. Der Herr sagt, es werde die Zeit kommen, und sei schon jetzt, wo Gott werde angebetet werden im Geist und in der Wahrheit, das heißt, wo ihm werde gedient werden im Geiste. Und der Apostel sagt: „wir sind es, die wir Gott im Geiste dienen und rühmen uns von Christo Jesu, und verlassen uns 38–39 Vgl. Joh 4,23

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nicht auf Fleisch.“ So lange der Mensch Gott dient durch die Erfüllung einzelner Gebote und Vorschriften und Übungen, die er irgendwoher empfangen hat, so steht er unter dem Gesetz, das ihm den Dienst des Buchstabens auf|gelegt hat, und verläßt sich auf Fleisch und dient Gott nicht im Geist. Denn ein jeder solcher Dienst ist äußerlich und menschlich, und daher fern von der Wahrheit. Es ist möglich, daß er geleistet werde durch Übungen, durch eine Reihe von Thaten und Handlungen; aber das Herz bleibt dabei fern von Gott. Gott im Geiste dienen heißt innerlich von ihm erfüllt sein, das heißt ihn in unser Bewußtsein aufnehmen. Und dazu gelangen wir nur durch Christum Jesum. In dem wohnt die Fülle der Gottheit, und nur durch den wird die Gemeinschaft des Menschen mit Gott möglich. Haben wir ihn, so kommt der Vater mit ihm und macht Wohnung in unserem Herzen; und dann dienen wir Gott im Geiste. Rühmen wir uns von nichts Anderem als von der Gemeinschaft mit ihm, haben wir das Bewußtsein, daß von der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, auch etwas in uns übergegangen ist: wie können wir uns dann irgend eines andern freuen als Christi, | von dem diese eine geistige und himmlische Gabe gekommen ist? wie könnten wir uns dann etwas andern rühmen, als daß wir Eins geworden sind mit dem Vater durch ihn, was er erbeten hat für alle, die in der Welt gläubig werden möchten an ihn? wie könnten wir uns dann noch verlassen auf menschliche Weisheit und auf menschliche Tugendübungen, da aus der Einen göttlichen Lebensquelle alles, was schön ist und herrlich und gottgefällig hervorgeht, alles Einzelne aber, was für sich etwas sein will, hinfällig ist und vergänglich, und auch dasjenige ist was dem schwachen Fleisch angehört. Wohlan, m. g. F., dahin laßt uns kommen, daß wir aufhören uns auf irgend etwas anderes zu verlassen und irgend eine andere Freude in unserem Innern aufkommen zu lassen, als die sich gründet auf den Ruhm, den wir vor Gott haben: auf daß wir uns nicht anderes erfreuen als Christi, und uns von nichts anderem rühmen | als von Christo Jesu. Dann werden wir es auch nicht vermissen, daß wir nichts anderes haben, worauf wir uns verlassen können, als die Gemeinschaft mit dem Erlöser, und von keinem andern Dienste Gottes wissen als von dem, der so im Geist geleitet wird. Aber eben aus einer solchen Gemeinschaft Gottes durch Christum, aus diesem wahren und geistigen Dienst Gottes, wird sich uns dann der himmlische Vater verklären. Je mehr wir bei dem Einen verbleiben, je weniger wir uns auf Fleisch verlassen, je fester wir an dem Herrn halten; desto mehr werden wir im Stande sein, unser Leben nach dem Willen Gottes zu führen, und in dem Weinberge des Herrn, in welchen er uns gesetzt hat, als Arbeiter, nicht als träge und faule Arbeiter zu wirken, sondern als solche, zu denen der Herr 28 anderes] anders 10.14–15 Vgl. Kol 2,9

12 Vgl. Joh 14,23

18–20 Vgl. Joh 17,20–21

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spricht: „du getreuer Knecht, du bist über weniges getreu gewesen, ich will dich über vieles setzen.“ Dann werden wir ge|wiß solche sein, die weit entfernt das Reich Gottes durch Menschliches zu zerschneiden und zu zertheilen nur dahin streben, bei dem Einen zu bleiben, und die Menschen zu sammeln unter das Eine große Gebot: Kindlein, liebet euch unter einander, wie ich euch geliebt habe. Amen.

1–2 Vgl. Lk 19,17

5–6 Vgl. Hier., comm. in Gal. III, 6,10; Joh 13,34; 15,12

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Am 20. Oktober 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 22,1–14 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 102, S. 515–549; Andrae Keine Nachschrift; SAr 84, Bl. 74r–89v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 133r–133v; Gemberg (Fragment) Nachschrift; SAr 61, Bl. 157r–163r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis. 1822 | Tex t. Matthäi XXII, 1–14. Und Jesus antwortete und redete abermal durch Gleichnisse zu ihnen und sprach: Das Himmelreich ist gleich einem Könige, der seinem Sohne Hochzeit machte; und sandte seine Knechte aus, daß sie die Gäste zur Hochzeit riefen; und sie wollten nicht kommen. Abermal sandte er andere Knechte aus, und sprach: Saget den Gästen, siehe meine Mahlzeit habe ich bereitet, meine Ochsen und mein Mastvieh ist geschlachtet und alles bereitet; kommt zur Hochzeit. Aber sie verachteten das und gingen hin einer auf seinen Acker, der andere zu seiner Handthierung. Etliche aber griffen seine Knechte, höhneten und tödteten sie. Da das der König hörte, ward er zornig, und schickte seine Heere aus, und brachte die Mörder um, und zündete ihre Stadt an. Da sprach er zu seinen Knechten: Die Hochzeit ist zwar bereitet, | aber die Gäste waren es nicht werth; darum gehet hin auf die Straßen, und ladet zur Hochzeit, wen ihr findet. Und die Knechte gingen aus auf die Straßen, und brachten zusammen, wen sie fanden, gute und böse; und die Tische wurden voll. Da ging der König hinein die Gäste zu besehen, und sah allda einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Kleid an, und sprach zu ihm: Freund, wie bist du herein gekommen, und hast doch kein hochzeitliches Kleid an? Er aber verstummte. Da sprach der König zu seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße, und werfet ihn 4 sprach:] sprach.

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in die äußerste Finsterniß hinaus, da wird sein Heulen und Zähnklappen; denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.

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M. a. F., Wohl gar viele herrliche Gleichnißreden haben uns die Evangelisten aufgezeichnet, in welchen unser Erlöser von dem Himmelreich, welches zu stiften er gekommen war, und von seiner Beschaffenheit redet. Sie sind | größtentheils von zweierlei Art. In einigen nämlich nimmt er mehr Bedacht auf die Ereignisse der Verkündigung seines Wortes im Großen, auf die Begebenheiten bei der Stiftung und weitern Ausbreitung der christlichen Gemeine; bei andern aber sieht er mehr auf dasjenige, was in dem tiefsten Innersten der Seele, die zum Himmelreich geschickt gemacht wird durch den Geist Gottes, vorgeht, und wodurch sich dies von andern unterscheidet. Wenn er uns sagt, wie der Herr lauter guten Saamen gestreut, der Feind aber in der Nacht das Unkraut dazwischen gesäet, das nun mitwachsen müsse bis zur Ernte; wenn er uns sagt, wie die Fischer in ihre Netze allerlei Fische fangen, treffliche und geringe, und sie zusammenließen bis der ganze Fang vollendet wäre, dann aber setzten sie sich an das Ufer und suchten aus, die guten sammelten sie, die schlechten würfen sie in den See: so redet er in solchen von den großen Fügungen | in der Ausbreitung der christlichen Kirche und von der großen Scheidung der Menschen, die sie hervorbringt. Wenn er sagt, das Himmelreich ist gleich einem Manne, der köstliche Edelsteine suchte, und als er einen fand, da verkaufte er alles, was er hatte, und kaufte ihn: so will er uns durch dieses und ähnliche zeigen, was in dem Innersten der menschlichen Seele vorgeht, die von der göttlichen Gnade ergriffen wird und in die Herrlichkeit der Kindschaft Gottes eingeführt. Unser Gleichniß, m. g. F., vereinigt die beiden Beziehungen. Zuerst redet darin der Herr offenbar ebenfalls von allem, was sich mit dem menschlichen Geschlecht in Beziehung auf die Verkündigung seines Wortes und die Ausbreitung seines Reiches begeben werde; am Ende aber wendet er sich wieder zu dem Einzelnen, und macht uns bemerklich den Unterschied einer solchen Seele, welche die Segnungen dieses Reiches wirklich genießt, und einer solchen, die nur äußer|lich dazu berufen ist, innerlich aber noch nicht erwählt. So laßt uns denn, m. g. F., diese Gelegenheit, die uns der Erlöser in unserem Texte darbietet, nicht versäumen, auch in dieser Stunde beides mit einander und in seiner Beziehung auf einander zu betrachten, und zuerst dasjenige erwägen, was der Erlöser uns hier von den göttlichen Schickungen in Beziehung auf die Verkündigung des Evangeliums sagt, dann aber auch auf dasjenige achten, was er uns über das einzelne Gemüth, in welches die göttliche Wahrheit und die Fülle der göttlichen Gnade eindringt oder nicht, in diesem Gleichniß zu verstehen giebt.

12–14 Vgl. Mt 13,24–30

14–17 Vgl. Mt 13,47–48

20–22 Vgl. Mt 13,45–46

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I. Was nun das Erste betrifft, m. g. F., so ist der Hauptgedanke, den der Erlöser in diesem Gleichniß enthüllt, der wunderbare Rath Gottes in der Verkündigung des göttlichen Wortes und Reiches, daß diejenigen, | welche die ersten Ansprüche daran hatten, die zuerst geladen waren als Gäste des herrlichen geistigen Mahles, nicht zu demselben gelangt sind, sondern immer andere und ganz andere. Der Erlöser trat auf unter dem jüdischen Volke; aber indem er sich zunächst, sobald er sich öffentlich zu erkennen gab als denjenigen, der von Gott gesandt sei, um seinen gnädigen Rath an dem menschlichen Geschlechte zu vollenden, auf den Inhalt der heiligen Schrift berief und auf dasjenige, was heilige Männer Gottes in der Kraft seines Geistes früher vorhergesagt und geweissagt hatten von aller Zeit: so waren natürlich diejenigen, die auf diese Weise zunächst geladen waren, vorzüglich die unter dem jüdischen Volke, welche ausgerüstet waren mit einer gehörigen Kenntniß der Schrift, um zu verstehen, inwiefern die Anwendung die richtige sei, welche der Herr von den Weissagungen der Schrift machte. Indem er den ganzen Plan der Gemeinschaft, die er unter den Menschen hervorrufen wollte, | auseinandersetzte, wie sie allerdings ruhen sollte auf der einen Seite auf der Schrift, welche Gott früher offenbart hatte, und er nicht gekommen sei um diese aufzulösen, aber sie zu erfüllen, den erstorbenen Buchstaben wieder zum lebendigen Geist umzuschaffen, und von dem Äußern auf das Innere und Wesentliche zurückzuführen: so waren freilich durch diese weisen Reden seines Mundes zunächst diejenigen zum Himmelreich geladen, die sie zu verstehen vermochten, denen das Gesetz ihrer Väter bekannt war, und die auch auf der andern Seite so viel Erfahrung hatten über das menschliche Leben, so viel Beobachtung ihrer selbst, daß es ihnen leicht werden mußte, dasjenige als das Wahre und Wesentliche unter den Menschen anzuerkennen, was der Herr gekommen war zu verbreiten. Sie waren geladen – aber waren sie es, die in das Reich Gottes eingingen? Nein; sondern bald wandte sich der Erlöser zu den Zöllnern und Sündern, | zu dem großen Haufen des Volks; und von dem hing eine bedeutende Anzahl an ihm und erkannte ihn als den Propheten, der von Gott gesandt sei, um das wahre und rechte Reich Israel wieder aufzurichten. Das waren diejenigen, an welche der erste göttliche Ruf nicht ergangen war, aber weil jene sich weigerten, der Lehre und den Geboten dessen zu folgen, der ihnen erst das Geheimniß der göttlichen Gesetze und der göttlichen Rathschlüsse eröffnen wollte, so sandte der Herr seine Boten, und sie gingen selbst zu denen, die im Vergleich mit jenen erscheinen wie die armen Söhne der Erde, denen die höhern Geheimnisse verschlossen sind, und die ohne ein bedeutendes Eigenthum gleichsam auf den Straßen herumgehen, um zu suchen, wie sie ein ärmliches nicht selbstständiges geistiges 19–20 Vgl. Mt 5,17

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Dasein fristen mögen. Aber noch weiter. Als nun auch das Volk Israel sein Schicksal erfüllte, und die große Menge mißleitet von den Obern | sich erklärte den Herrn zu verwerfen, und in ihm nicht denjenigen anzuerkennen, der das Reich Gottes bauen sollte: da erst gab der Erlöser seinen Jüngern den Auftrag, eben denen, welchen er vorher gesagt hatte, sie sollten nur gehen in die Städte des Landes Juda, und dort das Reich Gottes verkündigen, da gab er ihnen den Auftrag: gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker, und lehret sie halten alles, was ich euch vorgeschrieben habe; da wandte sich das Evangelium von dem alten früher auserwählten Volke Gottes eben zu den Heiden; immer geringer ward die Anzahl derjenigen, die aus dem Volke Gottes gläubig wurden, und die Gemeine, die sich erst so sehr gemehrt hatte in den Hauptstädten des jüdischen Landes, blieb stehen, und wurde allmälig eher geringer als größer; aber die Fülle der Heiden, die fing an einzugehen in das Reich Gottes. So waren | es denn nicht diejenigen, welche ursprünglich geladen waren – denn diese gerufenen Gäste wollten nicht kommen – sondern Völker, die größtentheils weit hinter ihnen zurückstanden in der Erkenntniß der Wahrheit, [die] zum Theil weniger im Stande erschienen, etwas so Geistiges, so Hohes und Himmlisches wie das Reich Christi aufzufassen, diese wurden durch seine ämsigen Diener zusammengerufen von allen Enden der Erde; und wohl mögen wir sagen, wie der Herr selbst in der Gleichnißrede unseres Textes dankbar gegen die göttliche Barmherzigkeit erkennt: die Tische wurden voll. Und, m. g. F., betrachten wir die christliche Kirche, wie sie jetzt vor uns liegt, eine große Gemeine des Herrn gesammelt aus allen Völkern der Erde: so werden wir doch auch innerhalb ihrer in mancher Hinsicht noch immer das nämliche wiederfinden – den Unterschied zwischen solchen Menschen, die durch | alles, was ihre äußerliche Lage in der Welt, was ihr Verhältniß mit einander, was die Wirkung ihrer Erziehung und das menschliche Leben in ihnen hervorgebracht hat, geschickt erscheinen und gleichsam auf eine ausdrückliche Weise berufen zum Reiche Gottes, von denen wollten doch viele nicht kommen, wenn sie geladen sind, und halten alles andere, was das menschliche Leben sonst in sich schließt und von ihnen fordert, für wichtiger und bedeutender als das, was sie auf der einen Seite thun sollen, um das Reich Gottes weiter zu fördern, auf der andern Seite aber auch in der innigsten Gemeinschaft mit dem Herrn genießen die Fülle seiner Gnadengüter, um ihre eigene Seele immer mehr zu heiligen. Aber die Mühseligen und Beladenen, diejenigen, welche mehr von Seiten ihres Bedürfnisses als ihrer Fähigkeiten sich eignen, von dem angezogen zu werden, der gekommen ist zu suchen und selig zu machen, was ver|loren ist, diese jeder für sich oft auf eine wunderbare und geheimnißvolle Art gerufen mitten aus den Zerstreuun5–7 Vgl. Mt 10,5–7

7–9 Mt 28,19–20

38–39 Vgl. Lk 19,10

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gen, mitten aus den Verkehrtheiten, mitten aus den dürftigen Bestrebungen des menschlichen Lebens, werden zusammengetrieben, um die große Macht des Herrn zu preisen, und sind es, die sich der Güter des Heils am meisten erfreuen. Aber wenn zwar dies sich so verhält, wie es der Erlöser in unserer Gleichnißrede sagt, daß die ursprünglich geladenen Gäste größtentheils verschmähten zu erscheinen, und der Herr andere zusammenrufen ließ, denen sein Mahl nicht angekündigt ist; wenn es wahr ist, daß überall in der Geschichte der Menschen ein großer Unsegen bemerklich ist, wie diejenigen, die der Herr als seine Diener ausgesandt hatte, um sein Reich zu gründen und zu verbreiten, verschmäht wurden als brächten sie etwas Überflüssiges, oder | gestraft wurden, als wollten sie weit entfernt das Heil der Menschen zu fördern, vielmehr ihre Ruhe und Glückseligkeit stören; wenn sich dies so verhält: so scheint es doch eben so gewiß, nicht wenige sind es, sondern mehrere, die auf diese Weise zusammenkamen, um an dem Reiche Gottes Theil zu nehmen, im Vergleich mit den ursprünglich Geladenen, die als eine kleine Auswahl des menschlichen Geschlechts auch nur in kleiner Anzahl erschienen unter dem Volke, das sich zu tausenden um den Erlöser drängte, als er öffentlich redete auf Erden. Die gottesfürchtigen Seelen aus den Heiden, die sich in großer Anzahl an die Predigt der Apostel anschlossen, und sich von ihnen zusammenbinden ließen in christliche Gemeinen, wie viel mehr waren ihrer und konnten ihrer immer sein als die aus dem Judenthum zuerst das Evangelium aufnahmen, wie jene | Einsichtsvollern des Volks es waren im Vergleich mit dem ganzen jüdischen Volk, und wie das ganze jüdische Volk es war im Vergleich mit allen Völkern der Erde, die zu der christlichen Kirche hinzugethan sind. Wie mag der Erlöser wohl in diesem Vergleich das Wort verstanden haben: „viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt“? Die Schrift sagt, m. g. F., daß der Erlöser in die Welt gesandt sei nicht hierhin und dorthin, sondern in die Welt, dem ganzen menschlichen Geschlecht ist er gegeben und bestimmt. Und als das Wort Fleisch ward und unter uns erschien, so geschah das in keiner geringern Absicht als daß das ganze Geschlecht der Menschen an ihm sehen und erkennen sollte die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, und indem es in ihm den Abglanz des göttlichen Wesens erblickte, durch ihn wieder erleuchtet werden sollte zu einer lebendigen Erkenntniß dessen, in dem wir alle leben, weben und sind, und | erwärmt und erhoben zur Liebe und Freiheit der Kinder Gottes. Und anders als in diesem Gefühl konnte der Erlöser wohl nicht in den Tagen seines Fleisches auf Erden gelebt haben. Immer fühlte er sich gegeben und bestimmt dem ganzen Geschlechte seiner Brüder, und seine Liebe war dem ganzen menschlichen Geschlechte zugewendet. Wenn er nun das immer im Auge hatte, m. g. F., so mußte er ja wohl sagen, wenngleich durch diesen Rath30–33 Vgl. Joh 1,14

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schluß der göttlichen Vorsehung, vermöge dessen das Wort zuerst solchen muß mitgetheilt werden, welche am wenigsten gesonnen sind auf seinen Ruf zu erscheinen, die Anzahl derer, die wirklich erwählt sind, sich immer mehrt, und überall, wenn einige es ablehnen auf den göttlichen Ruf sich einzustellen, dieser sich in andere Gegenden wendet, wo er einer großen Menge von Menschen in Ohren und Herzen hineintönen kann – so mußte doch das der Erlöser bei sich fühlen, so gewiß er als der | Sohn Gottes auf Erden erschienen sei, so gewiß sei auch das ganze menschliche Geschlecht berufen, und im Vergleich mit den Berufenen sind es dann immer nur wenige, die sich zeigen als Auserwählte. Und eben diesen Sinn haben von jeher diejenigen gehabt, die es sich zum höchsten und schönsten Beruf ihres Lebens machten, das Evangelium von Christo zu verkündigen. Sie hatten es nicht genug in der Nähe und durften in der Nähe nicht bleiben, sondern der Herr trieb sie durch die Kraft seines Geistes allmälig nach allen Enden der Erde; sie suchten wo ihnen eine Thür eröffnet werden möchte, zu der das Evangelium eingehen könnte, und waren des lebendigen Gefühls voll, daß kein Theil des menschlichen Geschlechtes ausgeschlossen sei von dem Genuß der Güter des Heils, die in Christo dem ganzen menschlichen Geschlecht zugedacht sind. Und so, m. g. F., ertönt das göttliche Wort noch immer und verbreitet sich weiter auf Erden. Kaum kommt eine Kunde | in den Schooß der christlichen Kirche von einem Volk, das noch verborgen ist vor den Augen der meisten, und noch in der Finsterniß und im Schatten des Todes wandelt: so eilen auch schon die Füße von solchen Boten des Friedens hin, um das Wort des Herrn einem solchen Volke zu verkündigen, und es aufzunehmen in die christliche Gemeinschaft. Und wenngleich lange Zeit hindurch der Erfolg noch gering ist: es bleibt doch der Glaube fest, daß sie alle berufen sind, und das Bestreben immer lebendig in der christlichen Kirche, das Wort des Herrn tönen zu machen durch das ganze menschliche Geschlecht hindurch. Wo es nun hinkommt, m. g. F., da richtet es sich auch nicht sowohl an Einzelne als an die ganze Gesellschaft, unter welcher es zuerst zu verkündigen ist; die wird angesehen als der Gegenstand der Bestrebungen derer, welche die christliche Seligkeit weiter verbreiten wollen; und indem sich alle | ansehen als Berufene, wie zahlreich sich dann auch die Gemeine der Christen bilden möge, es sind immer nur wenige, die als Auserwählte erscheinen. So ist denn dieses Wort, welches oberflächlich betrachtet oft hart erscheint, es ist nichts anders als der inbrünstige Durst nach dem Heil des menschlichen Geschlechts, der den Erlöser beseelte, und der uns alle treiben soll sein Reich immer weiter zu verpflanzen unter den Menschen. So lange noch irgend ein Theil des menschlichen Geschlechts übrig ist, der die Güter des Heils, die uns durch Christum geworden sind, nicht genießt: so sollen wir in dem innersten Verlangen unseres Herzens sagen: viele, ja alle sind berufen. Ja noch mehr. So lange auch in dem Schooß der christlichen Kirche selbst der Genuß dieser Güter noch unter-

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brochen erscheint; so lange es bei der großen Menge von solchen, die den Namen Christi nicht nur nennen, sondern auch bekennen, und ihn im Herzen tragen | und an ihn glauben, doch scheint, als sei das Herz getheilt zwischen Himmel und Erde, als sei es noch unstät und wankend, und nicht selten im Begriff hinter sich zu gehen und sich allmälig zu entfernen von dem lebendigen und seligmachenden Glauben; so lange noch das Fleisch streitet wider den Geist, und leider oft nicht ohne Erfolg: wie können wir anders als sagen, viele sind berufen, aber auserwählt sind doch immer nur diejenigen, die sich ganz und ungetheilt dem Erlöser angelobt und ergeben haben, die sein Geist allein regiert, die sein Licht allein erleuchtet, die seine Liebe allein leitet und erwärmt. Und so mögen wir immer sagen: viele sind berufen, denn weit und breit erschallt das Wort des Herrn – aber wenige sind auserwählt; denn noch immer nur in wenigen gedeiht christliche Liebe, fester Glaube, wahre lebendige Gottseligkeit: so daß man das Bild des Erlösers an ihnen erkennte, | und sie für Glieder seines Reiches hielte. II. Und dies, m. g. F., führt uns denn von selbst zu dem zweiten Theil unseres Gleichnisses und unserer Betrachtung, wie nämlich der Erlöser eben diesen innern Unterschied der Seinigen bezeichnet, die in der That auserwählt sind und wirklich Theil nehmen an den Gütern seines Reiches, und welche nicht. So denke ich es aber. Da kam der König die Gäste zu besehen, und fand einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Kleid an. Da sprach er zu ihm: Freund, wie bist du hereingekommen und hast doch kein hochzeitliches Kleid an? Der aber verstummte. Nun möchte man freilich sagen, m. g. F., wenn die eigentlich geladenen Gäste, denen das Fest, welches ihnen bereitet war, lange zuvor war angesagt worden, und die doch auch Zeit gehabt hatten in einem desselben würdigen Schmucke zu erscheinen, wenn die nicht erschienen | waren, und nun die Gäste in Eil zusammengerufen waren aus den Straßen der Stadt: wie war es zu verlangen, daß sie erscheinen sollten in hochzeitlichen Kleidern? Dabei aber, m. g. F., müssen wir uns erinnern an die Sitte jener Zeit. Wenn ein Reicher und Angesehener ein solches Mahl bereitete, wozu er besonders die Armen und Dürftigen einlud: so empfingen sie von ihm oder von seinen Dienern ein festliches Kleid, womit sie erschienen, um an dem Mahle Theil zu nehmen, das ihnen bereitet war. Und wir dürfen nur fragen, welches dies sei. Der Schmuck des Menschen, m. g. F., das sind seine Thaten und seine Verdienste. Das sagt der Erlöser: gehe ein in Deines Herrn Freude, du getreuer Knecht, der du über weniges treu gewesen bist, da sollst du über vieles gesetzt werden. 15 Reiches] Kj Leibes (auch SAr 84, Bl. 80r) 37–38 Mt 25,21.23

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Und wie viel ähnliche Aussprüche könnten wir von ihm | anführen, worin er ausdrücklich sagt, daß die treue Thätigkeit des Menschen im Reiche Gottes, die Verdienste, die er sich erwirbt, es sind, die ihn geschickt machen in die Freude seines Herrn, das heißt in den überschwänglichen Genuß aller Güter seines Reiches, einzugehen. Gehen wir zurück, m. g. F., auf den Anfang des menschlichen Geschlechtes, so wird uns erzählt, Adam und Eva wären in dem Paradiese, in welches Gott sie gesetzt hatte, nackt gegangen und unbekleidet. Das war die natürliche Blöße der Unschuld; sie hatten kein Verdienst sich zu erwerben gehabt, und in dem einfachen Genuß des Lebens waren sie bis dahin gewesen. Als aber das Gesetz des Herrn kam und auf das Gesetz die Übertretung folgte, da merkten sie, daß sie bloß waren, und bekleideten sich auf eine dürftige Weise, ihrer Blöße sich schämend. Seitdem nun geht der Mensch nirgends mehr nackt, sondern sucht sich zu bekleiden, Bedürfniß und | Schmuck auf mancherlei Weise mit einander verbindend. Denn sobald Gesetz in die Seele des Menschen eingedrungen ist, sobald weiß er es, daß er sich schmücken soll mit Verdienst und mit Gehorsam. Aber wie dürftig jene erste Deke war, wodurch unsere ersten Eltern ihre Blöße vor sich selbst verbargen; so ist auch freilich das meiste, womit der Mensch sich selbst schmückt, kein hochzeitliches Kleid. Wie war es, m. g. F., zu der Zeit, als der Erlöser auf Erden erschien? Diejenigen, die am ersten geschickt gewesen wären seine Einladung anzunehmen, die gingen in dem herrlichen Schmuck der Kenntniß des Gesetzes, mit Stirnbinden geziert, auf welchen Sprüche des göttlichen Gesetzes zu lesen waren, und mit allen Zeichen der Würde, durch welche eine ausgezeichnete Kenntniß des göttlichen Gesetzes und der Ruf einer genauern besondern Erfüllung desselben hervorzu|heben war. Aber das waren leider diejenigen, von denen der Herr sagt, sie verzehnten Dill und Kümmel, aber die Hauptsache im Gesetz, den Gehorsam und die Liebe, ließen sie hinten. Verstummt war schon, als der Herr erschien, die Stimme der Propheten. Diese waren freilich gegangen in einem Gewande, das den Weisen eignete, und an welchen erkannt wurde, daß über und an sie eine Stimme Gottes ergangen war, die in ihrem Wirken sich offenbarte. Aber eben diese Stimme Gottes, die durch sie zu andern redete, wie oft lesen wir, daß sie auch ihnen, welche reden sollten, vergeblich ertönte; und wie erscheinen sie uns als schwache Werkzeuge des Herrn, indem nur auf eine vorübergehende Weise der Geist Gottes in ihnen sich regte, und sie nur, so lange diese Regung dauerte, Verkün5 einzugehen.] Die Woltersdorff-Parallelüberlieferung (SAr 61, Bl. 161r) bietet hier einen Einschub, der den Argumentationsgang leichter nachvollziehbar macht. Dort heißt es: Wie kann aber der Mensch vor seinem Eintrit in das Reich G[ottes] damit geschmückt sein? muß er nicht immer armseelig u[nd] blos erscheinen? 6–8 Vgl. Gen 2,25

10–12 Vgl. Gen 3,1–7

26–28 Vgl. Mt 23,23

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diger des göttlichen Willens waren, so oft sie aber von neuem reden sollten, auch wieder be|durften, daß die Stimme des Herrn an sie erging. Da erschien Johannes der Täufer und trug das härene Gewand der Entbehrung und Entsagung, welches verkündigte eine starke Seele, um zu widerstehen den Lüsten dieser Welt. Aber was sagt der Herr? Johannes ist zwar größer als irgend ein Prophet im alten Bunde; aber der kleinste im Himmelreich ist größer als er. Und auch das härene Gewand der Entsagung eben so wenig als das einfache der Propheten und der gekünstelte Schmuck der Gesetzeslehrer, war nicht das hochzeitliche Kleid. Welches also ist es denn? Das sagt uns der Jünger des Herrn: diejenigen, welche gekleidet sind, in das weiße Gewand der Fleckenlosigkeit des Erlösers, diejenigen, welche gekleidet sind in die himmlische Reinheit der Gemeine seiner Gläubigen, vor welcher jede irdische verbleicht und nichts ist, die sind es, die das hochzeitliche Kleid haben. Das muß | der Mensch wissen, daß mit allem angethan, womit er sich selbst zu schmücken vermag, er nicht erscheinen kann an dem Mahle des Herrn. Empfangen muß er an der Schwelle erst das festliche Gewand, in welchem allein er würdig erscheinen kann; ausziehen muß er den alten Menschen mit aller seiner Herrlichkeit, mag sie noch so sehr herstammen aus alter Zeit, mag sie noch so sehr das Werk eigner Anstrengung und eigener Kraft sein, ausziehen muß er den alten Menschen, und Christum anziehen. So sagt der Herr: bleibet in mir und ich in euch; denn ohne mich könnt ihr nichts thun. Bleibet in mir wie der Rebe an dem Weinstocke; dann werdet ihr Frucht bringen, und die Frucht wird euer Schmuck sein zum ewigen Leben; aber ohne mich könnt ihr nichts, und ein Rebe, der sich gelöst hat von dem Weinstock, wird ins Feuer geworfen. Wie, m. g. F., ist aber das nicht eine willkürliche Einrichtung | Gottes, nicht nur etwas Unbegreifliches, sondern so vielen Menschen widersinnig erscheinend? Aber doch ist es nicht anders. „Ich bin rein, so spricht der Herr, und ihr sollt auch rein sein.“ Aber keine menschliche Herrlichkeit und kein irdischer Schmuck ist ohne Flecken. Einer nur ist erschienen, der war der Reine und blieb es, den müssen wir anthun als unser Gewand, und uns in ihn hineinbilden. Wenn wir das fühlen und erkennen, daß es keine Reinheit giebt als die des Sohnes Gottes, der auf Erden erschienen ist; wenn wir in ihm erblicken eben diese Herrlichkeit des eingebornen Sohnes und den Abglanz des göttlichen Wesens und das Ebenbild des himmlischen Vaters; wenn wir alles, was wir sonst gewinnen könnten, alles, was wir mit unseren sündigen wenngleich herrlichen Kräften, mit denen Gott uns ausgerüstet hat, bewirken könnten in uns selbst und außer uns, wenn wir das alles | für Schaden achten, damit wir Christi sind; wenn in uns das Bewußtsein lebt, daß alle unsere Bestrebungen in dem Suchen des Erlösers aufgehen; wenn uns nichts ge5–7 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28 21–25 Vgl. Joh 15,4–6 28–29 Vgl. Lev 19,2 (zitiert in 1Petr 1,16) 33–34 Vgl. Joh 1,14 34–35 Vgl. Hebr 1,3

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nügt als seine Reinheit, die ungetrübte Seeligkeit der Seele, die nichts für sich selbst sein und nichts durch sich selbst thun will, sondern immer nur wie der Herr, der den Willen seines Vaters im Himmel erfüllte nach den Werken, die der Vater ihm gezeigt, und immer nur die Worte redete, die der Vater ihm offenbart hatte; wenn uns nichts genügt als dies, und wir nichts begehren als die lebendige Gemeinschaft mit dem Erlöser, wodurch er in uns ist, und wir in ihm leben; dann sind wir angethan mit dem hochzeitlichen Kleide; dann sind wir nicht nur berufen, sondern auserwählt und als solche die Erben der Güter seines Reiches; dann redet sein Wort nicht nur zu uns, sondern erbaut sich in uns, und unsere Seele wird der Tempel des göttlichen Geistes. – Aber, m. g. F., laßt | uns auch das nicht vergessen, möchten wir das wohl verstanden haben, daß der Erlöser hier sagt: als der Herr hineinkam, die Gäste zu besehen, fand er Einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Kleid an. Wie, m. g. F., fragen wir diejenigen, die überall nicht nur in ihren Worten, sondern auch in ihrem Leben am lautesten verkündigen den Glauben an den Sohn Gottes, und ganz davon voll sind, daß der Mensch nichts sei ohne ihn, fragen wir diese um ihre Meinung, wie viele sind denn unter denen, die als Christen sitzen am Mahle des Herrn, die in hochzeitlichen Kleidern da sind? wie bedeutend und mitleidig werden nicht die meisten unter ihnen jene Worte des alten Bundes aussprechen: Herr, wir sind derer so wenige, so nach dir verlangen! wie wird nicht bei weitem das Zeugniß der meisten dieses sein, nur klein sei das Häuflein derer, die Christum wirklich angezogen haben, der größere Theil bestehe aber aus solchen, die Herr Herr sa|gen, aber von denen er sagt, daß er sie nicht anerkenne. Der Erlöser aber, m. g. F., nicht also; der sagt: als die Tische voll waren, und der König kam die Gäste zu besehen, fand er Einen Menschen, der hatte kein hochzeitliches Kleid an. Was will der Eine gegen so viele? Und so war doch bei weitem der größte Theil derer, von denen die Tische voll wurden, solche die angenommen hatten das herrliche Gewand seiner Gemeinschaft und der Gemeinschaft seines Verdienstes, und so eingegangen waren zu dem ihnen bereiteten Mahle. Wollen wir es besser wissen als der Erlöser? wollen wir tiefer in das menschliche Herz hineinschauen als er, der nie nöthig hatte, daß man ihm sagte, was in demselben ist? wollen wir richtiger urtheilen über die Kraft seines Wortes, über das verborgene Wirken seines Geistes, ja daß ich es nur mit Einem Worte sage, über die Allmacht seiner Erlösung als er? Meint ihr, m. g. F., wenn der Herr sein Gleichniß weiter ausge|führt hätte, er würde den König, der seinem Sohne das Mahl ausgerichtet hatte, er würde ihn dargestellt haben als einen einseitigen oder an Geschicklichkeit dürftigen Mann, der alle die Gewänder, womit er seine Gäste schmücken wollte, nach Einem Schnitt und Einer Farbe 3–4 Vgl. Joh 5,19–20 Mt 7,21

4–5 Vgl. Joh 8,38

21 Vgl. Ps 12,2

24–25 Vgl.

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eingerichtet hätte? Und das ist es doch nur, weshalb so viele gutmeinende Christen sagen, die Anzahl derer, die wirklich dem Herrn angehören, sei nur gering. Wie könnte es auch so sein! Immer mehr verbreitet sich die Kunde dessen, was Gott an dem menschlichen Geschlecht gethan hat, unter den Menschen selbst; immer mehr werden wir geschickt, je mehr Erfahrung und Geschichte hinter uns liegt, ein Urtheil zu fällen über das, was Werth hat oder nicht; immer lebendig ist ja die Kunde unserer selbst, und weiter verbreitet sich die Kunde davon unter allen Klassen der Menschen. Sollte es möglich sein, daß die Menschen es wissen sollten und nicht anerkennen, daß alles, dessen sie sich rüh|men, alles, was schön und herrlich und groß ist in ihren Augen, daß dies alles immer mehr oder weniger deutlich den Namen Christi trägt? Wie sollte es doch anders sein, als daß sie doch alle jeder auf seine eigenthümliche Weise das hochzeitliche Kleid anhätten, daß alle es wissen und fühlen, daß das menschliche Geschlecht sich nur erfrischen könne an der Gemeinschaft des Sohnes Gottes, daß alles Große und Herrliche unter uns immer mehr verlieren würde seinen Gehalt, wenn es herausgerissen würde aus der Gemeinschaft des geistigen Lebens und der geistigen Güter, die wir Christo verdanken? Aber damit das immer sicherer werde und fester, und wir immer Grund haben können zu dem Vertrauen, daß es immer nur wenige sind, die kein hochzeitliches Kleid haben, wenn gleich der eine schöner und herrlicher geschmückt sein mag als der andere; damit das immer fester und sicherer werde: so laßt uns die Kunde der | Vergangenheit nicht vergessen, laßt uns uns selbst und andern das einschärfen, daß in der That alles, was in dem Leben der christlichen Völker groß und gut ist, von dem Erlöser herstammt, daß nur insofern ein bleibender Segen für das menschliche Geschlecht sein kann, als es in seine Gemeinschaft eingetaucht ist und von seinem Geiste erfüllt. Dann werden wir es immer mehr fühlen, und von jedem wird sich dieser Glaube verbreiten auf die, welche ihm am nächsten stehen, daß alles Schaden ist, was wir nicht durch Christum und mit ihm gewinnen, daß nur durch ihn alles den Menschen gekommen ist, was ein Höheres ist als was das Gepräge der Vergänglichkeit und Sündlichkeit an sich trägt, und daß, um vor dem allgemeinen Fall bewahrt zu werden, alles sich immer inniger in seine Gemeinschaft verflechten muß: dann wird sein Ruhm und Preis sich immer lauter und lebendiger unter uns vernehmen lassen, | und wir werden nicht nöthig haben, zu besorgen, daß auch in unserer Mitte solche sein werden, die verstummen müssen, wenn der Herr sie, sei es in dem öffentlichen Gericht 35–4 In der Woltersdorff-Parallelüberlieferung (SAr 61, Bl. 163r) heißt es nicht, dass es niemanden gebe, der verstummen müsse, sondern es ist im entsprechenden Kontext von „Wenigen“ die Rede, die aus dem Reiche Gottes ausgeschlossen sind. Mit Blick auf Schleiermachers vorangehende eschatologisch-soteriologische Argumentation und seine Aussagen in anderen Predigten ist die Version, dass niemand verstoßen werde, allerdings die wahrscheinlichere Lesart.

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seiner Gemeine, oder in dem geheimen Gespräch des Herzens mit ihm, fragt, ob sie auch bekleidet sind mit dem hochzeitlichen Gewande, welches der Herr des Mahles an diejenigen vertheilt, die zu dem herrlichen Feste geladen sind; dann werden wir nicht besorgen dürfen, daß auch unter uns solche sein werden, die zu ihrer Stunde hinausgeworfen werden in die äußerste Finsterniß, wo sie entbehren müssen des Lichtes, welches uns alle bescheint von dem ewigen Sohne Gottes. Amen.

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Vor dem Gebet. – Mel. Legt mein Sinn etc. [1.] Zeuch du mich Jesu von der Erde, / Daß meine Seele himmlisch werde, / Nimm was da irdisch von mir hin, / Und tödt’ in mir des Fleisches Sinn. // [2.] Wie selig sind die frommen Seelen, / Die dich zu ihrer Lust erwählen, / Dein Reich nur suchen in der Welt, / Die sonst für uns nichts in sich hält. // [3.] O möcht ich dieses recht bedenken, / Und unaufhörlich mich versenken / In jenes einzig wahre Gut / Mit Seel und Geist, mit Sinn und Muth. // [4.] So kann ich mich an dir erquicken, / Nichts wird mich je darnieder drücken; / Mir muß das Dunkel werden Licht, / Und bald entweicht was mich anficht. // [5.] So wohn ich in der Burg der Freude, / Und siege, wenn ich hier auch leide; / Mich nähret Christi Lebenssaft, / Ich kämpfe stark in seiner Kraft. // [6.] Hierzu gieb deines Geistes Stärke, / Der rüste mich zu deinem Werke, / Und lenke einzig meinen Sinn / Auf das, was ewig bringt Gewinn. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. In dich hab ich gehoffet etc. [1.] Hoch freuet sich mein Sinn und Geist, / An Gott, der mich gesegnet heißt / In Christo seinem Sohne, / Der mir zum Heil / Und besten Theil / Kam von des Vaters Throne. // [2.] Auch ich bin vor der Welt erwählt, / Und Gottes Kindern zugezählt; / Er wird mich nimmer lassen. / Ihm halt ich still, / Sein Vater-Will / Giebt Gutes ohne Maaßen. // [3.] Ich bin zwar keiner Gnade werth, / Doch seine Huld bleibt unversehrt, / Sie hebet, trägt und duldet, / Drum trifft mich nicht / Sein Strafgericht, / Wie sehr ichs auch verschuldet. // [4.] Was sündliches von mir geschehn, / Will er in Christo übersehn, / Wenn ich ihn gläubig fasse, / Und alle Sünd, / Die sich noch find’t, / Mit ernstem Abscheu hasse. // [5.] Er schenkt mir auch von seinem Geist, / Der mir den Weg zum Leben weist, / Ins Herz die Liebe gießet, / Die alles Leid / Und Traurigkeit / Mir lindert und versüßet. // [6.] Drum bleibet Gott der beste Freund, / Ders immer treu mit uns gemeint, / Wo wäre seines Gleichen? / Wer 2 welches] welcher

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ihn erkennt / Und Vater nennt, / Von dem wird er nicht weichen. // [7.] Auch ich halt und behalte ihn, / Geb’ ihm mich ganz vollkommen hin, / Dem Ursprung wahrer Freuden; / Und sicherlich, / Mein Herz wird sich / An ihm ohn Ende weiden. // [8.] Kein menschlich Ohr hat es gehört, / Was mir noch ist von Gott bescheert; / Doch ahnd’ ich es im Glauben, / Und freu mich sehr, / Daß nimmermehr / Kein Feind es mir kann rauben. // (Freilingsh. G. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. O Christenmensch bedenk den Stand, / Darein dich Gottes Gnadenhand / Gesetzt, und deine Würde. / Rühm deine Höhe jederzeit, / In aller deiner Niedrigkeit / Trag aber auch die Bürde. / Lebe, strebe daß dein Adel / Ohne Tadel / Immer bleibe; / Drum vor allen Dingen, gläube. //

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22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 18,23–35 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 84, Bl. 90r–111r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 102, S. 550–583; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 137r; Gemberg Nachschrift; SAr 61, Bl. 164r–170v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1822. |

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Tex t. Matthäi XVIII, 23–35. Darum ist das Himmelreich gleich einem Könige, der mit seinen Knechten rechnen wollte. Und als er anfing zu rechnen, kam ihm einer vor, der war ihm zehntausend Pfund schuldig. Da er es nun nicht hatte zu bezahlen, hieß der Herr verkaufen ihn und sein Weib und seine Kinder und alles was er hatte, und bezahlen. Da fiel der Knecht nieder und betete ihn an und sprach: Herr habe Gedult mit mir, ich will dir alles bezahlen. Da jammerte den Herrn desselbigen Knechts und ließ ihn los, und die Schuld erließ er ihm auch. Da ging derselbige Knecht hinaus und fand einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Groschen schuldig; und er griff ihn an und würgte ihn und sprach: bezahle mir was du mir schuldig | bist. Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: habe Gedult mit mir, ich will dir alles bezahlen. Er wollte aber nicht sondern ging hin und warf ihn ins Gefängniß, bis daß er bezahlete was er schuldig war. Da aber seine Mitknechte solches sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten vor ihren Herrn alles was sich begeben hatte. Da foderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du Schalksknecht, alle diese Schuld habe ich dir erlassen, dieweil du mich batest; solltest du denn dich nicht auch erbarmen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe? Und sein Herr ward zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis daß er bezahlete alles was er ihm schuldig war. Also wird euch mein himmlischer Vater | auch thun, so ihr nicht vergebet von euren Herzen ein jeglicher seinem Bruder seine Fehler.

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M. a. F. Bei einer jeden Lehre, die uns gegeben wird, ist es etwas sehr zur Erleichterung unsers Verständnisses Dienendes, wenn wir wissen, unter welchen Umständen und bei welcher Veranlassung sie gegeben ward; und in dem nämlichen Falle befinden wir uns bei der verlesenen Gleichnißrede unsers Herrn. Er hatte seinen Jüngern Anweisungen mitgetheilt, wie sie es in Zukunft in dem Kreise ihrer Gemeinschaft halten sollten, wenn ein Bruder sündigte gegen den andern. Diese Rede nun unterbrach Petrus mit der Frage: wie oft denn soll ich meinem Bruder vergeben, ist | es genug siebenmal? Da antwortete ihm der Herr: nicht siebenmal, sondern siebenzigmal siebenmal; und um sich recht verständlich und anschaulich zu machen fügt er das hinzu, was wir gelesen haben. Wir dürfen also auch dieses nicht trennen von dem Zusammenhang, in welchem es der Herr geredet hat, und finden darin erst den rechten Schlüssel seiner Rede. Es ist offenbar seine Absicht dem Petrus deutlich zu machen, daß eine unerschöpfliche Bereitwilligkeit von unsrer Seite unserm Bruder zu vergeben die Bedingung ist, unter welcher allein wir uns fortdauernd der göttlichen Vergebung erfreuen. Denn gewiß dürfen wir die Zahl, die der Erlöser ausspricht, nicht buchstäblich nehmen, sondern | ins Unendliche hin meint er soll sich das immer erneuern und wiederholen, und jede ihm gefällige Vergebung immer wieder aufs neue beginnen. Und offenbar redet er von solchen, welche als zur Gemeinschaft der Seinigen gehörig sich der göttlichen Vergebung schon erfreuen, stellt sie uns aber dar als etwas, was wieder verloren gehen kann, wenn jene Bereitwilligkeit nicht erfüllt wird. Ueber diesen Zusammenhang also laßt uns, m. g. F., nach Anleitung des verlesenen Gleichnisses jetzt mit einander nachdenken. Um den Sinn des Erlösers recht zu fassen dürfen wir nur zweierlei überlegen: zuerst nämlich, wie er in der That alle diejenigen, welche zur Gemeinschaft seiner Jünger gehören, | als solche ansieht, denen der Herr eine große Schuld erlassen, und mit denen er nach dem Recht so verfahren könnte wie jener König in seinem Gleichniß verfahren wollte und zulezt auch verfuhr; dann aber laßt uns zweitens überlegen, wie in der That jeder, der der Vergebung gegen seinen Nächsten Gränzen sezt, in denselben Fehler verfällt, um welchen jener Knecht nicht nur getadelt sondern auch bestraft wurde. So wird sich uns der Zusammenhang, den der Erlöser uns durch sein Gleichniß deutlich machen will, von selbst darstellen. I. Zuerst also, m. g. F., da der Erlöser vorher geredet hat von den Ordnungen, die in seiner | Gemeinde sollten gehalten werden: so redet er auch gewiß in seinem Gleichniß von solchen und hat nur solche Menschen im Auge, welche in den Kreis der Seinigen, die an ihn glauben, die mit ihm das Reich Gottes bauen und fördern wollen, gehören. Und von denen allen sagt er: 5–10 Vgl. Mt 18,15–17.21–22

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als der König mit seinen Knechten rechnen wollte, da kam ihm ein solcher vor, der ihm so viel schuldig war, und mit dem er zuerst so gnädig wie wir gelesen haben verfuhr. Wenn nicht selten, so wie viele andre auch, diese Rede des Erlösers vielen erscheint als eine harte Rede, und sie meinen, es könnte doch nicht von allen Menschen gelten, daß sie in eine solche unübersehbare und unaustilgbare | Schuld gegen den Höchsten verfallen wären, und nicht alle könnten sich darin gleich sein, daß dem göttlichen Rechte nach eine solche Strafe wie die hier angedeutet ist sie treffen könne: so kommt das daher, m. g. F., weil wir noch immer nicht genug alle Worte des Erlösers als Geist und Leben betrachten, immer noch nicht genug, indem wir sie vernehmen, durchdrungen sind von der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, sondern noch immer in demjenigen befangen, was die Schrift im Gegensaz gegen den Geist das Fleisch nennt. So geht es allen denen, welche bei dieser Rede unsers Erlösers zuerst und vorzüglich an die Strafe denken. Das ist, m. g. F., gegen den Geist der | khristlichen Frömmigkeit, wenn wir bei der Betrachtung des Bösen in dem Menschen in seinem ganzen Zusammenhang von dem Wesen der Sünde absehen und unsre Blike auf die Strafe richten; denn das zeigt ja, daß es vorzüglich die Furcht ist, die wir bedenken wollen und von der wir gern wollen befreit werden. Wie aber auf der einen Seite, m. g. F., die Liebe, die völlige Liebe, die Furcht austreibt, und beide sich nicht unter einander vertragen: so auch auf der andern Seite muß die wahre Scheu vor dem Bösen selbst die Furcht vor der Strafe überwinden und austreiben, weil nämlich diese nichts ist im Vergleich mit jenem. Sind wir nun gewohnt, vornämlich auf dasjenige, was die Strafe betrifft und ausspricht, unsre Aufmerksamkeit zu lenken: so denken wir dann auch, wenn | wir auf das Böse selbst achten, vorzüglich an dasjenige, was zunächst der Strafe verfällt. Hier aber, m. g. F., in dem Gleichniß unsers Herrn ist ja gar nicht die Rede von einem Verbrechen, welches begangen ist, sondern von einer gerechten Schuldfoderung, die bezahlt werden soll, und welche die gnädige Nachsicht des Königs erläßt. Und betrachten wir die Sache so, genau wie der Erlöser sie hinstellt: so werden wir die allgemeine Wahrheit dessen was er sagt nicht abzuleugnen vermögen. Laßt uns nur bedenken, wie der Herr sich in ähnlichen Gleichnißreden ausspricht von einem Könige oder Herrn, der indem er sich entfernen will seine Reichthümer und Schäze unter seine Diener vertheilt, und hernach zurükkommt, um zu fragen, wie sie dieselben zu seinem Vortheil ange|wendet haben. Eben dies hat er auch in unsrer Gleichnißrede im Sinne; er erinnert uns daran, daß alle uns’re geistigen Kräfte ein Gott angehöriges, durch seine milde Schöpfer- und Vatergüte uns anvertrautes Gut sind, und daß er ein Recht hat, von Anfang an, wenn sie sich in uns entwikeln, eine Anwendung 9–10 Vgl. Joh 6,63 11–12 Vgl. Joh 4,23.24 37 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,11–27

20–21 Vgl. 1Joh 4,18

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derselben, die seinen heiligen Absichten gemäß ist, und die sich sein Wohlgefallen erwerben kann, zu erwarten und zu fodern. Wohlan, m. g. F., so laßt uns fragen, wie steht es um diese Anwendung, welche der Mensch von den göttlichen Gaben macht, ehe er in die Gemeinschaft des Reiches Gottes durch den Erlöser aufgenommen wird? O mag er sich noch so sehr erheben über die Niedrig|keit des Fleisches, mag er in der That das Höhere und Geistige im Auge haben: können wir es wohl leugnen, daß er dennoch, so lange er außer der Gemeinschaft mit dem Erlöser ist, das Höchste in dem göttlichen Willen und in den göttlichen Ordnungen nicht begreift, und also auch nicht darnach seine Anwendung der ihm von Gott verliehenen Kräfte einrichtet? können wir es leugnen, daß auch die Besten unter den Sterblichen immer befangen bleiben in irgend einer Beschränktheit, weil sie nicht durchdrungen sind von dem Geist der Liebe, der das Ganze des göttlichen Reiches umfaßt, weil auch ihre Erkenntniß von dem Geber alles Guten immer unvollkommen bleibt und seiner unwürdig, und ehe sie hineingeschaut | haben in das Antliz des eingebornen Sohnes vom Vater[,] Gott ihnen in einem undurchdringlichen Lichte wohnt, und auch bei dem besten Bestreben seinen Willen zu erkennen und ihm gemäß zu handeln sie auf die eine oder die andre Weise die göttliche Wahrheit aufhalten, in Ungerechtigkeit, und sich das Bild der göttlichen Absichten, welches sich in ihrem Innern gestalten will, immer wieder in etwas Irdisches verkehrt. Wenn aber dann, m. g. F., wenn dann der Sohn Gottes in der Seele des Menschen aufgeht: so kann es nicht anders geschehen als eben so wie der Erlöser in der Welt unter den Menschen auftrat. Es wird dem Menschen dann das Himmelreich klar und geht vor | seinem geistigen Auge auf; aber vorher fühlt er in sich und aufs innigste damit verbunden den Ruf: thut Buße und ändert euern Weg, ebnet nur erst dem Herrn eure Stege, weil das Himmelreich nahe herbeigekommen ist. Und dieser Ruf, m. g. F., ist das Gericht Gottes, welches der Mensch in seinem Innern fühlt und erfährt. Indem er einsieht, was Gott der Herr von ihm als seinem Geschöpfe zu fodern berechtigt war; indem er fühlt, in dem Tiefsten der menschlichen Seele liege dieselbe göttliche Kraft, aber nur daß sie von der Sünde gedrükt sei und getrübt, welche ihm aus dem ganzen Leben und Wesen des göttlichen Ebenbildes in dem Sohne Gottes entgegenstrahlt; indem er fühlt, er hätte auch nach diesem heiligen Recht und Gesez | der ewig versöhnenden Liebe von Anfang die Kräfte, die ihm Gott gegeben, gebrauchen sollen und können: so fühlt er sich dem Herrn verfallen um alles dasjenige, was er mit dem ihm anvertrauten Pfunde hätte ausrichten können und nicht ausgerichtet hat; ja nicht nur dies, sondern auch um alles dasjenige, was er in seinem Leben gethan und wirklich ausgerichtet, dessen er sich bei sich selbst gefreut und gerühmt und auch 26–28 Vgl. Mt 3,2–3

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der Welt als etwas Gutes und Rühmliches hingestellt hat: weil er doch sieht und fühlt, es ist nicht brauchbar für das Reich Gottes, es ist nicht auf dem Grunde erbaut gewesen, der allein ein dauerhaftes Gebäude tragen kann; und indem es nun durch das Läuterungsfeuer eines erregten Gewissens geht, so | verschwindet es in Nichts und geht in Rauch auf. So tief muß sich jeder, indem er aufgenommen wird in die Gemeinschaft mit dem Erlöser, dem himmlischen König verfallen fühlen von einem Pfund, von welchem er zwar sagt, ich will dir alles bezahlen, aber doch, wenn er es sich deutlich machen will, in seinem tiefsten Innern fühlt, daß dies nicht möglich sei. Aber eben nun jener nicht überlegte, nicht wahre, nicht zu lösende Ruf der Seele zu Gott, erlaß nur Herr, ich will dir alles bezahlen, zeugt doch davon vor den Augen des Allwissenden, daß mit der Erkenntniß des Sohnes Gottes und seines Reiches und durch seinen Ruf zur Erkenntniß des Himmelreichs | zugleich auch der gute Wille das Leben Gott zu heiligen, und alle Kräfte seinem Dienste zu weihen, in der Seele des Menschen aufgeht. Wo dies beides, m. g. F., getrennt bleibt, ach da ist nur jener unselige Zustand, den der Herr so beschreibt: es werden viele zu mir sagen Herr Herr, aber ich werde ihnen antworten, ich kenne euer nicht, ihr Übelthäter. Denn die Erkenntniß ohne den Willen sie zu verwirklichen und ihr gemäß zu leben ist etwas Nichtiges und Todtes. Wenn nun, m. g. F., dieses Zeugniß vor Gott kommt und von demjenigen vertreten wird, der die Mühseligen und Beladenen durch seinen Frieden zu erquiken verheißen hat, und mit dem Zeugniß, daß sie aufgenommen sind in seine Gemeinschaft, gleichsam vor Gott kommt: dann jammert den König desselbigen | Knechtes, und er läßt ihn frei und erläßt ihm die Schuld auch, um eben nun, nachdem er erkannt hat, was da sei der wohlgefällige Wille Gottes, diesem sein ganzes Leben mit allen seinen Kräften zu heiligen. Aber, m. g. F., der dunkle Schatten von jener früheren Zeit zieht sich auch durch das ganze übrige irdische Leben. Wenn der Mensch mit einer gewißen innern Wahrheit gegen sich selbst in dem ersten Morgenlicht der göttlichen Gnade, von dem ersten frischen Tau des neuen Lebens erquikt, bei sich selbst sagt, ich will alles bezahlen, ich will alle meine frühern Irrthümer selbst hassen und gut machen, ich will alles niederreißen, was auf einem untüchtigen Grunde gebaut ist, und zugleich mit allem was ich bin und habe dem Herrn | allein dienen, wie er mich mit seinem Lichte erleuchtet hat; wenn das auch, m. g. F., innre Wahrheit ist und kein Trug, keine Täuschung eines noch nicht ganz aufgerührten und noch nicht ganz geläuterten Herzen: so ist es doch nicht möglich, daß sich der Mensch auf einmal ganz und gar umwendet. Er kann im Ganzen seinen Irrthum erkennen und seine Verkehrtheit bereuen: im Einzelnen sezt sich jener noch fort und ergreift ihn dieser noch wieder. Und 8 zwar sagt] zwar fühlt und sagt zugleich 17–18 Vgl. Mt 7,22–23

13–14 Himmelreichs zugleich] Himmelreichs erwekt

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wenn auch sein innerster tiefster Wille mit allen seinen Kräften Gott zu dienen unverkürzt bleibt: so thut er doch immer noch manches, worin sich die Gewalt seines früheren Zustandes abbildet, was nicht seinem neuen sondern dem alten Leben angehört, | was nicht die Frucht des göttlichen Lichtes ist, das ihn erleuchtet, und des heiligen Feuers, das ihn erwärmt, sondern wie alles Frühere aus dem Todten, Irdischen herstammt. Darum, m. g. F., was einmal im Großen die Scheidung des menschlichen Lebens macht, das muß sich im Einzelnen immer wiederholen; jeder Augenblik muß eine neue Erleuchtung sein, aber auch jede Erleuchtung ein neuer Ruf; und nie kommt die Zeit, wo der Mensch der göttlichen Vergebung, so lange er hier auf Erden lebt, nicht immer aufs neue bedürfte. Wenn also der Erlöser sagt, m. g. F., als der König mit seinen Knechten rechnen wollte, da kam ihm einer vor, der war ihm | zehnthausend Pfund schuldig: so hat er dadurch nicht einen Zustand abbilden wollen, der nur in einzelnen Menschen vielleicht in der geringsten Anzahl vorkäme, sondern einen allgemeinen; und der Ausdruk, dessen er sich bedient, soll und kann nichts anders bezeichnen, als daß der Herr eben nicht auf einmal mit allen, sondern jezt mit dem einen und dann mit dem andern rechnet, weil eben dies nicht eher eine Anwendung auf den Menschen haben kann und wahr für ihn sein, als bis er das Maaß erkannt hat, nach welchem der Herr den Menschen zu richten berechtigt ist; und das erkennt er nur, wenn er denjenigen erkannt hat, welcher war mit Fleisch und Blut bekleidet wie andre Menschen|kinder, und in allen Dingen versucht gleich wie wir, ausgenommen die Sünde. Und wenn alle so dem Höchsten verfallen sind, so bedürfen auch alle immerwährend seiner Vergebung. Über diese nun sagt uns der Erlöser, für die Fortdauer derselben sei die Bedingung die, daß wir nie aufhören bereitwillig zu sein, auch unsrerseits unserm Nächsten zu vergeben; und das ist es nun, worauf wir in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung unsre Aufmerksamkeit richten wollen. II. Ich muß auch hier, m. g. F., damit anfangen, daß ich daran erinnere, wie der Herr sagt, jener Knecht nun ging hinaus und fand einen seiner Mitknechte, nicht etwa einen Fremden. | Von diesem Verhältniß, so wie wir es uns nach dem Sinne des Herrn gleichsam jenseits und außerhalb seiner Gleichnißrede denken können, soll in derselben nicht die Rede sein. So wie vorher die Anweisungen, die er seinen Jüngern gab, sich nur auf die Mitglieder seiner Gemeinde bezogen: so auch hat dieses Gleichniß keinen andern und keinen größern Umfang. Von dem also, m. g. F., was uns obliegt gegen diejenigen, insofern es möglich ist, daß wir in der khristlichen Kirche lebend mit ihnen in Berührung kommen, die den Erlöser nicht erkannt haben, an welche sein Ruf zur Buße nicht gelangt ist, die den Herrn des Himmelreichs durch ihn 22 Vgl. Hebr 2,14

23 Vgl. Hebr 4,15

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in ihrem Herzen noch nicht gefühlt | und erkannt haben: davon ist hier nicht die Rede. Wie könnte uns aber, m. g. F., gegen diese etwas anderes obliegen, als was der Herr selbst that in Beziehung auf die, die ihn zwar sahen aber mit blinden Augen, die seine Worte zwar hörten aber mit tauben Ohren, und ihn daher in dem Innern ihres Herzens verwarfen, daß er nämlich in Beziehung auf sie zu Gott betete: Vater vergieb ihnen, sie wissen nicht was sie thun, offenbar also, indem er um Vergebung für sie bittet, ihnen schon selbst vergeben hat, und ihren Zustand, was er auch hervorbringen möge, wie er denn für ihn das Ende seines irdischen Lebens und seiner ganzen unmittelbaren menschlichen Wirksamkeit hervorbrachte, doch nur hielt für einen | Zustand der Verblendung und der Unwissenheit. Wie sollte also uns etwas anderes obliegen und in uns eine andre Stimmung ihm wohlgefällig sein gegen die, die ihn noch nicht erkannt haben, wie sehr sie sich auch gegen uns versündigen mögen, was für einen Einfluß auch ihre Verblendung und ihre Unwissenheit auf unser Leben haben möge als Gott zu bitten, daß er diesem Zustand der Verblendung ein Ende machen möge, und alles was in unsern Kräften steht zu thun, um für ihre Erleuchtung zu wirken, und ihnen durch unser ganzes Leben das Himmelreich anschaulich zu machen, welches sie immer noch von sich weisen. Der Herr aber redet hier von demjenigen, was den Knechten gebührt gegen ihre Mitknechte – uns also, die wir | in das Reich Gottes eingegangen sind durch den Glauben an ihn, gegen die welche diesen Glauben mit uns theilen. Aber laßt uns nur, m. g. F., hier nicht zu engherzig sein, um uns den Umfang der Pflichten, die der Herr uns darstellt, zu klein zu denken; laßt uns bedenken, wie er uns an einem andern Orte zuruft, uns liege es nicht ob einen andern Knecht zu richten, weil jeder nur dem gemeinsamen Herrn stehe oder falle. Für uns also sind alle diejenigen Knechte Gottes des himmlischen Königs, die den Namen seines Sohnes tragen, die ihn als ihren Erlöser bekennen, und also von uns für solche wollen gehalten werden, die an ihn glauben; wie stark oder schwach dieser Glaube sei, wie wahr oder unwahr die Werke, das ist nicht unser sondern Gottes Urtheil. Also, m. g. F., in das ganze Gebiet | der Khristenheit führt uns das Gleichniß des Erlösers; was uns da obliegt gegen unsre Mitknechte, das will uns der Herr zu Gemüthe führen. Und im Zusammenhange mit dem was er seinen Jüngern vorher sagt, ist das nichts anderes als eben diese unerschöpfliche Bereitwilligkeit dem Nächsten zu vergeben. Denn hätten wir auch noch so oft vergeben, aber einmal gingen wir aus und träfen einen schuldigen Mitknecht und gingen eben so mit ihm um, wie in unserm Gleichniß verzeichnet steht: so würde dieselbe Betrübniß alle Genossen im Dienste des Herrn treffen, und 10 ganzen] Ergänzung aus SAr 102, S. 569 6–7 Lk 23,34

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es könnte nur dieselbe Strafe der Erfolg davon sein. – Um aber, m. g. F., den Sinn des Herrn hier recht zu verstehen, müssen wir uns zuerst fragen, was giebt es denn eigentlich, was wir als Knechte | des Herrn von unsern Mitknechten zu fodern haben? und was ist es also, was wir ihnen verzeihen sollen? Wenn wir, m. g. F., im Allgemeinen hören von diesem Gebot der Versöhnlichkeit, von dieser göttlichen Foderung, daß wie Gott uns unsre Schuld vergeben hat wir auch denen die uns schuldig sind vergeben sollen: so geht es uns nur oft so, daß wir auch am meisten denken an solche Sünden des einen gegen den andern, welche am meisten und unmittelbarsten der Strafe verfallen, an dasjenige, was am meisten Beleidigung des einen, die er von dem andern erfährt, genannt wird. Daran, m. g. F., hat unser Erlöser nicht gedacht, das zeigt uns die Ähnlichkeit zwischen diesem zweiten Theil unsers Gleichnißes und dem ersten. Denn so wie wir glauben | beleidigt zu werden von unserm Nächsten, kann wohl in demselben Sinne von einer Beleidigung, die Gott der Höchste von uns erführe, die Rede sein? Es bedarf dies keiner weiteren Ausführung, sondern muß sich wohl bei einem jeden von selbst verstehen; wir finden aber auch andre Ansichten unsers Erlösers genug, die uns dieses bestätigen. Was wir gewöhnlich als Beleidigung ansehen, was ist es anders als entweder ein unrechtes verschrobenes verkehrtes Urtheil, das unser Nächster über uns fällt, oder eine Handlungsweise, die uns auf eine Art oder auf einen Theil unsers Lebens und Seins verlezt. Beides, m. g. F., ist aber an und für sich nichts, und nichts, wobei wir erst in Versuchung kommen sollten, daß es uns obliegt oder | Freude und Glükseligkeit ist, vergeben zu können. Denn, m. g. F., in Beziehung auf das Urtheil unsers Nächsten über uns sollten wir wohl anders denken als jener Apostel, der an die Khristen zu Korinth schrieb: „mir ist es gleichgültig, daß ich von euch gerichtet werde; denn es ist einer, dem es obliegt über die Menschen zu urtheilen, und der da weiß, was in des Menschen Herzen ist“? Sollte wohl das unrichtige Urtheil unsers Nächsten über uns uns zu etwas anderm dienen, als daß es die Ueberzeugung in uns hervorbringt, daß er entweder noch nicht genug erleuchtet ist von der göttlichen Wahrheit oder nicht genug durchglüht von der göttlichen Liebe, und daß er also ein würdiger und angemeßner | Gegenstand unsrer herzlichen Fürbitte ist, und daß es unser innigstes Bestreben sein muß, ihm wo wir können jeden Beistand zu leisten, wodurch er in den Besiz der Güter gelangen kann, die ihm fehlen. Und was irgend eine Art von Verlezung betrifft, die ein Mensch dem andern zufügen kann, hat uns nicht der Erlöser gelehrt, wenn dir einer einen Bakenstreich giebt, so reiche ihm auch die andre [Bake] hin? und was anders hat er damit gemeint, als daß jeder, der in der That mit seinem ganzen Bestreben darauf gerichtet ist in seinem Dienst zu leben und für sein Reich zu wirken, sich bei solchen Beleidigun6–7 Vgl. Mt 6,12; Lk 11,4

26–29 Vgl. 1Kor 4,3–4

38–39 Mt 5,39; Lk 6,29

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gen, die ein andrer ihm zufügt, gar nicht aufhalten darf und sich dadurch nicht stören lassen in seinem Einfluß und in seiner Thätigkeit? Und so finden wir, wie nach seiner Art zu | denken, nach seiner Lehre und seinem Beispiel zu leben, an und für sich nichts sein kann, was von unsrer Seite der Vergebung bedarf. Was aber der Herr m. g. F., von seinen Knechten fodert, das, meint nun der Erlöser und sagt in seinem Gleichniß, hätten wir auch ein Recht von unsern Mitknechten zu fodern. Gott hat ein Recht zu fodern, daß alles was er dem Menschen gegeben hat, seinem Willen gemäß und zu seinem Dienste gebraucht werde. Wir als Diener des himmlischen Königs, als Arbeiter in dem Weinberge des Herrn, haben ein Recht von unsern Mitknechten zu fodern, eben deswegen weil die Gaben alle von Einem Geber kommen, weil die Werke alle die gemeinsamen seines Dienstes sind, daß sie uns in alle dem was uns | obliegt in seinem Dienste mit allen ihren Kräften unterstüzen, so wie auch wir das Werk, an welchem zu arbeiten wir berufen sind, nicht als ein solches ansehen sollen, welches jedem für sich allein aufgetragen ist, sondern nur dann unser Leben in der seligen Gemeinschaft derer die dem Herrn angehören recht führen, wenn wir überall zugreifen, wo etwas unternommen wird, was sein Reich fördert, und gern zu jedem gottgefälligen Werke unsre Kräfte beitragen. Das ist also die gerechte Foderung, die jeder Diener des Höchsten an seine Mitknechte machen darf; und wo sie nicht erfüllt wird, da ist eine Schuld. Und freilich jeder, der die Erfahrung macht, daß er in dem, was ihm von dem Herrn angewiesen ist als sein Beruf in | dem großen Reiche Gottes, statt gefördert zu werden von denen, die seine Mitknechte sind und heißen wollen, gar oft gehemmt wird und gestört, der hat Recht zu sagen, daß sie eine Schuld gegen ihn haben, und er hat eine Foderung an sie. Aber, m. g. F., dies dürfen wir auch nie anders als nur aus dem Gesichtspunkte jener großen Gemeinschaft des Lebens und des Wirkens im Reiche Gottes betrachten. Und wenn wir da sagen, es ist nicht anders möglich bei der großen Unvollkommenheit aller menschlichen Dinge auf Erden; jeder kommt wohl in den Fall, daß sein Mitknecht eine Schuld gegen ihn auf sich ladet: so haben wir wahrlich nicht nöthig dabei daran zu denken, welche Schuld wir | auf uns geladen haben gegen den Geber, von dem alle gute Gaben kommen, sondern daran, woran es eben nicht fehlen kann, daß unsre Mitknechte außer der großen Schuld, mit der wir dem Herrn verfallen sind, auch Foderungen an uns haben. Aber nur zu leicht, wenn unser Nächster sich auf diese Weise gegen uns vergeht werden wir ganz erfüllt von demjenigen was in ihm der Grund der Verschuldung ist, und versäumen in die Tiefen unsers eigenen Herzens hinabzusteigen und in uns den Grund der Verschuldung gegen unsern Nächsten aufzufinden. Zu dieser menschlichen Schwäche, die der Herr kannte, ließ er sich herab in seinem Gleichniß und führt uns auf das, wovon er wußte, es müsse jedes menschliche Gemüth treffen; er fodert uns auf, von der Schuld, die unsre | Mitknechte gegen uns haben, zurükzusehen auf die, welche wir

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gegen den Herrn haben und nie ganz aufgehört haben zu haben. Wenn wir nun dies beides zusammenstellen, m. g. F., dürfen wir es leugnen, der Erlöser hat vollkommen Recht das Eine zur Bedingung des andern zu machen. Wollt ihr daß der Herr euch erlassen soll eure Schuld und sie nicht ansehen; wollt ihr daß er sich begnügen soll mit den so unvollkommnen und dürftigen Leistungen, die von euch geschehen in dem Umfange seines Reiches: so müßt auch ihr mild sein gegen euern Nächsten und die Verschuldungen, die von ihm ausgehen, ihm gern erlassen. Aber, m. g. F., wodurch denn erlassen wir eigentlich unserm Nächsten die Schuld, die er in dieser Beziehung gegen | uns auf sich ladet? Nicht anders als dadurch daß wir sie, wie es wahr ist und die Natur der Sache mit sich bringt, als eine gemeinsame und als einen Theil unsrer eigenen ansehen. Was er gegen uns verschuldet hat, das hat er verschuldet gegen den Dienst seines Herrn, und es ist weniger eine Schuld gegen uns als gegen Gott. Aber in dem Werk des Herrn stehen wir alle für Einen, in diese enge Gemeinschaft hat uns seine Liebe gebunden, und darin sollen wir fest stehen. Hat unser Nächster also dieses große Werk, anstatt es zu fördern nach seinem besten Vermögen, gestört: so liegt uns ob, alle unsre Kräfte anzustrengen, damit wir seinen Mangel wieder gut machen; und immer wieder aufs | neue Kräfte von oben zu erflehen, damit wir jederzeit haben, um wieder auszugleichen durch die Kraft des Geistes, was die Schwachheit unsrer Brüder versehen hat. Das werden wir freilich nur können, wenn die Liebe in unserm Herzen wohnt, wenn das Gefühl der Vergehungen unsers Nächsten keine Bitterkeit und keinen Haß in uns zurükläßt; denn der lähmt den Menschen und hemmt am meisten den Gebrauch der Kräfte, die von oben kommen, und die nur in einem liebevollen und fröhlichen Herzen gedeihen können. Darum ist dies, daß wir dem Nächsten vergeben und übersehen, darum ist die Liebe, die milde Nachsicht der Liebe, die erste Bedingung zur wahren Vergebung, die darin besteht, daß wir die Schuld selbst auf uns | nehmen und sie abtragen helfen gegen den, der allein von uns allen zu fodern hat. Das, m. g. F., das ist die Ordnung, die der Herr in seinem Reiche feststellen wollte, und über die uns sein Gleichniß belehrt. Und was ist sie wohl anders als ein Gesez, aus dessen Erfüllung so wie auf der einen Seite die größt mögliche Förderung seines Reiches auf Erden, so auch auf der andern eben so sehr die größte Seligkeit derer hervorgehen muß, die ihn lieben und an ihn glauben. Denn je weniger wir der Bitterkeit und Härte Zutritt verstatten zu unserm Herzen; je weniger wir das selbst da thun, wo wenn von menschlichem Recht die Rede sein könnte, im Reiche der Gnade, wo Gott selbst nichts als Gnade walten läßt, | freilich ein Recht gewesen wäre zu strafen; je mehr wir in der Liebe athmen und wohnen – und wenn wir in der Liebe 27 und] Hier fehlt offenbar ein Satzteil. 40–1 Vgl. 1Joh 4,16

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bleiben, so bleibt Gott in uns und wir in ihm – : desto reicher können wir fühlen den Segen der Gemeinschaft mit Gott. Darum ist das nicht ein willkührliches Gesez sondern die höchste göttliche Nothwendigkeit, von welcher der Ewige selbst, eben weil das Gegentheil einen Wiederspruch in sich schließt, nicht befreien kann. Nur wer vergiebt dem wird der himmlische Vater wieder vergeben; nur wer vergiebt, der kann die ungetrübte Seligkeit genießen, die darin besteht, in dem Reiche Gottes zu leben, und nur was dieses betrifft in Freude und Schmerz bewegt zu werden, wo der Schmerz | sich wieder in Freude auflösen muß in jedem Gott vertrauenden und Gott liebenden Gemüth. Schauen wir nun, m. g. F., auf den hin, der am meisten zu fodern hatte von allen Menschen und am meisten erdulden mußte den Wiederspruch der Sünder: so müssen wir gestehen, auch er konnte nur der sein, der er war, weil er bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz, nicht aufhörte zu vergeben, und noch das lezte seiner Worte ein freundliches Wort herrlicher Vergebung war. Und auch wir werden seinen Geist nur in uns lebendig fühlen, auch wir werden uns nur dann in sein Bild gestalten, wenn wir ihm darin folgen. Und laßt es uns fest in unser Herz fassen und in unserm Gemüthe bewahren, unsre Freudigkeit im Dienste des Herrn, das zuversichtliche | Festhalten des Herzens an ihm, hängt davon ab, daß wir immer nur das Böse überwinden mit Gutem, und daß wir alles was unser Nächster gegen uns verschuldet erlassen in der Liebe, die alles erduldet, die alles erträgt, die alles zum Besten kehrt, und die allein das größte ist unter den himmlischen Gütern. Amen.

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Am 22. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Unser Herrscher etc. [1.] Auf o Seele Gott zu preisen! / Was auf Erden fühlt und denkt, / Soll dem hohe Ehr erweisen, / Der der Welten Ruder lenkt. / Nie vergesse seiner Güte / Schnöd’ ein menschliches Gemüthe. // [2.] Nicht nach unsern Missethaten / Spendet er verdienten Lohn, / Sondern hat uns wohl berathen / Durch den eingebornen Sohn; / Hat das Leben neu erquicket, / Was die Sünde fast erdrücket. // [3.] Er ists, der die Schuld vergiebet, / Und der Seele Schmerzen heilt, / Der mit Vatertrieben liebet, / Und mit uns sein Herze theilt, / Der, in Christo ausgesöhnet, / Uns mit Huld und Segen krönet. // [4.] Also wird nun seine Gnade / Ewig unter uns bestehn; / Die auf dem gebahnten Pfade / Seines 5–6 Vgl. Mt 6,14–15; Mk 11,25–26 21–23 Vgl. 1Kor 13,7.13

14–15 Vgl. Lk 23,34

20 Vgl. Röm 12,21

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Heils gehorsam gehn, / Und in Christo gläubig sterben, / Werden dort sein Reich ererben. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu, was hast etc. [1.] Herr mein Erlöser, der du für mich littest, / Und noch zur Rechten Gottes für mich bittest, / Erweck in mir, du Urbild wahrer Liebe, / Der Sanftmuth Triebe. // [2.] Wenn hast du je mit Haß den Haß vergolten, / Wenn schaltst du wieder als man dich gescholten? / Du segnetest mit Wohlthun nicht nur Freunde, / Nein auch die Feinde. // [3.] Und ich Herr dürfte mich den deinen nennen, / Und gegen Andre doch von Zorn entbrennen? / Ich, selbst so schuldig, wollt des Nächsten Tichten / Mit Härte richten? // [4.] Wie kann ich Vater zu dem Höchsten sagen, / Und Groll im Herzen gegen Brüder tragen? / Wie kann ich zu ihm flehn mir zu verzeihen, / Und Rache schreien? // [5.] Wer nicht vergiebt, der wird für seine Sünden / Auch nicht bei dir, o Herr, Vergebung finden; / Dein Jünger ist nur, wer wie du vergiebet / Und Sünder liebet. // [6.] So heilige denn meiner Seele Triebe, / Mein Heiland durch den Geist der wahren Liebe, / Daß nie das Mitgefühl in meiner Seele / Den Brüdern fehle. // [7.] Ja wenn sie strafbar sich an mir vergehen, / So lehre mich ihr Unrecht überstehen, / Gieb daß ich, was mich auch empfindlich kränke, / An dich stets denke. // [8.] Erwecke dann, o Herr, in meinem Herzen / Aufs neue das Gedächtniß jener Schmerzen, / Die du in deinen schweren Leidensstunden / Für mich empfunden. // [9.] Daß mit Geduld ich jedem gern begegne, / Und die auch, die mich nicht erkennen, segne. / Ja mache gegen alle die mich hassen / Mein Herz gelassen. // [10.] Und will zur Härte mich die Furcht verführen, / Als könnt ich sonst mein ganzes Glück verlieren: / O Herr so laß mich, ihr zu widerstehen, / Auf dich dann sehen. // [11.] Du schüzest den, der redlich vor dir wandelt, / Und überall nach deinem Vorbild handelt; / Drum laß in allem mich schon hier auf Erden / Dir ähnlich werden. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt’ ich meinem etc. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht, / Herr durch dich ist Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit. / Wer gleich dir durchs Leben gehet, / Schmeckt schon hier des Himmels Lust, / Friede wohnt in seiner Brust; / Wird er einst zu Gott erhöhet, / Dann mischt sich der Liebe Dank / In der Engel Preisgesang. //

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23. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,4–9 Nachschrift; SAr 102, S. 584–617; Andrae SW II/10, 1856, S. 625–640 (Textzeugenparallele; Fragment der Druckvorlage in: SAr 84, Bl. 111v–129v) Nachschrift; SAr 84, Bl. 111v–129v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Fragment) Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am drei und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1822. |

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Tex t. Philipper III, 4–9. Wiewohl ich auch habe, daß ich mich des Fleisches rühmen möchte; so ein anderer sich dünken läßt, er möge sich Fleisches rühmen – ich vielmehr, der ich am achten Tage beschnitten bin, einer aus dem Volk von Israel, [des Geschlechtes Benjamin,] ein Hebräer aus den Hebräern und nach dem Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeine, nach der Gerechtigkeit im Gesetz gewesen unsträflich. Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden geachtet; denn ich achte es alles für Schaden gegen die überschwängliche Erkenntniß Christi Jesu, meines Herrn, um welches willen ich alles habe für Schaden gerechnet, auf daß ich Christum gewinne, und in ihm erfunden werde. M. a. F., Eins ist Noth, darin stimmen wir alle zusammen, die wir den Namen Jesu Christi | bekennen, das ist nämlich dies, daß der Mensch Christum gewinne; und was wir eben mit einander gesungen haben, muß diese Überzeugung zum gemeinschaftlichen Gefühl unserer aller in diesen Augenblikken auf’s neue erhoben haben. Aber was der Apostel hier sagt, alles Andere für Schaden achten, daß man Christum gewinne, das ist von jeher mancherlei Mißverständnissen ausgesetzt gewesen, und eine Menge von Mißbräuchen und Irrthümern in der christlichen Kirche haben darin ihren Grund gehabt, daß diese und ähnliche Worte der Schrift ihrem ursprünglichen Sinne zuwider sind verstanden worden. Wenn schon von den ältesten Zeiten her und bis in die neuesten viele Christen sich zurückgezogen haben

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aus der natürlichen Verbindung mit den Ihrigen, und anstatt mit den Kräften, die Gott ihnen gegeben hatte, | in der menschlichen Gesellschaft nützlich zu sein, sich in eine unthätige Einsamkeit geworfen: so ist es daher gekommen, daß sie geglaubt haben, dadurch um so mehr zu erkennen zu geben, wie sie alles auch was dem Menschen[,] von Natur das Liebste sein muß für Schaden achten gegen Christum und seine Erkenntniß. Wenn es auch solche Christen nicht wenige gegeben hat und noch giebt, die gemeint haben, daß alle Bestrebungen der Menschen in der Erkenntniß der göttlichen Werke zuzunehmen, und auch alles dasjenige, was menschliche Wissenschaft in sich schließt, auf eine richtige Weise und in dem rechten Verhältniß zu gebrauchen, um in den Sinn des göttlichen Wortes immer tiefer und tiefer einzudringen, unchristlich seien, die ein jedes solches Bestreben verworfen, und es als etwas für das Heil der Seele Gefährliches dargestellt haben: so ist es daher gekommen, weil sie gemeint haben, nur so zeige | sich dieses Heil, daß alles, wonach der menschliche Geist von Natur strebt, auch müsse für Schaden geachtet werden, um Christum zu gewinnen. Ja wenn in manchen Zeiten die Verwirrung und der Mißbrauch in dieser Hinsicht so weit gegangen ist, daß manche gesagt haben, auch diejenigen Handlungsweisen, die im Allgemeinen auch von solchen Menschen, denen das Licht der Wahrheit in Christo nicht aufgegangen ist, gewählt werden, die gesagt haben, daß jede äußerliche Rechtschaffenheit, die außer der Gemeinschaft mit dem Erlöser dargestellt würde, daß jedes Streben nach solchen guten Werken, die sich darthun ließen an der äußern Erfahrung, daß das Alles etwas Gefährliches sei, weil dadurch die Einige Zuversicht des Menschen auf den Glauben an Christum geschwächt werde: so hat auch dies seinen Grund darin, weil man geglaubt hat, es würde dann nichts geben, was man für | Schaden achten müsse, um Christum zu gewinnen. Wie es aber zu gehen pflegt und gegangen ist, m. g. F., die Abweichung auf der einen Seite ruft die entgegengesetzte auf der andern hervor: so hat es Christen gegeben und giebt noch solche, die von dem richtigen Gefühl ausgehend, daß dies eine Verirrung, sei es mehr des Verstandes oder des Herzens, sei, und daß der Mensch sich dadurch nur mehr beschränke auf eine Weise, die den göttlichen Absichten nicht gemäß sei, die auf die andere Seite hinübergeschlagen sind, und gemeint haben, es gebe nichts, dessen sich der Mensch entschlagen müsse, um Christum zu gewinnen, es gehöre nur die rechte Freiheit der Kinder Gottes dazu, um alles für erlaubt und heilsam zu halten und sich zu gestatten, und es müsse sich die Gemeinschaft der Christen mit allem Übrigen, was Gott dem Menschen in dieser Welt gegeben hat, vereinigen lassen. So wahr es auf der einen Seite klingt, so ist es ein | Mittel geworden, um jede Unlauterkeit des Herzens zu beschönigen und damit zu bemänteln – das zeigt die Erfahrung, 12 unchristlich seien,] Ergänzung mit SW II/10, S. 626

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die zu verschiedenen Zeiten hie und da in der christlichen Kirche gemacht worden ist. Da entsteht aus einer solchen Denkungsweise eine Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt und an dasjenige, was aus dem niedrigen Gebiet des menschlichen Lebens hervorgeht, und was dem Christen schwer macht sich selbst und die Welt zu verleugnen; und so kann darüber Christus verloren gehen. Wenn nun der Apostel in den verlesenen Worten uns sagt, was er alles, dessen er sich wohl rühmen möge, so gut wie irgend ein anderer, für Schaden geachtet habe, damit er Christum gewinne: so müssen wir wohl glauben, daß wenn wir seine Worte recht genau erwägen und in den Sinn derselben recht tief einzudringen suchen, wir uns hüten | können vor beiden Abweichungen, und daß wir sie unserer Seele einprägen können als ein Richtmaaß, welches uns nicht so leicht trügen kann, wenn wir nicht vergessen, daß sie die Worte dessen sind, der so ausgerüstet mit der Kraft des göttlichen Geistes und auch so treu in der Benutzung der Gaben, die ihm der Herr verliehen hatte, sein ganzes Leben dem Dienst des Evangeliums widmete, und gewiß nicht hinter irgend einem zurückblieb, der Christum wahrhaft aufgenommen hatte. I. Wenn wir nun zuerst im Allgemeinen sehen, wie er sich über diesen Gegenstand ausdrückt, so sagt er zuerst: ich habe auch, daß ich mich Fleisches rühmen könnte; so ein anderer sich dünken läßt, er möge sich Fleisches rühmen, ich viel mehr. Und diese Worte, die beziehen sich auf die vorhergehenden, die wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht haben, wo er | nämlich sagt: wir sind die Beschneidung, die wir Gott im Geiste dienen, und rühmen uns von Christo Jesu, und verlassen uns nicht auf Fleisch. Da ist also sein Erstes dies, daß sich der Mensch keiner solchen Dinge rühmen möge, sondern allein sich von Christo Jesu rühmen. Da ist nun, m. g. F., nicht allein die Rede davon, daß sich der Mensch dessen nicht rühmen soll, was er sich selbst nicht gegeben hat. Denn freilich alle die Vorzüge, deren der Apostel hernach erwähnt, sind solche, die der Mensch sich nicht selbst geben konnte, sondern die ihm entweder mußten angeboren sein oder doch mehr oder weniger abhängen von den Unterweisungen und Vorschriften anderer Menschen zu einer Zeit, wo die Seele schon reif ist, die belehrenden Einwirkungen anderer aufzunehmen, und die mancherlei Verhältnisse des geistigen Lebens zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Sondern indem er dies beides mit einander | vergleicht, sich Christi Jesu rühmen und sich Fleisches oder anderer Dinge nicht rühmen: so sagt er auch, wir sollen uns dessen nicht so rühmen, wie wir uns Christi rühmen. Wie können wir uns aber Christi rühmen? Freilich nur so, daß er selbst und unser Antheil an ihm nichts anderes sei als eine Gabe von oben; 23–26 Vgl. oben 13. Oktober 1822 früh über Phil 3,1–3

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aber so sollen wir uns seiner rühmen, daß wir ihn ansehen als die Einzige Gabe von oben herab, durch welche erst alles andere muß geheiliget werden, durch welche erst alles andere den Werth bekommt, der feststeht im menschlichen Sinn unter allen Wechseln des irdischen Lebens. Darum, sagt er, sollen wir uns Fleisches oder anderer Dinge außer Christo nicht rühmen, weil sie nur insofern einen Werth haben, als sie mit ihm, mit dem, was er uns erworben hat, und was wir ihm zu leisten haben, in Verbindung stehen, an und für sich aber auch nicht einmal als göttliche Gaben | einen sichern und geringen Werth haben. Und daraus denn, m. g. F., werden wir auch das andere verstehen können, nämlich, was er wohl damit meint, wenn er sagt: ich achte es alles für Schaden gegen die überschwängliche Erkenntniß Christi Jesu meines Herrn, auf daß ich ihn gewinne. Wir sehen offenbar; m. g. F, daß der richtige und vollkommene Sinn des Ausdrucks, alles für Schaden rechnen oder achten gegen Christum, nur in den letzten Worten liegt – denn die überschwängliche Erkenntniß Christi, die wird nicht beeinträchtigt durch irgend etwas anderes – aber, sagt er, ich habe alles andere, eben nachdem ich die überschwängliche Erkenntniß Christi gewonnen habe, alles für Schaden geachtet, damit ich Christum gewinne. Also nur insofern, ist seine Meinung, sollen wir alles dasjenige, dessen freilich sich der nicht rühmen kann, der gelernt hat sich allein von Christo Jesu rühmen, nur insofern | sollen wir alles das für Schaden achten, als es darauf ankommt Christum zu gewinnen, und also auch nur insofern, als es uns daran hindern könnte Christum zu gewinnen. Christus aber, m. g. F., wird freilich auf der einen Seite einmal und einmal für alle mal gewonnen, wenn das dem Menschen in dem Innersten seiner Seele deutlich geworden ist, daß es für ihn kein Heil giebt und keine feste Zuversicht, kein sicheres Gefühl des göttlichen Wohlgefallens, als nur insofern er sich in die innigste Verbindung mit dem setzt, an welchem allein Gott ein unmittelbares Wohlgefallen haben kann, mit dem, in welchem allein die unmittelbare Kraft der Seeligkeit in einer menschlichen Seele beruhen kann. Sobald dem Menschen dies in seiner Seele klar geworden ist, so hat er eigentlich Christum gewonnen. Aber auf der andern Seite muß Christus auch immer wiedergewonnen werden; | er kann uns nicht anders bleiben als durch die beständige unausgesetzte Thätigkeit des Glaubens, der durch die Liebe thätig ist. Der muß in unserer Seele immer lebendig bleiben[,] unser Glaube, sonst wird uns Christus entwunden; und er kann nur lebendig bleiben, insofern er durch die Liebe thätig ist, sonst geht er zurück in ein todtes Wesen und in die Erkenntniß des todten Buchstabens und der Geschichte. Durch diese Gabe der lebendigen Erkenntniß des Glaubens in der Seele, der nie soll geschwächt werden, und durch die Thätigkeit desselben in der Liebe, dadurch wird Christus 7 stehen] stehe 8 Gaben] Ergänzung aus SAr 84, Bl. 117r aus SAr 84, Bl. 118r

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immer wieder gewonnen. Was uns also daran hindern kann, Christum, sei es einmal für alle mal oder sei es auch in dem Verfolg des irdischen Lebens immer wieder zu gewinnen, und ihn festzuhalten in der Seele, das sollen wir für Schaden achten. Das, m. g. F, das ist der allgemeine Sinn der Vorschrift | des Apostels; und sie wird uns klarer werden und lebendiger, wenn wir dabei auf die einzelnen Beispiele sehen, die er wählt. II. Was sagt er also zuerst, dessen er sich wohl rühmen könnte mehr als irgend ein anderer? „Ich, sagt er, bin am achten Tage beschnitten, einer aus dem Volke von Israel, des Geschlechtes Benjamin, ein Hebräer aus den Hebräern.“ Das ist also, m. g. F. der Vorzug der Geburt, allerdings Fleisch, und wer sich dessen rühmen wollte, der würde sich Fleisches rühmen. Was sagt aber der Apostel in seinem Briefe an die Römer, wo er von Anfang an zu zeigen sucht, daß Juden und Heiden, was die göttliche Gnade betrifft, sich ganz in demselben Falle befinden? Die Einen hätten gesündigt, aber ohne ein geschriebenes Gesetz, gegen das Gesetz, welches Gott in ihr Inneres geschrieben hat; die Andern hätten gesündigt gegen das geschriebene | Gesetz Gottes. Nachdem er dies auseinandergesetzt, sagt er: So ist es denn nichts ein Jude zu sein? so haben denn die Juden keinen Vorzug vor den Heiden? O wohl, sagt er, sie sind diejenigen, denen die Offenbarungen Gottes zu Theil geworden; sie sind diejenigen, an denen sich Gott durch wunderbare Führungen verherrlicht hat; sie sind diejenigen, von denen Christus abstammt nach dem Fleisch. Nun, sagt er, so wäre dies ja allerdings etwas, wiewohl Fleisch, dessen man sich rühmen könnte, und worin ein Vorzug des Menschen vor andern läge. Wollte er dies nun etwa von sich werfen und es für Schaden halten? Nein, eine lange Zeit seines Lebens hindurch hat der Apostel sein ganzes Streben darauf gerichtet, sich unter seinem Volke auszuzeichnen als ein solcher, der den natürlichen Vorzügen desselben Ehre machte, er hat die ihm von Gott verliehenen Kräfte in der Ver|kündigung des Evangeliums zuerst und vorzugsweise seinem Volke gewidmet, er hat gestrebt nach allen den Eigenschaften, wodurch er nicht nur zu den Achtbarsten seines Volks gezählt werden mußte, sondern auch demselben nützlich sein konnte. Und wenn er sagt, daß er ein Eiferer gewesen um das Gesetz, sagt er daß ihm dies leid thue und Schaden gebracht habe? Keines weges; sondern, sagt er, nachdem ich Christum gewonnen habe, so rühme ich mich dessen nicht mehr, denn ich sehe, daß in dieser Hinsicht alle Menschen gleich sind vor Gott, und daß auch diejenigen, welche wie unsere Vorfahren die göttlichen Offenbarungen empfangen haben, nicht gerecht werden mögen durch des Gesetzes Werke, sondern wie die Heiden, denen die Kraft eines äußern Gesetzes mangelte, allein durch den Glauben an 12–21 Vgl. Röm 1,18–3,2

18–21 Vgl. Röm 3,1–2

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Christum. Aber dennoch warf er diesen Vorzug keines weges weg; aber sobald er ihn hindern konnte Christum zu gewinnen | und in dem Verlauf seines Lebens immer wieder zu gewinnen, sobald er ihn hindern konnte in dem reinsten Eifer für die Sache Christi und in der Erfüllung des Berufes, der ihm in dem Reiche des Herrn geworden war, und dem er sich ganz gewidmet hatte; so achtete er ihn für Schaden. Wenn seine Amtsgenossen kamen und sagten, es sei des Juden unwürdig auf eine solche Weise mit den Heiden umzugehen, wie er es thun mußte, um die Stimme des Evangeliums, so weit seine Kräfte und die Umstände es ihm gestatten machten, nach allen Seiten hin ertönen zu lassen, und allen alles zu sein, damit er überall Anhänger des Herrn gewönne: so sagte er, ich bin mit Christo dem Gesetz getödtet; und so achtete er es für Schaden, wenn er auf keine andere Weise Christum festhalten und für sein Reich thätig sein konnte. Wie viel mehr wir! Sollen wir es nicht für einen Vorzug halten, daß wir einem Volke angehören, in welchem schon seit einer | Reihe von Jahrhunderten alle Schätze des Evangeliums geblüht haben, daß wir einem Volke angehören, welches Gott auf mancherlei Weise ausersehen hat, um als ein Licht zu leuchten unter andern Völkern, von welchem auch schon eine große Menge von Bemühungen, das Evangelium zu verbreiten unter denen, die noch wandeln in der Finsterniß und in dem Schatten des Todes, ausgegangen sind und immer noch ausgehen? sollen wir das für etwas Geringes halten und uns mit unseren Wünschen und Bestrebungen entfernen aus dem weiten Umkreise des Lebens, welches unter unserem Volke herrscht, und aller der Bemühungen auf anderen Gebieten menschlicher Thätigkeit, die der Herr unter unserem Volke so erfreulich gesegnet hat, und dagegen die Wüste suchen, um zu zeigen, daß wir alles, was auf diese Weise gewonnen werden kann, für Schaden achten? sollen wir unserer Theilnahme an dem, was unserem Volke theuer und werth ist, entsagen, um zu zeigen, daß wir | keinen andern Eifer haben als für Christum? Das wäre thörigt und gegen den Sinn und die Weise des Apostels. Denn auch er hatte den lebendigsten Eifer seinem Volke zu dienen, und sobald er selbst erleuchtet war von oben herab, so war es auch sein innigstes Bestreben, daß er auch seinem Volke das Licht des Evangeliums brächte und es zur Erkenntniß dessen erhöbe, den Gott zum Herrn und Christ gesetzt hat, und er meinte, sie müßten ihm grade am meisten glauben und durch ihn am meisten von ihrer Verblendung zurückgebracht werden, weil er vorher aus mißverstandenem Eifer ein Verfolger des Christenthums gewesen war; und nur die herzlichsten Vorstellungen aller seiner Brüder, die mit ihm an dem Werke Christi arbeiteten, daß er auf diese Weise sein Leben in Gefahr setze ohne einen sichern 26 Weise] Ergänzung aus SAr 84, Bl. 121v 6–11 Vgl. 1Kor 9,19–22

11–12 Vgl. Gal 2,19

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Erfolg seiner Bemühungen zu sehen, und daß er dadurch seine Kräfte denen entziehe, | die bereitwillig sein möchten das Heil in Christo anzunehmen, vermochten ihn die Hauptstadt seines Volkes zu verlassen, nachdem er im Tempel und in der Schule daselbst unermüdet wirksam gewesen war für das Reich Gottes. Aber wo er auch hinkam, lebte überall die Liebe seines Volkes in ihm, und er zeigte, daß er es nicht für Schaden achtete seinem Volke anzugehören, und nicht unerfreulich waren ihm die heiligen Bande, durch welche er an dasselbe gekettet war. Denn überall wandte er sich zunächst an diejenigen, welche durch die Einrichtung der Natur seine Volksgenossen und Brüder waren, und ging immer zuerst in die Schulen des jüdischen Volks, um aus der Schrift zu zeigen, daß Jesus von Nazareth der sei, dessen sie warteten; und nur erst, wenn sie es nicht annahmen, nur erst, wenn seinen Bemühungen, so weit sie auf andere Menschen gerichtet waren, von Seiten seiner Volksgenossen entgegengestrebt wurde, so achtete er es für Schaden weiter mit ihnen umzugehen | und entfernte sich von ihnen, damit er Christum und in ihm die Wahrheit, das Wort des Lebens, gewönne. So sehen wir, worauf uns seine Vorschrift führt. Unser aller natürlicher Beruf ist, das Reich Gottes gründen zu helfen mitten unter den Geschäften des gewöhnlichen Lebens, und dazu mögen und sollen wir uns aller Vorzüge bedienen, deren unser Volk im Allgemeinen sich erfreut. Aber daß wir dessen theilhaftig werden können Christum zu gewinnen, deß sollen wir uns nicht rühmen, weil es eine Gabe Gottes an uns ist; aber gebrauchen sollen wir es als eine Gabe Gottes, von deren Benutzung wir dem Herrn Rechenschaft schuldig sind, und es nicht wegwerfen wie der, der thörigter Weise das ihm anvertraute Pfund liegen ließ, und es unverkürzt wieder zum Vorschein brachte, statt mit demselben gearbeitet und geschafft zu haben nach dem Willen seines Herrn. – Der Apostel sagt ferner von sich, er sei gewesen nach dem | Gesetz ein Pharisäer, nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeine. Nach dem Gesetz ein Pharisäer, damit meint er offenbar, daß er in dieser Schule von Jugend auf sich beflissen habe einer genauen Erkenntniß des Gesetzes, und am meisten, daß er ihr nicht etwa anhing wie ein großer Theil von dem Volkshaufen, sondern wie er sich auch sonst rühmt, er sei erzogen zu den Füßen Gamaliels, eines ausgezeichneten Lehrers, und mit allem Fleiß unterrichtet in dem väterlichen Gesetz. Da rühmt er sich seiner Erkenntniß. Wie? heißt das auch sich Fleisches rühmen? ist das nicht eine geistige Gabe? Ja wohl, m. g. F, aber für den Christen ist nur der Herr wahrhaft Geist und alles andere im Vergleich damit ist nur Fleisch; und so stellt der Apostel auch hier seine Kenntniß und sein Wissen vom Gesetz und der Geschichte seines Volkes und von den Satzungen der Vorfahren dar als Fleisch, aber dennoch als etwas, dessen er sich wohl rühmen möchte, wenn der Apostel sich überhaupt dessen | rühmen könne, 24–27 Vgl. Lk 19,20–21

32–34 Vgl. Apg 22,3

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was nicht sein Eigenthum ist, sondern ihm geworden durch eine sorgfältige Erziehung, durch günstige Gelegenheiten und durch natürliche Gaben des Geistes. Hat er nun diese seine Erkenntniß, die er außer der Gemeinschaft mit dem Erlöser empfangen hatte, hat er sie etwa weggeworfen, nachdem er von Christo erleuchtet war? Keines weges, sondern wohl hat er sie zu gebrauchen gewußt, als er das Evangelium denen verkündigte, die theils noch gänzlich unter der Knechtschaft des Gesetzes lebten, theils sich noch nicht erheben konnten zu der rechten Freiheit der Kinder Gottes allein durch den Glauben an den Erlöser; und wenn es seine natürliche Lage verlangte, seinem Volke das in Christo erschienene göttliche Heil zu predigen, so bediente er sich seiner Kenntniß der Schrift, um aus der Schrift selbst zu beweisen, daß Jesus von Nazareth derjenige sei, auf den schon ihre Propheten hingewiesen, und dessen | ihre Väter gewartet hätten; und auf der andern Seite knüpfte er an das prophetische Wort an, daß der Gerechte seines Glaubens leben werde, daß also das Gesetz zwar gegeben sei, aber daß auch durch des Gesetzes Werke niemand gerecht werden könne vor Gott, daß der Herr kein Wohlgefallen habe an dem Lippendienst, wodurch das Volk ihn zu verehren meine, sondern allein an dem Gehorsam eines ihm geweihten Herzens; und dieses prophetische Wort suchte er geltend zu machen gegen alle diejenigen, die auf Kosten der Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit ihre Brüder in dem Herrn die Satzungen der Väter aufdringen wollten. Er hat sich also dieser Erkenntniß wohl bedient und zwar zum Vortheile des Evangeliums. Was meint er aber damit, wenn er sagt, er habe sie für Schaden geachtet? Die Schule der Pharisäer, der er angehörte, war weit verbreitet unter dem Volke und die geachtetste unter allen; aber sie spaltete sich in sich | selbst, und daraus entstand eine Menge von Irrthümern und verkehrten Bestrebungen. Wenn also der Apostel ein solcher Pharisäer geblieben wäre, so wäre das nicht in Erfüllung gegangen, was in jener merkwürdigen Stunde, wo er durch die Kraft der göttlichen Gnade aus einem Verfolger des Christenthums zu einem Anhänger desselben gewonnen ward, die Stimme des Herrn ihm zurief: „es soll dir schwer werden gegen den Stachel auszuschlagen.“ Schwer wäre es freilich gewesen; aber er hätte es doch gethan, denn jene Sekte wirkte am meisten der Verbreitung der christlichen Kirche entgegen, und die meisten Verfolgungen, welche in jener Zeit die Bekenner des Herrn zu erleiden hatten, gingen von ihr aus. Da hätte ihn also die Verbindung mit denen, die sich einer gleichen Erkenntniß mit ihm freuten, und die ihm als Genossen derselben Erkenntniß theuer und werth waren, die hätte ihn hindern können Christum zu gewinnen, und insofern dies ge|schehen konnte warf er sie von sich und entschlug sich ihrer, um sich desto inniger an diejenigen anzuschließen, die allein den Erlöser und seine Sache vor Augen hatten. So, m. g. F. so ist es mit aller menschlichen Erkenntniß. Sie ist eine theure Gabe Gottes und 14–17 Vgl. Hab 2,4; Gal 3,11

17–19 Vgl. Jes 29,13–14

31–32 Apg 9,5; 26,14

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werth, daß wir sie pflegen und benutzen; freilich aber ist alle menschliche Weisheit nur Fleisch gegen die Weisheit, die in Christo der Welt offenbart ist. Aber wie das Fleisch dem Geiste dienen soll, so auch alle menschliche Weisheit und Erkenntniß soll dem Reiche Gottes dienen; und wehe dem, der einen Schatz davon erworben hat und wollte ihn wegwerfen aus Unverstand. Denn alles, was der Mensch sich angeeignet hat aus dem ganzen Gebiete des menschlichen Wissens, kann gebraucht werden, um das göttliche Wort immer gründlicher aufzufassen, um das Reich Gottes in sich selbst immer fester zu begründen und es immer weiter zu verbreiten unter den Menschen; nichts giebt es, was sich dazu nicht auf eine würdige Weise gebrauchen ließe. Aber sobald sich | das, was Fleisch ist, dadurch zeigt, daß es dem Geiste widerstrebt, dann müssen wir es für Schaden halten. Freilich der richtige Gebrauch der Erkenntniß der Wahrheit kann das nicht sein; aber bei einem Mißbrauch derselben ist es möglich, daß sie sich gegen den lebendigen Geist des Christenthums richtet; und wenn diese Verkehrtheit nun nicht in uns, sondern in andern so tiefe Wurzeln geschlagen hat, daß sie mit der Erkenntniß Christi zusammenhängt; dann mögen wir uns von ihnen trennen, aber nicht von dem, was durch die heilsamen Einrichtungen Gottes uns geworden ist, um immer fester gegründet zu werden in der Erkenntniß der christlichen Wahrheit, und uns immer mehr bescheinen zu lassen von dem Lichte, welches uns Gott zu unserer Seligkeit gegeben hat, und welches die ganze Welt erleuchten soll. Endlich sagt der Apostel: ich bin gewesen nach dem Eifer ein Verfolger der Gemeine, | nach der Gerechtigkeit im Gesetz unsträflich. Wir mögen beides, m. g. F, gleich zusammenfassen. Wenn der Apostel hier etwas hinstellt, dessen er sich rühmen könnte: so meint er nicht dies, daß er die Gemeine Gottes verfolgt habe; denn er sagt an einem andern Orte, daß er sich für den geringsten unter allen Aposteln halte, weil er die Gemeine des Herrn verfolgt habe. Aber den Eifer, den er in dieser Verfolgung bewiesen, den meint der Apostel, und dessen, meint er, könne er sich rühmen. Und auch die Unsträflichkeit nach dem Gesetz, dabei, m. g. F, müssen wir uns nicht denken die pünktliche Erfüllung aller der unzähligen Vorschriften, welche das Gesetz gab von Waschungen, Reinigungen und Opfern; sondern dem Juden war das ganze Gesetz Eins, und auch das, was wir den Geboten Gottes zum Grunde legen als die Richtschnur unseres Handelns, war ein dazu Gehöriges; und das hat der Apostel im Sinne, wenn er meint, | er hätte sich der Unsträflichkeit nach dem Gesetz beflissen. Darin war also die ganze Rechtschaffenheit des Lebens begriffen. Wie, ist auch das Fleisch? Ja, m. g. F., der Christ kann und darf nicht anders sagen. Es ist Fleisch und ein solches, dessen er sich nicht rühmen soll auf die Art, wie er sich Christi Jesu rühmt. Denn wenn wir fragen, wem ist denn das Verdienst zuzuschreiben, wenn der Mensch un27–28 Vgl. 1Kor 15,9

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sträflich ist nach dem Gesetz? so wissen wir es wohl, wie viel dabei darauf ankommt, daß die Heftigkeit der menschlichen Neigungen und Leidenschaften, die am meisten ihn treibt das Gesetz zu übertreten, zu rechter Zeit in der Jugend durch eine sorgfältige Erziehung in ihre Schranken gebracht, und er selbst gewöhnt werde, seinen eigenen Willen dem Gehorsam gegen das Gesetz unterzuordnen; wie viel dabei darauf ankommt, daß der Mensch bei Zeiten lerne, nicht nur auf | sein eigenes, sondern auch auf das übereinstimmende Gefühl Anderer zu achten, und sich selbst von dem Gefühl des Schmerzes durchdringen zu lassen, wenn er demselben zuwider handelt, dagegen aber der Freude Raum zu geben in seinem Innern, wenn er demselben folgt – und das alles sind Sachen der Erziehung, die er sich selbst nicht geben kann. Aber wenn wir auch alle gute Werke menschlicher Rechtschaffenheit und bürgerlicher Gerechtigkeit mit einrechnen: so müssen wir gestehen, als Gabe Gottes können wir uns derselben im Vergleich mit Christo nicht rühmen. Denn für Christum haben sie keinen Werth, und ein Christ fühlte es, daß, wie sehr das Alles auch der Mensch mit seiner Thätigkeit umfassen möge, wenn aber nicht in seinem Innern das Licht des Glaubens aufgegangen und sein Herz nicht durchdrungen ist von der Kraft der Liebe zu den Brüdern und der gemeinsamen Sache der Menschen, die aus dem | Glauben kommt, und des Gesetzes Erfüllung ist: so haben sie keinen größern Werth vor Gott als die Werke, die aus einer Reihe von Sünden und Übertretungen des göttlichen Willens hervorgehen. Darum sagt der Apostel, er wolle sich nicht rühmen seiner Gerechtigkeit nach dem Gesetz. Aber wie? hat er sie etwa von sich geworfen? Wie rühmt er sich in andern Stellen, es kümmere ihn nicht, ob er reich sei oder arm, ob geehrt oder verachtet, er habe gelernt sich genügen lassen an dem, was ihm der Herr beschieden! wie hebt er nicht hervor alle andere Tugenden, Beharrlichkeit, Mäßigkeit und treue Pflichterfüllung, ohne welche er unmöglich so viel hätte ausrichten können in dem Dienste des Herrn? Gebraucht also hat er seine Unsträflichkeit nach dem Gesetz und seine guten Eigenschaften in dem Werke des Herrn, an welches er gewiesen war, und sie nicht für Schaden geachtet. Aber wenn diese Unsträflichkeit und Gerechtigkeit | in Streit damit kam, Christum zu gewinnen und festzuhalten in seinem Innern; wenn es möglich gewesen wäre, irgend einer Einseitigkeit dafür Raum in sich zu geben, irgend einen geheimen Stolz in sich zu nähren, als habe er etwas, was er nicht von oben empfangen, was einen Werth habe an und für sich auch wenn es nicht eingetaucht wäre in die Liebe zu Christo und seiner Sache: so hätte er es für Schaden geachtet und geglaubt, daß er um nichts 4 der Jugend] Ergänzung aus SAr 84, Bl. 128v 29 hat] Ergänzung aus SAr 84, Bl. 129v 25–27 Vgl. Phil 4,11–12

18 nicht] Ergänzung aus SAr 84, Bl. 129r

27–29 Vgl. 2Kor 6,4–10

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besser sei als jeder, der fern von allem Streben nach einer gesetzlichen Gerechtigkeit den größten Ausschweifungen sich hingegeben habe, und daß es keinen andern Unterschied unter den Menschen zu beachten gebe, als den zwischen solchen, die dem Geiste Gottes Raum geben in ihrem Herzen, und sich durch ihn zum Vater ziehen lassen, und zwischen denen, die das Heil, welches allen Menschen in Christo angeboten ist, von sich | gestoßen haben. Wenn wir nun, m. g. F, eben so wie der Apostel[,] in diesem Sinne alles gebrauchen zur Förderung des Reiches Christi auf Erden, was Gott der Herr uns gegeben hat, und mit fester Danksagung alle seine Gaben anwenden, und alles, was wir in der Welt zu verrichten haben, zu seiner Ehre thun, und immer bereit sind die strengste Rechenschaft abzulegen von jedem, was wir in allen Verhältnissen des Lebens wirken; aber auch auf der andern Seite fest daran halten, daß nur Eins Noth sei, nur Eins das wahre Ziel und Heil des Menschen, und daß es an sich nichts noch so Gutes, noch so Schönes, noch so Herrliches gebe, was ihm nicht zum Schaden gereichen könne, was nicht irgend einmal könne in Widerspruch treten mit der Sache des Erlösers und mit dem eifrigsten Streben von unserer Seite ihn allein unter uns zu ver|herrlichen, und daß es dann müsse weggeworfen und für Schaden geachtet werden – wenn wir das thun: dann werden wir eben so bereit sein, wie er war, in dem Dienste des Herrn die Welt und uns selbst zu verleugnen, eben so achtsam auf uns selbst, daß nichts in unserem Innern Raum gewinne, was mit der Gnade, die uns Gott in Christo erwiesen hat, in Widerspruch steht; aber auf der andern Seite werden wir auch treue Diener sein in dem Hause des Herrn, wohin er uns gesetzt hat seinen Willen zu erfüllen, und nichts unternehmen und thun, wovon wir nicht Gott und dem Erlöser Rechenschaft geben könnten. Und so laßt uns weislich handeln mit dem, was Gott uns anvertraut hat, und vorleuchten mit einem guten Beispiel unsern Brüdern, die auf die eine oder andere Seite abzuschweifen in Gefahr sind: damit immer mehr durch die Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist, alle gläubige Gemüther verbunden, und durch alles, was Gott der Herr segensreich unter uns ausgegossen hat, sein Reich wahrhaft möge gefördert werden. Amen.

30–31 Vgl. Kol 3,14

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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr, 25. Thronjubiläum Friedrich Wilhelms III. von Preußen Ort: Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Bibeltext: Spr 22,11 Textzeuge: Drucktext Schleiermachers; Predigt am 17ten November 1822, 1823 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 128–142; 21844, S. 176–191 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 103–115 Auswahl Predigten, ed. Langsdorff, 1889, S. 113–129 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 102, S. 619–657; Andrae (Parallele der Drucktextvorlage Schleiermachers) Nachschrift; SAr 52, Bl. 137v–138r; Gemberg Besonderheiten: Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am 17ten November 1822 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1823. Gedruckt bei G. Reimer. |

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Jauchzet dem Herrn, alle ihr Völker! Denn der Herr ist sehr freundlich, und seine Gnade und Wahrheit währet für und für. Amen. M. g. F. Welch ein Tag der Freude uns heute hier vereinigt, das ist uns allen bekannt. Fünf und zwanzig Jahre, ein Zeitraum, nach welchem wir gewohnt sind, bei allen wichtigen Verhältnissen des Lebens uns über die ungestörte Fortdauer derselben zu freuen, fünfundzwanzig Jahre sind es her, seit der König das Zepter über seine Völker ergriff; und noch hat ihn uns der Herr erhalten, noch ist sein Leben kräftig in seinem männlichen Alter, und menschlicher Wahrscheinlichkeit nach dürfen wir Erhörung hoffen für die Gebete, die heute besonders für 6 und seine] nnd seine 5–7 Kanzelgruß vgl. Ps 100,1.5 11–12 Mit dem Tod Friedrich Wilhelms II. von Preußen am 16. November 1797 war die preußische Königswürde auf Friedrich Wilhelm III. übergegangen.

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seine fernere Erhaltung zu Gott aufsteigen. Die Freude aber, m. g. F., mit der wir und alle Unterthanen des Königs diesen Tag begrüßen, ist uns ein sicheres Zeichen, daß es außer dem Bande des Gehorsams, welches uns alle vereinigt unter der Macht und Gerechtigkeit des Königs, noch ein anderes Verhältniß, das persönlicher Liebe und An|hänglichkeit zwischen uns und ihm giebt. Denn, m. g. F., wollten wir bloß auf dasjenige sehen, was uns durch die Macht und Gerechtigkeit unserer Fürsten wird: so können wir uns nicht bergen, alle Welt rechnet grade das zu den großen Vorzügen jeder wohlgeordneten erblichen Alleinherrschaft, wenn der Wechsel in der Person des Herrschers das Gefühl der Völker in dieser Beziehung nicht auf eine bedeutende Weise trübt oder ihren Zustand wesentlich verändert. Wenn wir auf die Vergangenheit zurücksehen, und uns fragen, würden die Völker in diesen Ländern unglücklich gewesen sein, und das gemeinsame Wohl gestört, wenn von denjenigen unsrer Regenten, die schon ehedem ein solches Fest mit ihren Völkern gefeiert haben, der eine oder der andre nach dem göttlichen Rathschluß wäre früher abgefodert worden von seinem Beruf? und wenn wir auf unsere eigene Lebenszeit zurücksehen, befanden wir uns, als dieser geliebte König seinen Thron bestieg, in einem unglücklichen Zustande, aus welchem wir hoffen mußten, durch diese Veränderung errettet zu werden? oder, indem wir für sein Leben, so oft wir uns hier versammeln, zu Gott flehen, liegt dem die Besorgniß zum Grunde, als ob wir würden unglücklich werden, wenn Gottes Rathschluß ihn einst von uns ruft, und der jetzt schon so sehr geliebte Erbe des Thrones seine Stelle einnimmt? Nein, 25 einnimmt] einnimt 24–25 Friedrich Wilhelm IV., geboren am 15. Oktober 1795, sollte erst 1840 die Thronfolge antreten. Anfang der 1820er Jahre stand er noch stark im Schatten seines Vaters, der als größter Kritiker des zur romantischen Denkweise neigenden Kronprinzen galt und ihm wenig Handlungsspielraum zugestand. Er war jedoch in Staatsrat und Staatsministerium vertreten und übernahm repräsentative Verpflichtungen in Militärund Zivilbereich. Im Dezember 1820 erhielt er den Vorsitz der sog. „Kronprinzenkommission“, die sich mit der Umsetzung des königlichen Versprechens von 1815, eine neue ständische und repräsentative Verfassung einzuführen, beschäftigen und die Reformpläne Hardenbergs prüfen sollte. Dass Letztere jedoch von der unter dem Einfluss des feudalständisch orientierten Adels stehenden Kommission abgelehnt werden würden, stand schon bei ihrer Einsetzung fest. Der Kronprinz, der eher Anhängsel als Mittelpunkt der Kommissionsarbeit war, vertrat dabei die Auffassung, dass dem Volk per se kein Recht auf Mitregierung und Selbstverwaltung zustehe, sondern ihm diese nur als Gnadengabe der Machtfülle des Königs zukommen könne. Die Kommission wurde 1821 mit der Ausarbeitung eines provinzialständischen Gesetzgebungswerkes beauftragt, das eine Absage an alle gesamtstaatlichen Repräsentativvorstellungen war, und bestand bis 1823. (Vgl. Blasius, Friedrich Wilhelm IV., S. 58–59; Borries, Friedrich Wilhelm IV., S. 563–566)

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m. g. F., aber es giebt ein anderes innigeres Band, welches die Völker an diejenigen knüpft, die der Herr bestimmt hat, um über sie zu herrschen; wo dieses besteht, da hängen | sie mit Liebe an der Person des Fürsten, und eben diese persönliche Liebe und Anhänglichkeit ist es, die sich auf eine so schöne und erfreuende Weise auch an dem heutigen Tage ausspricht. Dieses persönliche Verhältniß m. g. F. hat aber seinen nächsten Grund auch immer in dem unmittelbaren Eindruck, den die Person des Herrschers macht, in einer Kenntniß von seinem Gemüth und seinem Leben, welche nicht allein erworben werden kann durch die Kunde von den Gesezen, die er giebt, und von der Weise, nach welcher er regiert, sondern zu welcher die Völker nur gelangen, indem sie ihn in seinem Leben und Sein auch außer den unmittelbaren Handlungen seines Berufs beobachten. Darum, m. g. F., sind wir, wir die Bewohner dieser Hauptstädte, in denen der theure König den größten Theil seines Lebens verweilt, wir sind vorzüglich die Träger dieses schönen und glücklichen Verhältnisses. Wie wir selbst alle diejenigen vorzugsweise glücklich preisen, die zu den nächsten Umgebungen des Königs gehören: so auch werden wir wiederum glücklich gepriesen von denen, die seinem Throne und seinem unmittelbaren Anblick weiter als wir entrückt sind; von uns, durch die Verbindungen die ein jeder hat in der Ferne und in den verschiedenen Theilen des Reiches, verbreitet sich die Kunde von dem vortrefflichen und liebenswürdigen in der Persönlichkeit des Königs; und durch diese Kunde wird überall auch die persönliche Anhänglichkeit an ihn erhalten und immer weiter fortgepflanzt und verbreitet. – So laßt uns denn, m. g. F., den heutigen festlichen Tag beson|ders aus diesem Gesichtspunkt betrachten! Nicht wollen wir uns heute mit der ersten Milch des Evangeliums in Beziehung auf unsre bürgerlichen Verhältnisse nähren; nicht davon reden, wie wir dem König Unterwerfung schuldig sind und Gehorsam seinen Befehlen, nicht daran denken, welch ein schreckliches Verbrechen es ist, wenn das Verhältniß zwischen Fürst und Volk durch Widerstreben gegen Gesetz, Ordnung und Recht gestört wird; sondern darnach fragen und darüber uns besinnen, was denn vorzüglich von unsrer Seite bisher der Grund gewesen ist zu diesem schönen Verhältniß persönlicher Anhänglichkeit und Liebe, und was wir also auch ferner dazu thun können, damit es auch so erhalten bleibe und ferner bestehe, und sich von uns über alle Gegenden verbreite, welche mit uns dem Zepter des Königs gehorchen. Laßt uns zu dem Ende vernehmen folgende Worte der Schrift, die wir zum Grunde unsrer Betrachtung legen wollen. 24 die persönliche] diepersönliche

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Text. Spr. Salom. XXII, XI. Wer ein treues Herz hat und eine liebliche Rede, des Freund ist der König. 5

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In diesen Worten, m. g. F., wird uns das schönste Ziel vorgehalten, welches wir dem Bestreben, von dem wir heute alle vorzüglich erfüllt sind, nur vorstecken können „deß Freund ist der König.“ Daß der König nicht nur sich auch wohlwollend und liebend mit sei|nem Herzen hinneige zu seinen Völkern, sondern daß wir uns auch eine eben so innige Anhänglichkeit von ihm gegen uns erwerben und – so weit man das sagen kann – verdienen, wie wir dieselbe empfinden gegen ihn: das ist das schönste Ziel unserer innigen und herzlichen Anhänglichkeit, wornach sie ganz vorzüglich strebt. Die Worte der Schrift aber sagen uns zugleich, auf welche Weise wir dieses Ziel erreichen mögen. Laßt uns stehen bleiben bei den beiden Eigenschaften, welche die Worte unsers Textes dazu fodern: daß dazu gehöre, zuerst ein treues Herz, dann aber auch eine liebliche Rede; und wenn wir beides nach einander betrachtet haben, wird uns von selbst deutlich sein, daß diese Worte nicht etwa nur einen vorzüglich guten Rathschlag enthalten, sondern daß sie alles zusammenfassen, was wir in dieser Hinsicht jeder von sich selbst und jeder von Allen fodern und erwarten können. I. Zuerst, m. g. F., ein treues Herz sei immerdar dem König, der uns beherrscht, von uns allen geweiht, damit auch sein Herz sich freundlich zu uns neige. Es giebt, m. Th., eine eigennüzige Treue, welche freilich auch aus dem Herzen kommt; aber aus einem verkehrten, ich meine einem selbstsüchtigen, welches also auch immer, sobald wir es genauer nehmen, ein treuloses ist. Das ist die Treue, welche in dem einen oder andern Sinne den niedrigen Wahlspruch hat, „Weß Brot ich esse, deß Lied ich singe.“ Diese eigennüzige Treue finden wir leider häufig genug, und wir dürfen wol sagen, sie ist natürlich genug in solchen | Staaten, wo ein Theil des Volks, sei es nun aus Verschiedenheit der Geburt und der Abstammung, oder sei es aus Vorrechten des ursprünglichen Besitzes oder der Eroberung, oder auf welche Weise sonst, kurz wo ein Theil des Volks eine gewissermaaßen feindselige Stellung gegen den andern hat, und die Einen glauben, daß der Herrscher ihnen auf eine besondere Weise eigen und verwandt sei. Wir finden sie auch da häufig, und auch natürlich, wo in einem schon größeren Gebiete, was nur irgend aus den übrigen Theilen des Ganzen aufgebracht und von ihnen entbehrt werden kann, in dem Mittel1 XXII, XI] XXII, II

29 singe.“] singe.

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punkt zusammengehäuft wird, um durch alles, was Pracht und Aufwand heißt, was zu einem glänzenden genußreichen Leben gehört, die den Thron Umgebenden zu bereichern und zu beglücken, während die andern und von demselben entfernteren Bewohner des Landes von einer Stufe der Dürftigkeit zur andern herabsinken. In beiden Fällen giebt es eine eigennüzige Treue, die auf alle Weise strebt einen solchen Zustand auch mit allen seinen unbilligen Ungleichheiten zu erhalten. – Wie müssen wir, m. g. F., Gott danken, daß wir durch den Geist, der von Anfang an unsre Herrscher erfüllt und geleitet hat, von diesem Zustande sind befreit geblieben, wie lockend auch der zu mancher Zeit herrschende Geist die Versuchung hinstellte, auch uns in einen ähnlichen Zustand zu versezen. Aber Gott sei Dank, spricht sich unsre Treue aus gegen den König, so kann keinem unserer Mitunterthanen in dem ganzen Umfange des Reiches diese Empfin|dung nur als eigennüzig, ihm selbst aber und seinem Wohl feindselig erscheinen. So sehr erfreuen wir Alle uns gleicher Ansprüche an die Gerechtigkeit und Milde des Königs; so sehr ist bei uns die Gegenwart des Herrschers, wenn gleich leiblicher Weise auf Einen Ort beschränkt, doch geistig sich gleich in allen Theilen seines Reiches, daß von einem solchen Gegensaz eines Theiles seiner Unterthanen gegen den andern nicht kann die Rede sein. Und wenn sich die Treue derer, die beständig in der Nähe des Königs weilen, an diesem festlichen Tage auf eine besonders lebendige Weise ausspricht, so geschieht es nur, um zugleich auch die gleiche Treue aller, die unter des Königs Zepter leben, darzustellen und zu vertreten. – Allein außer dieser eigennüzigen Treue giebt es noch eine andre strenge und rein gesetzliche Treue, deren Wahlspruch zwar ein beßrer ist, denn er liegt in den Worten unsers Erlösers selbst, und lautet so; „Gebet dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gotte was Gottes ist;“ aber gar oft wird nach diesem Wahlspruch gehandelt, lediglich um der Pflicht willen, mit einem kalten Herzen. Laßt uns auch nicht übersehen, m. g. F., daß der Erlöser diese Vorschrift seinem Volke gab in Beziehung auf einen Herrscher, der sich ihm aufgedrungen hatte auf eine gewaltsame Weise. Weil aber doch einmal ein Band der Macht und des Gehorsams, des Schuzes und der Unterwerfung bestand: so sagt der Herr, die einzige Handlungsweise, wodurch das Gewissen nicht verletzt werde, sei die, dem Kaiser zu geben, nur was des Kai|sers ist, und Gotte was Gottes. Das also ist die Pflicht eines jeden Christen, auch gegen eine fremde, auch gegen eine ungeliebte Obrigkeit, auch gegen eine solche, die auf keine Weise irgend etwas thut, um die Empfindungen der Anhänglichkeit in den Herzen der 40 Herzen] Hrrzen 28–29.36–37 Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25

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Unterthanen hervorzulokken. Für diese alle gilt jenes Wort, und unverkürzt muß diese Treue gegen das Gesetz überall bleiben, wo auch nur die äußern Güter einer gesellschaftlichen Ordnung bestehen sollen. Aber m. g. F. für uns giebt es noch etwas anderes als dieses, und uns – das gestehen wir – würde nicht genügen, dem Könige nur in einem solchen Sinne zu geben was sein ist. Ja wir müssen uns sagen, wenn wir an dem heutigen Tage kein besseres Bewußtsein vor Gott darbringen könnten als eben dieses: so feierten wir ein trauriges Fest. Freilich, wer auch dieses nicht einmal hat, wer sich irgend Schuld geben muß, sogar diese Treue verlezt zu haben, ja ich will noch mehr sagen, wer auch nur in seinem Herzen den Wunsch genährt hat, sie verlezen zu können oder zu dürfen, ein solcher kann hier oder an irgend einem Gott geweihten Orte unseres Landes nicht mit den Empfindungen erscheinen, die uns beseelen. Hätten wir uns aber nur dieser Treue zu rühmen, so wäre unser Fest ein trauriges Fest, und schlecht wäre der König belohnt für alle Sorge und Treue, mit der er über seinen Unterthanen wacht. Darum ist es eben nicht die Treue im Allgemeinen, sondern es ist das treue Herz, welches der | Spruch unsers Textes fodert von allen denen, die einen Anspruch darauf machen wollen, daß der König ihnen freundlich gesinnt sei. Und was ist denn dieses treue Herz? Es ist eben dies, daß unser ganzes Gemüth mit sei bei der Erfüllung unsrer Pflichten, daß wir nicht nur thun was wir sollen, daß wir der Obrigkeit nicht nur unterthan sind – ich will nicht sagen um der Strafe, sondern auch um des Gewissens willen – aber nicht nur unterthan, sondern zugethan, daß unsre Wünsche sie begleiten bei allem was sie zum Wohl des Ganzen unternimmt, daß wir gern, wenn wir sicher erforscht haben was im Geiste des Königs sei, jeder in dem Kreise, wo er Recht und Befugniß hat, zugreifen und thun auch, was uns darin nicht bestimmt befohlen ist; daß wir überall den König und Herrscher, als der uns eben so sehr befreundet ist als von uns verehrt, auch in die Verhältnisse begleiten, die nicht unmittelbar zu seinem Beruf gehören, daß wir einen aufrichtigen Theil an allem nehmen, wovon sein Herz in Freude und Schmerz bewegt wird. Doch, m. g. F., was halte ich mich auf bei allgemeinen Erklärungen? ist es nicht besser, daß ich mich auf die Erfahrung berufe, und zu dem übergehe, was unter uns geschehen ist, um uns daran zu vergegenwärtigen, worin die Treue des Herzens besteht, und wie das treue Herz sich offenbart? Ich rufe diejenigen, deren Erinnerung so weit zurückreicht, auf, zuerst jener Zeit zu gedenken, als der König, erst 40–7 Nachdem Preußen und Österreich Frankreich in der Pillnitzer Deklaration vom 27. August 1791 mit einer militärischen Intervention für den Fall gedroht hatten, dass im Zuge der Auswirkungen der Französischen Revolution die dortige Monarchie ange-

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der Erbe des Thrones, zurükkam von seinen kriegerischen Ver|suchen und von den Mühen in jenem Kampfe, der mit ungleichen Kräften zuerst begonnen ward, um der Zerstörung einen Damm zu sezen, mit welcher unser Welttheil bedroht ward, in welchem Kampf aber er sich ein Kleinod gewonnen, welches er bald in unsre Mauern einführte, die Geliebte, die er sich erwählt hatte zur treuen Gefährtin seines Lebens, wie das ein herrlicher Festtag war für das ganze Land. Diese innige Theilnahme an dem, was das ganze künftige Leben des königlichen Erstgebohrnen segnen und beglücken sollte, diese allgemeine Stimme des Jauchzens und der Freude, das war das treue Herz! Als aber der Vater sein Haupt niederlegte und der Sohn den Thron seiner Väter bestieg, wie wir ihm da entgegen kamen voll herzlichen Vertrauens, mit ihm theilend jenes heilige Gefühl, daß dem angehenden Herrscher nichts besser zieme, als das wahrhaft königliche Gebet um Weisheit von oben; wie unser Herz seinem ahnenden Blick in die Zukunft folgte, nicht ohne Besorgniß vor allem schweren, was nach der damaligen Lage der Völker ihn und uns, seine Unterthanen, während der Zeit seiner Regierung treffen könnte; wie wir uns freuten an dem Ernst und der Bescheidenheit, womit er die Zügel der Regierung ergriff: das war das treue Herz, getheilt in diesen Augenblikken zwischen Schmerz und Lust, zwischen Thränen und Freude. Und als er tastet werden sollte, kam es am 20. April 1792 zur Kriegserklärung Frankreichs an Österreich. Preußen stellte sich auf die Seite Österreichs, und am 22. April wurde entschieden, dass Kronprinz Friedrich Wilhelm III. eine Brigade gegen Frankreich kommandieren sollte. Während des Winters befand sich das königliche Hauptquartier in Frankfurt am Main, wo auf Wunsch Friedrich Wilhelms II. durch Vermittlung ein Treffen der Königssöhne mit den in Darmstadt lebenden Töchtern des Prinzen Karl von Mecklenburg-Strelitz, Luise und Friederike, arrangiert wurde. Wie sein Vater sich erhofft hatte, wählte Friedrich Wilhelm III. Luise zu seiner Gattin. Die Trauung fand am 24. Dezember 1793 in Berlin statt, wo die Bürger der Prinzessin einen feierlichen Einzug bereiteten. (Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 69.82.90–91) 10–20 Nach seiner Thronbesteigung hatte sich Friedrich Wilhelm III. mit großem Ernst um die Wiederherstellung von Moral und Sittlichkeit am Königshof bemüht, die unter seinem Vater durch Intrigen und Affären gelitten hatten, sowie um strikte Sparsamkeit und blieb auch selbst seinem eher bürgerlichen Lebensstil treu. Außenpolitisch verhielt sich Friedrich Wilhelm III. zunächst neutral, während andere europäische Staaten weiterhin gegen Frankreich opponierten. 21–14 Die Neutralitätspolitik endete 1806, als Friedrich Wilhelm III. Napoleon ein Ultimatum zum Truppenabzug aus den westdeutschen Gebieten stellte, wo diese sich seit der Schlacht bei Austerlitz Ende 1805 befanden. Frankreich erklärte Preußen daraufhin den Krieg und Friedrich Wilhelm III. erlitt am 14. Oktober 1806 eine verlustreiche Niederlage in der Doppelschlacht bei Jena und Auerstedt. Napoleon zog am 27. Oktober in Berlin ein und der königliche Hof und die königliche Familie mussten nach Ostpreußen (Königsberg und Memel) fliehen. Im April 1807 koalierte Preußen mit Russland, Großbritannien und Schweden gegen Frankreich, das jedoch im Sommer mit der Schlacht bei Friedland den Krieg für sich entschied. Durch die Beschlüsse des Tilsiter Friedens, einem Diktatfrieden vom 9. Juli 1807, verlor Preußen die Hälfte seines Gebietes und seiner Untertanen und musste der Kontinentalsperre beitreten. Außerdem

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dann den gehäuften Aufforderungen zum Kampfe für die Selbstständigkeit seines Reiches, für die Freiheit seiner Rathschläge, für die Unverlezbarkeit seines Gebietes nicht länger wi|derstehen konnte; als es schien, als ob der Herr von ihm und uns seine Hand abgezogen habe, – o wie wir alle da nicht nur die Leiden fühlten, die mehr oder weniger jeden Einzelnen trafen, unser Gemüth nicht nur erfüllt und erschüttert wurde von dem, was unmittelbar unter uns vorging, sondern weit mehr noch unser Herz sich nach ihm, dem Entfernten, hinsehnte; wie wir immer fühlten, welche Schmerzen sein königliches Gemüth zerreißen müßten bei jedem Blick auf die Lage seines Volks, und wie wir diesen Kummer mit ihm theilten; wie wir jauchzten bei seiner Wiederkehr, und uns freuten, daß das, wenn gleich zerrißne und erschütterte, Vaterland sich seiner Gegenwart und seiner Herrschaft zu getrösten hatte; wie wir mit ihm den Vorsatz theilten, auch in diesem Zustande der Erniedrigung und des Drukkes ein Gott wohlgefälliges Volk zu bleiben, fest vereint unter uns und nur trauernd um die, welche unserm Bunde entrissen waren: – das war das treue Herz! Und nun laßt uns auch die Tage der Trauer nicht vergessen, als so schnell und unerwartet mitten unter den Gefahren, die uns bedrohten, die treue Gefährtin königlicher Sorgen und Leiden, deren Liebe zu den Ihrigen, deren Sorge für das Land ihr unser Herz gewonnen hatte, ihm und uns entrissen wurde in der Blüthe ihres Lebens, ohne zu schauen den Tag der Befreiung von dem Joche, welches auch sie hatte tragen helfen: der Schmerz, der sich da unsrer aller bemächtigte, wie wir alle niedergebeugt waren und uns geschlagen fühlten vom Herrn – das war das treue | Herz, das Herz voll Liebe und Anhänglichkeit, war der Friede Auslöser für grundlegende Reformen im preußischen Staat, die Friedrich Wilhelm III. nur widerwillig in Angriff nahm. Am 23. Dezember 1809 schließlich gestattete Napoleon die Rückkehr des preußischen Hofes, der unter dem Jubel der Bevölkerung nach Berlin zurückkam. 18–24 Die bei der Bevölkerung sehr beliebte Königin Luise war am 19. Juli 1810 auf dem Sommerschloss Hohenzieritz an einer Lungenentzündung gestorben. Außerdem wurde bei ihr eine Geschwulst am Herzen diagnostiziert, deren Ursache der große Kummer um ihr Land gewesen sein soll. Ihr Leichnam wurde unter großer Anteilnahme der Bevölkerung nach Berlin überführt, im Stadtschloss aufgebahrt und schließlich im Berliner Dom beigesetzt. Das Mausoleum im Park des Schlosses Charlottenburg, in dem sie fünf Monate später ihre letzte Ruhe fand, wurde zu einem nationalen Wallfahrtsort. Die politische Wende begann für Preußen, als Friedrich Wilhelm III. 1812 auf Druck Napoleons Verbündeter der Franzosen im Kampf gegen Russland wurde und Soldaten für die Grande Armée stellte. Nach dem verlustreichen Russlandfeldzug Napoleons erklärte Preußen Frankreich am 16. März 1813 den Krieg – es begann die Zeit der Befreiungskriege, deren Höhepunkt die Vielvölkerschlacht bei Leipzig vom 16.–19. Oktober 1813 bildete, in der Napoleons Truppen unterlagen. In der Folge wurde Paris eingenommen (6. April 1814) und nach dem Sturz Napoleons (11. April 1814) der Erste Pariser Frieden geschlossen (30. Mai 1814). Die Befreiungskriege beendeten die Franzosenzeit und die Reformperiode in Preußen.

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voll Theilnahme an allem, was den theuern König auch in dem Heiligthum seines häuslichen Lebens traf. Und als die Last, mit der noch immer eine fremde Uebermacht einen Theil unseres Landes drückte, schwerer und schwerer ward, wie wir da mit dem König theilten das stille Verlangen des Herzens, der Augenblick möge kommen, wo sich ein neuer kräftiger Widerstand wagen ließe mit Hoffnung auf einen guten Erfolg; wie da unser tiefstes Gefühl dem seinigen begegnete und wir uns gegenseitig verstanden, und, auch als kein Wort zwischen uns gewechselt wurde über den traurigen Zustand des Ganzen, doch beide Theile wußten, der König was er an uns, und wir was wir an ihm hatten; – o das war der höchste, und herrlichste Beweis von Anhänglichkeit, die untrügliche Ahnung des treuen Herzens, aus welcher sich dann das innigste Vertrauen und der kräftigste Muth entwikelte, sobald die Stunde der Rettung von unwürdigen Banden schlug. Und jene Bereitwilligkeit, mit der die Väter ihre Söhne, oft noch unreif die Mühen des Kriegers zu ertragen, in den Kampf für das Vaterland hinausschikten, als den schönsten Lohn für diese theuern Opfer vorzüglich dies erwartend, daß in allen denjenigen, die von Gott beschützt und erhalten aus dem Kriege zurükkehren würden, eine durch nichts mehr zu erschütternde Anhänglichkeit an den König, der so viel für sein Volk gewagt hatte, und eben so eine allen Proben gewachsene Liebe zu dem Volke, welches er so geachtet, müßte ge|gründet sein; dieser Muth, verbunden mit dem Gefühle, alles, was es nur irgend auch für uns zu thun gab in dieser Zeit der wiedererwachenden deutschen Kraft, sei nicht nur heilsam sondern auch schön und erfreuend: so zeigte sich das treue Herz, welches sich in das innerste Gemüth des Königs hineinfühlte, und welches die Handlungsweise des Herrschers verstand. Und die Gesinnungen, die unser Leben geleitet haben, seitdem endlich in Friede und Ruhe die lange getrennten Theile des Reiches vereinigt, und neue Bestandtheile ihm hinzugefügt sind, dieses lebendige Verlangen, daß doch immer enger und fester die Glieder mit dem Haupt, und das Haupt mit den Gliedern verbunden werden möchten, damit jeder Macht um uns her, sei sie auch noch so stark, der Muth verginge, ein so herzlich unter sich und mit seinem Herrscher verbundenes Volk anzugreifen und in seiner Ruhe zu stören – in diesen Gesinnungen hat sich immer geregt das treue Herz, das in heiterer Anhänglichkeit, in ruhiger Erwartung der allmäligen Entwi28–30 Mit dem Wiener Kongress zur politischen Neuordnung Europas nach 1815 hatte Preußen einen Großteil seines früheren Staatsgebietes zurückerhalten. Außerdem waren der Rest Schwedisch-Vorpommerns, der nördliche Teil des Königreichs Sachsen, die Provinz Westfalen, die Rheinprovinz sowie die Provinz Posen und die Stadt Danzig hinzugekommen. Preußen bestand nunmehr aus zwei räumlich getrennten Länderblökken in Ost- und Westdeutschland.

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klung weiser Rathschläge dem, was der König beschlossen und ausgeführt hat, gefolgt ist bis auf diesen Augenblik. Bei so vielen Zeugnissen aus einer denkwürdigen Vergangenheit, bei einem so freudigen Bewußtsein, wie sich in der gegenwärtigen Festlichkeit ausspricht, o! laßt uns immer fest vertrauen, daß wir uns das treue Herz auch in Zukunft bewahren werden! laßt diesen Tag der Freude, dieß Fest der Liebe, uns eine neue Gewährleistung dafür sein, denn kaum darf ich sagen, | auch ein neues Band, welches uns noch inniger verbinden kann mit dem Könige und seinem Hause. Wenn also das treue Herz unter uns fest steht, und dessen segensreiche und lebendige Kraft in allen Unterthanen des Königs nur wachsen kann, nie aber vermindert werden und geschwächt: dann fehlt uns, um unser Ziel zu erreichen und unseres Wunsches gewiß zu sein, nach den Worten unseres Textes nur noch das Eine, „Wer neben dem treuen Herzen auch eine liebliche Rede hat, deß Freund ist der König.“ II. Wir dürfen dieses nicht etwa nur verstehen von der Rede, welche wir unmittelbar an den König richten. Natürlich giebt es auch unter uns, die wir in seiner Nähe leben, nur Wenige, denen dieses Glück zu Theil wird; und geschont muß werden auch vor der Zudringlichkeit der Liebe und Anhänglichkeit die Person des Herrschers. Auch ist in dieser unmittelbaren Beziehung die Ermahnung unsers Textes weniger nöthig; denn die Majestät verbreitet einen persönlichen Zauber um sich her, welcher das zwar, was aus dem Boden eines guten Herzens hervorgeht, schont und pflegt, den Uebermuth aber und die Selbstsucht der Rede leicht zurückdrängt und nicht aufkommen läßt. Sondern weit mehr ist hier zu denken an diejenige Lieblichkeit der Rede, welche sich überall zeigen kann, wo wir von der Person des Königs und von seinen Verhältnissen zu seinem Volk, ja wo wir in irgend einer Beziehung von unseren bürgerlichen Ordnungen, Gesezen und Zuständen sprechen. In allen diesen Fällen ist die Lieb|lichkeit der Rede, auf die unser Text deutet, die schönste Zierde des treuen Herzens. Aber eben wie in der Rede, die sich unmittelbar an das Ohr des Fürsten wendet, so auch in der Rede von ihm und über sein Leben, über seine Person, seine Anordnungen und seine Geseze, giebt es eine Lieblichkeit, welche nicht zusammenhängt mit dem treuen Herzen; eine Lieblichkeit nämlich, die nur das Ohr zu kizeln sucht, eignet der verderblichen und giftigen Rede der Schmeichler, vor welcher man immer die Fürsten besonders geglaubt hat warnen zu müssen. Und gewiß vorzüglich leicht findet, wenigstens im allgemeinen, das Gift der Schmeichelei den Zugang in ein jugendliches Herz; und warum 15 König.“] König.„

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dann nicht auch in das eines Fürsten? Die Jugend, nicht sicher in ihrem Bewußtsein von sich selbst, empfängt ihr Urtheil über sich und ihre Hoffnungen von sich nur zu gern von Anderen, die sie für reifer hält. Aber ein wahrhaft königliches Herz wird, leicht gewarnt und schon durch den ersten verführerischen Eindruck klug gemacht, sich gewiß nicht lange freundlich dem Schmeichler hinneigen. Besonders aber hat der Ernst und die christliche Demuth, mit der unser König seine Regierung antrat, auch damals schon, als er noch jung war und neu seinen Pflichten, die Rede der Schmeichler erstickt und sie entfernt von seiner Person. Und so ist es seitdem als eine so bekannte Sache unter uns angesehen, daß auch nicht einmal ein Versuch dagegen gemacht wird, daß die Schmeichelei ihm unmittelbar nicht nahen dürfe. Aber wo sie auch | das nicht thut, da unterläßt sie doch nicht sich dadurch kund zu geben, daß in den Kreisen der Gesellschaft sowol als in der öffentlichen Rede alles gedeutet wird zum Lobe dessen, der die Macht hat. Diese liebliche Rede also ist nicht die, welche unser Text meint. Wäre es möglich, daß der König sich könnte freundlich zu ihr hinneigen, so würde nur daraus entstehen das Verderben des traulichen Verhältnisses zwischen ihm und seinem Volk. Aber es giebt noch eine andre Lieblichkeit der Rede, die eben so wenig von einem treuen Herzen ausgeht; wir finden sie bei denen, welche ohne grade zu loben und durch das Lob sich das Ansehen zu geben, als vermöchten sie zu beurtheilen was gut und lobenswürdig ist, das Wort des Herrschers und seinen Willen als das Maaß ihres eigenen Urtheils gelten lassen, und wenn er etwas für gut erklärt hat, vielleicht sogar wenn der Gegenstand nur wenig mit dem Beruf des Herrschers zusammenhängt, sogleich aller Untersuchung ein Ende machen, und sich ihrer eignen Ansicht und ihres eignen Gefühls darüber entschlagen, Eine solche nachsehende wiederhallende Rede scheint freilich insofern lieblich, als sie ein Zuwachs ist zu der Kraft der Stimme, mit welcher der Herrscher redet; aber aus dem treuen Herzen kommt sie nicht. Denn dieses sucht überall die Wahrheit, weil eben sie auch dem geliebten Herrscher das wichtigste sein muß; dieses bleibt immer fort darin begriffen das Gute aufzufinden in allen menschlichen Dingen, das Unvollkommene, was densel|ben anklebt, zu entdekken, und das Zweideutige, wo immer es ihm begegnet bemerklich zu machen, weil eben dadurch am besten des geliebten Fürsten Ehre gefördert wird; und nie kann ein solches Herz seinem eignen Urtheil entsagen mit Liebe oder aus Liebe, weil sein Grundsatz ist, aus Liebe zu dem, auf dessen Rechnung alles billig geschrieben wird, nur das Gute zu erhalten und immer mehr zu befestigen; das treue Herz entfernt sich daher eben so weit von dem niedrigen Sinne des 26 sogar] so gar

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Schmeichlers als von der Nachbeterei dessen, der sein eigenes Urtheil nicht zu ehren weiß. Es giebt aber freilich auch ein treues Herz ohne liebliche Rede, vielmehr mit rauher Stimme und übelredender Zunge. Nämlich es giebt Verhältnisse, unter denen viele, die ein treues Herz im Busen tragen, doch glauben, daß eine liebliche Rede nur dieselbe Wirkung hervorbringen würde, wie die nachbetende Schlaffheit und die giftige Schmeichelei; es giebt Umstände, unter denen manche, die es treu meinen mit dem Vaterlande, glauben, die Stimme der Wahrheit könne nicht laut, ja auch nicht scharf und rauh genug tönen, um nur einige Wirkung zu thun. Wenn nun dies wohlgemeint ist, so bleibe es dem Gewissen eines jeden anheimgestellt; aber übermenschliches würde allerdings derjenige verlangen, welcher Anspruch darauf machen wollte, zu so rauher Stimme sollte auch das Herz eines Königes sich freundlich hinneigen; er sollte unverdrossen das treue Herz, aus welchem sie kommt, zu erkennen und hervorzuziehen sich bemühen; übermenschlich wäre es, wenn der | Fürst, belastet genug mit den Geschäften des wichtigsten höchsten Berufs und der Sorge für das Wohl des Ganzen, welches seiner Leitung anvertraut ist, umhergetrieben genug in seinem Innern von den entgegengeseztesten Stimmen menschlicher Ansichten und Meinungen, zwischen denen er zu schlichten und zu entscheiden hat, wenn der noch sollte mit Wohlgefallen oder gar mit Dankbarkeit sich wenden zu einer ungefälligen und abstoßenden Rede; übermenschlich, wenn er nicht wünschen dürfte, daß die Freunde der Wahrheit sich immer vernehmen lassen möchten, wie sie es doch können, mit einer lieblichen Stimme. Daher, m. g. F., ist es ein trauriges Zeichen, wenn viele von denen, die es treu meinen mit dem Vaterlande, glauben – sei es nun mit Recht oder mit Unrecht, darüber wollen wir nicht richten – aber glauben, sie müssen in dieser Beziehung der Kraft der Wahrheit und dem allgemeinen Besten jeden Anspruch auf das Wohlwollen des Herrschers aufopfern, um die Stimme der Wahrheit desto gewisser und schärfer, wenn gleich unangenehm und schmerzlich, laut werden zu lassen. Wenn wir also auch nur in diesem Stück hinter unserm Text zurückblieben, und auf der einen Seite zwar uns das Zeugniß geben könnten, daß wir uns frei erhalten von Schmeichelei und Nachbeterei, auf der andern Seite aber unsern theuren König nicht erfreut hätten mit lieblicher Rede über unsere gemeinsamen Angelegenheiten, sondern er von seinen getreuen Herzen immer nur hätte rauhe Töne vernehmen müssen: so | könnten wir in demselben Maaß auch nicht erwarten, daß Er sich freundlich zu uns neigen sollte; und auch dann wäre das heutige Fest kein freudiges Fest! Denn dies wäre ein Zeichen, daß uns noch viel fehlte zu dem schönen Einklang, ohne welchen keine wahre

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Freude statt findet; es wäre ein Zeichen, daß viele unter uns erfüllt wären von mancherlei solchen Besorgnissen für die Zukunft, bei denen es nicht vergönnt ist der Gegenwart froh zu werden. Dem Himmel sei Dank, m. g. F., daß es nicht so ist unter uns, und daß nur einzeln und sparsam, und wenn gleich wohlgemeint, doch so, daß Verirrung und Verblendung über dieses oder jenes nicht zu verkennen ist, die Ansicht unter uns angetroffen wird, als ob die Stimme des treuen Herzens über die öffentlichen Angelegenheiten um durchzudringen müsse rauh sein und der erfreulichen Lieblichkeit ermangeln. Vielmehr sind wir in der Gott nicht genug zu dankenden Lage, daß wenn gleich auch uns hie und da das Bewußtsein mancher Unvollkommenheiten unsers Zustandes ergreift, wenn gleich jeder nach dem Maaße seiner Einsichten und des Standpunktes, auf welchem er steht, Wünsche hat, herzliche Wünsche, wie dieses oder jenes im Einzelnen oder im Ganzen könnte besser sein: wir doch alle das beruhigende Gefühl haben können, es werde der guten Sache kein Nachtheil dadurch entstehen – wie er vielleicht anderwärts möglich wäre, wo es einen heftigen und leidenschaftlichen Kampf der Meinungen giebt – wenn wir unsere gute Meinung verschönern | durch eine Lieblichkeit der Rede, zu der sich auch Ohr und Herz des Herrschers freundlich hinneigen kann. Worin aber nun diese wahre Lieblichkeit besteht? Darin, daß überall, wo unter uns verschiedene Ansichten herrschen über das, was zum Wohl des Vaterlandes in seinen äußern Verhältnissen und in seinen innern Einrichtungen gehört, wir dafür sorgen, daß durch die Erörterung dieser verschiedenen Ansichten unsre Liebe unter einander nicht gestört und gefährdet werde, die ja das schönste Kleinod und die festeste Zuversicht des Königs ist. Denn was wäre sonst eine liebliche Rede, wenn nicht, worin die Liebe sich ausspricht? Und wenn es dem treuen Herzen geziemt, überall die Wahrheit zu suchen, jeden verderblichen Schein aufzudecken, und so nach bestem Vermögen dafür zu wirken, daß das Rechte und Gute immer mehr gefördert werde, in Liebe: so besteht dabei die wahre Lieblichkeit der Rede eines treuen Herzens darin, daß wir diejenigen, welche entgegengesetzter Ansichten mit uns sind, friedlich neben uns bestehen lassen, und deshalb nicht mit heftiger Rede über ihre Meinungen herfallen; daß wir immer in solchen Verhandlungen am meisten den Stachel des Wizes einziehen, und so reden, daß das gute Vernehmen mit denen, deren Meinungen mit den unsrigen nicht zusammengehen, soviel an uns liegt, nicht 2 Zukunft] kunft

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gefährdet werde, vielmehr wir alles thun was in unsern Kräften steht, um auch ihnen behülflich zu sein bei ihrem Bestreben das Reich der Wahrheit zu bauen, und keine Gelegenheit vorübergehen lassen, um auf die mildeste Weise mit | der Erkenntniß, die uns zu Theil geworden, das Dunkle zu erleuchten, das Zweifelhafte zu entscheiden, und so der Wahrheit und dem Guten den Sieg zu verschaffen über alles was falsch ist und verkehrt. Das, m. g. F., das ist die Lieblichkeit der Rede; und zu dem treuen Herzen, welches von dieser am wenigsten abweicht, wird auch das Herz des Königs sich am freundlichsten hinwenden. Ja wenn wir uns dieser lieblichen Rede immer mehr befleißigen; wenn unser geliebter König sieht, daß alle seine Unterthanen, wie sehr sie auch in Meinungen und Ansichten das gemeine Wesen betreffend auseinandergehen, doch um seinetwillen alles scheuen und meiden, was ihn im Genuß der Liebe und Anhänglichkeit, die wir ihm geweiht haben, stören kann: dann wird gewiß unser gegenseitiges Verhältniß immer schöner, immer dauernder und Gott gefälliger sich ausbilden; und nie wird des Königes Herz gehindert sein, sich in Liebe und Vertrauen hinzuneigen zu seinem Volke. Und welch einen schönern Lohn könnten wir erwarten für unsre Liebe und Anhänglichkeit als eben diesen? – Aber, m. g. F., eine jede christliche Rede, wie sehr sie auch der Freude ihren Ursprung verdanke, und die Freude der Hauptton sei, der in ihr herrscht, nie darf es ihr fehlen, daß nicht auch der Ton der Buße zwischen durchklinge. Wenn auch der erste Theil meiner Rede hingehen konnte ohne irgend einem ein schmerzliches Gefühl zu verursachen; wenn wir auch darin unser selbst vollkommen sicher sind, daß es an der Treue des Herzens nicht fehlt, weder denen, welche Werkzeuge | der königlichen Macht sind, noch denen, welche seine Ordnungen und Gesetze zu beobachten haben: nicht ganz so mag es sich verhalten in Beziehung auf diesen zweiten Theil. Hier in den Hauptstädten des Reiches, wo verhältnißmäßig am meisten über die öffentlichen Angelegenheiten gedacht und geredet werden kann, weil alle geistige Richtungen und Bestrebungen sich hier vereinigen, wir würden es uns vielleicht gestehen müssen, wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen an diesem freudigen Tage, daß es hie und da mag gefehlt haben an dieser Lieblichkeit der Rede, daß zu zeitig mancher unter uns der Besorgniß Gehör gegeben hat, als möchte es der Kraft der Wahrheit schaden, wenn zu zärtlich die Worte abgewogen würden; wir möchten vielleicht nicht läugnen können, daß dadurch manche Aufregungen entstanden sind, die das Wohl des Ganzen nicht zu fördern vermögen, und die das theilnehmende Herz des Königs nicht ohne mißbilligende Empfindungen betrachten konnte. Wenn also, m. g. F., über das ganze Verhältniß, in welchem wir zu unserm theuern Könige stehen, kein Tag uns besser erleuchten kann als dieser frohe

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und festliche Tag; wenn kein Ort und keine Stunde mehr als dieser heilige Ort und diese stille Stunde gemeinsamer Andacht dazu geeignet ist, unser Herz in dieser Beziehung noch mehr zu reinigen: so laßt uns denn nicht übersehen, daß heute den Empfindungen des Dankes und der Freude auch gute Entschließungen sich beigesellen müssen, und daß es eine Ruhe und Anmuth giebt in den Aeußerungen des treuen | Herzens, und in der Darstellung gegenseitiger Anhänglichkeit und Liebe eine Vollkommenheit, welche uns selbst immer mehr zu erwerben, und überall als das schönste und liebenswürdigste zu bezeichnen wir uns an diesem festlichen Tage gern und freudig entschließen wollen. Ist es doch, m. g. F., nicht anders in allen menschlichen Dingen! Nichts giebt es, was nicht noch schöner, noch herrlicher, noch reiner sein könnte; und mit welcher Freude und Erhebung, mit welcher Dankbarkeit gegen Gott wir auch zurücksehen mögen auf die Vergangenheit und uns erfreuen der Gegenwart: o es kann noch schöner, herrlicher, reiner und freudenvoller sein in der Zukunft; noch inniger können wir uns mit dem freuen, den der Herr über uns gesezt hat zum Herrscher, noch schöner kann von allen Seiten die Flamme der Liebe zusammen schlagen über ihm, das wohlgefälligste Opfer innigen Dankes gegen den, der selbst die Liebe ist. Amen. So sei dir denn, Herr unser Gott, der Dank unserer Herzen dargebracht für alle Gnade, mit welcher du dich verherrlicht hast an dem König, an seinem Hause und seinem Volk in diesen fünf und zwanzig Jahren seiner Regierung. Großes hast du an ihm und an uns gethan. Dank sei dir für alle Prüfungen, womit du ihn und uns heimgesucht hast; denn sie haben das Herz geläutert, sie haben den Segen der Frömmigkeit in einem höhern Grade unter uns hervorgebracht, sie haben unsre Liebe zu dem Herrscher und seinem Hause genährt und erhöht, daß wir unter sei|ner Obhut und Leitung einer immer schöneren Zukunft können entgegen sehen. Zu dieser denn sei dir mit herzlichen Wünschen in dieser festlichen Stunde der König unser Herr empfohlen. Wache du über ihn mit deiner Obhut! Und wenn er jetzt, durch die großen Angelegenheiten unseres Welttheiles von uns abgerufen, in der 33–1 Friedrich Wilhelm III. war bereits im August nach Süden gereist, um in Verona den letzten großen Kongress der Heiligen Allianz zu besuchen, bei dem es u. a. um die Niederschlagung der bürgerlichen Revolution in Spanien gehen sollte. Er war begeistert von Italien und verließ das Treffen, das als solches vom 20. Oktober bis zum 14. Dezember dauerte, bereits am 5. November wieder, um nach Rom und Neapel weiterzureisen, wo er in „außerordentlich guter Laune“ einen langen Urlaub verbrachte. (Vgl. Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 464–466)

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Ferne verweilt, und nur wenige mit ihm unmittelbar die Freude dieses Tages theilen: o wir wissen, er theilt sie mit uns allen, und seine Gebete steigen eben so feurig zu dir empor für unser Wohl als die unsrigen für das seine. So befestige du denn immer mehr unter uns das Band treuer Liebe und Anhänglichkeit; verbinde dem König immer mehr die Herzen aller seiner Unterthanen, daß alles, was du in seinem weiten Reiche vertheilt hast und ausgestreut von geistigen Gaben, von Erkenntniß der Wahrheit, von treuer Pflichterfüllung, von Eifer für das gemeinsame Wohl, alles zu ihm hinströme in Treue des Herzens und in Lieblichkeit der Rede, und er immer mehr in den Stand gesetzt werde, in reiner Freudigkeit des Herzens für sein Volk zu sorgen. Und wenn es zu seinen schönsten väterlichen Freuden gehört, daß er während seiner Entfernung von uns dem geliebten Erben seines Thrones die Sorge der Regierung hat überlassen können: o so bitten wir dich, erhöre du besonders das Gebet des geliebten Sohnes für das theure Haupt seines Vaters, dem er mit treuer Liebe und mit kindlicher Anhänglichkeit zugethan ist. Beschüze du das ganze königliche Haus, daß der König immer reicher | werde an häuslichen Freuden; seze du es unter uns, wie wir dich immer darum bitten, zu einem erfreulichen Beispiel christlicher Gottseligkeit und eines auf dem Grund des Vertrauens auf dich und der Liebe zu dir sich erbauenden Wohlergehens. Leite du den König mit deiner Weisheit in der Wahl seiner Diener, daß es ihm nie fehle an solchen, die ihm helfen erkennen und ausführen was recht ist und wohlgefällig vor dir. Laß aber vor allem den heutigen Tag dazu gesegnet sein, daß alle Unterthanen sich aufs neue mit inniger Liebe und Treue dem Könige verbinden, und laß den Eindruck dieses Festes wohlthätig sein für eine lange Zukunft. Und so gieb daß wir alle jeder in dem Kreise seines Berufes treulich mitwirken, um das allgemeine Wohl zu fördern! und möge jeder die Erfahrung machen, daß auch er ein Arbeiter ist in diesem großen und schönen Theile deines Reiches. Vor allem bitten wir dich, segne die Erziehung der Jugend, damit die Anhänglichkeit an den König und an das Fürstenhaus sich fortpflanzen möge auf unsre Nachkommen, und eine lange Reihe von Geschlechtern den Segen des Bundes, den du zwischen Fürsten und Volk geknüpft hast, erfahren möge. Laß dir Herr auch unsre Gemeine empfohlen sein und das beson12 Herzens] Herzeus 13–15 Friedrich Wilhelm IV. vertrat seinen Vater in Berlin während des Veroneser Kongresses

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Am 17. November 1822 vormittags

dere Anliegen eines Jeden. Auf dich trauen wir, du, von dem alle gute Gaben kommen, wirst fortfahren uns mit deinen Segnungen zu erfreuen. Amen.

[Liederblatt vom 17. November 1822:] Am 24. Sonnt. nach Trinit. 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich etc. [1.] Auf auf den Herrn zu ehren / In seinem Heiligthum; / Laßt uns sein Lob vermehren / Und seiner Thaten Ruhm! / Er ist der Throne Wächter, / Macht daß die Reiche blühn; / Der Könige Geschlechter / Bestehen nur durch ihn. // [2.] So haben wir erfahren, / Gott, deine Huld und Macht! / Du hast in schweren Jahren / Des Königs Haupt bewacht, / Hast Segen und Gedeihen / Durch ihn uns zugewandt; / Und solcher Gnade freuen / Noch heut sich Volk und Land. // [3.] Herr du wollst ferner walten / Wie du bisher gethan, / Den König uns erhalten, / Und ebnen seine Bahn. / In gläubigem Vertrauen / Sucht er dein Recht und Licht, / O laß dein Heil ihn schauen, / Bleib seine Zuversicht. // [4.] Der du auf deinem Throne / Beherrschest alle Welt, / Den Fürsten Reich und Krone / Giebst wie es dir gefällt, / Bleib du mit deinem Segen / Dem König zugewandt, / Leit ihn auf allen Wegen / Zum Heil fürs Vaterland. // Nach dem Gebet. – Mel. Herr Gott dich loben etc. [1.] Dir Weltbeherrscher dir, / Dir Vater danken wir, / Dein Wort erschuf, dein Wort erhält, / Dein Wink beherrschet unsre Welt, / Fluch oder Segen strömt ins Land / Allmächtiger aus deiner Hand! / Der Reiche Schicksal wägst du ab, / Du warst’s, der alles Heil uns gab. / Gott Schöpfer unser Gott, / Du unser Vater, Gott, / Erbarmer in der Noth, / O gnadenreicher Gott. // [2.] Zwar schaun wir, Ewger, dein Gericht / Auf Erden nur im Dämmerlicht; / Doch glänzt auch durch der Völker Nacht / Hindurch Herr deiner Herrschaft Macht. / Sie beten alle Völker an, / Sie ist der Erde kund gethan. / Dem einen Volke, Gott, giebst du / Gerechte Fürsten, Füll und Ruh; / Als Geisseln sendst dem andern du / Tyrannenwuth und Zwietracht zu. / Gut ist es so wie du es willt, / Und immer wird dein Maaß erfüllt. // [3.] Heil dem geliebten Vaterland! / Uns leitet eines Herrschers Hand, / Der auch im Glanz der Majestät / Mit uns vor Gott im Staube steht. / So sei, zu seiner Völker Heil, / Ein langes Leben, Herr, sein Theil, / Sein Scepter sei Gerechtigkeit, / Und seine Krone Menschlichkeit; / Wie rauh und steil sein Weg auch sei, / Der Stimme Gottes bleib er treu. // [4.] Und fühlet er der Herrschaft Last, / Die du ihm auferleget hast; / So laß zu deiner Hülf ihn fliehn, / Und deine Weisheit leite ihn! / So schau er, wenn Versuchung droht, / Zu dir dem Retter in der Noth, / Er schau auf jene Himmelskron, / Die einst ihm wird zum reichen Lohn. // [5.] Auf dich, o Gott, voll Zuversicht / Vertrauen wir, und zweifeln nicht, / Daß unser inniges Gebet / Für ihn umsonst nicht zu dir fleht. / Dein Friede wohn in

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seiner Brust, / Des Volkes Liebe sei ihm Lust, / Herr segne, Herr, beschirme ihn, / Mit deiner Gnad’ umleuchte ihn; / Dein Friede leit ihn durch die Zeit, / Und uns mit ihm zur Ewigkeit. Amen. // (Rigaer. G. B.) Nach der Predigt. – Mel. Lobt Gott etc. [1.] Gott deiner Stärke freue sich / Der König allezeit, / Sein Auge sehe stets auf dich, / Sein Herz sei dir geweiht. // [2.] Nie fehl ihm Rath und Kraft von dir / Zur Uebung seiner Pflicht; / Er sei der Kirche Schutz und Zier / Und wandl’ in deinem Licht. //

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Am 24. November 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

25. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,9–11 a. Nachschrift; SAr 61, S. 172r–174v; Woltersdorff (unvollendet) Texteditionen: Keine b. Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 641.648– 656; König (rekonstruiertes Fragment; zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.3.E.a.) Wiederabdrucke: Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 117r–117v; Gemberg Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

a. Nachschrift 172r

Auszug der Predigt am Todtenfeste 1822. früh Philp. 3 v. 9–11. Der heutige Tag als der letzte Sonntag unsers kirchlichen Jahres ist unter uns dem Andenken an die Verstorbnen vor Gott gewidmet. Die gelesenen Worte des Apostels, welche denen folgen die wir neulich betrachteten, stehen in genauer Beziehung auf den Gegenstand unsrer Feier; denn wenn wir unsrer Verstorbnen gedenken was bleibt uns übrig für unsre Liebe zu ihnen als der inbrünstige Wunsch daß auch sie mit uns entgegen kommen mögen der Auferstehung, und die lebendige Hoffnung daß dies durch die Gnade Gottes geschehe! – Der Apostel sagt uns worauf es ankommt damit wir entgegen kommen der Auferstehung der Todten[,] es ist nemlich die Gerechtigkeit durch den Glauben. Wenn wir nun sehen auf die verschiednen Verhältnisse in welchen die Sterbenden zu der Forderung des Apostels stehen so müssen wir gestehen daß ein großer Unterschied ist zwischen den Menschen in Beziehung zu dem was der Apostel als Bedingung der Auferstehung der Todten darlegt. Wie können wir uns aber über diesen Unterschied trösten und wie kann unsre Hoffnung damit bestehen? Um dieses aus dem Zusammenhange des göttlichen Worts zu finden sehen wir mit Beziehung darauf 5 Vgl. oben 10. November 1822 früh

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1. Auf den Unterschied der Unmündigen und derer die schon zur Entwicklung der geistigen Kraft gelangt sind: Die meisten der Gestorbnen sind immer aus der Zahl der Unmündigen und unter diesen sind es | am meisten diejenigen deren geistiges Leben noch gar nicht erwachen konnte. Wenn nun zum Entgegenkommen der Auferstehung die Gerechtigkeit die dem Glauben zugerechnet wird nöthig ist, der Glaube der Christum erkennt und aufnimmt um dadurch auch seinem Tode ähnlich zu werden, o wie sollen wir freudigen Trost schöpfen für welche von der Erde, diesem Schauplatz der Erlösung, so früh hinweggenommen sind! Wenn wir bedenken wie die Seelen der Kinder wenn sie erst so weit sind daß sie etwas auffassen und unterscheiden können und ihnen also kann vom Heiligen gesagt werden, wie dann die zarte Seele sich gewöhnlich zu diesem Gegenstande des frommen Gefühls hinneigt voll Liebe und Aufmerksamkeit, so müssen wir wol sagen daß ganz früh schon die Seele sich eben so gut an der Milch des Evangelii zu nähren strebt wie der Säugling unbewußt an der ersten, und daß der Glaube keimt, obgleich entfernt von der Erkenntniß derer die zum vollkommnen Alter gelangt sind – wenn wir bedenken mit wie zarter Sehnsucht die Kinder die Erzählungen des Evangelii hören, und wie, worauf dieselben sich beziehen in ihren Seelen der Gegenstand der reinsten Liebe und Verehrung wird: o wie sollten wir nicht die Hoffnung fassen daß sie so mit uns entgegenkommen werden der Auferstehung! Wenn aber die Kinder hinweggenommen werden noch ehe dieses sich bei ihnen zeigen konnte, o so | laßt uns doch bedenken daß Gott nicht nur dasjenige sieht was schon zur äußern Erscheinung kommt, sondern auch das Innre und Verborgne und wie ihm auch die ganz unentwickelten Triebe und Neigungen bekannt sind und die Keime der geistigen Kraft, und wie sollten wir nun nicht merken daß so wie er in der Gegenwart die Zukunft sieht auch sein Auge darauf richtet daß der Erlöser ihre Seelen geheiligt hätte wenn sie länger auf diesem Schauplatz geblieben, – und sollten wir nicht hoffen daß sie mit dem Abschiede von uns dem Herrn dargebracht werden, wie es auch damals zum Theil ganz kleine Kinder waren, welche, als er auf Erden wandelnd einst aus einer Gegend schied, dem Herrn dargebracht wurden. Und so wie wir ihn mit Recht ansehn können als den Herrn aller Seelen: so können wir auch hoffen daß er in der Liebe und Barmherzigkeit eine Anstalt getroffen haben wird, um die Seelen, die unentwickelt dieses Leben verlassen haben, zu heiligen, ihrer Entwicklung entgegen zu führen und sie des Seegens seiner Auferstehung theilhaftig zu machen. Wenn aber das zum Glauben der gerecht macht gehört, daß wo er ist auch die Seinen sein werden und daß er Alle zu sich ziehn will so würde ja in uns seine Erkenntniß und die 31 wandelnd] wandeln 30–32 Vgl. Mt 19,13; Mk 10,13; Lk 18,15

38 Vgl. Joh 17,24

39 Vgl. Joh 12,32

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Kraft des Glaubens an seine Auferstehung mangelhaft sein wenn wir hierüber nicht | die freudigste Hoffnung hegen sollten. [2.] Aber auch unter denen die als Erwachsene dies Leben verlassen ist allerdings ein großer Unterschied, und es scheint uns als ob, wenn wir uns die ganze Schaar der Verstorbnen vergegenwärtigen, es nur wenige lichte Punkte gebe welche unsre freudige Aufmerksamkeit tröstlich finden könne, der größte Theil uns aber mit mancherlei Zweifel in Hinsicht auf die Auferstehung mit Christo erfüllen müße. – Der Apostel sagt in der Fortsetzung seiner Rede: „viele wandeln von denen ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich mit Weinen, die Feinde des Kreuzes Christi, deren Ende ist das Verdammniß“: Mit Weinen sagt das der Apostel weil er dabei gedachte an den überwiegend größern Theil des Volks der dem Evangelio zu widerstehen suchte, und nicht nur jeder für sich sondern auch für die welche demselben schon zugethan waren. Aber eben die von denen er sagt ihr Ende sei Verdammniß, das waren nur die welche in dieser Feindschaft des Kreuzes Christi geblieben sein würden: Sollen wir aber sagen daß auch mitten in der christlichen Kirche viele dieses Leben verlassen als Feinde des Kreuzes Christi? Nicht selten finden wir unter den Christen diese Meinung über die christliche Kirche, wenn sie nur das äußre Leben betrachten, als seien | nur Wenige darin die dem Tode Christi ähnlich geworden, und als sei noch Vielen das Kreuz ein Ärgerniß oder eine Thorheit; denn so erscheint es uns gar leicht im Leben, weil jeder seine eigne Ansicht und Vorstellungsweise festhält und darum oft diejenigen deren Gefühl es anders bestimmt für Feinde hält. Wenn wir aber an den Tod gedenken, wenn wir sie uns denken in ihrem Hinscheiden, sollen wir glauben daß die welche es auch gewesen wären, Feinde geblieben? Können wir wagen zu denken, daß auch von ihnen gelte, daß ihr Ende Verdammniß sei? – dürfen wir sie für unwürdiger halten als die welche unter seinem Kreuze standen um ihn zu höhnen und in Beziehung auf welche sein letztes Gebet: „Vater vergieb ihnen – “ noch wirksam und kräftig war? O wie sollten wir den Herrn und die Kraft seiner Auferstehung würdig erkennen ohne zu glauben daß das noch das Gebet seines Herzens sei und daß es immer eben so wirksam und kräftig ist. Ja wir müssen es sagen: an Keinem, der getauft ist, dem das Evangelium verkündet ist und der in den Ordnungen des Lebens umfaßt ist von dem was aus der Kraft der Erlösung des Herrn hervorgegangen ist, an Keinem wird sich die Kraft der Erlösung unbezeugt lassen; wir | wissen nur zu wenig was im Innern der Seelen vorgeht, wie die, welche im Leben uns erschienen als Feinde des Kreuzes, oft in unausgesprochnem Seufzen, welches vom Geist des Herrn vor Gott vertreten wird, ihm sich zuwenden, und wie beson9–11 Phil 3,18–19

29 Lk 23,34

38–39 Vgl. Röm 8,26

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ders schnell die Seele dem göttlichen Lichte sich aufschließt indem das Auge der zeitlichen Sonne sich zuzuschließen im Begriff ist, und wie dann der Erlöser sie ergreift um sie mit sich hinüber zu tragen in sein Reich: O so laßt uns das glauben, daß die Kraft seines Todes und seiner Auferstehung die letzte Bewegung der Menschen leitet und daß der Herr so viele Seelen sich gewinnt wie wir es nicht zu ahnen vermöchten! Aber auch unter denen welche wir nicht ansehn können als Feinde des Kreuzes Christi findet sich noch ein großer Unterschied, das sagen wir uns so oft mit wehmüthigem Seufzen [Der Text endet hier.]

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Tex t. Phil. 3, 9–11. Und in ihm erfunden werde, daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesez, sondern die durch den Glauben an Christum kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird; zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, daß ich seinem Tode ähnlich werde, damit ich entgegenkomme zur Auferstehung der Todten. [Anfang fehlt; SW bietet eine von Sydow frei formulierte Einleitung sowie Text aus 1817.] Wenn wir derer gedenken, die der Rathschluß des Höchsten schon von unserer Seite und aus unserer Mitte genommen hat, was bleibt uns übrig für unsere Liebe gegen sie, als der Wunsch, daß sie möchten mit uns entgegenkommen zur Auferstehung der Todten? und was tröstet uns, die wir ihrer leiblichen Nähe beraubt sind, als die lebendige Hoffnung, daß dies durch die Gnade Gottes mit ihnen geschehen werde? Wenn der Apostel sagt: „daß ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesez, sondern die durch den Glauben an Christum kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird, zu erkennen ihn und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden, daß ich seinem Tode ähnlich werde, damit ich entgegenkomme zur Auferstehung der Todten,“ so veranlassen uns diese seine Worte, vorzüglich über das Verhältniß nachzudenken, in welchem die Christen zu der Forderung des Apostels stehen, daß wir nämlich entgegenkommen sollen zur Auferstehung der Todten. Dabei kann es uns nicht entgehen, daß es einen großen Unterschied giebt in dem | Verhältniß der Christen zu demjenigen, was der Apostel als die Bedingung zum Entgegenkommen zur Auferstehung der Todten darstellt, und der bedeutendste Unterschied ist hier wol der zwischen den Unmündigen und zwischen denen, die zur Entwikklung ihrer geistigen Kräfte gelangt sind. Der größte Theil von denen, welche durch den Tod das zeitliche Leben verlassen, ist immer aus der Zahl der Unmündigen, und

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unter diesen, so lehrt uns die tägliche Erfahrung, sind die meisten wiederum diejenigen, welche zu einem geistigen Leben noch nicht erwacht sind, sondern ehe sich noch die Keime alles Guten und Schönen, die der Schöpfer in ihre Seele gelegt hat, entfalten können, ruft sie der Herr schon ab von diesem Schauplaz, der eben erst anfängt, sich vor ihren Augen auszubreiten. Wenn es aber nun zur Auferstehung der Todten gehört, bei der Gerechtigkeit, welche von Gott dem Glauben zugerechnet wird, die Kraft der Auferstehung Christi zu erkennen und die Gemeinschaft seiner Leiden zu empfinden: wie können wir dann aus den Worten unsers Textes einen freudigen Trost schöpfen für die unmündigen Seelen, die von uns scheiden, indem es scheint, als wüßten sie noch nichts von der Gerechtigkeit, die allein vor Gott gilt, als wäre ihnen noch nicht deutlich geworden die Gemeinschaft des Menschen mit dem Erlöser, als hätten sie noch nicht gefühlt das neue Leben, welches der Mensch führen soll in der Aehnlichkeit der Auferstehung des Herrn? Wenn wir bedenken, m. g. F., in welchem Zustande die Seelen unserer Kinder sich befinden, wenn sie so weit gekommen sind, daß sie verstehen können, was wir eigentlich meinen mit demjenigen, den wir unsern Herrn und Meister nennen; wenn wir bedenken, wie die zarten Seelen voll liebender Aufmerksamkeit entgegenkommen dem göttlichen Worte, wie freilich kindlich, doch aber immer mit dem Zeichen, daß die Seelen sich an der Milch des Evangeliums zu nähren streben, sie sich hinwenden zu der Verkündigung des Reiches Gottes, dessen Mitglieder auch sie zu werden bestimmt sind, mit welcher Ehrfurcht sie die Erzählungen von dem Erlöser | aufnehmen, und das Bild von ihm der Gegenstand ihrer Liebe wird: wie sollten wir nicht von solchen die Hoffnung haben, daß sie werden entgegenkommen bei der Auferstehung der Todten! Und wenn bei den kleinsten Kindern die Spur davon sich auch nicht gezeigt hat, so laßt uns bedenken, daß Gott nicht nur das äußerlich Erschienene, sondern auch das Innere und Unsichtbare kennt, und daß ihm die geistigen Kräfte und die geistigen Triebe bekannt sind. Das laßt uns bedenken und sagen, daß, so wie er in die Gegenwart und in die Zukunft sieht, so auch vor seinen Augen deutlich sei die Kraft, welche die Erzählung von dem Heiland gehabt haben würde, wenn sie lebend geblieben wären. Und so müssen wir auch jene Kinder als dem Herrn angehörig ansehen, welcher der Herr aller menschlichen Seelen ist, und der eine Anstalt getroffen hat, wodurch alle unmündige Seelen auf eine uns unbekannte Weise weiter entwikkelt werden und die sie des Segens der Auferstehung theilhaftig macht. Wenn dies, m. g. F., doch mit zugehört zu der Kraft der Auferstehung, welche auch ein Stükk des Glaubens ist, dem die Gerechtigkeit vor Gott zugerechnet wird, daß sie auch für die Unmündigen etwas Wesentliches ist: so würde uns die volle Erkenntniß von ihm und die Erkenntniß von der Kraft der Auferstehung unmöglich sein, wenn wir hierin nicht die feste Hoffnung hegen dürften, die Hoffnung, daß auch unsere Kinder, die der Herr in der zarten Ju-

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gend ihres Lebens von hinnen gerufen hat, entgegenkommen werden bei der Auferstehung der Todten. Allein wenn wir jeder dasjenige, was ihm im Laufe dieses Jahres begegnet ist in dem Kreise der Seinigen, vergessen und uns vor Augen halten, in welchem verschiedenen Zustande jene nicht Unmündigen in Rükksicht auf die allgemeine Entwikklung derjenigen Kräfte der menschlichen Seele, die das Reich des Erlösers in Anspruch nimmt, das Zeitliche gesegnet haben: so zeigt sich uns hier ein großer Unterschied zwischen den Einen und den Andern, und es scheint allerdings, als ob unter allen denen, die in den reiferen Jahren das Ziel ihres Lebens erreichen, es nur | wenige giebt, die wie einzelne lichte Punkte am trüben Himmel unsere Aufmerksamkeit auf eine lebendige und freudige Weise auf sich ziehen, der größte Theil aber unter denen, die das Leben verlassen, scheint uns mit Bedenken zu erfüllen. Auch auf diesen Unterschied, m. g. F., mögen wir denn sehen, und wol müssen wir sagen, daß unsere Hoffnung in Beziehung auf das Entgegenkommen bei der Auferstehung der Todten nicht eher eine recht freudige sein kann, als bis wir auch diesen Punkt zur völligen Beruhigung unsers Herzens aufs Reine gebracht haben. Nicht in den Worten unsers Textes, aber in spätern unsers Briefes sagt der Apostel zu den Christen „Sehet auf die, welche also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde; denn viele wandeln, von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich auch mit Weinen, die Feinde des Kreuzes Christi.“ Mit Weinen, sagt der Apostel, weil er, indem er dies schrieb, gedachte an jenen großen Theil seines Volks, denen das Evangelium zwar auch verkündigt wurde – wie denn die Apostel dem Befehle ihres Herrn gemäß in Jerusalem anhebend mit der Predigt vom Reiche Gottes fortgingen, so weit sie kommen konnten – die es aber verschmähten und von sich stießen, weil ihnen das Kreuz Christi ein Aergerniß war; er gedachte auch an jenen großen Theil der Heiden, von denen er anderwärts sagt, das Wort vom Kreuze sei ihnen eine Thorheit, weil sie, versunken in das Irdische, sich nicht finden konnten in das Geheimniß der Erlösung, und deren geistiges Auge eben deshalb verschlossen war für das himmlische Licht der Wahrheit. Und je mehr der Apostel suchte, sich selbst mit dem Herrn in eine immer innigere geistige Gemeinschaft zu sezen, desto weniger konnte er sie anders, denn als Feinde des Kreuzes Christi ansehen. Aber eben diejenigen, von denen er hier redet und sagt, ihr Ende sei die Verdammniß, waren die Feinde des Kreuzes Christi, die außer der Gemeinschaft der Christen geblieben waren, weil sie nicht gehört hatten auf die Stimme des Evangeliums, die ihnen das Heil verkündigte. Aber, m. g. F., sollen wir sagen, | daß auch viele unter denen, die in den äußern Umfang des Reiches Gottes auf Erden aufgenommen sind und damit berufen, das Tichten und Trachten nach dem 20–23 Phil 3,17–18

25–27 Vgl. Lk 24,47; Apg 1,8

36 Vgl. Phil 3,19

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Irdischen aufzugeben und ihr Gemüth zum Höheren zu erheben, wandeln als Feinde des Kreuzes Christi? Freilich, ist es eine weit verbreitete Meinung in der christlichen Kirche, als ob wenige nur in derselben wären, die den Herrn wahrhaft bekennen und seinen Tod und ihr Heil in keinem Andern suchen, als in ihm, dagegen nicht wenige mitten in der Kirche des Herrn, denen sein Kreuz und die Lehre von der Erlösung des menschlichen Geschlechts durch ihn in dem innersten Grunde ihres Herzens eine Thorheit sei, und diese Meinung erscheint uns häufig genug in denen befestigt und in ihren Reden hervortretend, von denen ein jeder, seine eigene Ansicht über den Herrn und über das Werk seiner Erlösung in sich tragend und festhaltend, eben deshalb gar zu leicht geneigt ist, diejenigen, deren Ansichten mit den seinigen nicht übereinstimmen, als Feinde des Kreuzes Christi anzusehen. Aber wenn wir an den Tod gedenken, der, so wie er alle Ungleichheiten des Lebens aufhebt, so auch die Gemeinschaft des Menschen mit dem Sinnlichen vernichtet, welche es uns oft so schwer macht, in das Gemüth Anderer zu schauen und zu einem sicheren Urtheil über ihr Leben zu gelangen; wenn wir diejenigen, welche wir in ihrem Leben häufig zu hart als Feinde des Kreuzes Christi beurtheilen, in der Stunde des Todes sehen, ohne daß uns eine Aenderung in ihrem Innern vorgegangen zu sein scheint und in ihrem Betragen sichtbar wird: so sollten wir doch wenigstens nicht glauben, daß auch von ihnen das gelte, was der Apostel sagt, daß nämlich ihr Ende die Verdammniß sei. Oder wenn auch unser Urtheil über sie nicht unbillig und hart ist, wollen wir sagen, sie wären in einem größern Maaße Feinde des Kreuzes Christi gewesen, als die, welche bei seinem Kreuze auf und ab gingen, ihn spottend und verhöhnend, und in Beziehung auf welche doch sein leztes Gebet war „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun!“ Gewiß, das können wir nicht | ohne ungerecht zu sein. Ach, m. g. F., wir wissen zu wenig, was in dem Innern der menschlichen Seele vorgeht, und wie sich ihr Verhältniß zu Gott und dem ewigen Rathschluß der Erlösung durch Christum in ihren geheimsten Tiefen gestaltet; wir halten uns viel zu sehr an äußere Erscheinungen, als daß wir ein reines Urtheil darüber haben könnten, ob die Menschen um uns her in der That Feinde des Kreuzes Christi sind. Ja, wie der göttliche Geist auch solche Menschen, die nach unserer beschränkten Denk- und Urtheilsweise Feinde des Kreuzes Christi sind, zu Gott erhebt, und wie sie auch hier von dem Erlöser vertreten werden, das wissen wir nicht und bemerken es nicht; und wie die Seele, besonders wenn der Augenblikk des Todes naht und alle Bande zerreißen wollen, wodurch sie an das sinnliche Leben gekettet ist, sich oft noch insgeheim das Buch der ewigen Erlösung aufschlägt und ihr leztes Wort nichts Anderes ausspricht, als die Seufzer dessen, der demuthsvoll die göttliche Gnade anfleht, und wie auf der andern Seite auch der Erlöser 26–28 Lk 23,34

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geneigt ist, den Menschen, der lange seine hülfreiche Hand zurükkgestoßen hatte, auch noch im Augenblikke des Todes in seine liebenden und erlösenden Arme aufzunehmen: davon hat er uns in seinem Tode noch einen Beweis gegeben an jenem Missethäter, der sich reuig zu ihm wandte, und dem er die Versicherung der Vergebung und der fortgesezten Gemeinschaft mit ihm gab. Und so laßt uns glauben, daß die Kraft seiner Erlösung und Auferstehung die lezten Bewegungen der menschlichen Seelen leitet, daß diese seine Kraft es ist, durch welche manche Seele noch im Scheiden von diesem Leibe Gotte zugewendet wird, daß das göttliche Licht, welches in ihm erschienen ist, vor mancher Seele noch im lezten Augenblikke die Schatten des Todes zerstreut und wegzieht, und ihr den Blikk auf das Höhere und Ewige öffnet, und daß also Christus der Herr sich noch viele Seelen gewinnt, wenn sie das irdische Leben verlassen, ohne daß wir es zu ahnen und zu begreifen vermögen. Aber auch unter denen, die nicht als Feinde des Kreuzes Christi | angesehen werden, finden wir noch einen großen Unterschied. Das sagen wir uns oft mit wehmüthigen Seufzern, was David sagt: „Wenige sind es, die deine Hoheit und deinen Namen verkündigen.“ Nicht groß scheint uns die Anzahl derer, die in ihrem ganzen Leben danach getrachtet haben, vor Gott zu erscheinen mit der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt und die allein vor ihm gilt, und die gesucht haben, wie sie erkennen die Kraft seiner Auferstehung. O freilich, m. g. F., wenn wir solche Christen sterben sehen; wenn wir die Seele, indem sie sich löst von den Banden des Leibes und den Schauplaz des irdischen Lebens verläßt, erfüllt sehen von der göttlichen Liebe und von der lebendigen Kraft des Glaubens; wenn wir sehen, wie die Seele in den lezten Augenblikken ganz versunken ist in die Anschauung des Todes Christi und in das tiefe Gefühl seiner Auferstehung: o mag es wol größere Schmerzen geben für diejenigen, welche solche Seelen scheiden sehen? Denn es geht ihnen nun vieles verloren, was sie in der zeitlichen Vereinigung mit ihnen genossen haben. Aber dennoch ist es ein Schmerz, den sie mit keiner irdischen Freude vertauschen möchten; denn was ihnen zurükkbleibt von solchen theuern Entschlafenen, das schöne Bild ihres Innern und ihres Wandels, welches sie in sich aufgenommen haben, ist wieder ein Gut des Lebens, ist Stärkung des Gemüths und feste Zuversicht des Herzens für jede Zukunft des Lebens. Und in Beziehung auf solche Seelen sind wir gewiß, daß sie uns entgegenkommen werden bei der Auferstehung der Todten. Aber wie viele giebt es nicht, in denen wir das Leben im Glauben und in der Liebe kaum entdekken können, die wol den Namen Christi hören und zum Bekenntniß seines Namens Glieder an seinem Leibe zu werden berufen sind, die aber ganz scheinen mit ihren Bestrebungen versunken zu 3–6 Vgl. Lk 23,42–43

17–18 Vgl. Ps 12,2

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sein in das irdische Leben, nicht grade in die sinnlichen Genüsse desselben, sondern in den Beruf, der ihnen angewiesen ist, und der ihre Thätigkeit ganz in Anspruch nimmt und daher ganz abzieht von der Beschäftigung mit den geistigen himmlischen Gütern, die allein in Christo zu finden sind. | Und sehen wir, wie sie das zeitliche Leben verlassen, so scheint es uns eine Labung zu sein, daß die Erhörung unserer Gebete von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Denn mitten in der Thätigkeit des Lebens, mitten unter den Sorgen für die irdischen Dinge ereilt sie der Tod, ohne daß sich ihr Herz dem Herrn zugewendet hat, ohne daß ihr Auge gerichtet ist auf das Höhere und Ewige, und wer vor ihrem Sterbebette steht, empfängt und behält den Eindrukk, daß es verschlossene Seelen sind, die sich da vom Leibe trennen, nichts aber von dem schönen und beseligenden Gefühl, welches uns an dem Sterbebette derer erfüllt, denen der Glaube an Christum das Innerste durchdrungen hat, und die in ihrem ganzen Leben von der Liebe zu ihm und zu seinem Reiche getrieben worden sind. Was, m. g. F., sollen wir von diesen denken und hoffen? Doch gewiß das, was er, als er noch auf Erden wandelte, selbst als die große Regel seiner Thätigkeit aussprach, daß er nämlich das geknikkte Rohr nicht zerbrechen und das glimmende Tocht nicht auslöschen werde. Und diese Hoffnung haben wir auch für diejenigen, in denen der Funke des göttlichen Lebens nicht zur lebendigen Flamme aufgeschlagen ist. O, m. g. F., er müßte nicht derjenige sein, den Gott gesezt hat zum Erlöser der Menschen, er müßte nicht sein der Herr einer Gemeinde, die ihm zur Beute gegeben ist, zahllos wie die Sterne des Himmels, er müßte nicht derjenige sein, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, wenn wir nicht hoffen sollten, seine erlösende Kraft werde auch diejenigen, in denen sie uns nicht sichtbar geworden ist, ergreifen und sie uns entgegenführen bei der Auferstehung der Todten, und wenn wir nicht glauben sollten, daß es viele bessere Augenblikke für sie in ihrem Leben gegeben hat, besser als die, in denen wir Gelegenheit hatten, sie zu beobachten. Aber steht es so um die Gemeinde der Gläubigen, m. g. F., daß es in derselben nur eine kleine Anzahl von frommen und Gott ergebenen Seelen giebt, die uns zur Stärkung unsers Glaubens gereichen; die meisten aber solche sind, denen Christus der Herr | wol das Wort ist, aber nicht das lebendige und belebende, denen er wol ein Licht ist, aber nur ein dunkles, welches ihre Seelen nicht erleuchtet und ihren Pfad nicht erhellt: so steht es noch nicht so, wie es sein soll, und wir müssen sagen, die Worte des Apostels „nicht daß ich es schon ergriffen habe, aber ich jage ihm nach, ob ich es ergreifen möchte,“ die finden auch hier ihre vollkommene Anwendung. So laßt uns auch nachjagen, daß die Zahl der Seinigen groß werde, deren Tod uns zur Stärkung gereicht. Wie anders aber können wir dies, als 17–19 Vgl. Mt 12,20

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wenn wir treue Arbeiter in dem Weinberge des Herrn zu sein suchen, wenn wir nie aufhören seinen Tod zu verkündigen, wenn wir uns ihm weihen nicht blos mit dem Worte, sondern auch mit der That, damit immer mehr die ganze Gemeinde vor ihm dargestellt werden könne rein und unbeflekkt. So müssen wir durch unser ganzes Leben bezeugen, daß wir nicht nur in der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, vor Gott hingehen wollen, sondern auch in der Gemeinschaft mit Christo. Dann wird die christliche Kirche lebendig werden in allen ihren Gliedern, dann wird jede Saat herrlich reifen, die durch die göttliche Gnade in ihren Schooß ausgestreut wird. Und so wird sich die Erkenntniß des göttlichen Wortes und der lebendige Glaube an den Herrn immer weiter verbreiten, und von einem Jahre zum andern werden wir mit immer größerer Freudigkeit auf diejenigen hinsehen können, welche entschlafen sind, und immer fester wird in uns Allen werden der Glaube, daß wir mit ihnen entgegenkommen werden bei der Auferstehung der Todten! Amen.

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1. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 21,9 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 103, S. 1–23; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 1–27 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück, deren letzte Seite sich in SAr 84, Bl. 130r, Slg. Wwe. SM befindet Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, 21843, S. 5–20 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 9–28 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 1–13 Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten; Bl. 40r–51r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 118r; Gemberg (Notiz) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am ersten Adventsonntage 1822, am ersten Christmonds. | Tex t. Mattha. XXI, 9. Das Volk aber, das vorging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohne Davids; gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn. M. a. F. die festliche Zeit, mit welcher wir allemal ein neues kirchliches Jahr beginnen, und welche zum nächsten Zweck hat, die Herzen der Christen zu einer würdigen Feier der Geburt des Erlösers vorzubereiten, hat zwei große Gegenstände, unerschöpflich jeder, unzertrennlich beide von einander: die Betrachtung der Wohlthaten, die uns der Erlöser erwiesen, und die Betrachtung der ausgezeichneten und hohen Würde dessen, der sie uns erwiesen. Von keinem können wir reden ohne das andere, keins kann uns durchdringen ohne das andere. Aber wohl mögen wir bald mehr auf das Eine, bald mehr auf das Andre unser geistiges Auge richten. Was wir eben miteinander gesungen haben, das kam aus einem Herzen durchdrungen von der | Größe der Wohlthaten, die uns der Erlöser erwiesen, aussprechend das Bedürfniß des menschlichen Herzens und feiernd seine Erfüllung; die Worte der Schrift, die wir jetzt miteinander gelesen haben, sind ein

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Zeugniß von der hohen und ausgezeichneten Würde des Erlösers, aus dem Munde des Volkes freilich, sonst harten und verstockten Sinnes genug und wandelbar in allen seinen Erregungen, aber doch in den Augenblicken, wo es ergriffen war von der Erscheinung des Erlösers, auch Verkündiger der großen Wahrheit, an welche wir in diesen Tagen besonders uns erinnern. So laßt uns denn darauf jetzt mit einander unsre Betrachtung richten, daß wir des Erlösers gedenken als dessen, der da gekommen ist in dem Namen des Herrn, und laßt uns sehen, was alles eben in diesem, was von ihm gerühmt wird, liegt. Der Ausdruck, m. g. F., ist uns gewöhnlich geworden, und wird gar vielfältig gebraucht, weswegen es denn scheinen könnte, als habe er von seiner Würde und Bedeutsamkeit verloren. Aber er ergreift uns doch auf eine ungewöhnliche Weise, und thut uns eine große Fülle von Gedanken und Betrachtungen auf, so wie er hier gesprochen | wird, wenn wir gedenken, wie das Volk den Erlöser empfing mit dem Zuruf: „Gelobet sei der da kommt in dem Namen des Herrn.“ I. Zuerst, m. g. F., laßt uns mit demjenigen beginnen, was uns das Mindeste zu sein scheinen könnte. Zuerst wurde begrüßt mit diesen Worten eines alten Psalmes jede Gesellschaft, welche an den Tagen hoher Feste in die Hauptstadt des Volkes zog. Wenn eine solche Schaar einzog, so sammelten sich die Bewohner Jerusalems um sie her, gingen ihnen entgegen und riefen: „Gelobt ist jeder, der da kommt in dem Namen des Herrn“; und die Ankommenden erwiederten ihren Gruß, und sagten mit den Worten desselben Psalms: Wir segnen Euch, die Ihr seid von dem Hause des Herrn. So wurde also dasselbe dem Erlöser schon zugerufen, als er zuerst mit einer solchen Schaar als ein junger Knabe in die Hauptstadt seines Volkes kam, um mit seinen Aeltern das Fest zu beginnen. Und als er hernach auftrat als Lehrer, da war schon immer die Frage unter denen, | die sich versammelt hatten zum Fest, und unter den Bewohnern Jerusalems selbst: Wird er wohl kommen auf das Fest, oder wird er daheim bleiben? Und nie gewiß ist er da erschienen, ohne daß ihm und denen, die ihm nachfolgten wäre zugerufen worden: Gelobt ist der, der da kommt im Namen des Herrn. Aber mit einer besonderen Auszeichnung, mit einem besonderen Eifer geschah es, als er zum letztenmal zu dem Feste seines Volkes erschien, um, wie ihn verlangt hatte vor seinem Leiden, mit seinen Jüngern das Osterlamm zu essen, und dann seine Bestimmung auf Erden zu erfüllen. M. g. F., so ist es. Jeder der da kommt, um Feste des Herrn zu begehen, kommt in dem Namen des 7 wird er daheim] wird daheim ; Ergänzung aus SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 42r ginnen] Kj begehen (auch SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 42r) 18–20.24 Ps 118,26 35 Vgl. Lk 22,15

25–27 Vgl. Lk 2,41–42

28–30 Vgl. Joh 11,56

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Herrn; und besonders an einem Tage, wie der heutige, wo ein neues Jahr unsrer kirchlichen Versammlungen beginnt, mögen wir uns alle immer auf diese Weise begrüßen: „Gelobet sei der da kommt im Namen des Herrn“; und mögen uns unter einander segnen als solche, die da sind vom Hause des Herrn. Denn, wenn das menschliche | Herz erfüllt ist von Andacht, durchdrungen wie es diejenigen waren, die zu den hohen Festen des jüdischen Volkes kamen, von den mannigfaltigen viele Geschlechter der Menschen hindurch fortgesetzten Wohlthaten Gottes, von der Auszeichnung einer besonderen Erwählung, um seinen Namen, sein Gesetz, und seinen Dienst unter den Menschen zu erhalten; o dann regt sich das Göttliche in dem Menschen, und eben dieses strebt sich loszumachen von der irdischen Hülle, und sich aus der Fülle des Göttlichen selbst auf’s Neue zu nähren und zu befestigen. Jeder, der andächtig erscheint, wo dem Herrn gedient wird im Geist und in der Wahrheit, der verbreitet auch Andacht und Frömmigkeit, wie er sie in sich fühlt; und also jeder, der kommt, um mit diesem wahrhaft geistigen Schmuck die Feste des Herrn zu verschönern, dem mögen wir zurufen: Gelobet und gesegnet sei, der da kommt in dem Namen des Herrn. Aber, meine geliebten Freunde, auch in dieser Hinsicht ist der Erlöser mit keinem zu vergleichen, der in dem Namen des Herrn | kommt. Denn ist er es nicht, aus dessen Fülle wir nehmen? ist er es nicht, der uns erst die Macht gegeben Gottes Kinder zu werden? ist er es nicht, der erst den Geist unter uns ausgegossen hat, welcher nun aus uns redet mit unausgesprochenen Seufzern, und dem der Geist Gottes, eben wenn wir versammelt sind den Herrn zu feiern, das Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind. Darum m. g. F. mögen wir auch ihn auf eine vorzügliche Weise und ihn allein an dem heutigen Tage begrüßen als den Gelobten und Gesegneten, der da kommt in dem Namen des Herrn. Er hat es ja verheißen, daß er mitten unter uns sein wird, wo zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind. So zieht er auch in jedem neuen kirchlichen Jahre wieder auf’s neue ein in uns’re christlichen Versammlungen, wir halten uns getröstet in unserm Herzen und erfahren seine geistige Gegenwart; und wenn wir die Segnungen christlicher Andacht fühlen, wenn unser Herz von dem Irdischen gelöst und zu Gott erhoben wird, wenn wir uns der Segnungen der Kindschaft Gottes bewußt werden: o dann laßt uns voll Dankes ausrufen: „Gelobet sei der, der da gekommen ist in dem Namen des Herrn.“ | II. Zweitens aber m. a. F. jeder der von den Propheten des alten Bundes, von jenen Männern, die sich Gott besonders ausrüstete zu seinen Werkzeugen, um das Volk zu warnen, wenn es sich verirren wollte von dem rechten Wege, um die Zunge der Stammelnden zu lösen und ihnen Worte der 20 Vgl. Joh 1,16 Mt 18,20

20–21 Vgl. Joh 1,12

22–23 Vgl. Röm 8,26

27–29 Vgl.

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Weihe zu geben für ihren Dank gegen den Höchsten und für ihre Anbetung seines Namens, um die Unwissenden zu lehren und die Strauchelnden zu leiten – alle diese, sie alle kamen in dem Namen des Herrn. Das Wort des Herrn geschah zu ihnen, und wenn sie es dem Volke kund machten, so sprachen sie „so spricht der Herr“, und in seinem Namen traten sie auf, einzelnen Gutes verheißend, einzelnen Übel drohend nach der Beschaffenheit der Zeiten und der Umstände, bisweilen willige Ohren findend und sich der Frucht ihrer Predigt erfreuend, dann aber auch überhört und verworfen und genöthigt zu dem traurigen Ausspruch: „wer glaubt wohl unserm Predigen?“ „Dieses Volk hat Ohren, aber es hört nicht, und Augen, aber es sieht nicht.“ Und das | ist das Zeugniß und Bekenntniß jener ganzen Reihe gottbegeisterter Männer, deren Schriften noch jetzt ein so schöner Schmuck jener Urkunden aus den Zeiten des alten Bundes sind. – Als der Erlöser an dem Tage, an welchen uns uns’re Textworte erinnern, sich der Stadt näherte, und das Volk ihm entgegenströmte: so fragten viele, die ihn nicht kannten: wer ist denn dieser? und die Andern antworteten „Das ist der Prophet, der Jesus von Nazareth aus Galiläa“, und so begrüßten sie ihn also auch als einen Propheten des Herrn, indem sie ihn anredeten: „Gelobt sei der da kommt in dem Namen des Herrn“; und für einen großen Propheten mächtig an Worten und Thaten galt er unter dem ganzen Volk. Er aber sagt „die Propheten reichen bis auf Johannes; der Kleinste aber im Reiche Gottes ist größer denn der, der der größte ist unter allen Propheten“. Hat er denn je diesen Namen von sich gewiesen, wenn das Volk ihn pries als einen Propheten des Höchsten und sich freute, daß die so lange verstummte Stimme Gottes sich | wieder vernehmen ließ unter dem Volke? redete er nicht in dem Namen des Herrn? und waren es nicht Worte an ihn ergangen, welche er zu den Menschen sprach? Wohl sagt er das selbst „das Wort, welches ich rede, das ist nicht mein, sondern dessen, der mich gesandt hat; was ich von dem Vater gehört habe, das rede ich“. Und so war er freilich ein Prophet wie jene; aber m. g. F. ganz anders und mit ihnen nicht zu vergleichen. Denn wie jene zurückgingen auf das Gesetz, welches Moses dem Volke gegeben hatte, dieses zu erläutern suchend in lehrreichen und ergreifenden Reden, und nur der ein rechter Prophet war, der sich anschloß an das Gesetz des Herrn; wie es immer nur Einzelnes, je nachdem es das Bedürfniß des Volkes mit sich brachte, war, was sie lehrten, und so auch auf einzelne bevorstehende Begebenheiten ihre Gabe der Weissagung gerichtet war: wie sollten wir den mit ihnen vergleichen, dessen Gotteswort nicht auf etwas Anderes zurückging und von etwas Anderem abstammte, sondern nur der Ausdruck war von der Fülle der Gottheit, die in ihm selbst 9–10 Vgl. Jes 53,1 10–11 Vgl. Jer 5,21 13–17 Vgl. Mt 21,10–11 21–22 Vgl. Mt 11,9.11.13; Lk 7,26.28; 16,16 27–29 Vgl. Joh 14,24 29 Vgl. Joh 8,26 39–1 Vgl. Kol 2,9

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wohnte, dessen Wort nicht | bestand aus einzelnen Lehren, auf einzelne Gemüthsstimmungen der Menschen und auf einzelne Verhältnisse des Lebens berechnet, sondern dessen Wort eine große zusammenhängende Rede war, deren Zweck und Inhalt kein geringerer als den Vater selbst, mit dem er Eins war, den Menschen zu offenbaren. Aber darum eben, weil seine Rede ein so zusammenhängendes Ganze war, und ihr nichts fehlt, sondern jeder für alle Bedürfnisse seines Herzens und unter allen Verhältnissen des Lebens in ihr finden kann, was er bedarf, eben deswegen unterschied er sich auch dadurch von jenen Propheten des alten Bundes, daß er nicht verkündigte was fern war, sondern daß Verkündigung und Erfüllung in ihm Eins war und eben dasselbige. Darum als er bald am Anfange seines Lehramts in die Stadt kam, wo er erzogen war, und ihm gebracht ward das Buch des Gesetzes und der Propheten, und er die Stelle aufschlug „der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, daß sie frei und ledig sein sollen, kurz: | zu predigen aller Welt das angenehme Jahr des Herrn“, da konnte er das Buch der Schrift zuthun und mit vollem Vertrauen sagen: „Heute ist diese Schrift erfüllt vor euren Ohren.“ So predigte er das angenehme Jahr das Herrn. Und als Johannes zu ihm schickte und ihn fragen ließ: „bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir eines andern warten?“ Da sagte er „verkündiget euerm Meister was ihr sehet, die Blinden sehen, die Tauben hören, die Stummen reden, die Lahmen gehen, die Todten stehen auf, und den Armen wird das Evangelium gepredigt“. Er lud zu sich ein „kommt her ihr Mühseligen und Beladenen, und ich will euch erquiken“; und seine Verheißung erfüllte sich in jedem Augenblicke seines fruchtbaren Lebens an jeder heilsbegierigen Seele; Verheißung und Erfüllung waren ihm Eins und dasselbe. O welch’ ein Anderer als alle Propheten des alten Bundes! Wie Recht hatte er deswegen zu sagen: die Propheten reichen bis auf Johannes, aber da geht das Reich Gottes | an, und jeder kann es an sich reißen, der mit allen Kräften seines Geistes darnach ringt. So gab er uns das hinreichende, das befriedigende Wort der Seligkeit, welches nur der Sohn, der das Ebenbild des Vaters war, den Menschen geben konnte, welches nur von den Lippen dessen tönen konnte, der da sagen durfte: ich rede die Worte, die ich von dem Vater gehört habe, und nach den Werken tue ich, die er mir gezeigt hat, und er wird mir immer noch Größeres zeigen. Darum ist er uns mehr als alle andere, und weit treten vor ihm in den Schatten zurück alle, die vorher gekommen waren als Propheten des Herrn in dem Namen des Herrn. 17 Herrn,“ da] Herrn.“ Da

35 tue] rede

11–18 Vgl. Lk 4,16–21 19–23 Vgl. Mt 11,2–5; Lk 7,18–20.22 24–25 Vgl. Mt 11,28 28–31 Vgl. Lk 16,16 34 Vgl. Joh 8,26 35–36 Vgl. Joh 5,19–20

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III. Drittens aber, wie alle Propheten zurückgingen in ihren Reden auf das Gesetz, welches Moses gegeben hatte dem Volk: so war nun vorzüglich dieser Gesetzgeber desselben gekommen in dem Namen des Herrn. | In dem Namen des Herrn hatte er das Volk ausgeführt aus dem Lande der Knechtschaft, in dem Namen des Herrn brachte er ihm von dem Berge des Gesetzes die Tafeln des Gesetzes, und hielt ihm vor Segen und Fluch, und fragte das Volk in dem Namen des Herrn, ob es annehmen wolle die Gesetze seines Bundes und werden das Volk seines Bundes. Und gewiß m. a. F. nicht Moses allein als Gesetzgeber, wenngleich er auf eine vorzügliche Weise gekommen ist in dem Namen des Herrn; sondern wir ehren in jeder menschlichen Gesetzgebung etwas, was uns in dem Namen des Herrn gegeben ist; wir wissen, es ist seine Stimme, welche die Menschen von der Verwirrung und Zügellosigkeit der Selbstsucht zur Ordnung und zum Recht beruft, von der Kümmerlichkeit eines einzelnen und zerstreuten Lebens zu einer heilsamen Verbindung ihrer Kräfte; und auch jedes menschliche Recht und jede menschliche Ordnung redet zu uns in dem | Namen des Herrn. Darum sagt auch der Apostel „es ist keine Obrigkeit, sondern sie ist von Gott verordnet, denn in dem Namen Gottes trägt sie das Schwert als Rächerinn der Gesetze an dem Bösen“. Aber so wie der Apostel von dem Gesetz sagt, es habe den Menschen keine Kraft mittheilen können es zu erfüllen, sondern sie hätten in demselben immer nur gefunden die Erkenntniß ihrer Sünde, und das Gesetz hätte nur die Menschen zusammengehalten unter der Sünde bis auf die Zeit, da der Glaube kommen würde von dem Zuchtmeister dem Gesetze: so erkennen wir auch, daß jedes menschliche Gesetz, insofern es nur als ein äußerer Buchstabe in dem Namen des Herrn zu den Menschen redet, ihnen die Kraft nicht mittheilen kann es zu erfüllen, sondern Furcht und Hoffnung, Lohn und Strafe, Fluch und Segen, so weit menschliche Kräfte und menschliche Ordnungen beide bewirken können, zu Hilfe nehmen muß, um die | Gemüther der Menschen erst durch etwas Fremdes zu bewegen. Und nur wenn das Gesetz, dem sie gehorchen, in ihnen selbst zum lebendigen Geist geworden ist, nur dann bedarf es jener äußern und unsichern Hilfsmittel nicht weiter. – Bedarf es wohl noch, m. g. F., daß wir uns erst fragen, wie verhält sich denn nun in dieser Hinsicht der Erlöser als der, der da gekommen ist in dem Namen des Herrn? So sagt er selbst „ich bin gekommen in dem Namen des Herrn; aber ihr habt mich nicht aufnehmen wollen, daß ihr das Leben in mir fändet“. So ist er gekommen in dem Namen seines Vaters, mit der schöpferischen Kraft desselben ausgerüstet, die menschliche Seele herauszureißen und zu befreien von ihrem niedrigen Dasein und Leben, und sie einpflanzend in sich selbst, dem ewigen Baum 18–20 Vgl. Röm 13,1.4 37 Vgl. Joh 5,40.43

21–22 Vgl. Röm 3,20

22–25 Vgl. Gal 3,23–24

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des wahren Lebens, damit sie aus ihm nur reine und edle Säfte ziehen könne, um Früchte zu bringen, die seiner würdig wären. Nicht ein äußeres Gesetz zu bringen ist er | in dem Namen seines Vaters gekommen, sondern als er kam rief er: „das Reich Gottes ist da“, eine lebendige Gemeinschaft zu stiften, unter welcher Gott verehrt würde und ihm gedient im Geist und in der Wahrheit; so die Menschen zu verwandeln, daß immerdar sie mit Freuden das Wort hielten, das er ihnen gegeben hat, daß sein Vater sie liebete, und er mit seinem Vater käme Wohnung zu machen in ihrem Herzen – so, m. g. F.; so ist er gekommen in dem Namen des Herrn. O gelobt und ewig gesegnet sei der, der so kommt in dem Namen des Herrn, der uns erhöht hat zu der lebendigen Kraft des Geistes, der uns geworden ist nicht nur zur Erlösung, sondern auch zur Weisheit und Heiligung, der es sagen konnte und sich vor seinem himmlischen Vater das Zeugniß geben: Herr ich habe deinen Namen offenbaret den Menschen, die du mir gegeben hast, ich habe ihnen nichts verhalten, sondern alle deine Worte habe ich zu ihnen geredet, um sie zu heiligen in deiner Wahrheit. | Wenn wir m. g. F., einen neuen Abschnitt unsers gemeinsamen christlichen Lebens, ein neues Jahr beginnen, zurücksehend auf die Vergangenheit, und die Zukunft ins Auge fassend: o wir müssen ja wohl, wiewohl eingedenk unsrer Schwachheit und Unvollkommenheit, uns nicht schämen mit seinem Apostel zu bekennen „nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, ich jage ihm aber nach dem vorgesteckten Ziele“, aber doch müssen wir, nicht also zu uns’rer, sondern zu seiner Ehre bekennen, daß auch darin sein Wort wahr ist, daß auch mit diesem das Herz erwärmenden, den Geist belebenden, die Gemeinschaft der Gläubigen zusammenhaltenden Wort, und mit dieser geistigen Kraft seiner Nähe er mitten unter uns gewesen ist. Und wenn wir uns bei dem Beginn eines neuen kirchlichen Jahres das Wort geben, nur ihm zu leben, nur aus der Quelle des ewigen Lebens, die er uns aufgethan hat, zu schöpfen, | und nicht zu weichen von der Gemeinschaft, die er gestiftet hat unter denen, die an ihn glauben, und auf welche allein er den Segen seiner Nähe und seiner geistigen Gegenwart gelegt hat: o so laßt uns denn mit innigem Dank ausrufen: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn.“ Aber doch würden wir das Wort nicht vollkommen verstehen und ihm nicht ganz den Ruhm erweisen, der ihm gebührt, wenn wir nicht auch das bedächten. Indem wir zu ihm sagen: „Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn“, so fühlen wir zugleich, wie er mit keinem verglichen werden kann von denen, die vorher gekommen sind in dem Namen des Herrn: so ist er 4 da,“ eine] da. Eine

20 Unvollkommenheit,] Unvollkommenheit und

4 Vgl. Mt 4,17; Mk 1,15 8–9 Vgl. Joh 14,23 16 Vgl. Joh 17,6.8.19 21–23 Phil 3,12

11–12 Vgl. 1Kor 1,30

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auch der Letzte, der gekommen ist in dem Namen des Herrn. Nachdem er dagewesen ist und noch ist, dürfen wir keines Andern warten. Keiner wird jemals kommen, der mit solcher begeisternder Kraft die menschlichen Herzen rührt und sie wiederum empfänglich macht das ewige | Leben in sich aufzunehmen; keiner wird kommen, der uns ein vollkommneres Wort Gottes brächte; keines Menschen Weisheit wird je etwas Vollkommneres reden als der Sohn zu uns geredet hat; in keiner heiligern Brust wird je der Geist Gottes in einem höhern Maaße wohnen als in dem, in welchem die Fülle der Gottheit wohnte; und keine neue Offenbarung von oben dürfen wir mehr erwarten; das Wort der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit ist vollbracht und vollendet in Ihm. Wie alles, worin sich früher die Kraft des Herrn mächtig erwies, nur eine Vorbereitung war auf den, der da kommen sollte: so ist nun alles, worin sich die Gnade und Barmherzigkeit Gottes kräftig erweiset, nur ein Ausfluß von ihm, nur eine Folge seines Daseins. Alles was irgend einen Werth hat und die Menschen fördern kann zur Seligkeit, muß sein Bild tragen und seine Überschrift; und wer da kommt, der komme in dem Namen Jesu von Nazareth. | In dem allein können wir unsern Brüdern Heil bringen, auf den allein müssen wir zurückweisen; und alle, die noch in den künftigen Geschlechtern der Herr sich ausersehen wird zu seinem Dienst, alle die er auszeichnen wird durch seine Gaben und Kräfte von Oben – sie werden kommen in dem Namen Jesu von Nazareth, mit uns ihre Knie beugen vor ihm, mit uns bekennen, daß er allein der Herr ist, und in ihm allein das Heil der Menschen liegt. Das Reich Gottes ist da und steht fest, und in dieses müssen sich sammeln alle diejenigen, welche der Seligkeit theilhaftig werden wollen, die Gott den Menschen gegeben hat; es steht fest, und die Pforten der Hölle werden es nicht überwältigen; es wird nicht untergehen, es [wird] auch von keinem schöneren verdrängt werden, sondern was sich der Herr noch vorbehalten hat, was noch nicht erschienen ist, aber erscheinen wird, wie unaussprechlich auch menschlichen Zungen, wie unerreichbar auch menschlichen Gedanken: es | wird seine Herrlichkeit und Größe nur daher nehmen, daß wir Ihn sehen, wie er ist. Der neue Himmel und die neue Erde, sie dürfen nicht erst kommen m. g. F. sie sind schon da; sie sind da in der lebendigen Gemeinschaft des Herzens der Erlösten mit ihrem Erlöser; sie sind da, weil wir in Ihm [sehen] den Glanz des eingebornen Sohnes vom Vater, das Ebenbild seines Wesens und den Abglanz seiner Herrlichkeit; sie sind da, weil in dem Sohne der Vater sich uns offenbart, und alle, die reines Herzens geworden sind, durch ihn, auf Ihn schauen können und sich in Ihm spiegeln. Das Reich Gottes ist mitten unter uns getreten, nicht mit äußerlichen Gebehrden, aber mit jenen köstli8–9 Vgl. Kol 2,9 26 Vgl. Mt 16,18 28–33 Vgl. 1Joh 3,2 31–32 2Petr 3,13 34–35 Vgl. Joh 1,14 35–36 Vgl. Hebr 1,3 38–39 Vgl. Lk 17,20–21 39– 1 Vgl. Röm 14,17

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chen himmlischen Gütern, mit Friede und Freude und Gerechtigkeit. Und so dürfen wir uns nur an Ihn halten und allein zu Ihm fliehen. Wer von Ihm nicht annehmen wollte Lehre, wer von Ihm sich nicht wollte das Herz erweichen | und öffnen lassen, und die Kraft der ewigen Liebe und Barmherzigkeit nicht aufnehmen, von der Er der Mittelpunkt ist, den Er selbst gezogen hat: o der würde vergeblich eines Andern warten. Zu Ihm möge jeder sich wenden, vor Ihm jeder sich beugen. Küsset den Sohn und betet Ihn an, daß er nicht zürne. Denn wie wollten wir dem Zorn entfliehen, wenn wir eine solche Verheißung, ja was sage ich, wenn wir eine solche gnädige und selige Erfüllung gering achten. Amen.

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[Liederblatt vom 1. Dezember 1822:] Am ersten Advent-Sonntag 1822. Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott in etc. [1.] Auf freuet euch von Herzensgrund, / Ihr die ihr wart verloren! / Nun wird das große Wunder kund, / Der Herr ist Mensch geboren; / Das Wunder, das uns kommt zu gut, / Weil er nun unser Fleisch und Blut / Erneuet und versöhnet. // [2.] Er ist das Wort, das alles schafft, / Das alles hebt und träget, / Der reine Glanz, die ewge Kraft, / Durch die sich alles reget, / Die sich in unsre Schwachheit hüllt, / So daß nun Gottes Ebenbild / In uns kann sichtbar werden. // [3.] Es lag die Welt in finstrer Nacht, / In Furcht und Todesschrekken; / Sie konnte nicht aus eigner Macht / Sich Heil und Licht erwecken. / Nun kommt das ungetrübte Licht, / Und will mit hellem Angesicht / In alle Herzen leuchten. // [4.] Ja nimm mein Herz, Herr Jesu Christ, / Mein Heiland, Licht und Leben! / Gestalt’ es so wie deines ist, / Dazu sei’s dir gegeben. / Vertreib die alte Finsterniß, / Und heil der Sünde Schlangenbiß, / Dann bist du mir geboren. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Freund zerschmilzt etc. [1.] O Gottes Sohn, vom Himmel uns geschenket, / Der du zu mir herab ins Elend kamst, / Was für ein Trieb hat mächtig dich gelenket, / Daß niedre Knechtsgestalt du an dich nahmst? / Die Liebe hat’s allein gethan; / Sie sah erbarmend mich in meinem Jammer an. // [2.] Uns gleich ist nun des Höchsten Sohn geworden, / Ein Mensch wie wir der Herr der Herrlichkeit, / Die Gottheit selbst tritt in der Menschheit Orden, / Die Ewigkeit vermählt sich mit der Zeit; / Das Leben kehret bei uns ein, / Es wohnt das Licht der Welt bei uns mit seinem Schein. // [3.] So wird in ihm die Menschheit ausgesöhnet, / 5 ist,] Hier fehlt eventuell ein Satzteil. 7–8 Vgl. Ps 2,12

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Die Reinigkeit der Seele wiederbracht, / Mit Ehr und Ruhm sind wir in ihm gekrönet, / Da er uns von der Sünde frei gemacht; / Die Erde wird durch ihn erneut, / Sie wird zum reinen Thron der Gottheit eingeweiht. // [4.] Die Weisheit wohnt nun wieder auf der Erden, / Ein neues Paradies hebt für uns an; / Wir können nun aus Gott geboren werden, / Wenn gläubig wir dem Menschgebornen nahn. / Die neugeschaffne Seele spürt, / Daß sie ein höhrer Geist durch Nacht und Tod geführt. // [5.] Kein Elend kann nun meiner Seele schaden, / Immanuel ist bei mir in der Noth; / Ich darf nur gehn zu ihm dem Quell der Gnaden, / So hab ich Trost für Elend, Schmerz und Tod. / Der Jammer, der noch an mir klebt, / Kann nicht verderblich sein, weil Christus in mir lebt. // [6.] Die Sünde selbst kann mich nicht mehr verdammen, / Denn meines Heilands Tod kommt mir zu gut; / Und drohen mir verderblich ihre Flammen, / So lösch ich sie mit Christi theurem Blut. / Mein Jesus dämpft den bösen Trieb, / Er läßt die Seele nicht; sie ist ihm viel zu lieb. // [7.] Durch ihn hab ich ein ewig Leben funden, / Das mir viel Lust und Ehr und Reichthum schafft. / Er ist mit mir, ich bin mit ihm verbunden; / Und fühle täglich seiner Liebe Kraft. / Ich bin vergnügt und ganz gestillt, / Wenn mich der lautre Strom aus seiner Lieb’ erfüllt. // [8.] Auf auf mein Geist! stimm an die Freudenlieder, / Erhebe dich durch seiner Gnade Macht; / Des Himmels Glanz bestrahlet dich nun wieder, / Was du verlorst, ist völlig wiederbracht. / O welch ein überschwenglich Heil, / Die Kindschaft Gottes wird durch Christum mir zu Theil. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf etc. Preiset ihn ihr Jubellieder, / Zur Erde kam der Sohn hernieder, / Ward Mensch und uns in allem gleich. / Ihm sei Lob und Dank gesungen, / Die Sünde hat er nun bezwungen, / Uns segnet Gott und macht uns reich. / Wir sind mit ihm versöhnt; / Ihr Lobgesänge tönt, / Tönt zum Himmel! Erschallt schon hier, / Einst knieen wir / An seinem Thron und beten an. //

Am 8. Dezember 1822 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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2. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,12–14 Nachschrift; SAr 103, S. 25–40; Andrae SW II/10, 1856, S. 673–686 (zur Textproblematik vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3) Nachschrift; SAr 84, Bl. 130v–148v; Slg. Wwe. SM, Andrae Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am zweiten Adventsonntage 1822 am achten Christmonds. | Tex t. Philipper III, 12–14. Nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin. Meine Brüder, ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich: ich vergesse was da hinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist; und jage nach, dem vorgesteckten Ziele nach, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu. M. a. F. Diese Worte, so sehr sie uns auch an und für sich selbst erwecken und ergreifen, haben doch, wenn wir sie in ihrem Zusammenhange mit den vorigen betrachten, auf den ersten Anblick etwas Befremdendes. Der Apostel hatte in den Worten, die wir neulich zum Gegenstande uns’rer Betrachtung nahmen, gesagt, wie er alles in der Welt für Schaden geachtet habe, auf daß er Christum gewinne und in ihm erfunden werde, so nämlich, daß er nicht habe seine eigene Gerechtigkeit aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben | an Christum kommt. Nun ist das m. g. F. der Grund uns’rer eigenthümlichen christlichen Hoffnung, daß eben die Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird, wie der Apostel sie auch in den vorhergehenden Worten beschreibt, daß diese den Menschen Gott wohlgefällig mache, und daß darin der Grund liege, daß er, wie es vorher hieß, entge13–18 Vgl. oben 10. November 1822 früh über Phil 3,4–9

19–1 Vgl. Phil 3,9–11

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genkommen könne in der Auferstehung der Todten. Und wenn der Apostel das mit einer solchen Gewißheit von sich selbst sagt, daß er alles in der Welt für Schaden geachtet habe, um diese Gerechtigkeit zu gewinnen; wie kann er denn nun noch in den Worten unseres Textes sagen: „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei, sondern ich jage ihm nach, ob ich es wohl ergreifen könne“? Es ist aber nun dies m. g. F. der Unterschied zwischen demjenigen, was wir in uns’rer kirchlichen uns allen wohl bekannten Sprache das Eine die Rechtfertigung nennen, das Andere aber die Heiligung. Das freilich ist das Erste, wovon alles Andre ausgehen muß, daß der Mensch die Zuversicht hege er dürfe nicht so wie er an und für sich selbst ist, nicht allein als ein solcher – denn das müssen wir jeder von sich allein sagen – der des Ruhmes | ermangelt, den er vor Gott haben soll, vor Gott treten, sondern nicht anders als in der Gemeinschaft mit Christo, als ein in ihm Erfundener. Dies daß wir in dem Vertrauen auf das Anerbieten und das Wort Christi in Vertrauen auf den, der Ihn gesandt hat, wissen, Gott wolle uns, sofern wir uns nur an Christum halten, nicht für uns allein, sondern nur in der Gemeinschaft mit Ihm betrachten, beurtheilen und behandeln – dies Erste, das ist die Rechtfertigung des Christen, wodurch er von allen Leiden und Besorgnissen, welche das Bewußtsein mit sich führt, daß er für sich allein des Ruhmes, den er haben sollte bei Gott, ermangelt, vollkommen befreit wird und erledigt. Aber nun sagt er Apostel: ohnerachtet ich weiß, daß ich in Christo erfunden werde, und nur die Gerechtigkeit vor Gott bringen will, die dem Glauben an Ihn zugerechnet wird, so sagt er doch: nicht daß ich es schon ergriffen hätte, sondern ich jage ihm nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nämlich dem Ziele, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo[.] Und eben dies, wovon er in den Worten unseres Textes redet, ist nun das Zweite, nämlich die Heiligung des Christen. Wie beides nun mit einander zusammen hängt, das hat der Apostel für etwas so Deutliches und durch sich selbst Klares gehalten, daß er gar nichts darüber sagt, sondern unmittelbar von dem Einen zu dem Andern über geht; und so ist es gewiß auch einem jeden bei sich klar und offenbar. Denn was könnte das für eine Wahrheit haben, daß wir nur in der Gemeinschaft mit Christo vor Gott erscheinen wollten, wenn wir nicht auch in der That ein gemeinsames Leben mit Ihm führen, wenn wir nicht auch in der That Eins mit ihm sind. Sind wir aber Eins mit Ihm; so kann es auch nicht anders sein als daß die Heiligkeit, die in Ihm war, in dem der von keiner Sünde wußte, in dem der in keinem Augenblicke | von seinem Vater geschieden war, sondern immer und ununterbrochen Eins mit Ihm, 16 an Christum] so SAr 84, Bl. 132v; Textzeuge: im Christenthum zung aus SAr 84, Bl. 133v 12–13.20–21 Vgl. Röm 3,23

38 sondern] Ergän-

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als daß, sage ich, diese Heiligkeit des Erlösers in uns die Heiligung werde, das heißt dies, daß auch in uns die Sünde immer mehr verschwinde, daß auch wir immer weniger von Gott geschieden seien und immer wenigere Augenblicke in unserm Leben, in welchen wir nicht mit Ihm Eins sind, und in welchen das Bewußtsein Gottes und seiner Liebe in Christo uns nicht ganz und gar durchdränge. Wenn wir beides von einander trennen wollten, jenes die Rechtfertigung, und dieses die Heiligung; so wäre es auch nur ein leeres Wort, wenn wir uns vor Gott rühmen wollten der Gerechtigkeit, die in Christo ist, und die von Gott dem Glauben zugerechnet wird. Denn wenn es in dem alten Bunde heißt von dem Volke Gottes in Beziehung auf seinen Gott, daß die Propheten, die der Herr sich ausgerüstet hatte, darüber klagten, daß eben dieses Volk sich mit seinen Lippen Gott dem Herrn nahe, das Herz aber sei fern von ihm: dasselbe würde dann von uns gelten in Beziehung auf den Erlöser, mit den Lippen wären wir ihm nahe, wenn wir uns Seiner rühmen wollten vor Gott dem himmlischen Vater; aber unser Herz wäre fern von Ihm, wenn nicht die Kraft der Heiligkeit, die in Ihm ist, sich unserer bemächtigte, und es nicht von einem Tage zum andern wahrer würde, daß nicht wir selbst, sondern Er der Erlöser in uns lebt. Nur in diesem Leben des Erlösers mit uns, ist das wahr geworden, daß wir nicht durch uns selbst sondern in der Gemeinschaft mit Ihm vor Gott treten. Und so mögen wir sagen, daß dies beides nicht außer einander ist, sondern zusammen, wie es auch der Verfasser des Briefes an die Hebraeer ausgesprochen hat: „ohne Heiligkeit kann niemand den Herrn schauen.“ Und daher sagt der Apostel in den Worten unsers Textes, nachdem er das ganze wesentliche Bild der Rechtfertigung | ausgesprochen hat, doch von sich selbst: nicht daß ich schon das Ziel ergriffen hätte, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo, sondern ich jage ihm nach. Und eben in diesen Worten liegt nun auch die ganze Beschreibung dessen, was das Wesen der Heiligung ausmacht; sie ist, sagt der Apostel, das Ziel, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo. Jene Berufung nämlich, m. g. F. ist nichts Anderes, als die göttliche Aufforderung, jeder andern Gerechtigkeit, die dem Menschen eigen ist, und die also allemal sich auf ein Gesetz bezieht und aus einem solchen herrührt, sei es nun ein äußerlich gegebenes, oder ein solches, welches sich der Mensch selbst macht, jeder solchen Gerechtigkeit zu entsagen, und allein Anspruch zu machen auf diejenige, die den Glauben an Christum zugeeignet wird. Diese Aufforderung, so mit Christo sich zu verbinden, daß wir nicht mehr getrennt von ihm und an und für uns selbst betrachtet werden können – das ist die göttliche Berufung. Wer dieser folgt in dem Innersten seines Herzens, erkennend, daß jeder 8–9 Vgl. Phil 3,9 3,23

11–13 Vgl. Jes 29,13

23 Vgl. Hebr 12,14

39–2 Vgl. Röm

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Mensch für sich selbst vermöge des der menschlichen Natur einwohnenden Verderbens ermangle des Ruhmes, den er vor Gott haben soll, und daß er diesen nur habe deswegen, weil der Sohn Gottes, sonst uns in Allem gleich, die menschliche Natur in sich selbst wieder hergestellt hat, und vor dem Throne Gottes für uns erschienen ist ohne alle Flecken und ohne die geringste Gemeinschaft mit der Sünde, daß die Heiligkeit desselben aber auch uns nur übertragen werden kann, insofern wir uns ihm hingeben, und von ihm ergreifen lassen; wer eben dieses so nimmt, sich von Christo ergreifen lassen, und Seiner Einladung zur Gemeinschaft mit Ihm und zum Leben durch Ihn und mit Ihm folgt: der hat dann die göttliche Berufung angenommen. Allein das Fortbestehen derselben ist nun nichts anderes als das Fortgehen der Heiligung in den Menschen selbst. Denn soll es nun wahr sein, daß wir in der Gemein|schaft mit dem Erlöser leben, so muß auch alles, was in uns geschieht, alles was wir thun äußerlich und was innerlich vorgeht in unserer Seele, angesehen werden können als nicht Unser sondern Sein. Ist es aber Sein, so muß es auch erklärt werden können aus der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, so muß es auch übereinstimmen können mit derjenigen ununterbrochenen Verbindung, in welcher der Erlöser mit seinem Vater stand, so muß es auch übereinstimmen mit seiner Unsündlichkeit und Heiligkeit, das heißt also: unser eigenes Leben, wie wir es aus uns selbst hervorbringen können, das muß immer mehr verschwinden, und dagegen in uns wachsen, und zunehmen das Leben Christi. Dieses nun, dieses allmählige immer mehr und also am Ende vollkommne Einswerden mit Christo, das ist das natürliche Ziel der göttlichen Berufung in Christo. Sollten wir jemals finden, daß wir in dieser Vereinigung mit dem Erlöser nicht zunehmen, sondern abnehmen, daß das Leben Christi in uns geringer wird als es vorher war, und dagegen unser eigenes, das heißt das von der menschlichen Sünde und Gebrechlichkeit befleckte, wieder Ueberhand nimmt: so hätten wir Ursache uns selbst zu prüfen, ob es auch Wahrheit habe, daß wir mit der Gerechtigkeit, die von Gott dem Glauben zugerechnet wird, vor ihm erscheinen können, und wir würden dann allemal finden, daß in demselben Verhältniß, in welchem jenes wahr ist, wir uns auch eine eigene unvollkommene und unzureichende Gerechtigkeit erwerben wollen, die von einem Gesez herkommt und in demselben gegründet ist. Darum ist das auch das Ziel, welches uns vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo. Es wird uns aber das Wesen derselben noch deutlicher wenn wir darauf sehen, wie der Apostel beides, die Heiligung und die Rechtfertigung, so von einander scheidet, daß er das Erste nennt, die Rechtfertigung, ein 1 vermöge] vermöge, 16–17 Vgl. Kol 2,9

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Er|griffensein von Christo, das Andre aber die Heiligung ein Selbstergreifen oder Ergreifenwollen eben jenes Kleinodes welches uns die himmlische Berufung Gottes in Christo vorhält, indem er sagt: „ich schätze mich selbst noch nicht, daß ich es ergriffen habe. Eins aber sage ich, ich vergesse was da hinten ist, und strecke mich zu dem was vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziele, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo Jesu ergriffen bin.“ Und darin, m. g. F. finden wir nun auch den vollständigen khristlichen Aufschluß darüber, wie die Rechtfertigung des Menschen vor Gott allein ein Werk ist der göttlichen Gnade, und wie auf der einen Seite die Heiligung das Ziel ist, welches sie uns vorhält, und also auch ein Werk der göttlichen Gnade sein muß, auf der andern Seite aber eben dieses auch etwas ist, was als Werk des Menschen anzusehen [ist] und er selbst beständig ermahnt wird, in demselben immer weiter fortzuschreiten. Denn allerdings m. g. F. zuerst müssen wir von Christo ergriffen sein, nur Er konnte den Menschen erst das deutlich machen, durch Seine ganze Erscheinung und durch den unvergänglichen und unvergleichlichen Eindruck, den Er als das Ebenbild des Vaters auf alle machte, nicht nur während er auf Erden lebte, sondern noch macht, so lange sich sein Bild unter den Menschen erhält und fortpflanzt; nur er konnte auf diese Weise die Menschen überzeugen davon, wie mangelhaft und unvollkommen jede Vollkommenheit sei, die sie sich selbst erwerben, und eben so wie mangelhaft und unvollkommen das Gesez der Vollkommenheit, welches sie sich machen. Also auch schon das Gefühl, daß der Mensch etwas hat, was er sich nicht selbst erwerben kann, ist ein Ergriffenwerden von Christo, und der Mensch kann nicht anders dazu gelangen, als durch Christum. Aber eben deswegen ist auch, daß er sich die Gerechtigkeit Christi zueignet, und also die Rechtfertigung durch Christum an ihm vollzogen wird, eben ein | Ergriffenwerden von Christo. Denn wie sollten wir für uns selbst auf den Gedanken kommen, daß es eine solche lebendige Gemeinschaft giebt zwischen denen, die Sünder sind und des Ruhmes ermangeln, den sie vor Gott haben sollen, und zwischen dem, in dem keine Sünde und in dem keine Gemeinschaft mit der Sünde war? das natürliche Gefühl des Menschen müßte sein, daß er von Jenem geschieden sei, und keine Gemeinschaft mit ihm habe, daß derjenige, der ohne Sünde ist, sich auch nicht vermengen werde und vermischen mit den Sündern. Und daher kann uns jenes Vertrauen nur kommen, aus der Einladung des Erlösers selbst, daß Seine Erscheinung ungetrennt ist von Seinem Streben die Menschen zu sich zu ziehen, und mit sich zu vereinigen, daß wir Ihn gar nicht anders kennen lernen, sowohl aus Seinem Worte, als aus Seinem Leben, als denjenigen, der die Menschen zu 12 anzusehen] angesehen 30–31 Vgl. Röm 3,23

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sich ziehen, und sie in Wahrheit von der Erde in den Himmel und in den himmlischen Wandel erheben will. Also die Berufung Gottes so wohl, als auch die Annahme dieser Berufung ist ein Ergriffenwerden von Christo. Wenn wir aber so von Christo ergriffen, und wie der Apostel es an einem andern Orte ausdrückt, als die wilden Zweige gepflanzt sind in den ächten, und gute Früchte tragenden Baum des Lebens: dann geht für den Menschen ein Ergreifen an nicht durch sich selbst, sondern durch die Kraft Christi, die in ihn übergegangen ist. Nur insofern als in dem Menschen, der in der lebendigen Gemeinschaft mit Christo steht, nicht mehr unterschieden werden kann, was er selbst ist, und was das Leben und die Kraft Christi in ihm, kann man sagen, daß er selbst der Mensch etwas will, was wahrhaft und gottgefällig ist, und etwas ausrichtet, was gottgefällig sein kann; und indem nun ein Streben in ihm entsteht, welches durch die | Kraft des Erlösers in ihm hervorgerufen und geleitet wird, so kann er nur einem Ziele nachgehen, und ergreifen wollen etwas, was nicht mehr irdisch ist und nicht mehr seinem eigenen vergänglichen Leben angehört, sondern wahrhaft himmlisch ist, und daß er selbst ein himmlischer wird. Davon aber muß ein jeder sagen wie der Apostel: nicht daß ich es schon ergriffen habe, ich jage ihm aber nach; nicht daß ich schon vollkommen sei, sondern eben diese Vollkommenheit ist das Kleinod, welches ich zu ergreifen strebe. Und hier nun, m. g. F. finden wir noch ein zweites Merkmal der Heiligung zu unsrer Beruhigung und zu unserm Troste von dem Apostel ausgesprochen. Nämlich er sagt: „ich jage ihm nach, ob ich es auch ergreifen möchte, nachdem ich von Christo ergriffen bin“; und darin liegt nicht nur dasjenige, was ich eben auseinander gesetzt habe, daß das Ergriffensein von Christo vorangehen muß, ehe der Mensch seine Hand ausstrecken kann, das Kleinod zu ergreifen, und sich selbst in Bewegung setzen, dem Ziele nachzugehen, sondern es liegt auch dies darin, daß das Ergreifenwollen des Menschen gemäß sein muß dem Ergriffensein von Christo. Wenn nun der Apostel vorher sagt, die Gerechtigkeit die von Gott dem Glauben zugerechnet wird, die sei eine andre und wirklich verschieden von der Gerechtigkeit, die der Mensch von selbst haben kann, nach dem Gesez: so sehen wir daraus dies: Jedes Gesez schreibt dem Menschen vor äußere Handlungen, und der Werth, den der Mensch hat in Beziehung auf ein Gesez, ist nur der Werth, den ihm seine Thaten und Handlungen geben. Die Gerechtigkeit aber, die wir in Christo haben, ist eine andre; denn auch sie bezieht sich nicht darauf, daß wir Theil haben, an dem, was Christus gethan hat, sondern daß wir Theil haben an dem, was Er ist, und unser eigenes Wesen und Sein in dem Seinigen aufgehen lassen. | Auf dieselbe Weise ist es auch mit der Vollkommenheit. Die Vollkommenheit die wir erringen, besteht nicht in einer größeren oder geringeren Menge oder Vollständigkeit guter Handlungen und 4–6 Vgl. Röm 11,17–24

30–32 Vgl. Phil 3,9

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Thaten, sondern sie besteht in demjenigen, was wir sind und in der Gemeinschaft mit Christo, immer mehr werden können. Und das m. g. F. muß uns denn zum Troste und zur Beruhigung gereichen. Denn die Thaten und Handlungen des Menschen, die hängen nicht von ihm selbst ab, nämlich nicht nur wie er an und für sich selbst ist, sondern auch nicht wie er in der Gemeinschaft mit Christo wird; sondern es gehört dazu auch noch etwas was außer ihm liegt, es gehören dazu die Gelegenheiten, die ihm nicht immer auf dem Laufe und dem Wege seines Lebens entgegenkommen und zu Gebote stehen, es gehören dazu die Unterstützungen andrer Menschen; und nichts kann der Mensch nach dem Rathe Gottes für sich allein vollbringen, und zwar je Größeres und Bedeutenderes desto weniger; und jedes gute Werk, welches der Mensch Gottes, der tüchtig und geschickt sein soll zu allem Guten und Löblichen, im Reiche Gottes verrichten kann, ist niemals sein eigenes sondern ein gemeinsames. Und darum mögen wir denn auch sagen, der Herr richtet oft große Dinge aus, durch solche, die noch wenig vorgeschritten sind auf dem Wege zum Ziele christlicher Heiligung; und dagegen mag es manchen geben, der dem himmlischen Ziele, welches uns vorhält die Berufung Gottes in Christo, weit näher gekommen ist, ohne daß wir etwas Bedeutendes und Ausgezeichnetes sehen, was durch ihn geschehen wäre. Und der Herr hat sich auch dies vorbehalten, so daß wir den Worten des Apostels beistimmen müssen, daß nicht nur das Wollen des Menschen von dem Herrn aus geht, sondern auch das Vollbringen. Aber die Heiligung m. g. F. die besteht nun auch in der Annäherung an die Heiligkeit Christi, nicht in der Annäherung an die Wirksamkeit | Christi. Beides ist freilich nicht von einander zu trennen. Je ähnlicher wir Christo sind dem Geiste und Leben nach, desto mehr werden wir, wie der Apostel in den Worten sagt, die wir neulich zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben, eingehen in die Gemeinschaft seiner Leiden, und destomehr unser Leben gestalten in die Aehnlichkeit seines Todes; und gewiß wird jedes Werk, welches der Herr uns auflegt, vollkommner von dem verrichtet, der weiter vorgeschritten ist in der Heiligung, als von demjenigen der noch als Anfänger in dieser Hinsicht anzusehen ist. Aber das Ziel, welches uns die himmlische Berufung Gottes in Christo vorhält, sind nicht die eignen Werke, sondern die innere Beschaffenheit der Seele, daß diese dem Erlöser näher komme; daß der Streit zwischen dem Geiste und dem Fleische, der in Christo nicht war, allmählig auch in uns aufhöre; daß jede innre Bewegung der Seele auch immer mehr zeuge von der Gemeinschaft, in welcher wir mit demjenigen stehen, der uns die Quelle des geistigen Lebens eröffnet hat; daß alles in uns und an uns dem Geiste, der uns in Christo gegeben ist, diene, und er sich den ganzen Menschen dazu zurichte, daß 12–13 Vgl. 2Tim 3,17 21–22 Vgl. Phil 2,13 1822 früh über Phil 3,9–11

26–29 Vgl. oben 24. November

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sich die Gaben des Geistes in ihm gestalten können auf eine Gott gefällige Weise; daß in allen Bewegungen unsres Gemüths immer weniger zu merken sei von der Kraft der Sünde, sondern wir so bewegt werden, daß jede Bewegung der Seele das Zeugniß davon ablege, daß der Erlöser mit seinem Vater gekommen ist, um Wohnung zu machen in unserm Herzen; daß also alles, was irgend auf uns selbst und unsere Persönlichkeit sich bezieht, und nach der Selbstsucht schmeckt, welche die Quelle der Sünde ist, aus den Bewegungen unsres Gemüths verschwinde, und alles was dem göttlichen Wesen, welches der Apostel selbst als die Liebe bezeichnet, zuwider ist, sich aus unserm Gemüth verliere, und alle unsere Bewegungen, alle unsre Empfindungen, jedes Verlangen unsrer | Seele immer mehr aus der göttlichen Liebe begriffen werden könne – das ist die Heiligung des Menschen. – Fragen wir nun den Apostel m. g. F. wie wir es machen sollen, um dieses Kleinod, welches wir niemals ergriffen haben, zu ergreifen, und ihm nachzujagen: so giebt er uns diese befriedigende Antwort – denn nicht umsonst wiederholt er es – er sagt „ich achte mich selbst noch nicht, daß ich es schon ergriffen habe“. Das ist also das Erste; wir sollen uns niemals schätzen daß wir es schon ergriffen haben oder schon vollkommen sind; und das Zweite ist dies, daß er sagt „ich vergesse was da hinten ist, und strecke mich zu dem was vorne ist“; und in diesen beiden zusammen m. g. F. liegt, daß ich mich so ausdrücke, die ganze Methode der christlichen Heiligung. Denn das ist gewiß, wenn jemals der Mensch sich so schäzt, als hätte er es schon ergriffen, wenn er sich jemals beruhigt bei einem Gemüthszustande, in welchem er sich befindet: so verliert sich das Bestreben weiter fortzuschreiten auf der betretenen Bahn. Aber was kann das anders sein, als eine eitle Selbstgefälligkeit, die das Werk der Sünde ist? Je mehr der Mensch mit Wohlgefallen auf sich selbst und sein Leben hinblickt; je mehr er zufrieden ist mit sich selbst und mit dem Ziele der Vollkommenheit, welches er schon ergriffen hat, je mehr er sich darauf begreift, daß er nicht in sich sieht die Unvollkommenheiten, die ihm noch ankleben im Vergleich mit dem vollkommenen Menschen, den wir alle anziehen sollen, und nicht die Unreinigkeit, die ihn hindert, schon jetzt das Ziel ergriffen zu haben: desto weniger kann er in der Heiligung fortschreiten; aber desto mehr muß er auch sich selbst das Zeugniß geben, daß nicht Christus in ihm sondern nur er sich selbst lebt. Denn in dieser Vereinigung mit dem Erlöser m. g. F. haben wir immer mehr dies zu unterscheiden, uns selbst wie Christus in uns lebt, und uns selbst wie er nicht in uns lebt. Denn wenn wir dies nicht unterscheiden | könnten, so wären wir völlig Eins mit ihm; und dies ist das, wovon der Apostel sagt, daß es noch nicht erschienen ist; wenn aber nicht, so müssen wir darnach trachten, daß wir selbst, wie er nicht in uns lebt, immer mehr verschwinden, und daß dagegen Sein Dasein in uns die Kraft unsers 4–5 Vgl. Joh 14,23

39 Vgl. 1Joh 3,2

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Lebens werde. So lange wir diesen Unterschied finden, muß er natürlich sein, daß wir uns nicht selbst schäzen als hätten wir es schon ergriffen oder wären schon vollkommen; denn wir haben darin zugleich das klare Gefühl und die lebendige Anschauung unserer Unvollkommenheit. Verlieren wir aber das Gefühl beides zu unterscheiden: so sind wir nicht mehr im raschen Fortstreben nach der Heiligung begriffen; und das ist also der Prüfstein, woran wir entscheiden können, ob wir noch nach der Heiligung als dem Ziele, welches uns vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo, streben, daß wir uns in keinem Augenblick unsers Lebens schäzen, als hätten wir es schon ergriffen, sondern auch das Reinste und Vollkommenste, was wir erstrebt haben, immer noch ansehen, als mangelhaft und also diesseits des Zieles liegend, das Zweite ist dies, was der Apostel sagt „ich vergesse was da hinten ist, und strecke mich zu dem, was da vorne ist“. Nämlich was da ist in dem gegenwärtigen Augenblick unsers Lebens, das sollen wir nicht vergessen, sondern in unsrer Seele festhalten, nämlich den Unterschied, der da besteht zwischen uns, wie wir an und für uns selbst sind, und zwischen uns als solchen, in denen die Kraft und das Leben Christi wohnt. Aber was da hinten ist, das sollen wir vergessen; was schon überstanden ist und vollendet, das sollen wir vergessen und nicht darauf zurücksehen, um unsre Freude daran zu haben, denn wenn wir auch dabei bedenken wollen, daß es uns nicht zuzuschreiben ist, sondern allein der Gnade Gottes | die uns tüchtig macht zu allem Guten: so schleicht sich doch nur allzuleicht und unvermerkt eine eitle Selbstgefälligkeit ein, und wir sind nicht immer stark genug uns davor zu hüten, daß nicht dann der Zustand der Unkräftigkeit in uns entstehe, den der Erlöser selbst beschreibt, wenn er sagt „wer seine Hand an den Pflug legt und sieht wieder hinter sich, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes.“ Was da hinten ist sollen wir vergessen, und unsre Aufmerksamkeit nicht darauf richten, weil so vieles vor uns ist, wornach wir streben sollen; und jedes Zurücksehen, auf das, was da hinten ist, trübt uns das reine Bild dessen, was vor uns ist, und kann uns leicht zu jenem verkehrten und unser Heil nicht fördernden Selbstgefühl verleiten, in Beziehung auf dasjenige was wir schon verrichtet haben. Wenn wir aber m. g. F. nur den Erlöser vor Augen haben, und das große Werk, welches er vollbracht, und nachdem er erschienen ist den Seinigen anvertraut hat: wie könnten wir denn anders als auf der einen Seite was da hinten ist vergessen, auf der andern aber, indem wir auf uns selbst sehen, wie wir uns finden in jedem Augenblick unsers Lebens, daß wir nämlich nicht gethan haben, mit den Gaben, die uns der Herr verliehen, dasjenige was er von uns fordert, mit allen Kräften uns strecken nach dem, was vor uns ist. Aber auch hier ist es wahr, daß da die Heiligung die der Mensch bestimmt ist zu erstreben, nur gemessen werden kann, nach dem Gesez, das Gesez aber nur die Sünde 25–27 Lk 9,62

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wirkt, so müssen wir freilich auf dem Wege des Gesezes die Handlungen, welche der Mensch verrichtet, ansehen, um zu erkennen, wie unvollkommen sie sind. So giebt uns also das Gesez nach welchem wir unsre Handlungen messen, die Erkenntniß unsrer Sünde, und bringt uns von dem Wahn zurück, als ob wir schon das Ziel ergriffen hätten, und spornt uns aufs neue an, zu streben nach dem Kleinod, welches uns vorhält die himmlische Berufung Gottes in Khristo und uns zu strecken nach dem, was vor uns liegt. Und so wollen wir uns denn anschließen an den treuen Diener des Herrn, der uns dieses herrliche Wort hinterlassen | hat, und bedenken, wie der, der nicht nur so viel ausgerichtet hat in dem Reiche seines Herrn, sondern auch so vieles in sich hat überwinden müssen, indem er von der Feindschaft gegen die Sache des Erlösers ausgegangen ist, wie der dennoch in jedem Augenblick seines thatenreichen Lebens vergessen konnte, was da hinten war, und sich ausstrecken nach dem Ziele, welches vor ihm stand; an ihn wollen wir uns anschließen, und uns ihn zu einem menschlichen Vorbilde nehmen, damit wir auch das Reich des Herrn fördern helfen und von uns sagen können, daß die Gnade Gottes mächtig ist in den Schwachen, und daß wir bei aller Förderung des göttlichen Lebens in uns den Unterschied nicht übersehen zwischen uns, insofern Christus in uns lebt, und zwischen uns, insofern wir uns selbst leben, und daß wir bei aller Schwachheit, die von der menschlichen Natur nicht zu trennen ist, uns an der Gnade Gottes genügen lassen, die nicht nur den Starken, sondern auch den Schwachen wird, aber nur den Unsträflichen die reines Herzens sind, verbleibt. Denn Einer ist es, in dem der Geist wohnte im unendlichen Maaße, das ist der Eine, der sich mit uns immer inniger vereinigen will und immer kräftiger in uns wohnen, Christus der Herr jetzt und in Ewigkeit. Amen.

1 die] der 17 Vgl. 2Kor 12,9

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Am 15. Dezember 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

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3. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 11,7–8 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 103, S. 41–78; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 54–86 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, 21843, S. 36–54 – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 47–71 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 26–41 Nachschrift; SAr 52, Bl. 117v–118r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am dritten Adventsonntage 1822, am fünfzehnten Christmonds. | Tex t. Matth. XI, 7. 8. Da sie hingingen, fing Jesus an zu reden zu dem Volk von Johanne: Was seid ihr hinausgegangen in die Wüste zu sehen? Wolltet ihr ein Rohr sehen, das der Wind hin und her webet? Oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? Wolltet ihr einen Menschen in weichen Kleidern sehen? Siehe, die da weiche Kleider tragen, sind in der Könige Häusern. Diese Worte, m. a. F., sind genommen aus unserer heutigen evangelischen Lektion. Johannes hatte zween von seinen Jüngern zu Jesu gesandt, ihn zu fragen, ob er in der That der sei, der da kommen solle, oder ob sie sollten eines andern warten; und Jesus hatte ihnen geantwortet, sie sollten ihm, ihrem Meister nur dasjenige sagen, was sie selbst gesehen hätten von seinem Thun und Wirken. Wie nun dies m. g. F. in die Zeit hingehört, in welcher wir jetzt leben, das ist wohl einem jeden von selbst einleuchtend. Wir freuen uns seiner als dessen, der da kommen soll, und der da gekommen ist; wir bekennen mit dankbarem Herzen gegen Gott, | daß wir nicht mehr nöthig haben eines andern zu warten, und wir fühlen, wie wir täglich mehr unsern 9–10 Sonntagsevangelium war Mt 11,2–10.

10–14 Vgl. Mt 11,2–5; Lk 7,18–22

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geistigen Hunger und Durst stillen können an ihm und an allen himmlischen Segnungen, die er gebracht hat. Da nun aber jene Jünger Johannis wieder hingingen, um seinen Auftrag auszurichten: da fing er an zu dem Volke von Johannes selbst zu reden und sprach die Worte, die wir mit einander gelesen haben. Wie nun auch diese allerdings geschickt sind ein Gegenstand uns’rer Betrachtung zu werden in dieser unserer fröhlichen Adventzeit, das ist vielleicht nicht so von sich selbst einleuchtend. Allein, m. g. F., alle christliche Dichtkunst und alle christliche Rede von jeher in dieser festlichen Zeit, die der Feier der Geburt des Herrn vorangeht, handelt immer von seiner Zukunft in das Fleisch, von seinem letzten Einzug in die Hauptstadt seines Volkes, als er nun den letzten Theil seines großen Werkes beginnen wollte; aber verbunden mit beiden immer auch von dem Einzug des Herrn, der in uns sein und leben will, in das Herz des Menschen. Johannes der Täufer nun, m. g. F., war nicht ein Mann des neuen Bundes, sondern des alten; das zeigt seine ganze Geschichte, und der Herr selbst bestätigt es in den Worten, | die unmittelbar auf unsern Text folgen, indem er sagt: „Seid ihr hingegangen einen Propheten zu sehen? Ja ich sage Euch, der auch mehr ist als ein Prophet; aber der Kleinste im Reiche Gottes ist größer denn er.“ Also ein Mann des neuen Bundes war Johannes nicht, aber er war derjenige im alten, dessen ganzes Leben und Sein sich am unmittelbarsten auf den bezog, der da kommen sollte, der eben deswegen vor ihm her gesandt war; und um diesen Beruf zu erfüllen gerade so sein mußte und nicht anders, wie Gott der Herr ihn ausgerüstet hatte: – So m. g. F. ist es nun auch in Beziehung auf das Leben des Erlösers in unserm Herzen. Es giebt Zustände des menschlichen Gemüths, welche zu dem eigentlichen Leben aus Gott, zu der heiligen Freiheit der Kinder Gottes, die der Erlöser gebracht und erworben hat, noch nicht gehören, sie gehören eigentlich noch einer frühern Zeit der Entwicklung der menschlichen Seele an; aber sie sind diejenigen, die unmittelbar hergehen müssen vor dem Einzug des Erlösers in die Seele, wodurch sie eben so für ihn bereitet und auf ihn aufmerksam und gespannt gemacht wird, wie das Volk es wurde durch Johannes den Täufer; | und diese verdienen eben wohl als solche, daß wir in dieser Zeit unsere Aufmerksamkeit auf sie richten, theils um ihrer selbst willen – denn wie sollten uns nicht überall in dem menschlichen Gemüthe die Zeichen willkommen sein, welche verkündigen, daß eine Seele nicht fern ist vom Reiche Gottes, sondern bereit es in sich aufzunehmen? – theils auch um uns durch die Vergleichung desto fester zu machen in unserer Erkenntniß von der Art und Weise des Reiches Gottes in uns. Und das 34 sollten] sollte 17–19 Vgl. Mt 11,9.11; Lk 7,26.28

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m. g. F., sei also die Beziehung, in welcher wir über die verlesenen Worte jetzt mit einander nachdenken; wir halten uns dabei ganz einfach an die Fragen über Johannes, die der Erlöser in den Worten unsres Textes hinstellt: Was seid ihr hinausgegangen zu sehen in die Wüste? ein Rohr, das vom Winde hin und her geweht wird? oder was seid ihr hinausgegangen zu sehen? einen Menschen in weichen Kleidern? Von beiden also, sagt er, war Johannes fern. Wir werden aber aus der Beschreibung, welche uns die Evangelisten von ihm machen, zugleich auch sehen, wer er in beiden Beziehungen war; und so wird uns deutlich werden, wie er ein Vorbild ist dessen, was in der menschlichen Seele sein muß, ehe der Erlöser in sie einziehen | kann mit seiner Herrlichkeit, aber wie doch der Kleinste im Reiche Gottes etwas Herrlicheres und Größeres hat als er. I. Zuerst also fragt der Erlöser das Volk um sich her, welches auch hinausgegangen war in die Wüste, um den Mann Gottes zu sehen und zu hören, seine Lehre zu vernehmen und sich von ihm segnen und taufen zu lassen zur Buße: was seid ihr hinausgegangen zu sehen? ein Rohr, welches der Wind hin und her weht? Das m. g. F., ist ein Zustand, in welchem sich der Mensch, der in dem Reiche des Erlösers lebt, unmöglich befinden kann. Ein Rohr, das vom Winde bald auf diese, bald auf jene Seite hingetrieben wird, das erhält seine Bewegung von außen, und es hat nicht Kraft und Festigkeit genug, um der Bewegung, die ihm gegeben wird von außen, zu widerstehen: Dies also ist der Gegensatz von der Freiheit, welche der Erlöser uns verkündigt, von welcher er sagt wen der Sohn frei macht, der sei recht frei, und er sei gekommen die Menschen frei zu machen durch die Wahrheit. Der Freie bekommt seine Bewegungen nicht von außen sondern von innen; | von außen wird ihm nur gegeben die Veranlassung seiner Handlungen und die Richtung seiner Gedanken und Empfindungen; die Regel dazu aber hat er in sich selbst. So lange der Mensch noch, wie der Apostel es sagt, von jedem Winde der Lehre hin und her bewegt wird, so lange bald diese bald jene menschliche Vorstellung sich in seine Seele einschleicht und den Beifall des Menschen sich zu erwerben weiß, jede aber bald wieder von einer andern oft entgegengesetzten verdrängt wird: so lange ist er noch im Suchen und weiß daß er noch nicht hat, aber er sucht hin und her und kann nicht das Rechte finden. So nun war Johannes nicht. Wie aber war er dann in dieser Beziehung? In der Wüste war er, entfernte sich von dem Gedränge der Menschen, wo bald diese bald jene Lehre und Meinung dem 8 wer] war

24 wen] wem

24–25 Vgl. Joh 8,31–32.36

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Menschen an das Ohr schlägt und in das Herz dringt, wo die entgegengesetztesten Bestrebungen derselben bald zu dieser bald zu jener Überzeugung reizen, und das Herz, | welches nicht einen sittlichen Grund in sich selbst hat, unmöglich sich fest halten kann, von diesen Gesellschaften der Menschen, so gefährlich dem der noch nicht zur innern Freiheit erhoben worden ist, zog sich Johannes zurück in die Wüste. Aber wie lebte er da? Für sich selbst m. g. F. in den Empfindungen, die er so oft auch laut ausgesprochen hat, um den Menschen zu helfen, müsse ein andrer kommen als er, ein andrer dem er nicht werth sei die Schuhriemen aufzulösen; in diesem Bewußtsein dessen was ihm fehlte, in dieser Ahndung dessen was da kommen mußte, wenn anders die Verheißungen Gottes wahr sein sollten, lebte er in stiller Zurückgezogenheit, in ernsten Gesprächen mit Gott, in heißem Flehen, daß ihm werden möchte denjenigen zu schauen, der das Heil Gottes in sich trage, für welches Gebet ihm denn auch Gewährung ward, indem der Herr ihm ein Zeichen gab, woran er den erkennen sollte, der gesandt war von oben. Und wenn die Menschen | zu ihm drangen in die Wüste, um seine Worte zu hören; so war es sein Geschäft, diese Empfindungen ihnen mitzutheilen; zur Buße ermahnte er sie, und er ermahnte sie rechtschaffene Früchte der Buße zu thun, und sprach vor ihnen aus seine Überzeugung, daß sie von ihm eigentlich nichts zu erwarten hätten, sondern daß er nur eine Stimme wäre um sie aufmerksam zu machen auf den, der schon unter ihnen wandelte, den sie aber nicht kenneten. Wir finden m. g. F. häufig einen solchen Zustand der menschlichen Seele, der diesem gleicht. Wenn der Mensch lange genug das Rohr gewesen ist, das der Wind hin und her weht; wenn er eine Menge von Vorstellungen, von Meinungen und Ansichten in seiner Seele gehegt und gepflegt hat und dann wieder verworfen, von einer jeden hoffend, daß sie ihm die Ruhe und Sicherheit gewähren werde, die er sucht, aber von jeder immer | wieder getäuscht: dann fängt er an das geistige Verkehr mit den Menschen für gefährlich zu halten – was freilich nichts anderes ist als die Überzeugung, daß eben so wenig ein Mensch dem andern helfen kann in Beziehung auf dieses größte geistige Bedürfniß der Seele, als jeder sich selbst – und dann wie Johannes sich in die Wüste zurückzog, so zieht die Seele sich zurück in sich selbst, hegend das Verlangen welches ihr aufgegangen ist nach dem Einen was Noth thut, immer wieder in sich erweckend und belebend das Bewußtsein von der Eitelkeit alles dessen, was sie bisher für groß und gut gehalten hat; aber auch eben so voll von dem Gefühl des Unvermögens, sich selbst zu helfen, und dasjenige was Noth thut sich selbst zu verschaffen. Darum wechselt der stillen Zurückgezogenheit, unfruchtbares – denn anders können wir | es ja nicht nennen, ehe der Erlöser in die Seele eingezogen ist – 8–9 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,7; Lk 3,16; Joh 1,27 Mt 3,2.8; Lk 3,3.8 21–22 Vgl. Joh 1,23.26

14–16 Vgl. Joh 1,33

18–19 Vgl.

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unfruchtbares Brüten dieser Seele in ihren innersten Tiefen, das wechselt mit inbrünstigen heißen Gebeten zu Gott, die Sehnsucht der Seele zu stillen, und ihr endlich nach so langen und so oft wiederholten vergeblichen Versuchen zu gewähren was Noth thut. Wo wir eine solche Seele sehen, wenn sie gleich auf mancherlei Weise uns von sich zurückstößt – wie auch die strenge Zurückgezogenheit des Johannes in die Wüste auf der einen Seite freilich eine Menge von Neugierigen herbei lockte, die nur von der äußern Gestalt der Sache getroffen wurden, vielen unter ihnen auch einen Stachel in die Seele drückte, die ihr blieb, bis der kam, der die Wunde, welche Johannes geschlagen hatte wieder heilen konnte; aber doch erwarb ihm seine Lebensweise nur eine geringe Zahl | von eigentlichen Freunden, die es mit ihm aushielten – eben so stößt eine solche Seele auf mancherlei Weise von sich ab, weil sie eben das Verkehr mit den Menschen flieht aus Besorgniß, wieder nur von einem neuen vergänglichen Hauche der Luft auf eine andre Seite gebeugt zu werden; aber wo wir eine solche Seele sehen: da mögen wir mit dem Erlöser ausrufen „sie ist nicht fern vom Reiche Gottes“, es geht das mit ihr vor, was dem Einzug des Erlösers in das Herz voran gehen muß. Denn m. g. F. wenn die Seele sich dem hingeben soll der ihr zuruft, daß nur Eins Noth ist, und daß er gekommen sei ihr das Eine zu geben; wenn sie sich demjenigen hinneigen soll, welcher ihr verheißt, sie frei zu machen durch die Wahrheit: o so muß sie ja erst das Gefühl haben, daß wirklich Eins Noth thut, daß der Wechsel von Erkenntnissen, die bald | kommen bald wieder verschwinden, von Bestrebungen, die sich uns mittheilen aus unsern Umgebungen, und die uns freilich eine Zeitlang begeistern und unser Inneres erfüllen, dann aber wieder uns leer lassen und kalt, daß dieser den Menschen nicht befriedigen kann, das muß er erst gefühlt haben, ehe ihm die Verheißung etwas sein kann, die der Erlöser ihm giebt; wir müssen erst inne geworden sein, daß die Wahrheit eine ist, und daß, so lange das Herz noch nicht fest geworden ist in einem Glauben, der durch nichts mehr erschüttert, der durch keine menschliche Meinung auf eine andre Seite hinübergelenkt werden kann, so lange habe der Mensch die Wahrheit noch gar nicht gefunden; das müssen wir erst wissen aus der unmittelbaren Erfahrung jener Zeit, wo das menschliche Herz hin und her bewegt wird von jedem Winde | der Lehre, von jeder neuen Erscheinung auf dem Gebiete des Denkens und des Thuns, wo der menschliche Verstand schwach in sich selbst und lenksam daher durch fremden Einfluß sich an jeden stärkern Verstand anschließt und hält, der ihn aber nur auf eine gewisse Zeit festhalten kann, bis das Gefühl der Nichtbefriedigung stärker erwacht und ihn wieder wegtreibt von dem Punkte, auf den er sich gesetzt 26 das] daß 16–17 Vgl. Mk 12,34

20–21 Vgl. Joh 8,31–32

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hatte; diese Erfahrung müssen wir gemacht, aber auch das Eitle und Nichtige in allem was auf diese Weise abwechselnd die Seele durchzieht und sie bald hier- bald dorthin treibt, gefühlt haben und demselben auf immer den Abschied gegeben, das heißt also, wir müssen erst in dem Zustande sein, wo uns alles anekelt, was Menschen uns geben, und wodurch sie eben den Geist in eine flüchtige vorübergehende Bewegung setzen und das Herz auf irgend etwas Vergängliches hinleiten | können; das Bewußtsein muß uns aufgegangen sein, daß nicht von dieser oder jener Seite her, woher der Wind weht, sondern von oben, allein von oben herab, woher alle gute Gaben kommen, dem Menschen die Bewegung muß eingesenkt werden, die dann sein Innres durchdringend sein Eigenthum ist, und die allein ihn zur seeligen Freiheit der Kinder Gottes erheben und ihm die Kraft eines freien und in Gott fröhlichen Lebens geben kann; aber fühlen müssen wir dabei zugleich, daß wir auch so das Eine noch nicht ergriffen haben, worin die Seele allein Befriedigung finden mag. Denn m. g. F. dieses Gefühl und jener Zustand, dieses Gefühl der Eitelkeit und Nichtigkeit alles dessen, was wir aus uns selbst und dem auf mancherlei Weise gemischten Leben um uns her schöpfen können, jener Zustand des Zurückgehens der menschlichen Seele in sich selbst und zum stillen Gespräche | mit Gott in der Einsamkeit, er ist nothwendig den Menschen vorzubereiten, damit der Erlöser seinen freudigen Einzug halten könne in sein Innres; aber er ist es nicht als solcher, denn der Kleinste im Reiche Gottes hat mehr als der, welcher sich von jenem Gefühl ganz durchdringen läßt und in dieser müßigen Selbstbeschauung lebt. Unfruchtbar sagte ich m. g. F. sei für das Heil des Menschen nicht nur das Zurückgehen der Seele in sich selbst, sondern auch das Gebet, welches sie zu Gott richtet, und auch das Letzte eben so wie das Erste aus demselben Grunde. Denn wenn der Mensch könnte für sich allein und durch sich selbst zur wahren Gemeinschaft mit Gott gelangen, indem sein Herz sich ihm flehend und betend entgegenstreckt: dann könnte er auch sich selbst helfen und bedürfte keines Erretters. Aber niemand kennt den Vater denn der Sohn und wem er es will offenbaren: So ist auch das Flehen | einer solchen Seele zu Gott freilich nothwendig als der deutlichste Ausdruck ihrer Selbsterkenntniß, als der Ausdruck desjenigen Verlangens, welches den Himmel zerreißen möchte, um den herabzuführen von oben, der allein ihr Hülfe gewähren kann; aber sie ist selbst noch nicht dasjenige, was den Menschen fördern, was ihn wahrhaft beseeligen könnte. Darum m. g. F. war nun auch der Erlöser nicht wie Johannes, und der Kleinste im Reiche Gottes muß eben deshalb dem Erlöser ähnlicher sein als Johannes. Der Erlöser ging nicht und zog sich in die Wüste zurück, und wartete nicht, ob 4 das] daß

7 hinleiten] heilen

9–10 Vgl. Jak 1,17

25 sondern] sonder

30–31 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

34 um] unm 33–35 Vgl. Jes 64,1

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und bis die Menschen kommen würden ihn aufzusuchen, wie er auch eben deswegen nichts so Sonderbares und Eigenthümliches an sich hatte, was sie reizen konnte ihn aufzusuchen, wie das Leben des Johannes in der Wüste war; sondern er begab sich unter sie, aber mit der festen Gewißheit, daß | die auch noch so verschiedenen Bestrebungen der Menschen ihn nicht von seinem Wege ablenken würden, daß ihn kein Wind der Lehre jemals würde wie das unkräftige und schwankende Rohr hin und her bewegen, sondern mit dem Gefühl, er würde unter den Menschen gewiß derselbe bleiben der er war, aber in treuem unermüdetem Wirken für die große Bestimmung, die ihm sein himmlischer Vater gegeben, würde er, wären es nun Viele oder Wenige, an sich ziehen, nicht um ihnen auch eine Bewegung mitzutheilen, die vergänglich wäre, sondern um sie zu seinem Leben, dem göttlichen dessen unerschöpfliche Quelle in ihm fließt, zu erheben, und sie der Freiheit und Festigkeit, die in seiner göttlichen Seele war, theilhaftig zu machen. Darum zog er sich nicht aus der Gesellschaft der Menschen zurück, die er Ursache gehabt hätte zu meiden, weil sie ihm nichts gewähren konnte für | sein innerstes Sein und Leben, sondern er suchte die Menschen auf, denen zu helfen eben sein Beruf war; und so m. g. F. soll jeder sein, der wirklich seine Stelle schon gefunden hat im Reiche Gottes. Zwischen dem Leben, in welchem wir alle wechselnde Meinungen und Bestrebungen der Menschen theilen, ohne einen sichern Grund in uns selbst zu haben, und zwischen dem Leben des wahren Christen liegt jener Zustand in der Mitte, dessen Vorbild Johannes ist, kürzer bei dem einen, länger bei dem andern, deutlicher ausgeprägt und zusammenhängender in dem einen Falle, weniger hervortretend und auch andern anschaulich in dem andern, aber nothwendig für eine jede Seele als Übergang von dem einen zum andern. Diejenigen aber welche meinen, daß sie darum schon das Reich Gottes, schon die Freiheit der Kinder Gottes, schon das Heil, welches der Erlöser dem menschlichen Geschlecht erworben, hätten: o die | täuschen sich selbst, und sie mögen sehen auf ihr Vorbild den Johannes, der ganz anders war. Denn der glaubte nicht, daß er es errungen hätte und etwas wäre für sich selbst, sondern nur die Stimme, welche aus der Wüste heraus das allgemeine Bedürfniß aller Menschen ausspräche, und nur dazu gesandt und ausgerüstet, um diese recht laut und nachdrücklich in die Welt hinein zu reden und zu verkündigen; der bezeugte durch die beständige Sehnsucht, die seine Seele erfüllte, und durch das immerwährende Suchen nach dem der da kommen sollte, und durch das unabläßige Warten auf ihn, daß in allem dem, wozu Gott ihn ausgerüstet hatte, doch das Heil der Menschen nicht liege. Und so ist es nun auch m. g. F. noch in einem Jeden. So lange wir das Vertrauen noch nicht gewonnen haben, daß uns nicht Noth thue uns zurück zu ziehen aus der Gesellschaft der Menschen; so lange wir besorgen müssen, daß diejenigen uns gefährlich wer|den könnten für das Heil unsrer Seele, an deren Erlösung wir mit dem Erlöser selbst Theil nehmen

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sollen und daran arbeiten; so lange wir diese Furcht noch in uns hegen und eben deswegen alles von uns entfernen, was unsre Seele in irgend eine Bewegung versetzen könnte, und dagegen nur in diesem Verlangen und in diesem sehnsüchtigen Gebet zu Gott begriffen sind: o mögen wir nur wissen, daß wir zu dem Heil in Christo alsdann noch nicht hindurch gedrungen sind, daß dies nur ist der Zustand der Vorbereitung, wie Johannes sein ganzes Dasein und seinen ganzen Beruf nur als einen solchen ansah; mögen wir nur wissen, daß alle, die sich in einem solchen Zustande befinden, sich selbst wohl und andre mit Wasser taufen können zur Buße, das heißt für sich selbst empfinden können und andern zu empfinden geben die Nothwendigkeit einer gänzlichen Änderung der Menschen; aber die Feuertaufe | mit dem Göttlichen Geist haben sie weder selbst erhalten, noch vermögen sie dieselbe andern zu ertheilen. Denn wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit; wo der Geist des Herrn ist, da ist der Glaube thätig durch eine frisch um sich greifende Liebe und hält nicht länger die schwache und weder sich noch andern vertrauende Seele in der Einsamkeit zurück; wo der Geist des Herrn ist und der uns mit seinem Feuer erfüllt und getauft hat, da greifen wir frisch zu mit dem Erlöser zu seinem Werk, welches seitdem er verschwunden ist von der Erde das gemeinsame Werk aller Gläubigen ist, und indem wir dieses nur fördern können in der Verbindung mit unsern Brüdern, so sind wir nicht nur weit entfernt, die Gesellschaft der Menschen zu fliehen wie Johannes es that, sondern wir suchen sie vielmehr auf wie es der Erlöser in den Tagen seines irdischen Lebens that, indem wir erfüllt sind von der Überzeugung, daß wo wir unter den Menschen verschiedene | Ansichten, verschiedene Meinungen und Bestrebungen finden, sofern es solche sind, die im Wiederspruch stehen mit der Liebe zu dem, der von unsrer Seele Besitz genommen hat, sie uns nicht irre machen werden oder wankend in unserm Glauben oder uns von demjenigen abführen, mit welchem, ist er einmal mit ihm Eins geworden, auch jeder Eins bleibt, der es ernstlich und redlich will; sofern es aber solche sind, die nicht widerstreiten dem Einen was Noth thut und was der Herr zu unsrer Seeligkeit gebracht hat, daß wir dann unsre Freude finden an der Mannigfaltigkeit, aus welcher sich Gott, die ewige Quelle aller Erkenntniß, in der menschlichen Seele kund giebt und verherrlicht, gewiß daß auch wir unsern Ort in dieser Mannigfaltigkeit der Offenbarungen Gottes einnehmen und behaupten werden, aber auch mit dem lautern Vorsatz, keinem unter unsern Brüdern die Art und Weise aufzudringen, wie der Höchste | sich uns mittheilt, sondern gern einem Jeden das Seine zu lassen in der Überzeugung daß Gott einen Jeden, 13 ertheilen] urtheilen 13–14 Vgl. 2Kor 3,17

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der die Wahrheit sucht, weiter führen werde auf dem Wege zum Ziele, so wie er sich ihm zu offenbaren angefangen hat.

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II. Zweitens sagt der Erlöser „Was seid ihr hinausgegangen zu sehen? einen Menschen in weichen Kleidern? Wahrlich ich sage euch, solche sind in der Könige Häusern.“ Was der Erlöser damit sagen will m. g. F., das ist wohl deutlich, er will damit sagen, daß Johannes nicht zu denen gehört hat, deren ganzer Sinn auf die irdische Lust, auf den vergänglichen Glanz irdischer Hoheit, auf eine vorübergehende nähere oder fernere Theilnahme daran gerichtet ist. Das m. g. F. ist freilich ein trauriger Zustand der menschlichen Seele, in welchem sie noch sehr fern ist vom Reiche Gottes. Wer so mit seinem Sinn auf das Irdische und Vergängliche gesteuert ist, | wer sich daran befriedigen kann, der hat noch keine Sehnsucht nach dem Geistigen und Ewigen und ist unfähig es zu genießen, wenn es ihm auch in der größten Fülle und mit der größten Milde dargeboten wird. [Wenn] wir noch solche eitle Bestrebungen in der menschlichen Seele finden, da mögen wir sagen, daß sie in der That noch sehr fern ist vom Reiche Gottes. So war nun Johannes nicht, und dies Zeugniß giebt ihm der Erlöser vor allem Volk mit dem besten Willen. Aber wie war er dann? Die Evangelisten erzählen von ihm, daß während er in der Wüste war, er getragen habe ein Gewand von Kameelshaaren, und seine Speise Heuschrecken gewesen seien und wilder Honig, wohl stimmend zu seinem ernsten und strengen Aufenthalt in der Wüste. In Beziehung also auf alles dasjenige in dem häuslichen Leben der Menschen, worin sich die sinnliche Lust am deutlichsten offenbart, in allen diesen Dingen hielt Johannes auf eine Strenge, welche sich äußerlich allen Menschen bemerk|lich machte. Wenn es nun rein eine natürliche Folge gewesen wäre von seinem Aufenthalt in der Wüste, daß er sich auf eine so dürftige Weise kleidete und so wenig ansprechende Nahrungsmittel genoß: so wäre wenig besonderes dabei. Aber wie er ein Mann war geehrt und geachtet von allem Volk, berühmt in der ganzen Gegend, wo er sich aufhielt, ein Mann, zu dem ein großer Theil des Volks hinausströmte, um seine Predigt zu hören, und nicht etwa nur die Armen und Dürftigen sondern auch die Reichen und Angesehenen, die er immer mit der größten Strenge empfing: so konnte es ihm an den Mitteln nicht fehlen, sich auf eine der herrschenden Sitte aller Menschen seiner und seines Volks angemessene Weise zu kleiden und zu nähren. Es kann also wohl nicht anders sein als daß er einen Werth gelegt hat auf diese Strenge der äußern Lebensart. Darin bestärken uns auch Worte des Erlösers, die sich in derselben Rede 7 daß] das

24 Menschen,] Menschen;

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finden, aus der unser Text genommen ist, wo er von seinen Zeitgenossen sagt, er vergleiche sie den Knaben, die auf | der Gasse spielen, eben wie diese bald dies bald jenes an ihren Gegengespielen auszusetzen hätten und es ihnen niemals Recht gemacht werden könne, so sei Johannes gekommen, der hätte nicht gegessen und getrunken, da hätten sie gesagt, der Mensch hat den Teufel; dann sei des Menschen Sohn gekommen, der äße und tränke, da sagten sie „wie ist doch der Mensch ein Fresser und Säufer, der Zöllner und Sünder Gesell.“ Wie es also in seine Lebensweise, die er gewählt hatte und unter seinem Volke führte, gehörte, sich in diesem Sinne von den Menschen seiner Zeit nicht zu unterscheiden: so giebt er uns in diesen Worten zu erkennen, daß es des Johannes Absicht sei, sich durch eine solche große Strenge des äußern Lebens bemerklich zu machen. – Auch das m. g. F. ist ein Zustand, den wir in der menschlichen Seele nicht selten finden. Ist der Mensch eine Zeitlang dem flüchtigen Schein des Irdischen nachgegangen, hat er sich selbst über manches, woran er Theil genommen, zu täuschen gesucht, als sei es nichts Sündliches und von Gott Verbotenes und dem die Stimme des Gewissens nicht wiederspreche, sondern nur der unschuldige Genuß der | Freuden des Lebens; und kommt er dann hernach hinter die Täuschung und merkt an dem abnehmenden Geschmak der Seele an dem was sie sonst am meisten an sich zog, wie wenig Wahrheit dasjenige hat, womit er sich so lange beschäftigt und woran er so lange gehalten hat: so erwacht das Gewissen und sagt ihm, daß es nicht nur unnütz sei, indem es ihm nicht gegeben was es suchte, sondern auch sündlich, indem es ihn abgehalten habe nach den ewigen Gütern des Heils zu streben, da seine Seele dem nachgegangen sei, was ihm keine Befriedigung gewährt. Wenn er nun zu dieser Erkenntniß kommt, so ist es natürlich, daß er umschlägt auf die entgegengesetzte Seite, weil er sich kennt, daß er in Gefahr kommen kann, irgend einer andern Versuchung zu erliegen, daß er doch sich in manchen Augenblicken wieder schwach beweisen möchte, daß was er bereits glücklich überwunden hat sich in seine Seele wieder einschleichen kann. Wenn er das gewahr wird, so geht er über zu der entgegengesetzten Strenge, versagt sich alles, was zur Annehmlichkeit des Lebens gehört, und sucht seine Lust und Freude allein in seiner Unlust | und in den schmerzlichen Eindrücken von außen, denen er sich hingiebt, indem er alles dasjenige so weit als möglich von sich zu entfernen sucht, was ihm selbst früher so manche Erheiterung gewährt, und alles verschmäht, was Gott zur Verschönerung des menschlichen Lebens und zum gemeinsamen Genuß seiner Gaben in diese irdische Welt gelegt hat. Das ist der Zustand der menschlichen Seele, dessen Vorbild 5 hätten] hätte

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1–8 Vgl. Mt 11,16–19

37 zur] zu

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Johannes war, der ernst und kalt, fern von dem frohen Genuß des Lebens, seine Tage unter Entbehrungen und Entsagungen zubrachte; und viele m. g. F. sind ihm gefolgt in der christlichen Kirche. Von je her hat es viele solche unter den Gläubigen gegeben, die eben nachdem sie übersättigt waren von dem eitlen Genuß der irdischen Dinge, nachdem sie den Becher der sinnlichen Lust ausgeleert hatten, wie Johannes sich zurückzogen in die Wüste, wie Johannes sich dort bemerklich machten, durch eine Strenge, die wenig andre Menschen ansprach, wie Johannes sich alle Vergnügungen und Freuden versagten, und die nothwendigsten Bedürfnisse des Lebens auf eine Art befriedigten, an der | keine Spur von Freude sein kann. Wohl mag das heilsam sein, damit der Mensch lerne dasjenige ganz entbehren, was ihn so leicht verlocken kann zu dem was er für Unrecht erkannt hat; wohl mag das nothwendig sein für manchen, damit er sich vorhalte an einem so ganz dem frühern entgegengesetzten Leben, welches er jetzt führt, die Unwürdigkeit und Eitelkeit dessen, welches er so lange geführt hat. Und wo wir eine solche Seele sehen, die nachdem sie lange mit aller Lust und mit allem Verlangen den irdischen Dingen nachgegangen ist, nun die Stärke gewonnen hat, alle Triebe der sinnlichen Natur zu dämpfen, alle irdische Begierden zu beschwichtigen, alles von sich zu werfen was sie früher eifrig verfolgt und gesucht hat, und sich zu üben in Entsagungen und Entbehrungen, und sich dadurch ihrer Kraft bewußt zu werden: so mögen wir sagen, eine solche Seele ist nicht fern vom Reiche Gottes. Denn auf der einen Seite wird sie nicht gestört, die großen und ernsten Regeln des Evangeliums anzunehmen und zu befolgen, durch Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt; und auf der andern Seite, weil der Herr doch gesagt hat, daß wir anders nicht als durch Trübsal in das Reich | Gottes eingehen können, weil er doch gesagt hat, daß es dem Jünger nicht besser gehen kann als dem Meister, und sie so vorbereitet auf allen Schmerz, welchen der Mensch in dem Beruf, den er ihm in seinem Reiche angewiesen, erfahren mag, auf alle Widerwärtigkeiten, welche die Umstände dabei mit sich führen, auf alle Entbehrungen der Erde, die ihn selbst in den Tagen seines irdischen Lebens getroffen haben, wie er selbst sagt „des Menschen Sohn hat nicht, wohin er sein Haupt lege“: so ist eine solche Seele wohl bereit, wenn der Herr sie brauchen wird in seinem Weinberge und sie herbeifordern zu seinem Werke, bereit ihm freudig zu folgen zu allem, wozu er sie beruft, kein Leiden und keine Widerwärtigkeit zu scheuen, und nicht, indem sie die Hand an den Pflug legt um zu arbeiten, wieder zurückzublicken auf die verlaßne Lust der Welt. Das mögen wir ihr zurufen und uns dessen freun, 36 scheuen] schauen 27–28 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20

32–33 Mt 8,20; Lk 9,58

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aber auch zugleich mit dem Wunsche, daß sie bald möge erlöst werden aus diesem Zustande und hindurch dringen zur Freiheit der Kinder Gottes. Denn der Erlöser war nicht wie Johannes. Denn er aß bald mit den Vornehmen bald mit | den Geringen, wie die Umstände es fügten; er verschmähte keine frohe und keine festliche Gelegenheit, wozu die Menschen ihn herbeizogen; aber überall war er sich selbst gleich, überall das Vorbild derer, die durch ihn zum Streben nach dem Höhern und Ewigen erweckt waren, überall derjenige, der nicht von den Dingen dieser Welt beherrscht ward, sondern sie beherrschte, überall derjenige, dem niemals der irdische Genuß die Hauptsache war, sondern der keinen Augenblick hatte in seinem Leben, in welchem er nicht mit seiner innern göttlichen Kraft zum Segen der Menschen zu wirken suchte, und deshalb keine Gelegenheit vorübergehen ließ, die sich darbot, um diesen schönen Beruf zu erfüllen, dem dabei aber auch die geselligen Freuden der Menschen und die frohen Kreise des Lebens eben so willkommen waren als ihre ernsten Versammlungen, wo sie ganz vorzüglich wollten Lehre annehmen und sich erbauen. Und so sollen auch wir m. g. F. jeder in dem Reiche Gottes dem Erlöser ähnlich sein und eben deswegen größer als der, welcher größer war denn alle | Propheten. Diejenigen aber welche glauben, in den Übungen die sie sich selbst auflegen, aber durch die doch an und für sich nichts bewirkt wird wodurch das Reich Gottes wahrhaft gefördert werden kann, welche glauben in diesen schon ihre Ruhe zu haben, oder durch diese zu beweisen, daß sie Kinder Gottes sind, indem sie sich dieser Welt nicht gleich stellen: die mögen eben dieses Wort des Erlösers beherzigen und die Art recht bedenken, wie er sich selbst dem Johannes entgegenstellt. Der Mensch in dem Reiche Gottes soll sich vor nichts mehr fürchten, er soll sich von nichts mehr trennen, sondern alles gebrauchen, so wie es der große Zweck, welchem er allein lebt, mit sich bringt. Wer sich aber trennt von den Menschen durch eine solche die Gemeinschaft der menschlichen Sitte zerstörende Lebensweise, der entzieht sich auch selbst manche Gelegenheit, und auch Veranlassung zum Heil ihrer Seele etwas beizutragen. Derjenige der sich selbst jeder Versuchung entzieht, der bringt sich dadurch außer der Übung, wenn er doch einmal der Versuchung nicht entgehen kann um sie glücklich zu bestehen, ja er zeigt den | Mangel an Gleichmuth und Fertigkeit, der darin liegt, wenn wir nur auf eine und zwar auf eine der ganzen Natur des menschlichen Lebens, in welches wir gesetzt sind, nicht angemeßne Weise unser Heil fördern und unsre Seele zu berathen suchen. Wenn der Erlöser seinen Einzug in die Seele gehalten hat, dann ist auch mit der Gewißheit, daß der Sohn Gottes in das Fleisch gekommen ist, ein unerschütterliches Vertrauen und eine unüberwindliche Freude in die menschliche Seele gekommen, die dergleichen Maaßregeln überflüssig macht, dann müssen wir auch immer freier 30 und auch] und nach

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werden wie der Erlöser selbst frei war, und eben dadurch gestärkt, indem wir mit den Menschen leben, auch nur so zu leben, daß indem wir ihnen zeigen, wie der Mensch die Dinge dieser Welt behandeln muß, wir sie von dem unrichtigen Gebrauch derselben zurückführen und indem wir ihnen zeigen, wie sich auf alle diese Thätigkeiten das Reich Gottes bezieht, wir ihnen dadurch auch ein anschauliches Bild geben von demjenigen, was der Geist Gottes in dem Herzen des Menschen wirkt. Aber m. g. F. wenn wir auch | alle erfahren, daß der Erlöser seinen Einzug in unser Herz gehalten hat, und uns dessen in dieser festlichen Zeit mit der innigsten Dankbarkeit erfreuen, fragen wir uns aber, wohnt er auch – daß ich mich so ausdrücke – in jeder Gegend unsrer Seele mit gleicher Lebendigkeit? regiert er überall in derselben gleich und unumschränkt? fühlen wir in jedem Augenblick unsers Lebens sein Leben in uns mit gleicher Kraft? Wer wollte nicht diese Fragen verneinen und mit dem Apostel sprechen „nicht daß ich es schon ergriffen hätte oder schon vollkommen wäre; ich jage ihm aber nach dem vorgesteckten Ziele, ob ich es wohl ergreifen möchte.“ Wenn dem nun so ist, so werden wir auch alle jeder auf seine eigne Weise noch hie und da zu denen gehören, die wirklich in weichen Kleidern einhergehen und die Palläste der Könige suchen; so werden wir auch alle noch zu denen gehören, welche in dieser oder jener Beziehung noch vom Winde hin und her bewegt werden. Zwischen diesen und dem gänzlichen Siege und Triumphe des Erlösers | in unsrer Seele liegen auch immer noch jene Zustände, welche ich beschrieben habe als solche, die seiner Ankunft vorangehen. Und dies m. g. F. ist denn die Beziehung, in welcher wir denen nicht Unrecht geben können, die sich immer noch, wiewohl mit der festen Überzeugung, daß sie das Heil in Christo schon gefunden haben an diese Lebensweise und an jenen Zustand halten, der den Johannes zum Vorbild hat, so es nur geschieht in dem rechten Maaße, so es nur geschieht auf die Weise, daß die Kraft Gottes, daß die Freiheit der Kinder Gottes sich darin wahrnehmen läßt, sofern wir es nur ansehen als einen Zustand der vorübergehend ist, und nicht diejenigen gering halten, die in der Beziehung, worin wir noch schwach sind, schon hindurch gedrungen sind zur Freiheit der Kinder Gottes und ähnlich dem freien und fröhlichen Leben des Erlösers. Wenn wir solche Bedürfnisse noch haben, eine heilige Pflicht sei es uns sie zu befriedigen; wo wir fühlen, daß uns der Wind hin und her bewegt, o laßt uns die Einsamkeit suchen und Gebete zu Gott | emporschicken, damit das Herz fest werde, wo es wankelmüthig ist; wo wir noch in uns fühlen die irdische Lust und die irdische Sorge, da laßt uns entbehren und keine Strenge der Übung scheuen, bis wir sicher sind sie gebrochen zu haben. Aber in dem 26 Christo] Christi 14–16 Vgl. Phil 3,12

27 hat, so] hat. So

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Einen oder dem Andern bleiben wollen hieße sich ausschließen vom Reiche Gottes und die Herrlichkeit desselben von ferne erblickend die Zeit vorübergehen lassen, um in dasselbe einzudringen, eben wie Moses zwar das gelobte Land sah und seinem Volke den Besitz desselben vorhielt, aber selbst nicht einging zur Freude und Ruhe: Vorübergehend soll also eine solche Lebensart und ein solcher Zustand sein und eher sollen wir nicht ruhen, bis wir finden, daß wir alles dessen nicht mehr bedürfen, sondern eben so fest und froh durch das Leben gehen wie der Erlöser, aber auch gewiß in jedem Augenblick, daß wir dem Erlöser ähnlich sind, und überall wenn auch nicht im Geiste so doch dem Geiste und der Kraft desselben leben. Dazu möge der Erlöser immer mehr in unsre Seele einziehen, die ihn im Glauben ergriffen und | angenommen hat, daß ein jeder immer mehr erfahre den Frieden und die Seeligkeit der Kinder Gottes, und alle immer vollkommner werden und je länger je mehr im Geiste reifen zur Vollkommenheit des männlichen Alters Christi. Amen.

[Liederblatt vom 15. Dezember 1822:] Am dritten Advent-Sonntag 1822.

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Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Mit Ernst, ihr Menschenkinder, / Bestellt das Herz in euch! / Er kommt, das Heil der Sünder, / Der Held an Wundern reich! / Er, den aus Gnad allein / Der Welt zum Licht und Leben / Der Vater hat gegeben, / Kehrt bei uns Sündern ein. // [2.] Bereitet ohne Säumen / Die Steige diesem Gast, / Eilt aus dem Weg zu räumen, / Was er verwirft und haßt. / Die Thäler füllet aus, / Erniedriget die Höhen; / Und offen soll ihm stehen / Ein jedes Herz und Haus. // [3.] Ein Herz, das Demuth liebet, / Nimmt er in seinen Bund, / Ein Herz, das Hochmuth übet, / Das geht mit Angst zu Grund; / Ein Herz, das lauter ist, / Das kann sich recht bereiten, / Es folget Gottes Leiten, / Zu ihm kommt Jesus Christ. // [4.] O mache du mich Armen / In dieser Gnadenzeit / Aus gütigem Erbarmen / Herr Jesu selbst bereit. / Zeuch in mein Herz hinein, / O komm mit deinem Segen, / Ich eile dir entgegen, / Komm ewig mich erfreun. // Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Auf Zion auf! auf Tochter säume nicht / Dein König kommt, so eil ihm zu begegnen, / Der dich mit Fried und ewgem Heil will segnen, / Halt dich bereit, daß dir nicht Oel gebricht; / Laß allezeit die Glaubenslampe brennen, / Dein Auge darf jetzt keine Schlafsucht kennen. // [2.] Es ist genug, es ist zu lange Zeit, / Daß du der Lust der Erde nachgegangen, / Und daß dein Herz 3–5 Vgl. Dtn 34,1–5

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an dieser Welt gehangen; / O reut es dich? Dein Heiland ist erfreut, / Er geht dir nach; er giebt sich dir zu schauen, / Und will sich ganz in Gnaden dir vertrauen. // [3.] So zeige denn, daß Ernst vorhanden sei, / Ergieb dich ihm, verläugne deinen Willen, / Und laß dein Herz an seinem Gut sich stillen, / Laß dich von Lust und Trägheit machen frei! / Sein Geist versteht sie beide so zu zwingen, / Daß sie dich ferner nicht in Unheil bringen. // [4.] Auf Zion auf! der König nahet schon, / Hinaus zu ihm! erfülle Weg’ und Straßen, / Eil seine Knie begrüßend zu umfassen, / Streu Palmen aus vor deines Gottes Sohn! / Ihm sei von fern schon Freudenruf gesungen, / Der Zeugniß giebt von unsern Huldigungen. // [5.] Komm edler Held, zum Heil von Gott gesandt, / Komm her zu uns, die sehnlich auf dich hoffen, / Dir stehet Herz und Geist und alles offen; / Dir danken wir das rechte Vaterland! / Dorthin wirst du die deinen Alle bringen, / Und ewig werden deinen Ruhm wir singen. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Vom Himmel hoch etc. [1.] O nimm den Herrn mit Freuden an, / Bereit ihm deines Herzens Bahn, / Auf daß er komm in dein Gemüth / Und du genießest seiner Güt! // [2.] Die jezo fest in Christo stehn, / Die werden einst zur Freud’ eingehn, / Bewahrt vor aller Furcht und Pein / Sind sie dann selig; sie sind sein. //

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4. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,13–16 Nachschrift; SAr 84, Bl. 149r–164r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 687–696 (evtl. Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 103, S. 107–127; Andrae Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am vierten Adventsonntage 1822 am zweiundzwanzigsten Khristmonds.

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Lied. 786, 1–9; 15 und 16. |

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Tex t. Philipp. III, 13–16. Meine Brüder, ich schäze mich selbst noch nicht, daß ich es schon ergriffen habe; Eins aber sage ich, ich vergesse was da hinten ist, und streke mich zu dem das da vorne ist, und jage nach dem vorgestekten Ziel, dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Khristo Jesu. Wie viele nun unsrer vollkommen sind, die laßt uns also gesinnet sein; und sollt ihr sonst etwas halten, das laßt euch Gott offenbaren, doch so ferne, daß wir nach einer Regel, darin wir gekommen sind, wandeln, und gleich gesinnet sein. Schon neulich m. a. F. haben wir einen Theil der verlesenen Worte zum Gegenstand unsrer Betrachtung gemacht; und wie | sie denn wirklich in genauer Verbindung stehen und nicht von einander getrennet werden können, so mögen wir sie auch heute für unsre Betrachtung in dieser Verbindung lassen. Aber freilich treten uns, wenn wir sie näher erwägen, eben in diesem Zusammenhange manche Schwierigkeiten entgegen, die wir erst beseitigen müssen, um unser Gefühl ganz zu beruhigen. Denn zuerst wenn der Apostel in den ersten Worten sagt, er schäze sich selbst noch nicht, daß er es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei: wie redet er doch hernach von den Vollkommnen und davon, daß diese auf eine bestimmte 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 786: „Erneure mich, o ew’ges Licht“ (Melodie von „O Jesu Christ! mein’s Lebens Licht“) 13–14 Vgl. oben 8. Dezember 1822 früh über Phil 3,12–14

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Weise gesinnet sein mögen? Und wenn er ferner sagt „wie viele nun unsrer vollkommen sind, die laßt uns also gesinnet sein“: so will es uns scheinen, | als habe er sich die ganze Gemeine der Khristen, sich selbst mit eingeschlossen, auf diese Weise getheilt gedacht, daß einige Mitglieder derselben die Vollkommnen sind, die also das Ziel schon ergriffen haben, andre dagegen die Unvollkommnen, die dem Ziele noch nach jagen müssen. Aber m. g. F. es ist wohl deutlich genug, daß das Alsogesinnetsein sich auf dasjenige bezieht, was der Apostel vorher sagt „ich schäze mich selbst noch nicht, daß ich es schon ergriffen habe“; das Vollkommensein würden wir dann beziehen auf das was er hernach sagt: „ich vergesse was da hinten ist, und streke mich zu dem das da vorne ist“. In dieser Beziehung nun finden wir | hier einen bestimmten Unterschied angegeben zwischen dem Vollkommnen und Unvollkommnen des Khristen. Als wir m. g. F. neulich über diese Worte mit einander redeten, da sahen wir vorzüglich und mit Recht darauf, daß indem der Apostel von sich sagt, daß er vergesse was da hinten ist, und sich streke nach dem das da vorne ist, wir auch unsrerseits uns dazu zu ermuntern hätten, nicht allein und ausschließend auf dasjenige, was wir in der vergangenen Zeit unsers Lebens schon erreicht haben, zu sehen, sondern unser Auge mehr auf das zu richten, was noch unerreicht vor uns liegt, um unsern Lauf nach dem vorgestekten Ziele zu beschleunigen. Aber wenn wir uns | den Khristen denken in diesem Fortschritt von einer Vollkommenheit zur andern, so müssen wir sagen, was hinter ihm liegt ist ein Gemisch von Vollkommnem und Unvollkommnem, und er kann das Eine nicht denken ohne sich des Andern zu erinnern, wenn er ein wahres Bild haben will von dem was hinter ihm liegt. Bei dieser Betrachtung fällt uns natürlich das ein, daß es ein großes Wort sei und viel von sich selbst behauptet, was der Apostel sagt, er vergäße was hinter ihm liegt. Denn wie können wir uns wohl dessen enthalten, daß wir oft erinnert werden an die ver|gangene Zeit unsers Lebens grade durch die Schwächen und Unvollkommenheiten in uns, wovon wir die Spuren auch jetzt noch finden, wovon wir uns erinnern, daß wir früher tief darin sind verwikelt gewesen. Wenn einer das mit Recht von sich sagen will, er vergesse was da hinten ist, so gehört dazu schon, daß er es für sich selbst nicht mehr so nöthig hält, seine Aufmerksamkeit auf die Ueberreste der Unvollkommenheiten, der Schwachheiten und der verschiedenen Gestalten der Sünde zu richten, welche nachdem er weiter fortgeschritten ist in der Heiligung freilich auch jezt noch wenn auch | gering in ihm sind, aber ihn zurükführen auf die vergangene Zeit, wo sie noch stärker waren. Es scheint also, dazu gehöre eine große Zuversicht in Beziehung auf die Kraft der göttlichen Gnade in uns, und eine anschauliche Erkenntniß davon, wie sie in uns wenn gleich schwachen Werkzeugen doch mächtig sei durch ihre himmlische Kraft, wenn wir es nicht mehr für so nothwendig halten, unsre Aufmerksamkeit auf das Unvollkommne zu richten, was aus der frühern Zeit unsers

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Lebens zurükgeblieben ist. Aber wie dann; wenn wir noch nicht einmal von uns | sagen können, daß das Unvollkommne im Abnehmen sei, daß wir aus einer Zeit in die andre reiner und vollkommner übergehen? wie dann wenn wir finden, daß unsre innern Schwächen nicht geringer werden, und daß wir in einer rükgängigen Bewegung begriffen sind? Und wir werden sagen, nur der welcher sich darüber ganz hinaus weiß, kann mit einigem Rechte wie der Apostel thut von sich sagen: ich streke mich zu dem das vor mir liegt. Wem aber noch begegnet, in seinem Streben nach der khristlichen Vollkommenheit Rükschritte zu machen, und von der Schwachheit der frühern Zeit bis|weilen übereilt zu werden, nachdem er geglaubt hat, er habe sie schon völlig hinter sich, der wird mit Gewalt in diese frühere Zeit, die ihm das himmlische Ziel der göttlichen Berufung in Khristo verkehren will, zurükgetrieben. Und das ist m. g. F. der eigentliche Unterschied, den der Apostel in den Worten unsers Textes aufstellt, zwischen den vollkommnen und unvollkommnen Khristen; und wir werden sagen, bei der menschlichen Schwachheit müssen wir den einen Vollkommnen nennen, dem sein Gewissen vor Gott das Zeugniß | giebt, daß das Böse, welches eben geschwächt ist in ihm durch die göttliche Gnade, nicht wieder mächtig wird; derjenige aber, der solchen Rükschritten ausgesezt ist, der sei der Unvollkommne. – Und nun m. g. F. eben den Vollkommnen giebt der Apostel noch einmal die Ermahnung, daß er sagt „wie viele nun unsrer vollkommen sind, die laßt uns also gesinnet sein“, nämlich so daß wir von uns selbst in dem Innersten unsers Herzens glauben, wir haben es noch nicht ergriffen, sondern immer dabei bleiben, dem Kleinod nachzustreben, welches uns vorhält die himmlische Berufung Gottes in Khristo, nämlich dem, uns immer mehr | zu gestalten in das Ebenbild dessen, der da ist das Ebenbild Gottes und die Offenbarung seiner Herrlichkeit. Dies nun zu vergessen was da hinten ist, und sich zu streken nach dem was vor uns liegt, mit einer Begierde und Sehnsucht, durch welche sich das Herz des Menschen in sich selbst das Zeugniß giebt von dem Bewußtsein, es noch nicht ergriffen zu haben, und eben deswegen sich nicht in eine träge Ruhe einschläfern läßt, sondern durch die Kraft der Demuth immer wach erhalten wird im Streben nach dem himmlischen Ziele – das ist die Regel, die der Apostel giebt; und wir können nicht leugnen, je mehr wir uns jener | Vollkommenheit nähern, desto mehr haben wir nöthig uns dieselbe einzuschärfen. Bei dem, der noch wankenden Schrittes und unsicher auf dem Wege der khristlichen Vollkommenheit fortschreitet, ist die Demuth, daß er nämlich nicht glaubt es schon ergriffen zu haben oder schon vollkommen zu sein, etwas ganz Natürliches; sein Gewissen sagt es ihm bei tausend Gelegenheiten, daß er das Ziel zwar vor Augen hat, aber das Bewußtsein es noch nicht ergriffen zu haben, wird am meisten durch jede Bewegung seines Gemüths, wodurch er sich von demselbigen entfernt, lebendig erhalten. Derjenige | aber, der sich solcher rükgängigen Bewegungen noch nicht bewußt ist, dem könnte es leicht begegnen, daß

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indem er in der That nicht mit Unrecht von sich sagen kann, daß er dem Ziele näher kommt, er in der Einbildung leben könnte, er habe es schon ergriffen. Für den also ist allerdings diese Demuth des Khristen nicht so leicht und kommt nicht so von selbst; aber eben deshalb weil wir ihre Nothwendigkeit einsehen und fühlen, so achten wir sie desto höher; und das ist der Grund, warum wir diese Demuth für eine vorzügliche Tugend des Khristen halten und die | Ueberzeugung haben, daß je mehr einer vollkommen sein wolle, desto mehr müsse er diese Demuth in sich tragen. Wenn wir aber fragen, warum ist sie eine so vorzügliche Tugend des Khristen in seinem Fortschritt zum Ziele? so liegt es in der Art, wie uns Khristen das vorgestekte Ziel erscheint. Es erscheint uns nur in dem Bilde des Erlösers, und dieses ist von der Art, daß jeder selbst das Zeugniß ablegen wird, je vollkommner er wird, desto glänzender erscheint es ihm, desto heller strahlt ihm aus demselben der Glanz des göttlichen Sohnes entgegen, desto mehr wird das Auge | seines eigenen Geistes geschärft, und er fühlt desto tiefer den Unterschied, der nie aufhören kann, zwischen dem Menschen, der ohne Sünde war, und in dem die Fülle der Gottheit wohnte, und zwischen dem, dem der göttliche Geist nur mitgetheilt ist nach dem Maaße, welches Gott beschieden hat, und in dem er noch kämpfen muß gegen das Fleisch, das da gelüstet wieder den Geist. Deswegen weil dem Khristen, je näher er seinem Ziele kommt, desto herrlicher dieses erscheint, und ihm in demselbigen Maaße der Unterschied zwischen der Heiligkeit und Vollkommenheit | des Herrn und zwischen dem, was er selbst durch seine Bestrebungen erreicht hat, immer deutlicher wird, ist es natürlich was der Apostel sagt „wie viele nun unsrer vollkommen sind“, das heißt im Fortschreiten zu diesem Ziele bleiben, aber eben weil sie vergessen können was da hinten ist, und mit schärfern Augen auf das Kleinod sehen, welches ihnen am Ziele aufbewahrt ist, daß die nicht anders können als, je näher sie demselben kommen, desto mehr davon überzeugt sein, daß sie es noch nicht ergriffen haben, sondern eben je weiter sie vorwärts schrei|ten auf der Bahn der Vollkommenheit, desto Herrlicheres am Ziele erbliken, was sie noch nicht ergriffen haben. Nun laßt uns zweitens auf die folgenden Worte des Apostels sehen: „Wenn ihr sonst etwas haltet, das laßt euch Gott offenbaren, nur daß wir nach der einen Regel, zu der wir gekommen sind, wandeln und gleich gesinnet sein.“ Der Sinn jener ersten Worte ist der: Wenn in andern Dingen der eine von euch es so, der andre anders hält, so tröstet euch mit der Hoffnung, daß Gott es euch offenbaren wird, und haltet dabei an | dem Einen fest, daß ihr allererst ohne Unterschied der Meinungen nach der Regel, wozu wir gekommen sind, wandelt, und hierin gleich und Eines Sinnes seid. Sehet da m. g. F. indem der Apostel sich selbst zu den Vollkommnen 17 Vgl. Kol 2,9

19–20 Vgl. Gal 5,17

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unter den Khristen rechnet, so sezt er doch dabei die Möglichkeit voraus, daß in vielen Dingen – und er redet von keinen andern Dingen als von denen, die zum khristlichen Glauben gehören – daß die einen es so, die andern so halten; und in Beziehung auf diese Dinge giebt er ihnen keine Regel, sondern | sucht ihnen die Hoffnung einzuflößen, daß Gott es ihnen offenbaren werde. O m. g. F. wenn doch die Khristen dies immer bedacht und dieses herrliche Wort des Apostels immer vor Augen gehabt und nicht vergessen hätten! Wie viel unnüzer Zwist und Streit, der die khristliche Kirche entehrt hat, wäre dann vermieden worden! Und wie sind diese Worte des Apostels geeignet, daß wir uns beruhigen können. Nämlich indem er sagt, wenn ihr in irgend einem Stük es so oder anders haltet, so laßt es euch Gott offenbaren: so liegt darin auf | der einen Seite das Geständniß, daß wo eine solche Verschiedenheit sei, da fehle es noch an der göttlichen Offenbarung, auf der andern Seite die Zuversicht, daß denen, welche die Regel vor Augen haben, die er vorher ausgesprochen hat, und also gleich gesinnet sind, daß denen diese göttliche Offenbarung nicht fehlen werde. Wie wahr das Erste ist m. g. F. darüber ist nicht nöthig viele Worte zu machen. Denn es ist gewiß, daß der Verschiedenheit unter den Menschen, die alle Einen und denselben Herrn und Meister haben, in ihm Ein und dasselbe Bild der Vollkommenheit schauen, von ihm in Einer | und derselben Wahrheit unterwiesen sind, daß der Verschiedenheit derselben unter einander immer etwas Unvollkommnes zum Grunde liegt. Allein wenn sie dann nur darauf achteten und eben so gewiß wie der Apostel daran hielten, wie daraus nur folge, daß es noch an einer göttlichen Offenbarung fehlt: so würde keiner in einem solchen Falle von sich selbst glauben, daß er die Wahrheit schon ergriffen habe und nur sein Bruder im Irrthum sei, sondern vielmehr gewiß sein, wie der Apostel in den Worten unsers Textes voraussezt, daß allen, zwischen denen eine solche | Verschiedenheit stattfindet, noch eine Offenbarung von oben fehlt daß alle noch etwas Unvollkommnes und Unwahres in sich tragen, und jeder noch einer göttlichen Erleuchtung bedarf. Dieser aber können wir uns nicht anders theilhaftig machen und nicht anders sie erlangen, als daß wir die Wahrheit suchen in Liebe und glauben, daß wo wir es in unserm Leben nicht dahin bringen können, unsern Bruder zu unsern Meinungen hinüberzuziehen, eben diese Meinungen die ganze Kraft der Wahrheit noch nicht in sich schließen, und daß eben so uns noch eine göttliche Offenbarung fehlt. | Diese mögen wir dann dadurch erwarten, daß wir in den abweichenden Meinungen andrer die Spuren der Wahrheit aufsuchen. Denn denen, die so gesinnet sind, wird sich Gott offenbaren, und ihnen das Rechte enthüllen. Und das ist der Sinn der Worte, die der Apostel ausspricht, und in denen er uns ein theures und heiliges Gut in der khristlichen Kirche darstellt. Denn einmal ist es nicht anders als daß in vielen Dingen der eine so denkt, der andre anders; und zwar indem der Apostel von keinen andern redet als von denen, die da

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bekennen, daß sie nicht ihre eigene Gerechtigkeit suchen, sondern | die da kommt durch den Glauben an Khristum, so müssen wir sagen, wenn wir es damals schon für wahrscheinlich halten können und voraussezen, daß über die Wahrheit des Khristenthums verschieden gedacht wurde: wie nothwendig, nachdem die khristliche Lehre der Gegenstand des Nachdenkens geworden ist viele Jahrhunderte hindurch unter Menschen von den entgegengeseztesten Geistesrichtungen, unter Menschengeschlechtern von den verschiedensten Sitten und Anlagen, in Zeiten, deren Kharakter der eine anders war als der andre, wie nothwendig daß da bei der Unvollkommenheit | der menschlichen Seele eine immer größere Menge von Verschiedenheiten in den Meinungen und Ansichten hervorgehen mußte. Aber so gewiß wie wir glauben daß unser Erlöser der Weg ist und die Wahrheit und das Leben: so gewiß auch glauben wir, daß Gott nicht aufhören werde sich in der khristlichen Kirche zu offenbaren, und daß aus dieser Verschiedenheit menschlicher Meinungen die Wahrheit immer heller und herrlicher hervorstrahlen werde. Nur das gehört dazu, daß wir an dem Einen festhalten, nach der Regel zu wandeln, zu der wir schon gekommen sind, wie der Apostel in den Schlußworten | unsers Textes sagt, das heißt daß uns das nicht wieder zweifelhaft wird, was wir einmal erlangt haben, und daß, was sich jedem in seiner Seele als göttliche Offenbarung zeigt, auch die Regel sei, nach der er wandelt, und jeder suche dieser Regel in seinem ganzen Leben treu zu sein und sie zu verherrlichen. Denn daraus wird von selbst hervorgehen, daß an diesem Prüfstein je länger je mehr erkannt werde, worin die Wahrheit ist in dieser Verschiedenheit menschlicher Meinungen. Und je mehr jeder nach der Regel wandelt, zu der er schon gelangt | ist, desto mehr wird sich der Herr offenbaren können, desto mehr wird die Wahrheit vom Irrthum geschieden werden können, desto mehr wird man fühlen, welche Früchte das eine und das andre trägt von dem was der Mensch hat. In dieser Treue gegen die Ueberzeugung, die uns im Streben nach der Wahrheit geworden ist, und in diesem Zugeständniß, daß so lange es noch verschiedene Meinungen unter den Khristen giebt, eine genaue göttliche Offenbarung noch fehlt, liegt der Grund zu der Hoffnung, daß diese kommen werde. Wer so wandelt, kann sicher sein, daß der Herr nicht aufhören werde sich ihm zu offenbaren von einer Klarheit zur andern. Wer zu der demüthigen Gewißheit gekommen | ist, daß wenn es ihm nicht gelingt seine Brüder in Khristo zu seiner Meinung zu bringen, auch seine Erleuchtung noch nicht die rechte sei, sondern noch einer göttlichen Offenbarung bedürfe: der wird gewiß von einer Klarheit zur andern geleitet werden. Und wenn wir so immer im Trachten und Suchen nach der Wahrheit bleiben, und festhalten an der Regel, zu der wir gekommen sind, und immer in dieser wandeln, worin die Ueberzeugung aller Khristen übereinstimmt, und eben dies für 12–13 Vgl. Joh 14,6

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die vollendete göttliche Offenbarung halten, wovon wir uns nicht trennen dürfen: dann gewiß wird uns Gott | alles offenbaren was uns noch fehlt. Und diese sich wiederholende göttliche Offenbarung ist die neue Ankunft Khristi unter uns. Eben deswegen feiern wir einen sich wiederholenden Kreis von Festen; um uns zu erinnern, daß nachdem Gott vor Zeiten zu unsern Vätern geredet durch die Propheten, in den lezten Zeiten aber durch seinen Sohn in diesem Sinne die göttliche Offenbarung beschlossen hat, dennoch aber unsrer Schwachheit und Dürftigkeit wegen der Herr immer wieder aufs neue kommt. Jede Zeit, die wir als eine neue anfangen, bringt uns etwas von der göttlichen Offenbarung, | die im Khristenthum erschienen ist; und halten wir treu daran, in dem Worte Gottes zu forschen nach diesem himmlischen Lichte, und ermuntern wir uns fleißig, nach der Regel zu wandeln, bei der wir schon angekommen sind: so kann es nicht fehlen daß in jedem neuen künftigen Jahre unsers Lebens sich uns Gott aufs neue offenbart, um uns immer mehr zur Erkenntniß der Wahrheit und zu allem was zur Seligkeit gehört zu führen. Das wird er allen denen, die aufrichtig darnach trachten, allen denen geben, die durch seinen Geist frei geworden sind, eben so wie die Wahrheit, welche er allein ist, den Menschen nur frei machen kann. Amen.

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4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Luisenstadtkirche zu Berlin Joh 1,19–28 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 103, S. 79–106; Andrae Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Siebente Sammlung, 1833, S. 23–47 (vgl. KGA III/2); die Edition geht auf eine von Schleiermacher sehr stark bearbeitete Textzeugenparallele zurück Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, 21843, S. 284–298 – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 23–40 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 221–233 Nachschrift; SAr 52, Bl. 118v; Gemberg Vakanzpredigt (Tageskalender)

Predigt am vierten Adventsonntage 1822, am zwei und zwanzigsten Christmonds, gesprochen in der Luisenkirche. Lied. 16; 191, 1–5, 7, 8 und 9. |

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M. a. F. Wenn die Apostel in den ersten Anfängen der christlichen Kirche das Wort des Herrn verkündigt haben, und der göttliche Segen dabei sich dadurch zeigte, daß diejenigen welche ihnen zuhörten mit dem Geiste Gottes erfüllt wurden: so fingen sie an die großen Thaten Gottes zu preisen; und keine andre waren wohl dies, weil es keine preiswürdigern für den Menschen giebt, als diejenigen, die er gebracht hat durch sein Kind Jesum, als eben die Erlösung und Wiederherstellung des menschlichen Geschlechts, die durch diesen ist vollendet worden. Wie nun aber dies das erste Werk des göttlichen Geistes war in denen, die desselben theilhaftig 13 desselben] dasselbe 0 Der zweite Prediger der Luisenstadtkirche, Karl Rudolf Richter (geb. 1757 in Müncheberg), war am 4. Juli 1822 gestorben; vgl. EPMB 2, S. 692. Schleiermacher predigte während des Witwenjahres erneut am 15. Juni 1823 nachm. in der Luisenstadtkirche. 4 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 16: „Mit Ernst ihr MenschenKinder!“ (Melodie von „Von Gott will ich nicht“); Nr. 191: „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ (Melodie von „Was mein Gott will, gescheh allzeit“)

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wurden, so soll es auch sein Werk sein und bleiben in uns allen; wie dies die erste Regung war, wenn er die Seele erfüllte, die großen Thaten Gottes in der Erlösung zu preisen; so bezeugt nun der Geist Gottes sein Leben in uns noch immerfort dadurch, daß er auch uns erweckt ein Zeugniß abzulegen von dem, der uns wiedergebracht hat von der Finsterniß zum Lichte. | Ja selbst das Heiligste und Geheimnißvollste, was es in der Gemeinschaft der Christen giebt, ich meine das Mahl des Herrn, wird uns von dem Apostel so dargestellt, daß der innerste Sinn desselben der sei, daß so oft wir von diesem Brodt essen und von diesem Kelch trinken, wir den Herrn und seinen Tod verkündigen sollen. Ganz besonders müssen wir dies als unsern Beruf fühlen in dieser Zeit unsers kirchlichen Jahres, wo es der gemeinsame Eindruck ist, von dem wir erfüllt sind, daß wir uns in inniger Dankbarkeit gegen Gott erfreuen sollen der Zukunft unsers Herrn in das Fleisch. Was ist also dann alle unsre gemeinsame Andacht als ein Zeugniß, welches wir ablegen wollen von dem Heil, welches allen Menschen geworden ist aber auch nur werden konnte durch den, den Gott zum Herrn und Christ gemacht hat. Wenn wir also ganz besonders in dieser Zeit uns dieses Berufs erfreuen und ihn ausüben, ein Zeugniß abzulegen von dem Herrn: so muß es uns dabei eine besonders wichtige Betrachtung sein zu wissen, wie menschliches Zeugniß von ihm muß beschaffen sein. Zu dieser Betrachtung leitet uns unser heutiges Sonntagsevangelium, und wir wollen sie nach Anleitung desselben mit ein|ander anstellen, und dazu Gott um seinen Segen bitten in einem stillen Gebet des Herrn, wenn wir zuvor werden gesungen haben aus dem angefangenen hundert und ein und neunzigsten Liede den siebenten Vers, welcher also anfängt „wer hofft in Gott und dem vertraut –“ pp. Tex t. Johann. I, 19–28. Und dies ist das Zeugniß Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten: wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte: ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn: was dann? bist du Elias? Er sprach: ich bin es nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete: nein. Da sprachen sie zu ihm: was bist du dann? daß wir Antwort geben denen die uns gesandt haben; was sagst du von dir selbst? Er sprach: ich bin eine Stimme eines Rufers in 25 dem] wer 8–10 Vgl. 1Kor 11,26 24–26 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 191: „Durch Adams Fall ist ganz verderbt“ (Melodie von „Was mein Gott will, gescheh allzeit“); Vers 7: „Wer hofft in Gott und dem vertraut, / wird nimmermehr zu schanden: / denn wer auf diesen Felsen baut, / ob ihm gleich stößt zu händen / viel Unfalls wie, / hab ich doch nie / den Menschen sehen fallen, / der sich verläßt / auf Gottes Trost; / er hilft sein’n Gläub’gen allen.“

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der Wüste „richtet den Weg des Herrn“, wie der Prophet Jesaias gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, und fragten ihn und sprachen zu ihm: warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias noch ein Prophet? Johannes antwortete ihnen und sprach: | ich taufe mit Wasser, aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet; der ist es, der nach mir kommen wird welcher vor mir gewesen ist, des ich nicht werth bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu Bethabara jenseit des Jordans, da Johannes taufte. Hier meine andächtigen Freunde giebt uns der Apostel eine Erzählung von dem ersten Zeugniß, welches überhaupt seitdem der Herr aufgetreten war unter seinem Volke von ihm abgelegt ward. Denn das war das Zeugniß des Johannes, der dazu gekommen war, von demjenigen zu zeugen, der da kommen sollte. Wie nun eben dies seine eigenthümliche Bestimmung war, zu der er von Gott ausgerüstet wurde: so können wir wohl mit Recht sein Zeugniß von dem Erlöser als ein Vorbild dessen ansehen, welches auch wir ablegen sollen; und es wird nur darauf ankommen, daß wir das Wichtigste und Bedeutendste in diesem Zeugniß des Johannes ins Auge fassen. Es wird aber m. g. F. dies vorzüglich auf zweierlei hinauskommen: wir werden durch diese Erzählung | belehrt zuerst, daß menschliches Zeugniß von dem Erlöser desto wirksamer ist, je weniger derjenige der es ablegt von sich selbst hält; dann aber auch zweitens, daß bei dem rechten und wirksamen Zeugniß von dem Erlöser wir vorzüglich auf dasjenige zu sehen haben, was von demselben noch geschehen soll. Auf diese beiden Punkte laßt uns nach Anleitung unsers Evangeliums unsre andächtige Aufmerksamkeit mit einander richten. I. Was nun das Erste betrifft, daß menschliches Zeugniß von dem Erlöser desto wirksamer ist, je weniger derjenige der es ablegt von sich selbst hält, das ist wohl aus der Erzählung unsers Textes deutlich genug; denn das lehrt uns die Geschichte, daß das Zeugniß des Johannes von einer großen Kraft und Wirksamkeit war. Einmal werden wir belehrt, wie der Herr seinen ersten und liebsten Jünger gleichsam aus den Händen des Johannes erhielt; und dann finden wir in der Erzählung des Evangelisten überhaupt eine Menge Beweise davon, wie kräftig durch Johannes die Aufmerksamkeit des Volks auf den Erlöser gerichtet ward. Ja als er einst in eben | diese Gegend kam, wo Johannes am längsten sich aufhielt während er taufte, und wo er auch dieses Zeugniß abgelegt hat: da sagten die Menschen jener Gegend von 7 des] das

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32–33 Vgl. Joh 1,35–37

38–2 Vgl. Joh 10,41

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ihm: Johannes hat keine Wunder gethan wie dieser, aber alles was er von diesem gesagt hat das ist wahr. Daß aber nun das Zeugniß des Johannes diese Eigenschaft gehabt hat und sich in demselben deutlich ausdrückte, wie wenig er von sich selbst hielt; das ist uns allen auch gewiß deutlich, sobald wir seine Äußerungen mit den Äußerungen des Erlösers selbst vergleichen. Das Erste nun in seinem Bekenntniß, daß er nämlich bekannte und nicht leugnete, sondern grade heraus sagte, er sei nicht Christus, das freilich versteht sich von selbst. Er wußte es, daß er nicht derjenige sei, der das Heil der Menschen bewirken konnte; und das ist für uns alle ebenfalls der erste Grund unsers gemeinsamen christlichen Bewußtseins. Wie viel einer auch von sich selbst halten möchte mit Recht oder mit Unrecht, das weiß doch jeder und bezeugt es, daß das Heil nicht von ihm ausgeht, sondern er selbst es empfangen hat durch die göttliche Gnade; und alle Apostel | des Herrn, alle Zeugen der Wahrheit von dem ersten Anfang seines Reiches an auf Erden haben darin übereingestimmt. Aber als nun diejenigen, die gesandt waren, den Johannes fragten, bist du Elias? von welchem eine herrschende Meinung war, daß er wieder erscheinen und vor dem Erlöser der Welt hergehen werde; und als sie ihn fragten, bist du ein Prophet? und er beides verneinte: so sehen wir hieraus, daß er in der That auch das nicht von sich hielt, was er wohl hätte veranlaßt sein können von sich zu halten, und was der Erlöser selbst von ihm hielt. Denn der Erlöser sagt es an einem Ort als er von ihm redet: „wenn ihr es wollt annehmen, dieser ist Elias, der da soll zukünftig sein“; und eben so gab der Erlöser ihm selbst das Zeugniß, er sei der größte unter den Propheten oder mehr als ein Prophet. Er selbst aber leugnete, eben beides; und als er gefragt ward, bist du Elias? so sagte er nein; und als sie weiter fragten, bist du ein Prophet? so sagte er ebenfalls nein. Und für was er sich ausgab? Nichts weiter als daß er sagt: Ich bin die Stimme eines Predigers in der Wüste und rufe den Menschen zu, bereitet den Weg des Herrn, wie der Prophet Jesaias gesagt hat. Nicht also für einen Propheten | hielt er sich sondern für denjenigen, der den alten Propheten des Herrn nachspräche und ihre Worte näher auf das anwendete was zum Heil der Menschen bevorstand. Wenn nun aber jemand sagen wollte, wie könnte denn wohl dies zu der richtigen Beschaffenheit unsers Zeugnisses von Christo gehören; daß wir selbst weniger von uns halten als das was der Wahrheit gemäß ist, wenn doch der Herr, der die Wahrheit selbst ist, vom Johannes sagt, er sei mehr als ein Prophet, und von ihm auf das bestimmteste sagt, er sei eben der Elias, der da kommen sollte; wenn man in Verbindung hiemit sagen wollte, es gebe auch unter den Christen häufig, indem sie ein Zeugniß ablegen von der göttlichen Gnade, [der] sie durch Christum theilhaftig geworden sind, eine 5 mit den Äußerungen] Ergänzung aus Pred. Slg. 7, 1833, S. 27 (vgl. KGA III/2) 22–23.37–38 Mt 11,14

24–25.36–37 Vgl. Mt 11,9.11; Lk 7,26.28

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Meinung, in der sie weniger von sich hielten als der Wahrheit gemäß ist, aber eben diese weil sie nicht wahr sein könne sie auch unmöglich zu der richtigen Beschaffenheit unsers Zeugnisses von Christo gehöre; wenn einer der die Gnade Gottes in Christo erfahren hat, sich selbst immer noch gleich stellt den Verworfensten unter den Sündern, so scheint es uns eben so unwahr | zu sein als wenn Johannes von sich bezeugt, er sei weder Elias noch ein Prophet; aber man sollte meinen, daß das Eine eben so wenig als das Andre zu der Vollkommenheit unsers Zeugnisses von Christo beitragen könne; ja man könnte vielmehr ganz im Gegenteil sagen, es wäre wohl wahrscheinlich, daß das Zeugniß des Johannes von dem Erlöser noch wirksamer gewesen sein würde, wenn er beide Fragen bejaht hätte und von sich selbst gesagt: ja ich bin der Elias, der da kommen soll; und eben so von sich selbst gesagt hätte „ja ich bin ein Prophet“; so wie er nur dabei standhaft geblieben wäre, daß er nicht Christus sei, oder nicht von sich selbst gezeugt hätte, sondern von demjenigen, der damals schon unter dem Volke aufgetreten war: so hätte sein Zeugniß um so mehr Gewicht haben müssen, als man auf ihn hielt; indem er eben gefragt wurde, hatte er es in seiner Gewalt, den zu ihm gesandten Priestern und Leviten, welche ihn fragten, die richtige Meinung von sich beizubringen; und je mehr nun die Aufmerksamkeit des Volks auf ihn gerichtet war, desto mehr hätte er dadurch dem Herrn den Weg bereiten können. Und freilich m. g. F. wenn Johannes unwahr geredet hätte, indem er | sagte „ich bin nicht Elias; ich bin nicht ein Prophet“: so können wir nicht sagen, daß dies zu der Wirksamkeit seines Zeugnisses von dem Erlöser etwas hätte beitragen können; denn nur die Wahrheit ist es, die eine reine und unüberwindliche Kraft über die menschliche Seele ausübt. Eben deshalb aber ist es wichtig, daß wir uns darüber Auskunft geben, wie denn das was Johannes von sich selbst sagt, und was der Erlöser von ihm sagt, neben einander bestehe. Wenn der Erlöser sagt, Johannes sei der Elias, der da kommen sollte: so meint er damit, daß jene auf die Deutung dunkler Weissagungen gegründete Meinung in der Person des Johannes sei erfüllt worden. Wenn Johannes sagt, er sei nicht Elias; so meint er, daß er in sich selbst nicht fühle diejenigen Eigenschaften, welche die Geschichte jenem großen Propheten beilegt. Jenes war wahr im Munde des Erlösers; dieses war wahr im Munde des Johannes. Wenn der Herr sagt, Johannes sei der größte unter den Propheten, ja mehr als ein Prophet: so hat er Recht in sofern, als aller Propheten Bestimmung war, in dunklern oder deutlichern Bildern vorher zu sagen | ein reineres und geistigeres Heil, welches der Welt aufgehen werde durch den Sohn Gottes; keiner aber hat ihn so gesehen und stand ihm so nahe, wie ihm Johannes stand, und keiner konnte so unmittelbar gleichsam mit Fingern 3 gehöre] gehören 28–29 Vgl. Mt 11,14

35–36 Vgl. Mt 11,9; Lk 7,26

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auf ihn zeigen, wie Johannes es that bald nach der Erzählung unsres Textes, wo er Jesum wandeln sahe und sprach „siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“; und so war es wahr, wenn der Erlöser von Johannes sagt, er sei der größte unter den Propheten, weil keinem auf eine solche Weise war gegeben worden ihn den Menschen zu zeigen. Wenn Johannes von sich selbst sagt, er sei kein Prophet: so meint er dies so, daß er in sich selbst nicht finde alle die Merkmale, welche den Propheten des alten Bundes zukommen; denn das waren immer Männer tief eingreifend in das öffentliche Leben ihres Volks, und zu denen das Wort des Herrn geschah in Beziehung auf bedeutende Begebenheiten ihrer Zeit, um zu lehren und zu warnen, und den Erfolg vorhersagend die Entschließungen der Menschen zu leiten. Wahr also war jenes in dem Munde des Erlösers; wahr war dieses in dem Munde des Johannes. Und auf diese Weise | nun m. g. F. werden wir sehen, wie es sich mit dem verhält, was ich vorher gesagt habe, daß auch unser Zeugniß von dem Erlöser desto wirksamer sein werde, je weniger wir von uns selbst halten. Wie? sollen wir der Gnade Gottes, die sich an uns bewiesen hat, ihren verdienten Ruhm entziehen? sollen wir uns selbst für so wenig oder gar nichts halten, daß wir uns von denjenigen nicht unterscheiden, welche die Gnade Gottes erst erfahren müssen? sollen wir, wenn wir bei unserm Zeugniß von dem Erlöser gefragt werden, wer denn wir selbst sind und was wir von uns selbst sagen, sollen wir dann immer nur dasjenige in uns sehen, was wir sind und immer allein sein würden ohne den Erlöser und dasjenige was er uns gebracht hat? dann allerdings m. g. F. wäre unser Zeugniß unwahr, und als unwahr könnte es auch unmöglich die rechte lebendige und dauernde Wirksamkeit haben. Aber wenn wir nun ein Zeugniß von dem Erlöser ablegen, welches doch nichts anderes sein kann von der Gewalt, die ihm Gott gegeben hat im Himmel und auf Erden, nichts anderes als ein Zeugniß von der Herrlichkeit des | eingebornen Sohnes vom Vater, die wir in ihm erblicken, ein Zeugniß davon wie er der Abglanz ist des göttlichen Wesens, welches nichts ist als Liebe, die Liebe aber, die sich dadurch ausdrückt, wie er selbst sagt, daß er alle von der Erde zu sich hinaufzieht; wenn wir nun m. g. F. dieses Zeugniß von dem Erlöser ablegen, und wir werden dann von den Menschen gefragt, wie? seid ihr denn nun von der Erde durch ihn hinaufgezogen? und ist euer Wandel im Himmel? wie strahlt denn nun der Glanz, der sich von dem Sohne, in dem ihr die Herrlichkeit des Vaters schauet, verbreitet, strahlt er von euch selbst wieder? und seid ihr in seine Gestalt und in sein Ebenbild gekleidet? wenn wir so gefragt werden: was sollen wir sagen? Wie könnten wir dann m. g. F. anders antworten als mit den Worten jenes großen Apostels „ich halte nicht 2–3 Joh 1,29 4 Vgl. Mt 11,9; Lk 7,26 36 Vgl. Joh 1,14 31–32 Vgl. Joh 12,32

27–28 Vgl. Mt 28,18 39–3 Vgl. Phil 3,13–14

28–29.35–

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von mir selbst, daß ich es schon ergriffen habe, aber ich jage ihm nach und strecke mich nach dem Kleinod der göttlichen Berufungen in Christo Jesu, welches uns allen vorbehalten ist.“ Wohl möchte man sagen, unser Zeugniß würde wirksamer sein, wenn wir mehr von uns selbst halten könnten. Allein m. g. F. eben dies ist | es ja, daß wir von der Bahn der Wahrheit nicht weichen dürfen. So wenig wie es gut sein könnte und Gott gefällig, wenn wir unser Auge verschließen wollten gegen die Gnade, die uns schon widerfahren ist, und Gott den Herrn nicht preisen für das was wir empfangen haben: so wäre es thörigt gehandelt, wenn wir, um unserm Zeugniß für den Erlöser ein größeres Gewicht zu geben, mehr von uns halten wollten und aussagen als unser innerstes Gefühl uns sagt. Wenn wir nun eben dies von uns sagen, daß wir es noch nicht ergriffen haben sondern ihm noch nachjagen; wenn wir gefragt werden in Beziehung auf uns selbst nach allen den einzelnen Zügen, die das Werk des Menschen Gottes ausmachen, der zu jedem guten Werk geschickt ist; könnten wir dann wohl anders als eben wie Johannes es that, wenn wir den Grund der Wahrheit von uns geben wollen könnten wir anders als eben wie er verneinen? Allein wie der Erlöser selbst dem Johannes ein bessres Zeugniß gab als das war, welches er von sich selbst auszusprechen vermochte, und zwar eben so wahr als das seinige, nur aus einem andern Gesichtspunkte, indem der Erlöser sein Zeugniß gab, wie er ihn betrachtete und ansah in dem ganzen Zusammenhang der göttlichen Fügungen: so dürfen wir nicht fürchten, daß wenn wir von uns selbst das Zeugniß ablegen, | welches nach unserm Gefühl das wahre ist, wir dadurch dem Zeugniß von dem Erlöser schaden würden. Denn es giebt ein anderes Zeugniß, welches abgelegt wird von Christen, so sie aber von sich selbst nicht ablegen können. Denn sie können nur ablegen, wie sie sich selbst erscheinen, wenn sie in ihr Innerstes sehen. Aber es legt ein Zeugniß von ihnen ab nicht der Erlöser der nicht mehr leiblich unter ihnen ist, aber doch was jetzt des Erlösers Stelle vertritt nähmlich die Gemeinschaft der Christen selbst. Wenn diejenigen die es bedürfen, daß ihnen ein Zeugniß von Christo abgelegt werde, nachdem sie von uns selbst erkundet haben, was wir von uns halten, und wir immer nur von uns abgelegt haben das Zeugniß eines demüthigen Herzens und eines zerknirschten Gewissens, sie sehen aber dann von uns hinweg auf das ganze Leben der christlichen Kirche und auf den ganzen Zusammenhang des Heils, welches der Erlöser schon auf Erden hervorgebracht hat: dann finden sie das Zeugniß, welches dem gleicht, das der Erlöser selbst von Johannes ablegt, und dann werden sie eingestehen müssen, wenn sie die Augen ihres Geistes öffnen, daß der Kleinste im Reiche Gottes, wie wenig er auch von sich selbst halten kann 17 verneinen?] verneinen. 12–13 Vgl. Phil 3,12

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14–15 Vgl. 2Tim 3,17

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und mit Grund der Wahrheit hält, mehr sei als jeder aus einer andern | noch so herrlichen Ordnung menschlicher Dinge.

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II. Damit nun steht aber in der genausten Verbindung das, was ich als den zweiten Theil unsrer Betrachtung ausgezeichnet habe, nämlich daß auch wir wie Johannes unser Zeugniß von Christo vorzüglich auf dasjenige richten müssen, was von ihm nicht schon geschehen ist, sondern erst geschehen soll. Denn so war das Zeugniß des Johannes beschaffen, er sagt von dem Erlöser: „Es ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Ich taufe mit Wasser; er aber – denn so ergänzt eine andre Stelle der Schrift die Worte unsers Textes – wird euch mit Feuer taufen. Ich bin die Stimme des Predigers in der Wüste, den Weg des Herrn zu bereiten; der aber nach mir kommt ist schon vor mir gewesen; wenn ihr ihn erkennen werdet wie er ist, werde ich auch im Vergleich mit ihm nicht anders erscheinen als so.“ Johannes hätte sich wahrscheinlich auch mit seinem Zeugniß berufen können auf dasjenige, was mit dem Erlöser schon geschehen war. Denn zuerst war er wohl nicht unwissend mit den persönlichen Verhältnissen unsers Erlösers. Wenn seine Mutter uns beschrieben wird als eine vertraute Freundinn und Verwandte der Mutter Jesu; und wenn er im | Stande war von ihm zu zeugen, daß Gott bei seiner Taufe ihm bekannt gemacht hätte, dieser sei es, von welchem er verkündigte: so wird er wohl desto weiter und tiefer zurückgezogen sein in der Geschichte des Erlösers; und nicht unbekannt werden ihm gewesen sein die früheren Zeichen, welche die erste Erscheinung desselben begleiteten. Aber weder auf jenes Frühere, wenn er damit bekannt gewesen ist, noch auf dies was ihm selbst begegnet war, beruft er sich indem er sein Zeugniß ablegt, sondern auf das, was sich in Zukunft noch von dem Erlöser entwickeln werde, wie er werde diejenigen die es vernehmen möchten, mit dem Feuer des göttlichen Geistes taufen, wie er sich beweisen werde als denjenigen, dem kein andrer Lehrer werth sei die Dienste des geringsten Schülers zu leisten. Damals nun m. g. F. war das Leben des Erlösers noch verborgen gewesen; alle die Zeichen die seine erste Erscheinung begleitet hatten, waren nur zur Kunde weniger Menschen gekommen und stellten noch nichts Öffentliches und Zusammenhän|gendes dar. Darum weil nun Johannes Christum bekannt machen sollte als den, der das Reich Gottes stiften werde, von welchem er immer bezeugte, es sei nahe herbeigekommen: so konnte er nicht anders als auf das Zukünftige die Aufmerksamkeit der Menschen hinrichten. Sollte er aber darin uns ein 25 noch] nach 10–11 Vgl. Mt 3,11; Lk 3,16 35–36 Vgl. Mt 3,2

18–19 Vgl. Lk 1,36.39–45.56

20–21 Vgl. Joh 1,33

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Vorbild sein können? möchte man sagen; sollten wir nicht vielmehr gewiesen sein an dasjenige, was uns von einem andern Jünger erzählt wird, daß auch wir, wenn wir das Zeugniß ablegen und den Menschen sagen, wir hätten den gefunden, in dessen Namen allen Menschen Heil gegeben ist, und sie uns nicht glauben wollen es sei Jesus von Nazareth, daß wir ihnen dann sagen können „kommt und sehet“, und wir ihn nicht persönlich zeigen können, aber doch in dem was er in der Welt hervorgebracht hat. Denn der Erfolg ist es doch, an welchem sich am meisten die Menschen halten; und wenn man etwas Ungewöhnliches von ihnen fordert oder etwas Neues vorhält, so findet man am meisten Glauben, wenn | man es ihnen giebt gleichsam mit Händen zu greifen. Nun ist aber nicht zu leugnen, daß schon lebendige und herrliche Offenbarungen vorhanden sind von dem was Christus in den Menschen wohnend ist. Und doch sollten wir dem Johannes darin gleichen, daß wir unser Zeugniß darnach einrichten, was von Christo geschehen soll? Nicht anders m. g. F.; und wenn wir es genauer betrachten, so finden wir, daß auch die Jünger des Herrn schon dieser Regel gefolgt sind. Sie die ihn mit Augen gesehen haben als er auf Erden im Fleische wandelte, und bekannt und bezeugt, er sei der Sohn des lebendigen Gottes; sie die da wußten, daß sie Worte des Lebens von ihm empfangen hatten, die in ihnen selbst Geist und Leben geworden waren; sie die den ersten Grund der christlichen Kirche gelegt, und die, welche durch ihr Wort gläubig geworden waren, gesammelt haben zu einer Gemeine, nämlich dem Leib des Herrn, der von ihm selbst dem Haupte von oben herab regiert wird: was finden wir doch häufiger in allen ihren Reden und Schriften, als daß sie die Menschen, welchen sie ihr Zeugniß | ablegen von dem der da gekommen ist, darauf hinweisen, daß er wiederkommen werde mit den Engeln des Himmels, daß er wiederkommen werde als derjenige, dem Gott übergeben habe das Gericht über die Welt, als derjenige, der alle Menschen versammeln werde aus allen Enden der Welt, und daß dann die Gemeine von ihm werde dargestellt werden seinem himmlischen Vater ohne Flecken und ohne Tadel. So sehen wir, wie auch die Apostel des Herrn, um die Herzen der Menschen recht tief zu treffen, sich nicht auf das beriefen was schon geschehen ist durch ihn, sondern was noch geschehen wird. Und m. g. F. wie genau hängt dies nicht zusammen mit dem, wovon wir uns schon im vorhergehenden überzeugt haben, daß unser Zeugniß, wenn es so wirksam sein soll, wie die Wahrheit wirksam ist, um so wirksamer sein wird, je weniger wir von uns selbst halten. Wie Johannes von sich selbst sagt: „ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, der mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen wird“: so m. g. F., wie herrlich auch 18 wandelte,] wandelte,“ 2–6 Vgl. Joh 1,45–46

18–20 Vgl. Joh 6,63.68–69

26–29 Vgl. Mt 25,31–33

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dasjenige war, das durch die göttliche Gnade aus|gerichtet wurde in dem Dienste der Apostel, wie sie es gewiß nicht leugnen konnten, daß der göttliche Geist durch sie wirkend und von ihnen ausgehend sich schon über eine große Menge von Menschen ergossen hatte, wie sie es nicht leugnen konnten, die Gemeine welche sie gesammelt hatten sei wirklich der Leib des Herrn ihm ähnlich in allen wesentlichen Zügen – demohnerachtet erschien auch ihnen ihr Werk, wenn sie es gleich nicht als ihr eigenes ansahen, sondern als Werk des göttlichen Geistes, der in schwachen Werkzeugen mächtig war, wie Johannes von sich sagt „ich taufe mit Wasser“, es erschien ihnen wie Wasser gegen Feuer, wie das Irdische gegen das Himmlische, das Unvollkommne gegen das Vollendete; und wenn sie ein Zeugniß ablegen sollten von dem Erlöser, so war es ihnen nicht möglich stehen zu bleiben bei dem was schon da war, sondern wie sie selbst mit unermüdlichem Eifer vergessend was da hinten ist sich streckend nach dem was vor ihnen lag, so auch wenn sie ein Zeugniß ablegen | sollten von dem Erlöser vergaßen sie was schon da war, achteten gering das schon Erschienene und hatten nur im Auge das große herrliche fleckenlose Reich Gottes, das in seiner ganzen Vollendung seine Herrlichkeit sein werde; und nur als einen solchen wollten sie ihn den Menschen verkündigen, sie mehr ablenkend als hinweisend auf das was schon geschehen war. Wenn m. g. F. dies auf der einen Seite allerdings seinen Grund hatte in dem was der Erlöser ihnen vorhergesagt über die Zukunft: so war es doch auf der andern Seite zugleich gegründet eben in jenem demüthigen Zeugniß, welches sie der Wahrheit gemäß von sich selbst ablegten, indem sie Zeugniß von dem Erlöser gaben. Wie nun der Glaube auch uns vorhält das reine und unbefleckte Kleinod der himmlischen Berufung in Christo, und auch wir wissen, daß noch nicht erschienen ist, was wir sein werden, sondern daß die rechte Herrlichkeit der Kinder Gottes noch bevorsteht: so haben wir auch eben so mit ihnen gemein jenen andern Grund hiezu, der in dem liegt, was wir von uns selbst zu halten veran|laßt sein mögen. Denn m. g. F. wenn wir mit unserm Zeugniß von Christo die Menschen nur auf dasjenige hinweisen wollten was schon da ist, und sie gingen nun und fragten die einzelnen Menschen, von denen wir ihnen sagen, sie sind Mitglieder des Reichs Christi und gehören zu seiner Gemeine: was haltet ihr von euch selbst? und nun jeder von sich das wahre Zeugniß ablegte ähnlich dem des Johannes von sich selbst: worauf sollte dann ihr Glaube ruhen? Freilich ganz können wir nicht mehr, wenn wir von Christo zeugen, sagen was Johannes von sich selbst sagte, daß wir sind die Stimme eines Predigers in der Wüste. Denn in der Wüste leben wir nicht; wo das Wort Gottes ist, wo der unerschöpfliche Born des 17 große] goße 24–26 Vgl. Phil 3,14

26–27 Vgl. 1Joh 3,2

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ewigen Lebens quillt, da hat die Wüste aufgehört da ist das reiche Feld des göttlichen Geistes, da ist der Baum des Lebens, dessen Früchte zeigen was das Wort Gottes in dem Herzen der Menschen gewirkt hat. Aber wir wissen wohl, wie unvollkommen das irdische Reich Gottes noch ist; und wenn wir wollen daß die Menschen den Erlöser schauen sollen in seiner Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes | vom Vater, dürfen wir sagen, daß sich diese zeige in dem, was die Gemeine des Herrn jetzt schon ist? dürfen wir sagen daß sie jetzt schon würdig ist ihrer Abkunft von ihm, und daß man ihr ansehe, um eine solche zu sein mußte der welcher sie gestiftet hat nichts Geringeres sein als der Abglanz des göttlichen Wesens, der eingeborne Sohn vom Vater, das Fleisch gewordene Wort Gottes? Nein m. g. F. das fühlen wir, daß wir ihm so bei weitem nicht genug Ehre erweisen würden, und daß so die Menschen den rechten Eindruck von seiner Herrlichkeit nicht erhalten würden. Darum müssen wir wie Johannes und die Apostel die Menschen auf dasjenige hinweisen, was kommen wird, mit der Begeisterung, die der Glaube uns eingiebt. So wie wir jeder für sich selbst gern vergessen was da hinten ist: so auch sollen und dürfen wir mit der Gewißheit und Zuversicht, die dem Glauben eigens, den Menschen sagen, was sie jetzt erblicken von dem Werke des Herrn sei noch unvollkommen und gering, aber in ihm, ohne den auch dies nicht würde aufgegangen sein, liege die Kraft, das noch viel Herrlichere hervorzubringen, was wir erwarten wenn er kommt. Darum m. g. F. | ist auch diese Zeit, wo wir uns der Zukunft des Herrn in das Fleisch erfreuen, zugleich die Erinnerungszeit an jene herrliche Weissagung der Schrift und an jene Worte der Jünger, welche reden von der Zukunft, die da bevorsteht; und jedes Jahr der christlichen Kirche, welches beginnt, ist ein Übergang von dem Einen zum Andern, in jedem soll sie zunehmen an Ähnlichkeit mit dem dessen Züge sich in ihr darstellen, in jedem soll er sich immer mehr und mehr in ihr verklären; und wie dies vom Ganzen gilt, so gilt es auch von jedem Theil. Aber was der Herr ist und vermag, das schaut sich nicht in dem, was das menschliche Auge schon hier an der Gemeine des Herrn wahrnehmen kann; sondern wie jeder es nur in sich selbst finden kann, nicht in dem was ihm vor Augen liegt, nicht in der Reinheit und Wahrheit seiner Gedanken, nicht in Tüchtigkeit und Dauerhaftigkeit seiner Werke, sondern nur in dem innersten Grunde, in welchem das Herz durch den göttlichen Geist vertreten wird vor Gott mit unausgesprochenen Seufzen, in dem innersten | Grunde, aus welchem hervorgeht nicht was wir selbst sind und schon in uns finden auch abgesehen von unsrer Gemeinschaft mit dem Erlöser, sondern wie wir sind mit aller Kreatur, die sich seufzend sehnt nach Erlösung, und was wir haben von der Herrlichkeit der Kinder Gottes, die wir zwar jetzt noch nicht schauen, von der wir aber wissen, daß der Grund dazu in allen ist, die da glauben an den 5–6.10–11 Vgl. Joh 1,14

35–36 Vgl. Röm 8,26

38–40 Vgl. Röm 8,21–22

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Namen des Sohnes Gottes; wie wir unser Zeugniß von unserm Verhältniß zum Erlöser nicht haben in dem was wir sind, sondern was wir werden sollen, wovon wir noch nicht die Erfüllung sondern nur den Grund, die Unvergänglichkeit unsers Zusammenhanges mit ihm finden: so ist das rechte Zeugniß von ihm, welches wir vor der Welt ablegen sollen, nur von dem was sein wird, das heißt also m. g. F. wenn wir ein Zeugniß ablegen wollen von dem Erlöser, was wahr ist und die rechte Wirkung hervorbringen soll: so müssen wir jeder für sich und alle insgesammt keinen Augenblick stehen bleiben bei dem was wir | sind, sondern immer nur von dem Zukünftigen reden, und jeden Augenblick bei dem Mangel des Gegenwärtigen uns trösten mit der Hoffnung des Zukünftigen, wozu wir eben deswegen Zuversicht haben, weil in uns der Erlöser sein kann. Und darum ist das herrlichste Zeugniß, welches wir von dem Erlöser ablegen können, kein anderes als dies, daß er in allen, die an ihn glauben, das unaustilgbare Verlangen entzündet, mit nichts zufrieden zu sein was der Geist schon in ihnen hervorgebracht hat, sondern immer weiter zu streben und nie zu glauben, daß sie schon vollkommen sind. Das ist das beste und herrlichste Zeugniß, welches wir von dem Erlöser ablegen können; und das bewährt sich dadurch, daß er die Seinigen führt von einer Klarheit und Vollkommenheit zu der andern, und in uns die Hoffnung befestigt, daß wenn es erscheinen wird wir ihm gleich sein werden so sehr als der Mensch, der nicht ohne Sünde ist, es vermag, weil wir ihn sehen und erkennen werden wie er ist. Amen.

22 ist,] ist – 20–23 Vgl. 1Joh 3,2

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Am 25. Dezember 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,13–14 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 123r–132r; Gemberg Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 103, S. 128–152; Gemberg, in: Andrae (im Detail stark bearbeitet) Nachschrift; SN 607/2, Bl. 1r–3r; Saunier Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Vormittags-Predigt am ersten Weihnachtsfest in der Dreifaltigkeits-Kirche gehalten von Fr. Schleiermacher. Berlin im Christmond 22.

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Nachgeschrieben von Aug. Gemberg. | 124r

Am ersten Weihnachtstage 1822. Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi u. s. w. Die Worte der heiligen Schrift, die wir zum Grund unserer Betrachtung legen wollen, lesen wir im Evangelium des Lukas, wo sie im 2. Kap., im 13. und 14. Vers also lauten:

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Und alsobald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerschaaren, die lobten Gott, und sprachen: „Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen.“

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M. and. Fr., sehr oft in unsern gemeinsamen Betrachtungen des göttlichen Worts müssen wir aufmerksam werden auf die große Verschiedenheit der Ansichten und Meinungen der Christen über vieles, was nichts weniger als unwesentlich erscheint für den christlichen Glauben. Ganz besonders aber führen uns darauf fast jedesmal mittelbar oder unmittelbar unsre Betrach-

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tungen in der Adventzeit, weil wir uns da, um uns zur Feier der Geburt des Herrn desto stärker und inniger aufzumuntern, alles vorhalten, was wir demselben zu verdanken haben, um uns mit dem Gefühl seiner großen, über alles erhabenen Würde zu sättigen. Denn auch diese schon ist es, worüber es von jeher unter den Christen große Verschiedenheiten der Meinungen gegeben. Ueberall aber, m. g. F., hat die Freude unter den Menschen eine große vereinigende Kraft; wie sehr | sie auch von einander abgewichen, und was immer sie gegeneinander haben mögen in ihren Herzen, es ist das erste reinere Kennzeichen einer großen Freude, wenn im Augenblick derselben das alles verschwindet, und sie das gemeinsame Gefühl so übers Streitige erhebt. So das heutige Fest, das vorzüglich ein Fest der Freude ist in der ganzen Christenheit, da sollen wir, von einem gemeinsamen Gefühl beseelt, alles fahren lassen, was uns unter einander trennt und veruneinigt, da sollen alle Herzen sich eins fühlen, wie verschieden sie auch zu andern Zeiten über dieses Eine sich ausdrücken, jeder es auf seine Weise gestalten möge. Dazu giebt es keine schönere Veranlassung, als die in den verlesenen Worten unsers Textes liegt; denn darin müssen alle übereinstimmen, welche den Namen Christi nennen, und denen er wahrhaft ein Herr ist, daß das wahr ist, was die himmlischen Heerschaaren lobend verkündigen, daß nämlich von seiner Erscheinung auf Erden an die Ehre des Gottes in der Höhe, welche unter dem menschlichen Geschlecht verdunkelt war, wiederhergestellt, und daß durch seine Erscheinung der Friede unter dem mit sich selbst und mit dem Höchsten veruneinigten Menschengeschlecht hergestellt worden ist. So laßt uns denn, g. F., über dieses Lob | des Herrn, das die himmlischen Heerschaaren zuerst verkündigt, [das] die Geschichte der Christenheit bestätigt hat bis auf diese Zeiten, das die theuerste und seligste Erfahrung jedes Herzens ausdrückt, darüber laßt uns itzt nicht sowohl nachdenken, denn es ist nur das allbekannte, was sich in unsere Herzen gemeinschaftlich ergießt; es hat aber dieser Lobgesang der Heerschaaren seinem Wesen nach jene beiden Haupttheile, die ich schon ausgezeichnet, er weist hin auf die Ehre, die dem Gott in der Höhe gebührt, und den Frieden, der auf Erden herrschen soll, auf den Erlöser aber, als den Urheber von beiden: nur in der Ehre, die Gott gebracht wird, und im Frieden auf Erden ist das wahre Wohlgefallen für die Menschen möglich. I. Daß nun zuerst die Ehre Gottes in der Höhe unter dem menschlichen Geschlecht erst durch den Erlöser ist aufgerichtet worden, über diesen ersten Theil des himmlischen Lobgesangs giebt uns die bestimmte Erklärung der Anfang des Briefes Pauli an die Christen zu Rom. Da sucht er zu zeigen, wie 37–2 Vgl. Röm 3,23

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vor der Erscheinung des Herrn Juden und Heiden, d. h. das ganze menschliche Geschlecht des Ruhmes ermangle, den sie bei Gott haben sollten, aber einen höhern eigentlichen Ruhm des Menschen bei Gott giebts | nicht, als daß er Gott die Ehre giebt, seine Herrlichkeit ausspricht und verkündigt. Da nämlich sagt der Apostel zuerst von den Heiden, wie allerdings Gott auch ihnen sich nicht habe unbezeugt gelassen, wie auch sie wissen konnten, indem sie sie an den Werken der Schöpfung wahrnehmen, seine ewige göttliche Macht und Herrlichkeit, aber diese den Menschen angeborne Wahrheit hätten sie aufgehalten in Ungerechtigkeit, hätten die Herrlichkeit des einigen Gottes verunstaltet zu Bildnissen vergänglicher Wesen, wären so, anstatt Gott die Ehre zu geben, ihn zu erkennen und zu preisen, wie sie gekonnt und gesollt, versunken in den Dienst nichtiger Vorstellungen und eitlen Wahns, wie alle Gestaltungen der Abgötterei und des Götzendienstes denselben darstellen. Von den Juden sagt er, sie hätten allerdings auf richtigere Weise den einigen Gott erkannt, und ihr Vorzug bestehe darin, daß dessen Aussprüche und Offenbarungen ihnen wären anvertraut gewesen. Allein indem sie ein Gesetz Gottes gehabt, hätten sie sich demselben nicht gemäß verhalten und es nicht erfüllt, indem sie selbst in Finsterniß versunken, hätten sie sich in leerer eitler Anmaßung aufgeworfen zu Richtern über andere: und wenn sie doch nicht fassen konnten oder wollten, daß nur kindlicher Glaube und inniges Vertrauen zu Gott den Men|schen in eine lebendige Verbindung mit ihm setzen könne, worin sie begriffen den Zweck des ihnen gegebenen Gesetzes, wenn sie durch äußre Handlungen und Erfüllung äußerlicher Gebräuche geglaubt, gerecht zu werden vor Gott, wenn sie diesen Gott doch als ihren Gott gegenüberstehend den leeren Götzen der anderen Völker geglaubt und daß diese nichtig seien, jener allein mächtig über die ganze Welt, aber durch Vorliebe oder Kraft eines gegebenen Versprechens mit den Erweisungen seiner Güte nur an sie gebunden, und alle andre Theile des Menschengeschlechts nur segnend in ihnen und um ihretwillen, wie weit waren sie entfernt, dem Gott in der Höhe, der sich ihnen so laut bezeugt, die Ehre zu geben, die ihm gebührt. Aber freilich unter beiden, Juden und Heiden, gab es auch vor Christo einzelne Menschen auf vorzügliche Weise von Gott begabt, in denen sich einzelne Strahlen des Lichtes verkündigten, das auf der ganzen Erde zu ermangeln schien. Es waren unter dem jüdischen Volk die Propheten des Herrn, an welche die Stimme Gottes erging, daß sie reden sollten zu ihrem Volke. Diese suchten das Volk zurückzuführen zur reineren Erkenntniß des lebendigen Gottes, wiesen von den eitlen Opfern und Gebräuchen hin zum Dienst des Herzens, schalten, daß sie nur mit Lippen und Händen | Gott verehrten, ihr uneins Herz fern von ihm sei. Ja nicht nur dieses, es lebte auch dunkler 4–14 Vgl. Röm 1,18–25 39–40 Vgl. Jes 29,13

14–16 Vgl. Röm 3,1–2

17–20 Vgl. Röm 2,17–23

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oder deutlicher in ihrer Brust, vom göttlichen Geist geweckt, die Ahnung eines höhern allgemeinen Friedens, und zurückgehend auf die ersten und ursprünglichen göttlichen Verheißungen wiesen sie hin bis auf Johannes und auf den, der kommen sollte, der Welt zum Heil. Unter allen heidnischen Völkern gab es nach Maaßgabe der Ausbildung ihres Geistes, zu der sie in verschiedenen Graden gelangt waren, fast in allen, in welchen nicht noch alle höhere Geisteskräfte schlummerten, einzelne Männer, ausgezeichnet durch Weisheit, die die im Herzen der Menschen und in ihrem Verstand verunstaltete Wahrheit von der ewigen Kraft des göttlichen Wesens erkannten, und es den Menschen deutlich zu machen suchten, daß alles andere, dem sie Verehrung widmeten, nur dunkle Bilder wären von dem Einen, der sie wahrhaft verdiente. Nothwendig waren auch gewiß diese zerstreuten Mahnungen an das, was verloren war, und was kommen sollte in allen Theilen der Erde, sie sind zerstreute Glieder der Einen Stimme, die unmittelbar vor dem Herrn herging: „bereitet dem Herrn den Weg.“ Was Johannes laut sprach, hergehend unmittelbar vor dem, der schon unter sein Volk getreten, das deuteten alle diese, jeder nach seinem Maaße, auf verborgene | und dunkle Weise an. Aber, m. g. F., was Gottes Ehre fördern soll, das muß nicht nur wahr sein, sondern auch die Spur von der alles beherrschenden Kraft des Höchsten an sich tragen. Wahrheit war in allen diesen Offenbarungen Gottes unter allen Völkern, aber wie unkräftig war sie? deswegen wie wenig können wir sagen, daß dadurch dem Gott in der Höhe seine Ehre geworden wäre unter dem menschlichen Geschlecht? Wie klagten jene Propheten des jüdischen Volks: wer glaubt unsrer Predigt? Wie wenige Einzelne vermochten dem Wesen andrer Völker das Innerste des Gemüths aufzuschließen? Wie bald erlosch der nie recht gepflegte Funke, so daß die alte Finsterniß blieb? In diesen unkräftigen Bestrebungen ist nicht die Ehre Gottes. Aber, wie ganz anders, seitdem der Erlöser in der Welt erschienen war! Er, m. g. Fr., welcher, wenngleich nicht in so niederwerfenden und beugenden Worten den Menschen den bloßen Dienst der Lippen und Hände verweist, doch mit einer Wahrheit und Kraft, welche bis dahin nicht erhört worden, die Menschen erleuchtete zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, aber so kräftig voraussagend das nahende Ende jeder andern unvollkommnen Verehrung des Höchsten; er, welcher die Fülle des göttlichen Wesens so in sich trug, daß er sagen konnte, der Vater zeige ihm alle seine Werke, welcher mit solcher Kraft seinen | Beruf erfüllte, daß er sich rühmen konnte, eben dieses alles, was ihm sein Vater offenbart, den Menschen kundgemacht zu haben, er der ihnen das höchste Wesen zuerst darstellte als das, welches nicht fern wäre von einem jeglichen unter ihnen, sondern mit ihm 14–15 Vgl. Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4 (Zitat aus Jes 40,3) Joh 5,20 36–38 Vgl. Joh 15,15; 17,6

24 Jes 53,1

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zugleich alle Mühseligen und Beladenen einlade, sie zu erquicken, mit ihm wohnen wollte in ihren Herzen: wer so, m. g. F., die Menschen zu Gott zurückgeführt hat, und ihn einheimisch gemacht durch den Glauben in ihren Herzen, der allein hat die Ehre Gottes in der Höhe unter dem menschlichen Geschlecht begründet, und wie in der Erkenntniß Gottes, die er mitgetheilt, eine und welch eine andre befreiende erhebende Kraft, welch eine tiefere Wahrheit liegt, die sich das Zeugniß gibt, daß sie durch den Geist Gottes die Tiefen der Gottheit erforscht, aus diesen Tiefen genommen sei, eben so hat er diese Erkenntniß Gottes mit einer Kraft mitgetheilt und in die menschlichen Seelen eingepflanzt, daß sie durch nichts mehr konnte überwältigt werden. Gehn wir zurück, m. g. F., auf die Zeit, deren Gedächtniß wir in diesen Tagen feiern, wo der Erlöser der Welt als schwaches Menschenkind, in allem unsern Kindern ähnlich, Fleisch und Blut, wie sie, theilhaft geworden, wo er in die Welt eintrat, bedenken wir, was für Zeiten seitdem sich über das menschliche Geschlecht gewälzt, wie oft die Finsterniß des Heidenthums, | die Wuth des Aberglaubens sich herangedrängt hat gegen die Kirche Christi, sowohl zu den Zeiten, wo sie in ihrem ersten Entstehen als ein schwaches Häuflein von Gläubigen dastand, als späterhin, nachdem sie mehrere Völker erleuchtet, immer sehen wir, wie aus dem Krieg der dunklen Gewalt gegen das himmlische Licht dieses mit größerer Kraft hervorging, wie ein Theil der Widersacher ist überwunden worden von ihm und gesammelt unter die Fahne seines Kreuzes, und welche Hoffnungen liegen vor uns, seitdem in den letzten Jahrhunderten die Verbindung aller zerstreuten Theile des Menschengeschlechts solchen Zuwachs gewonnen, daß den christlichen Völkern kein Theil der Erde mehr unzugänglich, keine Gegend verborgen ist, wo menschliches Leben aufgeblüht, – wie hat das Licht des Evangeliums angefangen sich zu verbreiten? wie hat dieses Licht, das von Christo ausging, immer mehr die entferntesten Theile der Erde ergriffen? wie viel vom Wahn des Aberglaubens ist verschwunden, wie fest also seitdem die Ehre Gottes in der Höhe unter dem menschlichen Geschlechte gegründet worden? Aber hätte das geschehen können, wenn er nur gewesen wäre, wie unser einer, wenn er selbst nichts anders gewesen, als das höchste Glied in der abgebrochenen Reihe der Propheten, nichts als der Weiseste unter den Weisen? Nein, m. g. Fr., das fühlt jeder, der seinen Namen bekennt und sein Reich unter den Menschen anerkennt. Auf andre | Weise, als allen Menschen, mußte ihm die Erkenntniß Gottes eingeboren sein, er muß das Göttliche fühlen und besitzen [als] eins mit sich selbst, mußte von dem Höchsten eine frohe Erkenntniß in sich tragen, die an nichts zu unterscheiden war von seinem eignen Selbstbewußtsein, 27 verbreiten?] verbreiten,? 1 Vgl. Mt 11,28

1–2 Vgl. Joh 14,23

7–8 Vgl. 1Kor 2,10

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wie hätte er sonst sagen können, wovon wir so durchdrungen sind, wenn er erklärt, daß Niemand den Vater kenne, als der Sohn, und wem es der Sohn wolle offenbaren? O so sei uns auch heute willkommen, du Wunderbarer, der die Fülle des Göttlichen in sich wohnend trug, uns durch sie zu erquicken, mit ihr zu sättigen, sei uns aufs neue willkommen, ewige Kraft des göttlichen Wortes, ausgerüstet mit allem, was erforderlich war, um das menschliche Geschlecht wiederherzustellen zum Reiche Gottes, der durch dich in jeder menschlichen Brust wohnen will! II. Der zweite Theil im Lobgesang der himmlischen Heerschaaren führt darauf hin, daß durch den Erlöser zuerst Frieden auf Erden unter den Menschen ist hergestellt worden, und keine bessere Erklärung giebt es über diesen Theil unsers Textes, als die uns der Herr selbst gegeben in den Worten: „nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt, meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden lasse ich euch.“ Da sagte er selbst aufs deutlichste und bestimmteste, daß von ihm ein Frieden ausgehe, den die Welt bisher nicht gekannt. Von der einen Seite, m. g. F., ist uns das an sich selbst deutlich | aus dem, was wir bisher erwogen. Denn einmal ist ein göttlicher Funke in der menschlichen Seele. Als der Herr den Menschen schuf, hauchte er selbst dem irdischen Gemüth die vernünftige Seele ein, einen Ausfluß gleichsam seines ewigen Lebens, und so ist der Mensch bestimmt, Gott zu erkennen, weil Göttliches in ihm selbst ist. Wie sehr er auch diese Wahrheit aufhalte in Ungerechtigkeit, wie dies der Apostel bezeugt in der vorher angeführten Stelle, es läßt doch auch durch den tiefsten Verfall des Herzens, auch durch die tiefste Verdunklung des Verstandes diese Wahrheit sich nicht erlöschen; es bleibt, wenn sich der Mensch dem Wahn des Götzendienstes hingegeben, immer mehr in die Verkehrtheit seiner Lüste versenkt, es bleibt etwas in ihm unbefriedigt zurück, und läßt ihm selbst keinen Frieden. Der Mensch, in der Entfernung von Gott, kann dieses höchste Gut nicht genießen, beruhigt er sich und stellt sich zufrieden mit dem Geringern, so erkennen wir die größere Verstocktheit der Seele, aber unumstößlich ist unser Glaube: es muß auch Augenblicke geben, wo er unzufrieden ist mit sich selbst und mit diesem Zustand, und fühlt, daß ihm der Friede fehle, den die Welt ihm nicht geben kann. Und eben deswegen wenn der Mensch keinen Frieden mit Gott hat, wenn er noch nicht ausgesöhnt ist mit dem in seiner Natur, worin er den Beruf fühlt, Gott zu erkennen und ihm auf eigenthümliche Weise und | im höhern Sinne anzugehören, kann er keinen Frieden haben 32 auch] aus 2–3 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22 4 Vgl. Kol 2,9 Gen 2,7 22–24 Vgl. Röm 1,18

14–15 Joh 14,27

19–20 Vgl.

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mit sich selbst. Es giebt keine andre Einheit in der menschlichen Seele, als die ganze Richtung derselben auf Gott, auf den Einen, Ewigen, sich selber Gleichen, in dem alles Mannichfaltige eins wird, aber in dem es allein Eins sein kann. Ist dies aus der menschlichen Seele verschwunden, dieses verdunkelt, so hat sie die Einheit in sich selbst, also Ruhe und Frieden verloren. Alle menschliche Bestrebungen, wie natürlich, rein, gut an sich, d. h. als Ausfluß jener Einheit, auf Gott gerichtet als ihm angehörig, wie rein sie auch da sein mögen, abgesondert von dieser befehden und bekriegen sie sich, indem der verirrte Mensch die eine befriedigt, bleibt er hinter den Ansprüchen der andern zurück, und der Zwiespalt verschwindet nie aus seiner Seele. Es giebt einen Frieden, den der Mensch, so lange er nicht zur Erkenntniß Gottes und zur Uebereinstimmung mit Gott gekommen, sich nicht geben kann. Wollten wir auch, m. g. F., selbst nur beim äußerlichen geringeren stehen bleiben, wie stand es mit dem Frieden, den die Menschenkinder hatten vor der Erscheinung des Erlösers? Freilich dafür hat die Natur gesorgt, indem sie jeden in seiner äußern Erscheinung abhängig machte von andern, daß es keinem fehlen kann, eine kleine Anzahl von Menschen zu haben, mit denen er wünscht im Frieden zu leben, worin er seine Glückseligkeit findet, aber in wie enge Gränzen | war diese friedfertige Neigung der Menschen eingeschlossen, und wie wenig Verschiedenheit der Abstammung und der Sitten bedurfte es, sie wieder zu Feinden zu machen? Wie eng waren die Gränzen der ersten Völker, innerhalb deren Ruhe und Frieden zu finden war? Allerdings, je mehr sich die Menschen kennen lernten, und Herrschaft über die Fremden erlangten, in je mehreren Beziehungen sie standen, desto mehr erweiterte sich das Gebiet des Friedens, aber, m. g. F., aus welchem Grunde, als deswegen, weil bei der erweiterten Gemeinschaft der Menschen im ruhigen Verkehr mit ihnen jeder Verständige seinen größten irdischen Vortheil hatte. Könnten wir auch denken, so würde jemals der Friede auf Erden allgemein geworden sein, wie weit doch bliebe der zurück hinter dem, den der Erlöser zu stiften gekommen? In diesem, m. g. F., in diesem vereinigt sich alles, worauf wir bisher unsre Aufmerksamkeit gerichtet. Er hat uns mit Gott ausgesöhnt, alle die sein Wort verkünden in Wort und That, rufen allen Menschen immerfort zu, und flehen sie, sie möchten sich aussöhnen lassen mit Gott, und diese Stimme des seligsten himmlischen Friedens erschallt, soweit das Evangelium sich ausgebreitet; und weil wir wissen, daß in der Gemeinschaft mit dem, der alle göttliche Gerechtigkeit erfüllte, den Keiner einer Sünde zieh, der sich selbst das Zeugniß geben konnte, daß er den Willen Gottes vollkommen gethan, weil wir wissen, daß in der Gemeinschaft mit ihm auch unser Schuldbrief zerrissen, auch wir durch ihn aufgenommen sind in die lebendige Bestimmung, den Willen 33–34 Vgl. 2Kor 5,20

37 Vgl. Joh 8,46

37–38 Vgl. Joh 17,4

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seines Vaters zu erfüllen, nachdem seine Liebe die Kraft dazu in uns gelegt, so sind wir hergestellt durch ihn zum Frieden mit Gott, und wo dieser | in der Seele waltet, m. g. F., da gleicht sich alles aus zum innern Frieden, und wie der Erlöser in seinem ganzen Leben vom ersten Augenblick an, wo er das menschliche Auge dem irdischen Licht öffnete, so gewiß keine Sünde in ihm war, niemals uneins mit sich selbst, immer im tiefsten Frieden durch alle Anfechtungen der Welt hindurchging, so verbreitet sich dieser Friede von ihm auf alle, die an ihm hängen; in ihm und mit ihm haben wir Frieden mit Gott und mit uns selbst. Und eben dieser, m. g. Fr., läßt es nun nicht zu, daß der Christ als solcher könnte im Unfrieden sein mit seinen Nebenmenschen, welchen er ja berufen ist zum Genuß aller Segnungen der Erlösung, die in Christo liegen, zu verhelfen; dazu gehört die Gemeinschaft der Liebe mit allen Menschen, jeder ist für den andern, so gewiß er das Heil in Christo für allgemein hält, ein Gegenstand dieser Gemeinschaft, um Hülfe zu leisten und zu empfangen in allem, was noth thut. Seitdem wir, wenn wir uns mit andern vergleichen und unser Verhältniß zu ihnen klar machen sollen, nicht mehr daran gewiesen sind, zu unterscheiden das Gute im einen und im andern, die Entfernung zu messen, welche die Sprache, Sitten und die Verschiedenheit der Erde unter uns gesetzt, sondern seit wir den Einen erkannt, mit dem allein jeder sich und alle andere vergleicht, den Einen, der allen gleich geworden, aber zugleich über alle andre erhaben, seitdem müssen für uns in diesem Einen Gefühl der Ungleichheit zwischen dem Erlöser und den Erlösten alle andere Ungleichheiten verschwinden, in dem Gefühl, daß er alle beseligen kann und will, fühlen wir uns alle als Brüder, er ist es, der indem er uns würdigt, seine Brüder zu nennen, uns zu Brüdern gemacht und vereint hat, und wie schön | ist es, wenn Brüder friedlich mit einander wohnen. So ist sein Ruf die Stimme des Friedens über die ganze Erde. Aber hätte er solch Reich des Friedens, solche unbegränzte Gemeinschaft der Liebe stiften können, wenn er nur gewesen, wie unser einer? er selbst seine Auszeichnung verdankte einer Eigenthümlichkeit dieses oder jenes Volkes, wenn seine Vorzüge aufs innigste mit solcher verwachsen wären? hätte er solchen Bund des Friedens stiften können, wenn er mit uns nicht allein, was das Menschliche betrifft, aber auch das Lieblose, Abstoßende von dem, was uns fremdartig ist, wenn er auch das getheilt? Darum mußte er ein anderer sein, als wir, nicht eine menschliche, sondern göttliche Liebe, die alles eint, die unendliche, weil sie allmächtig ist, mußte in seiner Brust wohnen. Aber, m. g. F., indem wir einstimmen in den Lobgesang der himmlischen Heerschaaren, straft uns nicht der gegenwärtige Zustand, ich will nicht sagen der Welt, sondern der christlichen Kirche, derer, die sich 21 der] der in 26–27 Ps 133,1

22 müssen] müßten

33 nicht allein,] nicht, allein

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halten zum Heiland? Wenn er seinen Jüngern vorhersagte: sie werden euch ausschließen aus ihren Schulen, gefangen nehmen und tödten, um Gott einen Dienst zu thun, so weissagte er damit den Streit des verworrenen Wahns in der Seele gegen die Kraft der Wahrheit. Sehen wir, daß sich das wiederholt hat, und wenngleich im geringeren Maaßstab noch immer wiederholt unter den Christen, wenn auch die noch glauben, Gott einen Dienst zu thun, indem | sie sich trennen von ihren Brüdern, wie steht es um die Ehre Gottes in der Höhe? wenn doch noch immer nicht nur unter den Christen Streit und Uneinigkeit ist, Bitterkeit und abstoßendes Wesen, während alle suchen sollten die Wahrheit in der Liebe, sondern wenn auch in den äußern Verhältnissen Gewalt und Zwietracht sowenig besiegt, selbst die Fahne des Kreuzes so oft eine blutige Fahne geworden unter christlichen Völkern, wie stehts um den Frieden, den der Herr gestiftet? M. g. F., es ist der Lobgesang der himmlischen Heerschaaren, in den wir einstimmen, derer, für welche die Zeit nicht ist, welche alles sehen, was ist, hinwegsehend über die Art, wie es wird und aus dem Nichtigen und Eitlen entsteht. Freilich noch ist sie nicht vollendet unter uns die Ehre des Gottes, die der Herr zu gründen kam; noch nicht vollendet das Reich des Friedens, noch viel fehlt noch an beiden, aber was anders ist das, m. g. Fr., für das heitere Auge des Glaubens, als ein Zeichen des Irdischen in den Werken des Herrn; wie auch Maria, als sie den Erlöser gebar, nicht frei war von dem allgemeinen Gesetz, das dem Weibe gegeben: „du sollst mit Schmerzen Kinder gebären“, so auch ist das Reich Gottes auf Erden nicht frei vom allgemeinen Gesetz alles Irdischen. Nur aus dem Schmerz kann die Freude, aus dem Streit der Friede geboren werden; so oft wir sehen die Dunkelheit, welche der Herrlichkeit Gottes Abbruch thut in der Erscheinung, so oft liegt das Reich Gottes in den Schmerzen | der Geburt, aber gewiß geht aus jeder Verdunklung, das zeigt die Geschichte, das göttliche Licht hervor. So oft die Menschen in Unfrieden sich befehden, glauben die Wahrheit zu finden auf andrer Straße, als der der Liebe, so besser zum Frieden zu gelangen, als einander liebreich zu Hülfe kommend, so zieht vor ihnen her der Schmerz, dem alles Himmlische auf Erden unterworfen ist. Wie der Herr in seiner persönlichen Erscheinung uns gleich war, außer der Sünde, so ist sein irdisches Reich der menschlichen Schwachheit unterworfen, aber weil keiner ist, der frei wäre von Sünden, wie er, so ist jede Erscheinung seiner Schwachheit und Unvollkommenheit eine lebendige Erinnerung unsrer Sünde, Hülfe aber und Heil ist bei dem allgemeinen Arzt, wie jeder Seele so des ganzen Menschengeschlechts, der durch alle diese Schmerzen, diese sündhaften und krankhaften Regungen von einer Klarheit zur andern hinüberführt. Wo uns also das betrübt, was wir sehn in der Gnade des Herrn, da laßt uns zur Stärkung der Seele das Auge des Geistes auf ihn heften, er ist der einige 1–3 Vgl. Joh 16,2

22–23 Gen 3,16

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Gegenstand der Freude für uns, sein Bild muß uns immer wieder erquicken, und die Ueberzeugung von seiner himmlischen Gewalt uns beruhigen in allem, was uns drückt, so wird er sich immer mehr und seliger verherrlichen in uns und in seinem Reiche auf Erden. Amen.

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[Liederblatt vom 25. Dezember 1822:] Am ersten Weihnachtstage 1822.

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Vor dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Gott sei Dank in aller Welt, / Der sein Wort beständig hält, / Und der Sünder Trost und Rath / Zu uns hergesendet hat. // [2.] Was der alten Väter Schaar / Lang genährte Hoffnung war, / Ja weit mehr als sie begehrt, / Ist in Jesu uns gewährt. // [3.] Hier ist mehr als Davids Sohn, / Mehr als Judas Königsthron; / Hier ist Gottes ewges Wort, / Aller Seelen Heil und Hort. // [4.] Sei willkommen starker Held, / Der des Bösen Macht gefällt. / Heiland du aus Gott gezeugt, / Dem die Welt sich willig beugt. // [5.] Zeuch in unsre Herzen ein, / Dir gehören sie allein; / Schmücke sie zu deiner Lust, / Tilge ganz den Sündenwust. // [6.] Tröste kräftig unsern Sinn, / Wenn der Muth uns sinket hin; / Und hilf unsrer Schwachheit auf, / Wohl zu enden unsern Lauf. // [7.] Daß wir, wenn du Lebensfürst / Herrlich wiederkommen wirst, / Fröhlich dir entgegen gehn, / Und gerecht vor dir bestehn. // Nach dem Gebet. Chor. [1.] Gelobet seist du Jesu Christ, / Daß du Mensch geboren bist, / Von einer Jungfrau, ja fürwahr, / Des freuet sich der Engel Schaar. Hallelujah. // Gemeine. – Mel. Ach was soll ich Sünder etc. [1.] Gottes Sohn, der Eingeborne, / Der beim Vater vor der Zeit / Strahlt’ in ewger Herrlichkeit, / Wird ein Mensch für uns Verlorne; / Der, für den die Welten sind, / Ist für uns ein Menschenkind. // Chor. Den aller Weltkreis nie beschloß, / Der liegt in Mariens Schooß. / Er ward ein Kindlein, der die Welt / Mit seinem Wort allein erhält. Hallelujah. // Gemeine. [2.] Werd’ auch nun in uns geboren, / Und erleuchte du uns ganz, / Du der Gottheit Strahl und Glanz! / Und das Bild, das wir verloren, / Präge du uns wieder ein, / Daß wir Menschen Gottes sein, // [3.] Uns verlangt auf dieser Erden, / Zu des Himmels Bürgerschaft / Durch der Liebe Wunderkraft / Wiederum gebracht zu werden, / Daß im rechten Vaterland / Unser Name sei genannt. // 4 uns] und

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Chor. [3.] Das ewge Licht dringt nun herein, / Giebt der Welt ein’n neuen Schein; / Es leuchtet mitten in der Nacht, / Und uns des Lichtes Kinder macht. Hallelujah. // [4.] Er ist auf Erden kommen arm, / Daß er unser sich erbarm, / Uns in dem Himmel mache reich, / Und seinen lieben Engeln gleich. Hallelujah. // Gemeine. [4.] Wir verehren diese Liebe, / Die sich so zu uns gesellt, / Rühmen nun vor aller Welt / Diese reinen Liebestriebe, / Deß, der uns die Herrlichkeit / Bei dem Vater hält bereit. // [5.] Nun sein paradisisch Leben / Dringe kräftig in uns vor, / Und der Wille streb empor, / Seinen Namen zu erheben. / Seligkeit sei unser Theil / Im Genuß von seinem Heil. // Chor. [5.] Was er uns alles hat gethan, / Seine Lieb zu zeigen an, / Das danken wir in Ewigkeit / Ihm mit der ganzen Christenheit. Hallelujah. // (Freilignsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ermuntre dich etc. Was soll ich dir, du Menschenfreund / Für deine Treue geben? / Du bists, der mich mit Gott vereint, / Du giebst mir Heil und Leben. / Herr was ich hab und was ich bin, / Das geb ich dir zum Dienste hin, / Ich will dich ohn Aufhören / Mit Leib und Geist verehren. //

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Frühpredigt am zweiten Weihnachtstage 1822 am sechs und zwanzigsten Christmonds.

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(Lieder. 30; 46, 9.) |

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Tex t. Lukas II, 8 und 9. Und es waren Hirten in derselbigen Gegend auf dem Felde bei den Hürden; die hüteten des Nachts ihrer Heerde. Und siehe des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie, und sie fürchteten sich sehr. M. a. F. Dieser Engel des Herrn sprach zu den Hirten: „ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren ist; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr, in der Stadt Davids“; und die himmlischen Heerschaaren, die bei ihm waren, die setzten den Grund dieser Freude auseinander in jenem himmlischen Lobgesang, dessen Inhalt wir gestern zum Gegenstand unseres Nachdenkens gemacht haben. So erscheint es mir denn natürlich, daß wir uns heute die Frage vorlegen, woher denn diese Furcht gekommen ist; und da finden wir gleich bei der ersten Erscheinung unsers Herrn das Wunderbare, welches hernach sein ganzes Leben begleitet hat, wenngleich es hier in der Erscheinung des Engels und der himmlischen Heerschaaren | auf eine etwas andere Weise auftritt als hernach. Wir mögen wirklich sagen, daß die ganze Geschichte von der Geburt unsers Erlösers an gleichsam von selbst in diese zwei Theile zerfällt: das Eine verkündigt uns seinen Antheil an der menschlichen Schwachheit und weissagt uns den Grad, in welchem er auch an den Beschwerden des 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 30: „Ewig sey dir Lob gesungen“ (Melodie von „Sollt ich meinem Gott nicht singen“); Nr. 46: „Mein Herze schwinge dich empor“ (Melodie von „Ermuntre dich, mein schwacher Geist“) 9– 11 Lk 2,10–11

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irdischen Lebens Theil zu nehmen berufen war; das andere verkündigt uns seine Erhabenheit und Herrlichkeit, womit er weit über alles Irdische hinausragt; und dies spricht sich aus eben in dem Wunderbaren seines Lebens. Laßt uns also von dieser Erzählung Veranlassung nehmen, indem wir eben dieses Wunderbare, was sich gleich bei seiner Geburt ereignete, näher betrachten, zu untersuchen, wie wir uns denn das Wunderbare in dem Leben des Erlösers überhaupt anzueignen und zu erklären haben. Es wird uns hier gesagt, es wären Hirten gewesen in dieser Gegend auf dem Felde auf der Hürde, die hätten ihre Heerde gehütet, und zu denen wäre der Engel des Herrn hinzugetreten, und hätte sie mit seiner Klarheit umleuchtet, und als sie sich sehr gefürchtet, hätte er ihnen zugeredet und gesagt, sie sollten sich nicht fürchten, denn er verkündige ihnen große Freude, die ihnen und allem | Volk widerfahren sei, indem ihnen der Heiland geboren sei, Christus der Herr, in der Stadt Davids. Wenn wir uns nun die Frage vorlegen, hatten denn diese Hirten, denen das begegnete, einen besondern Anspruch darauf, auf eine so wunderbare Weise die erste Kunde von der Ankunft des Herrn in der Welt zu empfangen? und so hat eben dies, daß sie sie empfingen, eine besondere Wirkung hervorgebracht in der weitern Entwicklung der Geschichte des Erlösers? wenn wir uns diese Fragen vorlegen: so werden wir sie bei näherer Betrachtung beide vereinen müssen. Es ist nämlich aus dem Zusammenhang unserer Erzählung klar genug, wir sollen uns diese Hirten nicht so vorstellen, als ob sie vorher schon durch besondere Zeichen aufmerksam gemacht worden wären auf Joseph und Maria und das so eben geborne Kind, nicht so als ob schon in ihnen eine besondere lebendige Hoffnung und Zuversicht gewesen, daß nun die Zeit gekommen sei, wo der Erlöser der Welt erscheinen müsse, oder irgend eine Kunde davon, daß er | müsse geboren werden in der Stadt Davids. So kann es nicht gewesen sein, denn sonst würden sie nicht nöthig gehabt haben, daß ihnen der Engel hernach gesagt hätte: und ich gebe euch dies zum Zeichen, ihr werdet das Kind finden in dem Flecken in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Eben so wenig aber können wir sagen, sie wären durch irgend etwas Inneres besonders berechtigt gewesen zu dieser göttlichen Gnadenbezeugung, sie hätten schon vorher in ihrem Leben in einem besonders nahen Verhältniß zu Gott gestanden; denn sonst würden sie sich nicht, als der Engel zu ihnen trat und sie mit der Klarheit des Herrn umleuchtete, gefürchtet haben, sondern darin gefunden haben eine freudige göttliche Offenbarung und eine Erhörung ihres Flehens und ihres Gebets. Und so sehen wir denn, wir mögen achten, worauf wir wollen, keine besondern Ansprüche, die diese vor andern gehabt hätten; sondern es ist vielmehr grade so, wie der Erlöser von dem Wunderbaren, was sich schon zur Zeit des alten Bundes ereignet hat, in einer seiner Reden sagt: 11–14 Vgl. Lk 2,10–11

29–31 Lk 2,12

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„Es waren viele Wittwen zur Zeit | des Elias, als der Himmel verschlossen war drei Jahre und sechs Monate, da eine große Theurung war im ganzen Lande; aber der Prophet ward zu keiner gesandt, denn nur gen Sarepta der Sidonier zu einer Wittwe: und es waren viele Kranke zur Zeit Elisä, aber der Prophet ward zu keinem gesandt denn allein zu Näman, dem Syrer.“ So mögen wir auch hier gestehen: es waren viele Menschen in Bethlehem und in der Umgegend, denen eben sowohl der Engel hätte erscheinen können, die nicht näher und nicht ferner waren von dem Recht, einer solchen Offenbarung gewürdigt zu werden, aber es kam die Offenbarung, die der Engel des Herrn brachte, keinem andern als den Hirten, die vom Felde kamen. – Fragen wir uns aber zweitens, hat denn dies, daß die Engel und die himmlischen Heerschaaren grade diesen erschienen, einen besonderen Erfolg gehabt? so müssen wir auch sagen: nein. Denn wir sehen zwar nicht, daß sie das, was ihnen gesagt ward, ungläubig vernahmen, oder daß sie an der himmlischen Erscheinung stumpf und gleichgiltig vorübergingen; | sondern nachdem ihnen der Engel das Zeichen gegeben hatte, sagten sie zu einander: wir wollen doch nun hingehen in Bethlehem und sehen, ob es sich so verhält; und als sie es so fanden, so lobten sie Gott und breiteten das Wort aus, daß viele Menschen sich wunderten der Rede, die sie sagten. So weit also sehen wir wirkte die himmlische Offenbarung auf sie. Aber m. g. F., hätte wohl irgend ein anderer, dem das Gleiche begegnet wäre, weniger gethan? Gewiß wir dürfen es uns, nachdem sie sich von ihrer ersten Furcht erholt hatten, nur auf eine gewöhnliche Weise denken. Aufmerksam gemacht durch das Wunderbare der Erscheinung, nun untersuchend, mehr durch menschliche Neugier getrieben als daß nöthig gewesen wäre, daß sie einen besondern Werth gelegt hätten auf die Art, wie ihnen der Engel das Kind beschrieben hatte, ob es sich so verhielte: wer wird nicht, was ihm so verkündigt wird, wiedererzählen, das Kind, welches so geboren worden, sei Christus, der Herr? wer wird da nicht Gott gelobt haben, daß nun endlich die Stunde der Rettung erschienen sei? Weniger also würde nicht leicht ein anderer gethan haben | unter gleichen Umständen, als was die Hirten gethan. Was aber weiter daraus hervorgegangen ist, sehen wir nicht. Sie breiteten das Wort aus, und viele Menschen hörten es. Aber hat denn dies später dem Beruf des Erlösers etwas geholfen? finden wir, daß einige von denen, die an ihn glaubten, dazu wären bewegt worden durch dieses Zeugniß? Die Geschichte sagt uns nichts davon, und was wir darüber vermuthen könnten und wollten würde eine willkührliche menschliche Dichtung sein; vielmehr wenn wir bedenken, wie diese Hirten aus ganz verschiedenen Lebensaltern gewesen sein mögen, vielleicht mehr ältere als jüngere Männer dabei, wie viel Zeit noch vergangen ist von der Geburt des Herrn bis dahin, wo er öffentlich auftrat, und wo wohl die meisten von jenen Hirten schon 1–5 Lk 4,25–27

16–19 Vgl. Lk 2,15–18

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von dem Schauplatz des Lebens abgetreten waren; wie bald endlich der Herr denen, die in jener Gegend lebten, entrückt wurde: so müssen wir sagen, es sei mehr zu verwundern, daß jene Geschichte uns erhalten worden und nicht ganz in Vergessenheit gekommen ist, als daß wir glauben | sollten, es habe dieses Ereigniß irgend einen Einfluß gehabt auf den Glauben, den der Erlöser hernach forderte. – Eben so wenig sehen wir einen Zusammenhang dieses Wunderbaren mit andern, was sich um dieselbe Zeit schon ereignete. Da wird uns von einem andern Evangelisten erzählt, wie bald darauf die Weisen aus dem Morgenlande gekommen sind, um den neugebornen König der Juden anzubeten; aber keine Spur meldet uns die Geschichte, daß beide Ereignisse von den Menschen jenes Orts und jener Zeit wären in Verbindung gebracht worden, daß die Menschen sich gesagt hätten: das ist nun dasselbe Kind, auf welches die himmlischen Heerschaaren, als es geboren wurde, uns aufmerksam gemacht haben. Dann wird uns erzählt, wie Jesus dargebracht worden im Tempel, und wie Simeon, ein ehrwürdiger und ausgezeichneter Greis, das Kind auf seine Arme genommen und verkündigt habe, wie ihm nun die Erhörung des Gebetes, welches er oft zu Gott emporgeschickt, geworden sei, daß ihm vergönnt worden, den Heiland der Welt zu schauen. | Auch diese Kunde verbreitete sich; aber auch sie sehen wir in der Geschichte des Herrn in keinen Zusammenhang gebracht mit dieser Erscheinung der himmlischen Heerscharen. – Wenn es sich nun so verhält, m. g. F., was sollen wir denken darüber, nach welcher Ordnung nun das Wunderbare in dem Leben des Erlösers zu Stande gekommen, und was denn dadurch eigentlich habe erreicht werden sollen? Wenn wir uns diese Frage vorlegen, so wissen wir darauf keine Antwort zu geben, wir wissen höchstens die Ähnlichkeit aufzufinden mit vielem andern, was sich natürlich aber doch auf eine selt’ne und ungewöhnliche Weise unter uns ereignet, und wir wissen uns zu sagen, daß das erste Wunderbare bei der Erscheinung des Herrn ganz auf dieselbe Weise geartet ist wie alles spätere. Denn um nur bei dem letzten anzufangen, können wir nicht von allem Wunderbaren, was wir hernach in dem Leben des Erlösers finden, ganz dasselbe sagen? Er heilte, freilich durch die Kraft die ihm einwohnte, eine große Menge von Menschen von ihren äußerlichen Gebrechen und leiblichen Schäden. Aber wie viele andere gab es nicht | in Israel, die sich nicht auf seinem Wege fanden, und denen also die gleiche Wohlthat nicht zu Theil wurde. Wollen wir fragen: ja was hatten denn jene, die sie erhielten, für besondere Ansprüche, oder was hatte sich denn in denselben ergeben, daß grade diese und nicht andere die wohltäthige Kraft des Herrn erfuhren? so werden wir nicht anders antworten können als wir in Beziehung auf diese Geschichte gethan haben; wir werden eben auf jene Regel verwiesen werden, die der Erlöser in seiner Erzählung giebt, und die wir auch werden 8–10 Vgl. Mt 2,1–2

15–19 Vgl. Lk 2,25–30

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auf unsern Fall anzuwenden haben. Viele Dürftige, viele Kranke waren zur Zeit seiner Erscheinung auf Erden; aber nur zu einigen wurde er gesandt, den andern kam seine hilfreiche Kraft nicht zu Gute. Aber den Grund davon wissen wir nicht anzugeben. Und wenn wir fragen: würde im Wesentlichen der Erfolg dieser wohlthätigen Wirksamkeit des Herrn ein anderer gewesen sein, wenn sie andern wäre zu Theil geworden als grade diesen? so würden wir nicht wissen, wie wir diese Frage bejahen sollten. – Ebenso müssen wir sagen, daß unter den weitern Wundern in seinem Leben | auch kein besonderer Zusammenhang Statt findet. Diejenigen, die der Erlöser heilte in den verschiedenen Gegenden des jüdischen Landes, einzelne folgten ihm nach als seine Jünger, andere nicht; die Zahl derselben wurde dadurch nicht bedeutend vergrößert, und wir können denken, daß sie würde eben so groß gewesen sein, wenn er diese nicht, sondern andere geheilt hätte. Auch vereinigten sie sich nicht von Dankbarkeit gegen ihn getrieben auf eine besondere Weise unter einander, und stellen keine Schaar derer dar, die ein Zeugniß von ihm ablegten; sondern vereinzelt und zerstreut wie die Wunder selbst sind die Wirkungen derselben, und verschwinden unserm Auge in dem Zusammenhange der Dinge. So gleicht sich also hier das Wunderbare in dem Leben des Erlösers von seinem ersten Anfange an. Wie können wir es uns also erklären? was sollen wir davon halten? Ja es ist ähnlich seiner ganzen Art und seinem ganzen Zusammenhange nach allem Seltenen und Ungewöhnlichen, was sich unter uns ereignet. Wenn wir bedenken, wie die seltnen außerordentlichen Erscheinungen der irdischen Natur, deren Gesetze | wir nicht kennen, auf das menschliche Leben einwirken: so finden wir da grade dasselbe. Denken wir an die verheerenden Erscheinungen der Natur: so müssen wir sagen, den einen treffen sie, den andern verschonen sie. Fragen wir, nach welchem Gesetz dies geschehen sei: wir finden kein anderes als das von Näman dem Syrer und von der Wittwe zu Sarepta. Fragen wir, was für ein Zweck dadurch erreicht wird, daß grade dem Einen dies, dem Andern jenes widerfährt: wir können den Grund nicht auffinden, daß es sich würde anders ereignet haben, wenn es einen andern getroffen hätte. Wie sehen wir nun diese seltnen ungewöhnlichen Einwirkungen dessen, was natürlich ist in dem Leben des Menschen an? Wenn es uns bedeutend erscheint oder nahe steht, so sehen wir es an als eine von den besondern göttlichen Schickungen, und werden hingewiesen auf das Unerforschliche in den Wegen des Herrn; wenn es uns unbedeutend erscheint oder fern liegt, so daß wir keinen unmittelbaren lebendigen Antheil daran haben, so bezeichnen wir es mit dem Wort, | wovon wir wissen, daß es das Mangelhafte unserer Erkenntniß und die Trägheit unseres Herzens ausspricht, wir nennen es das Zufällige in dem menschlichen Leben. Können wir anders als eben so von dem Wunderbaren in dem Leben des Erlö28 Vgl. Lk 4,25–27

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sers urtheilen? Wenn wir sehen, wie er nach Nain ging, und da den Sohn einer Wittwe wiederbelebte, der eben sollte begraben werden und so die Thränen der betrübten Mutter trocknete, und ihr den Sohn wiedergab: so wird unser Herz bewegt, und weil es von Theilnahme aufgeregt ist, so sagen wir: das war eine besondere göttliche Schickung, daß der Herr grade auf dem Wege war, wo der Jüngling hinausgetragen wurde, und daß also der Herr da seine Kraft anwenden konnte den Todten lebendig zu machen. Erzählt uns unser Text, es waren grade Hirten auf dem Felde, die ihrer Heerde wahrnahmen – und sehen wir auf den Zusammenhang der Geschichte, so verschwindet uns der Unterschied zwischen diesen und andern Menschen, denen dasselbe begegnen konnte – so sagen wir: | das war zufällig, daß grade diese Hirten es waren und keine andern; und was durch sie ist bewirkt worden, hätte auch durch andere können bewirkt werden. Aber das ist gewiß, so wie uns alles Seltene und Ungewöhnliche in der irdischen Natur, was das Leben des Menschen trifft, in dem Maaße als wir nicht gleichgiltig dabei sind, auf eine höhere Ordnung der Dinge hinweist, und wir es mit dem in Verbindung bringen, der alles lenkt, und vor dem aller Unterschied zwischen dem Kleinen und Großen, zwischen dem Gleichgiltigen und Bedeutenden aufhört: eben so müssen wir auch das Wunderbare ansehen, was dem Erlöser von dem ersten Auftritt seines Lebens an begleitete; es zeigt uns auf eine höhere Ordnung der Dinge, die mit seiner Erscheinung beginnt, es führt uns zurück auf das Wunderbare und Göttliche in seiner Person. Wenn dieses nicht gewesen wäre, so würde auch jenes nicht gewesen sein. Wenn in dem Erlöser die Fülle der Gottheit wohnte, wenn in dem Kinde Jesu das damals geboren ward, das göttliche Wort | Fleisch geworden war, und also Himmel und Erde auf eine neue Weise mit einander vereinigt: wie können wir es wunderbar finden, oder wie kann es uns befremden, daß zu gleicher Zeit auch andere Anklänge aus der höhern Welt sich auf der Erde vernehmen ließen? wie kann es uns befremden, wenn die Engel des Himmels, wenn die himmlischen Heerschaaren Theil nahmen an der großen Begebenheit, die auf Erden sich ereignete. Wen sie grade treffen, dem sie ihre Freude ausdrücken an dem Heil, welches sie den Menschen verkündigen wollen: das können wir nicht erklären, worauf es abgezweckt hat, worauf es beruht; und wir können es nicht anders betrachten als in der Ähnlichkeit mit demjenigen, was sich im menschlichen Leben ereignet. Wenn die Fülle der Gottheit dazu in dem Erlöser wohnte, daß er die menschliche Natur geistig wiederherstellen sollte: wie können wir uns wundern, daß er in einem andern Verhältniß stand zu der leiblichen Natur 1 urtheilen?] urtheilen. 1–3 Vgl. Lk 7,11–15 Kol 2,9

24.36 Vgl. Kol 2,9

25–26 Vgl. Joh 1,14

36 Vgl.

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des | Irdischen, die da bestimmt ist von der geistigen Natur des Menschen beherrscht zu werden? Sehen wir auf das Höhere in der Person des Erlösers, so wird uns das Wunderbare in seinem Leben, was uns die Geschichte erzählt, wahrscheinlich und glaublich. Aber fragen wir, ob wir unsern Glauben an das Wunderbare seiner Person gründen sollen auf das Wunderbare in seinem Leben: so werden wir uns, m. g. F., die Frage gewiß verneinen. Ihn anerkennen als den Sohn Gottes, als den Heiland der Welt, als welchen ihn der Engel verkündigte, das sollen wir nicht um des Zeugnisses eines Engels willen, das sollen wir nicht um des Wunderbaren willen, was er selbst in seinem irdischen Leben verrichtet hat; sondern wie seine ersten Jünger sagten, sie könnten ihn nicht verlassen, weil er allein Worte des Lebens habe, so ist es das Wort des Lebens allein, was uns an ihn bindet und an ihm festhalten soll. Aber eben deswegen, weil wir das als das ewige Wort Gottes erkennen, und durch dieses die Gottheit, die den Erlöser gesandt hat, erscheint, so soll es uns nicht befremdend erscheinen, daß das göttliche Wohnen in ihm auch Anderes hervorgebracht hat als was sich sonst im Leben des gewöhnlichen | Menschen findet, und daß die höhere Ordnung der Dinge, aus der sein Dasein stammte, sich auch weiter in seinem Leben auf mannigfaltige Weise offenbart hat. Eben deswegen m. g. F, sollen wir auch weder wundersüchtig sein in dem Leben des Erlösers, noch uns auf der andern Seite des Wunderbaren in demselben schämen. Beides sind Abwege, auf welche die Christen oft gerathen sind, vor welchen uns aber zu warnen die Geschichte, die wir heute mit einander betrachten, besonders geeignet ist. Aus dieser Geschichte, so einfach und kindlich wie sie der heilige Geschichtschreiber uns mittheilt, von dem Wunderbaren in dem Leben des Erlösers haben sich eine Menge von fabelhaften Erzählungen von Wunderbarem, was schon in den Tagen seiner Kindheit von seiner Person ausgegangen sein soll, entsponnen, wovon uns noch manche Überreste aus alten Schriften, in den ersten Zeiten der christliche Kirche entstanden, geblieben sind. Der gesunde Sinn wird leicht das Wahre vom Falschen scheiden. Daß die Geburt des Erlösers begleitet gewesen ist von dem Lobgesang der himmlischen | Heerschaaren, das ist uns glaublich uns erfreulich. Soll uns aber zugemuthet werden zu glauben, daß als er noch ein eben lallendes Kind war, in welchem sich die ersten Kräfte noch nicht entwickelt hatten, sondern welches noch aller mütterlichen Pflege und Sorgfalt bedurfte, daß damals schon von seiner Person Wunder ausgegangen sind: so wird uns das schauerlich und nicht glaublich sein. Und von der Art sind 26 haben] heben

27 Wunderbarem] Wunderbaren

10–12 Vgl. Joh 6,68 24–30 Die Erzählungen, auf die Schleiermacher anspielt, befinden sich im Kindheitsevangelium des Thomas, im Arabischen Kindheitsevangelium und im Pseudo-Matthäusevangelium, welche ihm in Form des Codex Apocryphus von J. K. Thilo (SB 204) bzw. in der gelichnamigen Publikation von J. A. Fabricius (SB 267) und einer anonymen Ausgabe des Arabischen Kindheitsevangeliums (SB 238) vorlagen.

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viele Erzählungen, die zu den Zeiten der [ersten] Christen herumgingen, freilich auch kindlichen Sinnes und kindlichen Glaubens, aber nicht zu vereinigen mit der einfachen Wahrheit der Geschichte. Eben so, m. g. F., gibt es außer dem, was wunderbar ist in dem Leben des Erlösers, eine Menge von andern Begebenheiten in demselben, die wunderbar scheinen, bei der genauern Vergleichung aber natürlich angesehen werden können. Viele finden es ungläubig, wenn man das Natürliche darin zu finden sucht; aber das heißt einen größeren Werth darauf legen als der darin ruht. Sind wir aber durchdrungen von dem Wunderbaren der | Erscheinung des Erlösers, so bedürfen wir nicht einer großen Menge von wunderbaren Erscheinungen in seinem Leben. Aber eben so wenig sollen wir uns des Wunderbaren in seinem Leben schämen. Sehen wir es so an, es ist die natürliche Wirkung von dem Wunderbaren in seiner Person: wie wollten wir uns jenes schämen ohne uns dieser zu schämen? wie wollten wir denen ausweichen, die das Wunderbare in dem Leben des Erlösers bezweifeln, wenn wir nicht eine gewisse Furcht haben, das Wunderbare in seiner Person von ihm zu behaupten und zu vertheidigen? Und wäre es dahin mit uns gekommen, m. g. F., so wäre auch das Wesentliche unseres Glaubens nicht mehr fest gegründet in unserem Leben. Das wahre Wunder in der Person des Erlösers ist das, daß das Wort in ihm Fleisch geworden ist. Gegen dieses große geistige | Wunder ist alles, was in seinem Leben sonst noch wunderbar scheinen mag, klein und geringfügig; und eben indem es uns klein und geringfügig erscheint, nehmen wir es, wie es sich giebt, ohne daran zu künsteln, ohne irgend etwas dazu zu setzen, und irgend etwas davon zu nehmen. Das, m. g. F., ist das Eine, worauf wir immer zurückgehen müssen, worauf uns alles andre führen muß, daß das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat, daß der unter uns geboren ist, in dem sich die Herrlichkeit des Vaters abgespiegelt hat als in seinem Sohne, in dem die Gottheit sich mit der menschlichen Natur verbunden, und der diese wiederhergestellt hat zur reinen Erkenntniß der Wahrheit, zur innigen Liebe, zum lebendigen Glauben und zur treuen Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit; das ist das Wunder, vor welchem sich unser Herz dankbar beugt, und das wir | mit unerschütterlichem Glauben nehmen so wie es geschehen ist. Wäre dieses nicht geschehen, so wäre kein Heil für das menschliche Geschlecht. Alles Andere ist nur der natürliche Schmuck und die Zierde von jenem Einen großen Wunder. Und so sei es uns willkommen, wo wir es finden in dem Leben des Erlösers, und es sei uns dazu da, uns zurückzuführen auf das Eine Wunder, dessen wir diesen festlichen Tagen besonders gedenken. Aber unsere Liebe, unsere Verehrung, unser Glaube ist auf das 33 unerschütterlichem] unerschütterlichen 19–20.26–27 Vgl. Joh 1,14

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Eine gerichtet und findet seine volle Befriedigung darin: Christus ist geboren, der Heiland der Welt, er in dem das ewige Wort Fleisch geworden ist, er in dem wir die Herrlichkeit des Vaters erkennen, und der uns zur Liebe des Vaters zurückgeführt hat. Darum sei ihm von uns allen dargebracht Liebe und treuer Glaube, Preis und Verehrung jetzt und in Ewigkeit. Amen.

2–3 Joh 1,14

Am 29. Dezember 1822 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Sonntag nach Weihnachten, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Thess 1,2–3 Nachschrift; SAr 103, S. 177–205; Andrae Keine Nachschrift; SN 602/1, Bl. 1r–13r, Andrae (Fragment) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage nach Weihnachten 1822 am neun und zwanzigsten Christmonds. | Tex t. 1. Tessal. I, 2 und 3. Wir danken Gott allezeit für euch alle, und gedenken eurer in unserm Gebet ohne Unterlaß; und gedenken an euer Werk im Glauben, und an eure Arbeit in der Liebe, und an eure Geduld in der Hoffung, welche ist unser Herr Jesus Christus, vor Gott und unserm Vater. M. g. F. der letzte Sonntag unsers Kirchenjahres ist durch eine neue Einrichtung ganz vorzüglich dem Gedächtniß unserer Verstorbenen gewidmet. Mit allem also, was die fromme Betrachtung der vergangenen Zeit im allgemeinen betrifft, sind wir schon dadurch mehr auf das Ende unsers bürgerlichen Jahres gewiesen, und auch an diesem Orte um so mehr geneigt dazu, weil hier alles, was uns umgiebt, uns mehr daran erinnert, daß wir gemeinsam einen bedeutenden Abschnitt unsers Lebens beendigt haben, und einen neuen zu beginnen im Begriff sind. Ich denke mir es also als natürlich, daß heute an dem letzten unsern Versammlungen gewidmeten Tage des Jahres wir alle von selbst mit der Erinnerung an das Vergangene beschäftigt sind. Gewiß thei|len wir in dieser Hinsicht alle das Gefühl von der schnellen Vergänglichkeit unsers irdischen Lebens, und jeder Ältere am meisten wird auch das gestehen, daß jedes spätere Jahr schneller dahinzueilen scheint als das frühere. Dazu aber gesellt sich noch ein anderes Bewußtsein eben 8–9 Vor dem Hintergrund des Gedenkens an die Gefallenen der Befreiungskriege, die sich von 1813 bis 1815 zwischen den Truppen des napoleonischen Frankreich und deren Gegnern in Mitteleuropa ereignet hatten, hatte König Friedrich Wilhelm III. für die preußische Landeskirche durch Kabinettsorder vom 24. April und Verordnung vom 25. November 1816 den Totensonntag als ein „allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen“ eingeführt.

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so allgemein. Nämlich wie groß auch die Verschiedenheit der Menschen ist in Beziehung auf das Festhalten des Vergangenen, indem manchem die Erinnerung an das Frühere leichter verschwindet, manchem hingegen sie länger und fester gegenwärtig bleibt: doch werden wir alle gestehen müssen, wie vieles aus einer irgend vergangenen Zeit unserem Gedächtniß entschwunden ist, manches selbst von dem, was in dem Augenblick uns nichts weniger als unbedeutend erschien, und unser Gemüth auf mannigfaltige Weise bewegte; und wir müssen uns gleichsam mit Mühe die einzelnen Erinnerungen aus der vergangenen Zeit zusammen lesen, und einer muß dem andern darin zu Hilfe kommen, um uns nur ein einigermaßen vollständiges Bild zu entwerfen von der Zeit, die dahingegangen ist. Aber darin | zeigt sich dann eine große Verschiedenheit der Menschen, worauf sie nun das Bestreben die vergangene Zeit festzuhalten vorzüglich richten, wie der eine dies der andere jenes aus der Vergangenheit aufsucht, um sich daran entweder zu erfreuen oder zu betrüben oder zu fördern. Und da fragt sich natürlich, können wir nun einmal nicht alles uns vergegenwärtigen und festhalten und in das neue Jahr des Lebens mit hinüber nehmen, was sollen wir dann vorzüglich uns zu bewahren suchen von dem flüchtigen Inhalte unseres irrdischen Lebens? Bei dieser Frage nun, m. g. F. fielen mir die Worte des Apostels ein, die ich eben gelesen habe, und an welche wir diese Betrachtung an dem letzten Sonntage eines Jahres anreihen wollen. Der Apostel nämlich hatte kurz zuvor, ehe er diesen Brief an die Gemeine zu Tessalonich schrieb, durch einen seiner vertrautesten Freunde, der sich länger da aufgehalten, eine genaue Nachricht bekommen von allem, was sich da ereignet; wir können also sagen, daß ihm der ganze Zustand der Gemeine mit allen ihren Freuden und Leiden, als er dies schrieb, lebendig vor der Seele schwebte; die Worte aber unsers Textes lehren uns, daß er nur Einiges vorzüglich heraushebt, um es zum Gegenstand seines Andenkens und seines Gebets zu machen, und zugleich daran dasjenige anzuknüpfen, was | er der Gemeine Belehrendes und Ermunterndes sagen wollte. Und wirklich können wir die Handlungsweise des Apostels zu der unsrigen machen, und dürfen uns nicht durch die Besorgniß ablenken lassen, daß es ein Anderes ist, was man vorzüglich aufzusuchen hat in dem Leben derer, mit denen man lebt, und was in dem eigenen; denn davon sollen wir ja immer mehr loskommen durch den Geist des Christenthums und durch die Kraft der brüderlichen Liebe, einen Unterschied zu machen zwischen unsern Brüdern und uns, sondern wir sollen sie lieben wie uns selbst, und uns wie sie; also kann es auch keine andre Regel geben für die Betrachtung unseres eigenen Lebens und für die des ihrigen. So laßt uns also den Worten des Apostels folgen, daß wir zuerst einzeln dasjenige näher erwägen, was er uns als den Gegenstand seines Andenkens und seines Dankes gegen Gott angiebt; und 21–25 Vgl. 1Thess 3,6

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dann zweitens sehen, wie sich dann dies zu den mancherlei andern Erinnerungen verhält, die sich uns aus der Vergangenheit entweder von selbst aufdringen, oder von denen wir sehen, daß andere sie zum vorzüglichen Gegenstand ihrer Betrachtung machen.

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I. Was nun den ersten Theil unserer Betrachtung betrifft, m. g. F. so sind es drei Gegenstände, die der | Apostel vorzüglich heraus hebt, indem er sagt: er gedenke vor Gott des Werkes ihres Glaubens, der Arbeit ihrer Liebe, der Beharrlichkeit ihrer Hoffnung. Dies sind diejenigen Gegenstände, die der Apostel aus seiner ganzen Kenntniß von dem Zustande der Gemeine, an welche er schrieb, vorzüglich werth hielt, sie sich selbst vorzuhalten, und zum Gegenstand seiner frommen Betrachtung in der Gemeinschaft mit Gott zu machen; und diese also laßt uns zuerst in Beziehung auf uns selbst näher mit einander erwägen. – Was wir also nach dem Beispiele des Apostels in der vergangenen Zeit unseres Lebens vorzüglich aufsuchen müssen, um Gott dafür zu danken, das ist das Werk des Glaubens. Was aber ist dies? m. g. F. So viele und so große Aussprüche der Schrift darüber müssen sich wohl sehr leicht hier einem jeden darbieten, daß schon dies allein scheint ein unerschöpflicher Gegenstand zu sein. Hört was der Apostel Paulus an einer andern Stelle sagt: „so wir denn gerecht worden sind durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Khristum.“ Also der Friede mit Gott, das ist das Werk des Glaubens. Hört den Apostel Johannes, welcher sagt „unser Glaube ist der Sieg, der die Welt überwunden hat[.]“ Also die Welt überwinden, | das ist das Werk des Glaubens. Hört den Apostel Petrus, welcher sagt „auf, daß ihr davontragen möget das Ende eures Glaubens, nämlich der Seelen Seeligkeit.“ Der Friede mit Gott also, der Sieg über die Welt, die Seeligkeit der Seele, das, m. g. F. das ist das Werk des Glaubens. Und was wäre wohl auch mehr werth aus einem vergangenen Jahre des Lebens in das dankbare Gedächtniß zurückgerufen zu werden, als eben dies? Wo wir zugenommen haben und vollkommner geworden sind im Frieden mit Gott, weniger mit seinen heiligen Rathschlüssen, wie unerforschlich und unbegreiflich sie uns auch sein mögen, mehr im Stande, jeden Gedanken der in unserer Seele aufstieg, jedes Gefühl, wovon wir bewegt wurden, mit dem großen Gedanken an Gott, mit dem Bewußtsein seiner Allgegenwart zu verbinden; wo wir darin zugenommen haben: da ist der Friede mit Gott reiner und heller in unsrer Seele geworden. Das andre Werk des Glaubens das ist der Sieg über die Welt. Die Welt aber heißt in diesem Zusammenhange m. g. F. dasjenige in menschlichen Dingen, was dem Reiche Gottes entgegengesetzt und von demselben getrennt ist, es ist die Welt von welcher es heißt, daß sie im Argen liegt, über welche 20–21 Röm 5,1

23–24 1Joh 5,4

25–26 1Petr 1,9

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der Glaube unser Sieg ist. Ueberwinden aber sollen wir, wie der Apostel uns lehrt, das Böse, das ist die Welt, die im Argen liegt, | nicht mit Bösem, sondern nur mit Gutem. Wo also das Gute, welches aus dem lebendigen Glauben in unserm Leben hervorgegangen ist, irgend etwas beigetragen hat, um die im Argen liegende Welt zu überwinden, und das Böse unter die Gewalt des Guten gefangen zu nehmen, und es je länger je mehr verschwinden zu machen aus dem Gebiet des menschlichen Lebens, in welchem die Herrlichkeit des Sohnes Gottes aufgegangen ist: das ist das Werk des Glaubens, wofür wir Gott danken sollen, wo wir es finden in dem vergangenen Jahre unsers Lebens. Das Letzte aber ist, was uns die Schrift vorstellt als das Ende des Glaubens, der Seele Seeligkeit. Nicht m. g. F. meint der Apostel Petrus, sie sei das Ende des Glaubens, weil sie erst angehen soll, wenn der Glaube nicht mehr ist, sondern sich in Schauen verwandelt hat, und die Liebe allein übrig geblieben ist, von allen christlichen Vollkommenheiten. Denn der Herr selbst sagt, die da glauben die sind schon aus dem Tode in das Leben hindurchgedrungen, die sind schon im Genuß und Besitz des ewigen Lebens. Und was ist das ewige Leben als nur die Seeligkeit der Seele im Gegensatz gegen die wechselnden Stimmungen, denen der Mensch ausgesetzt ist, so lange er sich in diesem Zustande nicht befindet. Nicht also nur dies ist der Seele Seligkeit, das Ende des Glaubens, sondern in jedem noch so kleinen Abschnitte unsers Lebens, in jeder Regung unsrer Seele, die zu irgend etwas führen soll, so gewiß | wir darin von der Kraft des Glaubens geleitet werden, so gewiß muß der Seele Seligkeit das Ende des Glaubens darin sein. Wo wir also zugenommen haben, in jenem ungetrübten Bewußtsein der Gemeinschaft mit Gott, wo wir uns losgefühlt haben von aller Unzufriedenheit und allem Kleinmuthe, wo unser Zustand ähnlich gewesen ist der süßen und heiligen Ruhe, die wir überall finden in dem Leben des Erlösers: da ist das Werk des Glaubens gewesen, welches in jedem Augenblick das wahre und schönste Ende desselben ausmacht. Und m. g. F. dürfen wir wohl klagen, daß wir in dem vergangenen Jahre des Lebens von dem Werke des Glaubens wenig in uns anträfen? so müßte ja die Kraft des göttlichen Wortes, so müßte ja der Bund der Christen, in welchen wir alle eingewurzelt sind, so müßte ja das Bekenntniß des Erlösers vergeblich gewesen sein an uns. Freilich m. g. F. mögen wohl die wenigsten unter uns im Stande sein, viele einzelne Punkte aus ihrem Leben herauszuheben, worin sie sich besonders bewußt werden können, daß ihnen da ein Werk des Glaubens gelungen sei, daß sie [nach] bestimmten Veranlassungen zugenommen haben im Frieden mit Gott, daß sie einen Sieg über die Welt errungen haben, den sie sich selbst zuschreiben können und der Kraft 1–3 Vgl. Röm 12,21

10–11 Vgl. 1Petr 1,9

15–16 Vgl. Joh 5,24

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des Glaubens in ihnen, und daß bei verschiedenen Verhältnissen des | menschlichen Lebens die Seligkeit in ihnen reicher und reiner gewesen sei als früher. Aber der Apostel, als er dies an die Gemeine zu Tessalonich schrieb, indem ihm nun das christliche Leben einer großen Anzahl von Menschen vorschwebte, konnte nicht auch dabei vorzüglich das Einzelne meinen, und dies klar in seiner Seele schon haben; sondern aus dem ganzen Zusammenhange, aus der lebendigen Darstellung, die ihm Timotheus gegeben hatte, sein Freund und Mitarbeiter in dem Herrn, davon wie er den Zustand der Gemeine in Tessalonich gefunden, daran war ihm das genug, daß er mit inniger Dankbarkeit gegen Gott gedenken konnte ihres Werks im Glauben. Und so sollen auch wir, wenn wir auf den ganzen Zusammenhang eines vergangenen Jahres zurücksehen; wenn wir weit in die Ferne blicken und einzeln ähnliche Punkte der Gegenwart mit der frühern Zeit unsers Lebens vergleichen, dann können und sollen wir wissen, daß wir reicher geworden sind an dem Frieden mit Gott, daß wir etwas beigetragen haben zum Siege über die Welt, den keiner sich allein zuschreiben kann, der aber gewiß, so gewiß das Wort Gottes und seine Verheißungen wahr sind, das gemeinsame Werk derer sein muß, die an den Namen des Herrn glauben; und eben so müssen wir uns dessen bewußt sein, daß wir von einer Zeit zur andern reicher daran werden, die Seligkeit zu finden, | die das Ende des Glaubens ist. Das zweite was der Apostel heraus hebt, ist die Arbeit der Liebe; und dabei bedient er sich eines Ausdrucks, der ganz vorzüglich die mühsame Anstrengung bezeichnet; und diese ist von je her ein vorzügliches und eigenthümliches Kennzeichen der christlichen Liebe gewesen. Sie hat sich von Anfang an offenbart in solchen Handlungen, bei welchen es an mühsamer Anstrengung nicht fehlen kann. Wenn wir mit wahrer und herzlicher Theilnahme den Bedürfnissen andrer zu Hülfe kommen, ihnen ihre Leiden zu erleichtern suchen, an ihren Geschäften und demjenigen was das ihnen angewiesene Werk ihres Lebens ist, einen lebendigen Antheil nehmen; dann kann es der Liebe an mühsamer Anstrengung nicht fehlen. Aber es liegt außer dem in diesem Ausdruck noch etwas anderes, das wir eben so wenig übersehen dürfen, und das in mancher Hinsicht noch wichtiger ist. Die Liebe m. g. F. ist nicht immer gleich leicht. Alle Menschen und vorzüglich alle unsre Brüder in Christo sollen der Gegenstand derselben sein. Aber der eine ladet uns gleichsam dazu ein, und kommt uns auf dem halben Wege entgegen, daß es nichts anderes ist als eine leichte Freude und Lust des Herzens ihn zu lieben. Ein anderer macht es uns schwer, indem er uns in seinem Wesen weniger das bietet, was uns an sich zieht und lockt. | Ja wir können es uns nicht läugnen, es giebt manche unter unsern Brüdern, die etwas Abstoßendes für uns haben und es uns schwer machen, sie wie andere zum Gegenstand unsrer Liebe zu machen. Da nun m. g. F. die Hindernisse überwältigen, die uns entgegentreten, da sich selbst bezwingen

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und so in seiner Gewalt haben, daß wir durch nichts abgeschreckt werden, da sich selbst um so mehr im Innern anspornen, Liebe zu fühlen und Liebe zu beweisen, je weniger wir dazu von außen her gelockt und angereizt werden: das m. g. F. ist die Arbeit der Liebe. Und nicht müde zu werden in allen Erweisungen der Liebe, die sich freilich, wenn alle Menschen, alles recht benutzten, was die Liebe ihnen darbietet, von selbst vermindern würden, aber auch dann nicht müde zu werden, wenn dies nicht geschieht, wenn die Fehltritte, wenn die Uebereilungen, wenn die Mißgriffe, wenn die Unordnungen der Menschen um uns her immer von Neuem die Anstrengungen der Liebe nöthig machen, und obwohl wir bisweilen versucht werden in unserer Liebe gegen die Brüder kalt zu werden, wenn wir bedenken, sie selbst sollten das wahre Ziel ihres Lebens fest ins Auge fassend, und mit allen Kräften, die ihnen der Herr verliehen, demselben nachstrebend uns die Mühe und Arbeit der Liebe erspart haben, dennoch eingedenk der menschlichen Schwachheit auf der | einen Seite ihnen zwar nicht zu ersparen das Wort der Lehre und Ermahnung und den Zuruf zur Buße auf der andern aber doch nicht müde zu werden in den Erweisungen der Liebe – dies beides zusammengenommen ist die Arbeit der Liebe. Und wohl m. g. F. werden wir dies alle einsehen und fühlen, daß jemehr wir von dieser Arbeit der Liebe finden können in dem vergangenen Jahre unsers Lebens, desto wirksamer ist es gewesen für das Reich Gottes, desto gesegneter von dem Höchsten, und desto mehr haben wir Ursache ihm dafür zu danken, daß seine Gnade mächtig gewesen ist in uns den Schwachen. Denn m. g. F. dieser haben wir es gewiß zuzuschreiben. Das menschliche Herz ist nur zu sehr geneigt in der Liebe nachzulassen, wenn es ihm nicht leicht gemacht wird; es mag sich gern an der Freude und Lust der Liebe sättigen aber die Arbeit derselben scheut es. Darum so lange es uns gewährt ist das Werk der Liebe zu treiben so lange der Tag des Lebens scheint, ehe die Nacht kommt, wo keiner wirken kann: so ist es die Kraft des göttlichen Geistes gewesen, die Kraft der göttlichen Gnade, die uns dazu in den Stand gesetzt hat. Das dritte was der Apostel heraus hebt, die Beharrlichkeit der Hoffnung, nämlich der ewigen und lebendigen Hoffung des Christen, das ist Christus unser | Herr selbst. Der m. g. F. ist unsre Hoffnung, in wiefern wir ihn nicht denken können getrennt von der Gewalt welche, wie er selbst sagt ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden, getrennt von der Herrschaft die er ausüben soll über alles was Mensch heißt, über alle, deren Bruder zu werden er gewürdigt hat. Und doch ist noch nicht erschienen die ganze Herrlichkeit dieser Macht und Herrschaft des Herrn, und eben deswegen ist 29 kann:] kann,: 23 Vgl. 2Kor 12,9

35–36 Vgl. Mt 28,18

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er unsre Hoffnung. In dieser Hoffnung nun, beharrlich sein, das ist das dritte, was für den Apostel ein vorzüglicher Gegenstand seines Dankes gegen Gott war. Es gehört aber m. g. F. zu der Beharrlichkeit dieser Hoffnung zweierlei. Einmal sind wir alle dem unterworfen, daß wir bisweilen die Angelegenheiten des Reiches Gottes vergessen, wenn wir zu sehr in Anspruch genommen werden von den Dingen dieser Welt, sei es nun daß von der Lust dieser Welt unser Gemüth auf das Irrdische gelenkt wird, und wir uns darin so versenken, daß wir, wenn gleich nur auf kurze Zeit das Himmlische vergessen, oder sei es, daß die Beschwerden und Sorgen des Lebens uns nahen und unsern Blick so sehr in der Nähe und in der Gegenwart festhalten, daß wir für den Augenblick wenigstens das Ewige nicht denken können, dessen wir immer eingedenk sein sollen; da ist die Beharrlichkeit der Hoffnung gebrochen, unser Verhältniß zum Reiche Gottes | ist in die Bewußtlosigkeit des Gemüths zurückgetreten. Aber ebenso, indem auf der andern Seite das Reich Gottes auf Erden, uns im Kampfe mit der Welt, über welche der Glaube unser Sieg sein soll, bestehen und gedeihen kann, so werden wir, wie es die Unvollkommenheit unsers irdischen Zustandes mit sich bringt, selbst in der Zeit unsers Lebens wo wir ganz vorzüglich das Reich Gottes zum Gegenstand unserer Aufmerksamkeit und Thätigkeit machen können, doch von Furcht und Hoffnung abwechselnd bewegt. Wenn es uns nun scheinen will, als verziehe der Herr über die Gebühr, wenn es uns scheinen will, als habe er die Seinen und die große gemeinsame Angelegenheit, in welcher er sie zu seinem Werkzeuge gebraucht, vergessen: dann ist die Beharrlichkeit unsrer Hoffnung auf eine andre Weise aufgehoben, indem an die Stelle der Hoffnung die Furcht und die Besorgniß tritt. Je mehr nun m. g. F. wir von diesen Banden frei werden, je mehr wir alles Irdische wissen in dem Maaße, als es uns bewegt und unsre Thätigkeit mit Recht in Anspruch nehmen kann, in Verbindung zu bringen mit dem Einen, was Noth thut, nämlich daß wir arbeiten in dem Weinberge des Herrn, jemehr wir die Hoffnung auf die Herrlichkeit des Herrn, die in einem immer höheren Grade erscheinen soll, mit allem verbinden können, was ein Gegenstand der Sorge | für unser Gemüth und das Streben für unser Herz wird; und je mehr auf der andern Seite wir fest geworden sind und sicher darin, daß alles was uns scheint eine rückgängige Bewegung zu sein in dem Reiche Gottes, doch uns nur so erscheinen kann, wie es aber angeordnet ist von dem Höchsten und verwebt in den ewigen Plan seiner Liebe, wie wir es selbst ansehen müssen als der Regierung dessen, dem das Reich Gottes gegeben ist, unterworfen, und wie es also in der That und Wahrheit doch nur sein kann eine Förderung der Sache Gottes mit dem menschlichen Geschlechte und ein Fortschritt zu dem hohen Ziele unsers gemeinsamen Lebens, was wir allerdings nicht im Stande sind einzusehen; je mehr wir darin festgeworden 15–16 Vgl. 1Joh 5,4

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sind, desto beharrlicher werden wir in der Hoffnung sein. Und m. g. F. kann es uns denn wohl fehlen, wenn wir nur überhaupt dem Herrn treu geblieben sind, daß jedes Jahr unsers Lebens die Beharrlichkeit unsrer Hoffnung stärkt? Lehrt uns nicht die Erfahrung, jelänger wir in diesem wechselreichen Leben verweilen, auf desto auffallendere Weise, wie bald das, was uns schien ein Nachtheil für das Reich Gottes zu sein, sich gezeigt hat als eine weise Leitung des Höchsten, um das große Werk der Erlösung des menschlichen Geschlechts immer weiter zu fördern? lernen wir nicht immer mehr den äußeren Schein in dem Wechsel der Dinge unterscheiden von den wahrhaften Wegen des Herrn, die zwar nicht selten dunkel und un|begreiflich für uns sind, so daß wir im ersten Augenblick nicht erkennen, was der Herr durch sie beabsichtigt, die sich uns aber doch, je mehr wir unser Gemüth darauf richten, desto mehr enthüllen. Und je länger wir auf Erden gelebt haben; je mehr der Reiz dessen, was nur irdisch was flüchtig und vergänglich ist, aufhört; jemehr Geschmack wir bekommen an den ewigen Gütern, die jeder, der dem Reiche Christi angehört, in diesem Leben schon genießen kann: desto mehr muß jene Beharrlichkeit der Hoffnung in uns zugenommen haben, desto weniger werden wir bei allem, was uns begegnet und einen Einfluß auf uns ausübt dessen vergessen, was uns allein immer bewegen soll und alle andern Bewegungen unsers Gemüths leiten muß, wenn wir nicht sollen in eine Treulosigkeit verfallen gegen den, dem wir jeden Augenblick unsers Lebens schuldig sind. Sehet da m. g. F. das sind die Gegenstände, aus der Vergangenheit, die wir nach dem Beispiele und der Lehre des Apostels uns vor allen heraus heben sollen. Darauf also laßt uns unser Herz richten, wenn wir in die Vergangenheit zurücksehen; und finden wir, wie wir es nicht anders können, daß das Werk des Glaubens in uns zugenommen hat, daß wir etwas wenigstens von der Arbeit der Liebe aufzuweisen haben als den Schaz guter Werke, den wir retten können in das Bewußtsein des künftigen Jahres hinein, daß wir beharrlicher geworden sind, | in der Hoffung und immer fester gegründet in dem Ewigen: so laßt uns für uns selbst wie der Apostel für jene Gemeine Dank bringen vor Gott, aber dann auch gern alles andre aus der Vergangenheit vergessen, weil die das Einzige ist, in derselben, was der Mühe werth ist, in einem treuen Gedächtniß von uns bewart zu werden. II. Um uns davon zu überzeugen, so laßt uns noch zweitens sehen, wie diese unsre Erinnerungen, als die nach dem Ausspruche des Apostels unsrer Dankbarkeit gegen Gott würdig sind, sich verhalten zu allen andern, die sich uns bisweilen aufdringen, oder von uns gesucht werden. Es wird eigentlich dazu nichts andres nöthig sein, als daß wir uns nur Einiges aus dem, was ich vorher gesagt habe, näher vor Gemüthe führen, um zu zeigen, wie in diesem in der That alles andere enthalten ist. Der erste Zweifel m. g. F.

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der uns dabei einfallen möchte, ist der, daß ja der Apostel selbst, der die Worte unsers Textes geschrieben hat, anderwärts von sich sagt, und es sagt als etwas nicht Unrühmliches, er vergesse was da hinten ist, und strecke sich zu dem, was vor ihm ist. Wenn wir nun in der Vergangenheit vorzüglich gedenken des Werkes unsers Glaubens, der Arbeit unsrer Liebe, der Beharrlichkeit unsrer Hoffnung: so scheinen wir nicht zu vergessen was da hinten ist; und wenn die Erinnerung an die Vergangenheit uns vorzüglich dazu helfen soll, uns zu strecken nach dem, was da vorne ist, so scheint es, daß wir dann mehr unsrer Mängel, | unsrer Unvollkommenheiten, unsrer Fehler, aus der vergangenen Zeit uns erinnern sollten, um desto mehr zu dem Gefühl zu kommen, was uns noch fehlt, und wonach wir in der Zukunft zu trachten haben. Das ist allerdings wahr; aber m. g. F. ist uns das nicht mit dem Vergangenen zugleich und von selbst gegeben? Wenn wir aufsuchen wollen in der vergangenen Zeit unsres Lebens das Werk des Glaubens: begegnen uns dann nicht mit jedem Augenblick zugleich, wo wir des Friedens Gottes in unserm Herzen froh geworden sind, auch diejenigen Augenblicke, wo das Bewußtsein der Sünde und der Unvollkommenheit, uns den Frieden noch zu trüben im Stande war, weil nämlich unser Glaube noch nicht ganz den Sieg über die Welt davongetragen hatte? Wenn wir aufsuchen die Augenblicke in der Vergangenheit, wo wir in dem uns angewiesenen Kreise unsres Berufs etwas beigetragen haben zu dem Siege über die Welt, der das gemeinsame Werk unsrer Thätigkeit ist, und unser gemeinsames Streben verherrlichen soll: müssen uns dann nicht zugleich diejengen einfallen, wo es nöthig war, daß auch ein Sieg über uns errungen wurde, von andern, in denen das Werk des Glaubens lebendiger und stärker war? Wenn wir freudig gedenken der Augenblicke, wo wir uns der Seligkeit in der Gemeinschaft mit Gott und mit dem Erlöser lebendig bewußt gewesen sind: müssen uns nicht diejenigen | zugleich einfallen, wo sie uns getrübt gewesen ist? und liegt nicht in der Erinnerung an das Gute, wofür wir Gott danken sollen, zugleich die an die Unvollkommenheit, die allem Guten, dessen wir uns erfreuen, noch anhängt, und mit der wir in diesem irdischen Leben fortwährend zu kämpfen haben? und ist es möglich, daß wir zur Dankbarkeit gegen Gott gelangen können, ohne in der Kenntniß unsrer Unvollkommenheit zuzunehmen; [ohne,] indem wir Gott danken für das Werk des Glaubens, welches in uns schöner und kräftiger geworden ist, auf das herrliche Werk des Glaubens zu sehen, welches in der Zukunft vor uns liegt; [ohne,] indem wir Gott danken für die Arbeit der Liebe, die er in uns gesegnet hat, zu wissen, wie leicht wir ermüden können unter den Anstrengungen für das Reich Gottes auf Erden und den Platz verlassen, auf welchen uns der Herr gestellt hat, um immer mehr die Kraft seines Geistes uns zu erflehen, damit wir für die Zukunft immer thätiger werden in der Arbeit der 3–4 Vgl. Phil 3,13

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Liebe und immer mehr unablässig in dem Werke des Herrn? Und eben so m. g. F. wie könnte uns das Bewußtsein der vergangenen Zeit, wie könnte uns die Kenntniß davon entgehen, wie oft noch der Zweifel, der sich in unsrer Seele erhoben, in Beziehung auf die weise Leitung aller menschlichen Angelegenheiten, das freudige Aufsehen auf den, der den Rath Gottes zu vollziehen gekommen ist, in unserm Herzen gedämpft hat, und also indem | wir fragen nach der Beharrlichkeit unsrer Hoffnung, wie könnte es fehlen, daß wir nicht einsehen sollten, wonach aus unserm Herzen hervorgegangen sind solche Gedanken und Empfindungen, die dieser lebendigen Hoffnung keinen Raum ließen? Dies beides m. g. F. das ist nothwendig und wesentlich mit einander verbunden. Aber daß uns nun unsre Unvollkommenheiten und Schwächen, ja unsre Uebertretungen und Unwürdigkeiten aus dem vergangenen Jahre nicht anders erscheinen als doch nur immer wieder aus dem Gesichtspunkte, daß sie in dem Werke des Glaubens das Mangelhafte, in der Arbeit der Liebe das Unvollkommene, in der Beharrlichkeit der Hoffnung die vorübergehenden Unterbrechungen gewesen sind: das ist selbst das Werk des Glaubens, denn wenn wir so nicht auf unsre Schwachheiten und Fehler zurücksehen könnten, so würden wir nicht gerecht durch den Glauben; das ist selbst die Arbeit der Liebe, denn worin anders bestünde diese als darin, daß wir das Band der Gemeinschaft im Streben nach immer höherer Vollkommenheit immer enger zusammen ziehen, und daß wir uns unaufhörlich ermuthigen, unsre Kräfte gegen dasjenige zu richten, was noch unvollkommen ist in unserm Leben? ja das gehört ganz wesentlich zur Beharrlichkeit unsrer Hoffnung, denn wenn wir dessen | nicht gewiß wären, daß der Herr den Beistand seines Geistes nicht von uns nehmen, daß er nicht aufhören wird uns um so mehr mit seinem Lichte zu erleuchten, als wir desselben bedürfen in der Dunkelheit, die uns bisweilen umfängt, und so wir nur auf seine Stimme hören uns in jedem Augenblicke zu sagen, was ihm wohlgefällig ist: so wäre alle unsre Hoffnung verschwunden, und wir hätten nichts, worauf wir uns noch verlassen könnten. Das ist also die wahre Freude des Christen, daß er das Unvollkommene in seinem Leben doch nur ansieht aus dem Gesichtspunkte dessen, was im Reiche Gottes je länger je mehr verschwinden soll, daß es ihm nicht erscheint, als ein Herausgefallensein aus der göttlichen Gnade, sondern als dasjenige was ihn auffordern soll, in dem Werke des Glaubens immer thätiger, in der Arbeit der Liebe immer unverdroßener, in der Beharrlichkeit der Hoffnung immer unwandelbarer zu werden. Aber wenn wir so mit unserm christlichen Bewußtsein Eins geworden sind und einsehen, wie in demjenigen was der Apostel uns vorhält in den Worten unsers Textes, allerdings die Erkenntniß des Mangelhaften und Unvollkommenen, aber auch in dieser der freudige Gehalt ist: so laßt uns nun 35 ihn] ihm

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noch auf das Geringere und Unbedeutende sehen. Nämlich m. g. F. was der Apostel hier heraus hebt ist nur die | Erinnerung an dasjenige, was der Mensch in sich selbst geworden ist. Aber wie oft suchen wir nicht auch in der vergangenen Zeit die Erinnerung auf[,] nicht an dasjenige was wir geworden sind, sondern an dasjenige was wir in diesem oder jenem Augeblicke erfahren haben, an Freude und Lust die uns bewegt, oder an Leid und Schmerz, der unsre Seele getroffen hat, kurz an die vorübergehenden Zustände, nach denen wir nur zu oft den Werth des Lebens und seiner Angelegenheiten zu messen gewohnt sind. Davon nun, m. g. F. scheint der Apostel nichts zu wissen; nur nach dem Werke des Glaubens fragt er und dafür dankt er Gott, nicht nach dem Erheiternden dieses Werkes; nur nach der Arbeit der Liebe fragt er, nicht nach der Freude und Lust derselben; nur nach der Beharrlichkeit der Hoffnung fragt er, nicht nach dem hellen Schimmer, den sie in das menschliche Gemüth wirft. Wenn also nicht einmal nach der Freude und Lust, die aus den geistigen Gütern des Lebens hervorgehen, wie viel weniger nach der Freude und nach dem Schmerz, den uns die flüchtige irdische Seite des Lebens bringt. Und doch wie oft verweilen die Menschen vorzüglich dabei! Wenn wir aufgefordert werden, sei es wodurch es wolle, ein Jahr unsres Lebens mit dem andern zu vergleichen, ist das nicht das Erste, wonach die meisten fragen: ist es reicher gewesen an Freude und ärmer an Schmerz? | ist das Uebergewicht des Angenehmen und Erfreulichen über das Drückende und Schmerzliche darin geringer oder größer gewesen? Davon aber erwähnt der Apostel nichts, und doch müssen wir glauben, daß in dem Bilde des Zustandes, das ihm Timotheus von der Gemeine, an die er schreibt, gemacht hatte, auch diese Züge müssen mit enthalten gewesen sein. Wenn wir denn freilich auch das Irdische wollen vergessen und ihm Lebe wohl sagen: sollen wir uns auch trennen von den geistigen Freuden? sollen wir darauf denn keinen Werth legen? sollen wir der geistigen Schmerzen uns entschlagen, welche, wenn sie uns gleich das Bild der vergangenen Zeit in einem geringen Grade wiederholen, doch auf der andern Seite das Zeugniß enthalten, wie wir fähig sind geistig bewegt zu werden? Das m. g. F. ist gewiß der Wille und die Meinung des Apostels nicht gewesen. Aber wenn wir Gott preisen wollen für dasjenige, was er uns in dieser Hinsicht gegeben hat, wenn wir ihn preisen wollen für die reinen Freuden unsers Lebens, wenn wir ihn preisen wollen für die Schmerzen desselben – und das werden wir uns doch sagen müssen, daß wir das eine nicht können ohne das andre, weil beides unzertrennlich verbunden ist – wollen wir ihm danken: so kann es nur geschehen, nicht nur weil wir überzeugt sind, daß alle guten Gaben von oben herabkommen, sondern 9 nun,] nun. 39 Vgl. Jak 1,17

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auch, daß alles was von oben kommt, eine gute Gabe ist. | So mögen wir auch für die Freuden und Leiden, die uns das zurückgelegte Jahr unsers Lebens gebracht hat, den Herrn preisen nur deswegen, weil wir inne geworden sind, daß denen, die ihn lieben, alle Dinge in der Welt zum Besten gereichen müssen. Was sollen wir also, wenn unser Blick auf die Schmerzen und Freuden eines vergangenen Jahres fällt, darin suchen? Nichts anderes als das, wie sie uns zum Besten gereicht haben. Was heißt aber das? Nur wie sie sich verhalten zu dem Werke unsres Glaubens, zu der Arbeit unserer Liebe und zu der Beharrlichkeit unserer Hoffnung. Wenn wir also nach diesem fragen, so werden wir jenes schon von selbst dabei gedenken. Was uns gefördert hat und nur gefördert hat im Frieden mit Gott durch die Gerechtigkeit, die nur ihm gilt, und in dem Gefühl der Seeligkeit, die in der Gemeinschaft des Herzens mit ihm liegt: ist es nicht das traurige Gefühl der menschlichen Sündhaftigkeit, welches dabei mußte überwunden werden? wenn wir in dem Werke des Glaubens beigetragen haben zum Siege über die Welt: mußten wir nicht immer einen Sieg über dasjenige erkämpfen, was in uns der Welt angehört? und können wir dabei uns des Schmerzes erwehren? Wenn wir der Arbeit der Liebe gedenken: o so ist es nicht möglich, daß wir nicht auch ihrer Leiden und Schmerzen | gedenken sollten; denn beide sind es, die uns auffordern, unermüdet die Arbeit der Liebe zu treiben. Wenn wir endlich nach der Beharrlichkeit unsrer Hoffnung fragen, so sind es die wechselnden Ereignisse unsers Lebens, die beständige Mischung von Freude und Schmerz, die das Gemüth so leicht irre machen, die die Beharrlichkeit der Hoffnung aufheben, und ein ungleiches und ungewisses Schwanken in derselben hervorbringen. Fragen wir also nach dem rechten Innersten, worauf der Apostel uns aufmerksam macht: o so wird sich alles Uebrige, das ganze Bild unsers Lebens unsrer Seele vergegenwärtigen, aber alles wird uns nur aus dem einen Gesichtspunkt erscheinen, nach welchem es für den Christen da ist und für ihn Werth hat. Wir werden fragen nach den Schmerzen und Freuden des vergangenen Jahres, nicht um zu wissen, ob es reicher gewesen ist an dem einen oder andern, und ob es uns mehr Veranlassung gegeben hat zum Dank oder zur Klage; sondern danken werden wir für alles, insofern es Gutes in uns gewirkt hat, und daher auch für die Leiden, die unser Herz mehr befestigt haben; und klagen werden wir über alles, was uns nicht weiter geführt hat auf dem Wege des Heils, und daher auch darüber, wenn die Zahl der Freuden, die uns nicht zum Besten gedient haben, groß gewesen ist, und wenn wir Schmerzen haben vorübergehen lassen, die uns im Guten hätten stärken können. Und nur die so sind, werden Ursache | haben, auch für die Zukunft auf ein beständiges Wachsen in dem Werke des Glaubens, in der Arbeit der Liebe und in der Beharrlichkeit der Hoffnung zu rechnen; nur diejenigen, deren 4–5 Vgl. Röm 8,28

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Dank gegen Gott in Beziehung auf die vergangene Zeit ihres Lebens auf diese Gegenstände vorzüglich gerichtet ist, können darauf rechnen, daß sie ein wohlgefälliges Opfer des Dankes vor Gott darbringen; und nur sie können sagen, daß sie in Betrachtung der Vergangenheit das Werk des Glaubens und die Arbeit der Liebe in sich gefördert sehen, und daß ihnen dieselbe eine Beharrlichkeit der Hoffnung hervorgebracht hat, die sie immer sicherer auf die Zukunft hinweiset, welche ihnen noch bevorsteht. Und so laßt uns in diesen Zeiten, die der Erinnerung an die Vergangenheit gewidmet sind, der Lehre und den Worten des Apostels folgen. Laßt uns auf nichts anderes sehen, als auf die christliche Gottseligkeit in unserm Leben; laßt uns nur dessen uns zu erfreuen suchen, was uns hierin gestärkt und geläutert hat, und in allem, was uns dazu behülflich gewesen ist, den Beweis der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit erblicken, in allem dagegen, was wir nicht benutzt haben für dieses herrliche Ziel unsers Lebens, den Beweis unsrer eigenen Schwachheit, zugleich aber auch im lebendigen Glauben und in treuer Liebe der seligen Hoffnung leben, daß die Gnade Gottes | auch in den Schwachen sich immer kräftiger erweisen wird von einer Zeit zur andern, bis da erscheinen wird die Herrlichkeit, die an uns allen soll offenbart werden. Amen. Heiliger Gott und Vater, wir sagen dir Lob und Dank, daß uns auch heute noch vergönnt gewesen ist, auf das vergangene Jahr unsers Lebens zurückzusehen, und uns an deinem Worte zu erbauen, und zu stärken. Ja dein ewiges Wort ist es allein, welches die Menschen tröstet über die Vergänglichkeit des irdischen Lebens; in den geistigen Gütern desselben allein finden wir den Gewinn dieser flüchtigen Zeit. O darum danken wir dir denn auch, daß du unter uns das Reich deines Sohnes, die Verkündigung deines Wortes erhalten hast; dir danken wir dafür, daß wir durch die Belehrung aus deinem Worte und durch die Gemeinschaft unsers christlichen Lebens haben zunehmen können in dem Werke des Glaubens und in der Arbeit der Liebe, und daß dein Geist uns gefordert hat in der Beharrlichkeit unsrer einigen und ewigen Hoffnung auf dich und Jesum Christum unsern Herrn. So laß dir ferner dein Reich unter uns empfohlen sein, und erhalte uns auch in Zukunft dein Wort rein und lauter. Segne überall die christliche Kirche und gieb ihr Pfleger und Versorger in allen denen, denen du Gewalt verliehen hast unter christlichen Völkern. Laß deine Gnade und Barmherzigkeit groß sein über unserm König und dem königlichen Hause, und setze es unter uns, als ein Vorbild christlicher Gottseligkeit und | eines darauf ruhenden Wohlergehens. Dem Könige aber verleihe zu seiner Regierung immerdar den Beistand deines Geistes; segne ihn mit treuen und erleuchteten Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen, was recht und wohlgefällig ist vor dir. Erhalte alle seine Unterthanen gehorsam,

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damit wir unter seinem Schutze uns immer mehr gestalten als ein christliches Volk und das Ende unsers Glaubens davontragen. Segne du einen jeden unter uns in dem ihm beschiedenen Kreise seines Berufs, und laß uns alle auch durch die Erinnerung an das vergangene Jahr unsers Lebens gestärkt werden in der Ueberzeugung, daß, wenn wir gleich über weniges gesetzt sind, wir doch Arbeiter sind in deinem Weinberge. Laß dir Dank sagen dafür, daß du dich derer angenommen hast, die unter den Trübsalen und Widerwärtigkeiten dieses Lebens ihre Zuflucht bei dir gesucht haben, und daß du dich verherrlicht hast mit deiner himmlischen Kraft in den schwachen Gemüthern. Laß du unter uns und unter allen, die mit uns den Namen deines Sohnes bekennen, endlich den seligen Glauben immer fester werden und die Hoffnung immer beharrlicher, daß denen die dich lieben und nicht müde werden in der Arbeit der Liebe, alle Dinge zum Besten gereichen müssen. Amen.

[Liederblatt vom 29. Dezember 1822:] Am Sonntag nach Weihnachten 1822.

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Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich etc. [1.] Auf auf, den Herrn zu loben / Erwache mein Gemüth! / Dem großen Vater droben / Erschall ein frommes Lied! / Denn wer erhielt mein Leben / In dem vergangnen Jahr, / Wenn nicht, der mirs gegeben, / Der Herr, mein Helfer war? // [2.] Beschützer aller Welten, / Wie soll ich nach Gebühr, / Wie kann ich dir vergelten, / Was du gethan an mir? / Mein Opfer ist geringe; / Ein dir ergebner Sinn, / Ist, Herr, was ich dir bringe, / Nimm du es gnädig hin. // [3.] Verzeihe mir die Sünde, / Die ich bisher verübt, / Weil ich mit Reu empfinde, / Daß ich dich so betrübt. / Verzeihe mir und dämpfe / Die sündliche Begier; / Gieb, daß ich glücklich kämpfe, / Des Geistes Beistand mir. // [4.] Hilf du mir kräftig sorgen, / Wie ich so leben mag, / Daß ich an jedem Morgen / Denk an den letzten Tag; / Und wird die Stunde schlagen, / So gieb, daß ich erfreut / Von Herzen könne sagen, / Komm, Herr, ich bin bereit. // Nach dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Schau hin in die vergangnen Zeiten, / O Christ, und sammle Weisheit ein, / Entfernt vom Dienst der Eitelkeiten, / Der Frömmigkeit dein Herz zu weihn! / Nur sie erhält in Noth und Tod / Die Seele froh und still zu Gott. // [2.] O danke Gott für alle Freuden, / Womit er dich so oft erquickt; / Doch dank ihm auch für jedes Leiden, / Nur Liebe hat dir’s zugeschickt. / Denn Gottes Rath bleibt weis’ und gut / Bei allem, was er an dir thut. // [3.] Vergiß 13–15 Vgl. Röm 8,28

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nicht, wie er dich beschüzte, / Dir in Gefahr zur Seite trat, / Dir gab, was deiner Seele nüzte, / So oft dein Herz ihn darum bat; / Ja wie er dir noch mehr gewährt, / Als jemals du von ihm begehrt. // [4.] Erinnre dich der Gnadenstunden, / Die der Allliebende dir gab; / Sind sie in seinem Dienst geschwunden, / So fürchte weder Tod noch Grab. / Dir bleibt von so verlebter Zeit, / Noch der Gewinn in Ewigkeit. // [5.] Doch schau, erfüllt von Schaam und Reue, / Auf deine Fehler auch zurück: / Ermuntre dich zu fester Treue / Und ernster Sorge für dein Glück; / So sammelst du noch Segen ein / Selbst aus den Fehlern, die dich reun. // [6.] So brauche treu das kurze Leben, / Wie dir dein Gott geboten hat; / Ermüde nicht in deinem Streben, / Zu säen hier die edle Saat, / Die für die Ewigkeit dir reift, / Und einst die Freudenerndte häuft. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend wird etc. Der du mich führst auf dunkeln Wegen, / Verbirg mir nicht dein Angesicht, / Sei mir im Herzen stets zugegen, / Bleib in der Finsterniß mein Licht. / Mich ziehe die Gewalt der Liebe / Zu dir, zu meinem Vater hin, / Dir weih ich alle meine Triebe, / Dem ich in Christo theuer bin. //

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Nachschrift der Predigt vom 7. Juli 1822 nachmittags, SAr 83, Bl. 62r; Andrae – Faksimile (89,6 %).

Am 1. Januar 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Neujahr, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 3,26–28 Nachschrift; SAr 103, S. 861–882; Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Galater III, 26–28. Denn ihr seid alle Gottes Kinder, durch den Glauben an Christum Jesum. Denn wie viele eurer getauft sind, die haben Christum angezogen. Hier ist kein Jude noch Grieche, hier ist kein Knecht noch Freier, hier ist kein Mann noch Weib, denn ihr seid allzumal Einer in Christo Jesu. M. a. F., Die verlesenen Worte des Apostels gehören zu seiner Auseinandersetzung über die größte Veränderung, die sich in menschlichen Dingen ereignen kann, über den allgemeinen Wendepunkt der Geschichte, indem er vergleicht die Zeit, wo die Menschen irgendwie standen unter dem Buchstaben des Gesetzes, mit der, wo der Glaube erschienen war, und sie zur Kindschaft Gottes erhoben hatte. Auch wir, m. a. F., feiern heute einen Abschnitt der Zeit, in welchem ein neues Jahr unserer christlichen Zeitrechnung beginnt, und es ist natürlich, daß sich uns an einem Tage wie diesem Vergangenheit und Zukunft | auf eine bestimmte Weise scheiden. Allein eben deswegen, weil dieser in Beziehung auf menschliche Dinge eine willkürliche Einrichtung ist, und der Abschnitt, den er bezeichnet, willkürlich, so ist er auch im Allgemeinen in Beziehung auf menschliche Dinge unbedeutend. Nicht so ein neues Jahr, mit welchem irgend eine bestimmte neue Zeit in irgend einer Hinsicht begonnen. Dennoch aber erwarten wir von einem solchen Tage immer das Neue, sehen die Zukunft, in die wir eintreten sollen, fragen, was sie bringen werde, halten Musterung über unsere Verhältnisse, fragen, welche aushalten werden in dem neuen Jahre des Lebens, und welche dagegen verschwimmen in dem Strome der Zeit. Was ist natürlicher für uns, als daß wir zurückgehen auf jene große Veränderung, und uns kräftigen in der Überzeugung, daß wir in dem, was diese gebracht, und in dem Antheil an ihren Segnungen, vollkommen Beruhigung finden über alles, was | der Wechsel der Dinge uns geben und nehmen möge. Das sei es, was wir 23 verschwimmen] verschimmen

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nach Anleitung der Worte unseres Textes jetzt näher erwägen wollen. Der Apostel aber erinnert uns vorzüglich an zweierlei, nämlich erstens, wie durch die Erscheinung des Herrn unser Verhältniß gegen Gott festgestellt ist, und zweitens, in welches Verhältniß wir seit seiner Erscheinung unter einander getreten sind. Ihr seid allzumal Gottes Kinder durch den Glauben an Christum, und ihr seid Eins unter einander in Christo. Dies beides laßt uns jetzt mit einander erwägen.

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I. Was das Erste betrifft, so ist es wohl allgemein bekannt, wie unsicher und schwankend in den Gemüthern der Menschen ihr Verhältniß gegen Gott immer gewesen ist, bis der erschien, in dem wir den Abglanz der göttlichen Herrlichkeit erblicken, und durch den wir uns auch immer inniger mit Gott befreunden können. Das Gefühl der Abhängigkeit von Gott ist freilich allgemein, und der Mensch vermag sich demselben | nicht zu entziehen ohne daß das Beste seiner Natur in ihm untergehe. Aber wenn die Menschen das höchste Wesen betrachten als den Urheber ihrer Schicksale und aller Veränderungen in der menschlichen Welt auf der einen Seite, auf der andern, wie es ihnen ihr Herz sagen muß, als den Richter alles Bösen, und dem das Gute nur gefällt, wie gestaltet sich beides gewöhnlich in ihrer Seele zusammen? Wenn ihnen von dem, was ihnen begegnet, sei es erfreulich oder widerwärtig, der Zusammenhang mit ihren Handlungen so nahe vor Augen liegt, dann sehen sie das Angenehme an als die göttliche Belohnung für das Gute, das Widerwärtige aber als Strafe für das Unvollkommene unter ihnen. Wenn sich ihnen dieser Zusammenhang verbirgt, und sie sich doch von dem Wechsel Rechenschaft geben wollen, so denken sie sich Gott in einem gewissen | Bestreben, was unter die Menschen vertheilt wird, gegen einander auszugleichen. Wenn sie ein wünschenswerthes Gut lange besessen und in sich aufgenommen haben, so denken sie Gott müsse es ihnen nehmen, um es einem Andern zu geben, der lange entbehrte. Wenn ein neues Heil aufgeht unter den Menschen, eine unerwartete Segnung, so vergleichen sie dieselbe mit der früheren Entbehrung, und sehen sie an als einen Ersatz der Gerechtigkeit und der Liebe Gottes. Wollen wir, m. g. F., diese natürlichen Empfindungen des menschlichen Herzens, die so leicht entsprechen den Gedanken des menschlichen Verstandes tadelnd verwerfen? O sie mögen retten, wo dem Menschen nichts besseres gegeben ist. Wenn sie auch nicht vermögen unter allen Stürmen des Lebens ein reines Herz immer aufrecht zu erhalten, daß seine Reinheit nicht verloren gehe, nicht weniger den entgegengesetzten Übermuth des Herzens zu zäh|men, so kann es doch nicht fehlen, sie unterhalten eine, wenn auch lose Gemeinschaft der Erde mit dem Himmel, sie bewahren wenigstens den herbesten 27 wünschenswerthes] wünschenwerthes

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Ausbruch des Schmerzes und der sinnlichen Freude, sie mäßigen das, was sie nicht im Stande sind freilich so dem Höheren zu unterwerfen, daß eine ruhige Einheit der Seele entstände. Denn mehr als dieses können wir ihnen nicht zuschreiben, und hat darin der Mensch seinen Frieden mit Gott geschlossen, so verneinen wir es, denn wenn ihm das Gute und Erfreuliche erscheint als der Lohn für die Herrschaft der Vernunft über die Sinnlichkeit und des edlen Bestrebens des Menschen und das Widrige als die natürliche Folge der Vergehungen der Kinder Eva’s, wo findet er das Maaß, um recht zu messen, und sich zufrieden zu stellen? Wie oft erscheint ihm nicht das Gegen|theil von dem, was er erwartet? wer bringt ihn zur Ruhe, wenn er sieht, daß die Guten leiden, daß die Bösen die Güter der Erde genießen und alle Macht ungestört mißbrauchen? wie will er endlich dasjenige finden unter den Schwankungen bewegter Zeiten, was er nicht nachweisen kann, wo alles still in der Welt seinen Gang geht? Und, m. g. F., die wir Kinder Gottes sind durch den Glauben an Christum Jesum, uns ist etwas Besseres gegeben; wir haben nicht nöthig uns bei diesen unstäten und so oft schwankenden Gedanken zu beruhigen; denn für uns giebt es in der göttlichen Handlungsweise keinen Gegensatz zwischen Belohnung und Strafe, keinen Gegensatz und keinen Wechsel zwischen Geben und Nehmen. „So ist denn nichts Verdammliches, sagt der Apostel, an denen, die in Christo sind, wer will uns verdammen, Christus ist hier, der gerecht macht.“ Wer nicht verdammt wird, der kann nicht bestraft werden. Aber so wenig wir als Kinder Gottes jemals von dem, der in Christo Jesu unser Vater ist, Strafe erwarten können, eben so wenig kommt uns in den Sinn irgend eine Freude, irgend ein Genuß, den er uns gestattet, | als Belohnung anzusehen für das Gute. Denn die Kinder in Christo, sie kennen die Vorschrift ihres Herrn und Meisters: „wenn ihr alles gethan habt, was ihr zu thun schuldig seid, so sprechet: wir sind unnütze Knechte.“ Auf Lohn wollen und können wir keinen Anspruch machen; Einer nur verdient Lohn, der uns wieder hergestellt hat zu Kindern Gottes. Und welchen Lohn begehrten wir? Keinen als daß alle möchten Kinder Gottes werden in ihm, dem die Seelen der Menschen sein himmlischer Vater hat zum Lohn gegeben, daß er die Beunruhigten zum Frieden bringe, daß er die, welche das göttliche Wesen nicht verstehen konnten, versöhne mit dem Vater, den sie kennen lernen in seinem Sohne. Und worauf anders, m. g. F., beziehen wir alles, was im menschlichen Leben kommt und geht, als darauf, daß es uns ein Mittel werden soll, den Menschen Gottes in uns auszubilden, der zu jedem guten | Werke geschickt sei, unser Gemüth zu üben und zuzunehmen in der Heiligung. Denn wem der Herr Frieden schickt in seinem Sohne, und welche Kinder 31 alle] all 19–21 Röm 8,1.33–34

27–28 Vgl. Lk 17,10

37–38 Vgl. 2Tim 3,17

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Gottes sind, die wissen, daß denen, die Gott lieben, und in seinem Sohne bleiben, alle Dinge in der Welt zu Besten gereichen müssen. Und eben deswegen, m. g. F., weil wir den Lohn nicht suchen und die Strafe nicht fürchten, weil alles uns auf gleiche Weise ein Mittel der Heiligung sein und werden kann: so müssen wir auch das andere zugeben, daß es für die Kinder Gottes in Christo keinen Wechsel gäbe zwischen Geben und Nehmen. Nicht nimmt der Herr, wem er gegeben, und braucht zu nehmen um zu geben dem Andern; es ist eine unerschöpfliche Fülle von Gnade für alle aufgethan in demjenigen, in welchem wir Kinder Gottes sind. Eine schöne Ergebung ist es, welche wir in der Geschichte des alten Bundes bei einem Mann finden, der uns aufgestellt wird als das Muster eines Betrübten, der, nachdem ihm der Herr alle irdischen Segnungen entzogen, nachdem er ihm die eigene Lebenskraft geschwächt und das Häuflein derer, | die er ihm vertraut, zerstreut hatte, dennoch ausrief: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.“ Wir aber, m. g. F., wir können dem frommen Manne diese Worte nur uneigentlich nachsprechen, der Herr nimmt uns nichts, und giebt es einem Andern; wenn Eins geht und das Andere kommt, so wissen wir, daß dieses gut ist wie jenes, wir wissen, daß alle gute Gabe von oben kommt, und was daher kommt, gut ist. Der Vater nimmt den Kindern nichts, sondern er giebt ihnen nur. Was nicht mehr gut ist, ihnen zu lassen wäre nicht Geben, sondern Nehmen vielmehr. Wenn wir nun als Kinder Gottes in Christo wissen, daß der Vater uns liebt, so wissen wir auch, daß er uns nur immer giebt, und er, der selbst nicht bedürftig und eingeschränkt, kann auch jedem seiner geliebten Kinder nur geben in jedem Augenblick. So wollen wir denn in diesem frohen Gefühl willkommen heißen das neue Jahr unseres Lebens, es wird wechselreich sein für alle mehr | oder weniger, für den Einen mehr, für den Andern weniger, es wird nicht fehlen an Freude und Schmerz, beides sei uns willkommen, denn es kommt aus der Hand des Vaters, der nur gute Gaben geben kann. Und wenn wir jetzt in einer heitern frohen Stimmung des Gemüths sind, und so in das neue Jahr hinausschauen, so laßt sie uns festhalten und nicht vergessen, wie wahr es ist, was wir uns so eben sagten, daß alle gute Gabe von dem Vater des Lichtes kommt, und daß das, was der Vater uns giebt, allemal eine gute Gabe ist. Laßt uns nicht murren, wenn auch das neue Jahr uns trübt, und laßt uns nur daran festhalten, daß wir Kinder Gottes sind in Christo Jesu. II. Zweitens, m. g. F., erinnert uns der Apostel daran, wie unsere Verhältnisse unter einander durch unsern Erlöser gestellt sind, indem er sagt: „hier ist kein Jude noch Grieche, kein Knecht noch Freier, kein Mann noch Weib, ihr 1–2 Vgl. Röm 8,28

14–15 Hiob 1,21

19.33 Vgl. Jak 1,17

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seid alle Einer in Christo Jesu.“ Wie weit, m. g. F., die Menschen davon entfernt | sind außer Christo alle Einer zu sein, wissen wir; zwar steht keiner im menschlichen Geschlecht für sich allein, jeder gehört irgend einem Ganzen an, und hat mehrere, mit denen er enger verbunden ist, und ein Ganzes ausmacht. Aber wenn wir an den ganzen Umfang des menschlichen Geschlechtes denken, wie gering kommen uns diese Verbindungen vor? Und wenn in der Liebe die Vereinigung der Menschen geschlossen ist, wie viel hat jeder unter seinen Brüdern, mit denen er nichts zu schaffen hat, die ihm gleichgiltig sind, die er kann als Feinde nie aber als Brüder denken; und was ist die Geschichte aller Weltbegebenheiten anders als ein beständiger Wechsel dieser Empfindung? Jetzt befreunden sich die Menschen, dann stoßen sie sich ab. Wenn jeder einen Kreis hat, durch den er an seine Lieben gebunden ist, so ist er zugleich in die Grenzen desselben gestellt, und die außerhalb desselben sind, was empfindet er | gegen sie? Er duldet sie oder stellt sich ihnen feindselig gegenüber. Das Eine und das Andere ist nicht ein Einssein, wie es in unserem Texte heißt. Der Apostel erinnert uns in den Worten desselben an die wesentlichen Verschiedenheiten unter den Menschen, und an allerlei, aus dem schon damals die christliche Kirche zusammengesetzt und immerhin sein wird. Juden und Griechen, das war damals in Beziehung auf die Angelegenheiten des Glaubens die wesentliche Verschiedenheit unter den Völkern, und so weit man sich denken konnte die Kirche sich verbreitend[,] mußten ihre Bestandtheile aus einem von ihnen genommen sein. Knechte und Freie war der wesentliche Unterschied unter den Verhältnissen der einzelnen Menschen; doch waren diese mehr getrennt, wie unter Freien, die nach der Ordnung der menschlichen Dinge einander gehorchen und gebieten. Zuletzt war noch die natürliche Verschiedenheit der Geschlechter, auf der das Bestehen der menschlichen Welt beruht. Wenn wir nun zunächst nur daran denken, wie Mann und Weib nicht ohne einander sein können, und in irgend einem Sinne Freie und Knechte zugleich, wo die Verhältnisse innerlich sich gestalteten; | so müssen wir sagen, beide müssen sich lieben, und ein menschliches Verhältniß ist es überall nur, wo das ist. Aber leugnen wir nicht, betrachten wir auch den besten Zustand der Menschen: es ist dennoch eine verborgene Feindschaft gesetzt unter denen, die so zusammengehörend bedeutend verschieden sind von einander. Ist ein freundliches Verhältniß unter Herren und Knechten, so hätten die ersteren ihr Verhältniß zu den andern nicht erkannt; ist das Verhältniß der Geschlechter anständig und liebevoll eingerichtet, so haben sie das Gefühl von der Verschiedenheit der Natur in einem und andern, und das um so erfreulicher, wenn wir an die Verschiedenheit der Völker denken, wo Friede und Krieg wechseln, Freundschaft und Feindschaft sich theilen in die Zeit, so daß man nicht weiß, was der herrschende Zustand ist, so daß alle Völker aus dem Zustande der stätigen Feindschaft

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übergehen zu dem, wo der Friede dauernder waltet. Sehen wir nun, wie unter den Verhältnissen die Liebe gestaltet ist, so sagen wir, sie ist begrenzt durch Eigennutz | und Selbstliebe, da ist an eine wahre Verschmelzung unter einander, Einer zu sein trotz der Verschiedenheit, nicht zu denken, aber in Christo, m. g. F., sind wir alle Eins. Doch indem ich das so hinstelle als Gegensatz zu dem, was ich als das Verhältniß der natürlichen Menschen in Erinnerung gebracht, denken vielleicht die Meisten unter euch, das ist ja doch nur ein schöner Traum, wie die Geschichte beweist, es ist die Rede von dem, was sein soll, aber vielleicht niemals wird. Wo wären je alle in Christo frei gewesen, wann eine Zeit so selig, daß das gesagt werden könnte? Allein, m. g. F., der Apostel träumt nicht, sondern redet besonnen indem er unsere Textesworte spricht, hat nicht eine ferne Zukunft in Gedanken, sondern als unmittelbar gegenwärtig stellt er es hin: „ihr, die ihr Kinder Gottes seid, seid Einer in ihm.“ So muß er es empfunden haben, es muß ihm Wahrheit seines Lebens gewesen sein, und wahrlich, wenn wir ihn betrachten, wie er in der Schrift und in den Erzählungen von ihm dasteht, so geben wir ihm das Zeugniß, der Mann, der so allen alles zu werden suchte, der zu den Knechten spricht: gedenket, daß ihr dem Herrn | dient und nicht den Menschen, und zu den Herren: bedenket, daß auch euer Herr im Himmel ist, es ist bei ihm kein Ansehen der Person, der den Juden und Griechen vorstellt, wie der Eine gesündigt mit dem Gesetz, der Andere ohne Gesetz, alle mangelten des Ruhms vor Gott und fern seien vom Heile im Evangelio, das zu verkündigen seine Glückseligkeit und Ehre sei, der Allen Alles zu werden suchte, hat der nicht sein ganzes Leben zugebracht, um zu bewirken, daß die Menschen alle Eins werden in Christo? gestehen müssen wir, er hätte es nicht gekonnt, wenn es in ihm nicht so gewesen. So stellt er sich in allen seinen Verhältnissen zu Juden und Griechen, Knechten und Freien, Mann und Weib. Und nun was dem Apostel des Herrn Wahrheit gewesen, was er beweist durch sein Leben, sollten wir nicht können? Warum nicht? haben wir nicht auch den Geist Gottes wie er? sind nicht auch wir Kinder Gottes in Christo wie er? Laßt uns nur, m. g. F., immer das Rechte suchen und darnach trachten, und uns üben, daß wir es haben. Freilich bei den Verschiedenheiten in der menschlichen Natur und | bei dem beschränkten Vermögen des Menschen das zu würdigen, was er nicht in sich findet, wird es nicht fehlen an Mißverständnissen und Reibungen. Milder erscheinen sie, wo das menschliche Herz geweiht ist durch die göttliche Kraft der Liebe, weniger blutig und zerstörend im Großen, aber aufhö26 er] es 18–20 Vgl. Eph 6,7.9

20–23 Vgl. Röm 1,18–3,24

23–24 Vgl. 1Kor 9,19–22

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ren werden sie nie. Sie sind in den innigsten Vereinigungen der Menschen, die Kinder Gottes sind in Christo, so ist es wahr, daß sie nie aufhören werden und die Menschen nie Eins sein in diesem Sinne. Aber so fern das nicht ist, sind sie nicht in Christo Jesu. Wenn wir unter einander, die wir uns angehören, dennoch uns aufreiben und verzehren, so geschieht es immer nur, sofern wir nicht in Christo sind. O wenn wir uns mit unserem Herzen in den versenken, der da kam alle selig zu machen, vor dem alle Unterschiede verschwinden, weil er Alles, auch das Entgegengesetzteste zusammen zu binden weiß mit der Gewalt der Liebe: dann sind wir alle Eins in Christo, dann verschwindet auch uns die Verschiedenheit, wie dem Apostel, indem er spricht: „Hier ist weder Jude noch Grieche, kein Mann noch Weib“, alle | sind Eins und beseelt von dem einen Leben, das von ihm ausgeht, mit der Verschiedenheit ihrer Anlagen sind die Menschen nur verschiedene Werkzeuge desselben, denn es ist Ein Herr und Ein Geist und viele Ämter und Gaben aber indem diese alle zusammengehören, so sind wir Einer in Christo. Wenn wir uns und unsere Brüder im Herrn betrachten, was sehen wir in der Verschiedenheit der Menschen? In den verschiedenen Offenbarungen der göttlichen Herrlichkeit einen Reichthum von Rüstzeugen, deren sich der Herr bedient, um durch sie die Zwecke seiner Segnungen unter den Menschen zu erreichen; eine Fülle verschiedener Arten der Verherrlichung Gottes alle zu einem gemeinschaftlichen Zwecke mit und auf einander wirkend. So sind wir ganz Eins unter einander nur in sofern, als wir uns nicht aus ihm heraussetzen um der irdischen Verhältnisse, und wollen, daß kein Zwiespalt hervortrete und die Einheit des Geistes in der Liebe gestört werde. Aber | m. g. F., eben dieses Einsseinwollen bei aller Verschiedenheit der Natur und der Zustände der Menschen, es ist eine Liebe von der noch immer nicht ganz durchdrungen sind die, die sie in sich tragen könnten, weil sie noch nicht recht Eins sind mit Christo, eine Liebe ihm eigenthümlich, ein Preis, der Christo allein gebührt – einen solchen Mittelpunkt des menschlichen Geschlechtes mußte es geben, um den sich alle sammeln konnten. Aber es ist nicht eine Liebe, die er beschränkte etwa auf die, welche, ich will nicht sagen, von den Juden glaubten, daß sie besonders in Christo seien, sondern auf die auch nicht einmal, die sich überhaupt zu ihm bekennen. Wie wären wir seiner Segnungen theilhaftig worden, hätte er seine Liebe nur erstreckt auf die, die schon in ihm waren, und wären diese nicht zu unseren Vorfahren gekommen mit der beseligenden Kunde. So lieben wir die Einen, weil sie mit uns in Christo sind, die Andern weil sie in ihm mit uns sein sollen, und lenken alle Segnungen der erlösenden Liebe Christi auf sie hin; und wenn solche sind, die das Evange|lium kennen, aber nicht annehmen, nicht in Christo und mit uns sein wollen, so geschieht es nur durch die Kraft des Herrn, wenn die Decke von ihren Augen fällt; aber die Liebe dringt uns, ihre 14–16 Vgl. 1Kor 12,4–5

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Augen davon zu befreien, damit die das Herz beseligende Herrlichkeit des Sohnes vom Vater in sie dringe. Je mehr wir danach streben werden in Christo zu sein, um so vollkommner werden wir Eins sein unter einander in ihm. So nicht uns das Menschliche befällt, zwischen uns und die Brüder tritt und wir das Band der Einigkeit locker fühlen, so versenken wir uns in ihn und kehren zurück zu ihm in dem Gefühl, daß wir Einer sind in ihm, und knüpfen das Band der Liebe fester. Das, m. g. F., hängt nur von jedem ab, Eins zu sein mit seinen Brüdern, und so müssen wir hoffen von einer Zeit zur andern, daß, wenn die Kraft des Glaubens richtig waltet, wir alle lebendige Reben am Weinstocke sind und bleiben, daß denn auch die Einheit Aller in dem Einen, der Alle zu sich ziehen will, hervortreten werde von der Welt, und Alles verschwinden, | was dem christlichen Namen nicht Ehre bringt und die Gemüther trennt. Darum müssen wir uns vorzüglich auf die Kraft des göttlichen Werks in der christlichen Gemeinschaft verlassen, die führt uns zumal zu dem Einen, von dem aller Friede dem Menschen kommt, in dem die Liebe der Menschen unter einander ihren Grund hat. Je fester wir in diesem sind, desto weniger wird der Wechsel der Dinge uns diese Güter rauben, welche wir in der Gemeinschaft mit ihnen besitzen, Glaube, Liebe, Hoffnung – ; so sie werden sich mehr und mehr verklären im Glauben an den Herrn, damit sie ihm immer mehr ohne Flecken können dargestellt werden von einem Jahre zum andern. Dazu vereinigen wir uns zum einmüthigen Gebete. Ja barmherziger, gütiger Gott und Vater, was uns segnen kann und Gedeihen geben, brauchen wir nicht erst zu erbitten, es ist allen gegeben in Deinem Sohne, in dem haben wir die Fülle Deiner Gnade und Barmherzigkeit. O so möge denn die Gemeine desselben im|mer mehr erbaut werden auf dem Einen unwandelbaren Grund des Glaubens und der Liebe, möge Dein Wort überall, wo es verkündigt wird, Frucht schaffen zum ewigen Leben, und das Band der christlichen Gemeinschaft immer mehr die Herzen in wahrer brüderlicher Liebe vereinigen. Breite Du das Reich Deines Sohnes aus, laß es nicht fehlen an solchen, die sich einen seligen Beruf daraus machen, das Wort des Evangeliums dahin zu tragen, wo es noch nicht gehört ist, damit alle erleuchtet werden, welche in der Finsterniß des Todes wandeln. – Aber wo das Wort des Herrn gegründet ist, laß die Gemeine zunehmen an Reinheit der Erkenntniß und an Innigkeit der Liebe. Dann werden wir alle haben, woran wir uns halten können, und erkennen, wie Alles, was Du uns schickst, nur zur Förderung unseres Heils dient, und Dir und dem Sohne 3 so] je

30 brüderlicher] brüderliche

9–10 Vgl. Joh 15,4–5

36 an] am

11 Vgl. Joh 12,32

18–19 Vgl. 1Kor 13,13

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Ehre bringen unter Freuden und Leiden. Laß Dir, gütiger Gott und Vater empfohlen sein die christliche Kirche unseres Landes pp. Amen.

[Liederblatt vom 1. Januar 1823:] Am Neujahrstage 1823. 5

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Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der etc. [1.] Herr der da ist und der da war, / Von dankerfüllten Zungen / Sei dir für das verfloßne Jahr / Ein heilig Lied gesungen, / Für Leben, Wohlfahrth, Trost und Rath, / Für Fried und Ruh, für jede That, / Die uns durch dich gelungen. // [2.] Laß auch dies Jahr gesegnet sein, / Das du uns neu gegeben, / Verleih uns Kraft, die Kraft ist dein, / In deiner Furcht zu leben. / Du schüzest uns und du vermehrst / Uns deine Gnade, wenn wir erst / Nach deinem Reiche streben. // [3.] Gieb uns, wofern es dir gefällt, / Des Lebens Ruh und Freuden; / Doch schadet uns das Glück der Welt, / So gieb uns Kreuz und Leiden, / Nur stärke mit Geduld das Herz, / Damit wir nicht in Noth und Schmerz / Die Fröhlichen beneiden. // [4.] Laß Weisheit und Gerechtigkeit / Bei unserm König thronen, / Und Tugend und Zufriedenheit / In unserm Lande wohnen! / Daß Treu und Liebe bei uns sei, / Dies, lieber Vater, dies verleih / In Christo deinem Sohne. // (Rigaer Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herr Gott dich loben etc. [1.] Herr Gott dich loben wir, / Herr Gott wir danken dir, / Dich Vater preist die ganze Welt, / Die deine große Macht erhält. / Du aller Welten großer Geist, / Den Sonne, Mond und Erde preist, / Du bleibest immer wie du bist, / Ein Vater, der uns gnädig ist. / Heilig bist du o Gott, / Heilig bist du o Gott, / Heilig bist du, o Gott, / Voll Heil ist dein Gebot. // [2.] Du der die Sonne wieder rief, / Die prachtvoll ihre Bahn durchlief, / Du leitest sie in das Gebiet, / Wo sie uns neuen Segen glüht, / Sie theilt uns Thätigkeit und Ruh, / Sie führt uns neue Tage zu. / Du, der den Himmel hat gebaut, / Hast gnädig auf uns hergeschaut; / Mehr als der Sterne zahllos Heer, / Sind wir vor dir, du Ewiger, / Du bists, wenn keine Sonne brennt, / Der uns als seine Kinder kennt. // [3.] Du Christe einger Gottessohn, / Du kamst von deines Vaters Thron / Ins Leben unsrer Sterblichkeit, / Erfülltest es mit Seligkeit; / Du bracht’st ein großes neues Jahr / Für die gesammte Menschheit dar; / Als Gott durch dich den Segen sprach, / Dein Licht durch alles Dunkel brach. / Dein göttlich Lehren hören wir, / Und preisen Jesu dich dafür. // [4.] O hilf uns dir stets ähnlich sein, / Daß wir uns deines Himmels freun, / Einst feiern wir ein neues Jahr / An deines Thrones Dankaltar. / Du unser göttlicher Prophet, / Deß Wahrheit fest wie Felsen steht, / Bild’ uns nur ganz nach deinem Sinn, / So folgt uns ewiger Gewinn. // [5.] Täglich laß dein uns würdig sein, / Mach uns von allen Sünden rein, / O Herr und Gott der Heiligkeit / Dir sei das Leben ganz geweiht. / Sei wieder mit uns wie du warst. / Der du dich gnädig

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offenbarst; / Erhöre unser kindlich Flehn / Um Weisheit und um Wohlergehn, / O dürften wir doch nichts bereun, / Wenn dies Jahr wird beschlossen sein. / Amen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun sich der Tag etc. [1.] Dir Gott und Vater danken wir / Für dieses Jahres Heil; / Und flehn vertrauensvoll zu dir, / Sei ferner unser Theil. // [2.] Laß leuchten uns dein Angesicht, / Das uns in Noth bedeckt; / Verlaß uns, o Erbarmer, nicht, / Wenn Unglück uns erschreckt. // [3.] Wenn nach vollbrachtem Lebenslauf / Der Leib in Staub zerfällt: / So nimm den Geist zu dir hinauf / In eine selge Welt. //

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Am 5. Januar 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sonntag nach Neujahr, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 3,17–21 Nachschrift; SAr 103, S. 206–224; Andrae SW II/10, 1856, S. 697–706 Keine Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am Sonntage Epiphanias 1823 am fünften Wintermonds.

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(Lied. 792; 793, 7 und 8.) |

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Tex t. Philipper III, 17–21. Folget mir, lieben Brüder, und sehet auf die, die also wandeln, wie ihr uns habt zum Vorbilde. Denn viele wandeln, von welchen ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich auch mit Weinen, die Feinde des Kreuzes Christi; welcher Ende ist die Verdammniß, welchen der Bauch ihr Gott ist, und ihre Ehre zu Schanden wird, derer, die irdisch gesinnet sind. Unser Wandel aber ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, welcher unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen. M. g. F. Was zuerst in den verlesenen Worten unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, das ist unstreitig das Betrübende, wovon der Apostel selbst den Eindruck hernach zu verwischen sucht durch das Große und Aufrichtende, was darauf folgt. Es | kann uns nun ungewiß scheinen, wenn der Apostel von Feinden des Kreuzes Christi redet, ob er solche meinen konnte, die zur Gemeinschaft der Christen gehörten, oder solche, die außerhalb derselben waren. Denn es muß uns unwahrscheinlich dünken, daß damals, wo man noch nicht in der christlichen Kirche geboren wurde, sondern jeder Einzelne 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 792: „Herr Jesu Christ, mein Leben“ (Melodie von „Herr Christ! der ein’ge Gottessohn“); Nr. 793: „Herr Jesu! Gnadensonne“ (Melodie von „Herr Christ! der ein’ge Gottessohn“)

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nach seiner Überzeugung in dieselbe kam, da sie doch von Anfang an erbaut worden ist auf dem Grund des Kreuzes Christi, doch sollen Feinde des Kreuzes Christi gewesen sein. Auf der andern Seite aber müssen wir uns wieder sagen, in diesem Zusammenhang, wo der Apostel vorher gesagt hatte: „wandelt so wie ihr uns habt zum Vorbilde“, ist es an sich nicht wahrscheinlich, daß er zugleich sollte an solche gedacht haben, die außer der Kirche sind; denn daß diese die Christen nicht konnten zum Vorbilde nehmen, verstand sich von selbst. Auch wenn wir überlegen, wie er in andern Stellen seiner Briefe, zum Beispiel im Anfang seines Briefes an die Römer, wo er von dem Verderben der Juden und Heiden redet, als | welche alle des Ruhmes ermangeln, den sie vor Gott haben sollten, wie er es da doch nicht mit einer solchen Erschütterung des Gemüths thut wie hier „wie ich euch oft gesagt habe, nun aber sage ich auch mit Weinen, die Feinde des Kreuzes Christi“: so dürfen wir nicht zweifelhaft sein, er hat an solche gedacht, die in der Gemeinschaft der Christen waren; und was für Vorstellungen wir auch genährt haben mögen von der Reinheit, von der Einfalt und Unschuld der ersten christlichen Kirche, so sehen wir doch aus diesen Worten des Apostels, daß auch damals schon nach dem Rathschluß des Herrn das Böse mit dem Guten vermischt war; und gewiß dürfen wir nicht glauben, daß es übertriebene Ausdrücke sind, deren der Apostel sich bedient, weil die ganze Rede in dem Briefe höchst ruhig ist. Fragen wir aber, wie konnte es zugehen, daß es unter den Christen der damaligen Zeit schon Feinde des Kreuzes Christi gab, von denen der Apostel sich solcher Ausdrücke bedient? so müssen wir allerdings gestehen, es wurde nicht leicht einer ein Christ, für welchen nicht das aufhörte, was der Apostel so ausdrückt, daß das Kreuz Christi den Einen ein Ärgerniß war, | den Andern eine Thorheit. Denn so lange die Verkündigung des Gekreuzigten einen solchen Eindruck machte, war der Übergang zur christlichen Gemeine nicht möglich. Aber näher betrachtet werden wir finden, es kann wohl neben einander bestehen, daß jemand auf der Erlösung Christi, wie sie gewesen ist, endend mit seinem Leiden und Tode, recht einfältig besteht, und doch für sich ein Feind des Kreuzes Christi ist. Denn es waren damals verbreitet gar viele sinnliche Vorstellungen von einer bessern Zeit, die durch den, welchen Gott zum Erlöser der Welt gesandt hatte, herbeigeführt werden sollte. Nun ließ sich wohl denken, daß dies im Wesentlichen erfüllt worden sei in dem Reiche des Herrn, zugleich aber auch denken, daß damit dem Leiden wesentlich ein Ende gemacht sein sollte, und alle seine Bekenner sich eines fröhlichen Lebens erfreuen sollten, was auch wahr ist, sobald wir nicht die irdische, sondern die himmlische Freude der Seele mei5 nicht] Ergänzung aus SW II/10, S. 698 9–11 Vgl. Röm 3,23

26–27 Vgl. 1Kor 1,23

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nen. Aber aus jenen sinnlichen Vorstellungen konnte leicht hervorgehen, daß viele Christen | das Wort vergaßen, welches der Erlöser gesprochen hatte „es wird dem Jünger nicht besser ergehen als dem Meister; haben sie mich verfolgt und gemißhandelt und aus ihren Schulen gewiesen und vor ihre Gerichte gestellt, so werden sie auch euch desgleichen thun.“ Sobald nun solchen, die aus der Erlösung ein irdisch fröhliches und beß’res Leben erwarteten, die Leiden dargeboten wurden, die in der Gemeinschaft mit Christo nicht zu vermeiden waren, so zeigten sie sich als Feinde Christi. Und darum faßt der Apostel die einzelnen Ausdrücke, deren er sich bedient, „deren Bauch ihr Gott ist, und deren Ehre zu Schanden wird“, zusammen in dem einen, dem „irdisch gesinnt sein“. So lange der Mensch irdisch gesinnt ist, das heißt mit dem Tichten und Trachten seines Herzens auf das Irdische gerichtet, ist er wesentlich ein Feind des Kreuzes Christi, mag er auch seinen Worten, mag er auch den besseren Empfindungen seines Her|zens nach an Christum glauben. Denn es ist nicht gemeint das Kreuz Christi mit freudigem Muthe auf sich zu nehmen, sondern mit Widerstreben und Murren; und wenn er es auf sich nehmen muß, so dient es ihm nicht zur Befestigung seines Glaubens, sondern gereicht seiner Seele zum Zweifel, was aus der falschen Vorstellung von demjenigen, was die Wirkung der Erlösung Christi sein soll, hervorgeht. Legt also der Mensch noch einen Werth auf sinnliches Wohlbefinden, so ist er ein Feind des Kreuzes Christi. Hat er irdische Ehre im Sinne, und will sich vor der Welt hervorthun: so ist er ein Feind der Schmach Christi, die zu seinem Leiden gehört. Und so von allem Einzelnen, was sich dem noch hinzufügen ließe, wird sich bestätigen, die irdisch Gesinnten sind Feinde des Kreuzes Khristi; ihr Glaube ist nicht lauter und fest. Und wie der Apostel das Irdischgesinntsein als die Ursach davon angiebt, wie es wohl könnte Feinde des Kreuzes Christi | unter den Christen selbst geben: so sagt er als die Folge davon, ihr Ende sei die Verdammniß. Natürlich ist dies nur so zu verstehen, daß ihr Ende die Verdammniß ist, wenn sie bei der Feindschaft gegen das Kreuz Christi beharren. Und das, m. g. F., dürfen wir nicht ansehen als ein willkührliches Gericht Gottes, sondern es ist in der Natur der Sache gegründet; wir können es an denen sehen, die zur Gemeinschaft der christlichen Kirche gehören, aber Feinde des Kreuzes Christi sind. Denn in denen ist ein Verlangen nach der Erlösung von der Sünde, und nach dem Besitz der ewigen Güter des Heils, die Gott den Gläubigen beschieden hat; wenn sie aber auf der andern Seite immer noch, eben weil die Sünde in ihnen ist, und sie nicht der Welt abgestorben sind, doch Feinde des Kreuzes Christi sind, und sich in die göttliche Ordnung des Heils und in die weitere Entwickelung derselben, wie sie von Gott bestimmt ist, nicht finden können: so sind sie im Widerspruch mit sich selbst. | Wenn 11 einen, dem „irdisch gesinnt sein“.] einen „dem irdisch gesinnt sein. 3–5 Vgl. Joh 15,20

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sie die Schmach tragen sollen, so wünschen sie, daß sie nichts mit dem möchten zu schaffen haben, in dessen Gemeinschaft sie leiden sollen. Wenn sie aber auf sich selbst zurückgehen und ihres eigenen Zustandes wahrnehmen: so hat die Vorstellung das Übergewicht in ihnen, daß sie möchten erlöst werden aus demselben. Also was kann ihr Ende anders sein als die Verdammniß? Das Eine oder das Andere muß die Oberhand bekommen in dem menschlichen Gemüth: entweder der Glaube an Christum muß das Irdischgesinntsein zerstören, oder dieses muß jenen verdrängen. Sobald das Erstere ist, so hört für den Menschen auf sein Ende die Verdammniß zu sein. So lange er noch schwankend ist zwischen beiden und in sich unentschieden: so müssen wir sagen, sein Ende ist die Verdammniß, insofern das Irdischgesinntsein in ihm fortdauert. – Nun aber, m. g. F., laßt uns von diesem Betrübenden zu dem Erfreulichen übergehen, was in den Worten unseres Textes darauf folgt. Nachdem nämlich der | Apostel gesagt hat, diejenigen, die wegen ihres Irdischgesinntseins Feinde des Kreuzes Christi wären, eben weil sie an der sinnlichen Lust hingen, welche dem thierischen im Menschen zukommt, und weil sie durch das Verlangen nach eitler Ehre beherrscht würden, bei welchem die freudige Gemeinschaft der Leiden Christi nicht bestehen kann; nachdem er von denen geredet hat, die so Feinde des Kreuzes Christi sind, und ihr Ende die Verdammniß: so sagt er: „Unser Wandel aber“ – unser, die wir uns euch zum Vorbilde stellen können – „ist im Himmel.“ Das konnte der Apostel nicht sagen, so wie auch das Vorige nicht „Folget uns, die ihr uns habt zum Vorbilde, und sehet auf unseren Wandel“, ohne daran zu denken, wie er sich die Gnade Gottes durch unzerbrüchliche Treue in der Gemeinschaft der Leiden Christi erhalten und alle Feindschaft gegen sein Kreuz abgelegt habe, wie ihm alle weltliche Ehre, die er ausgezeichnet durch einen bedeutenden Schatz von Kenntnissen und Gelehrsamkeit unter seinem Volke hätte genießen können, nichts gewesen | war, um sich dem Dienste des Erlösers ganz zu widmen, wie er ununterbrochen alle Beschwerden und Kränkungen ertrage, und allen Leiden und Gefahren muthig entgegengehe, um seinen Beruf, in dem Reiche des Herrn zu arbeiten, treu zu erfüllen, und seine Seligkeit darin finde, daß er denen, die noch in dem Schatten des Todes sitzen, das Evangelium verkündige, welches eine Kraft Gottes ist, selig zu machen die daran glauben. Nur in diesem dankbaren Gefühl gegen die Gnade Gottes, die in ihm als einem auch schwachen Werkzeuge mächtig geworden war, konnte er sagen: „unser Wandel ist im Himmel.“ Und sehet da, m. g. F., das ist das wahrhaft Tröstliche und Erfreuliche. Der Apostel redet hier nicht von einer künftigen Seligkeit, die uns erst werden soll, von einem Wandel in der Zukunft, sondern von dem gegebenen und in jeder Zeit gegenwärtigen, nämlich von der Zuversicht, die Christo folgt, die die Gemeinschaft seiner Leiden 24–29 Vgl. Phil 3,4–11

29–32 Vgl. Phil 1,12–25

33–34 Vgl. Röm 1,16

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nicht scheut, und alle Feindschaft gegen sein Kreuz im | Herzen des Menschen vernichtet hat. Dies „unser Wandel ist im Himmel“ ist der Gegensatz gegen beides: gegen das „die irdisch gesinnt sind“, und gegen das, „deren Ende die Verdammniß ist“. In der ersten Beziehung sagt der Apostel „unser Wandel ist im Himmel“, das heißt wir beschäftigen uns mit den himmlischen Dingen, und streben nach ihnen, und bekümmern uns nicht um das Irdische. Das Himmlische aber in dieser Welt ist nichts anderes als das Reich Gottes, welches Christus gestiftet hat. Wenn also der Apostel in diesem Sinne sagt „unser Wandel ist im Himmel“, so meint er: unser Tichten und Trachten ist nur, wie wir nicht bloß selbst dem Reiche Gottes angehören, sondern auch aus allen Kräften dasselbe fördern können. Um nun eben beides zu können, so beherrschen wir die irdische Lust, so sind wir abgestorben mit Christo der Sünde, so verlassen wir nicht die Gemeinschaft seiner Leiden, so entschlagen wir uns der weltlichen Ehre, und haben das Irdische aus dem Gesichte verloren. Wenn er aber in Beziehung auf das andere Wort, „deren Ende die Verdammniß ist“, sagt: | „unser Wandel ist im Himmel“: so meint er, so wie jene jetzt schon in ihrem irdischen Verlangen und in ihrem Zweifel des Sinnes sind, der am Ende unvermeidlich in Verdammniß ausarten muß, so sind diejenigen, welche die Feindschaft gegen das Kreuz Christi abgelegt haben, und sich den Angelegenheiten seines Reiches ergeben, diese sind jetzt schon der himmlischen Seligkeit theilhaftig, wie auch von ihnen die Schrift sagt: „die an mich glauben, die sind vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“; und wie der Herr selbst sagt: „wer an mich glaubet, der hat das ewige Leben.“ Das ist nicht getrennt zu denken von der ruhigen Einigkeit des Menschen mit sich selbst, von dem ungestörten Frieden des Menschen mit Christo, der den Frieden als sein schönstes Vermächtniß den Seinigen hinterlassen hat, das ist nicht zu denken ohne eine Seligkeit, die daraus entsteht, daß der Mensch an dem, was ihn von der Gemeinschaft mit dem Erlöser entfernen könnte, keinen Theil nimmt, sondern alles dergleichen fern von sich hält, und sich durch nichts, was ihm von irdischen Wider|wärtigkeiten begegnet, hemmen läßt in dem ihm gesetzten Lauf, und stören in der freudigen Thätigkeit für das Reich des Herrn. Stellen wir nun beides neben einander, m. g. F., – so ist es leicht sich zu entscheiden bei dem Zuruf des Apostels: Folget uns, die ihr uns habt zum Vorbilde, und sehet auf die, welche so wandeln, daß wir von ihnen sagen können, ihr Wandel ist im Himmel, und nicht auf die, die also wandeln, daß ihr Ende kein anderes sein kann als die Verdammniß. – Laßt uns aber, m. g. F., was der Apostel hier den Christen seiner Zeit und einer bestimmten Gemeinschaft sagt, auch uns gesagt sein, und laßt uns forschen, 22 sagt:] sagt. 22–23 Vgl. Joh 5,24

23–24 Joh 6,47

26–27 Vgl. Joh 14,27

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wie uns am Anfange eines neuen Jahres Selbstprüfung geziemt, ob auch in uns noch etwas übrig ist von Feindschaft gegen das Kreuz Christi. Denn in demselben Maaße werden wir auch von uns sagen müssen, daß unser Wandel nicht im Himmel ist – wohl wissend, daß es Augenblicke giebt in unserem Leben, in deren Gefolge die Verdammniß ist; und laßt | uns auf denjenigen sehen, den wir zum rechten christlichen Vorbilde haben: damit auch von uns gelten könne, daß unser Wandel im Himmel ist, und wir uns hier der rechten Seligkeit erfreuen, die uns nicht fehlen kann, so wir nur alle Feindschaft gegen das Kreuz Christi ablegen, und uns des Irdischgesinntseins entschlagen. Wenn wir aber fühlen, daß wir des Streites noch nicht enthoben sind; wenn wir fühlen, daß wir nur sagen können, es ist im Zunehmen unser Wandel im Himmel und im allmäligen Verschwinden der Überrest vom Irdischgesinntsein, der in uns geblieben ist; wenn wir mehr als dies von uns nicht sagen können, und darauf zurückkommen müssen, daß von dieser Feindschaft des Kreuzes Christi, die in uns übrig ist, der Grund liegt in der Schwachheit der sinnlichen Natur des Menschen: so laßt uns den Trost vernehmen, den der Apostel uns zuführt, indem er sagt „unser Wandel ist im Himmel, von dannen wir auch warten des Heilandes Jesu Christi, des Herrn, welcher un|sern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, damit er kann auch alle Dinge ihm unterthänig machen.“ Wenn der Apostel hier redet von unserem nichtigen Leibe, was meint er damit anders als eben diese schwache, sinnliche Natur des Menschen, die sonst in der Schrift durch den Ausdruck Fleisch bezeichnet wird, und dem Geist entgegengesetzt ist? Wie aber Fleisch und Leib mit einander verwandt sind, und das Eine für das Andere gesagt werden kann, das leuchtet ein. Diese schwache sinnliche Natur meint der Apostel, weil in ihr der Grund liegt von der Feindschaft des Menschen gegen das Kreuz Christi, und weil sie alles enthält, was ihn zur Verdammniß führt und seinen Wandel im Himmel stört. Nun sagt er: „wir warten von dort des Heilandes Jesu Christi, der unsern nichtigen Leib verklären wird, daß er ähnlich werde seinem verklärten Leibe, nach der Wirkung, womit er kann alle Dinge ihm unterthänig machen.“ | Was aber ist das Wesentliche von dem verklärten Leibe des Herrn? Unstreitig dies, daß in ihm kein Streit war zwischen seiner sinnlichen Natur und dem göttlichen Geist in ihm, sondern die erstere ein treues und allezeit dienstbares Werkzeug des letzteren, ganz durchdrungen von der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, ohne Widerstreben und Feindschaft. Und das, m. g. F., müssen wir uns denken als das Wesentliche der Verklärung, von der wir hoffen, daß der Herr 8 fehlen] so SW II/10, S. 704; Textzeuge: entstehen 28 weil sie] Ergänzung aus SW II/ 10, S. 704 34 Streit] so SW II/10, S. 704; Textzeuge: Wort 36 Kol 2,9

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sie uns wird angedeihen lassen, und daß wir sie bei seiner herrlichen Erscheinung erfahren werden. Ist dies, so müssen wir auch sagen, diese herrliche Erscheinung Christi ist nicht etwas, was auf äußere Art und in der Zukunft und dann plötzlich und auf einmal kommt, sondern sie hängt zusammen mit der unmittelbaren geistigen Gegenwart seiner selbst, die er seinen Jüngern und der Gesammtheit seiner Jünger in der christlichen Kirche bis in Ewigkeit verheißen hat: Der Herr erscheint uns | jedesmal, wenn wir uns an seinem Andenken, an seinem Bilde erquicken, wenn wir in dem Sakrament unser Leben mit dem seinigen vereinigen. Überall wo wir in seiner Gemeinschaft und Gnade zunehmen, da dies nur durch seine Kraft geschehen kann, ist er uns erschienen und gegenwärtig; und jeder solcher Augenblick unseres Lebens ist ein Schritt mehr zu unserer Verklärung. Und das vermag der Herr durch die Kraft, vermöge deren er alle Dinge sich kann unterthänig machen. Und so ist das das Wesen unserer Verklärung und unserer Ähnlichkeit mit seinem verklärten Leibe, daß wir ihm dann ganz und vollkommen unterthänig sind; und so ist das gänzliche Ersterben der Feindschaft in uns gegen das Kreuz Christi erst mit jener Verklärung gegeben, wo wir dem Herrn ganz unterthänig sein werden. Denn, m. g. F., so lange wir ihm noch nicht ganz unterthänig sind, ist ein Widerstreben in uns gegen ihn, und ein Widerstreben gegen ihn, kann es etwas anderes sein als die eine oder die andere Gestalt der Feindschaft gegen sein Kreuz? – So laßt uns denn | wachen; aber, m. g. F., nicht unthätig wachen, sondern die Ermahnung des Apostels festhalten: „Folget uns, die ihr uns habt zum Vorbilde“, indem wir unsere ganze Seligkeit darin setzen und das für das Höchste unseres Lebens ansehen, alle Feindschaft gegen das Kreuz Christi und alles Irdischgesinntsein immer mehr zu besiegen. So laßt uns mit lebendigem Glauben und mit treuem Gehorsam warten auf die immer mehr sich verklärende Erscheinung Christi, und gewiß sein, daß der Herr immer mehr durch seine göttliche Kraft, durch welche er alle Dinge sich kann unterthänig machen, unsern sinnlichen Leib, unsere schwache Natur der vollkommenen Eintracht des sinnlichen Menschen mit dem Geist Gottes ähnlich machen wird, und uns so immer mehr in sein Bild gestalten und immer inniger mit sich vereinigen wird. Das möge er allen denen thun, die in wahrem und lebendigem Glauben auf ihn hoffen, und nichts Größeres und Heiligeres kennen als innige Vereinigung mit dem, in welchem allein Heil gegeben ist. Amen.

3 äußere Art] so SW II/10, S. 705; Textzeuge: einmal 19–20 in uns gegen ihn, und ein Widerstreben] Ergänzung aus SW II/10, S. 705 30 sinnlichen] so SW II/10, S. 706; Textzeuge: himmlischen

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1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,40 Nachschrift; SAr 103, S. 225–254; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 119r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am ersten Sonntage nach Epiphanias 1823 am zwölften Wintermonds. | Tex t. Lukas II, 40. Aber das Kind wuchs und ward stark im Geist, voller Weisheit, und Gottes Gnade war bei ihm. M. a. F., den Zwischenraum in unserm kirchlichen Jahre zwischen der Feier der Geburt des Herrn und der Zeit, die ganz besonders der Betrachtung seines Leidens gewidmet ist, pflegen wir gern in unseren gottesdienstlichen Versammlungen auszufüllen mit der Betrachtung dessen, was uns in seinem Leben besonders wichtig ist. Er ist aber in diesem Jahre ganz vorzüglich kurz, und es ist uns nur gestattet, die allgemeinsten Gesichtspunkte festzuhalten, unter denen sich das Leben des Erlösers von seinem ersten Anfang an, bis er das Werk der Erlösung vollendete, betrachten läßt. Die Worte, die ich gelesen habe, enthalten alles in sich, was uns in der Schrift von der Art gesagt wird, wie sich das menschliche Leben und Wesen des Erlösers von seiner Geburt an entwickelt hat; worüber wir unstreitig so gern mehr wüßten, und um so lieber, | als wir nur mit Mühe die einzelnen Spuren davon zusammenfinden, da doch, was allen Christen so sehr am Herzen liegt, die Vergleichung ihrer selbst mit dem, der ihnen der Weg und die Wahrheit und das Leben geworden ist, uns auch besonders in Beziehung auf die Entwicklung des menschlichen Geistes von großem Werth sein würde. So laßt uns denn um so eifriger uns an diesen wenigen Worten halten und sehen, was wir daraus von der menschlichen Entwicklung des Erlösers erfahren können; und wenn wir das, was uns gesagt wird, zuerst an sich 19–20 Vgl. Joh 14,6

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betrachtet und erwogen haben, so laßt uns dann die Entwicklung des Erlösers mit der uns’rigen vergleichen.

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I. Dreierlei ist es also, was unser Text über die Entwicklung des Erlösers sagt: zuerst das Kind ward stark am Geist, dann es ward voll Weisheit, und endlich Gottes Gnade war bei ihm; und dieses alles wird uns dargestellt als in derjenigen Zeit, in welcher sowohl das körperliche als das geistige Leben noch | im Wachsthum begriffen war – das Kind wuchs; und eben dies wird in jenen drei angegebenen Merkmalen erörtert. Zuerst also, das Kind Jesus ward stark am Geist. Der Erlöser m. g. F., wie er überhaupt, ohngeachtet die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, uns in allem gleich sein sollte, ausgenommen die Sünde, ward uns auch darin gleich, daß als er das Licht dieser Welt erblickte er schwach war am Geist, wie jedes andere neugeborne Menschenkind; fremd in der Welt, die er zuerst erblickte, und unbekannt mit allem in ihr; das Bewußtsein noch umnebelt und dunkel und dämmernd, und schwach das Gefühl des eignen Lebens. Aber wie er wuchs, so ward er stark am Geist; diejenige herrliche Kraft, welche dem Menschen mitzutheilen Gott ihn schon bei seiner Schöpfung von allen andern Geschöpfen unterschied, indem er ihm einhauchte die lebendige und vernünftige Seele, diese Kraft des Geistes entwickelte sich immer mehr in ihm. Nicht die Fülle der Gottheit konnte in ihm wachsen oder zunehmen, diese war von Anbeginn in ihm, ihn unterscheidend von allen andern Menschenkindern, und konnte nur | immer sich selbst gleich bleiben. Aber der menschliche Geist war dasjenige, worin eben diese Fülle der Gottheit sich am deutlichsten zeigte, und wodurch sie am unmittelbarsten wirkte, und dieser wuchs und nahm zu, und das Kind ward stark am Geist, es sehnte sich nach dem Lichte der Erkenntniß, und streckte sich demselben entgegen, es aufnehmend aus dem Umgange der Menschen, die es umgaben, und von dem ersten Augenblick an, wo sein menschliches Auge sich dem Lichte des Tages geöffnet hatte, bildete sich die Welt, in die er gesetzt war, und die ihn umgab, immer mehr seinem innern Bewußtsein ein; und es entwickelte sich in ihm die Fülle der Gedanken, es stärkte sich in ihm die Kraft der Wahrheit; und das Vermögen, die Erkenntniß aus seinem Innern hervorzubringen und zu entwickeln, und sie auch wieder von sich zu geben und andern mitzutheilen, wuchs von einem Tage zum andern. Stark aber mußte auch der sein und werden am Geist, der bestimmt war, das Licht der heilsamen Erkenntniß, derjenigen, die leider am meisten verborgen und am längsten verfinstert | gewesen war unter dem menschlichen Geschlecht, allen seinen Brüdern wieder anzuzünden; ursprünglich mußte in ihm das Licht und die Kraft der Wahrheit sich entwickeln, damit 11 Vgl. Kol 2,9

19–20 Vgl. Gen 2,7

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das, was er in sich bildete und andere lehrte, unbefleckt würde von dem Irrthum, der aller menschlichen Erkenntniß um ihn her anhing. Aber, m. g. F., der Geist muß nicht nur stark werden in sich selbst, sondern auch stark in Beziehung auf alles Übrige in der menschlichen Natur, die ihm zum Werkzeuge zu dienen bestimmt ist; nicht nur das Licht der Erkenntniß muß immer reiner und heller in ihm leuchten, sondern auch die Kraft des Willens, durch welche der Mensch zuerst die sinnlichen Vermögen und Neigungen seiner Natur und vermittelst der ihm verliehenen geistigen und leiblichen Werkzeuge auch die äußern Dinge beherrscht, diese andere und eben so wichtige Seite des Geistes muß auch stark werden. Besonders aber, m. g. F., galt dies für den, welcher bestimmt war, einen Beruf zu erfüllen, dem er nicht treu bleiben, und den er nicht vollenden konnte ohne die rein|ste und stärkste Kraft des Willens, ohne daß er allen Reizen der Lust und allem, was der Schmerz Unangenehmes und für den Menschen Abstoßendes hat, in seinen Handlungen und Unternehmungen einen immer gleichen und kräftigen Widerstand entgegenstellte. Und so wuchs das Kind, und ward stark am Geist. – Aber dann auch, sagt unser Text: es ward voll Weisheit. Darunter m. g. F., verstehen wir nichts anderes als die Anwendung jenes Geistes, der Erkenntniß des Menschen und der Kraft seines Willens, auf die menschlichen Dinge zur Erreichung derjenigen Zwecke, welche das Licht des Geistes ihm vorhält. Ohne diese Weisheit könnte kein Mensch als ein selbstständiges Wesen auch nur in dem niedrigsten und unvollkommensten Sinne des Worts an dem großen Beruf arbeiten, den Gott der Herr dem menschlichen Geschlechte, als er es auf die Erde setzte, gegeben hat, nämlich sich zum Herrn zu machen über alles, was er auf Erden findet. Am aller wenigsten aber vermag der Mensch ohne die wahre Weisheit jenen höheren Beruf, daß er ein Bild | sein soll dem höchsten Wesen gleich eben in diesem Verkehr mit den irdischen Dingen und in dem Bestreben sie zu beherrschen, auf irgend eine Weise zu erfüllen. Darum ist das Starkgewordensein am Geist, wie herrlich auch an sich selbst, doch in Absicht auf das Verhältniß, in welchem jeder einzelne Mensch steht zu dem gemeinsamen Beruf aller Menschen, etwas gleichsam unnütz an ihn Verschwendetes, wenn es ihm fehlt an Weisheit. Hat er noch so viel Erkenntniß in sich zusammengehäuft, besitzt er dabei eine große Kraft des Willens in Entbehrungen und Aufopferungen; aber es fehlt ihm an der richtigen Kenntniß und Behandlungsweise der menschlichen Dinge: so ist die Kraft des Geistes für das gemeinsame Wesen und den Zustand der Menschen leer und vergeblich. Wie viel mehr nun mußte der Erlöser voll Weisheit werden? der, m. g. F., der den großen Beruf das menschliche Geschlecht zu erlösen zwar auf der einen Seite in Beziehung auf das höchste Wesen und dessen gnädige Barmherzigkeit erfüllte bloß durch das, was er war, auf der andern | Seite aber 25 Vgl. Gen 1,28

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den Menschen zum Genuß der Erlösung, die er stiftete, doch nur verhelfen konnte, indem er sie vereinigte zu dem Reiche Gottes, welches wir ganz vorzüglich als sein menschliches Werk ansehen müssen. Das vermochte er aber mit seinen eigenen Kräften nicht, sondern Hilfe und Beistand mußte er dazu haben von andern Menschen. Aber alle ermangelten sie des Ruhmes, den sie vor Gott haben [sollten], alle wandelten sie in dem Schatten des Todes, und sein scharfes Auge mußte sich die wenigen Werkzeuge herausfinden, deren er sich von dem ersten Anfange seines öffentlichen Lebens an bedienen konnte. Darum war ihm zuerst so nothwendig, was auch während seines öffentlichen Lebens von ihm gerühmt wird, daß er, ohne erst durch andere Kunde zu erhalten, wußte, was in dem Menschen war. Der richtige Blick auf das Wesen und auf die Gesinnungen der Menschen, der richtige Verstand aus ihrem Äußern ihr Inneres zu beurtheilen, sich nicht blenden zu lassen durch irgend einen täuschenden Schein; und auf der andern Seite auch hindurchzudringen durch manches, was das eigene Wesen von vornher abschreckt und zurückstößt: das | war das eine, was von Weisheit dem Erlöser nothwendig war, wenn sein Werk auf Erden ihm gelingen sollte. Aber eben dieses Reich Gottes, m. g. F., indem es eine neue Vereinigung der Menschen war zur Befreiung von der Sünde, zur Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit, mußte auch den Grund legen und den Keim in sich enthalten zu einer ganz andern Behandlung aller menschlichen Dinge, es mußte sich unterscheiden jede Handlungsweise im Reiche Gottes von dem, was in ähnlichen Fällen die Kinder der Welt thun. Diese richtige Ansicht der menschlichen Dinge und der Art, wie die Menschen sie zu behandeln und zu gestalten pflegen, zu unterscheiden auf der einen Seite auch die bleichsten und geringsten Spuren von dem göttlichen Funken der Wahrheit und des Geistes, und denselben zu pflegen und anzufachen und lebendig zu erhalten, auf der andern Seite aber auch zu unterscheiden die leisesten Spuren und die verborgensten Wirkungen der Sünde, damit Reines und Unreines auf immer von einander getrennt wären, | damit das so oft sich selbst täuschende, so oft sich selbst verlierende Gewissen auf dem sichern und unzerstörbaren Grunde der Wahrheit fest gebaut würde: das war die Weisheit, von der der Erlöser voll werden mußte, wenn sein Werk auf Erden gelingen sollte. Und wie er nun wuchs; wie er allmälig in die verschiedenen Verhältnisse der Menschen hineingezogen ward; wie der Kreis derer, mit denen er lebte und umging, sich erweiterte, von der Zeit an, wo er in der Einsamkeit des väterlichen Hauses, aber seinen Eltern unterthan lebte, bis dahin, wo er jährlich mit ihnen wandelte nach der Hauptstadt seines Volks, um hier zu schauen die heiligen Gottesdienste des 37 Hauses,] Hauses;

39 Volks] Volk

5–6 Vgl. Röm 3,23

10–11 Vgl. Joh 2,25

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Herrn, und Theil zu nehmen an den Belehrungen über das göttliche Gesetz, bis zu der Zeit, wo sein Geist reif geworden war, und alle seine Kräfte entwickelt; von einer Zeit zur andern, wo er wuchs, ward er mehr voll Weisheit. Was sollen wir aber sagen, m. g. F., wenn unser Text zu diesen beiden noch ein drittes hinzufügt, indem er sagt „und die Gnade Gottes war bei ihm“? Er der eben die Fülle der Gottheit in sich trug, bedurfte der noch einer Gnade Gottes im übrigen Theile? | bedurfte der noch etwas anderes als eben die Art wie die Fülle der Gottheit in ihm den menschlichen Geist stark machte und Schätze der Weisheit in ihm anhäufte? Wohl, m. g. F., werden wir bei näherer Aufmerksamkeit noch zweierlei finden, was in diesem Ausdruck des Evangelisten enthalten ist. Zuerst, m. g. F., wenn wir auf den Anfang des menschlichen Lebens hinsehen: wie hinfällig ist es nicht und schwer zu erhalten? Wie unzureichend alle mütterliche Sorge und Treue, um den tausendfältigen Unfällen zu begegnen und Widerstand zu leisten, denen jedes menschliche Leben ausgesetzt ist? wie erneuert sich täglich für uns diese Erfahrung, in so viel tausend Beispielen von Gesetzen, die das menschliche Leben in diesem seinem ersten Zeitraum auf allen Seiten umgeben, die Erfahrung, daß wiewohl dasselbe oft durch die wunderbare Leitung Gottes daraus gerettet wird, es doch nicht selten diesen Gefahren erliegt, indem es kaum anfängt sich zu entfalten, damit wir nicht übermüthig werden und vergessen die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur von ihrem ersten Entstehen an. Der göttlichen | Allmacht, die zu der Fülle der Gottheit gehört, hatte der Sohn Gottes sich selbst entäußert, und indem er ein Mensch ward und Fleisch und Blut annahm, auch Knechtsgestalt angenommen, abhängig für sich betrachtet von aller Hinfälligkeit des menschlichen Lebens. Da war es also zuerst die Gnade Gottes, die bewahrend und behütend das köstlichste Kleinod des menschlichen Geschlechts hegte, die liebende Sorgfalt und die treue Pflege der Mutter segnete, und durch alle Gefahren der Kindheit und Jugend das an Weisheit wachsende und am Geist stark werdende Kind und Jüngling glücklich hindurch leitete. Aber ein anderer Ausspruch unseres Evangelisten in einer spätern Erzählung, nachdem er uns nämlich gemeldet hat, was sich zugetragen, als der Erlöser zum erstenmal mit seinen Eltern auf das hohe Fest nach Jerusalem ging, und er nun des Weitern in dem allgemeinen Ausdruck zusammenfaßt: „er kehrte um, und ging mit seinen Eltern hinab gen Nazareth, und war ihnen unterthan, und wuchs und nahm zu an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen“, so erinnert uns dies an etwas anderes, was hier | auch unter dem Ausdruck, die Gnade Gottes war mit ihm, mitbegriffen ist, nämlich an dasjenige, was in jenen Worten so ausgedrückt ist: „Gnade bei 14 begegnen] begnen 23–25 Vgl. Phil 2,7

30 Kind und] Hier fehlt eventuell ein Satzteil. 32–34 Vgl. Lk 2,41–50

35–37 Vgl. Lk 2,51–52

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den Menschen“. Nämlich das Kind wie es wuchs ward allen, die es kannten, ein erfreulicher Gegenstand des Wohlgefallens, und fand Gnade bei allen Menschen. Dieses innige Wohlgefallen, m. g. F., womit wir auf das sich entfaltende Leben unserer Kinder hinsehen, ruht nicht allein auf der Stärke des Geistes, nicht allein auf dem Reichthum der Weisheit, wozu der Mensch sich erhebt. Beides finden wir nicht selten bei Menschen, und demohnerachtet finden sie keine Gnade vor andern; Ehre wird ihnen [zu Theil] und Bewunderung, aber das Herz der Menschen wendet sich nicht zu ihnen hin, und eine lebendige Zuneigung gegen sie entwickelt sich nicht in denen, die mit ihnen in Berührung treten. Damit das geschehe, muß noch etwas anderes hinzukommen, was uns erst den höchsten Aufschluß giebt über die Kraft des Geistes und über die Fülle der Weisheit. Nämlich nur dann findet | der Mensch Wohlgefallen und Gnade bei seines Gleichen, wenn sie das tief empfinden, daß der starke Geist, der kräftige Wille, die ausgebildete Weisheit geleitet werden von der Liebe, die auch allein den Menschen alles Zutrauens werth machen kann, und sich diese in seinem ganzen Wesen und Wirken ausdrückt; wenn diese erkannt wird an der geistigen Anmuth und Wohlgefälligkeit des ganzen Wesens, an der Freundlichkeit, mit welcher sich der starke Geist und der an Weisheit reicher ist als andere[,] hinneigt zu seinen schwächern Brüdern, sich ihrer annimmt, für sie sorgt, und mit herzlicher Liebe sie zu fördern sucht, ohne sich über sie zu erheben, ohne sie sein Übergewicht fühlen zu lassen. Das ist es, was die Herzen der Menschen gewinnt und Gnade bei den Menschen findet. Nun können wir uns allerdings, m. g. F., die Stärke des Geistes in dem Erlöser und die Fülle der Weisheit in ihm nicht denken ohne die Kraft der Liebe. Denn das wäre nicht seine Weisheit gewesen, wie er ja bestimmt war nicht sich selbst zu leben und sich selbst zu dienen, sondern daß er Andern lebe und diene; das wäre nicht | die ihm gebührende Stärke des Geistes gewesen, durch welche das Bewußtsein in ihm erwachen mußte, daß er von Gott bestimmt sei ein Helfer seiner Brüder zu sein. So mußte er sich liebend und hilfreich, wie sich jenes Bewußtsein in ihm entwickelte, den Menschen darstellen. Und so scheint es als wenn hiezu für ihn wie für jeden andern keine besondere Gnade Gottes gehört hätte. Aber, m. g. F., was da ist, wenn es einen Eindruck auf die Menschen machen soll, so muß es auch empfunden werden; und der Sinn der Menschen auch für die hell sehendste Weisheit, auch für die lebendigste Stärke und Kraft des Geistes, wir sehen und erfahren es täglich, ist sehr ungleich. Der Eine vermag sich über manches hinwegzusetzen, was dem andern als Stolz, als Übermuth, als Dünkel erscheint, und sich daher der Kraft des Geistes und der Weisheit, die er in seinem Bruder sieht, auf eine ihm selbst wohlthätige Weise anzuschließen; der Andere sucht argwöhnisch hinter den aufrichtigsten Beweisen der Liebe und des Wohlwollens 10 treten] traten

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etwas Falsches und Arges. Zwischen diesen äußersten | Punkten schwankt der Sinn der Menschen hin und her. Und so war es denn die Gnade Gottes, die über dem Erlöser waltete, daß es den Menschen seiner Zeit, die ihn in dieser oder jener Beziehung umgaben, und für welche er zu leben bestimmt war, doch nicht ganz fehlte an dem Sinne seine göttliche Liebenswürdigkeit zu erkennen, daß sie Geschmack fanden an der Holdseligkeit der Rede und durchdrungen wurden von der Kraft seines Geistes; die sich überall wohlthätig zeigte, die überall die Mühseligen und Beladenen liebreich zu sich einlud, und die nirgend eine Spur von Eigennutz und von Ansichselbstdenken verrieth. Das also, m. g. F., das war die Art, wie sich uns der Erlöser vom Anfange seines Lebens an entwickelte; und wenn unser Text dies alles zusammenfaßt in dem andern Ausdruck: „das Kind wuchs“, so ist dies eben genug, um unsere Aufmerksamkeit auch auf das Äußerste, auf das Leibliche des menschlichen Lebens zu heften. Denn die Entwicklung der leiblichen Kräfte ist eine Sache der Natur, und die Gnade Gottes, | die über dem Erlöser waltete, brauchte hier nur dafür zu sorgen, daß die menschliche Natur ungestört diesen Gang der äußern Entwicklung ging. Je mehr aber der Mensch stark wird am Geist und voll von Weisheit, je mehr der Geist der Liebe in ihm herrscht: desto mehr werden alle körperliche Kräfte in den Geist, in die Kraft und das Leben des Geistes hineingezogen, und zu gehorsamen und treuen Werkzeugen desselben gebildet. Und so können wir uns auch die Entwicklung des Erlösers in dieser Hinsicht nicht anders als erfreulich und gedeihlich denken. II. Wie aber nun, wenn wir diese Entwicklung unseres Herrn mit der uns’rigen, mit der aller Menschenkinder vergleichen? O wir können ja wohl nicht anders als zuerst die Ähnlichkeit zwischen beiden wahrnehmen und Gott dafür preisen. Der Erlöser war uns gleich in allem mit Ausnahme der Sünde, und eben darum sind auch wir ihm gleich in allem, nur daß in uns die Sünde hinzukommt und stört, was in ihm immer ungestört war. Wo ist wohl ein Menschenkind, das nicht wirklich gleich dem Erlöser am Anfang des irdischen Lebens stark wird am Geist? Wie freuen wir uns, von einer Zeit zur andern wach|sen zu sehen die Kraft des Geistes? wie freuen wir uns zu sehen, wie sich allmälig ihr inneres Wesen der Welt, in die sie gesetzt sind, befreundet, von dem ersten Augenblick an, wo ein fröhliches Lächeln unserm auf ihnen ruhenden Blick begegnet, und die Sorgfalt und Liebe zuerst zu vergelten scheint, mit welcher wir über sie wachen? wie wächst von diesem Augenblick an die Kraft des Geistes in ihnen? wie bildet sich der Verstand für die Auffassung der äußern Erscheinungen? wie regt sich der 3 ihn] ihm

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Wille und sucht in einem, wenn auch nur kleinem Gebiete des Lebens sein Dasein geltend zu machen? Das alles ist bei uns eben so wie bei dem Erlöser. Und nimmt nicht auch jedes Menschenkind in der ganzen Zeit, die zur Entwicklung der geistigen Kräfte bestimmt ist, zu an der Weisheit, die hernach sein Leben leiten soll? Wie bald lernen die Kinder, in dieser Hinsicht oft der Gegenstand unserer Bewunderung, verstehen, was in dem Menschen ist? wie bald lernen sie den innern Gemüthszustand derer, die sie umgeben, erkennen an ihren Mienen und Gebehrden, an dem Ton ihrer Stimme, an der Wahl ihrer Ausdrücke? wie bald fangen sie an die menschlichen Dinge sich zu unterwerfen, und den großen Trieb, der der menschlichen Natur so tief einge|pflanzt ist, die Dinge der Erde zu beherrschen, in dem kleinen Umfange ihres Lebens zu entwickeln? Aber nicht bloß bei dem Äußern bleibt uns’re Weisheit stehen, wir sehen sie auch in das Innere der menschlichen Seele und in das Leben derselben eindringen. Wie begierig horchen uns’re Kinder auf die Kunde von einer höhern Welt, die wir ihnen bringen? wie bald werden die Gesetze, nach denen wir ihr Leben leiten, der Gegenstand ihres Nachdenkens? wie bald lernen sie unterscheiden die pünktliche und sorgfältige Erfüllung dessen, was ihnen von uns als Gesetz gegeben ist, und die augenblicklichen Entfernungen von diesem Gesetze in uns selbst? So wird der Geist stark, so wächst die Weisheit. Und welches Menschenkind, wenn sonst seine Entwicklung ruhig und ungestört vor sich geht, und die behütende Gnade des Herrn über ihm waltet, welches wäre nicht liebenswürdig und angenehm, und fände nicht Gnade bei den Menschen? Ja, m. g. F., so sind wir alle dem Erlöser ähnlich, und was von ihm gesagt wird in den Worten unseres Textes, das gilt von uns allen. – Aber indem wir darauf zurückgehen, daß er uns in | allem gleich war, ausgenommen die Sünde: so können wir auch nicht umhin auf der andern Seite die Ungleichheit unserer Entwicklung mit der seinigen zu gestehen und zu fühlen, daß sie in nichts anderm ihren Grund hat als in der Sünde, die sich in uns allen in dem Laufe unseres Lebens mit der Stärke des Geistes und mit dem Wachsthum der Weisheit zugleich entwickelt, und von welcher er eben frei war. Zuerst, m. g. F., zeigt sich dies in der ungleichen Entfernung, in welcher die Entwicklung des Menschen von der Entwicklung des Erlösers steht. Denn freilich alle Menschenkinder, wenn sie wachsen werden sie stark am Geist und nehmen zu an Weisheit: aber geschieht das in allen in gleichem Maaße? Wenn die Jahre der Entwicklung vorüber sind, ist dann das eine eben so stark am Geist und eben so voll von Weisheit als das andere? Allerdings, m. g. F., den großen Unterschied, der sich hier findet, werden wir nicht der Sünde allein zuzuschreiben uns genöthiget fühlen; wir werden sagen, es ist die verborgene Weisheit Gottes, welche die Gaben des Geistes 35 allen] allem

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ungleich | vertheilt, und der eine bringt schon mit auf diese Welt eine geistige Kraft und eine Fülle des Geistes zur Ausstattung seines irdischen Lebens, die dem andern fehlt. Und das mögen wir wohl mit Recht behaupten; es ist das allgemeinste, was wir allen andern Erzeugnissen der irdischen Natur bemerken, und wir können sagen, der Mensch muß auch in dieser Hinsicht den Gesetzen der Erde unterworfen sein. Aber damit sich der Sohn Gottes mit ihr vereine, dazu war natürlich von der göttlichen Weisheit bestimmt eine von ihrem ersten Beginnen an besondere menschliche Seele, besonders offen für die Vereinigung der göttlichen Kraft mit derselben, und besonders fähig ausgestattet zu werden mit einem reichen Maaß von Weisheit. Allein auf der andern Seite dürfen wir wohl sagen, daß die große Verschiedenheit, die wir in Beziehung auf das Starkwerden am Geist und auf den Wachsthum der Weisheit unter den Menschen bemerken, wenn sie den Kreis ihrer Entwicklung durchlaufen sind, daß sie allein abhängt von der natürlichen Verschiedenheit der Gaben? Werden | wir nicht sagen, bei dem einen ist es seine eigene Trägheit, die ihn zurückgehalten hat in dem Laufe der Entfaltung seines geistigen Lebens? bei dem andern ist es der Leichtsinn, der ihm geschadet hat, daß er das Ziel nicht erreichen konnte, welches seine natürliche Entwicklung ihm gesetzt hatte. Ach und bei wie vielen andern ist nicht die natürliche Entwicklung aufgehalten worden durch die verkehrten Einwirkungen derer, die grade der Natur hätten sollen zu Hilfe kommen, und mit Besonnenheit dasjenige leiten und beschleunigen, was die Natur angelegt hatte, und die grade dazu bestimmt waren, so viel in ihren Kräften stand dahin zu wirken, daß die Kinder, die ihrer Leitung und Erziehung anvertraut waren, stark würden am Geist und zunehmen an Weisheit, und von der göttlichen Kraft der Liebe erfüllt und gesättigt. Das, m. g. F. das dürfen wir uns nicht verbergen. Über jenes, über alles, was auf der natürlichen Verschiedenheit der Gaben beruht, können wir uns leicht trösten. Denn der Erlöser, m. g. F., mußte sein ein vollständiges | menschliches Wesen, er allein entgegengestellt als der Sündlose der ganzen Gewalt der Sünde im menschlichen Geschlecht, und allein stehend mit der göttlichen Wahrheit, die sich in ihm offenbarte, gegen alle Irrthümer der Menschen denen sie nach ihrer Stellung in der Welt unterworfen sind; und er mußte sich die Werkzeuge, deren er sich bedienen wollte zur Ausführung seines Werks, erst reinigen von der Sünde, die allen Menschenkindern anklebt. Das aber ist nicht unser Beruf; wir sollen jeder sein Werk nur verrichten in der Gemeinschaft mit andern; keiner hat ein eigenes, sondern alle ein gemeinsames; darum sind nun alle Menschen zusammengehörig, und sollen, wie der Apostel sagt, einer des andern Last tragen; was der eine versieht, soll der andere gut machen; was dem einen fehlt, soll der andere 25 an] am 39 Vgl. Gal 6,2

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ergänzen, und jeder dem andern dienen mit den Gaben, die ihm der Herr verliehen hat: damit jeder das Gefühl haben könne, daß er im Stande ist seinem Bruder hilfreich zu sein im Streben nach seinem Ziele; | aber auch auf der andern Seite, daß er selbst nur gefördert werden könne durch das gemeinsame Leben, in welches wir alle verflochten sind. Darum ist jeder unter uns gebrechlich und hilfsbedürftig, und muß Hilfe suchen bei Andern für das, was in ihm mangelhaft ist. Über das andre m. g. Fr., wie wir durch die Versündigungen, die wir uns zu Schulden kommen lassen gegen das junge Geschlecht, das unter uns aufwächst, und das wir zu bilden berufen sind, das Starkwerden desselben am Geist und das Erfülltwerden von Weisheit hemmen, darüber können wir uns nur vor Gott demüthigen und uns ermahnen, diese Versündigungen immer wieder gut zu machen, und auch darin treue Diener und Jünger des Herrn zu sein, daß wir ihm erziehen ein Volk zum Eigenthum, das fleißig wäre in guten Werken, und indem wir auf die Größe unseres gemeinsamen Berufs hinsehen, es uns zur Pflicht machen, denen die unter uns an der Erziehung der Jugend besonders arbeiten, behilflich zu sein, daß durch ihre Bemühungen das junge Geschlecht immer mehr zunehme am Geist, und eine immer größere Fülle der Weisheit | sich unter demselben entwickle. – Aber, m. g. Fr. es ist nicht nur diese Ungleichheit, sondern auch etwas anderes, worin sich der Einfluß der Sünde bei uns zu erkennen giebt und was uns von dem Erlöser unterscheidet. Wenn unser Text sagt: „das Kind wuchs, und ward stark am Geist und voller Weisheit“: so ist das wohl so zu verstehen, daß dieser geistige Wachsthum ein ununterbrochener war, daß der Erlöser nicht wieder zurückging, wenn er schon einmal vorwärts gegangen war, sondern alles festhaltend, was sich in ihm entwickelt hatte, an Stärke des Geistes und an Reichthum der Weisheit unaufhörlich zunahm. Wie ist es aber, m. g. Fr., in dieser Hinsicht mit uns? Wenn wir unserer eigenen Jugend gedenken, wenn wir auf das junge Geschlecht sehen, welches unter uns aufwächst, was für Erfahrungen haben wir gemacht an uns und machen noch immer an den Unsrigen? Wie wechselt eine schöne Zeit geistigen Gedeihens und schöner Entfaltung der in uns gelegten Anlagen beständig mit einer andern, wo die Trägheit das | Übergewicht hat, wo der Wachsthum des Geistes gehemmt wird, indem sich der Mensch sinnlichen Bestrebungen hingiebt, die ihm vorher fremd waren, wo der Geist, nachdem er schon erleuchtet war von dem göttlichen Lichte der Wahrheit, wieder umdämmert wird von den Nebeln des Irrthums und des Truges, und in Finsterniß versinkt, weil den Menschen in die dunklen Gegenden der Erde die Sünde lockt. Und wenn er schon eine Zeit lang zugenommen hat an Weisheit, wie wachsen darin die Leidenschaften, die 3 Bruder] Brude 1–2 Vgl. 1Petr 4,10

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das schöne Gebäude einer frühern Zeit wieder zerstören! Und indem der Mensch selbstsüchtig wird, wie stumpft sich sein Auge ab für die richtige Beurtheilung der menschlichen Dinge! Und wie er in sich selbst alle Spuren des menschlichen Verderbens entdeckt, wie verleitet ihn dies zu einer falschen Beurtheilung derer, die mit ihm in Berührung treten, weil er überall in ihnen dasjenige glaubt voraussetzen zu müssen, was ihn bestimmt und leitet. So wechseln immer in uns Fortschritte mit Rückschritten; vorwärts gehen wir in der einen Zeit | unseres Lebens und rückwärts in der andern. Das, m. g. Fr., das hat keinen Grund in der natürlichen Verschiedenheit der Gaben und der Geistesrichtungen, sondern ist rein das Werk der Sünde. Eben so gewiß wir fühlen, daß dies bei dem Erlöser nicht gewesen sein kann, so gewiß müssen wir bekennen, es ist bei uns, weil die Sünde in uns ist; und kein Menschenkind, was noch wird geboren werden, wie sehr gesegnet und ausgestattet von Gott, wie hilfreich empfangen von der Welt, wird je davon frei sein, sondern das gebührte nur dem Einen, der unaufhaltsam wuchs und stark ward am Geist und voll von Weisheit. Das kam nun, m. g. Fr., daher, weil er die Fülle der Gottheit in sich trug. Die hat uns gefehlt und fehlt auch unsern Kindern. Aber m. g. Fr., hat der Herr nicht gesagt, ich will bei euch sein alle Tage bis an der Welt Ende? Und wenn er bei uns ist, kann er es anders sein als mit der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte? Ja diese muß auch wohnen in der Gesammtheit der Gläubigen, deren Leib Christus bildet, und wenn sie auch nicht in unsern Kindern lebt, so sind sie doch | von derselben umgeben, weil das Wort und der Geist des Herrn in der Gemeinschaft der Christen waltet, der sie angehören. Dadurch also, daß wir ihnen das Wort und den Geist des Herrn nahe bringen, daß wir sie mit beiden umgeben, daß wir sie so zeitig als möglich zu demjenigen hinführen und den ihrer Seele vergegenwärtigen, der als Kind stark ward am Geist und voll Weisheit, und Gnade fand bei Gott und den Menschen, dadurch müssen wir den Mangel der Fülle der Gottheit in ihnen ersetzen, und indem wir sie nicht ganz ausrotten können, die Gewalt der Sünde schwächen. O dazu laßt uns das Auge des Geistes auf den Erlöser der Welt und auf die Zeit seines jugendlichen Lebens hinwenden, damit wir das Ziel erkennen lernen, dem wir die Jugend, die unter uns aufwächst, entgegenführen sollen; laßt uns seine treuen Diener und Stellvertreter an ihr werden: so wird es immer mehr dahin kommen, daß jedes künftige Geschlecht in der christlichen Kirche das vorige übertreffe an Stärke des Geistes | und an Fülle der Weisheit. Das werden wir aber nur vermögen, wenn diese Kraft des Geistes und diese Kraft der Liebe, die das göttliche Wesen selbst ist, in uns waltet, und unser Leben mit dem vereinigt, der zunehmen sollte an Weisheit und 2 stumpft] stumpf 18–19 Vgl. Mt 28,20

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stark werden am Geist, und Gnade finden bei Gott und den Menschen. – O so mögen wir denn alles, was in unsern Kräften steht, dazu thun, um unsere Kinder dem Kinde Jesus, unsere heranwachsende Jugend dem heranwachsenden Erlöser der Welt immer ähnlicher zu machen; damit sie, freilich mit dem Unterschied, der zwischen ihm und ihnen immer bleiben wird, doch mögen menschlicher Weise stark werden am Geist, und zunehmen an Weisheit, und Gnade finden bei Gott und den Menschen, um die Versuchungen, die auch ihnen die Welt entgegenbringen wird, glücklich zu überwinden, und in dem Reiche Gottes und in dem Dienste ihres Erlösers zu arbeiten. Amen.

[Liederblatt vom 12. Januar 1823:] Am ersten Sonnt. nach Epiph. 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb etc. [1.] Herr Jesu Christ mein höchstes Gut, / In dem allein mein Glaube ruht, / Du meines Herzens Freude! / Ich bleibe fest und treu an dir; / So ist auch nichts, was dich von mir, / Was unsre Liebe scheide. / Du machst mir deinen Weg bekannt, / Hältst mich bei meiner rechten Hand. / Regierest meines Lebens Lauf, / Hilfst gnädig meiner Schwachheit auf. / Herr Jesu Christ, / Du bist mein Licht, du bist mein Licht, / Ich folge dir, so irr ich nicht. // [2.] Mein Sinn ist ganz zu dir gericht’t: / Hab’ ich nur dich, so frag ich nicht / Nach Himmel und nach Erden. / Denn wär der Himmel ohne dich: / So könnte keine Lust für mich / In tausend Himmeln werden. / Wärst du nicht schon auf Erden mein; / Möcht ich auch nicht auf Erden sein. / Denn auch die ganze weite Welt / Hat nichts, was mir wie du gefällt. / Herr Jesu Christ, / Wo du nicht bist, wo du nicht bist, / Ist nichts, das mir erfreulich ist. // [3.] Mein Herr, ich halte mich zu dir, / Du aber hältst dich auch zu mir. / Und das ist meine Freude. / Ich seze meine Zuversicht / Auf dich, mein Fels, der nicht zerbricht / In noch so großem Leide. / Dein Thun soll alles und allein / In meinem Mund und Herzen sein, / Bis ich dich werd im Himmel sehn, / Wo alle Engel um dich stehn. / Herr Jesu Christ, / Ich warte drauf, ich warte drauf, / Du kommst und nimmst mich zu dir auf. // Nach dem Gebet. – Mel. Mir nach spricht etc. [1.] O Jesu wahrer Frömmigkeit / Vollkommenstes Exempel, / Dein Herz, dem Vater ganz geweiht, / War seiner Liebe Tempel: / Dein Wandel, rein von aller Schuld, / War würdig deines Vaters Huld. // [2.] Wer war wol eifriger als du, / Zu thun des Vaters Willen? / Das war dein Ruhm und deine Ruh, / Ihn treulich zu erfüllen. / Nie kanntest du ein andres Ziel, / Du suchtest nur 6 am] an

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was Gott gefiel. // [3.] Nur wenn dein Blick Verirrte sah, / Erwachten deine Schmerzen; / Doch, wenn des Vaters Wort geschah, / Quoll Freud’ in deinem Herzen. / An ihm nur hing dein ganzer Sinn, / Auf ihn sah stets dein Auge hin. // [4.] Ihn ehrtest du mit Wort und That / Von Jugend an mit Freuden; / Du warst bereit nach seinem Rath / Zu dulden und zu leiden. / Wie er die Liebe selber ist, / So warst auch du’s, Herr Jesu Christ. // [5.] Du zeigtest, daß die größte Noth / Dich nicht zum Murren reize, / Warst Gott gehorsam bis zum Tod, / Ja bis zum Tod am Kreuze; / Auch da war deine Zuversicht / Der Herr, und du erschrakest nicht. // [6.] Mit Ehr und Preis von ihm gekrönt / Nach überstandnen Leiden, / Bist du nun Herrscher, dir ertönt / Der Engel Lob mit Freuden, / Das Lob, deß du so würdig bist; / O selig, wer dir ähnlich ist. // [7.] Hilf Herr, daß ich dein Beispiel mir / Zum Vorbild stets erwähle, / Um meinem Gott, gesinnt gleich dir, / Zu heilgen meine Seele! / Daß freudig sein Gebot ich thu, / Und ganz in seiner Fügung ruh. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. O Ewigkeit etc. Dein Name sei mir ewig werth; / Und was dein Wort von mir begehrt, / Das laß mich treulich üben. / Dich, den der ganze Himmel preist, / Dich müsse hier auch schon mein Geist / Aus allen Kräften lieben. / Und folg ich immer deinem Licht, / So schreckt mich deine Zukunft nicht. //

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2. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,1–4 Nachschrift; SAr 103, S. 255–272; Andrae Keine Keine Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu der Publikation in SW II/10, 1856, S. 709–717 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H. Tabelle 3

Frühpredigt am zweiten Sonntage nach Epiphanias 1823 am neunzehnten Wintermonds.

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(Lied. 391; 283, 8 und 9.) |

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Tex t. Philipper IV, 1–4. Also, meine lieben und gewünschten Brüder, meine Freude und meine Krone, bestehet also in dem Herrn, ihr Lieben. Die Evodian ermahne ich und die Syntychen ermahne ich, daß sie Eines Sinnes seien in dem Herrn. Ja ich bitte auch dich, mein treuer Geselle, stehe ihnen bei, die sammt mir über dem Evangelio gekämpft haben, mit Klemens und den andern meinen Gehülfen, welcher Namen sind in dem Buch des Lebens. Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich: Freuet euch. Die ersten Worte, m. g. Fr., beziehen sich auf die vorhergegangenen Vorschriften; und wenn der Apostel zu den Christen sagt: „also bestehet in dem Herrn, wie ich euch als meine lieben und gewünschten Brüder, als meine Freude und meine Krone habe“: so meint er, daß sie fest dabei bleiben sollten, nach einem würdigen Vorbilde zu wandeln, und ihren Wandel hier schon im Himmel zu haben, wie wir denn diese Worte neulich mit einander betrachtet haben. Es muß uns aber hiebei, m. g. F., noch auffallen 13 Worte] Worten 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 391: „Wie wohl ist mir“ (in eigener Melodie); Nr. 283: „Versuchet euch doch selbst“ (Melodie von „O Gott du frommer Gott“) 16–18 Vgl. oben 5. Januar 1823 früh über Phil 3,17–21

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die Art, wie der Apostel | diejenigen anredet, an welche er schreibt, meine geliebten und erwünschten Brüder, meine Freude und meine Krone; und zwar ist es besonders das Letzte, welches sich dadurch auszeichnet, daß er ihnen allen eine gemeinschaftliche und zwar sehr erfreuliche und erhebende Benennung giebt. Wir sehen daraus, m. g. Fr., das Bild, welches hier dem Apostel vorschwebt, und das Gefühl, welches ihn erfüllt, wenn weniger die Einzelnen und ihre besondere Beschaffenheit, als es vielmehr das gemeinsame Leben war, welches sie mit einander führten; es war der erfreuliche und gesegnete Zustand der ganzen Gemeine, die Art wie die Einzelnen, nicht jeder für sich durch das göttliche Wort erbaut wurde und weiter geführt auf dem Wege der Heiligung, sondern wie einer auf den andern wirkte, und wie sie in ihrer Vereinigung unter demselben Herrn, durch denselben Geist und nach demselben Wort auch ein gemeinsames Leben führten. Wenn wir nun in dieser Beziehung unsern Zustand mit dem jener Gemeine vergleichen: so können wir uns freilich nicht erwehren, einen bedeutenden Unterschied zu bemerken. Es würde gewiß Unrecht sein, | wenn man sagen wollte, es gebe nicht jetzt viele und eben so gläubige, eben so fromme und eben so nach dem göttlichen Vorbilde der christlichen Lehre wandelnde Glieder der Gemeine; wir müßten sonst glauben und besorgen, daß das Werk des Herrn könnte schwächer werden, und daß das Evangelium, dessen wir eben so gut eigen sind wie jene ersten Christen es waren, seine Kraft verloren habe. Aber das gemeinsame Leben unter uns steht eben hinter jenen Zeiten zurück. Die Christen werden erbaut, aber sie erbauen sich nicht so sehr unter einander; ihr Verhältniß zu ihrem Herrn und Erlöser, der innre Gang ihres Herzens, die Fortschritte im Glauben und in der Liebe sind weniger der Gegenstand ihrer persönlichen Wirkung auf einander und ihrer Mittheilung. Was damals eine ganze zahlreiche Gemeine verband, das zieht sich jetzt mehr in einen engern befreundeten Kreis zusammen; und wiederum das gemeinsame Leben und die Mittheilung vieler an einander ist mehr auf andere Gegenstände gerichtet als auf das Wesen | des Christenthums und auf das Verhältniß eines jeden zu der christlichen Gemeinschaft. So ist es gewiß unter uns, und zwar nicht nur an Orten wie unsere Hauptstadt ist, wo die einzelnen Gemeinen weder bestimmt von einander geschieden noch fest unter sich verbunden sind, sondern es ist eben so an andern Orten, wo wegen der kleinen Zahl der Bewohner die Gemeine nur Eine ist, und jeder in allen Beziehungen zu derselben gehört. Wenn wir nun fragen, warum ist es so? so müssen wir uns allerdings über diesen Unterschied auf der einen Seite nicht unmäßig betrüben, auf der andern Seite aber auch nicht verabsäumen das Unsrige zu thun, um ihn aufzuheben. Ich sage: wir müssen uns nicht darüber betrüben, sondern wir müssen es ansehen als in den natürlichen Lauf des Christenthums und der christlichen Kirche gehörig. Verschiedene Zeiten bringen allerdings Verschiedenes hervor. Damals waren die Christen eben erst zusammengetre-

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ten, von allen um sie her entweder gering geachtet oder verfolgt, | ein kleines Häuflein, und schlossen sich überall wo sie lebten und wohnten eng an einander, und es entstand ein löbliches und schönes Verhältniß unter ihnen, welches dadurch begünstigt wurde, daß die übrigen Bande, welche die menschliche Gesellschaft verknüpften, für sie hatten angefangen lose zu werden. Es ist nun freilich nicht nur dies, daß jenes Verhältniß aufgehört hat, und daß die Ruhe, mit welcher jetzt die christliche Gemeine sich baut, die Gemüther nicht so eng zusammen drängt, wie jene ersten Zeiten es thun mußten; sondern wir müssen auch, wenn wir unsern gegenwärtigen Zustand betrachten, auf frühere Zeiten zurückgehen, wo wirklich unter uns, wenn gleich auf vorübergehende Weise, das Evangelium von vielen entweder verkannt oder vernachlässigt wurde, wo das Eigenthümliche des Christenthums für die Meisten seine Kraft verloren hatte, und das Wohlthätige desselben sich nur in denen fand, wo es sich der natürlichen | Unbefangenheit und Gutartigkeit anschließen konnte. Diese Zeiten waren auch von Gott herbeigeführt, und geordnet, um spätern Geschlechtern zur Warnung zu dienen; die Folgen derselben fangen an zu verschwinden, aber erst allmälig kann ein wohlthätiges Band christlicher Gemeinschaft zwischen denen, die zu Einer Gemeine gehören, entstehen. Was uns also zurückzustellen scheint hinter jene frühere Zeit, daß die christliche Gemeinschaft und der fromme Zusammenhang der Einzelnen nur auf Einzelne beschränkt ist, das laßt uns ansehen als einen Übergang von jener Zeit der Verkennung und Vernachlässigung des Evangeliums zu der Zeit, die uns der alten Kirche wieder näher bringen soll. – Aber laßt uns auch das Uns’rige dazu thun; und das ist dies: Wenn wir fragen, wie mag es um diejenigen gestanden haben, die der Apostel einzeln seine geliebten und erwünschten Brüder und zusammengenommen seine Freude und seine Krone nennt? so müssen wir wenig bewandert sein in den heiligen Schriften | des neuen Bundes und besonders in der Geschichte der Apostel und in ihren Briefen, wenn wir nicht gestehen wollen, es hat auch damals eine große Verschiedenheit der Gesinnungen unter den Christen gegeben; manche Stücke der christlichen Lehre und des christlichen Lebens sind auch damals von dem einen so, von dem andern anders angesehen worden. Wenn der Apostel dann doch ein so gemeinsames Leben unter ihnen fand, so erfreulich, daß er sie seine Freude und seinen Schmuck nennen konnte: so muß doch dies dem innern Zusammenhange und der brüderlichen Liebe nicht geschadet haben, so muß diese Gemeine sich dadurch vor allen andern ausgezeichnet haben, daß die verschieden Denkenden die Wahrheit suchten in Liebe. In engern freundschaftlichen Kreisen, m. g. Fr., kann über manches ein gemeinsames Nachdenken Statt finden; aber wenn wir darauf den ganzen Werth der Gemeinschaft legen, so bannen wir die Liebe in diese engern Kreise und können sie nicht 24 dies:] dies.

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in die größern Verhältnisse des Lebens tragen. Das ist es, | was wir zu thun haben, damit der Zustand unserer Gemeinen jenen frühern ähnlich werde, daß wir die christliche Gemeinschaft frei zu machen suchen müssen davon, daß sie nur da bestehe, wo eine ganz genaue Übereinstimmung in der Lehre und in der Art des Lebens Statt findet; denn dadurch würden wir nur auf eine geringe Weise uns gegenseitig unseres Glaubens und unserer Liebe freuen können, und auch so wenig denen, welchen wie damals dem Apostel ein größerer Überblick über den Zustand der christlichen Gemeine eigen ist, und wie dem Herrn, der alle Theile seines Reiches durchschaut, eine Freude und eine Krone sein können, wie dies es eben ist, was der Apostel von den Christen zu Philippi rühmt. Darnach also laßt uns aus allen Kräften trachten, daß das Gebiet der christlichen Gemeinschaft sich erweitere ohne loser zu werden, damit so ein innerer Zusammenhang entstehe, der erst das wahre Wesen einer christlichen Gemeine ausmacht. Damit hängt nun zusammen, was der Apostel | hernach sagt, übergehend zu den Einzelnen, indem er zwei Frauen, die er namhaft macht, ermahnt, daß sie eines Sinnes sein sollen, und eben so seine Gehilfen und Mitarbeiter an dem Werke des Herrn, theils nennend, theils nur bezeichnend, ermahnt ihnen beizustehen. Er kann dabei an das häusliche Verhältniß jener Frauen, in welchem sie etwa als Hausmütter standen, nicht gedacht haben, sondern es muß ein gemeinsames gewesen sein, in Beziehung worauf er sie ermahnet Eines Sinnes zu sein. Nun wissen wir aus der ersten Einrichtung der christlichen Gemeine, daß die Frauen darin einen großen Antheil an der Ausübung der öffentlichen Wohlthätigkeit aller Art hatten, daß die Gemeine ihnen auftrug, sich der Leidenden anzunehmen, die Kranken zu pflegen, und die Bedürftigen zu unterstützen. Wahrscheinlich waren jene beiden, die der Apostel hier nennt, auch vorzüglich in der Gemeine zu Philippi dazu bestimmt, und er ermahnt sie nun Eines Sinnes zu sein, das heißt eines Sinnes in Beziehung auf den Herrn, | und also in allem, was zu seinen ihnen übertragenen Geschäften gehört. Nun ist es nicht anders möglich, als daß auch hierüber verschiedene Meinungen und Ansichten Statt finden; der Eine hält dies, der Andere jenes für zweckmäßig, der Eine treibt sein Geschäft auf diese, der Andere auf jene Art, um das Werk der christlichen Wohlthätigkeit zu fördern. Doch aber fordert der Apostel von jenen beiden Frauen, sie sollen Eines Sinnes sein in dem Herrn. Wie war aber dies anders zu bewerkstelligen als daß sie sich in einander fügten und nach einander richteten, daß sie beide dahin strebten nicht grade jede die andere zu der Ansicht hinüber zu leiten, die sie selbst für die richtige hielt, sondern daß die Art und Weise der einen Platz fand neben der Art, wie die andere das Werk des Herrn trieb, daß sie sich nicht störten in der Erfüllung ihres Berufs, sondern ihn gemeinschaftlich ausführten, daß jede anerkannte in der Art und Weise der andern sei etwas Gutes, daß jede sich gern hingab der andern beizustehen,

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wenn sie auch glaubte, daß die Art, wie jene das Werk des Herrn treibe, nicht grade die vollkommne sei. | Darum auch wir, wenn wir dasjenige zu fördern wissen, was wir als minder gut erkennen, zugleich aber suchen das Beß’re zur Anschauung zu bringen, und wenn und wo dieses beides vereinigt ist, können alle Dinge, also auch die christliche Kirche, in ihrem Zusammenhang erhalten werden. Darum sehen wir, wie der Apostel die Frauen, denen der Dienst der äußern Pflege und Wohlthätigkeit in der Gemeine oblag, und die Männer, unter deren Leitung sie dieses Geschäft verrichteten, mit einander verbindet indem er seine Gehilfen ermahnt, jenen Frauen beizustehen, die er auch bezeichnet als solche, die mit ihm über dem Evangelio gekämpft haben, wenn gleich dieser Kampf in nichts anderem bestehen konnte als darin, daß sie das Ihrige gethan hatten, um die Gemeine in den Zeiten der Verfolgung auf eine leibliche Weise zu erquicken. Hier also lehrt der Apostel, daß kein Theil der christlichen Gemeine sich soll von dem andern trennen. Es muß allerdings in der Gemeine wie im bürgerlichen Leben jeder Theil | für sich sein aber nicht so, daß der eine sich von dem andern trennt, sondern alle sollen zusammentreten und einander unterstützen. Im Vergleich mit der Sorge, die den Ältesten und Vorstehern der Gemeine übertragen war, konnten die Geschäfte, welche die Frauen zu verrichten hatten, als etwas Unbedeutendes und Geringfügiges erscheinen; deshalb ermahnt der Apostel hier die Ältesten jenen Frauen beizustehen, ihnen mit ihrem eigenen Ansehen und Rath zu Hilfe zu kommen. Wenn wir nun auch in der Hinsicht, m. g. Fr., wie ich oben bezeichnet habe, einen unvollkommnen Zustand unserer christlichen Gemeine zugeben müssen, so können wir doch nicht läugnen, auf der einen Seite ist dem Wesen nach vieles von demjenigen auch unter uns, wie wir uns nach diesen Worten des Apostels die damalige Gemeine zu Philippi denken müssen. Auch unter uns werden Werke der christlichen Milde und Wohlthätigkeit von christlichen Frauen verrichtet, und es ist ihr schönster Lohn, wenn sie sich dabei, nicht nur für sich selbst handelnd, sondern einen Auftrag der christlichen Gemeine | erfüllend denken. Auch unter uns giebt es in jeder kleinern und größern Gemeine außer denen, die dazu gesetzt sind, das Amt der Belehrung aus dem göttlichen Worte zu verwalten, solche, die ohne einen bestimmten Auftrag dazu erhalten zu haben, durch ihre Stimme, durch das Ansehen, welches sie behaupten, durch das Vertrauen, welches sie sich erworben haben, als Leiter der Übrigen anzusehen sind, die die Meinungen und die Lebensweise für viele Andere bestimmen. So sind uns also noch dieselben Aufgaben gestellt; und wenn wir nach derselben Übereinstimmung streben, die der Apostel hier den Christen zu Philippi empfiehlt, wenn alle diejenigen sich vereinigen, die ein gemeinsames Werk treiben: so wird 1 Werk] so SW II/10, S. 713; Textzeuge: Wort Wort

40 Werk] so SW II/10, S. 714; Textzeuge:

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dies das beste Mittel sein, das Band der Gemeinschaft auch unter uns wieder enger zusammenzuziehen. Und nachdem der Apostel diese Ermahnung gegeben hat, geht er ins Allgemeine zurück, und spricht die herrlichen Worte, die ich zuletzt gelesen habe: „Freuet euch in dem Herrn allewege, und aber mal sage ich | freuet euch.“ Aller Segen der Christen in ihrer Gemeinschaft, aller Fleiß in guten Werken, aller Ernst in dem Beistand, den sie einander leisten würden, das sollte alles aufgehen in nichts anderem als in der innigen Freude des Herrn; und das – denn das liegt in den Worten: „Freuet euch allewege“ – soll der beharrliche Zustand der Christen sein. Dies, m. g. Fr., ist ein herrliches Wort, aber viel zu groß und umfassend, um es jetzt noch zu zerlegen. Nur zweierlei will ich bemerken. Einmal wie weit entfernt der Apostel ist zu glauben, daß unter den Christen, wie sie damals verbunden waren, wenn sie auch wußten, daß ihnen das Vorbild ihres Wandels im Himmel nur am Ziele aufgestellt sei, welches sie noch nicht erreicht hatten, wie weit er entfernt war zu glauben, daß die niederschlagende und betrübende Gemüthsstimmung, daß der Zustand der Selbstzerknirschung und des beständigen Widerwillens gegen sich selbst, daß das Gefühl unserer Entfernung von dem Herrn und unserer Unwür|digkeit vor ihm, das herrschende sein soll in unserem Leben, daß er vielmehr den Christen zumuthet, sie sollten sich freuen in dem Herrn allewege. Gewiß, m. g. Fr., brauchen wir nicht bange zu sein, daß der Apostel ein leichtsinniges Wort gesprochen hat, und es nicht gern annehmen mit dem Vorsatz, nicht nachzulassen in dem Streben uns selbst zu erkennen und in der Beschauung unseres himmlischen Vorbildes. Aber, m. g. Fr., was soll die Gemeinschaft, die der mit uns hat und uns zusichert, was soll sie uns helfen, was soll es bedeuten, daß Christus in uns lebt und wir in ihm, wenn nicht die Freude, die Ruhe und die Seligkeit dessen in uns lebt, der uns der Weg und die Wahrheit und das Leben geworden ist. Darum unbeschadet dessen, daß wir der Gemeinschaft mit ihm unwürdig sind, daß wir mit vielen Schwachheiten zu kämpfen haben, soll das Gefühl der Gemeinschaft mit dem Herrn in uns leben, und sollen wir uns aller wege in ihm freuen. Aber zweitens, das darf nicht getrennt werden von der Ermahnung: der Herr | ist gekommen die Menschen zu erlösen, und die Erlösung ist an die Vereinigung zur Gemeinschaft mit ihm und durch ihn mit dem himmlischen Vater gebunden, und eine Gemeine ist er gekommen zu stiften; und keiner darf sich einbilden, daß er ein Recht habe sich in dem Herrn alle wege zu freuen, wenn er sein Wesen mit dem Herrn allein haben will. Nur wenn wir treu in der Gemeinschaft der Christen bleiben; nur wenn wir wie der Herr das Verlorne suchen, und die, welche sich mit uns um ihn versammeln, frei machen, damit sie aufhören seine Knechte zu sein, und seine Freunde werden: nur dann ver26 Vgl. Joh 14,20

27–28 Vgl. Joh 14,6

39–40 Vgl. Joh 15,15

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mögen wir uns in ihm zu freuen. Nur in der treuen Erfüllung alles dessen, worin die christliche Liebe sich zeigt und der Glaube sich thätig beweist, liegt der Grund zur Freude in dem Herrn allewege. Und so werden wir zum vollen Genuß dieser Freude nicht eher gelangen, bis die christliche Gemeinschaft unter uns zur Vollkommenheit gereift ist. Jeder muß bei sich selbst fühlen, daß sein Leben mit dem Erlöser und die Zuversicht, die er von der Kraft | desselben in der Verbindung mit ihm hat, abhängig ist von dem gemeinsamen Zustand des Ganzen. Nicht nur von dem Äußern gilt es, daß wir uns freuen sollen mit den Fröhlichen, sondern auch von dem Gefühl des gemeinsamen Lebens, welches dem Christen das Verhältniß seiner Seele mit dem Erlöser nahe bringt. Je weniger wir nöthig haben werden mit den Weinenden zu weinen, je mehr die Christen in inniger Verbindung fortschreiten in der Heiligung des Herzens: desto mehr können wir uns mit den Fröhlichen freuen, und immer näher kommen dem Ziele, uns vollkommen in dem Herrn allewege zu freuen. Und so laßt uns durch herzlichen Beistand, durch liebevollen Rath und freundlichen Trost jeder den andern unterstützen. Je mehr wir darauf denken, einer den Andern zu fördern durch die Gaben, die ihm Gott verliehen hat, desto mehr werden wir im Stande sein uns in dem Herrn zu freuen; und in dieser Freude möge er denn alle diejenigen immer weiter führen und immer mehr verherrlichen, die seine Gnade und seine Treue im Glauben und in der Liebe zu schätzen wissen. Amen.

9.12–14 Vgl. Röm 12,15

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Am 26. Januar 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Septuagesimä 1823 am sechs und zwanzigsten Wintermonds. |

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Septuagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,26 Nachschrift; SAr 103, S. 273–292; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 119v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Johannes I, 26 Johannes antwortete ihnen und sprach: Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. M. a. Fr., Schon neulich habe ich gesagt, es sei meine Absicht, die Zeit, welche uns übrig ist, bis wir uns’re Betrachtungen dem leidenden Erlöser vorzüglich zu widmen haben, auszufüllen mit einigen allgemeinen Ansichten über sein vorhergehendes Leben. Nun haben wir neulich denjenigen Theil desselben mit einander erwogen, wo er wie andere Menschenkinder zunehmend war wie an Alter so an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen, und stark wurde am Geist. Johannes lehrt uns in den eben verlesenen Worten einen andern Theil des Lebens Christi kennen; denn er sprach sie als er unsern Erlöser schon getauft hatte, und also unmittelbar ehe dieser im Begriff war, sein öffentliches Leben unter den Menschen anzutreten. Nun aber sagt er von ihm: Er ist auch schon mitten unter euch getreten, und | wird sich euch auch zu erkennen geben – wie er anderwärts sagt: Ich bin nur dazu gekommen mit Wasser zu taufen; aber der nach mir kommt wird euch mit dem heiligen Geist taufen, damit er offenbare das Gericht Gottes – aber noch kennt ihr ihn nicht. Indem nun Johannes dies denen sagt, die an ihn abgesandt waren von den Obersten seines Volks, welchen es am Herzen lag, auf alles wachsam zu sein und alles kennen zu lernen, 12 eben] oben 6.9–12 Vgl. oben 12. Januar 1823 vorm. über Lk 2,40 Mk 1,8; Lk 3,16

18–19 Vgl. Mt 3,11;

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was Merkwürdiges und Bedeutendes in Beziehung auf das geistige Leben unter dem Volke vorging, indem er dies sagt: so giebt er uns dadurch zu erkennen, daß unser Erlöser bis dahin, wo er öffentlich auftrat um zu lehren, ein stilles und verborgenes Leben führte, daß er keine Art von Aufsehen erregt habe, und denen ganz unbekannt geblieben sei, die nachher ihre Aufmerksamkeit so sehr auf ihn richteten. Eben dieses stille und verborgene Leben des Erlösers laßt uns jetzt zum Gegenstand unserer Betrachtung machen. Wir wissen nun freilich nichts davon als dies, daß es auf die Zeit folgte, die der eigentlichen Entwicklung | seiner menschlichen Kräfte bestimmt war, und derjenigen voranging, wo er öffentlich als Lehrer und als derjenige, der von Gott gesandt sei das Reich Gottes aufzurichten, unter seinem Volke auftrat; und es werden also auch nur diese beiden Gesichtspunkte sein, aus welchen wir dasselbe betrachten. I. So laßt uns denn zuerst sehen, wie auf diejenige Zeit, welche der Entwicklung der menschlichen Kräfte des Erlösers bestimmt war, noch ein solches stilles und verborgenes Leben folgen mußte, und seinem öffentlichen Auftreten vorangehen. – Es giebt überall, m. g. Fr., in der menschlichen Gesellschaft, in dem einen Lande so, in dem andern anders bestimmt einen Zeitpunkt, bei welchem die menschliche Gesellschaft annimmt, daß die geistigen Kräfte des Einzelnen vollständig entwickelt sind, daß er seine Verhältnisse in der Welt und seinen Beruf kenne, und eben deswegen seine Handlungen leiten und auch Rechenschaft davon geben könne; und das ist die Zeit, die wir durch den Ausdruck der Mündigkeit zu bezeichnen | pflegen. Da glaubt man sei der Mensch stark geworden am Geist, und neue Kräfte und neue Vermögen würden sich in ihm nicht mehr entwickeln; da glaubt man, an Alter und Weisheit habe er so zugenommen, daß er im Stande sei vollkommen für sich selbst zu sorgen. Dieser Zeitpunkt war auch nach den damaligen Sitten und Gebräuchen lange verstrichen, ehe der Erlöser sein öffentliches Leben antrat. Und so fragen wir denn: Warum denn hat er nicht gleich damals, als ihm das Recht der Mündigkeit unter seinem Volke zustand, sein Amt und seine Lehre angetreten? So schienen doch viele viele Jahre gewonnen zu sein für seinen nächsten großen Entzweck, die Menschen auf ihre geistigen Mängel und Bedürfnisse aufmerksam zu machen, und sie an sich selbst, als den einzigen Arzt der Seele hinzuweisen. Er hat das aber nicht gethan, sondern mehrere Jahre still und verborgen unter seinem Volke gelebt. Wir alle, m. g. Fr., und am meisten diejenigen unter uns, die zu irgend einer Art des öffentlichen Lebens | bestimmt sind, haben Ursachen zwischen die Zeit der Entwicklung und die des öffentlichen 3 Erlöser] Erlösers

33 sein] seinen

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Lebens selbst eine solche Stille und Verborgenheit eintreten zu lassen; Ursachen aber, die der Erlöser nicht haben konnte. Denn wenn in dieser Zeit, wo der menschliche Geist in dem Zustande eines jugendlichen Aufbrausens ist, der Mensch nicht nach allen Seiten hin stark geworden ist am Geist: so wird manches, was Zeugniß giebt von der menschlichen Schwäche und von der Leichtigkeit, womit auch gutgeartete Gemüther in Verwirrungen gerathen können, auf eine unverkennbare Weise hervortreten, und je bekannter und öffentlicher das Leben geworden ist, je bekannter auch diese Abweichungen geworden sind, desto mehr können sie der Wirkung des nachher folgenden öffentlichen Lebens nicht vortheilhaft sein. Diese Ursachen konnte der Erlöser nicht haben; ihm konnte auch in dieser Zeit nichts begegnen, was diesen Antheil der Seele an der Sünde und diese Gebrechlichkeit der menschlichen Natur bezeugt hätte. Fragen wir also, welches waren seine Ursachen? so müssen wir sie auf einem andern Gebiet suchen. Da leuchtet | uns zunächst das ein, wovon wir auch unter uns im gewöhnlichen Leben die Erfahrung machen; es ist dies, daß das Vertrauen [der Menschen] leicht eher gewonnen wird, wenn der, dem sie es schenken wollen, schon zu einer gewissen Reife des Geistes gediehen ist. Nicht dann schon, wenn jener Zeitpunkt eingetreten ist, und alle verschiednen Kräfte und Richtungen des Geistes entwickelt sind, nicht dann schon ist der Mensch geschickt, sich das Vertrauen Anderer so zu erwerben, daß sie sich nach ihm fügen, daß sie von ihm Rath und Belehrungen annehmen. Viel eher geht es an, daß in irgend einer einzelnen Wissenschaft und Kunst jemand als Lehrer auftritt in diesen ersten Jahren der jugendlichen Frische. Will einer aber lehren, wie das menschliche Leben überhaupt zu führen sei, so wird ihm nicht eher der rechte Glaube und das rechte Vertrauen geschenkt, bis jene Reife des Geistes da ist und das Alter, welches Gewähr leistet, daß Erfahrungen und Kenntnisse sowohl von dem Innern der menschlichen Seele als von den verschiedenen Verhältnissen des menschlichen Lebens erworben seien. Wenn dies nun, m. g. Fr., ein Vorurtheil wäre, und ohne einen wahren | innern Grund, so würde sich der Erlöser demselben nicht hingegeben haben. Denn er war wohl gekommen, daß er diene, aber nicht, daß er sich den Schwächen der Menschen beuge, sondern er würde diesem Vorurtheil durch Wort und That kräftig entgegengetreten sein, wie viele andere, die damals die Gemüther der Menschen beherrschten. Indem er aber dies nicht gethan, sondern sich dieser Sitte gefügt, und wiewohl schon alle Kräfte seines Geistes entwickelt waren, doch noch mehrere Jahre in der Stille und Zurückgezogenheit zugebracht hatte, ehe er sein öffentliches Leben antrat: so muß es etwas Wahres und Gutes sein, weil er es sonst nicht würde befolgt haben. Und hieraus können wir sehen, ohnerachtet uns bestimmte Nachrichten über diesen Lebensabschnitt des Erlösers fehlen, wo17 wird, wenn] wird, als wenn

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mit er diese Zeit wird ausgefüllt haben. Es ist nur eine Spur in unsern testamentlichen Schriften, die uns vermuthen läßt, daß der Erlöser diese Zeit nicht in seinem elterlichen Hause in der Stadt Nazareth, wo er die Jahre seiner Kindheit verlebend erzogen worden ist, zugebracht hat. | Denn wie er als Lehrer zuerst in derselben auftrat und eine Stelle aus dem Propheten Jesaias erklärte: so fragten die Anwesenden unter einander, ist das nicht Josephs Sohn? und aus dieser ganzen Art zu fragen, sich sein Bild in das Gedächtniß zurückzurufen, sehen wir, daß es längere Zeit her sein mußte, daß er diese Stadt seiner Erziehung verlassen hatte. Eben so haben wir auch Ursache aus allem, was uns aus dem Volksleben des Erlösers erzählt wird, zu vermuthen, daß er nicht wie Johannes diese Zeit in der Wüste zugebracht hat. Denn wir sehen aus der ganzen Geschichte seines Lebens, daß es nur besondere Veranlassungen waren, die ihn bewogen sich der Einsamkeit zu überlassen und sich den Menschen zu entziehen. Wenn sie in Beziehung auf ihn in unordentliche Gemüthsbewegungen gerathen waren, denen er entgehen mußte, um nicht in das zu willigen, was seiner großen Bestimmung zuwider war, wie z. B. nach jener großen Speisung, wo der Haufe des Volks ihn zum König ausrufen wollte: da entwich er und ging in die Wüste; oder wenn er längere Zeit getrennt gewesen war von seinen Jüngern, die er ausgesandt hatte, damit sie ohne seine persönliche | Gegenwart das Reich Gottes verkündigen sollten, und er nun nach ihrer Rückkehr sich ihnen ungestört hingeben wollte: dann ging er abwärts in die Wüste. Sonst finden wir nie, daß er die Gesellschaft der Menschen geflohen, und sich der lebendigen Thätigkeit unter ihnen entzogen habe. Beides zusammengefaßt läßt uns vermuthen, daß er auch in dieser Zeit schon ein Leben dem ähnlich geführt habe, welches wir ihn hernach führen sehen, umherwandelnd in den verschiedenen Gegenden seines väterlichen Landes, nicht an Einem Ort sich aufhaltend, sondern das Volk überall kennen lernend, damit er hernach, wenn er nun bestimmt wäre seine Wirksamkeit auf die Gemüther der Menschen zu beginnen, wüßte wie er sie nach ihren Eigenthümlichkeiten zu ergreifen und seinen Entzweck bei ihnen zu erreichen habe. Aber auf eine solche Weise hat er dies gethan, daß dennoch Johannes mit vollem Recht von ihm sagen konnte: „ihr kennet ihn nicht“; still und zurückgehalten hat er sich dabei gezeigt, nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich leiten wollend, sondern ernstlich bestrebt einzusam|meln in der Tiefe seines Gemüths Schätze der Erfahrung, die er hernach in seinem öffentlichen Leben gebrauchen könnte. Und gewiß haben wir nicht nöthig zu glauben, daß er dabei in weitläufigen und zahlreichen Verbindungen gestanden habe mit der Jugend seines Alters unter seinem Volke, und unter dieser schon damals irgendwie den Ersten gespielt und 1–2 testamentlichen] Kj neutestamentlichen 4–7 Vgl. Lk 4,16–22

17–19 Vgl. Joh 6,15

19–23 Vgl. Lk 9,10

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den Führer; denn wir finden keine Spur, daß ein großer Haufe seiner Altersgenossen, sobald er als Lehrer auftrat, sich um ihn gesammelt und den Ruf seiner Weisheit verbreitet habe. Sondern erst als er anfing öffentlich zu leben und lehren, hat er sich eine kleine Schaar Vertrauter seines Alters sowohl als auch älterer und jüngerer gewählt und um sich vereinigt. Hieraus nun könnten wir urtheilen über die Absichten, die der Erlöser hatte, ein stilles und verborgenes Leben zu führen, und dürfen wir uns nicht wundern, daß er es nicht für einen Raub hielt, gleich als die Sitte seines Volkes es ihm gestattete, öffentlich aufzutreten, sondern es war seiner Weisheit gemäß, auf die Zeit seiner Entwicklung erst ein stilles Leben folgen zu lassen, welches die beste Vorbereitung war auf das öffentliche, was | darauf folgte; und wir werden sagen müssen, daß es etwas Heilsames ist und glücklich zu Preisendes, wenn überall denen, die zu einem öffentlichen Beruf bestimmt sind, eine solche Zeit der Stille und Verborgenheit gegönnt ist, und wenn sie dieselbe eben so wie der Erlöser benutzen. Viele Menschen giebt es, bei denen ihrem ganzen Beruf nach der Gegensatz zwischen dem stillen und zurückgezogenen Theil des früheren Lebens und zwischen dem öffentlichen des spätern nicht groß ist; je weniger der Mensch zu einem großen weiten Wirkungskreise bestimmt ist, desto leiser kann der Übergang sein von dem einen zum andern. Aber doch giebt es keinen, von dem man nicht sagen könnte, es wäre heilsam für ihn, sich erst in einen stillen Kreis zurückzuziehen, und von hier aus das Leben um sich her zu beschauen, und die Welt kennen zu lernen, auf die er hernach wirken soll, und die Erfahrung zeigt es, daß kein großer Segen damit verbunden ist, wenn die Entwicklung der menschlichen Kräfte übereilt wird, und der Mensch zu früh in das öffentliche Leben tritt. Aber heilsam kann diese Zeit auch nur sein, wenn sie so angewendet wird, wie der Erlöser sie | wird angewendet haben; wenn wir nicht das Verwickelte des öffentlichen Lebens in diese Zeit einschieben, wenn wir jeder nur auf sich selbst und auf das, was ihn zunächst umgiebt, sehen, und uns in dasselbe hineinzuleben suchen, nicht aber alles, wie es uns in’s Gemüth kommt, auch durch irgend eine Art menschlicher Wirksamkeit und menschlichen Strebens nach außen zu Werk und That machen wollen. Je mehr der Segen der Stille und Verborgenheit in dieser Jugendzeit vorhanden ist, desto wichtiger ist es, daß der Eintritt in das öffentliche Leben nicht übereilt werde; und jeder, der einen öffentlichen Beruf beginnt, beschränke er sich auch nur auf die Einrichtung eines häuslichen Kreises, wird gewiß in dem Maaße nur gesegnet sein und Gutes wirken können, als eine Zeit der Stille und Abgezogenheit von der Welt vorangegangen ist, eine Zeit der Selbstprüfung für das, was jeder in der Zukunft leisten soll, eine Zeit des stillen Einsammelns von Erfahrungen, die er mit dem, was in seinem eigenen Gemüthe vorgeht, vergleicht. Das ist der Grund aller Weisheit des Lebens, und nur darauf läßt sich eine gesegnete | Wirksamkeit in einem darauf folgenden öffentlichen Leben erbauen.

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II. Und so ist denn das Zweite, was wir darauf zu erwägen haben, wie auch in dem Leben des Erlösers auf diese Zeit der Stille und Eingezogenheit der Eintritt in das öffentliche Leben folgte. Es ist, m. g. Fr., schon frühzeitig im Christenthum der Wahn gewesen, als ob das Sicherste für den Menschen und das, wobei er sein Heil am meisten schaffen könne, eine beständige Zurückgezogenheit von der Welt sei; und viele Christen haben das Wort des Herrn, daß man die Welt verläugnen muß um ihm nachzufolgen, nicht bloß so verstanden, daß man die Lust der Welt verläugnen muß, sondern auch die Beschäftigung mit der Welt und die Gemeinschaft mit ihr fliehen. Wenn wir uns aber als Christen richten nach dem Beispiele des Erlösers, und indem wir das, was er gethan hat und gewesen ist, uns anzueignen suchen, freilich in der Entfernung, die immer zwischen uns und ihm bestehen wird: so sehen wir, daß dieser Wahn keinen Vorschub hat in der Handlungsweise des Erlösers. Der Herr hat auch in der Stille und Einsamkeit | gelebt, aber nur um sich vorzubereiten auf seinen Beruf, den er unter den Menschen zu erfüllen hatte, und auf keine Art, die der Sitte seines Volkes entgegen war. Laßt uns sehen, m. g. Fr., wie dies nothwendig mit seinem Beruf zusammenhing, und was daraus für uns alle hervorgeht. Wenn die Erlösung nur darin bestanden hätte, daß der Herr das Fleisch gewordene Wort, die menschliche Natur in seiner Person in ihrer ganzen Reinheit darstellte, so daß das richtende Auge Gottes, indem es alle Menschen nur in ihrer natürlichen und wesentlichen Verbindung mit diesem Vorbilde der menschlichen Natur betrachtete, sie auch alle für gerecht erklärte; wenn die Erlösung nur darin bestanden hätte, daß der Herr, indem er als der Einzig Unschuldige starb, die Strafe für die Sünde der Menschen trug, um sie davon zu befreien: beides hätte geschehen können durch eine stille Zurückgezogenheit des Erlösers von der Welt; denn wie viele sind nicht theils durch die Verkehrtheit der Menschen von einem eben so gewaltsamen Tode hinweggerissen worden von dem Schauplatz ihrer Wirksamkeit, wie der Herr! Aber damit war die Erlösung | nicht abgemacht. Von der Kraft und Herrschaft der Sünde konnten die Menschen nur befreit werden durch den Erlöser, indem sie mit ihm auferstanden zum neuen Leben; und dieses konnten sie nicht anders finden als in der Gemeinschaft und indem sie durch ihn Eins wurden unter einander; und nur so kann Gott mit den Menschen Eins sein durch den Herrn, wie er selbst sagt, daß er mit dem Vater Eins sei. Daher war es der Beruf des Herrn auf die Menschen lebendig zu wirken, sie an sich zu ziehen durch die Kraft seines Geistes, und sie in diese Gemeinschaft mit sich und unter einander zu versetzen, oder wie es eine andere Erzählung als die Antwort des Johannes an eben diese, welche von den 7–8 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

36 Vgl. Joh 10,30

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Obersten seines Volks an ihn gesandt waren, ausdrückt: „ich taufe mit Wasser, der aber nach mir kommt wird euch mit dem heiligen Geist und mit Feuer taufen.“ Eben dies, die Menschen mit der Kraft eines neuen Lebens zu erfüllen, und mit einem Eifer für das Reich Gottes und für das wahre menschliche Heil, den sie vorher nicht gekannt hatten, sie zu durchglühen, eben dies mit dem Geist | und mit Feuer taufen war das Wesentlichste und Wirksamste in dem Leben des Herrn, ohne welches alles andere vergeblich gewesen wäre. Dazu gehörte aber der Eindruck, den er in seiner persönlichen Erscheinung auf die Menschen machte, dazu gehörte seine unmittelbare Wirkung auf die Gemüther, und daher mußte er, als die Zeit seines Auftretens erschienen war, der Stille eines einsamen und zurückgezogenen Lebens ein Ende machen und öffentlich unter seinem Volke erscheinen. Wohlan, m. g. Fr., so war es mit dem Erlöser, und deshalb durfte er die Stille und Zurückgezogenheit nicht fortführen durch sein ganzes Leben. Wie ist es mit uns? Sind wir mit dem Geist und mit Feuer getauft durch ihn – und dann nur können wir uns rühmen in der That und Wahrheit seine Jünger zu sein – so muß auch das Bestreben sein in uns erwacht, mit allen unseren Kräften mitzuwirken, daß dieser Geist der Feuertaufe sich über alle Menschen verbreite; und das können wir nur, nicht indem wir uns in die Stille zurückziehen, nicht indem wir die Sünder scheuen und verabscheuen | und unthätig unser Herz und unsere Betrachtung auf sie lenken; sondern indem wir unter sie treten, indem wir ihnen das Leben, welches aus der Geist- und Feuertaufe entspringt, zeigen, und so viel an uns ist dazu beitragen, in ihnen die Sehnsucht des Herzens nach der Befreiung von der Sünde und nach dem Besitz der himmlischen Güter rege zu machen, und sie dann als Dürftige und Verlangende zu dem hinführen, der allein diese Sehnsucht des Herzens befriedigen kann. Daher sagt der Herr, seine Gemeine sei wie eine Stadt, liegend auf einem Berge, die sich nicht verstecken könne; sondern weit umher gesehen werde, und darum seien die Seinigen bestimmt, daß sie sich nicht verbärgen vor den Augen der Welt, sondern ihre guten Werke sehen ließen. Gute Werke aber, m. g. Fr., die werden nur verrichtet in der Gesellschaft der Menschen und im öffentlichen Leben. Und auch jedes christliche Hauswesen soll ein solches öffentliches Leben sein, es soll sich nicht abschließen von den Menschen und in die Verborgenheit begraben, sondern sein Licht leuchten lassen vor den Leuten | durch eine dem Herrn wohlgefällige Thätigkeit, durch eine gottselige Kinderzucht, durch eine gottselige Geselligkeit und durch alles Gute, was eine solche mit sich führen kann. Eben deshalb ist ein solcher Beruf zum öffentlichen Leben ein allgemeiner; und es giebt keine weitere Entfernung von dem Leben des Herrn, von seiner Lehre und von dem Vorbilde, welches er uns aufgestellt 1–3 Vgl. Mt 3,11; Mk 1,18; Lk 3,16

27–31 Vgl. Mt 5,14.16

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hat, als wenn wir diesem das zurückgezogene Leben vorziehen. Denn der Herr selbst, der gekommen war, um zu dienen, muthete den Menschen nicht zu, daß sie ihn aufsuchen sollten und finden, er begnügte sich nicht damit, zu sagen, kommen nun die Menschen nicht, um aus der Quelle des ewigen Lebens, die in mir fließt, zu schöpfen, so ist es ihre Schuld; sondern er selbst ging umher und suchte sie auf, er suchte die Mühseligen und Beladenen auf, um sie zu erquicken und ihnen Ruhe zu geben für ihre Seelen, er suchte für die Worte seiner Belehrung und Ermahnung, seines Trostes und seiner Strafe das weiteste Feld zu finden. Und dann sollen wir auch alle folgen. | Wo aber das Leben des Geistes ist, da ist auch schon der Trieb dazu; wogegen wir sagen müssen, der Trieb, sich in die Stille zurückzuziehen verräth eine Trägheit des Geistes und eine Lauigkeit und Mattigkeit, die wir haben, mit dem Erlöser an der Erlösung der Menschen zu arbeiten. – So laßt uns denn zuerst diejenigen unter uns, die noch in der Zeit des Lebens sind, wo die Stille und Eingezogenheit für sie heilsam ist, dazu ermahnen aus allen Kräften, daß sie diesem Beispiele des Erlösers folgen, und nicht dadurch ihre künftige Wirksamkeit sich selbst stören, daß sie zu zeitig streben in das öffentliche Leben hinauszutreten. Uns aber, so viel unserer schon in der Zeit des Lebens stehen, wo wir in dem öffentlichen Leben wirksam sein sollen, laßt uns das Wort des Herrn einander zurufen, daß wir dazu da sind, unser Licht leuchten zu lassen vor den Menschen, und ihr eigenes an dem uns’rigen zu entzünden, und die Taufe des Geistes und des Feuers unter ihnen fortzupflanzen, daß die Menschen mögen unsere guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen, und das einsehen und fühlen, daß kein anderer Name den Menschen gegeben ist, darin sie sollen selig werden, als der Name Jesu Christi. Amen.

[Liederblatt vom 26. Januar 1823:] Am Sonnt. Septuages. 1823. 30

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Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Meinen Jesum laß ich nicht, / Was könnt’ ich wol bessers haben? / Niemand kann mit Trost und Licht / So wie er die Seele laben. / Alles, was mir Freude giebt, / Hab ich, weil mich Jesus liebt. // [2.] Ohne Jesum würde mir / Schon die Welt zur Hölle werden; / Mit ihm aber hab ich hier / Schon den Himmel auf der Erden; / Mangel kenn ich nicht und Noth, / Er speist mich mit Himmelsbrodt. // [3.] Eine Stunde, wo ich ihn / Suche recht ins Herz zu schließen, / Giebt den seligsten Gewinn, / Läßt mich wahre Lust genießen; / 6–8 Vgl. Mt 11,28

21.23–24 Vgl. Mt 5,16

25–26 Vgl. Apg 4,12

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Am 26. Januar 1823 vormittags

Ein zu ihm gewandter Blick / Bringt mir tausend Heil zurück. // [4.] Schickt mir Gott auch Kreuz und Schmerz: / Jesus hilft sie selbst besiegen, / Spricht, o du zerschlagnes Herz, / Laß dir meine Gunst genügen! / Also stärkt er die Geduld / Durch Versichrung seiner Huld. // [5.] Niemals zeigt sich Unbestand / Jesu mir in deiner Gnade: / Du hältst mich an deiner Hand, / Daß nichts meiner Seele schade; / Und so geht die Prüfungsbahn / Immer sicher himmelan. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Was frag ich nach der Welt / Und allen ihren Schäzen, / Wenn ich mich nur an dir / O Jesu kann ergözen. / Dich hab ich einzig mir / Zur Freude vorgestellt, / Du du bist meine Ruh; / Was frag ich nach der Welt. // [2.] Die Welt ist wie ein Rauch, / Der an der Luft vergehet, / Und einem Schatten gleich, / Der kurze Zeit bestehet; / Mein Jesus aber bleibt, / Wenn alles bricht und fällt, / Er ist mein starker Fels: / Was frag ich nach der Welt. // [3.] Strebt ihr nach Ehr und Ruhm / Bei hocherhabnen Leuten; / So denkt ihr nicht daran, / Wie bald wol diese gleiten. / Das aber was mein Herz / Vor allem rühmlich hält, / Ist Jesu Gunst allein; / Was frag ich nach der Welt. // [4.] Ihr suchet Geld und Gut, / Und seid nicht zu ermüden; / Doch habt ihr, was ihr wünscht, / So seid ihr nicht zufrieden. / Ich hab ein höhres Ziel / Dem Streben aufgestellt; / Ist Jesus nur mein Theil, / Was frag ich nach der Welt. // [5.] Ihr könnt des Lebens Lust / Nicht hoch genug erheben; / Euch wird es leicht, dafür / Den Himmel wegzugeben. / Doch so ist nur gesinnt, / Wer sich zum Staube hält; / Ich suche Jesu Heil, / Was frag ich nach der Welt. // [6.] Was frag ich nach der Welt, / Gar bald muß sie verschwinden; / Sie kann durch ihre Macht / Des Todes Arm nicht binden. / Es schwindet all ihr Gut / Und ihre Lust verfällt! / Mir bleibet Jesus stets, / Was frag ich nach der Welt! // [7.] Was frag ich nach der Welt! / Mein Jesus ist mein Leben, / Mein Hort, mein Eigenthum, / Der, dem ich mich ergeben; / Sein ew’ges Himmelreich / Ist nur, was mir gefällt. / Drum spreche Sinn und That: / Was frag ich nach der Welt. Nach der Predigt. – Mel. Was mein Gott will etc. Hilf meinem Glauben, daß ich dir / Mein Heiland ähnlich werde! / O heilge mich, und tilg’ in mir / Die Liebe dieser Erde, / Daß ich dein großes Beispiel mir / Stets fromm vor Augen seze, / Und Gottes Willen thun gleich dir, / Weit über alles schäze. //

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Am 2. Februar 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sexagesimae, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,5–7 Nachschrift; SAr 103, S. 297–316; Andrae Keine Keine Vakanzpredigt für Herzberg (OGD; vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.) Zu den Publikationen in SW II/10, 1856, S. 737–753 und S. 745–769 vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.b. Tabelle 3

Frühpredigt am Sonntage Sexagesimae 1823 am zweiten Hornungs.

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(Lied. 423, 1–8, 15 und 16) |

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Tex t. Philipper IV, 5–7 Eure Lindigkeit lasset kund sein allen Menschen. Der Herr ist nahe. Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden. Und der Friede Gottes, welcher höher ist, denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. M. a. F. Was wir eben mit einander gesungen haben, und von dem Kreuz der Christen in diesem Leben handelt, scheint vielleicht auf den ersten Anblick in keiner Verbindung zu stehen mit den Worten, über die wir jetzt mit einander reden wollen. Allein eine nähere Betrachtung ergiebt doch, daß der Apostel bei denselben ganz vorzüglich die Leiden im Sinne gehabt hat, welche damals von mancherlei Art die Christen trafen, deren Verhältnisse zu den übrigen Menschen so waren, daß sie auch immer darauf zu rechnen hatten leiden zu müssen. Die Worte, die den eben gelesenen unmittelbar 3 1–8,] 1–8; 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 423: „Ach treuer Gott!“ (Melodie von „Herr straf mich nicht in deinem Zorn“)

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vorhergehen, waren die: „Freuet euch in dem Herrn allewege.“ Wenn wir nun bedenken, wie der Apostel hier den Nachdruck seiner Rede zertheilt auf das allewege sich in | dem Herrn freuen, und uns fragen, was ist es denn, was die Christen hindern kann sich an dem Herrn zu freuen? so können wir nur zweierlei denken. Einmal wenn sie mit fortgerissen werden von der irdischen Freude dieser Welt, die dann ihr Herz von dem Herrn abzieht. Aber daß der Apostel daran nicht gedacht hat, zeigen die Worte unseres Textes deutlich genug. Denn wenn die Menschen sich in diesem Zustande befinden, denken sie von selbst nicht daran zu sorgen; und die Ermahnung des Apostels wäre dann überflüssig und zwecklos gewesen. Das Zweite aber, was die Freude an dem Herrn vermindern und vielleicht auf kurze Zeit auslöschen kann, sind eben die Leiden dieser Zeit, wenn sie das Gemüth überwältigen. Und wenn wir nun zusammenfassen den Sinn der Vorschriften, die wir eben gelesen haben „Laßet eure Lindigkeit kund sein allen Menschen; sorget nicht, traget aber alle eure Angelegenheiten Gott im Gebet und mit Danksagung vor“: so sehen wir wohl, wie das alles zusammenstimmt zu dem, wovon schon die vorigen | Worte uns die Andeutung geben, und daß der Apostel, indem er an die Christen schreibt: „Freuet euch in dem Herrn allewege“, sie dazu ermahnt, daß wenn auch sie etwas träfe von den Leiden, von denen die Christen nicht frei waren, sie doch dadurch nicht sollten in der Freude des Herrn gestört werden. Und was nun in den verlesenen Worten steht ist recht eigentlich eine Anweisung dazu, sich in den Leiden dieses Lebens so zu verhalten, daß dadurch die Freude an dem Herrn nicht gestört werde. Denn gewiß werden wir sagen, daß dies das natürliche Ergebniß ist von der Befolgung der Regeln, die der Apostel vorschreibt, und die wir nun zu erwägen haben. Schon zuerst dies, daß er sagt: „unsere Lindigkeit lasset kund werden allen Menschen“, weist uns auf den Zusammenhang der Gedanken hin, den ich eben entwickelt habe. Wir wissen alle, was unter dem Ausdruck verstanden wird; und wenn wir uns fragen, wo brauchen wir denn der Lindigkeit, die der Apostel empfiehlt? so werden wir sagen, es ist immer ein Zustand des Leidens. Wenn nur die Rede ist von dem, was der Christ in | der Welt zu thun hat, so ist nicht dasjenige Noth, wozu der Apostel ermahnt, sondern das, was der Herr fordert, frisch alles angreifen, muthige Beharrlichkeit in der Erfüllung dessen, was wir als gut und gottgefällig erkannt haben. Überall aber wo wir der Lindigkeit brauchen, sind wir in einem Zustande des Leidens. Sobald wir in dem Werke, welches wir zu leisten haben, den Widerstand der Menschen erfahren, so tritt der Fall ein, wo wir der Lindigkeit brauchen; aber dann befinden wir uns schon in dem Zustande des Leidens, weil unser Thun gehemmt ist. Überall wo die Menschen uns etwas in den Weg legen, wo sie entweder unsere Berufsthätigkeit hemmen, wo sie nach1.18–19 Phil 4,4

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theilig auf unser Verhältniß zu andern wirken, wo sie uns das Vertrauen und die Liebe der Menschen, die die Grundlage aller gesegneten Thätigkeit unter den Menschen und aller erfolgreichen Wirksamkeit auf sie, zu entziehen trachten, oder wo sie uns muthwilligerweise Leiden und Schmerzen zufügen: da ist der Ort, wo wir die Lindigkeit sollen kund | werden lassen. Diese besteht aber ihrem Wesen nach darin, daß wir uns durch alle Verhältnisse dieser Art nicht lassen in einen leidenschaftlichen Gemüthszustand hinreißen, daß der gerechte und gottgefällige Unwille, den wir empfinden, wenn Leiden kommen über unsere Person und ein Widerstand uns trifft, der dem Guten und der Verbreitung und Fortschreitung desselben Hindernisse in den Weg legt, sich in seinen Schranken halten soll, daß dadurch die Ruhe unseres Gemüthes und die Sicherheit unserer Überlegung und die Festigkeit und Unwandelbarkeit in unserem Thun nicht getrübt werde und gestört. Das Andere, was in diesem Worte so Wesentliches liegt, ist dies, daß wir in allen solchen Verhältnissen doch nie der Liebe vergessen, die ohne Ausnahme und Unterschied immer die Gemüthsstimmung des Christen gegen seine Brüder sein soll. Denn freilich müssen wir hier einen Unterschied machen und können uns dessen nicht erwehren; und die heilige Schrift rechtfertigt ihn selbst, indem sie die Bruderliebe als eine eigenthümliche und vorzügliche Tugend des Christen ansieht, wie auch der | Apostel selbst uns anderwärts die Regel giebt, daß wir nicht ermüden sollen Gutes zu thun, vorzüglich den Genossen unseres Glaubens. Aber wenn wir ausgehen sollen von der Liebe des Erlösers, die selbst das Vorbild ist unserer Liebe zu ihm und zu unseren Brüdern, und wenn seine Liebe eine allgemeine Liebe zu allen Menschen war: so muß es uns deutlich sein, daß jeder, der auch am weitesten davon entfernt ist unser Bruder in Christo zu sein, einen Anspruch auf unsere Liebe hat, und daß es für den Christen keinen andern Unterschied giebt in Ansehung seiner Liebe zu andern, als daß er die Einen liebt als solche, die schon dergleichen Seligkeit theilhaftig geworden sind, und die andern als solche, die erst sollen dieser Seligkeit theilhaftig werden. Wenn wir nun diejenigen, die mit mehr oder weniger Vorsatz, mit mehr oder weniger Bitterkeit des Herzens Ursach geworden sind von den Leiden, die uns treffen, von dem Widerstande gegen das Gute, der uns in den Weg tritt, wenn wir denn diese doch auch so lieben sollen: so ist wohl klar, daß davon die Lindigkeit, die der Apostel hier empfiehlt, die | erste und wesentlichste Folge ist: Immer werden wir zugleich darauf sehen, so gegen sie zu handeln, daß wir sie dem Glauben, den wir bekennen, dem Guten, welches sie zu hindern trachten, nicht noch feindseliger machen als sie schon sind; daß wir die Bitterkeit des Herzens und den Mangel an Liebe, 14 Wesentliches] wesentliche 21–22 Vgl. Gal 6,9–10

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der immer dabei zum Grunde liegt, nicht durch das, was wir selbst thun, und durch die Stimmung unseres Gemüths auf’s neue erregen und fortpflanzen; und das kann nur geschehen, wenn wir uns überall in dem Zustande der Lindigkeit erhalten. Der Apostel sagt auch ausdrücklich: „eure Lindigkeit lasset kund werden allen Menschen.“ Er sagt zuerst nicht nur, wir sollen sie beweisen, sondern auch kund werden lassen, und allen Menschen anschaulich machen. Wir sollen sie also nicht nur beweisen, so daß diejenigen sie empfinden müssen, die vielleicht das Gegentheil von uns erwartet haben, sondern auch, daß sie offen und klar vor den Augen der Menschen zu Tage liegt, daß sie so wenig zu verkennen ist in unserm Leben, daß sie auch denen auffallen muß, die vielleicht sonst keine besondere Kenntniß von dem Verhältniß genommen hätten, in welchem wir | uns befunden. Wie der Apostel sich ausdrückt, so müssen wir glauben, es ist seine Meinung gewesen, die Lindigkeit soll eine so allgemeine die Christen auszeichnende Eigenschaft sein, daß man sie daran erkennen kann. Und wenn der Herr sagt: „daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr euch unter einander liebet“: so ist dies gleichsam etwas, was der Apostel jenem Hauptspruch des Erlösers noch hinzufügt: und daran wird man euch erkennen, daß ihr seine Jünger seid, wenn ihr gegen die, welche es nicht sind, mögen sie sich gegen euch betragen, wie es sei, eure Lindigkeit beweiset. Und eben deswegen sagt er auch, sie soll kund werden allen Menschen. Die Christen der damaligen Zeit, m. g. Fr., wo es wohl verhältnißmäßig noch selten war, daß ganze Familien zu gleicher Zeit den heilsamen Glauben des Evangeliums annahmen, sondern nur Einzelne hier und dort zerstreut, waren also in einem verschiedenen Verhältniß zu denen, welchen das Evangelium zuwider war. Einige davon waren ihnen von Natur weniger oder mehr befreundet, wie ihre Landsleute, Mitbürger, | mit denen sie in mancherlei äußern Verhältnissen lebten, andere standen ihnen entfernter, waren auch in anderweitigen nicht freundschaftlichen Verhältnissen gegen sie, wie Fremde, Obrigkeiten, Herrschaften, und wie damals die Verhältnisse der Menschen vermittelt waren. Der Apostel sagt nun: Nicht etwa nur gegen die sollt ihr eure Lindigkeit beweisen, die in Absicht auf den Erlöser sich von euch trennen, sonst aber im Leben euch nahe stehen, sondern allen ohne Unterschied soll eure Lindigkeit kund werden, es soll kein Verhältniß des Lebens geben, wie sehr es auch dem Menschen fremd sei, wie natürlich man auch in demselben eine feindselige Stimmung finden möge, worin nicht alles, was dazu beiträgt sie zur Kunde der Menschen zu bringen, eure Lindigkeit offenbare. – Wenn wir dies nun in Verbindung bringen mit den vorigen Worten, an die ich schon erinnert habe: so müssen wir gestehen, 16 jedermann] jedermand 16–17 Joh 13,35

34 Verhältniß] Verhält

38 offenbare] offenbaren

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ist irgend etwas, was uns in den bald so, bald anders bestimmten Verhältnissen zu den Menschen im Geleise erhalten kann; ist irgend etwas, was auch unter | den Leiden des Lebens, die uns treffen, in uns die Freude an dem Herrn zu bewahren vermag: so ist es eben die Lindigkeit, weil bei derselben das Gemüth in ungetrübter Ruhe bleibt, weil durch sie alle leidenschaftliche Bewegungen zum Schweigen gebracht werden, und weil es uns in ihrem Besitz an der innern Heiterkeit und Zufriedenheit des Herzens nie fehlen kann. Bleiben wir bei der Lindigkeit so fest, daß wir sie allen Menschen kund werden lassen: so wird kein Leiden, wie schmerzlich es auch sein mag, unsere Freude an dem Herrn stören. Das Zweite, wozu der Apostel ermahnt, ist das: „sorget nicht“; und wir werden gewiß den Sinn dieses Wortes in folgendem Zusammenhange treffen. Es ist dieser: wenn wir, so lange ein Verhältniß unseres Lebens, welches eine Quelle von Leiden und Schmerzen ist, uns noch unentschieden ist, uns nicht enthalten können an den Ausgang zu denken, wenn wir alle Zeiten, wo uns dieses oder jenes widerfahren ist, zusammen|halten, um den wahrscheinlichen Erfolg zu bestimmen, wenn wir nach allen Umständen forschen, die dazu mitgewirkt haben, wo die Sache nicht so liegt, daß wir durch dasjenige, was uns zu thun obliegt, diesen Ausgang herbeiführen können. Denn können wir dies, so ist das Bestreben die Leiden von uns abzuwälzen nicht etwa ein Sorgen, sondern eine gottgefällige Thätigkeit, durch welche wir an den Tag legen sollen, daß wir mit dem uns von Gott anvertrauten Pfunde auf jede Weise zu wuchern suchen. Können wir aber nichts zur Herbeiführung des Ausgangs beitragen, so ist das Achten darauf ein leeres Sorgen. Und daher warnt uns der Apostel, daß wir, wenn die Umstände so sind, daß ihre Entscheidung nicht in unsere Hände gelegt ist, nicht sorgen sollen. Und wahrlich, jeder, der dies erfahren hat, wird wissen, daß nichts so sehr als dieses eitle Sorgen das Gemüth stört, die innere Zufriedenheit des Herzens aufhebt, und den Menschen abhängig macht auch von den geringsten Kleinigkeiten, und | daß nichts ihn weiter entfernt von dem Ziele sich die Freude an dem Herrn allewege zu erhalten; sondern indem er mit seiner Aufmerksamkeit auf die äußern Dinge gerichtet ist, so ist das Innere ihm schon verschwunden. Wenn also das unsere größte Angelegenheit sein muß, uns auch in den Leiden und Widerwärtigkeiten des Lebens die Freude an dem Herrn allewege zu erhalten: so müssen wir uns auch an diese Vorschrift des Apostels anschließen: „sorget nichts.“ Ein anderer Apostel des Herrn drückt dasselbe aus auf eine etwas andere Weise, indem er sagt „alle eure Sorge werfet auf ihn.“ Beides, m. g. Fr. ist Eins und dasselbige. Einer muß doch den Ausgang der menschlichen Dinge und der menschlichen Verhältnisse im Auge behalten und leiten. Können wir es nicht, so sollen wir auch nicht sorgen. Wenn wir aber nun glauben sollten, 38 1Petr 5,7

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daß dieser Ausgang ganz in den Händen der Menschen läge, und noch dazu nach dem Ausspruch des Apostels in den Händen derer, die dem Christenthum feindselig und zuwider sind: dann freilich wären wir übel daran. Aber weil das nicht ist, weil der Herr sich selbst vorbehalten | hat den Ausgang zu leiten, weil wir wissen, daß uns nichts geschehen kann ohne den weisen und gnädigen Willen Gottes, wie auch der Herr sagt, „kein Haar könne von unserem Haupte fallen ohne den Willen unseres himmlischen Vaters“: so muß uns dies beides gleichbedeutend sein, daß wir nicht sorgen, und daß wir alle unsere Sorge auf den Herrn werfen, das heißt, daß wir uns bei der Unentschiedenheit und unter dem mannigfaltigen Wechsel der menschlichen Dinge das recht fest vorhalten, daß weil wir uns nur für Kinder Gottes, für Diener des Höchsten, für Arbeiter in seinem Weinberge halten, und unser ganzes Dasein für uns nur Werth hat, sofern wir das wirklich sind, da wo wir selbst nicht sorgen sollen, weil wir nichts thun können zur Entscheidung der Sache, wir uns können darauf verlassen, daß er sorgen werde, und daß er das thun werde, was nicht etwa nur für uns – denn das ist ja etwas Geringfügiges – sondern für den Zustand der gemeinsamen Angelegenheiten der Menschen, für die Förderung des Reiches Gottes auf Erden, | für das, was wir weder durchschauen noch mit unseren Blicken erreichen können, weil es uns zu tief und zu fern liegt, kurz daß immer und überall nur das geschehen kann, was er nach dem allgemeinen Zusammenhang, in welchen die Dinge gestaltet und geordnet sind, für das Beste hält, daß nichts anderes geschehen werde als das, was das natürliche Ergebniß ist von allen früheren Leitungen Gottes und in einem unzerstörbaren Zusammenhange steht mit dem großen Weltplan, den er von Anfang an entworfen hat. Und das können wir um so zuversichtlicher, daß wir uns von dem ruhigen Übertragen aller unserer Sorgen auf Gott auch durch die Bedenklichkeit nicht abhalten lassen, als sei dieser Unterschied für ihn zu klein. Denn dieser Unterschied ist menschlich; denn wie vor ihm tausend Jahre sind wie ein Tag, und ein Tag wie tausend Jahre: so giebt es für ihn keinen Unterschied des Kleinen und des Großen. – Weil aber doch der Mensch sich selbst nicht ganz vergessen kann: so giebt uns der Apostel eine andere Regel, die hiemit unmittelbar | zusammenhängt, um uns das Nichtsorgen zu erleichtern: „sorget nicht, sondern in allen Dingen lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden.“ Das m. g. F., wäre nun nichts anderes als was ich eben gesagt habe. Denn wenn wir deswegen nicht sorgen sollen, weil unsere Sorge eitel ist, sondern sie auf den Herrn werfen und uns auf ihn verlassen in Beziehung auf den Ausgang: so ist das die Bitte und das Flehen, womit wir unsere Angelegenheiten vor Gott kund werden lassen. Aber es ist noch Eins in den Worten des Apostels, was wir nicht übersehen dürfen, und was erst seinen rechten 6–8 Vgl. Mt 10,29–31

9 Vgl. 1Petr 5,7

29–30 Vgl. 2Petr 3,8

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Nachdruck erhält, wenn wir voraussetzen, daß er dabei an die Leiden der Christen gedacht hat, indem er nämlich sagt, wir sollen alles im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kund werden lassen. Und das, m. g. Fr., ist eine herrliche und wirksame Vorschrift, sowohl um uns in dem Nichtsorgen zu stärken als auch um die Lindigkeit rege zu erhalten, die der Apostel vorher empfiehlt. | Wenn wir uns in Widerwärtigkeiten, die bedeutend sind, indem sie einen entscheidenden Einfluß auf unser Verhältniß haben, in unserem Leben verwickelt sehen, oder wenn dergleichen Trübsale uns bevor stehen: so sind wir geneigt über dem Gegenwärtigen das Vergangene zu vergessen, oder über dem Einzelnen, was uns trifft, das Ganze aus den Augen zu lassen, was unser Leben trägt und zusammenhält; und es ist gewöhnlich, daß ausgezeichnete Wohlthaten Gottes, die wirksam da sind, und die wir genießen, unsern Blicken verschwinden in solchen Zeiten bevorstehender großer Widerwärtigkeiten. Darum nun ermahnt der Apostel die Christen, sie sollen ihre Blicke nicht anders als mit Danksagung vor Gott kund werden lassen, das heißt, indem sie ihm den Ausgang des Gegenwärtigen empfehlen und anheimstellen, indem sie ihm im Gebet und Flehen ihre Angelegenheiten vortragen, so sollen sie das Gute, was noch übrig ist in der Gegenwart, nicht vergessen; alle ungestörte Thätigkeit, deren sie sich erfreuen, | alle Liebe, die sie ausüben können in ihren mannigfaltigen Verhältnissen, das sollen sie nicht vergessen, sondern Gott dafür mit aufrichtigem Herzen danken. Nichts aber m. g. Fr., stört so sehr die Freude des Christen an dem Herrn, als eben in diesen Leiden, die uns drückend sind, alles Übrige zu vergessen, was außerdem Erfreuliches in unserm Leben ist. Es ist aber eine Regel, die schon menschliche Weisheit giebt, daß wir uns in unserem Leben nie an das Einzelne halten sollen, was uns begegnet, sondern an das Ganze, weil das allein der rechte Genuß des Lebens sein kann. Aber es wird diese Regel eine christliche und fromme, indem alles, was wir sonst für gering halten, gerichtet wird auf Gott den Geber alles Guten, indem wir in keiner Lage das vergessen, was wir von seiner Hand empfangen haben, und alles auf den großen Beruf beziehen, zu dem er es uns gegeben hat, daß wir ihn dadurch verherrlichen, daß wir sein Reich auf Erden fördern und die Vollbringung seines Willens uns und andern erleichtern sollen. | O, m. g. Fr., wenn wir so überall statt zu sorgen alle unsere Angelegenheiten im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott bringen: so wird unser Herz gestärkt und aufgerichtet werden, und es wird die Freude an dem Herrn, wenn sie sich vielleicht verborgen hat hinter das drückende Gefühl der Leiden, wieder zum Vorschein kommen; und dann wird sich das von selbst ergeben, was der Apostel zuletzt hinzufügt „und der Friede Gottes, der höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu.“ Diese Worte, m. g. Fr., die kehren unmittelbar in 4 dem] den

8 verwickelt] entwickelt

41 Sinne] Sinnen

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die zurück, die unseren heutigen Textesworten vorangehen. Wenn unsere Herzen und Sinne in Christo Jesu bewahrt werden, unsere Sinne so, daß wir alles, was uns in der Welt vorkommt, betrachten in Beziehung auf das große Werk der Erlösung, die unser Herr gestiftet hat; unsere Herzen so, daß wir mit allen unseren Neigungen nur auf dasjenige gerichtet sind, was sich in diesem Reiche Christi offenbart; wenn unsere Herzen und Sinne so bewahrt werden in Christo Jesu: | das ist der Friede Gottes; und der Friede Gottes ist nichts anderes als das Werfen unserer Sorgen auf den Herrn, ist nichts anderes als dies, daß wir alles in Beziehung auf [Gott] in unser Gemüth aufnehmen, daß wir ihn überall walten lassen nach seinem heiligen Wohlgefallen, daß wir den Herrn ansehen als den, der alles macht und alles wohl macht; und in dem Gefühl, daß er uns seinen Sohn geschenkt hat, und mit ihm alles schenken wird, was wahrhaft gut ist, sobald wir es nicht für uns, sondern im Zusammenhange mit seinem Reiche betrachten, uns reich fühlen und wissen, daß weil er uns mit seinem Sohne alles geschenkt hat, und wir den sichersten Beweis seiner Liebe haben, die uns nie verloren gehen kann, uns nichts zu scheiden vermag von der Liebe zu dem, der unsere Herzen mächtig macht durch seinen Geist, der uns den Vater offenbart hat als der eingeborene Sohn, als das Ebenbild seines Wesens, als der Abglanz seiner Herrlichkeit. – So laßt uns denn unter allen Umständen in diesem Frieden Gottes bewahrt bleiben in Christo Jesu, daß nichts uns scheide von der Liebe, mit welcher er uns geliebt hat, in dem Bewußtsein, daß sie allein der würdige Gegenstand unseres Bestrebens ist. Amen.

12–13.15 Vgl. Röm 8,32

19–20 Vgl. Hebr 1,3

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Am 9. Februar 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 7,12–14 Nachschrift; SAr 103, S. 317–349; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 120r–120v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Estomihi 1823. |

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Tex t. Johannes VII, 12–14. Und es war ein großes Gemurmel von ihm unter dem Volk. Etliche sprachen, er ist fromm; die andern aber sprachen: nein, sondern er verführt das Volk. Niemand aber redete frei von ihm um der Furcht willen vor den Juden. Aber mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte. M. a. F., Wenn wir neulich mit einander geredet haben von dem verborgenen Leben des Erlösers, ehe er öffentlich als Lehrer und als Prediger des Reiches Gottes unter seinem Volke auftrat: so ist uns nun, weil die Zeit herannaht, in welcher wir des leidenden Erlösers besonders zu gedenken haben, noch übrig von seinem öffentlichen Leben zu reden. Wie wäre es aber möglich, dies in eine Betrachtung, wie die unsrigen sind, zusammenzudrängen? Darum haben wir einen großen Theil dessen, was der Erlöser in demselben gethan, wie er darin die ihm einwohnende Fülle der Gottheit bewährt hat und durch Lehre und | Handlungen für die Erlösung wirksam gewesen ist, schon in unserem Gesange ausgesprochen. Unser Text stellt uns das öffentliche Leben des Erlösers nur von einer gewissen Seite dar, nämlich wie er hindurchging durch gute und böse Gerüchte; die Einen sagten, er ist fromm, die andern aber, nein, sondern er verführt das Volk. Und dies ist in der That die ganze Darstellung seines Verhältnisses zu den Menschen, unter denen er lebte, während seines öffentlichen Lebens. Das ganze Evangelium Johannis, aus welchem diese Worte genommen sind, hat auf 13–14 zusammenzudrängen] zusammenzudrägen 8 Vgl. oben 26. Januar 1823 vorm.

15 Vgl. Kol 2,9

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eine in die Augen fallende Weise den Zweck, uns das zur Anschauung zu bringen, wie gleichgiltig die entgegengesetztesten Urtheile über den Erlöser von den Menschen gefällt wurden, und wie eben deswegen natürlicher Weise auch im Ganzen genommen die Stimmungen und Meinungen über ihn von einer Zeit zur andern wechselten, bald das größte Anerkennen, bald das schwächende Geringschätzen die Oberhand nahm. Der Erlöser nun, wie er ohne Sünde war und lebte, | und den ihm von Gott gegebenen Beruf auf die tadelloseste und vollkommenste Weise auch als Mensch erfüllte, befindet sich freilich in einem andern Verhältniß als wir, und es scheint, als ob es nicht so leicht wäre von dem, was ihm begegnet ist, eine Anwendung auf uns selbst zu machen. Allein, m. g. Fr., auch der Apostel Paulus sagt von sich und seinen Genossen, sie gingen durch gute Gerüchte und böse Gerüchte; und diese wenn sie gleich den Geist Gottes hatten, und sich seiner Einwirkung besonders in alledem erfreuten, was zu ihrem Beruf gehörte, so waren sie doch keinesweges ohne Sünde wie der Erlöser, vielleicht also doch durch mancherlei menschliche Schwachheiten nicht ohne Veranlassung wenigstens zu den bösen Gerüchten, durch welche sie gingen. Demohnerachtet waren sie schuldlos insofern, als die sie in ihrem Beruf lästernden Gerüchte falsch waren und der göttlichen Wahrheit entgegen. Dasselbe nun können wir von allen sagen, die auf irgend eine Weise jeder an dem Ort, an welchen ihn der Herr gestellt, und nach dem Maaße | der Gaben, die er ihm verliehen hat, in seinem Reiche und an der Fortdauer seines Werkes auf Erden arbeiten. Es wird immer unser Loos sein durch gute Gerüchte zu gehen und durch böse. Insofern nun, m. g. F., dies niemals ohne Verschuldung dessen ist, der unrichtige und nachtheilige Urtheile über Menschen fällt, insofern sie, da die Schuld nicht in dem Beurtheilten ist, dann in dem Beurtheilenden sein muß: so kann der Fall des Erlösers dazu dienen, daß wir uns hüten vor dem, was eben in den bösen Gerüchten, durch welche er ging, die Verschuldung war. Insofern es für uns alle einen Antheil an jenem allgemeinen Schicksal, welches von Anfang an alle Diener und Jünger des Herrn in der Welt getroffen hat, insofern es einen solchen Antheil daran für einen jeden unter uns giebt, und jeder unter uns auch durch gute und böse Gerüchte gehen muß, ohne daß diese Verschuldung seine Schuld sei: so werden wir von dem Erlöser lernen können, was uns in den ähnlichen Verhältnissen, in denen er war, obliegt. Aus diesem Gesichtspunkte laßt uns das betrachten, was | uns die Worte unseres Textes von dem Verhältniß des Erlösers zu den Menschen seiner Zeit sagen, indem wir zuerst darauf achten, woher denn die nachtheiligen und bösen Gerüchte über ihn kamen, und zweitens sehen, wie er sich selbst dabei betrug. Darauf 10 begegnet] begnet 11–13 Vgl. 2Kor 6,8

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laßt uns also jetzt gemeinschaftlich unsere christliche Aufmerksamkeit richten.

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I. Wenn von dem Erlöser, m. a. F. die Einen sagten, er sei fromm, die Andern aber, er verführe das Volk: so war er selbst an dieser Verschiedenheit der Meinungen über ihn unschuldig. Indem nun, was dabei Schuld ist, in andern Menschen liegen muß, so können wir nicht anders sagen als, es erschöpft sich alles dabei in dem, was uns unser Text sagt, die Schuld muß liegen entweder in denen, welche sagten, er sei fromm, oder in denen, welche sagten, er verführe das Volk, vielleicht zum Theil in den Einen, zum Theil in den Andern. Daß aber die Beschuldigung nicht so leicht aufhörte, und die Wahrheit an’s Licht kommen konnte, das kann vielleicht seinen Grund auch darin gehabt | haben, daß ebenfalls in unserem Texte gesagt wird, und es redete niemand frei davon aus Furcht vor den Juden. Laßt uns also dies nach einander erwägen, und uns daraus für unser eigenes Leben Belehrung nehmen. – Was nun das Erste betrifft, so scheint es, als ob die müßten schuldlos gewesen sein, die von ihm sagten, er sei fromm. Denn das war nichts anderes als die Wahrheit, nichts anderes als der natürliche und richtige Eindruck, den sein ganzes Wesen auf jeden machen mußte, wie ich denn vorher schon erwähnt habe, daß das Evangelium des Johannes, aus welchem unsere Textes Worte genommen sind, sich ganz eigens damit beschäftigt, uns dieses Verhältniß des Erlösers anschaulich zu machen. So müssen wir uns freilich auch nach andern Stellen in demselben umsehen, in welchen von denen geredet wird, die da sagten, der Erlöser sei fromm. Und sie sagten nicht nur dies allein, was auch von vielen andern Menschen gesagt werden kann, sondern sie sprachen auch, er sei ein Prophet; und darin hatten sie ebenfalls Recht, denn er war aller | Weissagung Erfüllung, derjenige, der selbst das Himmelreich gestiftet und gebracht hat. Ja einige sagten, er sei gewiß Christus; und diese hatten gewiß die höchste Wahrheit, wenn sie dieselbe auch nicht festhalten konnten, geahndet in den besten Augenblicken ihres Lebens. Aber wenn sie nun Rechenschaft geben sollten von diesem ihrem Glauben, wie finden wir dann nach dem Zeugniß des Johannes, daß sie sich dabei benahmen? Das einemal sagten sie: „ist es wohl möglich und hat man es wohl je gehört, daß ein sündiger Mensch einem Blinden die Augen geöffnet hat?“ und wollten dadurch beweisen, daß Jesus von Nazareth der Christ sei. Dann sagten sie wieder: „ließe es sich wohl denken, daß Christus, wenn er kommt, mehr Zeichen thun würde als dieser?“ und so suchten sie das Wahre des Urtheils, welches sie über das innerste Wesen und die Bestimmung des Erlösers bei sich selbst fällten, aus 26 Vgl. Joh 7,40 Joh 7,31

28–29 Vgl. Joh 7,41

33–35 Vgl. Joh 9,16.32

36–38 Vgl.

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etwas Äußerlichem zu beweisen. Allein es gab damals wie zu allen andern Zeiten, nur | mehr oder weniger, neben den wahrhaftigen Wundern, die der Erlöser durch seine Kraft verrichtete, auch falsche, von welchen uns die Geschichten des neuen Testaments ebenfalls erzählen. Auf welchen schlüpfrigen Boden hatten sie also ihre Überzeugung gestellt, und mit wie wenig hinreichenden Waffen konnten sie diese Überzeugung gegen andere vertheidigen, so daß man sagen kann, dadurch, daß sie ihren Glauben auf die Wunder des Herrn gründen wollten, gaben sie Veranlassung dazu, daß die Pharisäer sagten, er treibe die Teufel aus durch der Teufel Obersten. Ein andermal sagten sie wieder „ist das nicht der, den unsere Obersten tödten wollten, und nun geht er doch herum und redet frei vor ihren Augen; werden sie nun nicht bald merken, daß er wirklich Christus sei?“ So war es denn wieder etwas nicht zwar Äußerliches, sondern schon mehr Innerliches, aber was doch mit demjenigen, worauf es eigentlich ankam, in keinem unmittelbaren Zusammenhang stand, worauf sie ihre Überzeugung gründen und wodurch sie dieselbe | rechtfertigen wollten. Das war freilich ein Muth des Erlösers, daß auch, nachdem diejenigen, die ihm nach dem Leben trachteten, sich nicht nur unter sich selbst darüber verständigt hatten, sondern es auch bekannt gemacht, er dennoch sich nicht zurückzog in die Verborgenheit, sondern nach wie vor in dem öffentlichen Leben auftrat. Aber auch dieser muthige Glaube für sich selbst ist nicht der Beweis für das, was der Erlöser war. Sagt nicht der Apostel selbst „wenn ich Glauben hätte, so daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“? Er meint also doch, daß auch der Glaube, der Berge versetzen kann, der Muth, der keine Hindernisse scheut und sich durch nichts in der Welt einschüchtern läßt, doch sein kann in dem Menschen ohne das, was das Göttliche in seiner Seele ist. Und indem sie dadurch zugleich die Aufmerksamkeit rege machten, auf diesen Zustand, in welchem sich der Erlöser in Beziehung auf die Obersten seines Volks befand, auf diesen Gegensatz | zwischen beiden, auf die Nachstellungen, die ihm bereitet wurden, und auf den großen Unterschied zwischen seinem freien öffentlichen Hervortreten und zwischen dem heimlichen Treiben seiner Feinde: so war es natürlich, daß, indem nicht nur ihre eigene Überzeugung auf dem reinsten und innersten Grunde ruhte, sie dadurch, daß sie auf dieses Verhältniß des Erlösers so öffentlich hinwiesen, nur noch mehr diejenigen, die schon seine Widersacher waren, reizten, und dadurch die entgegengesetztesten und nachtheiligsten Gerüchte über ihn hervorlockten. – M. a. Fr. Laßt uns hiebei an ein 4 Geschichten] Geschichte 8–9 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15 24 Vgl. 1Kor 13,2

10–12 Vgl. Joh 7,25–26

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Wort des Erlösers denken, als er zu einer Anzahl von seinen Jüngern, die er ausgesandt hatte, um das Himmelreich zu verkündigen, nachdem sie zurückgekehrt waren und ihre Freude bezeugt hatten über alles dasjenige, was sie in seinem Namen verrichtet hatten, als er zu denen sagte: „freuet euch nicht darüber, daß euch die Geister unterthan sind, sondern darüber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ | Wie er nun zu diesen sagt, daß sie für sich selbst ihre Freude nicht haben sollten an dem, was in der Welt äußerlich wird, sondern an dem Geist, aus welchem sie es thäten, und daran, daß sie, so wie ihre Namen im Himmel angeschrieben sind, so auch Werkzeuge des Himmelreichs wären: eben so m. g. F. mögen wir dies auch anwenden auf unsere Achtung und Freude an andern Menschen. Was ist eigentlich an dem Menschen anders erfreulich als nur dasjenige, weshalb sein Name im Himmelreich angeschrieben ist, was anderes als wenn der Geist der Wahrheit und der Liebe in ihm Wohnung gemacht hat, und aus ihm redet und wirkt? Alles andere, was er Großes thun mag, alle Herrlichkeit seiner Thaten, alle Kraft seiner Worte – wie auch diejenigen, welche den Erlöser rühmten, von ihm zu sagen pflegten, kein Mensch hat noch so geredet – das ist es nicht, worüber wir uns freuen; das ist es nicht, worauf wir unsere Achtung und Bewunderung gründen sollen. | In dem Maaße als wir das thun verkehren wir selbst das richtige und reine Urtheil unter den Menschen, und rufen eben dadurch den Widerspruch und das Entgegengesetzte hervor. Hätten die, welche von dem hohen Werth des Erlösers durchdrungen waren, nach dem reinen Maaße, in welchem sie ihn schätzten, sich dabei begnügt nicht anderes zu sagen als: wahrlich das ist ein frommer Mensch, oder: freuet euch, es ist ein Prophet aufgestanden, oder: wir können nicht anders glauben, er ist Christus – so hätten sie der reinen Wahrheit die Ehre gegeben, und wären unschuldig gewesen an dem Wechsel von Gerüchten, durch welche der Erlöser ging und gehen mußte. Aber nun m. g. F., laßt uns auch auf diejenigen sehen, und deren Verschuldung betrachten, welche sagten: nein fromm ist er nicht, sondern er verführt das Volk. Wie grundlos nun dies war, darüber ist ja nicht Noth, daß wir auch nur Ein Wort verlieren sollten. Aber wenn wir uns fragen, wie kam es, daß seine Widersacher ihm grade diesen Vorwurf machten? so müssen wir doch einen Grund dazu finden. | Wenn nun der Erlöser mit dem Volke gar nichts zu thun gehabt hätte, so hätten sie nicht sagen können, er gehe darauf aus das Volk zu verführen. Es war also seine Wirkung auf das Volk und die Art und Weise derselben, in Beziehung worauf sie sagen konnten, er verführe das Volk. Und wir mögen uns darnach fragen, was war es denn, was sie zu einem so verkehrten Urtheil veranlassen konnte? Was that der Erlöser anders als daß er suchte in den Reden, die er an das Volk hielt, die durch mancherlei falsche Zusätze getrübte Reinheit des Bewußtseins von einem 1–6 Vgl. Lk 10,17.20

17–18 Vgl. Joh 7,46

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höchsten Wesen wiederherzustellen, die fast verloschene Schönheit des ursprünglichen und himmlischen Gesetzes in dem Herzen der Menschen wieder aufzufrischen durch seine Rede, und ihnen den Unterschied zu zeigen zwischen der göttlichen Wahrheit und den Zusätzen der Menschen: Wie er die leiblich Blinden sehend machte, so suchte er noch mehr den geistig Blinden die Augen zu öffnen. | Wie er die leiblich Lahmen gehend machte; so suchte er noch mehr die geistig unsichern und wankenden Schritte der Menge sicher zu leiten, und auf einen festen Grund zu bringen. Es war also nichts anderes als das göttliche reine unter allen Umständen nicht bloß tadellose, sondern lobenswürdige Bestreben die Menschen zur innern Vollkommenheit zu erheben, welches das Wesentliche war von der Wirkung des Erlösers auf das Volk. Wie konnten seine Feinde doch von ihm sagen, er verführe das Volk? Offenbar deshalb, weil sie den Glauben nicht haben konnten, das Volk wäre fähig, die Einsichten, die der Erlöser demselben mittheilte, die Gefühle, die er in demselben zu erregen suchte, die Entschließungen, wozu er sie beseelte, fest zu halten und zum Guten zu gebrauchen. Und dazu gehört denn auch wohl allerdings dies, daß ihr eigenes Ansehen unter dem Volke vorzüglich auf diesen unvollkommenen Zustand desselben gegründet war, und daß, wie sie jenes festhalten wollten, sie eben deshalb glaubten, | auch dieser müsse immer so bleiben, wie er bis dahin gewesen war. Das Allgemeine also, m. g. F., was wir hieraus nehmen können, dürfte offenbar dieses sein – und es wird sich unter allen Verhältnissen des Lebens bewähren – der welcher glaubt seinen Beruf, sein Dasein und die Art desselben gründen zu müssen auf die Fortdauer der menschlichen Unvollkommenheit, die eben besteht, der wird immer in Gefahr sein, unrichtig über diejenigen zu urtheilen und auch böse Gerüchte über sie zu veranlassen, welche nach einer allmäligen Vollkommenheit der menschlichen Dinge auf dem leichtesten und besonnensten Wege streben. Allerdings wir wollen das nicht leugnen, daß es die größte Thorheit ist, wenn man irgend eine menschliche Unvollkommenheit, auf welchem Gebiete sie auch liege, glaubt auf einmal in die reine Vollkommenheit verwandeln zu können, und eben daher auch glaubt, alles wagen zu müssen, was zu einem so großen Sprunge gehört. | Von dieser Art war auch der Erlöser ferner als irgend ein Mensch; aber eben deshalb ging er auf den innersten Grund der menschlichen Unvollkommenheiten und suchte diesen aufzuheben, deshalb zeigte er den Menschen das Eine, was Noth thut und das Innerste und Höchste ist von allem, daß sie sich müßten wenden zu Gott durch ihn, der ihnen allein den Vater offenbaren könne, und von diesem innersten Grunde aus wollte er, nicht auf einmal, nicht durch plötzliche Umwandlung, sondern auf dem Wege der langsamen aber immer sichern Verbesserung von innen heraus, auf dem so unvollkommenen Grunde der menschlichen Natur ein 2 dem] Kj den

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Reich Gottes bauen. Es ist aber nicht anders möglich, als daß auch diesem reinen Bestreben, dieser lautern Wahrheit diejenigen immer müssen entgegen sein, die durchaus das Fortbestehen menschlicher Unvollkommenheit, sei es welcher es wolle, zu ihrem Zwecke machen. Das, m. g. F., das ist also das Erste, wovon wir uns reinigen müssen, wenn wir | nicht wollen Schuld haben an den bösen Gerüchten, die über die Unschuldigen kommen. Es gehört aber nichts Geringeres dazu, m. g. Fr., als daß auch das Herz des Menschen gereinigt sei vor Gott. Denn so lange wir noch etwas anderes suchen als das Göttliche und Ewige, so wird jeder andere Zweck auf irgend eine Weise mit den Mängeln und Unvollkommenheiten unter den Menschen zusammenhangen, und wir werden diese als Mittel zu jenem gebrauchen, und es wird uns dann schwer sein darein zu willigen, daß uns das Mittel verloren gehe; und so werden wir in denselben Gegensatz fallen, in welchem sich die Feinde des Erlösers befanden. – Ein zweiter Grund, aus welchem sie sagten, er verführe das Volk, ist der, den uns Johannes kurz nach den Worten unseres Textes mittheilt. Er sagt, als nun Jesus mitten in dem Fest in den Tempel gekommen sei, und daselbst gelehrt habe, hätten die Juden gesagt „wie kann dieser die Schrift, so er sie doch nicht gelernt hat?“ Es gab nämlich damals Schulen der Schriftgelehrten, in welchen die nicht mehr so ganz lebendige Urschrift der heiligen Bücher des alten Bundes mitgetheilt und aufrecht er|halten wurde, und dazu die Auslegungen der Väter, der frühern und spätern Lehrer, über die Schrift hinzugefügt; und aus diesen Schulen gingen größtentheils diejenigen hervor, die wieder in den Schulen über die Schriften redeten. So hat der Erlöser die Schrift nicht gelernt, in diesen Schulen ist er nicht gewesen, wie wir aus dieser Äußerung seiner Feinde wissen. Und deshalb, weil er die Schrift nicht nach ihrer Weise gelernt hatte, weil seine Erklärungen derselben so oft denen widersprachen, die in ihren Schulen fortgepflanzt wurden von einem Geschlecht zum andern: so glaubten sie nicht anders als seine Lehre könne dem Volke nur gefährlich sein. Nun ist es freilich eine löbliche Sache, daß es für jede Kenntniß und Geschicklichkeit, die einen Werth hat, auch Anstalten giebt, um dieselbe zu erhalten und fortzupflanzen; und es ist nicht zu leugnen, daß wenn die Kräfte derer, die einer Sache Meister sind, sich vereinigen, und das Wahre daran in’s Licht setzen und über Andere zu verbreiten suchen, daß dadurch ein Fortschritt unter den Menschen entsteht. Und so hatten jene Schulen der Schrift|gelehrten gewiß einen großen Nutzen, um in Zeiten der Dunkelheit eine genauere Kenntniß des göttliches Wortes zu erhalten, und dasselbe in seinem Ansehen zu schützen. Aber je wichtiger etwas ist für das wahre Heil der Menschen, desto nothwendiger ist neben diesen Anstalten überall auch das freie Walten des Geistes. Denn gar zu leicht geschieht es, daß, wie es damals auch der Fall war, in eben solchen Anstalten die Gewöhnung an das Alte die Oberhand gewinnt, indem der Buch18–19 Joh 7,15

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stabe sich immer mehr ausbildet, und der Geist immer mehr verloren geht. Und wenn dann die allmächtige Liebe des Herrn den Geist nicht wieder erweckt anderswo, um den verstorbenen Buchstaben aufs neue zu beleben und dem todten Treiben entgegen zu treten: so wird das nur mehr zur Zerstörung gereichen, was ursprünglich zum Erhalten bestimmt war. Daher werden wir eben so gewiß wie jenes auch dieses sagen, daß alle, welche meinen, daß die Einsicht und die Erfahrung und der Fortschritt im Guten gebunden sei an einen menschlichen Buchstaben und an eine bestimmte menschliche | Art und Weise sich diese Einsichten und Fertigkeiten zu erwerben, die werden sich eben so als Widersacher zeigen, wenn der Herr nun zu demselben Zweck, die menschlichen Dinge zu höherer Vollkommenheit zu bringen, die freie Thätigkeit des Geistes erweckt. In demselben Falle befand sich damals der Erlöser, und wir finden ihn eben da, wo das Verderben Überhand genommen hat. Da ist dann das freie Walten des Geistes nothwendig, da ist es nothwendig, daß der Herr selbst eine höhere Kraft erwecke und ein neues Licht anzünde; und diejenigen, die dann noch festhalten wollen das Erstorbene, das woraus der Geist entflohen ist, und es für dasjenige halten, wovon alles Gute ausgehen muß, die werden gewiß den wahren und lebendigen Werkzeugen Gottes entgegen streben. Darum, m. g. Fr., laßt uns alles, was das Werk menschlicher Einsicht und einer löblichen Vereinigung menschlicher Kräfte ist, laßt uns doch in Ehren halten und treu bewahren; etwas Gutes wird immer aus demselben hervorgehen. Aber laßt uns niemals glauben, daß das irgendwie das | Ausschließende sein könne, sondern an das Wort des Herrn denken: „der Geist wehet, woher er will und wohin er will.“ Der Herr hat es sich vorbehalten aus der Finsterniß das Licht aufgehen zu lassen, und das ist nicht gebunden an irgend einen Ort, von welchem es ausgehen sollte; der Herr hat es sich vorbehalten, wenn die Menschen in einen Zustand versunken sind, aus welchem er sie retten will, mit seiner Hilfe den Anfang zu machen, wo er will, und seine Weisheit ist es, die das bestimmt. Verschließen wir nun unser Auge, so geht es uns wie denen, von welchen der Erlöser sagt, daß sie blinde Leiter der Blinden sind. Das Auge müssen wir offen behalten für alles Gute, was der Herr in seinem Reiche wirkt, die Liebe zur Wahrheit muß uns treiben das Beste zu erringen, daß wir nicht für das Vollkommene halten dasjenige, was das Werk der Zeit ist. Aber die, welche das Gute und Wahre suchen und nur dieses lieben, wird er bewahren, daß sie nie in einen solchen verderblichen Irrthum fallen. – Aber es ist noch Eins, was wir aus diesen und andern | Worten der Gegner des Erlösers nehmen können. Wenn sie sagten „wie weiß denn dieser die Schrift, so er sie doch nicht gelernt hat“: so konnten 9 diese] dieser

20 laßt] laß

24–25 Vgl. Joh 3,8

31 welchen] welcher

31–32 Vgl. Mt 15,14

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sie sich leicht, wenn sie ihm nur zuhörten, davon überzeugen, wie wahr das sei, was er sagte „meine Lehre ist nicht mein, sondern deß, der mich gesandt hat.“ Wenn sie sagten, er treibe die Teufel aus durch der Teufel Obersten: so werden wir wohl alle einig darin sein, sie hätten das nicht sagen können, wenn sie den Erlöser beobachtet hätten in seiner einfachen anspruchslosen Weise, wie er alle diese Wunder verrichtete. Aber so war es: urtheilen mochten sie über ihn und ihm entgegentreten mit der Gewalt ihres Ansehens; aber Mühe gaben sie sich nicht ihn kennen zu lernen; und die, welche so nachtheilig über ihn urtheilten, waren solche, die nie zu seinen Schülern gehört hatten. Wohl dann und wann schickten die Pharisäer Jünger an ihn, um ihn über dies und jenes zu fragen, oder sie legten ihm selbst spitze Fragen vor, um ihn zu fangen; wären sie aber fähig | gewesen in seine Schule zu gehen und von ihm zu lernen, hätten sie die Gewalt über sich gehabt und zu sich selbst gesagt, es muß doch wohl etwas Großes und Ausgezeichnetes an dem sein, dem die ganze Menge des Volks beifällt, und nach dem ein solches Gefrage ist bei jeder Gelegenheit unter dem Volk: dann wären auch sie von der Macht der Wahrheit, wenn auch nicht ergriffen, doch zum Schweigen gebracht worden. Aber gefährlicher ist nichts, m. g. Fr., und eine größere Verschuldung kann sich der Mensch nicht aufladen, als wenn er nachtheilige Urtheile über seinen Nebenmenschen, sei es nun bei sich selbst unterhält, oder sei es, wenn er sie gehört hat, weiter verbreitet, ohne daß sie aus seiner eigenen Überzeugung hervorgehen, und diese Überzeugung aus dem rechten Grunde entstanden ist, nämlich aus einer richtigen Erkenntniß und aus einem von Liebe zur Wahrheit geleiteten Gemüth. Was wir, wenn wir dies verab|säumen, für nachtheilige und traurige Wirkungen hervorbringen, das läßt sich bei der schnellen Entwicklung der menschlichen Dinge, bei der Leichtigkeit, mit welcher solche Gerüchte von Mund zu Mund gehen, und bei dem wichtigen Einfluß, den solche Urtheile auf die Verhältnisse derer haben, welche sie treffen, nicht berechnen. Auf der andern Seite können wir nicht leugnen, es wäre leichter gewesen, daß die Wahrheit an’s Licht gekommen wäre, wenn das nicht Statt gefunden hätte, was Johannes in unserem Texte sagt „es redete niemand frei von ihm aus Furcht vor den Juden.“ Was die Menge unter sich sagte, war ein Zeugniß ihrer Gefühle und Meinungen; aber es konnte nicht dazu beitragen die Wahrheit an’s Licht zu bringen. Das können nur einzelne Stimmen, die den Beruf dazu haben, und denen es auch an Fähigkeit dazu nicht fehlt. Wenn die nur aufgetreten wären um Zeugniß von dem Herrn abzulegen; wenn die nur frei geredet hätten: so hätten sie den Gegnern des Erlösers vielleicht den Mund gestopft und dazu beigetragen, die verkehrten Urtheile über ihn aus dem Wege zu räumen. Am natürlichsten ist es wohl, wenn bei solchem | Widerstreit der Meinungen die meisten Menschen den2–3 Joh 7,16

3–4 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15

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ken, es sei am besten, sich weder auf die eine noch auf die andere Seite zu neigen, sondern sich gleichgiltig gegen beide zu verhalten; aber eine Verschuldung ist es gegen die Wahrheit, der doch der Mensch mit allen Kräften und Thätigkeiten seines Geistes und mit seinem ganzen Beruf verpflichtet ist.

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II. Doch m. g. F., laßt uns nun noch zweitens sehen, wie der Erlöser sich in diesem Wechsel nachtheiliger Gerüchte befand. Es ist nur weniges, nur ein Einziges, was die Worte unseres Textes in dieser Hinsicht sagen „und mitten im Fest ging Jesus hinauf in den Tempel und lehrte.“ Es ist aber nicht mehr und nicht weniger als dies, daß er sich durch alle die nachtheiligen Gerüchte, die über ihn gefällt wurden, durch alle die Folgen, die daraus hervorgingen, durch alle die Unruhen, die aus diesem Streit entgegengesetzter Meinungen entstehen konnten, nicht stören und in seiner Berufsthätigkeit hemmen ließ; sondern wie es zu seinem Berufe gehörte an den hohen Festen seines Volkes in der Hauptstadt des Landes, wo | eine große Menge von Menschen versammelt war, zu erscheinen, damit viele könnten das Wort der Wahrheit aus seinem Munde hören: so ließ er sich, wiewohl er die nachtheiligen Urtheile über sich selbst kannte, doch nicht abhalten, hinzugehen. Nur laßt uns nicht glauben, daß er gleichgiltig gewesen sei gegen die Urtheile der Menschen, und daß diese Gleichgiltigkeit überhaupt etwas Gutes sei. Wie sollte sie das? Die Wahrheit ist das höchste Gut des Menschen, und der Irrthum ist, er betreffe was er wolle, nie etwas Gutes. Jede Verkehrtheit und Unwahrscheinlichkeit soll jedes menschliche Gemüth betrüben, und nach dem Maaße ihrer Wichtigkeit uns antreiben, sie aufzuheben. Wer behauptet gleichgiltig zu sein gegen die Urtheile der Menschen, der behauptet etwas von sich, was nicht löblich ist; denn er behauptet, daß er gleichgiltig ist gegen den Gemüthszustand seiner Brüder, und zugleich, daß er gleichgiltig ist gegen die Verhältnisse, in denen er selbst gegen sie steht, und auf deren richtiger Gestaltung allein eine gesegnete Thätigkeit ruhen kann. Denn wie viel leichtere Arbeit ist es doch für uns, wenn die Menschen gemeinsam mit | uns die Wahrheit suchen wollen in Liebe, als wenn sie durch mancherlei Vorurtheile von uns entfernt ihres eigenen Weges gehen und uns widerstreben. Gleichgiltig war also auch der Erlöser nicht, und davon finden wir das Zeugniß in vielen Reden, wo er sich über dieses unruhige Hin- und Herschwanken seiner Zeitgenossen ausläßt; denn das würde er nicht gethan haben, wenn es ihm gleichgiltig gewesen wäre. Aber wenn uns jene falschen Urtheile über uns auch schmerzen mögen: so müssen wir doch sagen, wer sich dadurch in seinem Handeln stören läßt und den freien Blick des Geistes über seine Verhältnisse verliert, der ist eben 7 laßt] laß

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das geworden, was unser Erlöser von Johannes rühmt, daß er nicht sei ein Rohr, welches der Wind hin und her bewegt. Wollen wir uns die Meinungen und Urtheile der Menschen über uns irre machen lassen: so werden wir heute diesen, morgen einen andern Weg gehen, und das richtige Maaß für unser Leben haben wir dann verloren. So that der Erlöser | nicht; sondern obwohl er das Alles wußte, so fuhr er doch fort in seiner Berufsthätigkeit in dem öffentlichen Leben; in nichts machte er einen Unterschied, sondern es blieb alles wie vorher; und in seiner Berufsthätigkeit lag ja alles das, worauf sich die nachtheiligen Gerüchte über ihn bezogen, ja es lag vieles darin, wodurch sie immer wieder aufs neue mußten erregt werden. Denn es gehörte zu dem Beruf des Erlösers nicht nur die Wahrheit zu lehren, sondern sie auch dem Irrthum und der Lüge entgegen zu stellen, und so mußte er immer wieder zurückkommen auf den Gegensatz zwischen sich und seiner Lehre, und zwischen den verkehrten Bestrebungen derer, von denen die meisten sagten, er verführe das Volk. Als er nun auf das Fest kam, hat er nicht aufgehört, diese Lehrer zu nennen die blinden Leiter der Blinden, ihnen den harten und strengen Vorwurf zu machen, daß sie die Schlüssel des Himmelreichs hätten, aber niemanden hineinließen, hat er nicht aufgehört das Wehe | über sie auszurufen wegen des Gegensatzes, den er bei ihnen bemerkte, daß sie die Kleinigkeiten lobten und einen Werth darauf legten, dasjenige aber, was das Wesentlichste und Wichtigste sei, vernachlässigten. Und das, m. g. F., ist die einzige Pflicht, die uns allen obliegt, durch die noch so entgegengesetzten und unrichtigen Meinungen der Menschen nicht nachzulassen in unserem Handeln. Jeder Knecht steht und fällt seinem Herrn, und hat keine Entschuldigung, wenn er etwas in seinem Berufe unterläßt oder seinem Gewissen untreu wird, und wollte sich dann auf andere berufen. Jeder von uns hat Anweisung auf das, was ihm zu thun obliegt, durch das ihm gebietende Gesetz des Gewissens, durch die Mahnung seines eigenen Willens, durch die Stimme des göttlichen Wortes; und wehe dem, der davon weichen wollte um deswillen, was die Menschen über ihn urtheilen. Und wenn es denn auch nicht bloß Urtheile waren, wenn auch mit den nachthei|ligen Urtheilen über den Erlöser Anschläge verbunden waren, die seine Leiden und seinen Tod herbeiführten: so blieb er doch unter diesen allen eben so ruhig und ließ sich nicht irre machen an der Erfüllung seines Berufs. Ich muß wirken, spricht er, so lange es Tag ist, ehe die Nacht kommt, wo niemand wirken kann. Das bunte Gemisch entgegengesetzter Urtheile der Menschen soll uns nicht irre machen und unsere Gemüthsruhe nicht stören; dabei kann es in uns und um uns her der Tag sein, den der Erlöser gebracht hat, und den wir benutzen sollen, ehe die Nacht kommt, wo wir nicht wirken können. So, m. g. F., so hat der Erlöser sein öffentliches Leben durch alle die Stürme, die ihn bedrohten, 1–2 Vgl. Mt 11,7; Lk 7,24

15–22 Vgl. Mt 23,13–33

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von Anfang an geführt, und wie er mit seinem Vater Eins war, so auch auf nichts anderes bedacht als den Willen seines Vaters zu erfüllen, und ihn zu verklären vor der Welt; so hat er seinen Beruf erfüllt unter den ungünstigsten Umständen, wozu ganz vorzüglich auch diese | nachtheiligen Urtheile der Menschen über ihn gehören. Und weil sein ganzes Reich, so lange der Kampf zwischen Licht und Finsterniß, zwischen dem Guten und Bösen besteht, denselben Gang gehen muß: so ist er uns allen auch darin ein heiliges Vorbild, dem wir alle nachstreben sollen. Wie zurückgezogen auch der Beruf der meisten unter uns ist: doch hat jeder in der Gemeinschaft des Herrn sein öffentliches Leben und seinen Wirkungskreis durch die Äußerung seiner Meinungen und durch mancherlei Einfluß auf diejenigen, unter denen er lebt; und jeder wird auf diese Weise das Loos des Erlösers theilen. Möge dann nur jeder diesem unserem gemeinsamen Vorbilde folgen: dann wird immer die Wahrheit gefunden werden und der Weg zum Himmelreich; dann werden wir, indem wir überall das Uns’rige thun um es den Menschen aufzuschließen, die Güter desselben nicht nur selbst genießen, sondern sie | auch Andern anschaulich machen und das bewähren, daß es keinen andern Namen giebt, in welchem die Menschen selig werden können, als der Name Jesu Christi, und keinen andern Weg, auf dem sie können zur Gemeinschaft mit Gott gelangen, als der, auf welchem er uns selbst vorangegangen ist. Amen.

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[Liederblatt vom 9. Februar 1823:] Am Sonntage Estomihi 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Herr Christ der ein’ge etc. [1.] Herr Jesu Gnadensonne, / Wahrhaftes Lebenslicht, / Gieb Leben Licht und Wonne / Dem blöden Angesicht. / Nur du kannst mich erfreuen, / Und meinen Geist erneuen, / O Herr! versag mir’s nicht. // [2.] Vergieb mir meine Sünden, / Demüthig bitt’ ich dich, / Laß Trost bei dir mich finden, / Und hilf mir gnädiglich; / Laß deine Friedensgaben / Die bange Seele laben, / Mein Jesu, höre mich. // [3.] Vertreib aus meiner Seele / Den ird’schen eitlen Sinn, / Daß ich nur dich erwähle / Zum seligen Gewinn; / Dir will ich mich ergeben, / Und dir zur Ehre leben, / So lang ich hier noch bin. // [4.] Befördre dein Erkenntniß, / In mir mein Seelenhort, / Und öffne mein Verständniß / Durch 2 bedacht] gedacht 17–19 Vgl. Apg 4,12

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dein heilsames Wort, / Damit ich an dich gläube, / In deiner Wahrheit bleibe, / Und wachse fort und fort. // Nach dem Gebet. – Mel. Schmücke dich etc. [1.] O der wundervollen Triebe, / Nie erhörter Menschenliebe, / Die sich Heiland in dir regten, / Dich zu unserm Heil bewegten, / Daß in Knechtsgestalt du kamest, / Menschlich Wesen an dich nahmest, / Um durch Leiden und durch Sterben / Uns das Leben zu erwerben. // [2.] Ueber deine Feinde weinen, / Jedermann mit Hilf’ erscheinen, / Dich in aller Noth der Armen / Mehr als väterlich erbarmen, / Der Betrübten Klagen hören, / Dich in Andrer Dienst verzehren, / Das war Heiland deine Liebe; / O der nie erhörten Triebe. // [3.] Ja du Zuflucht der Elenden, / Wer hat nicht von deinen Händen, / Ist er flehend zu dir kommen, / Segen, Hülf’ und Heil genommen! / O wie ist dein Herz gebrochen, / Wenn dich Kranke angesprochen; / O wie pflegtest du zu eilen / Deine Gaben mitzutheilen! // [4.] Tiefbetrübte mild erquicken, / Zu den Niedrigen dich bücken, / Unverständige belehren, / Irrgeleitete bekehren, / Sünder die sich selbst verstocken, / Liebevoll zum Heile locken: / Solchem göttlichen Geschäfte / Weihtest, Herr, du deine Kräfte. // [5.] Deine Huld hat dich getrieben, / Sanftmuth und Geduld zu üben, / Ohne Schelten, Drohn und Klagen / Unsre Schmach und Last zu tragen. / Allen freundlich zu begegnen, / Die dich lästerten zu segnen, / Für der Feinde Schaar zu beten / Und die Mörder zu vertreten. // [6.] Demuth war bei Spott und Hohne, / Deiner Liebe Schmuck und Krone, / Diese machte dich zum Knechte, / Einem sündigen Geschlechte. / Laß, o Herr, zu reichem Segen / Solchen Wandel mich erwägen, / Daß ich schon auf dieser Erde / Deinem Bilde ähnlich werde. // (Rambach.) Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. O Jesu wäre doch mein Leben / Dem Deinen gleich! wär ich wie du / Den Brüdern ganz in Lieb’ ergeben, / So sanft, so mitleidsvoll wie du. / O stärk in mir die holden Triebe. / Der Bruder- und der Menschenliebe, / Und präge deinen Sinn mir ein! / So ziert mein Wandel deine Lehre, / Und mein ist Herr die hohe Ehre, / Dein Freund, ein wahrer Christ zu sein. //

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Am 9. Februar 1823 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Estomihi, 14 Uhr Sophienkirche zu Berlin 1Kor 13,1–13 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 103, S. 350–373; Andrae Keine Keine Vermutl. Vakanzpredigt

Nachmittagspredigt am Sonntage Estomihi 1823, gesprochen in der Sophienkirche, am neunten Hornungs. (Lied. 821; 198). |

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M. a. F. Wenn wir irgend jemanden sehen im Besitz einer großen Fülle von Gütern, deren er sich von Herzen erfreut: so liegt uns die Frage so nahe – und wie oft wird sie auch nicht in einem solchen Falle gehört – welches ihm wohl von allen das tiefste sei? Eigentlich ist darauf auch schon in den gewöhnlichen irdischen Dingen keine rechte Antwort möglich; denn wir können das nicht gegen einander abwägen; und darum ist auch jeder, je mehr er sich dessen erfreut, was er hat, und jedes Einzelne in seinem eigenthümlichen Sinne und Geiste gebraucht, um desto mehr in Verlegenheit, wenn er jene Frage beantworten soll. Der wahre Sinn derselben aber ist eigentlich immer der, welches unter allen dasjenige sei, was für ihn gleichsam in der Mitte steht, und worauf er alles andere bezieht, so daß es ihm nur in seiner Verbindung mit diesem und in seiner Beziehung auf dieses seinen rechten Werth hat. Nun, m. g. F., der Mensch, den wir sehen in der | rechten Fülle aller Güter, dieser ist der wahre Christ; und wenn wir ihn fragen, was ihm denn unter allen das Liebste ist in dem Sinne, in welchem wir diese Frage gestellt haben, was wird er antworten? Wir hören den Apostel Paulus sehr oft in seinen Briefen alle Güter des Christen zurückführen auf den Glauben, als auf den Grund der Gerechtigkeit und des göttlichen Wohlgefallens, als auf das, woher dem Menschen erst der Geist Gottes 0 Der erste Prediger der Sophienkirche, Johann Gottfried Rudolf Agricola (geb. 1762 in Neu-Zittau), war am 3. Januar 1823 verstorben; vgl. EPMB 2, S. 4 4 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 821: „Wenn einer alle Kunst“ (Melodie von „O Gott du frommer Gott“); Nr. 198: „Laß mich dein seyn und bleiben“ (Melodie von „Herzlich thut mich verlangen“)

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kommt, aus dessen Fülle dann alle die herrlichen Güter hervorgehen, die das Besitzthum des Christen ausmachen. Und so auch der Verfasser des Briefes an die Hebräer hält dem Glauben eine große Lobrede, daß alle Menschen Gottes zu allen Zeiten aus der Kraft des Glaubens hervorgegangen sind. In unserer heutigen Epistel, die wir mit einander werden zu betrachten haben in dieser Stunde unserer gemeinsamen Andacht, führt der Apostel alles auf die Liebe zurück, ohne die alles andere nichts wäre, aus der alles andere hervorgeht, und die das vollkommenste ist unter allen geistigen Gütern. | Beides aber, m. g. F., dürfen wir nicht von einander trennen, und der Schlüssel dazu liegt in den großen Worten des Apostels: „der Glaube ist durch die Liebe thätig“. Der Glaube ist nichts, sondern todt, wenn er nicht thätig ist durch die Liebe; und das ist nicht Liebe, sondern nur ein leerer Schein derselben; was nicht aus dem Glauben kommt. Darum m. g. F., unbeschadet des Glaubens und seines hohen Werthes wenden wir uns jetzt dahin, wohin unsere heutige Sonntagsepistel uns weiset, und beziehen alles auf die Liebe. Dies wollen wir denn thun, wenn wir vorher noch werden gesungen haben das hundert und acht und neunzigste Lied. 1. Korinther XIII Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht: so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könnte, und wüßte alle Erkenntnisse und alle Geheimnisse, und hätte allen Glauben, also daß ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht: so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den | Armen gäbe, und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht: so wäre mir es nichts nütze. Die Liebe ist langmüthig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Muthwillen, sie bläht sich nicht, sie stellt sich nicht ungeberdig, sie sucht nicht das Ihrige, sie läßt sich nicht erbittern, sie trachtet nicht nach Schaden, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit, sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles; die Liebe hört nimmer auf, so doch die Weissagungen aufhören werden, und die Sprachen aufhören werden und das Erkenntniß aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser Weissagen ist Stückwerk; wenn aber kommen wird das Vollkommne, so wird das Stückwerk aufhören. Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind, und war klug wie ein Kind, und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein Mann ward, that ich ab, was kindisch war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunklen Wort; dann aber von Angesicht | zu Angesicht. Jetzt erkenne ich es stückweise; dann aber werde ich es erkennen, gleichwie 2–5 Vgl. Hebr 11,1–40

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ich erkannt bin. Nun aber bleibt Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen. Indem der Apostel, m. a. F., uns davon überzeugen will, daß die Liebe das Größte ist unter allen den bleibenden und ewigen Gütern des Christen: so stellt er uns in dem ersten Theil unserer Epistel, bei dem wir vorzüglich stehen bleiben wollen, den Gegensatz dar zwischen dem Leben ohne die Liebe und dem Leben in der Liebe; und eben diesen Gegensatz, wie ihn der Apostel vorträgt, wollen wir jetzt näher mit einander erwägen.

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I. Der Apostel also sagt zuerst, was das Leben des Menschen ohne die Liebe ist, und er setzt dafür wesentlich und vorzüglich Folgendes. Zuerst, m. g. F., wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht: so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Das ist nichts Gerin|ges, was der Apostel dem Leben ohne die Liebe zugesteht; er gesteht zu, ein Mensch ohne die Liebe könnte reden mit Menschen- und Engelzungen. Das ist eine herrliche und große Gabe; denn wodurch richtet der Mensch wohl mehr aus als durch die Kraft der Rede? Aber, sagt er, wenn der Mensch auch diese in der größten Vollkommenheit besäße, er hätte aber dabei der Liebe nicht: so wäre alle Kraft und Anmuth, alle Schönheit und Vollkommenheit der Rede nichts anderes als ein Schellengeklingel und der Ton eines angeschlagenen Erzes. Aus dem Letztern wüßten wir uns nichts zu machen, wenn wir nicht im voraus schon davon eine Bedeutung hätten; jenes zieht einen Augenblick unsere sinnliche Aufmerksamkeit auf sich, wenn wir es vernehmen, aber es giebt uns nichts zu denken, es bewegt unser Herz nicht. Wie das Schellengeklingel sich verhält gegen die lebendige Rede des Menschen, das will der Apostel sagen, oder gegen den beweglichen Ton, der immer tausendfältig abgeändert aus der menschlichen | Brust aufsteigt: so verhält sich das Reden des Menschen ohne Liebe, wenn es auch die größte Vollkommenheit hätte, zu dem unvollkommensten Lallen der Liebe. Jenes wir können es in vieler Hinsicht bewundern, Kunst- und Gesetzmäßigkeit darin anschauen, Gewandtheit und Ordnung der menschlichen Seele und der menschlichen Gedanken darin finden; aber von einer Rede ohne Liebe kann nie unser Herz bewegt und erwärmt werden; sie giebt uns nichts zu verstehen, sondern verhallt wieder, wie sie zu unseren Ohren gekommen ist, und nichts bleibt davon zurück. – Aber noch mehr – der Apostel sagt auch, der Mensch ohne Liebe könnte weissagen und alle Geheimnisse und alle Erkenntnisse wissen, ja er könnte allen Glauben haben, so daß er im Stande wäre Berge zu versetzen; aber fehlte dabei die Liebe, so wäre er doch nichts. Gewiß verkennen wir es alle nicht, m. g. F., wie wesentlich das zur Bestimmung des | Menschen gehört, daß er vernehme die göttlichen Geheimnisse. Alle Bereicherung unseres Geistes, nach

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welcher wir trachten, jeder nach seinem Maaße, ist ein solches Eindringen in die göttlichen Geheimnisse, wie sie in der Natur, wie sie in dem Leben und in der Geschichte der Menschen sich uns offenbaren. Und was wäre der Mensch ohne Erkenntniß? Das sind große und herrliche Gaben; die der Apostel auch dem Menschen ohne Liebe beilegt. Ja sagt er derselbe könne auch weissagen, und vielleicht wohl in manchen Dingen noch besser als der, dessen ganzes Herz von Liebe bewegt ist. Denn kann sich der Mensch kalt halten oder gleichgiltig: so vermag er in vielen Fällen am besten zu betrachten und zu beurtheilen, was um ihn her vorgeht, und daraus Schlüsse zu machen für die Zukunft. Ja noch mehr, der Apostel sagt, er könnte auch Glauben haben | also daß er Berge versetzte. Nun das wissen wir wohl, wenn der Apostel dem, welchem es an Liebe fehlt, diesen zugesteht, so meint er nicht den Glauben, der durch die Liebe thätig ist, sondern das Vertrauen, den Muth, den jemand beweisen kann in Beziehung auf dasjenige, was ihm wichtig scheint, woran er seine Kräfte und sein Leben setzen will. Und in diesem Sinne sagt er, es ließe sich denken, daß einer Glauben hätte, der Berge versetzen könnte, einen Muth, der kein Hinderniß scheut, ein Vertrauen das durch nichts eingeschüchtert wird, eine Beharrlichkeit in seinen Entschließungen, die alles aus dem Wege zu räumen und allem zu widerstehen weiß – aber sagt er, hätte ich dabei der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Der Geist, der in die Tiefen der Geheimnisse der Welt und des menschlichen Lebens und wenn es sein kann auch des göttlichen Wesens eingedrungen | ist; der Mensch, dem die Welt so klar vor Augen liegt, daß er zu weissagen vermag, der in sich selbst so fest gegründet und unerschütterlich ist, daß eher die Berge weichen müssen als daß er von seinem Platze weicht, wenn er der Liebe nicht hat: so wäre er nichts. Das, m. g. F., das ist ein großes Wort und aller Überlegung werth, um uns den rechten Maaßstab zu geben für das, was menschliche Gaben oder vielmehr göttliche Gaben im Menschen sind. Wenn der Mensch alle Erkenntniß hat, er hat aber der Liebe nicht, wofür hat er sie? Sie zu verschließen in seine eigene Brust, andern so viel davon mitzutheilen als ihm selbst für sein einzelnes Dasein wieder nützlich werden kann – das ist es alles, worauf er sich beschränken müßte. Aber in der Welt, in welche uns Gott gesetzt hat, in der geistigen Welt, ist alles so in einander verwebt und so zusammenhängend, so eng verbunden, daß | das in der That nichts ist, was für sich allein da sein will. Denken wir uns das, wir könnten umgeben und lehrbegierig schauen einen solchen, der alle Geheimnisse wüßte und alle Erkenntniß besäße, aber es fehlte ihm an der Liebe: so könnten wir das nicht aus ihm hervorlocken, was den Durst unserer Seele befriedigen kann; bald würden wir uns von ihm abgestoßen fühlen, und er würde nichts sein in unserer Gemeinschaft. Wer aber nichts ist in der Gemeinschaft der Menschen, der 8 gleichgiltig:] gleichgiltig;

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ist es auch in der That. Und wozu soll wohl dem Menschen helfen jene Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Willens, die der Apostel ausdrückt, indem er sagt: „und wenn ich auch Glauben hätte, so daß ich Berge versetzen könnte“, wenn er kein würdiges Ziel für seine Thätigkeit hat? Wo ist aber ein solches; wenn es dem Menschen an der Liebe fehlt? Er ist dann mit allem, was ihn eben beschäftigt, auf sich selbst beschränkt; und das wäre so wenig werth Berge darum zu versetzen, daß es nicht einmal der Mühe lohnen würde, auch nur das kleinste Sandkorn aus | seiner Stelle zu rücken um eines Menschen willen, der da sein wollte für sich allein. Zuletzt nun sagt der Apostel noch, was uns wohl am meisten in Verwunderung setzen muß „und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib brennen, hätte aber der Liebe nicht: so wäre es mir nichts nütze.“ Wie? ist es möglich, daß der Mensch kann alle seine Habe den Armen geben, und doch keine Liebe haben? Leider, m. g. F. haben wir das oft genug erlebt und selbst in der Geschichte der christlichen Kirche erlebt. Wenn der Mensch, von irgend einem verderblichen Wahn geleitet, meint, um desto mehr zu gewinnen in den Augen Gottes, wenn er sich aller äußern und irdischen Gaben Gottes entäußert: wohlan, dann kommt es ihm nur darauf an, seine Habe von sich zu werfen, und sich getrennt von allem in irgend eine wüste Einöde zurückzuziehen. Wirft er sie nun von sich, | was kann er besser damit thun als sie den Armen geben, und er thut es dann in diesem Falle, ohne daß die Liebe es ist, die ihn dazu treibt. Wenn wir nun das jetzt nicht sehen, so sehen wir doch leider oft genug eine Wohltätigkeit, die nur in der Eitelkeit gegründet ist, eine Wohlthätigkeit, die nur um jene Beschwerden eine größere abkaufen will. Das alles ist ein Geben den Armen ohne Liebe. Aber seinen Leib brennen lassen, sich allen Qualen aussetzen, die am meisten die Gegner der Wahrheit den Dienern und Verkündigern derselben haben zuzufügen gesucht, und besonders in feindseligen Zeiten – das ist etwas, wovon man glauben sollte, dazu könnte den Menschen nur die Liebe treiben. Allein auch dies ist leider häufig ohne sie. Es giebt eine Hartnäckigkeit des Menschen für seine Meinungen und Lehren, dasjenige zu behaupten und zu verkündigen, was ihm selbst wahr ist, nicht um Andere damit zu erfüllen und zu beglücken, den seligen Einfluß davon auszubreiten, | sondern um sich selbst darzustellen als denjenigen, der einen entscheidenden Einfluß auf die Gemüther anderer Menschen ausübt, oder als einen solchen, auf den kein Anderer einen solchen Einfluß ausüben kann. Und so kann der Mensch lediglich um seiner selbst willen seinen Leib brennen, sich alles abfordern, ja das Leben nehmen lassen, aus einer Hartnäckigkeit, die eine herrliche Tugend wäre, wenn sie aus der Liebe entspränge; ohne sie ist aber dem Menschen auch dies nichts nütze. Als ein Verdienst denken wir es immer, wenn der Mensch sein Leben aufopfert dem Bekenntniß der Wahrheit, und dasselbige hingiebt, weil er das Seinige 26 den] der

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nicht dazu thun will, daß das, was allen Menschen heilsam ist, ihnen vorenthalten werde; als ein Verdienst sehen wir es immer an, wenn der Mensch sich des alleinigen Besitzes seiner irdischen Habe entäußert, und sie in einem gewissen Sinne ansieht als ein gemeinsames Gut | nicht für sich selbst bestimmt, sondern sie zu vertheilen sucht unter die Bedürftigen: aber es ist nur ein Verdienst, wenn es aus einem Herzen voll Liebe kommt, sonst ist es dem Menschen nichts nütze. – Wenn nun mit diesen Reichthümern ausgestattet, wenn mit Kunst und Vollkommenheit der menschlichen Rede, wenn mit Tiefe und Fülle der Erkenntniß, wenn mit der größten Festigkeit des Willens und mit einem unerschütterlichen Muth ausgerüstet, wenn einem Leben solche Werke Zeugniß geben, zu denen eine große Selbstverleugnung und Aufopferung gehört, und es doch nichts ist ohne Liebe: ja, m. g. F., dann folgt schon von selbst, daß diese das größte sei von allen. Und ich glaube, es bedarf dies keiner Erörterung mehr, sondern wenn wir uns denken, was in einer solchen Fülle von aufopfernden Tugenden, was in der Kunst mit allen Gaben des Geistes umzugehen und damit wirksam zu sein, was in der Fülle der Erkenntniß Großes, Gutes und Herrliches | liegt, immer haben wir die Liebe mitgedacht; ziehen wir sie heraus, so stirbt alles unter unsern Händen, und wie der Apostel sagt, der Mensch ist nichts nütze, und alles was er hat und ist, ist ihm auch nichts nütze. II. Hierauf schildert uns der Apostel zweitens das Leben in der Liebe und durch die Liebe. Aber wie thut er dies, m. g. F.? So wie er vorher sagte, wenn der Mensch ohne Liebe ist [und dennoch] alle jene geistigen Gaben hat, so ist er nichts: so zeigt er uns hier, wie die Liebe an sich wirkt, ohne daß er eine von jenen geistigen Gaben hat. Denn in alle demjenigen, was er im Folgenden sagt, ist nichts von dem enthalten, wozu nöthig wäre, daß der Mensch mit Menschen- und mit Engelzungen redet, daß er weissagt und in die Tiefen der Erkenntniß eingedrungen ist, und daß er durch seinen Glauben Berge versetzt; sondern es ist nur das einfache Wirken der Liebe an sich selbst, ohne alle weitere Ausstattung des Geistes. | Fragen wir nun, was er von derselben sagt, so sehen wir, es sind größtentheils solche Äußerungen derselben hervorgehoben, wodurch der menschlichen Schwachheit zu Hilfe gekommen wird. Und das klingt freilich, als ob uns der Apostel hätte zu Gunsten der Liebe hätte bestechen wollen; denn der menschlichen Schwachheit sind wir uns alle bewußt. Wenn wir wissen, es ist einer langmüthig und freundlich, wenn wir uns selbst übereilt haben; es eifert einer nicht, wenn wir nicht alles so vollkommen und gut gethan haben, wie wir sollten; es treibt einer nicht Muthwillen, wenn wir ihm Blößen gezeigt haben; es bläht sich einer nicht auf, wenn er einen Sieg über unsere Schwachheit davon getragen hat; es sucht einer nicht das Seine, wenn wir bedürfen, daß 25 er nichts:] es nichts:

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uns jemand zu Hilfe komme; es läßt sich einer nicht erbittern, wenn uns die Leidenschaft fortgerissen hat; es trachtet einer nicht nach Schaden, wenn wir selbst nicht im Stande sind uns zu beschützen – wenn wir das wissen: wie | wohl thut uns das! und wie sind wir gleich bereit zu sagen: das ist die wohlwollende Kraft, die so lindernd wirkt! Aber, m. g. F. hätte der Apostel uns damit nur bestechen wollen? Ist es nicht die lauterste Wahrheit? Das Gefühl der menschlichen Schwachheit, worauf wir immer zurückkommen, was zeigt es uns anders als daß Christus unser beständiges Selbstbewußtsein ist? Denn wenn wir nicht schwach wären, wozu bedürften wir eines Erlösers und Erretters? Ja wenn wir an ihm genug hätten, wozu bedürften wir der Gemeinschaft mit den Menschen? Er selbst ist gekommen um der menschlichen Schwachheit willen, er hat alles eingerichtet für die menschliche Schwachheit. Und so ist diese Liebe das Größte, weil sie unermüdet der menschlichen Schwachheit zu Hilfe kommt, weil sie die göttliche alles Leben erhaltende Kraft ist, in welcher sich und durch welche sich in dem Erlöser die Fülle der Gottheit offenbart hat. Was der Apostel hier an der Liebe | rühmt in der Stelle, die ich jetzt in ihrer natürlichen Anwendung wiederholt habe, das kommt alles darauf zurück, was im Evangelio auf den Erlöser angewendet wird und von ihm gesagt, er sei gekommen das glimmende Docht nicht zu löschen und das geknickte Rohr nicht zu zerbrechen, sondern alles, was im Begriff war zu ersterben, wieder zum völligen Besitz des Lebens zu bringen. Das ist das Wesen der Liebe, welches der Apostel hier beschreibt, und darum ist sie das größte von allen Gütern, und darum kann der Glaube, der Glaube an den Erlöser der Welt, nicht anders thätig sein als durch die Liebe. Darum wenn es einen Erlöser giebt, so müssen die Menschen seiner bedurft haben; wenn der Glaube an ihn nichts anderes ist als in seiner Gemeinschaft leben: so müssen wir eben so der geistigen Blöße der Menschen zu Hilfe kommen; und das Bestreben dies unmittelbar zu thun ist Liebe. Nur Eine Einwendung könnte gegen diese Lobrede des Apostels ge|macht werden aus seinen eigenen Worten. Er sagt, aus diesem Bewußtsein der menschlichen Schwachheit heraus ist alles Stückwerk, so wie auch alle Weissagung und alle Erkenntniß, welche er dargestellt hat als ein herrliches Gut in dem Menschen, ohne die Liebe Stückwerk ist. Aber sagt er, einst wird das Stückwerk aufhören und das Vollkommene erscheinen; und dennoch wird die Liebe ewig bleiben und größer sein als der Glaube und die Hoffnung. Wenn nun aber das Stückwerk aufhört und das Unvollkommene, so muß auch die menschliche Schwachheit aufhören, welcher eben die Liebe zu Hilfe kommt. Laßt uns, um diesem zu begegnen, noch eins von den Worten des Apostels betrachten. Er sagt, indem er von 6 bestechen] bestehen 19–20 Vgl. Mt 12,20 (Zitat aus Jes 42,3)

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der Liebe redet, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freut sich aber der Wahrheit. Wenn das Stückwerk wird aufhören und das Vollkommene erscheinen: dann, sagt der Apostel, werden wir erkennen nicht mehr durch einen | Spiegel in einem dunkeln Wort, sondern von Angesicht zu Angesicht, dann werden wir erkennen, wie wir erkannt sind; und auch dann meint er wird die Liebe das größte sein unter den geistigen Gütern. Ja eben deswegen wird sie das größte bleiben, weil sie sich der Wahrheit freut. Ist die menschliche Schwachheit dadurch überwunden, daß man ihr zu Hilfe kommt durch die Kraft der Liebe: in demselben Maaße als sie überwunden ist besteht dann die Liebe darin, die innere Wahrheit des Menschen zur Anschauung zu bringen und hervorzulocken in die Erscheinung. Die innere Wahrheit des Menschen aber ist der göttliche Funke, der in ihm liegt, der erstickt war durch die Sünde, der wieder zum Leben gekommen ist durch den Erlöser, aber der hier schwankt zwischen Glimmen und Auflodern und zwischen Erlöschen. Freut sich die Liebe der Wahrheit, so freut sie sich darin alles Guten und Göttlichen, was in dem Menschen verborgen ist, und durch | ihre milde Kraft, wie die Sonne durch ihren Schein alles Leben hervorlockt, an’s Licht kommen soll. Und darum ist sie es allein, durch welche das Stückwerk übergehen kann in das Vollkommene. Denn, m. g. F., wenn auch die menschliche Schwachheit, insofern sie Sünde ist, ganz überwunden würde, so wären wir doch immer die nie genügsamen Wesen, die sich aus ihrer eignen Kraft entwickeln würden. Denn sonst hätte der Apostel nicht gesagt, daß der Glaube, die Liebe und die Hoffnung bleiben werden, die Hoffnung, deren Wesen darin besteht, immer etwas Beßeres zu suchen und mit nichts anderem zufrieden zu sein als mit der reinen Fülle der Erkenntniß und der Wahrheit. Und so wird es immer die Liebe sein, deren wir bedürfen, die das Verlangen nach allem Guten und Schönen aus uns hervorlockt; so wird es immer die Liebe sein, die sich freut, wenn der Geist Gottes sich in den Menschen offenbart; die Liebe, die dies pflegt und zu einer gottgefälligen Erscheinung zu bringen sucht; und so wird sie, wie hier in der Welt der Schwachheit, auch dort in der Welt der Vollkommenheit | das Größte sein, sie die wir schauen in dem Erlöser, der nie aufhören wird sich thätig zu beweisen an denen, die ihm angehören; sie die das einige Band der Vollkommenheit sein wird und alle Menschen vereinigen zu Einem Ganzen, zu dem Leibe Christi, der von seinem Haupt im Himmel regiert wird, dessen, dessen sich die Engel erfreuen, und in welchem sich die Herrlichkeit Gottes am schönsten offenbart. So ist denn dies, m. g. F., das Eine wonach wir trachten mögen, und unsern Glauben, der unser schönstes Kleinod ist, immer darnach abmessen, ob er in der Liebe thätig ist. Haben wir sie, so haben wir alles. Ist ihr unser ganzes Leben geweiht, o so werden sich auch alle Früchte des Geistes in demselben entfalten. Haben wir diese; so genü33–34 Vgl. Kol 3,14

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gen wir dem Gebot des Erlösers, der gesagt hat: „daran wird jedermann erkennen, daß ihr meine Jünger seid, so ihr euch unter einander liebet, wie ich euch geliebt habe.“ Amen.

1–3 Vgl. Joh 13,34–35

Am 16. Februar 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Invocavit, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,8–9 Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 770–780, Andrae (Fragment der Vorlage in SAr 103, S. 374.395–396; Andrae) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 120v–121v; Gemberg Besonderheiten: Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (Einleitung, Punkt II.3.H.) Liederangabe (nur in SAr 103)

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Tex t. Phil. 4, 8 und 9. Weiter, lieben Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohllautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach; welches ihr auch gelernet und empfangen und gehöret und gesehen habt an mir, das thut – so wird der Herr des Friedens mit euch sein. M. a. F. Die Ermahnungen des Apostels, welche diese Worte enthalten, sind so allgemein, daß wenn wir sie in ihrem ganzen Umfang betrachten wollen, wir auch nicht einmal bei dem stehen bleiben dürfen, was darin bestimmt ausgesprochen ist, wie denn auch der Apostel selbst, indem er hinzusezt „ist irgend eine Tugend, ist irgend ein Lob, dem denket nach,“ zu erkennen giebt, daß er alles vorher angeführte Einzelne auch nur beispielsweise gesagt habe. Wenn wir uns nun gleich an das Lezte halten, als eben diese Allgemeinheit aussprechend, so müssen wir es als seine Forderung anerkennen, daß in der Christenheit jeder Tugend und jedem Lobe soll – wie er freilich hier sagt – nachgedacht werden; aber darüber ist nicht nöthig etwas hinzuzufügen, daß es unter uns Christen kein bloßes Denken geben soll über das, was Gott gefällig ist, welches nicht auch in unser Thun übergeht; denn das ist das Wesen des Glaubens, daß die innige Ueber|zeugung auch lebendig sei in der That. Wenn wir aber gegen diese Forderung die mensch0 SAr 103, S. 374: „Lied: 786, 1–12; 804, 3 und 4“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, „Erneure mich, o ew’ges Licht“ (Melodie von „O Jesu Christ mein’s Lebens Licht“); „O Jesu! meiner Seelen Leben“ (Melodie von „Dir, dir Jehovah! will ich singen“)

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liche Schwachheit halten: so ist es eben so natürlich zu fragen, ob der Apostel dies auch in vollem Ernste gemeint habe, und es stellt sich uns ein natürlicher Ausweg dar, indem wir sagen, er habe es gewußt, daß nicht jeder Christ alle Tugenden an sich habe, aber indem er an eine Gemeinde schrieb, habe er sagen wollen, in einer Gemeinde, die in einem kleinen Maaßstabe den ganzen Leib Christi darstellt, da müsse jede Tugend und jedes Lob zu finden sein, unter den Einzelnen aber einzeln, wie er auch anderwärts sagt: „es ist Ein Geist, aber es sind mancherlei Gaben, und der Geist giebt einem jeden, wie und was er will.“ Aber wir werden wol, wenn wir es näher erwägen, sagen müssen, daß dies nichts Wahrhaftes wäre, wenn nämlich, wie auch der Apostel hinzusezt, alles Nachdenken über jede Tugend und jedes Löbliche da wäre. Denn wenn es uns genug ist, daß der Einzelne nur soll Einzelnes ausüben und einzelne Tugenden darstellen in seinem Leben, so werden wir dasselbe sagen müssen von jeder Gemeinde; sie ist auch ein Theil des Ganzen, des großen göttlichen Reiches, welches den Leib des Herrn bildet, und es ist schon der Erfahrung nach nicht möglich, aber auch unser eigenes Nachdenken lehrt es, daß in einer einzelnen Gemeinde alle Tugenden und Vortrefflichkeiten sollten vorhanden sein; und diese Entschuldigung daher, welche dem Einzelnen zu Gute kommt, müßte auch einer einzelnen Gemeinde zu Gute kommen, und an eine solche hat der Apostel doch geschrieben. Und dasselbe werden wir sehen in Beziehung auf das zweite Wort des Apostels. Zwar sagt der Apostel „es ist Ein Geist,“ und zeigt uns, daß wenn nicht jeder alles haben könne, damit gesagt werde, daß jeder unentbehrlich sei. Aber dort redet er von solchen Gaben, die, wenn sie fehlen, nur ein Unvermögen in dem Menschen voraussezen; wenn aber irgend etwas von dem, was der Apostel hier eine Tugend oder etwas Löbliches nennt, in dem Menschen fehlt, so ist kein bloßes Unvermögen in ihm, | sondern eine überwiegende Gewalt des Fleisches über den Geist, eine solche, die ihn fortreißt von einer Verkehrtheit zu der andern. Den Unterschied dürfen wir in dieser Beziehung nicht übersehen zwischen den ungleichen Gaben des Geistes – denn wenn uns daran etwas fehlt, so können wir uns darüber trösten, weil wir wissen, daß die Fülle der geistigen Gaben im Ganzen beständig wirkt – und zwischen demjenigen, was zur christlichen Tüchtigkeit und Gottseligkeit gehört; denn da soll jeder, wie der Apostel sagt, jeder Tugend und jedem Lobe nachdenken. Aber freilich so viel ist wahr an dem Gedanken, den ich eben auseinander gesezt habe, daß alles Trachten nach jeder Tugend und nach jedem Lobe, wie ernsthaft es auch sei und von Gott gesegnet, doch dahin nicht führen wird, daß einer von jedem Tadel frei und über alles Unwürdige erhaben sein könnte, so lange er auf Erden lebt. Denn 8–9.23 Vgl. 1Kor 12,4.11

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das ist der Unterschied zwischen dem Erlöser und den Erlösten, der nothwendig bestehen muß, so lange wir in diesem unvollkommenen Zustande weilen. Aber dies soll uns um so weniger abschrekken, jeder Tugend und jedem Lobe nachzutrachten, daß wir uns nur desto mehr beeifern müssen – weil wir wissen, wir werden das Ziel, welches uns vorgestekkt ist, nie ganz erreichen – demselben immer näher zu kommen, nie aufhörend, so weit es unsere Kräfte gestatten, mit Hülfe des Geistes, ohne den wir es nicht können und auch nicht wollen mögen, alle Gewalt des Fleisches in uns immer mehr zu dämpfen, und alles, was die Gewalt des Geistes in uns beurkundet, so weit auszubilden, als es in den Verhältnissen unsers gegenwärtigen Lebens möglich ist. Und nachdem wir dies festgestellt haben, so laßt uns näher in den Inhalt der Worte des Apostels eingehen. Es giebt viele solche Stellen der heiligen Schrift, wo zusammengefaßt den Christen alles Gute vor Augen gestellt wird, und eben so freundliche und väterliche Ermahnungen an die Christen; aber jede hat ihr Eigenes – und das ist auch mit der unsrigen der Fall. Es | besteht aber dies vorzüglich in einem Stükk, was jedem bei aufmerksamer Betrachtung sogleich in die Augen fällt. Wenn nämlich der Apostel sagt „weiter, lieben Brüder, was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was lieblich, was wohllautet:“ so fragen wir uns sehr natürlich, wie kommt es denn, daß er das Wahrhaftige hier so zuerst nennt und gleichsam an die Spize stellt? und was sollen wir uns unter dem Wahrhaftigen an und für sich genommen denken? Diese beiden Fragen m. g. F., beantworten sich zu gleicher Zeit. Nämlich es giebt in allem, was der Apostel hernach nennt, in dem Ehrbaren, in dem Gerechten, in dem Keuschen, in dem Lieblichen und Wohllautenden, ein Wahres und ein Falsches, und eben deswegen sezt er hier das Wahrhaftige an die Spize, damit den Christen, wenn sie die folgenden Ermahnungen hörten, dadurch gleich der Unterschied zwischen dem Wahren und Falschen einfallen sollte, der uns im menschlichen Leben so häufig vorkommt, und damit sie sich selbst darauf prüfen möchten, ob es ihnen auch überall um das Wahrhaftige zu thun sei. Das laßt uns mit Wenigem an den Beispielen, die der Apostel hier anführt, erläutern, um den Sinn seiner Worte recht zu fassen. Zuerst also, was ehrbar ist. Wir werden nicht leugnen, daß es in dieser Beziehung gar viele falsche Bestrebungen auch unter den Christen giebt, und daß dem Wahrhaftigen hiebei ein zwiefaches Falsches gegenüber steht. Das Ehrbare nämlich beruht auf menschlicher Sitte; allein diese ist nur eine rechte und gottgefällige, wenn sie auf eine natürliche Weise aus dem innersten Grunde aller Rechtschaffenheit und Gottseligkeit hervorgeht, und dieser innerste Grund, wenn wir darnach fragen, ist kein anderer, als die Liebe. Nun giebt es aber ein zwiefaches Ehrbares, welches mit derselben in Streit geräth und falsch ist.

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Auf der einen Seite sehen wir oft, daß Viele das Ehrbare eben nur in etwas Aeußeres sezen, darin für sich selbst die größte Pünktlichkeit und Aengstlichkeit fodern und dieselbe auch | von Andern fodern. Aber eben dieses äußerlich Ehrbare, näher betrachtet, besteht blos in angelernten, angewöhnten äußern Bezeugungen, die mit dem Innern der Sitte nichts zu schaffen haben und eben so auch ganz anders sein könnten, als sie sind. Wer darauf den größten Werth legt und deshalb das Ehrbare des Menschen als etwas Aeußeres hochschäzt, von dem müssen wir sagen entweder, daß er nicht ernstlich nachgedacht hat darüber, was Tugend eigentlich sei, oder daß er innerlich nicht wahr ist, sondern sich selbst täuscht und sich und Andere mit dem Aeußern abfinden will, weil es leichter ist, als das Innere. Das besteht aber auch nicht mit der Liebe und kann nicht aus ihr hervorgehen, wenn wir darin unsere Tugend suchen, dadurch das Lob Anderer zu gewinnen streben. Denn dadurch wirken wir nichts; aber die Liebe soll uns treiben zum Wirken für das Wohl der Menschen, für das Wohl des Ganzen, für das Wohl des Leibes Christi, so lange der Tag scheint, an welchem uns vergönnt ist zu wirken. Sich aber blos an den Schein halten, ist keine Wirksamkeit sondern etwas Gemeines und Nichtiges. – Auf der andern Seite ist die menschliche Sitte hervorgehend aus menschlichen Verhältnissen und diese sind sehr verschieden, und daher finden wir natürlich, daß unter verschiedenen Völkern zu verschiedenen Zeiten in den verschiedenen Abtheilungen der menschlichen Gesellschaft auch eine verschiedene Sitte herrscht. Allein wenn wir nun sehen und hören, was unter christlichen Völkern wol nicht gesehen und gehört werden sollte, daß Manche glauben und es auch öffentlich sagen, das Ehrbare einer gewissen Klasse der menschlichen Gesellschaft bestehe darin, daß sie sich etwas erlaube und unter sich für Recht erkläre, was alle Anderen als etwas Verwerfliches, die Ruhe und den Frieden der menschlichen Gesellschaft Störendes ansehen, nur weil dadurch eine scheinbare äußere Ehre aufrecht erhalten werde: so können wir nicht sagen, daß dies etwas wahrhaft Ehrbares sei. Und wenn dies durch falsche Gründe unterstüzt wird und gesagt, so müsse | sich die Tugend zeigen und nur so könne man wahres Lob gewinnen: so müssen wir sagen, es kommt daher, weil die, welche so reden, die Wahrheit nicht suchen in Liebe. Die Wahrheit, wenn sie dieselbe redlich suchten und es aufrichtig damit meinten, würde ihnen zeigen das Verhältniß jedes Theiles der menschlichen Gesellschaft zu dem Ganzen; sie würde ihnen zeigen, daß auf die Weise, wie sie es meinen, kein einzelner Theil bestehen kann, sondern daß dadurch die Ruhe und der Friede des Ganzen in einer beständigen Unsicherheit schweben muß. Aber ein solches Werk, was eine solche Frucht hat, ist kein wahrhaftiges gewesen, und daher kommt keine Tugend und kein Lob dabei zu Stande, sondern etwas, wie wir es leider nicht selten sehen, was nur diejenigen, die sich in einem solchen Falle befinden, für ein Lob halten, alle Anderen aber verabscheuen.

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Und wie ist es mit dem Gerechten? Da geht es eben so, daß dem Wahren ein zwiefach falscher Schein gegenübersteht. Denn es giebt auf der einen Seite solche, die das Gerechte suchen in der Beobachtung aller äußern Formen, und wenn sie in ihren Verhältnissen mit den Menschen nichts gethan haben, was gegen die angenommenen äußern Regeln streitet, so glauben sie, das Rechte gethan zu haben, wenn sie auch nicht nach der Regel gehandelt haben, zu suchen nicht, was das Ihrige, sondern was Gottes ist; denn dies kann allein der Grund alles Wahren und Gerechten sein. Und eben so giebt es auf der andern Seite solche, welche meinen, das Gerechte sei zu beurtheilen nach dem, was eben unmittelbar besteht, und das sei und bleibe gerecht, wenn auch die Verhältnisse, unter denen es für gerecht erklärt worden ist, sich geändert haben, und derselbe Grund der Gerechtigkeit etwas Anderes vorhält. Das Eine eben so wenig, als das Andere, kann wahr sein; es gilt von beiden Fällen vorzüglich, daß es denen, welche sich in dem einen oder dem andern befinden, an dem richtigen Nachdenken über das, was Tugend und Lob in der menschlichen Gesellschaft sein kann, fehlt, und | daher wird die hinzukommende richtige Betrachtung einen jeden, der das Wahrhaftige ernstlich will, auf den Weg der wahren Gerechtigkeit führen. Aber beide Arten dieser falschen Gerechtigkeit hören wir oft mit Gründen vertheidigen, welche zeigen, daß es an Nachdenken nicht gefehlt hat; aber das Nachdenken ist dann nicht geleitet gewesen von der Wahrheit. Was kann also dabei zum Grunde liegen, wenn die Christen sich bei einer solchen Gerechtigkeit beruhigen, als dies, daß sie ihr eigenes Gewissen betäuben wollen und sich mit dem leeren Schein begnügen, da ihnen doch geziemt, über das Wahre nachzudenken; daß sie einen Vorwand suchen für dasjenige, was doch nur ein eigennüziges Bestreben ist, und dabei den äußern Schein der Gerechtigkeit, so daß er ihnen selbst in die Augen leuchtet, hochachten. Ja wo wir so etwas sehen, da fehlt dies, daß an die Spize aller menschlichen Bestrebungen nicht die Wahrheit gestellt ist, diese aber, weil es nur Ein Gutes giebt, die Liebe, sucht in Allem, je nachdem es für gut erkannt werden darf, die Liebe auf. Wo sie eine beschränkte Liebe findet, die sich entweder auf uns selbst erstrekkt oder auf diejenigen, die mit uns in gleichen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft stehen, da findet sie ein beschränktes Gute, und wenn dadurch der Zusammenhang mit dem Ganzen gestört wird, so ist es nicht ein Gutes – weil das Gute diesen Zusammenhang mit der menschlichen Gesellschaft immer nur fördern kann – sondern gereicht uns zum Verderben. Eben so ist es mit dem Keuschen. Unter diesem Worte haben wir zu verstehen die Reinheit der Seele in alle dem, was sich auf die Bedürfnisse und Genüsse der sinnlichen Natur bezieht, und da giebt es neben der wahren reinen Keuschheit eine falsche, das heißt eine solche auf der einen Seite, die der sinnlichen Lust Vorschub giebt, auf der andern Seite eine solche,

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die einen falschen Werth legt auf die Ertödtung dessen, was Gott der menschlichen Natur in ihrem Wesentlichen angeschaffen hat, und was, | richtig gebraucht, den wesentlichen Endzwekk Gottes auf Erden mit den Menschen fördern hilft. Das Eine wie das Andere ist falsch und der Wahrheit nicht gemäß. Denn diese muß uns, was das Erste betrifft, immer das ganze Wesen der menschlichen Natur vorhalten, und wenn wir etwas von dem Ganzen abgesondert denken, so müssen wir es, insofern es dies sein kann, für gut erklären und nicht ertödten, damit wir nicht dadurch den Zusammenhang der menschlichen Natur aufheben. Auf der andern Seite wird uns die Wahrheit zeigen, daß die Leidenschaften des Gemüthes nicht in etwas blos Aeußerlichem bestehen können, und daß wir sie nicht beherrschen mögen, wenn wir sie in solche dürftige Regeln bringen. Daher steht die wahrhaftige Keuschheit in Allem, was das Leben in sich schließt, in der Mitte, und lehrt uns da einen schlichten tadellosen Gebrauch alles dessen, was Gott dem Menschen gegeben hat, damit er es mit der Kraft des Geistes beherrsche. Ist es möglich m. g. F., daß unter Christen der richtige Sinn hierüber fehlen kann, wenn ihnen nur etwa nicht fehlt das richtige Nachdenken, welches der Apostel empfiehlt, die Treue gegen die Wahrheit? Und so ist es auch m. g. F. mit dem Lezten, was der Apostel als einzelnes Beispiel anführt „was lieblich ist und wohllautet.“ Denn auch da finden wir auf der einen Seite unwürdige Schmeichelei, die dasjenige sucht, was dem verderbten Gefühl des Menschen wohllautet und seine sinnliche Lust auf flüchtige Augenblikke befriedigt, und eben so auf der andern Seite Lieblosigkeit, Mangel an Mitgefühl mit Andern, die sich damit begnügt, gewisse äußere Formen zu beobachten, so daß Andere nicht sagen können, sie hätte die Geseze des Lieblichen und Wohllautenden im Leben verlezt, ohne daß ein Bestreben da gewesen ist, diese Geseze zur Anschauung zu bringen. – So von dem Wichtigsten und Innerlichsten – denn wenn wir in der Schrift von dem Gerechten reden hören, so ist alles mögliche Gute darunter begriffen – bis zu demjenigen, was das Aeußerlichste zu | sein scheint, in dem Erhabensten und Niedrigsten, überall, wenn wir auf dem Wege wandeln wollen, der zum Ziele führt und zur Ehre und zur Verherrlichung Christi gereicht, müssen wir der Wahrheit nachstreben. Aber noch etwas muß ich zulezt hinzufügen über die lezten Worte des Apostels, wo er sagt „welches ihr auch gelernet und empfangen und gehört und gesehen habt an mir, das thut: so wird der Herr des Friedens mit euch sein.“ Hier m. g. F. stellt der Apostel sich selbst zum Beispiel dar, und das freilich müssen wir auf der einen Seite rühmen und anerkennen, denn es ist gewiß, daß Lehre und Beispiel einander immer gegenseitig unterstüzen müssen; wenn sie einander widerstreiten, ja dann kann keins von beiden gesegnet sein, nur wenn sie zusammenstimmen, dann bilden sie ein Ganzes. Was mit Worten nicht eben so klar und rein dargestellt werden kann, das spricht sich in der That aus, und wenn sich keine Gelegenheit findet,

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etwas mit der That zu zeigen, das wird durch Worte deutlich gemacht; und so liegt jedem, der Lehrer sein kann, ob, sich selbst als Beispiel zu zeigen, und das ist nicht blos die Pflicht derjenigen, die ausdrükklich zu dem Werk der Lehre berufen sind, sondern aller Christen, die in den ganzen Besiz ihrer christlichen Rechte gekommen sind. Wenn wir Alle diese Pflicht erfüllten, dann wären wir Alle ohne Ausnahme Lehrer, Lehrer nämlich jeder Stärkere dem Schwächeren unter uns, und Alle insgesammt der Jugend, die unter uns aufwächst und vorzüglich der Lehre bedarf. Aber auf der andern Seite müssen wir sagen, sich selbst so zum Beispiel hinstellen, indem man Regeln darüber giebt, heißt das nicht, sich anmaßen, als habe der Apostel in seinem Leben die ganze christliche Tugend so dargestellt, daß jeder einzelne Theil seines Betragens ein Muster für die Christen sein kann? und wenn er das gesagt hat, hat er nicht zu viel gesagt? Ist das nicht etwas, was zu den Vorrechten des Erlösers gehört? und bekennt er nicht selbst anderwärts, daß er der menschlichen Schwach|heit unterworfen sei und nicht ohne Sünde? Allerdings bekennt er das, und daher müssen wir diese Worte so erklären, wie sie mit jenen zusammenstimmen. Wohl, außer dem Erlöser ist keiner, in dem nicht die Spuren der Sünde anzutreffen wären, und so auch jener große Apostel des Herrn. Wenn er sich dennoch zum Beispiel sezt, so liegt dabei nicht die Voraussezung, als wenn nichts, was der Regel, die er selbst giebt, widerstreitet, in ihm zu bemerken gewesen wäre; sondern das meint er – und in diesem Sinne kann auch nur ein sündiger Mensch sich den übrigen zum Beispiel stellen – daß aus seinem ganzen Leben erkannt werden kann, was ihm selbst darin werth und würdig erscheint und was er selbst mißbillige und tadele, was er selbst für das Werk des Geistes halte und was er zu überwinden suche durch die Kraft des Geistes. Woran das erkannt werden könne? Darüber fällt mir ein anderes Wort des Apostels ein, wo er sagt „Alles, was ihr thut, das thut zur Ehre Gottes.“ Daß dies überall sein Bestreben gewesen ist, das haben gewiß Alle, die ihn kannten, gemerkt, sonst würde sein Werk nicht so gesegnet gewesen sein an ihnen. Und eben diese Regel, die er uns Allen aufstellt und der sein ganzes Leben unterworfen gewesen ist, so weit es die menschliche Schwachheit vermag, ist es, die uns den lezten Aufschluß giebt über Alles, was er vorher gesagt hat. Denn wenn uns aus dem Vorigen die Frage blieb, wie soll der Mensch zu der Ueberzeugung kommen, daß er nachgedacht habe über das, was wirklich eine Tugend ist und ein Lob? Nur so, daß er sich frage, ob er auch Gott mit zugezogen habe, ob er Gott dabei im Auge gehabt und der Gedanke an ihn die Regel seines Thuns gewesen ist? Wenn dies ist, dann können wir mit fester Zuversicht auf unser Streben zurükksehen, und 14–16 Vgl. Röm 7,18–20

28–29 Vgl. 1Kor 10,31

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ob dies unser eigentlicher Sinn gewesen ist, das muß jedem sein eigenes innerstes Gefühl und Bewußtsein sagen. Und das hat nun der Apostel als den eigentlichen innersten Sinn des Beispiels, welches er den Christen giebt, darstellen wollen: das werdet ihr an mir gesehen haben, | daß ich überall die Ehre Gottes gesucht habe; denn ohne dieses Bestreben kann man kein Christ sein, weil der Herr selbst das als das Ziel seines Lebens dargestellt hat, den Vater zu verherrlichen. Das kann aber nur so geschehen, daß in Allem, was wir thun, Gott unser Ziel ist. Ist nun darin einer zu einer solchen Vollkommenheit gelangt, wie sie eines Apostels würdig ist, so können es nur vorübergehende Augenblikke der Selbstvergessenheit sein, wenn sich uns in eines Solchen Leben solche einzelne Handlungen darstellen, für die es keinen Werth giebt und welche die Ehre Gottes nicht gefördert haben; in allem aber, was mit Nachdenken, mit Ueberlegung geschehen ist, ist die Ehre Gottes gefördert. Und das ist es, was der Apostel sagt „in Allem, was ihr an mir gesehen und gehört habt, folgt mir nach: so wird der Herr des Friedens mit euch sein.“ Und das wird sich einem jeden unter uns von selbst dargestellt haben in diesem unsern gemeinsamen Nachdenken über diese einzelnen Vorschriften des Apostels, daß der Gott des Friedens nur mit uns ist, wenn wir dem Wahrhaftigen, dem Ehrbaren, dem Gerechten, dem Keuschen und dem, was lieblich ist und wohllautet, nachgedacht haben; daß jeder falsche Schein uns in Unfrieden versezt zuerst mit andern Gliedern der menschlichen Gesellschaft, dann aber auch nothwendiger Weise mit uns selbst, und daß wir den Frieden nicht anders finden können, als indem wir die Wahrheit suchen in Liebe und der Liebe nachstreben in der innigsten Gemeinschaft der Wahrheit. Dazu möge der Herr uns den Beistand seines Geistes immer verleihen: so wird in uns allen der Friede mit Menschen und der Friede Gottes sein, der höher ist, denn alle menschliche Vernunft! Amen.

1 das] daß 27–28 Vgl. Phil 4,7

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Am 23. Februar 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Reminiscere, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 18,19–24 Nachschrift; SAr 103, S. 397–424; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 122r–122v; Gemberg Nachschrift; SAr 62, Bl. 1r–4v; Woltersdorff (Fragment) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Reminiscere 1823 am drei und zwanzigsten Hornungs. |

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Tex t. Johannes XVIII, 19–24. Aber der Hohepriester fragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre: Jesus antwortete ihm: Ich habe frei öffentlich geredet vor der Welt; ich habe allezeit gelehrt in der Schule und in dem Tempel, da alle Juden zusammen kommen, und habe nichts im Verborgenen geredet; was fragst du mich darum? Frage die darum, die gehört haben, was ich zu ihnen geredet habe; siehe dieselbigen wissen, was ich gesagt habe. Als er aber solches redete, gab der Diener einer, die dabei standen, Jesu einen Backenstreich, und sprach: sollst du dem Hohenpriester also antworten? Jesus antwortete: habe ich übel geredet, so beweise es, daß es böse sei; habe ich aber recht geredet, was schlägst du mich? Und Hannas sandte ihn gebunden zu dem Hohenpriester Kaiphas.

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M. a. F. Wir sind mit unseren Betrachtungen | über das Leiden des Erlösers auf eine kleine Anzahl von Zusammenkünften beschränkt; was ist also natürlicher, als daß wir aus dem reichen und unerschöpflichen Gegenstande vornämlich dasjenige auswählen, wovon wir sehen aus der Antwort, aus dem ganzen Betragen unseres Erlösers, daß es ihn selbst auf eine eigenthümliche Weise bewegt hat; und das ist wohl bei diesem Theil der Geschichte, den ich eben gelesen habe, nicht zu verkennen. Der Erlöser antwortet; schon das ist etwas, da er sonst seit dem Augenblick seiner Gefangennehmung so oft schwieg, wo viele andere würden geredet haben. Er antwortet, zwar mit klarer Besonnenheit und mit einer unverkennbaren Sicherheit und Ruhe des Gemüths, aber doch so, daß es sich ganz deutlich

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zeigt, und ein jeder es fühlen muß, er sei bewegt worden in sich selbst durch dasjenige, was von ihm gesagt war, und was ihm geschah. Wie es nun zwei Antworten unseres Erlösers sind, welche uns | der Evangelist in dem verlesenen Abschnitt mittheilt, so sind es auch zwei Anregungen von außen, welche sie aus ihm hervorgelockt haben. Diese laßt uns also als gewiß nicht unbedeutende Theile seines Leidens näher mit einander erwägen. I. Wie nun in seiner ersten Antwort dies die Hauptsache ist, daß er dem Hohenpriester sagt, er habe immer öffentlich vor aller Welt geredet und gelehrt, nichts aber im Verborgenen geredet oder gethan: so sehen wir, daß an der Frage, die der Hohepriester an ihn that, eben dies ihn vornämlich bewegte, daß darin der Vorwurf lag, als habe er außer seinem Öffentlichen noch etwas Geheimes, eine geheime Lehre und geheime Jünger, und dies sei das Erste, was wir mit einander erwägen. Wenn der Evangelist uns nun erzählt, der Hohepriester fragte Jesum um seine Jünger und um seine Lehre: so kann es freilich scheinen auf den ersten Anblick, als liege in dieser Frage der Vorwurf nicht, auf welchen doch der Erlöser | seine Antwort richtet. Vielleicht, m. g. F., würden wir das deutlicher einsehen, und es uns mehr aufhellen, wenn der Evangelist uns eben so genau die Worte des Hohenpriesters berichtet hätte, wie er die eigenen Worte des Erlösers uns mittheilt. Allein darüber, daß das nicht geschehen ist, wollen wir wenigstens gewiß uns nicht beklagen, sondern vielmehr es mit recht inniger Dankbarkeit anerkennen, daß diejenigen, welche zuerst die einzelnen Züge aus dem Leben des Erlösers aufbehalten haben, einen ganz vorzüglichen Werth immer darauf legten, seine eigenen Worte zu berichten von Mund zu Mund, und durch die Züge der Schrift unverfälscht und rein auf alle diejenigen zu bringen, denen es um seine Worte vorzüglich zu thun wäre. Allein auch ohne daß wir die eigenen Worte des Hohenpriesters wissen, so können wir schon aus der Lage der Sachen im Allgemeinen mit großer Bestimmtheit abnehmen, daß der Vorwurf | wirklich darin gelegen habe, auf den der Erlöser antwortet. Es wäre freilich genug für uns alle, die wir an ihn glauben, uns nur darauf zu berufen, daß er ihn darin gefunden habe. Denn ohne daran zu denken, daß er wußte, was in dem Herzen eines jeden Menschen war, und sich also auch über den eigentlichen Sinn der Frage des Hohenpriesters nicht täuschen konnte, so war er nicht so ängstlich, nicht so argwöhnisch, daß er etwas ihm Nachtheiliges darin würde gesucht haben, wenn es nicht darin gelegen hätte. Wie 2 was ihm] aus ihm 34–35 Vgl. Joh 2,25

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es aber gewiß darin lag, das sehen wir hieraus. Wenn der Hohepriester sich unterrichten wollte, worin die Lehre des Erlösers bestände, und wer seine Jünger wären: so war freilich das Natürliche und eigentlich Richtige, daß er sich an ihn selbst wendete. Aber unbekannt konnte er damit nicht sein; lange genug schon war der Erlöser mit | seiner Lehre und mit der Gesellschaft seiner Jünger der Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit gewesen; oft genug schon hatte der Hoherath, dessen Mitglied Hannas war, und die Hohenpriester ihre Jünger und Diener ausgeschickt, um die Lehre des Erlösers öffentlich, wie er sie vortrug, zu behorchen, und zu sehen, ob sie etwas finden möchten, daß sie eine Sache zu ihm hätten. Und wie er allemal bemerkt ward von dem Volk auf den hohen Festen zu Jerusalem, so konnten auch die Verhältnisse derer, die ihn begleiteten, nicht unbekannt sein. Und kurz nach den Tagen seiner Himmelfahrt bei der Ausgießung des Geistes, als die Apostel gestellt wurden vor den hohen Rath, da erinnerten sich auch der hohe Rath und der Hohepriester ganz deutlich, daß sie diese Menschen gesehen hätten mit Jesu von Nazareth. Also unterrichten wollte er sich. Zudem stand der Erlöser vor ihm als Gefangener und Gebundener, also als ein solcher, auf den schon | mußten Anklagen gebracht sein. Fragt ihn nun der Hohepriester um seine Jünger und um seine Lehre, so mußte das der Gegenstand der Anklage sein, denn sonst hätte die Frage keine Bedeutung. War es das, so mußte doch um ihn zu binden und vor Gericht zu stellen, etwas Verderbliches, Verächtliches, dem göttlichen Gesetz zuwider Laufendes in seiner Lehre zu liegen seinen Anklägern erschienen sein. Unter solchen Umständen also, indem der Hohepriester ihn selbst fragte nicht etwa um einzelne bestimmte Punkte seiner Lehre, damit er seine Erklärung darüber hörte, sondern über seine Jünger und seine Lehre überhaupt, so war deutlich, daß er die Vermuthung in sich hegte und zu einer Gewißheit darüber zu kommen wünschte, ob der Erlöser außer seiner öffentlichen Lehre nicht noch eine geheime, außer der Gesellschaft, die ihn öffentlich beständig begleitete nicht noch eine andere verborgene unter dem Volk, oder mit den Großen und Angesehenen, | oder welche es sei, gehabt habe. Dieser Vorwurf also lag der Natur der Sache nach in des Hohenpriestes Frage. Und nun laßt uns sehen, m. g. Fr., ob denn und inwiefern der Erlöser Recht hatte, durch diesen Vorwurf mehr als durch so manchen andern, der ihm schon gemacht war in den Tagen seines öffentlichen Lebens, bewegt zu werden, und ihn so kräftig von sich abzuwälzen, wie er hier thut, indem er sagt: „ich habe allezeit in der Schule und in dem Tempel öffentlich gelehrt und habe nichts im Verborgenen geredet.“ Wir müssen hiebei, m. g. F., zweierlei erwägen. Zuerst dies, daß ein jeder unter uns gewiß ebenfalls auf einen Vorwurf von etwas Unrechtem, der ihm gemacht wird, um desto größeres Gewicht legt und legen muß, je mehr dieser mit 14–16 Vgl. Apg 4,13

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seinem eigenen Beruf, mit demjenigen, worauf seine Thätigkeit ihrem ganzen Wesen nach gerichtet ist, zusammenhängt: denn in diesem Falle ist nur Störung in diesem Beruf, Hemmung dieser Thätigkeit, Verminderung des gewohnten guten Erfolgs | derselben zu erwarten, wenn der Vorwurf nicht abgewälzt werden kann, wenn die Beschuldigung mehr Raum gewinnt und sich weiter verbreitet. Wogegen wir alle, die wir wohl wissen, daß wir nicht frei sind von menschlicher Schwachheit, daß jeder noch seinen Antheil hat an dem Verderben und an der Sünde, und also auch jedem dies und jenes kann gesagt werden, wir bescheiden uns dann gern weniger Werth zu legen auf einen solchen Vorwurf, der mit unserer öffentlichen Thätigkeit und mit unserer öffentlichen und unmittelbaren Bestimmung nichts zu thun hat. Denn einestheils hoffen wir, daß in diesem Falle auch unsere Brüder sich weniger werden aufgefordert und berechtigt fühlen, zu richten zwischen uns und dem, der uns beschuldigt, weil, was nicht unserem öffentlichen Leben angehört, auch nicht so von ihnen kann übersehen und in seinem eigenthümlichen Werth geschätzt werden, und dann, wenn sie es auch für wahr annehmen, so ist es natürlich, daß sie es | in diesem Falle ertragen und mit Liebe bedecken, als wenn ein Urtheil in dem, was unserem und ihrem Leben gemeinsam ist, unmittelbar daraus folgt. Genau aber, m. g. Fr., hing dieser Vorwurf mit dem Beruf des Erlösers zusammen. Denn wie kann es noch irgend ein Vertrauen geben, wenn einer berufen ist der Wahrheit Zunge zu geben und sie zu lehren, es wird ihm aber der Vorwurf gemacht, daß er neben und außer seiner öffentlichen Lehre noch eine andere geheime habe? Und wenn einer berufen ist, wie der Erlöser es ebenfalls war, eine Gemeinschaft der Menschen zu stiften, und sie zusammen zu verbinden: wie können diejenigen, die sonst wohl geneigt wären hinzutreten, noch das nöthige Vertrauen behalten, wenn sie den Argwohn haben, außer der Gemeinschaft, zu der er sich öffentlich bekennt, die er öffentlich zu stiften und mit der Kraft seines Geistes zusammenzuhalten sucht, habe er noch eine andre geheime, die er | natürlich verbirgt, aber mit desto größerer Sorgfalt hegt und pflegt? Gewiß, m. g. Fr., konnte nichts so sehr dazu geeignet sein, das Vertrauen der Menschen, mit welchem sie an dem Erlöser hingen, abzuwenden und auszurotten, als ein solcher Vorwurf. Wenn er die Menschen zu sich rief „kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“: so weiset er sie zu seiner öffentlichen Lehre, zu dem Strome des Lebens, der vor aller Augen und Ohren von seinen Lippen sich ergoß. Wenn sie aber dabei denken sollten, ja das giebt er uns, davon glaubt er, wir sollen uns daran erquicken und sollen Ruhe darin finden für unsere Seele; aber für andere und nähere Freunde hat er noch eine 25 sie] wie 34–35 Mt 11,28

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andre und geheime Lehre: mußten sie nicht jene geringschätzen und bei sich denken, die rechte Erquickung und den wahren Frieden der Seele kann diese nicht bringen? Wenn sie sich zu dem Bunde, zu welchem der Erlöser sie vereinigen wollte, getrösteten, das sei das Reich | Gottes, welches einmal gestiftet nicht mehr untergehen soll – und das war ja allein der Glaube, auf welchem der Bund der Christen ruhen konnte – aber sie hätten dabei den Argwohn gehabt, der Erlöser habe daneben noch eine andere kleine Verbindung: hätten sie dann den Glauben haben können, daß jenes das wahre lebendige Reich Gottes sei? Unmöglich. Und so hatte der Erlöser allerdings Recht, nicht stillschweigend den Vorwurf, den vielleicht stillschweigend der Hohepriester ihm machte, aber doch wirklich machte, ganz zu übergehen und unbeantwortet zu lassen; ja auch die größte Unwahrscheinlichkeit, die darin lag, konnte ihn nicht bewegen darüber zu schweigen, so groß und wichtig nahm er ihn. Denn, m. g. F., was konnte wohl unwahrscheinlicher sein als dieser Vorwurf, den der Hohepriester sich nicht entblödete dem Erlöser zu machen? Er, nach welchem das Volk fragte schon lange ehe er da war, er der fast nie anders gesehen wurde als in einer sehr zahlreichen Begleitung | von Menschen, er der selbst in die Stille des Hauses hin verfolgt ward bald von Leidenden, bald von Wißbegierigen, welche Lehre begehrten, er der selbst, wenn er sich mit seinen Jüngern in die Wüste zurückzog, um in einsamen Gesprächen ihre Seele kräftiger auf die große Bestimmung ihres Lebens hinzuweisen, auch dort nicht ruhig und ungestört bleiben konnte, sondern von Schaaren des Volks aufgesucht ward: wie konnte er etwas Geheimes haben, so offen und klar sein ganzes Leben und seine Lehre vor den Augen der Welt lag? Aber so groß schien ihm der Vorwurf und so übel der Wille, der dabei zum Grunde lag, daß er laut und klar das versteckt und verborgen Angedeutete hervorholte, und auf’s bestimmteste diesen Vorwurf von sich ablehnte. Laßt uns, m. g. F., hiebei noch einen Augenblick stehen bleiben und uns darüber freuen, daß die heiligen Schriftsteller auch grade dieses | Wort des Erlösers uns aufbewahrt haben. Denn auch in spätern Zeiten ist er von diesem Vorwurf nicht frei geblieben; und manche Männer, auch solche, denen übrigens christliche Wissenschaft und christliches Leben mancherlei verdankt, haben geglaubt, manches in der Lehre des Erlösers, was, weil wir die Umstände nicht genau kennen, nun schwer zu enträthseln ist, am besten dadurch zu erklären, daß sie meinen, er habe außer seinen Jüngern, welche die Schrift uns nennt, und die ihn öffentlich begleiteten, noch eine andere geheime Verbindung gehabt mit ungenannten Menschen; und wiederum, manches, was dem menschlichen Verstande nicht einleuchten will oder zu geringfügig dünkt von seiner Lehre, die darin herrschende Ansicht zu niedrig oder zu wenig in der Wahrheit gegründet, als daß sie dieselbe dem Erlöser der Welt zutrauen könnten, haben sie sich dadurch erklären wollen, daß sie meinen, der Erlöser habe über manches so gesprochen, | wie die herrschenden

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Vorstellungen des Volkes waren, er selbst aber habe für sich eine bessere Einsicht gehabt und dieselbe nur in der Stille seinen Jüngern und Freunden mitgetheilt. Wenn wir nun dieses Wort des Erlösers nicht hätten, so könnten wir darüber in Verlegenheit kommen; nun aber haben wir dieses Wort des Herrn, er habe nichts im Verborgenen geredet und gethan. So wie er in seinem Gebet zu seinem Vater sagt, er habe seinen Jüngern nichts behalten von dem Worte des Lebens: so sagt er hier, er habe nichts im Verborgenen geredet, alles, was er öffentlich geredet, sei seine ganze Lehre und jeder Theil derselben sein voller Ernst, so daß er über nichts anderes gedacht hat als er öffentlich geredet. Und nun dürfen wir es leugnen, daß eine solche Vermuthung auf eine geheime Lehre und eine geheime Verbindung des Erlösers [sich] mit dem Glauben der Christen nicht verträgt, sondern demselben schnurstracks entgegenläuft? Denn wir müssen erst das Wort des Herrn der Lüge zeihen | und uns nicht entblöden zu sagen, daß er es gewagt habe dem, der als der Richter ihm gegenüberstand, und dem er eine der Wahrheit gemäße Rechenschaft schuldig, die Unwahrheit zu sagen, wenn wir glauben wollen, es sei außer seiner öffentlichen Lehre und seinem öffentlichen Leben auch etwas Geheimes gewesen zwischen ihm und andern. Und so erst, wie der Erlöser es hier sagt, können wir den sichern Schluß machen, wie er es gehalten hat, so soll es immer gehalten werden. Ja, m. g. F., das Christenthum in allen seinen Theilen soll immer etwas Öffentliches sein, und nie kann und soll es etwas Geheimes darin geben. Von Anbeginn freilich sind die Jünger des Erlösers, weil sie oft genöthiget waren sich vor ihren Feinden und Widersachern in die Stille zurückzuziehen, beschuldigt worden, daß sie in ihren Zusammenkünften, die nur wider ihren Willen geheim waren, wundersame ja entehrende und schändliche Dinge ausübten; aber nie haben wahre Christen ein Geheimniß gehabt in Beziehung auf das, was das Wesen des christlichen | Glaubens ist, und nie hat es außer dem öffentlichen christlichen Leben geheime Regeln oder Verbindungen gegeben, die sich auf die Erlösung der Menschen bezögen. Um desto mehr müssen wir darauf halten, daß das immer so bleibe, weil jener Vorwurf desto schwerer ist, je mehr in denselben hineingelegt werden kann. Manches, m. g. F., ist von der Art, daß mit Worten auch der ganze Inhalt ausgesprochen ist, und da kann jeder ihn wissen, und jeder denkt sich dabei das Gleiche. Wenn aber jemand der Vorwurf gemacht wird, daß hinter seinem öffentlichen Leben und seiner öffentlichen Lehre noch etwas Geheimes sei: so hat es damit nicht dieselbe Bewandniß, sondern jeder kann hineinlegen was er will. Wenn dieser wohlwollend dachte von dem Erlöser, vielleicht sagt er im Stillen seinen Jüngern manches, wozu die andern noch 19 sichern] sicher 5–7 Vgl. Joh 17,8

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nicht reif sind: so dachten die andern übelwollend, daß im Geheimen das Gegentheil sei von dem, was öffentlich gesagt wird, und der geheime Bund ein Gegentheil von dem öffentlichen, der sich zu erkennen giebt als einen Bund der Liebe und | des Friedens. Das Geheimnis, m. g. F., ist wie die Finsterniß; in der sind wir behutsam, vorsichtig, weil keiner wissen kann, was ihm in der Finsterniß entgegentreten, und was ihm da geschehen kann. So ist es mit dem Geheimniß; wir sehen hinein, wie in eine dunkele Nacht, und jeder argwöhnt wo etwas Geheimes ist, das Schlimme nicht mit Unrecht. Darum ist der Vorwurf so leicht, daher giebt es auch nichts, was der Christ so zu überwinden hat und was dem Christenthum so zuwider ist, wie dies. Es giebt, m. g. F., Geheimnisse im menschlichen Leben; das Leben eines jeden in der Stille seines häuslichen Kreises verträgt sich nicht mit dem großen Leben der Menschen; die stillen Äußerungen vertrauter Seelen gegen einander sind nicht geeignet für das Geräusch der großen uns umgebenden Welt. Aber nur insofern sind diese Geheimnisse etwas Gutes, als sie sich auf das beschränken, was mit dem öffentlichen Leben der Menschen nichts zu schaffen hat, als es dem gemäß ist, wozu sich öffentlich jeder bekennt, was er für die Regel seines | Lebens, und es zu erhalten für die Pflicht seines Lebens, ausgiebt und erklärt. Wie sehr also dieser Vorwurf den Erlöser schmerzen mußte, und wie er ein wesentlicher Theil seines Leidens war, das werden wir desto besser einsehen, wenn wir daran denken, wie sehr dem Erlöser überall in der Gegenwart die ganze Zukunft gegenwärtig war vermöge der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, und wie er in diesem Vorwurf zugleich den erkannte, der auch in der Folge denen, die seinen Namen verkündigen sollten, gemacht werden würde. Aber eben so hat er mit seiner Antwort allen Zeiten und allen Christen die theure Regel gegeben, von der sie sich nie entfernen sollen. II. Die zweite Antwort unseres Textes ist die, welche der Erlöser dem Knechte gab, der ihn der ersten Antwort wegen mißhandelte. Aber wie? sollen wir uns den Erlöser in seinem ruhigen und erhabenen Gemüth empfindlich denken, über eine gleichviel ob körperliche oder wörtliche | Mißhandlung eines rohen Menschen, welcher kaum wußte, wovon eigentlich die Rede war, und durchaus in keiner Beziehung mit ihm stehen konnte? Nein, m. g. F., darüber würde er mit seinem gewohnten großmüthigen Stillschweigen hinweggesehen haben. Das sehen wir aus dem Verfolg seiner Leidensgeschichte. Als er in der römischen Wache den römischen Kriegsknechten Preis gegeben war, was für Mißhandlungen dieser Art, was für frevelnden Spott mußte er sich da gefallen lassen? Aber er schwieg, und niemand hörte ein Wort. Aber hier schwieg er nicht, sondern redete und antwortete wie23 Vgl. Kol 2,9

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der; und daher ist es auch etwas anderes gewesen, als die Mißhandlung selbst, was ihn zur Antwort aufgefordert und vermocht hat; und das sehen wir aus seiner Antwort selbst. Der Inhalt derselben ist doch der, daß es jenem Knechte nicht gebühre, ihm etwas aufzulegen, was als eine Züchtigung anzusehen wäre, ehe ihm das Unrecht, was in seiner Handlung und in seiner Rede liege, sei erwiesen worden. Und wenn wir die Umstände, die | hier obwalteten, genau erwägen; so werden wir fühlen, wie Recht der Erlöser hatte im Innern seiner Seele aufgeregt zu werden, und wie recht es war und seiner ganzen Weisheit und seiner eigenthümlichen Größe angemessen, eine Antwort zu geben auf das, was geschehen war. Dort wo er schwieg, da war er allein unter einem Haufen von rohen, ungebundenen, verworfenen Menschen, gewohnt auf mancherlei Weise Scherz zu treiben mit Übelthätern, welche die Achtung der Welt schon verwirkt hatten, und bis zu dem Augenblick der Strafe ihrer Obhut übergeben waren; hier als der Knecht des Hohenpriesters ihn schlug, war es in Gegenwart des Hohenpriesters, und es war nicht Muthwille, in welchem er dies that, sondern er fügt gleich den Grund hinzu: sollst du dem Hohenpriester also antworten? Also weil der Knecht den Hohenpriester, der gegenwärtig war, in seiner Würde angetastet glaubte, nahm er sich heraus, ihn zu schlagen. Überlegt, m. g. F. hier mit mir, welch’ ein Verderben aller menschlichen Verhältnisse dieser Vorgang voraussetzt. Geziemte es im An|gesicht und im Beisein des Hohenpriesters dem Knecht den Erlöser züchtigen zu wollen über etwas, wodurch er glaubte die Würde des Hohenpriesters angetastet zu sehen? War es nicht dessen Sache selbst darüber zu entscheiden, ob der Erlöser ihn beleidigt habe? Er war aber weit entfernt das behaupten zu wollen und den Erlöser zu bestrafen, sondern stillschweigend schickt er ihn gebunden zu dem, vor dem er eigentlich stehen sollte. Wenn er aber nun dem Knecht nicht Recht geben konnte in dem Vorwurf, den dieser dem Erlöser machte, wie hätte er ihn nicht bestrafen sollen dafür, daß er sich anmaßte, er der Untergebene, in Gegenwart und im Beisein des Höhern als Richter auftreten zu wollen? und sollte nicht sein höheres Ansehen schon vorher die Kraft gehabt haben, jede Anmaßung dieser Art zurückzuhalten? Was sehen wir also hier? Nichts anderes als von Seiten des Niedern und Untergebenen eine schmeichlerische Ergebenheit gegen den Höhern, welche aber gleich das zum Vorwand nimmt, die Gränzen der Gewalt zu überschreiten, | und unter dem Schutz des Bestrebens, eine niedere Schmeichelei anzubringen, den Unschuldigen zu beleidigen. Und von Seiten des Obern, was finden wir anders als Schwachheit, die nicht vermag ihr Ansehen zu behaupten? Woher aber kommt dies anders als von einem üblen Gebrauch des Ansehens und der Macht selbst? Diejenigen, denen ein Auftrag von der Art gegeben war, als die Wache des Hohenpriesters empfangen hatte, einen Mann bei nächtlicher Weile aufzugreifen, und vor ihn zu führen, der eben öffentlich vor seinen Feinden wandelte, und sich ihrer Rechenschaft nicht entziehen

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konnte, eben deshalb weil er immer da war, wo sie frei öffentlich ihr Recht ausüben konnten; diejenigen, die zu einem solchen Auftrag gebraucht wurden, und darin die Feigheit derer erkennen konnten, die ihnen vorgesetzt waren, die konnten auch nicht in ihre Schranken zurückgewiesen werden, sondern zu deutlich war es am Tage, daß sie sich anmaßten, was ihnen nicht gebührte. Ein solches Verderben der Gewalt, die vorzüglich da war, um die heiligen Ange|legenheiten zu schützen und in Ordnung zu halten, mußte den Erlöser in der Tiefe seiner Seele erschüttern; denn es gab kein Verderben mehr, was nicht aus einem solchen Zustande hervorgehen mußte. Darum hat er es mit einem solchen Ernst und mit einer solchen Kraft ausgesprochen, daß das der Zügel wäre aller menschlichen Ordnung, und daß dadurch jene wohltätige Ordnung aufrecht erhalten werden müsse, daß der Züchtigung erst vorangehen muß der Beweis, und daß die Strafe ausgehen muß von dem, der Recht dazu hat. Je mehr wir aber, m. g. F., den Erlöser bewegt sehen über das Verderben, welches sich vor seinen Augen entfaltete, und dort über den ungegründeten Argwohn, der auf ihn eine Beschuldigung bringen wollte, welche die unwahrscheinlichste von der Welt war: desto mehr fühlen wir uns zu einer andern Betrachtung aufgefordert. Nämlich, m. g. F., konnte wohl das eine oder das andere den Erlöser schmerzen um sein selbst willen? Seine Stunde hatte geschlagen. Auch jener Vorwurf konnte ihm nicht schaden; denn in dem | Augenblick, wo er gefangen wurde, hörte sein Beruf als öffentlicher Lehrer auf, ihm selbst konnte also für seine öffentliche Thätigkeit kein Nachtheil oder Vortheil mehr erwachsen aus dem, was andere von ihm hielten, was aber lieblose Menschen über ihn dachten, konnte ihn gar nicht kümmern. Eben so auch dieses Verderben in der Anordnung der damaligen menschlichen Verhältnisse, ihn selbst konnte es nicht mehr treffen; er selbst wurde nun sogleich aus den Händen des Hohenpriesters übergeben in die Gewalt der Heiden, und lange schon hatte er sich und Andern vorausgesagt, was erfolgen würde, wenn dies geschehen sollte. Woher also und von welcher Art waren die Gefühle, die seine Seele erschütterten? Wir sehen auch hieraus – und dies muß uns die Betrachtung des leidenden Erlösers besonders gesegnet machen – sein Leiden durch die Sünde und sein Leiden über die Sünde, es war nie sein eigenes Gefühl, sondern Mitgefühl. Hätte er an sich selbst gedacht, er hätte auch hier mit schweigender Ruhe | an sich gehalten – denn für ihn war dabei eben so wenig etwas zu gewinnen als zu verlieren – aber das Mitgefühl mit den Menschen, der Gedanke an die Zukunft seines Reiches, der Schmerz mit denen, die er zurückließ unter so ungünstigen Umständen, unter gleichen Verhältnissen lebend und gleichen Verfolgun20 sein] Kj seiner 29–30 Vgl. Mt 20,18–19; Mk 8,31; 9,31; 10,33–34; Lk 18,31–33

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gen ausgesetzt, das war es, was seine Seele bewegte. Und anders als so können wir nie glauben, daß der Erlöser durch die Sünde gelitten hat. Denn den eigenen Schmerz zu überwinden, von welcher Art er auch sei, das fordern wir von einem jeden, der auch nur die gewöhnlichen Schmerzen des Lebens empfindet, und der Rechenschaft abzulegen hat von den geringen Kräften, die der Herr ihm verliehen. Das Mitgefühl fordern wir eben so, das soll in uns unaustilgbar sein, und der eigene Schmerz soll es nie vermindern. Darum sehen wir den Erlöser schon zu einer Zeit, wo er nichts mehr thun konnte, doch in dem Innersten seiner Seele bewegt über das, was die menschlichen Angelegenheiten im Allgemeinen | und die seines Reiches insbesondere betrifft. Soll also, m. g. F., das Leiden des Erlösers uns zu Gute kommen, so müssen wir darin seine Nachfolger sein. Wollen wir auch bis zu dem letzten Wort, mit welchem er am Kreuze Vergebung für seine Feinde erflehte, seine Nachfolger sein, so müssen wir es vorher gewesen sein in alle dem, wovon er uns in allen früheren Theilen seines Leidens und Lebens das Vorbild gewesen ist, daß wir nicht aufhören, auch wenn wir persönlich nichts dabei zu verlieren haben, Theil zu nehmen an den Angelegenheiten der Welt, und nie müde werden zu handeln für das Wohl der Menschen, und wenn wir nicht mehr handeln können, nicht aufhören zu reden, um zu beweisen, wie nicht wir selbst reden, sondern der durch uns, der eben selbst bis zum letzten Augenblick seines Lebens das menschliche Geschlecht und dessen ewiges Heil und wahren Frieden im Herzen getragen hat; um zu zeigen, daß wir nicht da sind aus Rücksicht für uns selbst, sondern unsern Brüdern zu dienen mit jeder Gabe, die wir empfangen haben, bis zu dem letzten Augenblick unseres Lebens. So war er – und so sollen wir alle ihm nachfolgen. Amen.

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[Liederblatt vom 23. Februar 1823:] Am Sonnt. Reminiscere 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Meinem Jesum laß etc. [1.] Schließet euch ihr Augen auf, / Schaut das große Licht der Erden, / Es erneuert seinen Lauf, / Um ein Leitstern euch zu werden. / Seht die Sonne geht hervor, / Sie weist euch zu Gott empor. // [2.] Seh ich auf die Nacht zurück, / Glücklich ließ mich Gott sie enden, / Und ich kann den frohen Blick / Zu des Himmels Höhen wenden; / Möge dort mein Wandel sein / Mit den Frommen fromm und rein. // [3.] Herr zu deines Namens Ruhm, / Sorge du für mich auch heute, / Daß mich, als dein Eigenthum, / Gnad’ und Segen 13–14 Vgl. Lk 23,34

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stets geleite. / Was ich thun und reden soll, / Das gerathe alles wohl. // [4.] Halte mein Gewissen frei, / Daß ich heut es nicht beflecke! / Kommt Versuchung auch herbei, / Gieb, daß es mich bald erwecke, / Daß ich wachsam bleib und fleh, / Und der Sieg mir nicht entsteh. // [5.] Alles werf ich denn auf dich, / Und so darf ich nimmer zagen; / Nur dein Geist erleuchte mich, / Wohl zu nuzen Freud und Plagen, / So werd ich zufrieden sein, / Stellt sich heut der Abend ein. / Nach dem Gebet. – Mel. Zion klagt mit etc. [1.] Jesu deine Schmach und Wunden, / Deine Quaal und bittrer Tod, / Geben mir in trüben Stunden / Kraft zur Heilgung, Trost in Noth. / Sünde soll mich nicht entweihn, / Nein ich denk an deine Pein; / Sie lehrt mich die Sünden fliehen, / Die mir Gottes Huld entziehen. // [2.] Die Erinnrung deiner Leiden / Stärke mich mit Kraft und Muth, / Alle schnöde Lust zu meiden, / Zu bekämpfen Fleisch und Blut. / Auch wenn meine Seele zagt, / Wenn mich trübe Schwermuth plagt, / Laß im Glauben mich zu stärken, / Mich auf deine Leiden merken. // [3.] Will die Welt mein Herz verführen / Auf die trügerische Bahn, / Wo so viele sich verlieren, / Und sich dem Verderben nahn; / Dann denk ich, o Jesu, nach, / Ueber deine große Schmach, / Daß ich dir getreu verbleibe, / Und die böse Lust vertreibe. // [4.] Gieb bei allem was mich kränket, / Mir durch deine Leiden Ruh, / Wenn mein Herz daran gedenket, / Ströme neuer Trost mir zu. / Wenn mich meine Sünden reun, / Laß mich deinen Tod erfreun; / Denn du hast, da du gestorben, / Die Vergebung mir erworben. // [5.] Auf dein Leiden laß mich trauen, / Jesu meine Zuversicht; / Laß darauf mich freudig bauen, / Wenn der Tod mein Auge bricht. / Ja dein Kampf und deine Pein / Soll mir Trost im Sterben sein; / Herr laß deinen Tod mir geben / Auferstehung, Heil und Leben. // [6.] Hab ich dann in meinem Herzen / Hoffnung jener Herrlichkeit, / So besieg’ ich Angst und Schmerzen, / Selbst im letzten Kampf und Streit. / Wenn einst meine Hülle bricht, / Quält des Todes Furcht mich nicht, / Ueberwunden, überwunden / Hab ich, durch dich überwunden. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ein Lämmlein etc. Du hasts gesagt, du wirst die Kraft / Zur Heiligung mir schenken; / Dein Blut ists, das mir Trost verschafft, / Wenn mich die Sünden kränken. / Laß mich im Eifer des Gebets, / Laß mich in Lieb und Demuth stets / Vor dir erfunden werden. / Dein Heil sei mir ein Schirm in Noth, / Mein Stab in Schwachheit, Schild im Tod, / Mein letzter Trost auf Erden. //

Am 2. März 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Oculi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,10–13 Nachschrift; SAr 103, S. 425–448; Andrae SW II/10, 1856, S. 781–798 Keine Teil der vom 13. Januar 1822 bis zum 16. März 1823 gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am Sonntage Okuli 1823 am zweiten Lenzmonds. (Lied. 712; 710, 4 und 5) |

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Tex t. Philipper IV, 10–13 Ich bin aber höchlich erfreut in dem Herrn, daß ihr wieder wacker geworden seid für mich zu sorgen, wiewohl ihr allewege gesorgt habt, aber die Zeit hat’s nicht wollen leiden. Nicht sage ich das des Mangels halben; denn ich habe gelernt, bei welchem ich bin, mir genügen zu lassen; ich kann niedrig sein und kann hoch sein; ich bin in allen Dingen und bei allen geschickt, beides satt sein und hungern, beides übrig haben und Mangel leiden. Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus. Auf dasjenige, m. a. Fr., womit sich die verlesene Stelle anfängt, daß nämlich der Apostel sich freut, daß die Gemeine zu Philippi wieder Gelegenheit gehabt, ihn äußerlich zu versorgen, kommt er noch im Folgenden wieder zurück; wir wollen also heute mit unserer Betrachtung bei dem stehen bleiben, was er hernach sagt, er freue sich darüber nicht seines Mangels wegen; und dann sagt er weiter von sich, wie er geschickt sei, sowohl reich zu sein | als arm zu sein, sowohl satt zu sein als zu hungern; in allem, was einander so entgegengesetzt ist, sei er zu beiden geschickt. Wenn er nun hierin sich ein Lob beilegt, wie es scheint; so fährt er aber auch gleich weiter fort, er 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 712: „Ich hab genug, mein Herr ist Jesus Christ“ (Melodie von „Es ist genug, so nimm, Herr, meinen Geist“); Nr. 710: „Ich bin mit allem wohl zufrieden“ (Melodie von „Wer nur den lieben Gott läßt walten“)

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vermöge es nur durch den, der ihn mächtig mache, nämlich Christus. So laßt uns denn dies beides jetzt mit einander erwägen, einmal was der Apostel von sich rühmt, und dann wie er Christo die Ehre giebt und sagt, er sei es durch ihn geworden. 5

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I. Was das Erste betrifft, so sehen wir daraus, wie der Apostel der Meinung gewesen ist, es habe jeder von diesen beiden entgegengesetzten Zuständen seine eigene Vollkommenheit. Wenn nun seine Art und Weise gewesen wäre[,] des Überflusses, wenn ihm dieser begegnete, sich sogleich ganz zu entschlagen: so hätte er das nicht sagen können, was er von sich rühmt; denn dann hätte er nur die eine Vollkommenheit, nämlich Mangel haben und Widerwärtigkeiten ertragen, aufweisen | können, die andere aber nicht. Wir sehen also, seine Meinung ist gewesen, diese verschiedenen und gewissermaßen entgegengesetzten Zustände in der Ordnung zu lassen, in welcher sie Gott unter den Menschen vertheilt, aber in einem jeden die Vollkommenheit zu beweisen, die demselben angemessen ist. Worin diese nun besteht, m. g. Fr., darüber werden wir in unserm innersten Gefühl sehr mit einander einig sein. Bei dem Wechsel der menschlichen Zustände, den wir oft vor uns sehen, und bei der großen Verschiedenheit, die in jedem Augenblick zwischen dem einen und dem andern Statt findet, wird es uns leicht, sowohl unter denen, welche Mangel haben, als unter denen, welchen Gott Überfluß zugetheilt hat, solche zu unterscheiden, die sich darin würdig und geschickt zeigen, und wiederum solche, bei denen dies nicht der Fall ist. Es giebt nämlich ein würdiges Betragen im Mangel und in der Niedrigkeit, welches allemal einen erfreulichen und herzerhebenden Eindruck auf uns macht; aber es giebt auch ein solches, das gleichsam das brüderliche Mitgefühl, welches sich in uns | regt und auch regen soll, doch wieder verschließt. Und eben so giebt es im Glücke, im Überfluß und was ihm angehört, ein solches Betragen, das einen jeden mit aufrichtiger Freude erfüllt, so daß er zu sich selbst sagt, hier sind einmal die äußern Gaben Gottes an den rechten Mann gekommen, und es wird alles daraus hervorgehen, was Gott der Herr mit denselben beabsichtigt; und dagegen giebt es ein anderes, wobei der Mensch dasjenige, was Gott in seine Hand gegeben hat, so gar nicht zu gebrauchen versteht. Aber diese Vollkommenheiten des christlichen Lebens, jede an und für sich ist schon schwer zu erreichen. Der Apostel rühmt sich, daß er sie beide die entgegengesetztesten in seiner Gewalt habe. Wären nun die menschlichen Angelegenheiten in dieser Welt in einem ruhigen und festen Gange, so daß jeder wüßte, er werde auf dem Punkte bleiben, wohin Gott ihn stellt, sobald nur sein selbstständiges Leben anfängt: so hätte jeder nur nöthig sich um die eine Vollkommenheit zu bewerben. Aber wir wissen es, daß ein solcher ruhiger Zustand in der Welt selten ist und sich immer mehr zu vermindern scheint; | und das ist natürlich; denn je

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mehr sich die Gemeinschaft der Menschen erweitert, desto mehr gewinnt der Zustand des einen Einfluß auf den andern, desto mannigfaltiger werden die Verwicklungen des Lebens, wodurch sich nicht selten der Zustand umkehrt, und es nimmt die Gewalt dessen, was wir Zufall nennen so zu, daß keiner sicher ist aus dem einen entgegengesetzten Zustand in den andern zu kommen, und zwar von beiden Seiten; eben so leicht ist es aus Mangel und Widerwärtigkeit in Überfluß und Glück hinüberzugehen, als wiederum aus Reichthum und Glanz in Armuth und Noth. Sind wir nun in einen solchen Zustand der menschlichen Dinge gestellt, so thut es uns allerdings Noth, uns den Ruhm zu erwerben, dessen sich der Apostel bei sich selbst bewußt war, und den er sich in seinem Briefe an die Gemeine zu Philippi beilegt, nämlich den Ruhm zu beiden gleich geschickt zu sein. Freilich bei dem Apostel hatte die Leichtigkeit, mit welcher sein Zustand in dieser Hinsicht wechselte – denn er hätte sich jenen Ruhm nicht beilegen können, wenn er nicht die Erfahrung davon gemacht hätte – eine andere Ursache als bei uns. Bei ihm kam | alles darauf an, wie die Menschen das Evangelium, welches er ihnen verkündigte, aufnahmen; mit andern Kämpfen irdischer Art konnte er sich nicht mehr befassen. Wenn ihn nun die Fügungen Gottes und der Drang des Geistes in dem Werke, wozu er sich berufen sah, unter solche Menschen führte, mit denen er sich lange Mühe gab, um sie auf den Weg des Heils zu leiten, und bei denen das Evangelium doch keinen Eingang fand: da konnte es wohl nicht fehlen an mancherlei Beschwerden und Widerwärtigkeiten; und so war Mangel und Noth natürlich. Wurde dagegen irgendwo das Evangelium mit Freuden aufgenommen, so regte sich das Gefühl der Dankbarkeit in dem Herzen derer, die sich nun aus der Finsterniß in das Licht gerettet wußten, und sie wetteiferten unter einander in dem Bestreben, von ihrer irdischen Haabe demjenigen mitzutheilen, dem sie des Geistigen so viel zu verdanken hatten; und so konnte er sich in einem Zustande des Wohlbefindens und des Überflusses sehen. So nun ist es nicht bei uns, sondern da hängen die Wechsel des Lebens von den Veränderungen ab, denen die ver|schiedenen menschlichen Geschäfte unterworfen sind. Wenn wir nun hier unsern Zustand mit dem des Apostels vergleichen, und uns dabei in den Standtpunkt des gläubigen Christen stellen, was werden wir antworten auf die Frage, warum es leicht sei sich die entgegengesetzten Vollkommenheiten des christlichen Lebens und der innern Gemüthszustände zu erwerben, die der Apostel hier von sich rühmt? Wenn nun bei ihm diese bedeutenden Gemüthszustände abhingen von dem Maaße des Gelingens dessen, was sein Beruf war, bei uns aber mehr von der Art, wie wir in die menschlichen Dinge verwickelt sind, und wie sich dieselben gegen uns stellen: so ist der Unterschied nicht zu verkennen. 2 den] des 7 hinüberzugehen] hinübergehen Ursache war bei ihm anders

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Aber zu sagen, was das Leichtere und was das Schwerere sei, das ist wohl nicht so leicht. Denn auf der einen Seite könnte man sagen, dem Apostel mußte es leicht sein, diese entgegengesetzten Vollkommenheiten sich zu erwerben und zu bewahren, weil er mit seinem ganzen Streben ungetheilt auf das Geistige, auf die Förderung des Reiches Gottes gerichtet war, | und sein Zustand kein so feststehender, daß es ihm hätte obgelegen, daran zu denken, wie es ihm in der Zukunft gehen werde. Aber wir wollen es auch gestehen, es hat etwas Leichtes, wenn diese äußern Verhältnisse und die innern Beziehungen der Menschen mehr aus einander gehalten sind. Denn wenn dem Apostel die Verkündigung des Evangeliums nicht gelang, wenn ihm in seinen Bemühungen Hindernisse in den Weg gelegt wurden: so war überall sein Gemüth schon niedergeschlagen und in einem bekümmerten Zustand; und nun sollte er noch den äußern Mangel und die äußern Widerwärtigkeiten, die ihm entgegentraten, mit Leichtigkeit und Würde ertragen, das mußte allerdings schwer erscheinen. Dagegen wir, indem unsere äußern Verhältnisse, die uns einen solchen Wechsel des Mangels und des Überflusses zuführen, getrennt sind von dem innern Gange unseres Gemüths, von unserem Fortschritt im Guten und in der Heiligung: so können wir sagen, ist das Innere des Menschen ruhig und fest gegründet, so liegt darin das, was ihn in den Stand setzt, die äußern Verhältnisse | mit Würdigkeit zu leiten, und jeden äußern Zustand mit Leichtigkeit zu ertragen. So, m. g. Fr., ist es oft und immer im menschlichen Leben. Wir sind geneigt, wenn wir uns mit andern vergleichen und sehen, daß sie weiter fortgeschritten sind in der Reinigung des Herzens und in der Heiligung des innern Lebens als wir, uns zu entschuldigen mit unsern äußeren Verhältnissen, und unter denselben das eine anzusehen als fördernd das Gute, das andere als hemmend. Aber das ist nicht das Wahre, sondern der Trieb sich selbst zu entschuldigen, die Neigung den andern leichter und glücklicher zu preisen in seinen Verhältnissen als uns selbst. Wollen wir aber der Wahrheit auf den Grund gehen, so werden wir darauf kommen, daß immer das Wenigste in diesen äußern Verhältnissen zu suchen ist, daß die Kraft derselben das Gute zu fördern oder zu hemmen gering ist, sondern aus andern Quellen kommt, und daß wenn der eine Zustand uns etwas erleichtert im Streben nach dem Guten, es in dem andern wieder vieles giebt; was uns dieses Streben erschwert, und daß der eine so wirkt, der andere so, | wenn nicht etwas anderes in uns ist, was das Gleichgewicht herstellt. Wenn wir nun jeder in seinem Maaße das gestehen müssen, daß uns allen Noth thut, wie der Apostel, nach beiden Seiten hin geschickt und gerüstet zu sein: so bietet uns diese Aufgabe, wenn wir sie uns recht vor Augen stellen, eine eigne Schwierigkeit dar. Der Herr sagt: „Sorget nicht für den andern Morgen, denn 8 Leichtes] Lichtes 40–2 Mt 6,34

24 Heiligung] Heilung

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der morgende Tag wird für das Seine sorgen; es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.“ Wir verstehen dies, wie es auch ursprünglich in dem Zusammenhange, in welchem der Herr es geredet hat, gemeint war, zunächst allerdings von diesem Äußern dem Wechsel Unterworfenen im menschlichen Leben, von diesem Gegensatz des Überflusses und des Mangels in der einen oder andern Beziehung; aber ist es nicht eben so wahr auf das Geistige angewendet? Jeder Tag hat, wir mögen nicht sagen seine Plage, aber doch seine Pflichten, jeder Tag fordert unsere Kräfte auf, den Willen Gottes in dem, was er uns bringt, mit der Kraft des göttlichen Geistes zu erfüllen; jeder Tag nimmt unsere Thätigkeit in Anspruch, daß wir überall wieder gut machen, wo wir gefehlt haben. Aber wenn | wir daran denken, wie wir heute in diese, morgen wieder in entgegengesetzte Verhältnisse kommen, wo eben der Wille Gottes nach allen äußern Verhältnissen eine andere Gestalt annimmt, und wir sollen für den morgenden Tag diese ganze Zukunft setzen: so scheint es uns zu groß, und wir mögen auch darauf das Wort des Erlösers anwenden: „es ist genug, daß jeder Tag seine eigenen Pflichten habe, laßt jeden für das Seine sorgen“. Wenn es schon schwer ist, im Mangel sowohl als im Überfluß sich auf eine gottgefällige Weise zu betragen, und in beiden die Würde des Christen darzustellen: wie selten und viel schwerer würde es sein auf das Reich Gottes bezogen! und darauf wendet der Erlöser seine Rede an. So wäre es, wenn nicht eben dies dazwischen träte, was der Apostel sagt, und worauf wir nun als auf den Schluß seiner Rede unsere Aufmerksamkeit richten wollen: „ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus.“ II. Wenn es etwas anderes wäre, wodurch wir geschickt sind, in den nachtheiligen äußern Verhältnissen | unseres Lebens uns des Erlösers würdig zu zeigen, und wieder etwas anderes, wodurch wir geschickt sind, die vortheilhaften Verhältnisse gut zu benutzen: so wäre es eine zu große Aufgabe; aber wir vermögen beides nur durch Einen, durch Einen, der uns zu allem mächtig macht, Christus. – So laßt uns denn sehen, wie der Apostel dies gemeint hat. So wie im Allgemeinen, wenn von der höhern Würde und göttlichen Kraft des Erlösers die Rede ist, von dem Antheil, den er als der Sohn an dem ewigen Werk des Vaters hat, beides mit einander verbunden ist, und die Schrift sagt: es sind alle Dinge durch ihn geworden, und es sind alle Dinge zu ihm gemacht: so auch hier; es ist ein Zwiefaches verbunden, welches Christus in uns wirkt, und uns mächtig macht dasjenige zu thun, was zur Förderung seines Reiches gehört, und was allein unsere Seligkeit bewirken kann. Das Eine besteht darin, daß alles, was in uns Gutes und ihm Wohlgefälliges ist, auf ihn zurückgeht, daß alles auf das Ziel gerichtet wird, 16–17 Vgl. Mt 6,34

35–36 Vgl. Röm 11,36

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welches er uns gesteckt hat, indem er uns vorhält das Reich Gottes, | zu welchem er uns berufen hat, und den Antheil, den wir an demselben haben, so wie den Dienst, den wir darin leisten sollen, wenn wir dies immer im Auge haben, und darauf als auf das höchste Ziel unseres Lebens alle unsere Bestrebungen zurückführen: so entsteht dadurch, sobald sich nur einige Erfahrungen in dem Gemüthe des Menschen gebildet haben, in Beziehung auf die äußern Dinge des Lebens jene Gleichgiltigkeit, daß wir von den Leiden und Freuden dieser Welt, insofern sie irdisch sind, und nur unser leibliches Dasein berühren, daß wir davon sagen müssen, sie seien nicht der rechte Beweis von der Herrlichkeit der Kinder Gottes, so daß sie etwa das ewige Leben nicht erst zu suchen brauchten, sondern schon hätten. Diese Gleichgiltigkeit ist der Grund zu allem würdigen christlichen Betragen im Überfluß und im Mangel, im Reichthum und in der Armuth, im Wohlergehen und unter Schmerzen, beim Wohlwollen und bei der Verachtung der Menschen, und wie sonst diese Gegensätze heißen mögen. Aber freilich das Wahre auch in dieser Hinsicht besteht nicht darin, das Irdische und Vergängliche | gering zu achten gegen das Himmlische und Ewige, und sich gegen jenes zu verschließen; sondern darin, daß wir in dem Einen wie in dem Andern ein Mittel der göttlichen Gnade erkennen, die Kraft der Wahrheit und die Gottseligkeit in uns immer mehr zu befestigen, und in beiden auf das sehen, was sich mit dem Reiche Gottes, woran wir arbeiten sollen, in Verbindung setzen läßt. Nun giebt es keinen Zustand, in welchem der Mensch, dessen Streben darauf gerichtet ist dem Herrn zu dienen mit allen ihm verliehenen Kräften, dies nicht vermöchte. Und zwar besteht dies darin, daß der Mensch durch sein ganzes Leben in allen Verhältnissen an den Tag legt, daß Christus in ihm mächtig ist. Unter günstigen Umständen in Freude, Reichthum und Überfluß zeigt sich dies darin, wenn wir alle Hilfsmittel, die Gott uns an die Hand gegeben hat, nur darauf richten und auf dasjenige anwenden, was zur Förderung des Reiches Gottes gereichen kann, unter ungünstigen Umständen im Mangel und in der Dürftigkeit giebt es sich dadurch kund, daß wir zeigen, wie es keinen irdischen Zustand | giebt, der uns hindern könnte in der Erfüllung der Pflichten, die Gott der Herr uns aufgelegt, und in dem Genusse des Guten, welches er uns gegeben hat. Je mehr dieser innere und höchste Genuß[,] das Leben Christi in uns[,] ein unwandelbares Gut ist, welches wir niemals unterlassen als ein Geschenk seiner Gnade anzusehen, desto mehr werden wir im Stande sein in allen Freuden und Leiden, im Reichthum und im Mangel, und überhaupt in den entgegengesetzten Zuständen, denen unser irdisches Leben unterworfen ist, diese innere Herrlichkeit der Seele hervorstrahlen zu lassen, und sie auf eine natürliche Weise mit jedem äußern Zustande zu verbinden. Daraus entsteht dann dies, was einen gleich hohen Werth hat, daß wir beides Glück und Unglück, Freuden und Leiden, Überfluß und Mangel rich-

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tig von einander sondern, und jedem sein Recht wiederfahren lassen, weil jedes auf seine Weise in das Reich Gottes eingreift, weil jedes uns eine eigene Stelle für unsere Wirksamkeit in demselben anweist, und uns ein eigenes Betragen zur Pflicht macht. Das Zweite aber ist dies, daß | wirklich jede geistige Kraft uns durch Christum kommt, wie sie auf ihn hinführt, und durch beides ist es Christus, der uns mächtig macht zu allem. Das, m. g. Fr., ist eine Betrachtung, die sich ganz vorzüglich auch für die Zeit schickt, in der wir jetzt leben; wir sollen jetzt besonders den leidenden Erlöser vor Augen und im Gedächtniß haben. Wenn wir nun diese letzte Zeit mit seinem öffentlichen Leben, so viel wir davon wissen, vergleichen, so müssen wir sagen: auch der Herr hat in seinem Leben Gelegenheit gehabt zu thun, was der Apostel hier sagt. Im Ganzen bezeichnet er selbst, der Erlöser, dies durch die Worte: „daß des Menschen Sohn nichts habe, wohin er sein Haupt lege.“ Freilich ist damit nicht etwa ein dürftiger Zustand, in welchem er gelebt, sondern nur das Unstäte und Unsichere seines irdischen Lebens bezeichnet. Aber wir sehen ihn selbst durch alle widrigen Verhältnisse mit Freiheit, mit Ruhe und Freudigkeit des Gemüthes gehen, wir sehen ihn, voll des innigsten Wohlwollens gegen die Menschen, Dürftigkeit und Elend nicht achten. Und sehen wir ihn nur in seinem Leiden, und betrachten, wie in diesem die Fülle der Gottheit, | die in ihm wohnte, zum Vorschein kommt, aber betrachten dies auf menschliche Weise: so müssen wir gestehen, beides geht auf das innigste zusammen. Stellte uns der Erlöser nicht die rein geistige Vollkommenheit dar in dem richtigen Gebrauche der verschiedenen Zustände, denen er unterworfen war, so würde er nicht im Stande gewesen sein in seinem Leiden die ewige Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, zu offenbaren, und er würde dann allen denen, die ihm nachfolgen, und in seiner Nachfolge ihr Kreuz auf sich nehmen sollen, ein unfruchtbares Vorbild gewesen sein. Dies aber, m. g. F., ist etwas, was wir niemals aus den Augen verlieren dürfen; der Erlöser ist uns allen zum Vorbilde gegeben, daß wir nachfolgen sollen seinen Fußstapfen. Nun freilich seine ersten Jünger, die ersten Verkündiger des Evangeliums, hatten offenbar viel mehr zu tragen von dem Kreuze des Herrn als wir, und die Ähnlichkeit und die Gemeinschaft seiner Leiden war in ihnen viel stärker als in uns. Und je weiter das Reich Gottes auf Erden sich ausbreitet, und je mehr es be|festiget wird, je weniger Anstrengungen nöthig sind um es in diesem Zustande zu erhalten nicht nur, sondern auch weiter fortzupflanzen über diejenigen, die noch in dem Schatten des Todes sitzen, desto mehr scheint es muß die Gemeinschaft der Leiden Christi aufhören. Und freilich, wenn erst die Zeit da wäre, wo keiner einen andern Ruhm hätte als den in Christo, 13–14 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

20.25–26 Vgl. Kol 2,9

29–30 Vgl. 1Petr 2,21

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und kein anderes Bestreben unter den Menschen sichtbar würde als welches sich auf seine Verherrlichung bezieht: so wäre es nicht möglich, daß noch um Christi willen Leiden über die Gläubigen kämen. Aber demohnerachtet und ohne darauf zu sehen, wie weit immer noch die Menschen überhaupt von jenem Ziele noch entfernt sind: so müssen wir sagen, wenn wir auch allein an jene Zeit denken, wo alle Leiden um Christi willen ihr Ende werden erreicht haben, wir müssen sagen, der Erlöser, und zwar der leidende Erlöser, ist und bleibt unser einziges, heiliges Vorbild, und das Bestreben ihm ähnlich zu werden darf nie getrennt werden von dem Gedächtniß seiner Leiden, das, was er für uns gethan hat, muß immer | mitgeschaut werden in dem Lichte dessen, was er für uns gelitten hat. Nämlich deshalb nicht, weil sich darin für uns auf das deutlichste und unmittelbarste die Herrschaft des Geistigen über das Irdische ausspricht. Denn freilich auch in dem Zustande des Überflusses und des Wohlbefindens tritt uns diese Herrschaft entgegen in allen denen, die den Namen Christi bekennen; aber keiner wird läugnen, einen größeren Reiz das Leiden Christi fortwährend zu betrachten, eine größere Macht uns in der Heiligung immer mehr zu befestigen hat doch der Zustand derer, die unter den Schmerzen und Leiden des Lebens den Erlöser dadurch verherrlichen, daß sie seinem Vorbilde nachfolgen. Allein es giebt noch eine Beziehung in der es der leidende Christus ist, der in uns mächtig ist, und dem wir es verdanken, daß wir alles vermögen. Denn auf der einen Seite sagt uns die Schrift selbst, daß die Liebe Gottes sich am meisten dadurch verherrlicht hat, daß er seinen Sohn für uns in den Tod gegeben, da wir noch Sünder und seine Feinde waren. Wenn das Werk der Erlösung hätte | vollendet werden mögen ohne Leiden, und so, daß der Erlöser nur Gelegenheit gehabt hätte in dem Zustande des Überflusses und der äußern irdischen Glückseligkeit die in ihm wohnende Fülle der Gottheit zu offenbaren: so würde auch die Liebe Gottes nicht auf eine solche Weise sich unserem Herzen einprägen als jetzt, wo derjenige, der sich zur Herrlichkeit erhoben hat, nur durch die Leiden des Todes konnte vollendet werden und in seine Herrlichkeit eingehen. Aber so wie sich darin die Liebe Gottes uns auf eine besondere Weise verherrlicht, und es das Leiden des Erlösers ist, durch dessen richtige und demüthige Betrachtung wir am tiefsten ergriffen werden von der Kraft der göttlichen Liebe: so müssen wir sagen, daß, unabhängig von unserer Ähnlichkeit mit dem Zustande des Erlösers, unabhängig von der Möglichkeit sein Leiden zu ergänzen, das Bild des leidenden Erlösers für sich betrachtet eine vorzügliche Kraft hat, uns in Beziehung auf das Irdische in den Zustand zu verset17 Macht uns] Macht in uns 22–24 Vgl. Röm 5,8.10

27–28 Vgl. Kol 2,9

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zen, der dem Christen geziemt. Denn einmal | ist nichts tröstlicher als dies, bei dem Wechsel aller irdischen Dinge zu wissen, daß irgendwo in dem Zustande, der äußerlich betrachtet der am wenigsten wünschenswerthe ist, sich auf der andern Seite das Geistige und Göttliche auf eine ausgezeichnete Weise offenbart hat. Wie leicht dieses auf der einen Seite zu allerlei Abwegen und Verirrungen geführt hat, das liegt zu Tage. Denn wenn wir in menschlichen Dingen das Leiden suchen, und uns freuen, wenn es kommt, und darin eine Ähnlichkeit mit dem Leiden Christi zu finden meinen: so ist das eine Verirrung, die besonders in den ersten Zeiten der Kirche Statt gefunden hat. Wenn man ferner meint durch freiwillig übernommene Leiden dasselbe zu bewirken, so ist dies eine andere Verirrung, die spätern Zeiten der Kirche eigen gewesen ist, gegen die aber der Apostel auch redet, indem er sein eigenes Wohlbefinden mit Freuden darstellt. Aber abgesehen von diesen Verirrungen, vor denen der Geist Gottes alle diejenigen bewahren wird, die in wahrer Demuth auf das Kreuz des | Herrn hinblicken, und denen es in allen Verhältnissen des Lebens darum zu thun ist, ihn zu verherrlichen, aber abgesehen davon, so ist ja in jedem Jahre, wo wir in dieser Zeit auf den leidenden Erlöser zurückkommen, dafür gesorgt, dieses richtige Gleichgewicht in jedem Verhältnisse, die Erhebung über das Irdische auf gleiche Weise, wenn wir es besitzen oder wenn es uns fehlt, wenn es Freuden sind oder Leiden, die uns der Herr zutheilt, wenn unsere Lage angenehm ist, oder mit den irdischen Wünschen des Herzens nicht übereinstimmend, und die Kraft des Geistes, die sich auf die eine oder andere Weise eben so offenbart, aber uns in dem leidenden Erlöser auf eine freudige Weise vor Augen tritt, diese in uns hinüberzuführen, und das ist der eigentliche Sinn davon, was die Schrift sagt, daß wir nur durch die Gemeinschaft der Leiden Christi an seiner Herrlichkeit Theil haben können. Denn dies kann nicht so gemeint sein, daß wir eben so leiden, wie er; aber das innige Mitgefühl, das Sichversenken in sein Leiden, wie es ihm zugetheilt war in diesem Leben, wie sich die stille Ruhe seiner Seele und der Friede | Gottes darin erklärte, das ist es, wodurch wir an seiner Herrlichkeit Theil haben können. Das müssen wir in uns aufnehmen, daran müssen wir immer reicher werden und es in unserem Leben zeigen, dann werden wir in uns fühlen die Herrlichkeit Christi, die darin besteht, daß es ein und derselbe Geist ist, durch den wir den göttlichen Willen erfüllen, sowohl wenn er uns äußerlich segnet und wohlthut, als wenn er uns schlägt und demüthiget, dann werden wir fühlen, daß wir auf gleiche Weise unter Schmerzen und im Wohlbefinden, im Mangel und im Überfluß seinem Reiche leben und dafür wirken können. Und so möge uns denn dazu in dieser Zeit die 26–27 Vgl. Röm 8,17

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Betrachtung der Leiden des Erlösers gesegnet sein, und der immer mehr verherrlicht werden unter uns, durch den wir alles bewirken, wie durch ihn, so in ihm. Amen.

Am 9. März 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Lätare 1823 am neunten Lenzmonds. |

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Lätare, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 26,63–66 Nachschrift; SAr 103, S. 449–484; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 123r–123v; Gemberg Nachschrift; SAr 62, Bl. 6r–12r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Matth. XXVI, 63–66. Und der Hohepriester antwortete, und sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, daß du uns sagest, ob du seist Christus, der Sohn Gottes. Jesus sprach zu ihm: Du sagst es. Doch sage ich euch: Von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Da zerriß der Hohepriester seine Kleider, und sprach: Er hat Gott gelästert, was bedürfen wir weiter Zeugniß? Siehe, jetzt habt ihr seine Gotteslästerung gehört. Was dünkt euch? Sie antworteten, und sprachen: Er ist des Todes schuldig. M. a. F. Wir sind von Jugend an unterrichtet bei unserm Erlöser zu unterscheiden einen Zustand der Erniedrigung, und einen Stand der Erhöhung. Das ist auch unserer menschlichen Schwachheit angemessen; denn auf | welchen Theil seines Lebens und seines Wirkens wir unser Augenmerk richten mögen, es hat immer darin, auf den ersten Anblick wenigstens, das eine oder das andere von beiden für uns die Oberhand. Allein je mehr wir uns in die Stelle des Erlösers selbst zu versetzen vermögen, je genauer wir darauf achten, wie er selbst dasjenige empfand, was ihm begegnete, und wenn wir uns denken, wie noch jetzt er als unser Erlöser gegen uns gesinnt ist: so können wir dann nicht umhin, immer beides auf das genaueste mit einander verbunden zu denken. Was erscheint uns als die größte Erhöhung des Herrn, wenn es nicht das ist, wovon er in den verlesenen Worten redet, 2 neunten] zweiten

10 bedürfen] dürfen

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daß des Menschen Sohn sitzen werde zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels? So ist er jetzt unser erhöhter Erlöser, derjenige, der uns vertritt bei dem Vater. Wenn wir aber denken, was vertritt er denn? Was ist es anders als die Schwachheit und die Sündhaftigkeit seiner Gläubigen. Um sie zu vertreten, muß er sie fühlen, und indem er diese mitfühlt, so erscheint | er uns wieder mitten in seiner Erhöhung theilnehmend an der Erniedrigung der menschlichen Natur. So sind wir gewohnt sein Leiden vorzüglich anzusehen als den tiefsten Punkt seiner Erniedrigung. Wenn wir den, der der Herr ist über alles, sehen in der Gewalt roher, frevelhafter von Gott abgewendeter Menschen: welch ein Zustand tieferer Erniedrigung ließe sich wohl denken? Aber sehen wir auf den Herrn selbst, wie er sein Leiden weniger trägt, als vielmehr, wie er sich in demselben zeigt, und sich selbst verkündiget: so erscheint uns, wie ja auch die Worte unseres Textes es uns deutlich genug sagen, mitten in seinem Leiden zugleich seine Erhöhung. Dieses zeigt sich nun auch ganz besonders in dem Theile seines Leidens, den uns der verlesene Abschnitt der Leidesgeschichte darstellt, nämlich in dem Bekenntniß, welches der Herr vor dem Hohenpriester und dem Hohenrath ablegt von sich selbst. Laßt es uns, m. g. Fr., nach Anleitung unseres Textes aus diesem doppelten Gesichtspunkte betrachten. I. Zuerst insofern als dieses Bekenntniß unstreitig | die Ursache war seines Todes. – Dies ergibt sich nämlich nicht nur aus dem, was wir eben gehört haben, sondern aus dem ganzen Erfolg der Geschichte. In unserem Text sagt der Hohepriester, nachdem der Herr dieses Bekenntniß abgelegt hat, „ihr habt selbst seine Gotteslästerung gehört, was bedürfen wir nun noch anderes Zeugniß?“ und einmüthig sagten sie: „Er ist des Todes schuldig.“ Und als sie dem Pilatus angeben sollten die Ursache, weshalb sie ihn zum Tode verurtheilt hätten, so war dies das erste, was sie sagten: er habe sich selbst zu Gott gemacht. Das konnte auch dem Erlöser nicht entgehen, dem schon seit langer Zeit auch in seinem menschlichen Bewußtsein dasjenige, was ihm bevorstand, klar gewesen war. Schon ehe er zum letzten Male in die heilige Stadt einzog, sagte er zu den Seinigen: „Wir gehen jetzt hinauf nach Jerusalem, und des Menschen Sohn wird viel leiden müssen, und wird von den Juden überantwortet werden den Heiden, und gegeißelt und gekreuziget.“ Dessen also mußte er sich selbst bewußt sein, als er auf die Frage des Hohenpriesters: Bist du der Sohn Gottes? Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sage es uns, das Entscheidende: | „Ja, du sagst es“, antwortete. Und wenn wir nun dies überlegen, wie das Leben des Erlösers, diese von ihm selbst menschlicher Weise so innig gewünschte längere Fort27–29 Vgl. Joh 19,6–7

32–35 Vgl. Mt 20,18–19; Mk 10,33–34; Lk 18,31–33

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dauer seiner Wirksamkeit unter den Seinigen, wie dieses abhing von dem Urtheil derer, vor welchen er jetzt stand, und welche, wie er selbst so oft bezeugt hatte, wie unser Gefühl es uns sagt, und wie auch die Handlungsweise, die sie in diesem Augenblick beobachteten, so deutlich verräth, so wenig geneigt waren über ihn, den Gesandten Gottes und den Sohn des Hochgelobten, ein Urtheil zu fällen; wenn wir bedenken, wie dieses Urtheil ihn überlieferte in die Hände der Heiden, der Verfinsterten, die nicht einmal eine wenig angemessene menschliche Vorstellung von dem hatten, der sein und unser Vater im Himmel ist; wenn wir bedenken, wie dies ihn nun willkürlichen und frevelhaften Kränkungen und Qualen aller Art aussetzte, ehe er von diesem irdischen Leben schied: so können wir nicht leugnen, das war für den, der er war, die tiefste Erniedrigung, die wir uns denken können. | Aber hat der Erlöser sie so gefühlt? Wir sehen davon, m. g. Fr., in der Erzählung unseres Textes auch nicht die leiseste Spur, vielmehr unmittelbar, nachdem er ausgesprochen hat, „du sagst es, ich bin es“ fährt er fort: Nun aber sage ich euch auch noch dies: „von nun an wird es geschehen, daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechen der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels.“ An den Worten des Erlösers ziemt es uns nicht menschlicher Weise zu klügeln und zu deuten, nicht daß es eine weite Ferne war, die er im Auge hatte, und die sich ihm so unmittelbar vergegenwärtigte; nein, wie er es sagte, so war es; von nun an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft. Und so giebt er uns ja hier deutlich genug zu erkennen, daß dies für ihn zu gleicher Zeit der Augenblick seiner höchsten Erhöhung war, daß diese in ihrer ganzen Wirksamkeit gleichsam mit diesem Augenblick anfing. Und gewiß, m. g. Fr., dürfen wir nur die Worte des Herrn näher überlegen, und uns den ganzen Zusammenhang vergegenwärtigen, um auch davon überzeugt und in unserem eigenen Gefühl eben so ge|stimmt zu werden. Denn, m. g. Fr., das Bekenntniß, welches der Herr von sich ablegte, das war die letzte eigentliche That in seinem öffentlichen Leben; was nun noch folgte, das war eben deswegen, weil es sein Leiden war, nicht seine That, sondern die That derer, die es über ihn verhängten; er aber knüpft in seinem Bewußtsein an diese seine letzte That; an dieses öffentliche und feierliche Zeugniß, welches er ablegt von seiner Würde als Sohn Gottes und Erlöser der Menschen, daran knüpft er unmittelbar den Lohn, der ihm für alle seine Thaten werden sollte. Indem nun seine irdische Wirksamkeit zu Ende war, so sah er sich dem Himmel wiedergegeben, von welchem er herabgekommen war; indem sein irdisches Werk hier schon, was ihn selbst betrifft, vollendet war: so sah er nun von diesem Augenblick an das Himmlische beginnen; was er gesagt hatte und hernach wiederholte, ihm sei gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, das, sagt er, fange mit diesem Augenblick eigentlich an, nun sei er erhöht zur Rechten der Kraft, nun komme | er nicht mehr um von Mund 40–41 Vgl. Mt 28,18

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zu Ohr, von Augenblick zu Augenblick einzeln auf die Menschen zu wirken; sondern er komme in den Wolken des Himmels mit der erhöhten, göttlichen Kraft, die sein Eigenthum war. So konnte es also nicht anders sein; dieser Augenblick war für ihn zugleich der Anfang seiner eigentlichen Erhöhung. Seine Erniedrigung, nämlich sein menschliches Thun und Wirken, das war jetzt schon geschlossen mit seiner letzten That, und indem jetzt für uns und unser Gefühl sein eigentliches Leiden angeht, so will er uns durch die Worte, welche er da sprach, über das Gefühl desselben erheben, und begehrt nicht, daß wir das, was er litt von dem Frevel der Menschen, was er litt von eigentlichen Schmerzen, was er litt von dem Gefühl des verminderten irdischen Lebens, das wir dies als etwas besonderes zu seiner Erniedrigung Gehörendes ansehen. Seine Erniedrigung war nur dies, daß das Wort Fleisch ward, daß das Ebenbild Gottes und der Abglanz seiner Herrlichkeit in menschlicher Gestalt erschien, und auf der dunkeln Erde wandelte; alles äußere Leiden war | davon und von seinem großen die Menschen beseligenden Beruf nur die unmittelbare Folge, die ihn selbst nicht weiter auf eine besondere Weise berührte. So ist es also, m. g. F., bleiben wir bei jenem Unterschiede stehen, der sich so von selbst und ohne alle Absicht und Künstelei den Gemüthern der Christen eingeprägt hat zwischen der Erniedrigung des Herrn, und zwischen seiner Erhöhung: wie wollen wir beides anders festhalten, als indem wir nur sagen: zu seiner Erniedrigung gehöre überhaupt sein Antheil an dem Vergänglichen und Irdischen dieses Lebens, zu seiner Erhöhung aber alles, was uns ein Zeugniß giebt von der Fülle der Gottheit, die in ihm war. Wo sich die verkündigt, da ist der erhöhte Erlöser, wo die zu uns spricht, da sehen wir ihn schon sitzen zur Rechten der Kraft, wo die uns anweht, da kommt er selbst in den Wolken des Himmels. Und, m. g. F., diese Fülle der Gottheit, die sehen wir und nehmen sie wahr in dem Zeugniß, welches er hier von sich selbst ablegt um so stärker und gewisser eben deswegen, weil es für ihn die | Ursache des Todes wurde. Damit wir dieses um desto deutlicher einsehen möchten, so ward er uns auch in so fern gleich, daß er mit uns theilte bei dem Gefühl der Annäherung seines Todes den menschlichen Wunsch, in so fern es der Wille Gottes wäre, seine Wirksamkeit auf Erden noch länger fortsetzten zu können. Dieses Zeugniß legt er ab von sich in jenem Gebet, welches er sprach im Garten: „Ist es aber möglich, Vater, so gehe dieser Kelch von mir.“ Wir sehen also, auch ihm war ein längeres Leben und die liebende heiligende Wirksamkeit auf diejenigen, die der Vater ihm gegeben hatte, ein reiner Wunsch seines menschlichen Herzens, nämlich in der kindlichen Ergebenheit des Sohnes unterthan dem Willen des Vaters. Um desto sicherer also können wir auch alles, was menschlich ist in der Nähe des Todes, auf ihn anwenden, in so fern es nicht befleckt ist von der Sünde. Und da müssen wir wohl 12–13 Vgl. Joh 1,14; Hebr 1,3

35 Vgl. Mt 26,39; Lk 22,42

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sagen, m. g. Fr., daß er so ohne im geringsten in seiner Seele schwankend oder auf eine äußerliche Weise bewegt zu sein, in | einem so feierlichen Augenblick, wie dieser war, in dem unmittelbaren Anblick des Gerichtes, welches über ihn gesetzt war, mit einer solchen Sicherheit, mit einer solchen Ruhe, mit einer solchen unmittelbaren Verknüpfung des Geistigen und Himmlischen mit der irdischen Gewalt, daß er so dieses Zeugniß von sich ablegen konnte: „Du sagest es, ich bin es; doch sage ich euch, von nun an werdet ihr sehen des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels“: das ist die Fülle der Gottheit in ihm. Mancher, m. g. F., hat mit rein menschlicher Kraft nicht nur gestärkt durch den Geist Gottes, der in der Kirche des Herrn ruht, sondern auch mehr außerhalb derselben, rein auf dasjenige beschränkt, was in der menschlichen Natur an und für sich selbst liegt, ein Bekenntniß davon abgelegt, was seiner Seele Wahrheit war, ohne bewegt zu werden durch dasjenige, was irgend daraus erfolgen könnte. Aber wenn wir uns darin wohl denken können dem Erlöser auf eine gewisse Weise ähnlich, wenn wir fühlen, | es ist Ein Ziel, nach welchem wir alle streben müssen, und uns gestehen, daß, wenn es auch nicht von uns gefordert wird, es uns dennoch gebührt so zu sein, daß jeder von uns es leisten kann, eben so und bei jeder That ein ähnliches Bekenntniß abzulegen, nicht von uns, sondern von ihm, in welchem wir leben und weben: o wir können doch in unserem eigenen Bewußtsein [den Unterschied] zwischen unserem, zwischen jedem menschlichen ähnlich scheinenden Zustand und dem des Erlösers nicht verkennen. Was in jedem andern ein Augenblick erhöhter Begeisterung wäre, den er ansehen muß als einen Beweis der göttlichen Gnade, oder als eine vorzügliche Begünstigung der Natur, wo von ihm gefordert werden kann, was er leisten muß, um nicht seiner selbst unwürdig zu sein: das war in dem Erlöser nichts anderes als sein sich selbst immer gleiches Leben. Was bei jedem andern wäre eine durch Übung, durch Nachdenken, durch manchen Kampf, nach manchem Straucheln, nach manchem Fallen und Wiederaufstehen erworbene Stärke der Seele: das war bei dem Erlöser die reine in jedem Augenblick eben so wahre als nothwendige | Wirkung des göttlichen Wesens in ihm. Darum, m. g. F., war auch dieses Bekenntniß mit Recht seine letzte That; nun bedurfte es keines Wunders weiter, um die Menschen aufmerksam darauf zu machen, ob er nicht wäre der Verheißene, der da kommen sollte, der Sohn des Hochgelobten, nun bedurfte es nicht weiter jener Reden voll kräftiger Salbung und Weisheit, wodurch er den Menschen den Schlüssel zum Himmelreich übergab; in diesem Zeugnisse, so wie er es ablegte, war seine göttliche Würde für jedes unverderbte Gemüth auf’s unumstößlichste ausgesprochen und dargelegt. Aber doch, m. g. F. mögen wir sagen, auch wir, die wir nicht immer so sind, und nimmer so werden, aber 7 es;] es;“

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doch gelangen können allmählig zu einer Ähnlichkeit mit dem Erlöser, auch in dieser Hinsicht doch mögen auch wir sagen: o es ist ein köstliches Ding damit, daß das Herz fest werde. Diese unumstößliche Gewißheit, die der Erlöser verdankte der Fülle der Gottheit, die in ihm war, das klare alle irdische Schranken durchbrechende Bewußtsein, mit welchem er sich | immer bewußt war der Herrlichkeit, die er bei dem Vater gehabt hat, ehe denn der Welt Grund gelegt war, diesem verdankte er die unerschütterliche Festigkeit, mit welcher er auch in diesem Augenblick das aussprach: „Du sagst es; ich bin es.“ Unser Glaube, m. g. F., ist sein Werk; er fängt an in dem menschlichen Herzen klein wie ein Senfkorn, durch seine befruchtende Kraft, durch den himmlischen Thau, und durch den himmlischen Regen und Sonnenschein, den er wirft von oben herab auf die Schaar der Gläubigen, kann er wachsen zu einem großen, fruchtbaren, weitumher Schatten und Kühlung und Labung verbreitenden Baum, gewurzelt in der Tiefe, mächtig emporstrebend in die Höhe. O es ist ein köstlich Ding, daß der Glaube so gedeihe und das Herz so befestiget werde, damit auch wir, wenn irgend ein Augenblick kommt, wo wir ein Zeugniß abzulegen haben von dem Herrn, es eben so gut thun mögen, wie er es gethan hat nach dem Maaße, wie unsere menschliche Schwachheit gekleidet werden kann in die Ähnlichkeit mit seiner göttlichen Kraft. Wenn dann, m. th. Fr., auch über uns, seine | Bekenner, früher oder später kommen die Leiden der Erde: so sind sie dann auch für uns nicht eine Erniedrigung, sondern sie gehören zu unserer Erhöhung; sie erheben uns noch mehr und noch inniger in der Gemeinschaft mit dem, der da sitzt zur Rechten der Kraft, und kommt in den Wolken des Himmels. II. Dies aber, m. g. Fr., führt uns auf die zweite Betrachtung des Zeugnisses unseres Herrn von sich selbst. Wer möchte nämlich nicht darin mit einstimmen, daß dies gewesen sei der lebendige Ursprung und das höchste unerreichbare Vorbild alles christlichen Märtyrerthums. Der Erlöser hatte es oft gesagt in den Tagen seines Fleisches, daß es dem Jünger nicht besser ergehen würde, denn dem Meister; wie die Menschen es noch mit ihm machen würden, so auch mit seinen Jüngern nach ihm, er hatte sie vorbereitet auf die Gemeinschaft und die Ähnlichkeit seiner Leiden, und es ihnen klar und deutlich vorgehalten, indem er ihnen den Beruf gab, und sie in demselben befestigte, in seinem Namen das | Reich Gottes zu verkündigen. In diesem Augenblick also, m. g. Fr., wo er selbst deutlich sah, das Urtheil des Todes würde über ihn ausgesprochen werden, wo er sich selbst schon erscheinen mußte an dem Kreuze, an welchem er seinen letzten Odem aushauchte; 38 Odem] Oden 6–7 Vgl. Joh 17,5 9–15 Vgl. Mt 13,31–32; Mk 4,31–32; Lk 13,19 Mt 10,24–25; Joh 15,20

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wie konnte er, der in jedem Augenblick alle Menschen, das ganze Geschlecht, dem er gegeben war, mit Liebe umfaßte, und dessen Herz auf eine so innige und ausgezeichnete Weise an denen hing, die an seinen Namen glaubten, wie konnte er anders als in diesem Augenblick nicht nur sein eigenes, sondern alle die Ströme Bluts fließen sehen, das seine Bekenner zur Ausbreitung seines Reiches vergießen mußten, ohne [das] die Gemeine des Herrn sich [nicht] verbreiten konnte über alle Völker und über alle Geschlechter auf Erden. Das Blut der Zeugen, die in vergangenen Jahrhunderten dahin gerafft sind, alle Verfolgungen, welche die Bekenner seines Namens und seiner Wahrheit erduldet haben – und wie wissen wir, was noch geschrieben steht in dem Buche der | Zukunft, und aufbewahrt den künftigen Geschlechtern – alles das mußte in diesem Augenblick seiner weissagenden Seele gegenwärtig sein. Und das, m. g. F., sollten wir nicht als ein tiefes Leiden seiner Seele ansehen, und weit mehr zu seiner Erniedrigung rechnen als alles Einzelne, was ihn selbst und seine eigne Person traf? Wissen wir es doch, wie jeder gut geartete und wohl wollende Mensch das Gefühl, je stärker seine eigene Seele schon geworden ist durch die göttliche Gnade, auch um so viel stärker empfindet als sein eigenes Leiden; wissen wir es doch, wie gern wir selbst bereit sind die Leiden derer, die wir lieben, zu theilen wenigstens, wenn wir sie nicht ganz auf uns übertragen, und jene davon befreien können. Und so sollte das Mitgefühl, wovon der Erlöser in diesem Augenblick durchdrungen sein mußte, nicht eine tiefe Erniedrigung seiner Seele sein, indem sie, die göttlich reine, die in sich selbst ewig heitere und selige, von dem Gefühl der Leiden, welche den Seinigen be|vorstanden, niedergedrückt war? Aber auch davon, m. g. Fr., finden wir in der Äußerung des Erlösers keine Spur. So wie er selbst alles dessen, was ihm noch bevorstand, nicht gedenkt, sondern gleich an diese That anknüpft das Bewußtsein seiner Herrlichkeit: o so dachte er auch in Beziehung auf die Seinigen in diesem Augenblick nur daran, daß er ihnen dafür gleichsam gut gesagt hatte, daß wo er sein werde seine Diener auch sein sollten, daß wenn er erst erhöht sein werde von der Erde, er sie alle mit sich ziehen würde in seine Herrlichkeit. Und so ward die Ruhe und die Heiterkeit seiner Seele auch nicht gestört durch das Mitgefühl aller den Christen bevorstehenden Leiden um seines Namens willen, wovon er in diesem Augenblick durchdrungen sein mußte, und so wenig das Vorgefühl dessen, was ihm selbst bevorstand, ihn auf einen Augenblick wankend machen konnte, eben so wenig auch dieses alle künftigen Jahrhunderte durchdringende Mitgefühl seiner gotterfüllen Seele. | Wohlan, m. g. Fr., so erhebt uns denn dies zu dem frohen und großen Gedanken, daß alles Leiden der Christen um des Namens des Herrn willen, alles dasjenige, was erduldet wird von irdischem Schmerz aller Art, auch nicht zu seiner und zu seines Reiches Erniedrigung, 30 Vgl. Joh 12,26

31–32 Vgl. Joh 12,32

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sondern zu seiner Erhöhung gehört. Wie der Erlöser eben die Fülle der Gottheit, welche ihm einwohnte, dadurch bewährte, daß die Seeligkeit, die diese mit sich bringt, eben so sehr das Mitgefühl überwand, und in die Herrlichkeit seiner Ruhe einkleidete als das Vorgefühl seines eigenen Leidens: so soll auch die mitgetheilte Kraft, die er uns verheißen hat, so sollen auch die Gnadenwirkungen des Geistes, der es von dem Seinigen [nimmt], und es uns verklärt, einem jeden, der berufen ist um des Herrn willen und für seine Sache zu leiden, eben dahin führen, wo er selbst gewesen ist, und auch diese Ähnlichkeit mit ihm ist uns verheißen. Was war also jene Ruhe und jene Freudigkeit aller Zeugen des Erlösers, mit welcher | sie in den Tod gingen, was war sie anders als der Abglanz von der seligen Ruhe, die in diesem Augenblick die Seele des Erlösers erfüllte, was anders als eben dies, daß von jeher jeder, der gewürdiget wurde um des Evangeliums willen zu leiden, des Menschen Sohn sitzen sah zur Rechten der Kraft, und kommen in den Wolken des Himmels. Das m. g. Fr., ist uns auch in der Schrift selbst unmittelbar dargestellt in der herrlichen Geschichte des ersten Zeugen des Erlösers. Denn als Stephanus seine Rede an die versammelten Häupter des Volks und an den großen Haufen der übrigen Zuhörer schloß mit dem Zeugniß, daß der Jesus, den sie überliefert hatten in die Hände der Heiden, und zum Tode verurtheilt, von Gott zum Herrn und Christ bestimmt gewesen sei, und ihm nun sein unmittelbarer Tod eben so gewiß war, wie dem Erlöser, als er dieses Zeugniß von sich ablegte: da sagte er: „Sehet da, ich sehe den Himmel offen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen“; da saß er für die Augen | dieses Gläubigen zur Rechten der Kraft in der Höhe, da kam er in den Wolken des Himmels um seine Ruhe, um seinen Frieden, um seine Seligkeit dem mitzutheilen, der seinen Namen verherrlichen sollte. Aber, m. g. Fr., jene Zeiten, wo es häufig war und sein mußte, daß die treuen Bekenner des Herrn gewürdiget wurden um seinetwillen Schmach und Verfolgung und Tod zu leiden: ach sie waren auch nicht frei von menschlicher Schwachheit und Sünde. Nicht alle, m. g. F., nahmen den Tod um seines Namens willen eben so ruhig als dies unvermeidliche Ergebniß eines Zeugnisses, welches sie bei dem lebendigen Gott beschworen wurden abzulegen, nicht so, wie der Erlöser, nahmen sie ihn alle hin, sondern viele drängten sich dazu, ohne eigentlich dazu berufen zu sein, falsche und nicht wahre Märtyrer des Herrn. Solches, m. g. F., weit entfernt davon, daß es einen starken Glauben verkündigt hätte, und aus demselben hervorgegangen wäre, war vielmehr eine Wirkung des Unglaubens. Diejenigen, welche Leiden und | Tod um des Herrn willen suchen, was wollen sie an32 beschworen] beschworen,

38–1 anders, als daß] anders als sie meinen, daß

1–2 Vgl. Kol 2,9 6–7 Vgl. Joh 16,14–15 des Petrus) 22–24 Apg 7,55

17–21 Vgl. Apg 2,36 (Pfingstpredigt

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ders, als daß sie auch noch sterben müßten für sich selbst; in ihrem eigenen Blute glauben sie abwaschen zu müssen die Sünden, die sie gethan, und wenn sie das gethan hätten, dann erst wären sie würdig, und könnten theilhaftig werden der Herrlichkeit, die ihnen verheißen ist. Wir aber brauchen nicht mehr um unserer selbst willen zu leiden, wir bedürfen keines Todes mehr für unsere Versöhnung mit Gott; der Eine hat geduldet, und ist gestorben für die Sünde der Welt, und keiner kann einen Beruf haben, weder für sich noch für Andere Leiden und Schmerzen und Tod zu suchen. Wenn nun m. g. Fr., der Erlöser auch dies im Geiste vorhersah: ja so mögen wir sagen, das war ein Gefühl des Leidens, welches er in diesem Augenblick [empfand], aber in die innerste Tiefe seiner Seele verschloß. Finden wir es da, so finden wir auch in diesem Augenblick die Spuren seiner Erniedrigung; aber worin besteht diese anders als darin, daß, weil er Mensch war, und Theil hatte | an der menschlichen Schwachheit, er auch die Sünde der Welt mitfühlen mußte. Und so fühlte er in diesem Augenblick nicht nur die Sünde derer, die ihn verwarfen, die ihn verurtheilten, die ihm den Tod bereiteten, sondern auch die Sünde derer, die aus Mißverstand und Wahn, aus nicht genug geläutertem Glauben, indem sie ihm nachzufolgen glaubten, etwas anderes darstellten als das, was in seinem heiligen Vorbilde liegt. III. Und dies, m. g. Fr., führt uns nun auf unsere dritte und letzte Betrachtung, daß nämlich das Bekenntniß, welches der Erlöser von sich selbst ablegte dem Hohenpriester, den Mitgliedern des Hohenraths, die ihm zuhörten, und der zahlreichen Klasse des Volks, die in das von jenen gefällte Urtheil mit einstimmten, die Veranlassung ward zu der größten und schwersten Versündigung, zur Lästerung Gottes in seinem Sohne. Indem der Hohepriester den Erlöser fragte: „Ich beschwöre dich bei dem | lebendigen Gott, daß du uns sagst, ob du seist Christus, der Sohn Gottes“, und sich also anstellte, als wolle er das Zeugniß des Herrn von sich selbst hören, um ihm, wenn auch nicht zu glauben, doch wenigstens es noch näher zu erwägen: so war schon bei ihm beschlossen, wenn er sagen würde: „Du sagst es; ich bin es“, ihn der Lästerung Gottes zu beschuldigen dafür, daß er sich zu Gottes Sohn gemacht habe, und dadurch selbst die größte Gottes Lästerung zu begehen, und auf diese Weise die schwerste Verantwortung auf sich zu laden, die je ein Mensch auf sich laden konnte. Das, m. g. Fr., wußte der Erlöser auch; er wußte, daß eben die That, in welcher sich die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, auf die reinste Art zu erkennen gab, anstatt Anbetung 18 geläutertem] geläuterten 36–37 Vgl. Kol 2,9

24 gefällte] erfällte

29 um] und

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hervorzubringen, anstatt Glauben zu bewirken, anstatt unmittelbaren Segen zu verbreiten, vielmehr für die Häupter des Volks und für einen großen Theil des Volkes selbst nur eine Gelegenheit zur Sünde sein würde. Das wußte er, m. g. Fr., mit welchem | Schmerz müssen wir menschlicher Weise denken mußte das nicht seine Seele durchdringen, und diesen Schmerz, daß eben das Herrlichste in ihm die Sünde in ihrer schrecklichsten Gestalt hervorlocken würde, diesen müssen wir allerdings für den höchsten Punkt der Erniedrigung des Herrn anerkennen. Denn, m. g. Fr., was kann es Bittereres, was kann es Demüthigeres geben für eine menschlich fühlende Seele als eben dies, wenn das Gute und Wahre, so rein wie es aus einem menschlichen Herzen nur hervorgehen kann, anstatt mit seiner menschlichen Kraft zu wirken, vielmehr die Verkehrtheit und das Verderben erst an’s Licht zieht, und in seiner ganzen Fülle hervorlockt. Ähnliches, m. g. Fr., erleben wir oft in den Verwicklungen der menschlichen Dinge; gar oft geht es so, daß das Gute und Herrliche, was ein ungetrübtes Auge in andern sieht, und dessen ein reines Herz sich erfreut, anstatt ein fruchtbares Saamenkorn des Guten in menschlichen Seelen zu werden, anstatt ein ergreifender Funke in den Herzen der | Menschen zu werden, nur die Sünde hervorlockt. Wenn dies uns und unseres Gleichen begegnet, dann sind wir geneigt, ja vielfältig veranlaßt, uns selbst zu prüfen, und Andern zur Prüfung zu geben, ob nicht das Gute in uns eben getrübt sei durch Böses, ob nicht der Mangel an Reinheit im Guten es eigentlich sei, was die wunderbare Erscheinung hervorbringt, ob nicht es sich so nicht verhalte, daß das Gute das Böse selbst hervorlockt, sondern ob nicht das Böse, was uns noch immer anklebt, das Böse in Andern an’s Licht bringt. Aber an dem, was dem Erlöser selbst geschah, m. g. Fr., sehen wir nun, daß dies nicht nothwendig immer ist; in ihm war das Wahre und das Gute göttlich und rein, seinem Bekenntniß von sich selbst war nichts beigemischt, was Tadel hätte verdienen können, keine Spur von Leidenschaft zeigte sich in demselben, keine Spur sinnlicher Aufgeregtheit, keine Spur menschlichen Trotzes, keine Spur von Anmaßung und Erhebung, indem er sich bei seinem Bekenntniß nur auf das beruft, was sie selbst von Stunde an sehen | würden und sehen konnten, wenn sie gewollt hätten. Und doch war es sein Bekenntiß, welches die schwerste der Sünden, die Verurtheilung dessen, der der Erlöser der Welt sein sollte, die Beschuldigung, daß er, indem er sich Gottes Sohn nannte, Gott gelästert habe, hervorbrachte. Und so ruhig hätte der Erlöser über diesen Schmerz nicht sein können, wenn er nicht selbst ein vollkommen reines Bewußtsein in dieser Beziehung gehabt hätte. Dies beruhte aber auf den beiden Stükken, daß er selbst diesen Augenblick, wo seine und seines Volkes Angelegenheit auf diese Spitze der Entscheidung kam, nicht auf irgend eine will 8–9 Bittereres] Bitteres

19 begegnet] begenet

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kürliche Weise herbeigeführt hatte, und dann darauf, daß er niemals aufgehört hatte bei jeder Gelegenheit, die sich ihm darbot, zu warnen vor dem, was geschehen würde. Er selbst hatte diesen Augenblick nicht herbeigeführt, denn wenn er von Abgesandten des Hohenraths, aber nicht amtlich und feierlich, wie es hier der Fall war, gefragt wurde: „Halte doch unsere Seele nicht länger, sondern | sage es uns frei heraus, ob du Christus bist?“ da legte er sein Bekenntniß nicht ab, weil ihm unter diesen Verhältnissen die Verpflichtung dazu nicht oblag; sondern ohne zu leugnen, und ohne sich heimlicher Weise zurückzuziehen, sprach er zu ihnen: „Sage ich [es] euch, so glaubet ihr mir doch nicht.“ Er hat diesen Augenblick nicht willkürlich herbeigeführt; denn er hat auf keine Weise seine Feinde gereizt und herausgefordert. Freilich als er in die heilige Stadt ging, da wußte er schon, was ihm bevorstand, und was ihm begegnen würde; er blieb dennoch nicht zurück, aber er konnte nicht zurückbleiben ohne seinem Berufe untreu zu werden, und seine Pflicht zu verletzen, er mußte hingehen auf das Fest, um die heiligen Gebräuche des Volkes zu begehen, er mußte hingehen auf das Fest, um der großen Menge von Menschen, die sich in dieser Zeit in der Hauptstadt des Landes so anhäuften, und unter denen jedesmal die Erwartung seiner Ankunft so rege war, die himmlische Lehre zu verkündigen: da zog ihn also sein Beruf, | da zog ihn die Stimme des Geistes; er mußte hingehen auf jede Weise, es entstehe daraus, was da wolle. Aber eben deswegen, weil er das nicht verhindern konnte, so hat er niemals eine Gelegenheit vorbeigelassen, zu warnen vor dem, was geschehen würde. Wie oft hat er bald mit der Stimme warnender Liebe, bald mit den strengen Worten des Tadels die Hohenpriester und die Schriftgelehrten seines Volks hingewiesen auf den Zustand der Dinge, in welchen sie durch ihre Verkehrtheit das Volk unvermeidlich stürzen würden; wie oft hat er den thörichten Dünkel, der in eingebildeten Ansprüchen auf den Besitz des Reiches Gottes bestand, so wie die Hoffnung auf irdisches Wohlergehen, wie beides sich ausgebildet hat, jener mehr in den höhern Klassen der Gesellschaft, diese mehr in den niedern, wie oft hat er beides getadelt; wie oft hat er ihnen die wahre Gestalt des Reiches Gottes, welches zu stiften er gekommen sei, vor Augen gemalt, daß sie wohl hätten im Stande sein sollen, | den Finger Gottes zu erkennen in allen übrigen Thaten, die er verrichtete. Aber eben deswegen, weil er dies alles nicht unterlassen hatte, fühlte er sich vollkommen unschuldig an der Sünde, die seine Widersacher begingen, und eben deswegen war in diesem entscheidenden Augenblick das Bekenntniß, welches ihn selbst dem Tode übergab, und welches nachher viele Schaaren der Gläubigen zu gleichem Tode führte, es war seinen Feinden die Veranlassung zu einer Sünde, von der wir nicht wissen können, wie viele sie in dem Laufe ihres Lebens wieder abgebüßt haben. Dieser Augenblick war eben so sehr 5–6 Vgl. Joh 10,24–25

9–10 Vgl. Lk 22,67

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der Augenblick seiner tiefsten menschlichen Erniedrigung, als der Augenblick der höchsten Verklärung des Menschlichen durch das Göttliche, was in ihm war. – Allein, m. g. Fr., ich kann diese Betrachtung nicht schließen, ohne noch ein warnendes Wort hinzuzufügen über die Sünde, deren sich hier der Hohepriester und der Hoherath des jüdischen Volkes schuldig machte; worin bestand sie vorzüglich? | Sie sagten: Er habe sich selbst zu Gottes Sohn gemacht, und deshalb verturtheilten sie ihn zum Tode, weil sie nämlich von sich selbst fälschlicher Weise glaubten, ihnen liege es ob, denjenigen zu erkennen, und dem Volke als den Gesalbten des Herrn darzustellen, der da kommen würde sein Volk und durch dasselbige alle übrigen zu erlösen. M. g. F. Diese Sünde finden wir in einer andern Gestalt häufig genug mitten unter denen wieder, die äußerlich den Namen der Christen tragen. Wenn wir fragen: woher denn die vielen Zweifel in älterer und neuerer Zeit an dem Unterschiede zwischen Jesu von Nazareth und allen Menschen, die in Sünde empfangen und geboren sind? woher die Zweifel an seiner göttlichen Würde und Herrlichkeit, ohnerachtet eben die That so deutlich zu uns redet, daß er sitzt zur Rechten der Kraft, und derjenige ist, dem der Vater alle Macht gegeben hat im Himmel und auf Erden? Woher anders als daher, weil die Menschen | gern einen Erretter haben möchten, den sie selbst könnten zu Gottes Sohn machen. Sie mögen darüber grübeln, was denn eigentlich dazu gehöre, wenn Einer soll der Erlöser der Übrigen sein; sie mögen sich so gern die Grenzen ziehen, wie weit denn das Göttliche sich mit dem Menschlichen verbinden könne oder nicht, und so mögen sie sich selbst einen Glauben machen an den Sohn Gottes; indem sie ihn aber doch anerkennen wollen, sagen sie nicht thörichter Weise, daß sie ihm gleich sind oder höher stehen als er, indem sie ihn einsetzen. Das war die Verblendung jener Hohenpriester, jener Schriftgelehrten und Pharisäer, und das ist noch immer der fortgesetzte Wahn so vieler Unglücklichen, die sich [der] Theilnahme an der Herrlichkeit des Sohnes Gottes auf diese Weise verlustig machen. Wenn, m. g. F., der Erlöser seine Jünger fragt: „Wer glaubt denn ihr, daß ich sei?“ und Petrus im Namen der Übrigen antwortet: „Wir glauben, du seist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“, was sagt da der Herr? | „Nicht Fleisch und Blut hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“ Fleisch und Blut aber, m. g. Fr., das ist der ganze Mensch, das ist auch der grübelnde, menschliche Verstand, das ist auch die auf jedem andern Gebiet als dem, wo es auf unser Verhältniß zu Gott ankommt, sich selbst genügende Vernunft, die kann den Glauben an den Sohn Gottes, der uns selig macht, nicht geben; von oben muß er kommen, eine Offenbarung und ein Gnadengeschenk des Vaters im Himmel, der aber nicht anders auf uns wirkt, und zu uns redet als eben durch den Sohn. Und indem der Herr sagt, „das hat euch der Vater im Himmel offenbaret“, so war dies in Verbin18 Vgl. Mt 28,18

30–34 Vgl. Mt 16,15–17

41 Vgl. Mt 16,17

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dung mit jenem andern Wort, „Niemand kenne den Vater, denn der Sohn, und wem er es wolle offenbaren“, nur ein anderer Ausdruck für das, was er auch so hätte sagen können, das habt ihr mir zu verdanken. Das Bedürfniß des menschlichen [Herzens] muß sich im Allgemeinen der göttlichen Hilfe, die durch den Sohn kommt, entgegenstrecken; dieser aber | muß uns zu sich ziehen durch seine göttliche Kraft, die uns aus seiner Fülle entgegenströmt, und den Glauben an ihn in uns erweckt, und indem er uns zu sich zieht, zieht er uns auch zu dem Vater, welchen zu verklären er in die Welt gekommen ist. Zu diesem Glauben, m. g. Fr., müssen wir uns bequemen, und müssen ihn auf ewig annehmen jeder für sich, und alle für jeden als ein Gnadengeschenk Gottes. Nur dann können wir Zeugniß ablegen von dem Herrn, wenn wir erkannt haben, daß er auf diese Weise Wahrheit in uns geworden ist, wenn der Glaube, wie er sich in uns gestaltet, uns den Herrn als unsern Bruder offenbart, wie er der Abglanz ist der göttlichen Herrlichkeit, und die einzig göttliche Kraft, die in uns wohnt. In diesem Gefühl müssen wir den Glauben an den Sohn Gottes in unser Herz schließen, so muß uns durch unsere eigene Erfahrung, wozu nur er den ersten Schlüssel giebt, sein Wort: „Du sagst es, ich bin es“, die ewige Wahrheit [werden], worauf wir felsenfest bauen, so müssen wir | in seinem letzten öffentlichen Bekenntniß, ehe er in das Leiden und in den Tod ging, die ewige Klarheit seines Geistes und das Überwindliche seiner göttlichen Kraft schauen mit der Ruhe der Seele, die der Glaube hervorbringt, der, weil er seinem Glauben ähnlich ist, auch unser Leben immer mehr gestalten kann in die Ähnlichkeit seines göttlichen Bildes. Und so laßt uns, m. g. Fr., aus Gottes Hand dieses heilige Kleinod annehmen, und ist es einmal in unserem Herzen aufgegangen, auch immerdar festhalten, damit wir in allen Leiden und Trübsalen nur die ewige Herrlichkeit, und in der Sünde und Erniedrigung nichts anderes als die ewige Erhöhung sehen, zu der auch wir schon in diesem Leben immer mehr gelangen können, bis wir endlich dahin kommen, wohin er uns vorangegangen ist. Amen.

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[Liederblatt vom 9. März 1823:] Am Sonntage Lätare 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle etc. [1.] Ach, welche Schmach und Plagen / Muß mein Erlöser tragen, / Der nichts verbrochen hat. / Seht, als ein Uebertreter / Des Glaubens seiner Väter / Steht er verklagt im hohen Rath. // [2.] O seht ihn im Gerichte! / Auf seinem Ange1–2 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

14–15 Vgl. Hebr 1,3

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sichte / Strahlt hoher freier Muth; / Er, groß auch in den Banden / Verachtet Schmach und Schanden, / Und duldet still der Frevler Muth. // [3.] Treu bleibt er seinem Glauben, / Den niemand ihm kann rauben, / Auch unter Schmach und Hohn. / Er schweigt bei schnöden Fragen, / Doch darf er laut es sagen: / „Ich bin des Hochgelobten Sohn.“ // [4.] Werft euch im Staube nieder, / Ihr seines Reiches Glieder, / Ihr Christen betet an! / Der Herr troz frechen Spottes, / Ist Sohn des ewgen Gottes, / Und alles ist ihm unterthan. // [5.] Freut euch ihr Frommen, schauet, / Der Herr, dem ihr vertrauet, / Kommt; mit ihm kommt sein Lohn! / Wann einst die Sünder zagen, / Dann könnt ihr fröhlich sagen: / Gelobet seist du, Gottes Sohn. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. [1.] Jerusalem, von frecher Wuth / Verblendet, fordert Jesu Blut / Zur Rache seiner Sünden. / Bald ruft dich Gott ins Blutgericht, / Dich Mörderstadt, dir das Gewicht / Der Rache anzukünden. / Der Unschuld Blut kommt über dich; / Wo Aas ist sammeln Adler sich. / Um deine Mauern welch ein Heer! / Für dich ist nun kein Retter mehr. / Jerusalem, / Jerusalem, den du verschmäht, / Hat Gott zum Herrn der Welt erhöht. // [2.] Beweint hat dich des Menschensohn; / Nun kommt, nun kommt dein Richter schon! / Sein Mund und Auge tödtet. / Angst, Krieg und Hunger vor ihm her, / Kommt wie in Wetterwolken er / Von Bliz auf Bliz geröthet. / Des Himmels hohe Flammen glühn. / Um dich der Städte Königin. / Hoch strömet deiner Kinder Blut. / Sieh Stadt und Tempel steht in Gluth. / Der Sieger weint / Auf deinem Schutt. Dein Reich zerfällt, / Und Jesu Reich umfaßt die Welt. // [3.] Zum Fluch für deine blinde Wuth, / Der Welt zum Segen floß sein Blut, / Zum Segen für die Sünder. / Von Herzen bitt ich Jesu dich, / Dein ewger Segen komm auf mich, / Auf uns und unsre Kinder. / Sieh gnädig auf die Welt herab, / Für die dich Gott zum Opfer gab. / Verwirf von deinem Angesicht / Uns reuerfüllte Sünder nicht. / Verherrlichter / Erhöre mich, erhöre mich, / So preis’ ich ewig, ewig dich. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Dir dir Jehovah etc. Eröffnet hat die Lebenspforte / Dein ganzer Kampf bis hin zum Kreuzestod, / Besiegelt sind nun deine Worte, / Wir bauen fest darauf in jeder Noth. / Wenn Sonne, Mond und Erd’ auch untergehn, / Uns bleibt nun ewig Gottes Gnade stehn. //

Am 16. März 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Judica, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,14–23 Nachschrift; SAr 103, S. 485–506; Andrae SW II/10, 1856, S. 794–804 Nachschrift; SAr 52, Bl. 124r; Gemberg Ende der vom 13. Januar 1822 an gehaltenen Homilienreihe zum Philipperbrief (vgl. Einleitung, Punkt II.3.H.)

Frühpredigt am Sonntage Judika 1823 am sechzehnten Lenzmonds. (Lied. 792; 786, 14–16). |

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Tex t. Philipper IV, 14–23. Doch ihr habt wohl gethan, daß ihr euch meiner Trübsal angenommen habt. Ihr aber von Philippen wisset, daß von Anfang des Evangelii, da ich auszog aus Macedonia, keine Gemeine mit mir getheilt hat, nach der Rechnung der Ausgabe und Einnahme, denn ihr allein. Denn gen Thessalonich sandtet ihr zu meiner Nothdurft einmal, und darnach aber einmal. Nicht, daß ich das Geschenk suche; sondern ich suche die Frucht, daß sie überflüssig in eurer Rechnung sei. Denn ich habe alles, und habe überflüssig. Denn ich bin erfüllet, da ich empfing durch Epaphroditum, das von euch kam, ein süßer Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Mein Gott aber erfülle alle eure Nothdurft, nach seinem Reichthum in der Herrlichkeit, in Christo Jesu. Dem Gott aber und unserem Vater sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Grüßet alle Heiligen in Christo Jesu. Es grüßen euch die Brüder, die bei mir sind. Es grüßen euch alle Heiligen, sonderlich aber die von des Kaisers Hause. Die Gnade unseres Herrn Jesu Christi sei mit euch allen. Amen. | Der Apostel, m. a. F. hat in den vorigen Worten, über welche wir neulich mit einander geredet haben, von sich selbst gesagt, er vermöge alles durch 21 vermöge] vereinige 3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 792: „Herr Jesu Christ, mein Leben“ (Melodie von „Herr Christ der ein’ge Gottessohn“); Nr. 786: „Erneure mich, o ew’ges Licht“ (Melodie von „O Jesu Christ! mein’s Lebens Licht“) 20–3 Vgl. oben 2. März 1823 früh über Phil 4,10–13

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den, der ihn mächtig macht, Christus, nämlich daß er gelernt habe unter allen Umständen ihm genügen zu lassen, niedrig zu sein und hoch zu sein, Mangel zu leiden und Überfluß zu haben. Und dies, m. g. Fr., ist gewiß etwas, wonach wir alle, jeder nach seinem Maaß und nach der Beschaffenheit der Gaben, die ihm Gott gegeben hat, streben sollen, daß wir uns genügen lassen in allen Umständen, in welche Gott uns setzt, und daß auch die mancherlei Wechsel, die sich hier denken lassen, keinen wesentlichen Einfluß auf die Ruhe und die Zufriedenheit unseres Gemüths haben. Wenn nun aber dies so ist, und der Apostel sich rühmen konnte durch Gottes Gnade, daß er es hierin so weit gebracht habe, daß er in allem mächtig sei, und alles vermöge durch Christum: so entsteht uns freilich die natürliche Frage: Warum ist dies doch etwas Rühmliches, und lobt er die Philipper deshalb, daß sie sich seiner | Trübsal angenommen haben? Nämlich je mehr wir von einem Andern wissen, daß er im Stande ist, den Wechsel der irdischen Verhältnisse zu ertragen, daß er eben so gut weiß Mangel zu leiden als Überfluß zu haben: so scheint es als ob dadurch der Trieb mitzutheilen nothwendig abnehmen müßte: so daß wir uns mit jedem freuen der Gabe, die Gott ihm verliehen in allen Verhältnissen zufrieden zu sein, aber weniger empfinden könnten das Bedürfniß oder die Pflicht einem Andern, indem er Mangel leidet, zu Hilfe zu kommen. Es ist auch so, wie der Apostel in den folgenden Worten sagt: „Nicht, daß ich das Geschenk suche.“ Das Bedürfniß der Einzelnen soll es an sich nicht sein, was die mittheilende Liebe hervorlockt, und eben so soll ihre Freude nicht bestehen darin, daß das Bedürfniß gestillt ist. Was ist [es] nun aber, weshalb der Apostel die Christen zu Philippi lobt? Wenn wir diese Frage zu beantworten suchen, so giebt uns das einen Aufschluß über das Wesen der Wohlthätigkeit und der mittheilenden Liebe der Christen zu einander. Ich sage, m. a. Fr., der Christen unter einander, weil wir nur zu diesen die Zuversicht haben, | die in demjenigen besteht, was der Apostel in dem Vorigen gerühmt hat. Die sollen wissen eben so gut Mangel zu leiden, [als Überfluß zu haben,] weil sie wissen, daß Christus ihr Herr und Meister ist, weil sie sein Kreuz auf sich nehmen, und auch darin die Zufriedenheit ihres Herzens suchen sollen, zu wissen und zu fühlen, daß er allein es ist, der den Menschen mächtig macht, und alles vermögend. Denn wo dies fehlt, da giebt es einzelne Ausnahmen von Menschen, die eben so scheinen zu allem mächtig zu sein, aber nicht in jedem Zustande auf gleiche Weise, sondern nur, wenn ihr Gemüth auf eine außerordentliche Weise geöffnet ist und erhöhet, nur wenn ihnen ein ungewöhnliches Ziel vor Augen steht, aber nicht in allen Verhältnissen des Lebens, nur die Gesinnung, die uns nach dem Vaterlande, welches im Himmel ist, hinzieht, so 6 uns] und

13 haben?] haben.

10–11 Vgl. Phil 4,8

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daß wir das himmlische Leben auch hier schon suchen, nur die ist es, die jene Gleichgiltigkeit hervorruft, in welcher dem Menschen der Unterschied jener äußern Verhältnisse schwindet. Also am meisten bezieht sich das, wovon wir reden, auf die mittheilende | Liebe der Christen unter einander, da sollen wir wissen, daß jeder, indem er leidet, mächtig gemacht wird durch Christum, und ist in einem ähnlichen Zustande wie der Apostel, er vermag alles, und bedarf nicht des Geschenkes. Woher nun diese mittheilende Liebe, wodurch sich die Christen von Anfang [an] ausgezeichnet haben, und woher das Lob, welches ihnen der Apostel in Beziehung auf sich selbst beilegt? Offenbar können wir nur so antworten, wenn es nicht das Bedürfniß des Einzelnen ist, was befriedigt werden soll, wenn er nicht das Geschenk sucht, und der Mittheilende und der Geber nicht von Mitleid geleitet wird – denn wie könnte man Mitleid haben mit dem, der alles vermag, und der in einer geistigen Verbindung steht mit demjenigen, welcher ihn mächtig macht in allem – was ist dann der Antrieb der mittheilenden Liebe? Das Bewußtsein der Gemeinschaft der Christen unter einander, das Bewußtsein der unmittelbaren Zusammengehörigkeit, kraft dessen jeder den Andern nicht ansieht als ihm gegenüberstehend, sondern als einen Theil des Ganzen. Wenn der Apostel hier redet von sich auf eine solche Weise, daß er sich | selbst den Christen zum Vorbilde stellt, und so von sich redet in dieser Hinsicht, daß er sagt, er bedürfe des Geschenkes nicht, er könne, in welche Verhältnisse des Lebens Gott, der Herr, ihn auch setzen möge, für sich selbst stehen, er könne jedes ertragen: so redet er anders, wenn er von den geistigen Gütern redet, da sagt er nicht, daß jeder für sich selbst alles vermöge, nicht daß Christus jeden Einzelnen für sich mächtig mache in allem, sondern da macht er uns aufmerksam darauf, daß zwar Ein Herr ist und Ein Geist, aber verschiedene Gaben, daß jeder ein Theil des Ganzen ist vermöge der Gaben, die Gott in ihm geweckt, und in ihn gelegt hat, aber daß deswegen keiner für sich selbst bestehen könne, sondern jeder des Andern bedürfe, wie in dem lebendigen Zustand des Leibes jedes Glied des andern bedarf, und ohne die Gesundheit aller kein einzelnes Glied gesund und kräftig sein kann. Je mehr, m. g. Fr., den Christen das geistige Leben über alles geht, und sie nur in dessen Pflege und treuer Wartung ihr wahres Wohlsein finden und ihre eigentliche Bestimmung, und dasjenige, wovon sie Gott Rechenschaft ablegen | sollen, desto weniger haben sie Geneigtheit für sich bestehen zu wollen, desto mehr leben sie in enger Gemeinschaft unter einander, und diese ist es, die sich von dem geistigen Leben aus immer enger knüpfen soll deswegen, weil sie wissen, daß sie in Beziehung auf das geistige Leben einander nicht entbehren können, sondern 2 welcher] welchem

15 mittheilenden] mittheilend

26–27 Vgl. 1Kor 12,4–5

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jeder bedarf von dem Andern getragen und unterstützt zu werden mit den Gaben, die ihm Gott gegeben hat, desto mehr ist es ihnen ein natürliches Bedürfniß sich in jeder Beziehung als in einer solchen Gemeinschaft stehend anzusehen, desto mehr theilen sie das Bewußtsein ihres äußern Zustandes, und wie jeder für sich selbst sorgt, so sucht er auch für Andere zu sorgen. Und das, m. g. Fr., ist der Sinn, in welchem der Apostel sagt: Ich lobe euch, daß ihr wieder wacker geworden seid für mich zu sorgen, und indem ihr euch meiner Trübsal angenommen habt, so habt ihr Recht daran gethan. Indem er noch hinzufügt: „Nicht als ob ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, daß sie überflüssig sei in eurer Rechnung“: so sind es diese Worte, | aus denen wir sehen, wie seine Gedanken über diese Sache mit dem Gesagten übereinstimmen. Denn wenn wir fragen: welches ist die Frucht, von der der Apostel sagt, er freue sich, daß sie überflüssig sei in der Rechnung der Gemeine zu Philippi? so ist es jenes befriedigte Bedürfniß der christlichen Gemeinschaft, das gute Bewußtsein aus diesem Gefühl gehandelt zu haben, m. g. Fr., das ist die Frucht der mittheilenden Liebe. Aber wenn wir uns wirklich darüber verständigen sollen, wie auch dies nicht ein leerer Schein sei: so müssen wir noch etwas Anderes hinzufügen. Man könnte freilich sagen, genau genommen sei jener Trieb der Mittheilung, wenn die Sache so steht unter den Christen, wie ich es vorher auseinander gesetzt habe, ein leerer Schein. Wenn es mit jedem unserer Brüder so steht, wie der Apostel sagt, daß er alles vermöge durch den, der ihn mächtig macht, Christus: so können wir sagen, wenn einer von unsern Brüdern sich eine Zeitlang des irdischen Wohlergehens erfreut hat, und darin Gott gepriesen für die Anwendung der Gaben, die er | aus seiner Hand empfangen hat, und der Herr schickt ihm nun Trübsal und Armuth, so würden wir ihm einen schlechten Dienst leisten, wenn wir ihn durch unsere mittheilende Liebe aus diesem Zustand in den entgegengesetztesten versetzen wollten, denn er bekäme dann das Bewußtsein nicht, daß er auch unter Mangel und Trübsal und Widerwärtigkeit Gott, den Herrn, eben so preisen könne. Wenn es kein seligeres Gefühl für den Christen giebt als dies, daß er mächtig wird durch Christum, daß er in ihm lebt und webt und ist: so können wir sagen, daß die mittheilende Liebe den Bruder, dem sie helfen, und den sie unterstützen will, dieses Gefühls beraube. Das Erste nun, was gewiß einem jeden hiebei einfällt, ist dies, daß der Apostel zwar dieses von sich sagen konnte als einer, der vorzüglich kräftig war und starken Geistes und ein auserwähltes Rüstzeug Gottes, daß aber das Allesvermögen durch den, der uns mächtig macht, Christus, allerdings das Ziel ist, nach dem wir alle streben sollen, aber nicht auf die gleiche Weise uns rühmen 1 mit] von

10 sie] die

22–23 Vgl. Phil 4,8

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können, es schon erreicht zu haben; vielmehr werden wir | sagen und gestehen müssen, daß jeder bedeutende Wechsel in den Verhältnissen des irdischen Lebens, jedes plötzliche Umschlagen aus Leiden in Freude, aus Mangel in Überfluß, aber noch mehr aus Freuden in Leiden, aus Reichthum in Armuth eine besondere Prüfung, ja eine wahre Versuchung für den Christen sei, daß er dabei am meisten ausgesezt sei dem[,] sich mancherlei Schwachheiten und Versündigungen zu Schulden kommen zu lassen, und daß der Schwachheit des Menschen sehr zu Hilfe gekommen wird, wenn der große Unterschied zwischen dem einen und dem andern Zustand ausgeglichen wird, denn in gleichen Zuständen gedeiht das innere Leben am besten; je mehr aber der Mensch dem ausgesetzt ist von der Höhe des Glückes hinabzustürzen in die Tiefe des Elends, desto mehr ist er auch dem ausgesetzt, das Gleichgewicht seiner Seele zu verlieren. Die mittheilende Liebe soll also das nicht zum Zweck haben um seiner selbst willen den Zustand unseres Bruders zu enden; sondern deswegen, damit er nicht versucht werde durch das, was Gott, der Herr, ihm schickt zu seiner | Seligkeit. Es ist eigentlich das geistige Leben, dem wir zu Hilfe kommen, indem wir dem Zustande unseres Bruders abhelfen, und wir sollen keinen andern Maaßstab dabei haben, als nur indem wir erkennen, wie das Gleichgewicht seiner Seele erhalten ist, und die Verbindung mit Christo sich in ihm offenbart. Eben weil das Mächtigsein durch Christum, und das Allesvermögen ein wesentliches Stück unseres geistigen Lebens ist: so ist es das, und gehört zu dem, worin wir niemals unabhängig von uns selbst stehen, sondern zur Gemeinschaft berufen sind, und worin jeder dem [Andern] zu Hilfe eilen soll. Wenn aber die Gefahr der Versuchung in dem Wechsel der äußern Verhältnisse liegt: so können wir jene nicht empfinden, wenn wir nicht diesen empfinden; und dieses natürliche Gefühl ist es, was die mittheilende Liebe in uns hervorlockt. Es besteht aber diese theils in dem Streben dem innern Menschen zu Hilfe zu kommen, theils in dem Streben die äußern Veranlassungen zum Bösen | aufzuheben, und dieses Letztere besonders deswegen, weil sonst die geistige Hilfe, die wir darzureichen vermögen, nicht auf gleiche Weise von unserem Bruder aufgenommen werden kann. Und dies ist die Frucht, von der der Apostel sagt, „er freue sich, daß sie überflüssig sei in der Rechnung der Philipper.“ Die Frucht ist eben die Sicherung des geistigen Lebens, welche aus dem Gewinn der äußeren Verhältnisse, und aus der mittheilenden Liebe der Christen unter einander entsteht. Wenn nun der Apostel in den Worten, die in unserem Texte enthalten sind, dies auf sich anwendet: so dürfen wir das Zeugniß, welches er von sich selbst ablegt, nicht so verstehen als ob er sagt, er sei dadurch, daß die Gemeine der Philipper sich seiner Trübsal angenommen habe, vor mancherlei Versuchungen bewahrt. Aber hier tritt etwas Verwandtes ein, und mit 3 in] und

18 Bruders] Bruder

21 Mächtigsein] Mächtigkeitsein

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dem Gesagten zusammenhängend. Nämlich wir vermögen auch unsern geistigen Beruf in der Welt – und wir haben ja alle das Bewußtsein, daß wir außer dem irdischen Beruf, den uns der Herr angewiesen hat, am Reiche Gottes arbeiten – | auch den vermögen wir nicht zu erfüllen als nur unter der Bedingung einer gewissen Leichtigkeit, womit wir unsern äußern Zustand beherrschen. Je mehr wir von geistiger Kraft des Lebens verbrauchen, um uns zu rüsten gegen die Trübsale und Widerwärtigkeiten dieser Zeit, und ihnen Widerstand zu leisten, desto weniger behalten wir übrig Gutes zu schaffen, so lange die Zeit des Wirkens für unsere höhere Bestimmung währt. Je leichter wir uns aber mit den irdischen Verhältnissen abfinden, desto mehr behalten wir übrig von frischer Kraft des Geistes um überall nach unserem Vermögen im Reiche Gottes thätig zu sein. Und diesen Antheil an dem allgemeinen Geschick der menschlichen Natur hat auch der Apostel empfunden, und ihn durch das, was er von sich sagt, nicht ablehnen wollen. Allerdings war er darin geübter, daß er alles vermochte durch den, der ihn mächtig machte, Christus, aber wenn wir ihn betrachten in seinem Berufe, so müssen wir sagen: je weniger er mit Trübsalen und Leiden zu käm|pfen hatte, desto mehr konnte er arbeiten an dem Reiche des Herrn; je weniger er seine Gedanken auf die äußern Verhältnisse, in denen er sich befand, zu richten brauchte, und seine Zeit darauf zu verwenden, Andern in ihren Leiden und Widerwärtigkeiten zu Hilfe zu kommen, desto kräftiger und wirksamer konnte er in seinem Beruf arbeiten. Und das ist die Frucht, von der er sagt in Beziehung auf sich selbst, daß er sich freue, wie sie überflüssig sei in der Rechnung der Philipper, das ist die Frucht, die er im Auge hat, wenn er sie auch daran erinnert, wie sie von Anfang an an seinem Beruf Theil genommen, und ihn in den Stand gesetzt hätten, frei von äußern Sorgen, allein dem großen Werke zu leben, an welches der Herr ihn gewiesen. So kommen wir also wieder von dem Äußern auf das Innere, von dem Leiblichen auf das Geistige zurück. So wahr das ist, womit unsere Betrachtung angefangen hat, daß von dem Gefühl der geistigen Gemeinschaft die mittheilende Liebe der Christen ausgeht: so müssen wir sagen, das Ziel derselben ist kein anderes als daß, was jeder thut im Reiche Gottes, nicht soll das Werk des | Einzelnen sein, sondern das gemeinsame Werk aller. Der Apostel Paulus hat auf eine ausgezeichnete Weise sein Leben der Verkündigung des Evangeliums und der Verbreitung desselben unter den Heiden gewidmet; aber indem die Christen von allen Seiten her an diesem Werke Theil nahmen, je mehr sie ihm das irdische Leben erleichterten, und nach Maaßgabe ihrer Kräfte ihm dabei zu Hilfe kamen, desto mehr konnten sie sich rühmen daß das, was er gethan, auch ihr Eigenthum sei, daß auch sie einen Theil daran hätten, weil sie, von dem Gefühl des geistigen Lebens 19 Gedanken] Gedanke 15 Vgl. Phil 4,8

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geleitet, auch in die Gemeinschaft seines irdischen Lebens eingegangen waren. Und das, m. g. Fr., ist das Werk der christlichen Liebe und ihr schönster Lohn. Es ist nur der irdisch gesinnte Mensch – wenigstens hat das geistige Leben in ihm noch nicht seine Reinheit erlangt – welcher wünscht, daß das Gute, was er gethan, noch als seine eigene That angesehen werde, und sich selbst und der Welt davon Zeugniß giebt, und alle Eifersucht, die in der Welt auch unter | denen, die nicht bloß den irdischen Bedürfnissen leben, sondern das höhere Wohl des Menschen in das Auge gefaßt haben, aber alle Eifersucht, die in der Welt herrscht, geht von einer unreinen Gesinnung aus. Es giebt nur einen, der uns mächtig macht, Christus, und weil alles, was wir thun, nur von seiner Kraft, die er über uns ausgegossen, nur von seinen Gaben, die er uns verliehen hat, ausgeht, und wir uns dieser nur in der Gemeinschaft erfreuen: so kann keiner mehr von seinen Werken und Thaten reden, sondern auf der einen Seite müssen wir alles auf Christum zurückschieben, der uns mächtig macht zu allem, und durch den wir alles vermögen, auf der andern Seite gehört alles der Gemeinschaft der Christen an; der gehören unsere Thaten und unsere Werke, denn ohne ihre Unterstützung wäre keiner im Stande gewesen dem Herrn zu dienen in seiner Sache, und indem die Liebe Anderer in unsere Werke eingegangen ist, und sie zum rechten Leben hat gedeihen lassen: so muß jeder, der dafür Sinn hat, bekennen, daß nichts im Leben sein eigenes Werk sei, sondern eine gemeinsame That. Und dieses | Gefühl soll nicht eine Verringerung des eigenen Lebens sein, sondern eine Erhöhung desselben. Wir dürfen nicht glauben, m. g. Fr., daß das, was der Apostel hier meint, ein freundliches Wort nur an jene Gemeine gewesen sei, lieber zu viel als zu wenig; sondern es ist ein wahres Gefühl seines Herzens gewesen, daß, was er gethan hatte, er der Verbindung [mit ihnen] zuschrieb als etwas Gutes, was auch auf ihre Rechnung kommen mußte, und als die Frucht der Gemeinschaft, in welcher er mit ihnen lebte, und des Antheils, den sie an seinen Werken genommen hatten. Aber gewiß hat es ihm nicht leid gethan oder ihm ein geringeres Bewußtsein der Treue, mit der er seinem Herrn anhing, gegeben, daß er nicht sagte, das alles habe ich allein gethan in meinem Dienst, sondern alle seine Thätigkeit auf die christliche Gemeinschaft zurückführte, so daß er alles, wozu Christus, der Herr ihn mächtig machte, als das gemeinsame Werk aller ansehen konnte. Aber, m. g. Fr., laßt uns noch einen Augenblick auf das besondere Verhältniß sehen, welches Statt fand zwischen dem Apostel | und jener Gemeine der Philipper. Was sie ihm leisten konnten von äußerer Unterstützung, das bezieht er alles auf diesen seinen besondern christlichen Beruf, auf die Verkündigung des Evangeliums, auf die Verbreitung des Reiches Gottes, und indem die Gemeine zu Philippi, wie es nachher auch Andere gethan haben, ihn auf diese Weise unterstützte: so war es eine Unterstützung, welche die Glieder derselben dem Reiche Gottes leisteten, und er legte es Ihnen als ein gutes Zeugniß bei, daß sie es gethan hätten, ehe eine andere Gemeine, wie er sich ausdrückt, nach der Rechnung der Ausgabe

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und Einnahme mit ihm getheilt hatte. Laßt uns, m. g. Fr., hier unterscheiden das Allgemeine und das Besondere. Indem wir einem irdischen Leiden abhelfen, und den Bedürfnissen unserer Brüder zu Hilfe kommen: so stärken wir geistiges Leben, und thun etwas für das Reich Gottes, an dessen Erbauung wir alle gewiesen sind; aber die besondere Förderung und Verbreitung unter dem menschlichen Geschlecht, dieses Geschäft, wodurch das Christenthum auf der einen Seite fortgepflanzt wird von einem Geschlecht auf das andere, auf der andern | Seite immer mehr verbreitet wird auch in den Gegenden, in welchen die süßen Töne des Evangeliums noch nicht erklungen sind, das soll uns auf eine besondere Weise am Herzen liegen, und jede christliche Gemeine, wie der Apostel es von jener Gemeine der Philipper rühmt, soll dies als ein Theil ihres Berufs ansehen, jede soll nicht etwa auf eine zufällige Weise daran Theil nehmen, wie es die Leiden sind, denen sie nur gelegentlich, und hie und da abhelfen kann; sondern die Theilnahme an diesem großen und schönen Werk auf eine ordentliche und gesetzmäßige Art einrichten, und sich darin der größten Sorgfalt befleißigen. Wie nun, m. g. F. dies jetzt wieder auf mancherlei Weise von vielen Orten aus mit neuem und frischem Eifer begonnen wird: so ist es natürlich, daß auch wir Diener des göttlichen Wortes der Gelegenheit wo sie sich darbietet, wahrnehmen, um die einzelnen Christen zur Theilnahme daran aufzumuntern. Aber mehr sollen wir dahin streben, daß die einzelnen Gemeinen | in einer gewissen Ordnung an diesem großen Werke der Verbreitung Theil nehmen, damit wir auch in dieser Hinsicht ein gutes Gewissen haben, und Rechenschaft ablegen können am Tage des Herrn, damit auch wir sagen können von uns, was der Apostel hier von jener Gemeine sagt, „daß unsere Frucht überflüssig sei in unserer Rechnung.“ Dann wird auch der letzte Wunsch des Apostels in Erfüllung gehen: „unser Gott aber erfülle alle eure Nothdurft, nach seinem Reichthum in der Herrlichkeit, in Christo Jesu“, wobei der Apostel am meisten an die geistigen Bedürfnisse und Segnungen jener Gemeine gedacht hat: Gott erhöhe all euer geistiges Leben nach dem Reichthum der Herrlichkeit, die da ist in Christo. Das führt uns darauf zurück, daß Christus durch die Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte, ehe denn der Welt Grund gelegt war, die Quelle ist der Befriedigung aller geistigen Bedürfnisse und der Stillung aller geistigen Noth; aber daß wir uns des Antheils an dieser Herrlich|keit nur dann mit Sicherheit erfreuen können, wenn wir uns nicht anders, denn als Haushalter mit den Gaben zeigen, womit Gott, der Herr, uns ausgerüstet, und zwar als treue Haushalter, die jeden Augenblick benutzen für den Dienst des Herrn. Denn es gilt auch hier, wer über Weniges gesetzt ist, aber treu ist, der wird dort über Vieles 9 Gegenden] Gegengen 32–33 Vgl. Joh 17,5

39–1 Vgl. Mt 25,21.23

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gesetzt werden, und wem hier Weniges gegeben ist, dem wird dort noch mehr gegeben werden aus der unendlichen Fülle des Herrn. So laßt uns denn, wie der Apostel sagt, Gutes thun, und nicht müde werden, damit wir auch erndten ohne Aufhören. Amen.

2–4 Vgl. Gal 6,9

Am 23. März 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Palmarum, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 18,33–37 Nachschrift; SAr 103, S. 507–539; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 124r–124v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Palmsonntage 1823 am drei und zwanzigsten Lenzmonds. |

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Tex t. Johannes XVIII, 33–37. Da ging Pilatus wieder hinein in das Richthaus, und rief Jesum, und sprach zu ihm: Bist du der Judenkönig? Jesus antwortete: Redest du das von dir selbst? oder haben es dir andere von mir gesagt? Pilatus antwortete: Bin ich ein Jude? Dein Volk und die Hohenpriester haben dich mir überantwortet: was hast du gethan? Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt, wäre mein Reich von dieser Welt, meine Diener würden darob kämpfen, daß ich den Juden nicht überantwortet würde; aber nun ist mein Reich nicht von dannen. Da sprach Pilatus zu ihm: So bist du dennoch ein König? Jesus antwortete: Du sagst es, ich bin ein König. Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, daß ich die Wahrheit zeugen soll. Wer aus der Wahrheit ist, der hört meine Stimme. Sowohl der Evangelist, m. a. F., aus welchem diese Worte genommen sind, als auch die andern erzählen uns, daß Pilatus unsern Erlöser über | vielerlei gefragt habe, aber er habe ihm gar nicht geantwortet. Das mag gewesen sein theils vorher, theils nachher. Auch zu dieser Frage, wie Pilatus sie an ihn that, „Bist du der Juden König?“ hätte der Erlöser schweigen können, denn es ist offenbar, daß eben dies dem Pilatus damals noch nicht war vorgebracht worden, als die eigentliche Klage, die gegen den Erlöser obwaltet; denn sonst hätte dieser es hören müssen, und hätte den Pilatus nicht fragen können: „Redest du das von dir selbst? oder haben es dir Andere von mir gesagt?“ Pilatus also thut diese Frage, wahrscheinlich veranlaßt 17–18 Vgl. Mt 27,13–14; Mk 15,4–5

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durch die Gerüchte, die über den Erlöser gingen, und über den Ruf, den er sich unter dem Volke erworben hatte, vielleicht auch durch die letzte große Äußerung der Verehrung des Volkes, von welcher unser heutige Sonntag seinen Namen hat, als ihn die ganze Masse desselben begrüßte bei seinem Einzuge in Jerusalem, und ihm Palmzweige, die ersten Kinder des Frühlings, streute, ihn begrüßend als denjenigen, der da kommen sollte in dem Namen des Herrn. Wie nun aber diese | Frage, unter solchen Umständen gethan, zu denjenigen Augenblicken in den Leiden des Erlösers gehörte, welche seine Seele besonders bewegten; das sehen wir eben daraus, daß er sein Stillschweigen brach, und sich über diese Frage in ein Gespräch mit dem Pilatus einließ. Wir können uns dies, m. g. F., auch wohl sehr leicht denken. Manche schon hatten es unternommen, weil eben die Hoffnung des Volkes in dieser Zeit so besonders rege war, aber freilich auf einen falschen Weg hingeleitet durch mancherlei sinnliche Erregungen, manche hatten es unternommen, aufzutreten als derjenige, der verheißen war von den Propheten, und versucht durch Hilfe der äußern Gewalt, das Volk von seinem damaligen Zustande zu befreien. Mit solchen Eiferern, gegen die bestehende bürgerliche Ordnung, welche, wie wohl sie nicht eines reinen und rechtlichen Ursprungs war, doch der Erlöser selbst für heilig erklärt hatte in jenem bekannten Worte: „So gebet nun dem Kaiser, was des Kaisers ist“, mit solchen Auf|rührern sah er sich verwechselt in den Gedanken desjenigen, der nun sein höchster Richter auf Erden war. Und wer war dieser, der ihn fragte, ob er ein König sei, und dem er nun Auskunft geben sollte von seinem Reiche? Es war einer, der[,] selbst der Günstling eines knechtischen Günstlings[,] emporgehoben war zu der Macht, die er jetzt ausübte, es war einer, der von keiner andern Gewalt wußte als von derjenigen, die[,] damals schon die größte auf Erden[,] dennoch nur auf einem unrechtlichen Wege war erlangt worden, und nur durch die beständige Gewalt der Waffen unterstützt. Indem der Erlöser von einem solchen gefragt wurde um sein Reich, und von ihm die Frage vernehmen mußte, ob er ein König der Juden sei, wie sich schon mehrere dafür ausgegeben hatten, wie konnte das anders als die reine Seele des Erlösers in ihrer innersten Tiefe erschüttern. Denn wie wohl eben deswegen, weil es eine Frage war, die als Frage [nach] seiner That noch gar nicht zu der Klage und zu seinem richterlichen Verfahren gehörte, wie wohl der Erlöser sie auch hätte | schweigend beantworten können, eben deswegen aber, weil er so in seinem Innern bewegt war, veranlaßte ihn diese Frage sein Schweigen zu brechen, und indem er vor seinem Richter stand, von ihm wie wohl nur gefragt um eine Meinung, die 18 Ordnung,] Ordnung;

34 seiner] seine

35 gehörte,] gehörte, und

2–7 Vgl. Mt 21,8–9; Mk 11,8–9; Joh 12,12–13 Lk 20,25

20–21 Mt 22,21; Mk 12,17;

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er aufgegriffen hatte, zu bestätigen oder zu widerlegen: so ertheilt er ihm dennoch eine Auskunft über sein Reich und über die Beschaffenheit desselben. Diese Auskunft nun, die der Erlöser, indem er dem Tode entgegen ging, und der Ausgang seiner Sache nicht mehr zweifelhaft sein konnte, diese Auskunft, die er seinem Richter ertheilt, laßt uns jetzt zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung machen. Es ist aber diese eine zwiefache; denn zuerst sagt [er] dem Pilatus nur, in welchem Sinn er nicht ein König sei, und von welcher Beschaffenheit sein Reich nicht sei, hernach aber giebt er ihm auch zweitens eine Auskunft über das innere Wesen und über die eigentliche Beschaffenheit desselben. I. Zuerst also, m. a. F, [wurde] der Erlöser von Pilatus gefragt: „Bist du der Juden König?“ Nachdem er erfahren | hatte, wie er zu dieser Frage gekommen sei durch den umlaufenden Ruf des Erlösers, beruhigt [er] ihn in Beziehung auf das, was seine Pflicht als Verweser der römischen Gewalt war, indem er sagt: „Du sagst es, ich bin ein König, aber mein Reich ist nicht von dieser Welt, sonst würden meine Diener darob gekämpft haben, daß ich schon den Juden nicht wäre überantwortet worden.“ Es kann uns wunderbar scheinen, m. g. F., wie der Erlöser dem Pilatus sagen konnte, meine Diener würden darob gekämpft haben, er, der hier so allein und verlassen stand, nicht einmal wie es bei den meisten Angeklagten von einigem Ruf und Ansehen damals Gewohnheit war, geführt von einer großen Schaar der Seinigen, die mit allen Zeichen der Trauer und des Leidwesens angethan, ihn begleitet hätten dahin, wo sein Urtheil sollte gesprochen werden; sondern selbst die Wenigen, die sich um ihn versammelt hatten, und ihr Heil darin fanden, ihn als ihren Herrn und Meister zu erkennen, hatten sich auf sein Geheiß zerstreut, und nur wenige Einzelne waren ihm gefolgt zu diesem | entscheidenden Auftritt. Aber der Erlöser dachte, wenn Pilatus, wie es aus seiner Rede zu schließen war, doch Kenntniß hatte von dem allgemeinen Gerücht, daß Jesus von Nazareth von einem großen Theil des Volkes gehalten wurde für den, der da kommen sollte, und wenn er ihn fragte: Bist du der Juden König? so müsse er ja wohl auch wissen, von welcher Art sein bisheriges Leben gewesen sei, wie oft ihm das Volk schaarenweise nachgegangen sei, um seine Reden zu vernehmen, wie oft sich schon Stimmen dieser Art geäußert, ja Einmal gewiß nicht, sondern öfter eine große Menge des Volks darnach getrachtet habe, ihn auszurufen als ihren König, und ihn an die Spitze der weltlichen Angelegenheiten zu stellen. Gewiß konnte ihm nicht verborgen sein, wie der Erlöser empfangen worden, und gleichsam in einem großen Triumpfzuge von dem Eingange der Stadt bis zu dem Tempel hingeleitet war von einer großen Menge des Volks. Er setzte

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also voraus, Pilatus könne und müsse das wissen, daß, wenn er | irgend einem gleich wäre, der solche gewaltthätige und seiner Gesinnung entgegengesetzte Versuche gemacht hätte, um den gegenwärtigen Zustand aufzuheben, und ein neues Reich Gottes zu gründen, es ihm auch nicht könne gefehlt haben an Dienern und Anhängern, die mit großer Begierde darauf warteten, daß er so aufträte. So lag es denn auch so klar wie des Tages Licht vor Augen, daß dies niemals könnte seine Absicht gewesen sein, sonst würde der Hohepriester und der hohe jüdische Rath, dem nur wenig äußere Gewalt zu Gebote stand, wenn er sich mit einer solchen Macht versehen hätte, nicht im Stande gewesen sein, sich seiner Person zu versichern. Und in diesem Sinne konnte der Erlöser nicht mißverstanden werden von Pilatus, wenn er sagte: Wäre mein Reich von dieser Welt, so würden meine Diener darob kämpfen, daß ich, ich will nicht sagen dir, aber schon den Juden nicht wäre überantwortet worden. Allein, m. g. F. wir können wohl nicht umhin bei dieser Rede des | Erlösers noch an ein anderes Wort desselben zu denken, welches er einem seiner Jünger sagte, als dieser im Begriff war Gewalt zu gebrauchen, um die Freiheit seines Herrn und Meisters sicher zu stellen, zu dem nämlich sagte er: „Weißt du nicht, daß ich meinen Vater bitten könnte, daß er mir zuschickte mehr denn zwölf Legionen Engel zu meinem Dienst?“ Das waren mehr noch als diejenigen, die darob hätten kämpfen können, daß der Erlöser nicht wäre dem Hohenpriester überantwortet worden; aber diese eben so wenig als jene hat er wollen in Bewegung setzen, um zu kämpfen für sein Reich. Und so stellt er es uns also dar in diesen Worten als ein Reich, welches in dem Sinn nicht von dieser Welt ist, daß mit irgend einer äußern Gewalt, mit irgend weltlichen Waffen für dasselbe nie soll gekämpft werden. O, m. g. Fr., so deutlich hat der Erlöser in den Tagen seines Leidens über diesen Gegenstand geredet, und doch wie oft ist es nicht geschehen, daß auch die, welche an seinen Namen glaubten für sein Reich haben kämpfen wollen mit den irdischen | Waffen, wie oft sind die Verkündiger ausgezogen mit dem Schwerte der weltlichen Gewalt bewaffnet, um die Ungläubigen zum Glauben zu bringen, um die Irrgläubigen auf den Weg der Wahrheit zurückzuführen? wie wenig ähnlich dem, was ihr Herr und Meister gesagt und gethan hat! wie wenig gedenkend seiner reinen und heiligen Rede! Aber, m. g. F., nicht das ist es allein; denn ungewiß freilich, wie alle menschliche Dinge sind, dürfen wir doch wohl hoffen, solche Zeiten, wie sie es ehedem waren, werden nicht wiederkehren, und das Schwert der weltlichen Gewalt wird sich nicht wieder ansehen als berufen zu kämpfen für das Reich Gottes. Laßt uns aber fragen, ob nicht auch dasselbige geschieht vielfältig auf andere Weise? Denn alles, was 2 gewaltthätige] gewalthätige 18–20 Vgl. Mt 26,53

13 darob] darauf

20 Dienst?“] Dienst.

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einen wesentlichen Einfluß hat auf das irdische und weltliche Wohlbefinden der Menschen, das wird auch eine irdische und weltliche Macht. Wollen wir diejenigen, die dem Reiche Gottes zuwider sind, dadurch bekämpfen, daß wir alles thun, was in unsern Kräften steht, um sie, sei es auch | mit Recht dem Tadel und der Verachtung der Welt Preis zu geben, wollen wir sie von ihrem falschen Unternehmen zurückschrecken durch die Furcht vor der Schande, vor dem Spott und dem Frevel, der sie treffen könnte durch die rüstigen Verteidiger des Glaubens: so kämpfen wir auch mit irdischen Waffen. Wollen wir das Reich Gottes verbreiten, indem wir die Menschen locken durch Vorspiegelung eines irdischen Wohlergehens, zu welchem sie gelangen können, wenn sie sich gesellen zu den Bekennern des Glaubens; wollen wir den reinen Glauben an den Erlöser erwecken durch irgend ein äußeres und sinnliches Mittel: so kämpfen wir für das Reich Gottes mit irdischen und weltlichen Waffen. Sind wir dann Diener des Herrn? Nein, denn den Seinen hat er alles dies auf das strengste untersagt. Wohl, m. g. F., kann es gut sein und heilsam diejenigen, welche selbst allerlei Lehre und falsche Künste anwenden, um die Einfalt des Evangeliums zu entstellen, um die heiligen Lehren desselben als widersprechend mit der menschlichen Vernunft darzustellen, es kann wohl | heilsam sein diese zu züchtigen mit allen geistigen Waffen, die uns zu Gebote stehen; aber schon, indem wir dies thun, müssen wir nicht glauben, daß wir kämpfen für das Reich Gottes; sondern haben wir ein gutes Bewußtsein, so kann es löblich sein und vortrefflich, daß wir es thun, aber nur dürfen wir dieses nicht verwechseln mit dem heiligen Kampf für das Reich des Herrn; denn dieser leidet keine solche Waffen, die mit irgend einem sinnlich angenehmen oder unangenehmen Gefühl sich der menschlichen Seele bemeistern, wie wir dies aus der zweiten Antwort des Erlösers sehen, wo er sich auf nichts beruft als auf die Kraft der Wahrheit in seinem Reiche. Aber auch dies, m. g. F., folgt noch aus der Rede des Erlösers. Wenn wir besorgt sind in dem Innersten des Gemüthes für den Zustand des Reiches Gottes auf Erden, wenn es uns hier und da im Einzelnen schon in’s Gedränge zu kommen scheint, wie sind wir dann geneigt uns umzusehen | in dem ganzen Zusammenhang der menschlichen Verhältnisse, und zu berechnen, was sich wohl hie und dort könnte Günstiges ereignen, um dem ungünstigen Zustande des Reiches Gottes auf Erden eine andere Wendung zu geben, und die ihm drohenden Gefahren zu enden! Wenn das, m. g. Fr., auch keine Bestrebungen sind, sondern es sind nur Gedanken des Herzens, es sind nur Hoffnungen, denen wir uns überlassen, so handeln wir auch ganz gegen den Sinn des Erlösers. Denn eben der Zusammenhang der irdischen Begebenheiten, das sind die Engel des Herrn, von denen die Schrift sagt, er macht die Winde zu seinen Dienern, und die 40–1 Vgl. Ps 104,4 (zitiert in Hebr 1,7)

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Feuerflammen zu seinen Boten. So sind es alle Ereignisse der Natur, aber auch die von der göttlichen Macht herbeigeführten, und von der göttlichen Weisheit geleiteten Begebenheiten in der Geschichte, welche die Engel und Boten des Herrn sind. Der Herr selbst hat sie nicht erbeten von seinem Vater zu seinen Dienern weder auf eine übernatürliche Weise noch auf dem | Wege der göttlichen Vorsehung, und niemals hat er etwas herbeigeführt zu seiner Rettung für sein Reich, von welchem er wohl wußte, in welche Gefahren es gerathen könne durch seine zeitliche Entfernung von der Erde. So sollen auch wir, m. g. Fr., wenn unser Glaube an den Erlöser rechter Art ist, wenn unsere Treue gegen ihn rein ist, wenn wir unbescholten seine Diener sein wollen in Beziehung auf alles, was seinem Reiche bevorsteht, uns nicht nach äußeren Begebenheiten umsehen, niemals auf sie rechnen und nichts herbei wünschen, noch weniger von Gott herbei flehen, was auf eine äußere Weise dem Reiche Gottes könnte zu Hilfe kommen in drohenden Gefahren. Er hat nicht gewollt, daß mit solchen Waffen für dasselbe soll gekämpft werden, und wenn er es nicht gethan hat, kraft seiner höchsten Macht und Vollkommenheit in diesem entscheidenden Augenblick: wieviel weniger kann es für uns sein, daß wir es auf eine solche Weise thun. Denn niemals wird das Reich Gottes wieder | einen solchen Kampf bestehen, es wird nie wieder so allein beruhen auf dem Schutz des göttlichen Geistes in dem Innern weniger Menschen, wie damals als das Leben des Erlösers in Gefahr kam, und er angeklagt ward der Gotteslästerung. Nein, m. g. F., auf keine Weise sollen wir mit irdischen Waffen für das Reich Gottes kämpfen, und in Beziehung auf dasselbe uns niemals auf äußere Begebenheiten und irdisches Wohl verlassen. In ihm selbst liegt seine Kraft, wie der Herr das Walten der Begebenheiten leitet, jene Kraft, weil sie eine göttliche selbst ist, kann durch den Zusammenhang der äußern Begebenheiten weder leiden noch irgend einen Zuwachs erhalten. Im Innern des Menschen muß sie sich befestigen, von da aus allein muß sie wirken, wie es der rein geistigen gebührt; und so wie jeder von uns im Einzelnen eben sowohl unter den Leiden und Widerwärtigkeiten als unter den Freuden des Lebens Veranlassung findet zur Reinigung und Heiligung seiner Seele: so auch kann und soll das Reich | Gottes durch jeden ungünstigen und günstigen Zustand hindurch immer schöner unter den Menschen erblühen; wenn es äußerlich begünstigt ist in der Welt, so hat es Gelegenheit an innerer Kraft zuzunehmen, und je mehr es diese findet, je mehr die Erfahrung es bestätigt, desto mehr sollen wir vertrauen den Worten des Erlösers, daß es feststehen werde, die Begebenheiten mögen sein, welche sie wollen, und daß es niemals eines äußeren Schutzes bedürfen werde. Dies nun können wir im Vertrauen auf die innere Kraft desselben, und so leitet uns dies auf unsere zweite Betrachtung, nämlich auf die zweite Antwort, welche der Erlöser dem Pilatus gab auf seine erneuerte Frage.

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II. Nachdem der Erlöser ihm das so klar vor Augen gelegt hatte, daß, wenn er ein solcher wäre, der irgend ein äußeres Reich gegen die bestehende Ordnung zu gründen suche, er ganz anders würde zu Werke gegangen sein von Anfang an sowohl, als auch an diesem entscheidenden Tage: so war eigentlich genug geschehen in Beziehung auf das Verhältniß | in welchem der Herr zum Pilatus stand. Diese klare Darlegung der Sache mußte billig in ihm das Übergewicht bekommen über das, was das Gerücht ihm sonst von Besorgnissen über die Person des Erlösers hätte einflüstern können. Als aber Pilatus nun seine Frage erneuerte, so bist du also dennoch ein König, und also nicht zufrieden war mit jener verneinenden Antwort und Beweisführung, mit der er als Richter des Erlösers hätte können zufrieden sein; was erließ nun der Erlöser noch für eine neue Antwort? O, m. g. F., was können wir wohl anders als eben die unendlich menschenfreundliche Gesinnung des Erlösers auch hier wieder erkennen. Da er einmal vor diesem seinem unwürdigen Richter stand, und dieser sich mit ihm einließ in ein Gespräch: so glaubte er, daß er auch ihm nicht versagen könnte eine Auskunft kurz und bündig, aber kräftig und tröstend genug für das, was Noth thut, wenn es in diesem Augenblick nöthig war. Ich möchte sagen, es erschien ihm als ob aus der wiederholten Frage des Pilatus doch hervorginge ein geheimes Verlangen nach einem andern | Reiche als das ist, von welchem er selbst einen kleinen Theil zu verwalten hatte, ein geheimes Verlangen nach einer andern und höhern Gewalt als derjenigen, deren Werkzeug er selbst war. So bist du, fragte er ihn, dennoch ein König? wenn also dein Reich nicht ist von dieser Welt, wie du eben so deutlich ausgesprochen hast: so muß es ein anderes geben, dessen Beherrscher du bist, sage mir, was ist es für ein Reich? Dieses fand der Erlöser in der Frage des Pilatus, und es lag auch gewiß darin, wie wohl es leider nur eine flüchtige vorübergehende Regung eines sonst verstockten Herzens war; aber auch die glaubte der Erlöser, der milde Erbarmer, der alle Mühseligen und Beladenen zu sich gerufen hat, auch die glaubte er nicht übergehen zu können, und nun gab er dem Pilatus die zweite Auskunft, die wir gehört haben, „ich bin ein König, dazu geboren und öffentlich aufgetreten, daß ich von der Wahrheit zeugen soll, die nun aus der Wahrheit sind, die hören meine Stimme.“ O, m. g. F., laßt uns, indem wir diese köstlichen Worte erwägen, besonders gedenken, unter welchen Umständen sie gesprochen sind. Sein | eigentliches Amt als Lehrer der Menschen hatte der Erlöser gleichsam schon niedergelegt, es war geschlossen in dem Augenblick, wo er, seiner Freiheit beraubt, als Angeklagter zuerst vor dem Hohenrath seines Volkes, und dann 5 diesem] diesen

13 was erließ] was er erließ

30–31 Vgl. Mt 11,28

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vor der weltlichen Obrigkeit stand; aber doch als ihn nun im Gespräch mit dem Pilatus etwas Heilsbegieriges aus seiner Seele entgegentritt, nimmt er den schon niedergelegten Beruf wieder auf, und in einem einsamen Gespräch legt er ihm dar in kurzen Worten das Wesen seines Reiches; seine ganze Bestimmung spricht er hier aus nicht nur für Pilatus, sondern eben, weil er von der Wahrheit zeugen will, legt er ihm auch den ganzen Grund und das ganze Wesen dieses Reiches dar, wie er es in sich selbst fühlte, und wie es uns allen noch immer lehrreich und uns zur tiefern Erkenntniß seiner heiligen Absichten hinführend sein muß. Das giebt er an als seine Bestimmung, daß er gekommen sei um von der Wahrheit zu zeugen. So redet er auch anderwärts. Indem er im Begriff | war seinen Beruf niederzulegen, und Gott, seinem Vater, Rechenschaft abzulegen von der Führung desselben, sagt er: „alles, was du mir gegeben hast, habe ich den Menschen wiedergegeben, und deinen Namen verklärt und das Werk vollendet, welches du mir aufgetragen hast, daß ich es thun sollte.“ So meint er es also, wenn er sagt, „ich bin ein König, dazu in die Welt gesandt, daß ich von der Wahrheit zeuge“. Das war die Wahrheit, was er von seinem Vater gehört und vernommen hatte, was er ansah als das ihm anvertraute göttliche Wort; er stellte sich hier wiederum dar als das Fleisch gewordene Wort, als die Offenbarung Gottes an die Menschen, und sein ganzes Leben als die Bestimmung diese zur That zu bringen, den Menschen kund zu thun den göttlichen Willen Gottes, und sein Wesen, das geistige, welches auch nur im Geist und in der Wahrheit will angebetet sein, den väterlichen Willen, der die Kinder zum Gebrauch ihrer Freiheit führt, und sie auf das innigste mit dem Urquell alles Lebens und aller Seligkeit vereinigt, den heiligen göttlichen | Willen, daß, wenn wir in der Kraft des Sohnes und in der Verbindung mit ihm den Willen des Vaters im Himmel zu erfüllen streben, er dann auch zu uns kommen werde, um die Thür zur Seligkeit in unserem Herzen aufzuschließen. Das war die Wahrheit, von welcher der Erlöser sagt, er sei gekommen um von ihr zu zeugen. Von welcher Art aber seine auf diese Wahrheit gegründete Herrschaft sei, das sagt er uns im Folgenden: „Die nun aus der Wahrheit sind, die hören meine Stimme – und folgen mir“, wie er anderwärts hinzusetzt. Und aus allen denen, die seine Stimme hören und ihm folgen, besteht sein Reich, die leitet er durch nichts anderes als durch die Wahrheit, von welcher er nicht nur während seines irdischen Lebens, sondern immer und ewig Zeugniß ablegt. Und die Wahrheit sagt er über dies zu denen, die auf seine Worte hören, die Wahrheit wird euch frei machen, und so hat seine Herrschaft kein anderes Ziel als eben durch | die geistige Kraft der Wahrheit die Menschen zu befreien, welche Knechte wa32 Stimme –] Stimme, 13–15 Vgl. Joh 17,4.6.8 38 Joh 8,32

22–23 Vgl. Joh 4,23–24

31–32 Vgl. Joh 10,27

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ren, und sein mußten eben deswegen, weil sie sich von der Wahrheit entfernt und sie in Ungerechtigkeit aufgehalten hatten. Denn aller Wahn und aller Irrthum in dem menschlichen Gemüth beraubt den Menschen der Freiheit, und stürzt ihn in Knechtschaft, der Herr aber, gekommen von der Wahrheit zu zeugen, war auch gekommen die Menschen frei zu machen. Wie er sich also hier darstellt, so sagt er, er sei ein König durch keine andere Kraft als durch die Kraft der Wahrheit, und er herrsche, aber auch nicht so, wie die Gewaltigen dieser Welt, sondern er herrsche nur, indem er diejenigen, die ihm gehorchen, frei mache, und die höchste Freiheit derer, die ihm folgen, welche durch die Wahrheit allein errungen werden kann, die sei das Ziel seiner Herrschaft. Aber eben deswegen, weil diese Freiheit, das Ziel seiner | Herrschaft, nur durch die Wahrheit errungen werden kann und durch sie erhalten: so hört seine Herrschaft nicht auf, wenn die Freiheit errungen ist, sondern die Freiheit der Kinder Gottes besteht darin, daß sie durch die innige Liebe, die dadurch in ihrem Herzen aufgegangen ist, nie aufhören dem zu folgen, und seine Stimme zu hören, der niemals müde wird ein Zeugniß abzulegen für die Wahrheit. Das, m. g. F., das also schwebte dem Erlöser vor, das erfüllte seine Seele in diesem Augenblick; gewiß auch eine tiefe Erniedrigung, da er der Gesandte Gottes stand vor einem Richter, wie Pilatus war, genöthiget ihm Rechenschaft abzulegen von sich selbst, und von ihm erwartend sein äußeres Schicksal; das schwebte ihm vor, wie er gekommen sei von der Wahrheit zu zeugen, aber wie nun auch dieses göttliche Saamenkorn schon begraben sei in dem Herzen der Menschen, aus welchem es bald empor|keimen werde und erwachsen zu einem Baume, der alle Menschen unter seinen Schatten aufzunehmen bestimmt ist. So schwebte ihm vor die Menge derer, die noch in ferneren Jahrhunderten, welchen er von der Wahrheit Zeugniß geben sollte, auf seine Stimme hören würden, und ihm folgen. Was sagt er aber, m. g. Fr., wer denn diese wären? Diejenigen, welche aus der Wahrheit sind, die hören meine Stimme. Wie konnte denn, m. g. F., der Erlöser das von den Menschen sagen, daß sie aus der Wahrheit sind? Waren sie nicht gewichen von der Unschuld und Reinheit der Seele zugleich? Giebt es ein wahreres Bild als dasjenige, welches uns der Apostel Paulus im Anfange seines Briefes an die Christen zu Rom darstellt von dem Zustand der Menschen vor der Ankunft des Erlösers, daß sie nämlich, weil sie die Kraft der Wahrheit nicht festgehalten hätten, sondern sie verkehrt in Wahn und Irrthum, dahin gegeben wurden in das Verderbniß ihres Herzens, | und eben deswegen auch immer aufs neue die Wahrheit aufhielten in Ungerechtigkeit? Wenn das, m. g. F., das allgemeine Bild des menschlichen Zustandes ist, wenn der Apostel, in36–37 wurden] worden 23–26 Vgl. Mk 4,30–32

33–38 Vgl. Röm 1,18.24–25

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dem er es ausführt, sagt: „so sind sie denn allzumal Juden und Heiden und Heiden und Juden Sünder“; wie konnten denn welche aus der Wahrheit sein, und seine Stimme hören? woraus soll sich sein Reich erbauen? Aus nichts, wie die ganze Welt der Herr aus nichts erschaffen hat. Ja, m. g. F., die Menschen hatten die Wahrheit aufgehalten in Ungerechtigkeit, nicht einmal die klarste, die tiefste und allgemeinste, nämlich, daß ein Gott sei, und Gott sich ihnen offenbart habe, auch die hatten sie nicht festhalten können, und Juden so wenig wie Heiden, und Heiden so wenig wie Juden, auch die hatten sich das Bild Gottes verunreinigt und verunstaltet im Herzen. Wo waren denn die, die aus der Wahrheit sein sollten? Freilich, m. g. F., der Erlöser hätte auf dem | Wege der Wahrheit, und dadurch, daß er das Zeugniß von ihr gab, die Menschen nicht erlösen können, wenn nicht doch noch das Verlangen nach Wahrheit tief in ihrem Herzen gewohnt hätte, und dies meint er und mehr nicht von denen, die aus der Wahrheit wären. Wo eine menschliche Seele ein Verlangen nach Wahrheit, ein Gefühl hat von der Dunkelheit des Todes, in welchen sie ohne den Erlöser gerathen muß, und von der Finsterniß, die sie überall umgiebt: ach die hört seine Stimme, und folget ihm. Und so machte er auch hier den Versuch, ob derjenige, dem es noch anfing in seiner Seele zu dämmern als ob es noch eine andere Herrschaft gäbe und ein anderes Reich als das, welches er kannte, ob auch in dem könnte das Gefühl für die Wahrheit erweckt werden. Aber nein, was ist Wahrheit? sprach Pilatus; und ging wieder zurück. Wohlan, m. g. Fr., laßt uns das bedenken bei diesen Worten unseres Herrn, nur diejenigen, welche aus der Wahrheit sind, hören seine Stimme. | Wenn je das Verlangen nach Wahrheit in uns erstirbt, wenn wir je aufhören, es zu fühlen, daß wir hier immer nur in einem dunklen Worte schauen, und uns das Licht immer auf’s neue kommen muß von dem, der allein Leben und Unsterblichkeit an das Licht gebracht hat, wenn wir je aufhören, uns selbst das Zeugniß zu geben, daß, wenn wir schauen in dem Sohne die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, wenn wir in ihm erkennen den Abglanz seines Wesens, so trübt sich das alles doch wieder in unserer Seele wegen der Dunkelheit, die in uns ist, und immer müssen wir gegen die Wirkungen dieser Dunkelheit kämpfen; wenn wir je aufhören das zu fühlen, und glauben das Ziel schon errungen zu haben, und hören auf, uns darnach zu strecken: o dann bedenkt es wohl, dann sind wir nicht aus der Wahrheit, und hören nicht die Stimme des Herrn. Aus der Wahrheit müssen wir immer sein, und nach ihr verlangen; immer müssen wir fühlen, daß wir in diesem | irdischen Leben auf’s neue schöpfen müssen aus der Quelle der Wahrheit, und in jedem Augenblick unsere Zuflucht nehmen zu ihrem himmlischen König, in wel1–2 Vgl. Röm 3,23 5 Vgl. Röm 1,18 29–30 Vgl. Joh 1,14

21–22 Joh 18,38

27–28 Vgl. 2Tim 1,10

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chem der Strom derselben immer lauter quillt, und eben deswegen, weil wir so aus der Wahrheit sind, niemals unterlassen auf seine Stimme zu hören. Aber dann, m. g. F., wenn wir immer auf seine Stimme hören, und immer aus der Wahrheit sind, dann wird sie auch immer mehr unser Eigenthum werden und unser herrlichster Besitz; wir werden fühlen, daß wir durch sie immer mehr frei werden von allem, was Wahn und Irrthum in der Seele hervorbringt, und in dem Gefühl dieser Freiheit werden wir Zeugniß geben von der Wahrheit und von den Wirkungen des Erlösers, der da gekommen ist, um von der Wahrheit zu zeugen. Ja so spricht er selbst: diejenigen, die an mich glauben, deren kleineres oder größeres Häuflein ist eine Stadt auf einem Berg gebaut, welche nicht vermag, sich zu verstecken, sondern sie muß den Menschen offenbar werden, daß sie sehen die guten Werke derer, die in dieser | heiligen Stadt Gottes wohnen, und Gott, den Vater, darüber preisen. Wie der Herr gekommen ist, um von der Wahrheit zu zeugen, und darin sein Reich besteht: so ist es nun der köstlichste Beruf aller derer, die der Sohn frei gemacht hat durch die Wahrheit, daß sie auch zeugen von der Wahrheit; von der Wahrheit, daß in keinem Andern Heil ist, und kein anderer Name den Menschen gegeben, worin sie selig werden sollen, als der Name Jesu Christi; von der Wahrheit, daß niemand zum Vater kommen kann, denn allein durch den Sohn, weil niemand den Vater kennt als der Sohn, und wem er es will offenbaren; von der Wahrheit, daß, wenn wir diese Offenbarung annehmen, alsdann auch der Vater seinen Geist in unsere Herzen senden wird, der uns frei macht von allem, was sonst noch die Menschen zügelt, und was doch immer nur eine äußerliche Schuldlosigkeit hervorbringen kann, so daß wir in der Kraft des Geistes niemals aufhören Jesum einen Herrn zu nennen. Das | war es, m. g. F., was in der Seele des Erlösers lebte, als er dieses heilige Wort sprach, und wodurch der Augenblick seiner Erniedrigung zugleich auch der Augenblick seiner höchsten Erhöhung ward. Denn er sah im Geist, und fühlte in dem Tiefsten seines Herzens die Schönheit und die ewige Dauer seines Reiches, er sah im Geiste die Schaaren derer, die seine Stimme hören, und ihm nachfolgen würden. Und so, m. g. F., wie er die Begrüßung und die Palmen derer verschmäht hat, die in irgend einem irdischen Sinne ihm zuriefen: „Hosianna, dem Sohne Davids; gelobet sei, der da kommt, in dem Namen des Herrn“: so griff er nun, durch dieses Wort in seiner Seele gestärkt und befestigt, nach der Dornenkrone. Nicht leer ist auch dies für uns, m. g. F.; denn anders kann es nicht sein, die Kraft der Wahrheit und die Herrschaft derselben, sie ist nicht ohne Dornen, und es sind die Kinder des Unglaubens und des Zorns; 35 griff] ergriff 9–14 Vgl. Mt 5,14.16 17–19 Vgl. Apg 4,12 Mt 11,27; Lk 10,22 33–34 Vgl. Mt 21,9

19–20 Vgl. Joh 14,6

20–21 Vgl.

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es sind diejenigen, welche frevelnd der Herrschaft der Wahrheit spotten; es sind diejenigen, die in die Verkehrtheit des Herzens dahingegeben sind, welche | denen, die durch die Gewalt der Wahrheit das Reich des Herrn verbreiten und befestigen wollen, die Krone der Dornen aufsetzen. Der Herr hat sie getragen, und alle diejenigen, die am meisten in der Welt beitrugen, um sein Reich zu verkündigen, und das Zeugniß der Wahrheit unter den Menschen zu befestigen; sie haben sie getragen. Und sie ist und bleibt das heilige Sinnbild, unter welchem uns der Erlöser dargestellt wird: „Sehet welch ein Mensch“! Aber auch so geschmückt ist er, der König des menschlichen Gemüthes, durch die Kraft der Wahrheit; vermochten auch die Dornen noch die letzten Augenblicke seines Lebens zu trüben: o so sehen wir doch in ihnen das Zeichen seiner Herrschaft. Und so, m. g. F. soll es immer sein unter allen denen, die an seinen Namen glauben. Die Leiden, welche der Glaube über uns bringt, sie sind die schönste Krone der Dornen, die wir mit dem Erlöser theilen, aber eben so tief, wie ihm selbst, ist auch denen, die seiner Stimme | gefolgt sind, die Überzeugung von seiner ewigen Herrschaft gegeben. Und so laßt uns das Reich der Wahrheit in uns selbst festhalten, und nach unserem Vermögen Zeugniß ablegen von ihrer Kraft, damit immer mehr die Herrlichkeit dessen anerkannt werde, der durch Leiden eingehen mußte in seine Herrlichkeit, und dem hernach sein Vater die Seelen der Menschen zum Lohn gegeben hat. Amen.

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[Liederblatt vom 23. März 1823:] Am Palmsonntage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Zion klagt mit etc. [1.] Senke dich auf uns hernieder, / Geist der uns mit Feuer tauft! / Alle sind wir Jesu Glieder, / Und mit seinem Blut erkauft, / Füll uns mit der Andacht Glut, / Irrdischer Gedanken Fluth / Laß des Herzens Ruh nicht stören, / Noch den stillen Geist empören. // [2.] Lehre selbst uns würdig feiern / Jesu Christi Leidenszeit; / Unsern Bund mit Gott erneuern / Lehr uns, Geist der Heiligkeit. / Ernst und heilig sei der Sinn, / Der zum Kreuz sich richtet hin, / Und von deinem Strahl getroffen, / Jeder frommen Rührung offen. // [3.] Stell den Mittler unsres Bundes / Uns als reinen Dulder vor, / Bring die Reden seines Mundes / In das aufgeschloßne Ohr; / Führ uns nach Gethsemaneh / Mitzufühlen dort das Weh, / Das die Seele ihm durchdrungen, / Als der Bosheit 7 getragen. Und] getragen wie? und 8–9 Vgl. Joh 19,5

19–20 Vgl. Lk 24,26

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Werk gelungen. // [4.] Zeig uns du den Weltversöhner / Unter seiner Mörderschaar, / Wie auf Erden keiner schöner, / Keiner so verachtet war; / Wie er falscher Zeugen Hohn, / Purpurmantel, Dornenkron, / Geißelschläge, Schmerz und Wunden / Duldend mächtig überwunden. // (Rigaer Ges. B.)

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Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf, ruft etc. [1.] Ewig wollen wir verkünden / Dich eingen Mittler unsrer Sünden, / Dich, der für uns am Kreuz erblich. / Neues Leben uns zu bringen, / Mit deiner Lieb uns zu durchdringen, / Weihst opfernd du dem Tode dich. / Der du für uns gebüßt, / Dich unsern Retter grüßt / Froh die Seele! du hast gethan / Was niemand kann, / Führst sterbend Sünder himmelan, // [2.] Herr wie leidest du geduldig! / Du Heilger sollst des Todes schuldig, / Ein Lästrer sein, du Gottes Sohn? / Nein du starbst für unsre Schulden, / Uns zu erlösen mußt du dulden / Der Sünder Widerspruch und Drohn. / Du stirbst nach Gottes Rath, / O große Wunderthat! / Du Lamm Gottes, das Sünde trug, / Für uns ein Fluch, / Wer dankt, wer lohnt dir das genug! // [3.] Selig, wem du Herr dich schenkest, / Wer dein gedenkt, deß du gedenkest, / In wem du lebst, und er in dir! / Fließt das Herz in deins hinüber, / So strömts von Himmelsfreuden über, / Licht, Leben, Liebe quillt herfür. / Dein liebend Angesicht / Umfließt wie Sonnenlicht / Seel und Sinne! So sendest du / Vom Himmel Ruh / Noch immer den Erlösten zu. // [4.] Jesu, Jesu sei gepriesen / Für alles was du uns erwiesen, / Für Angst und Schmerz, für Spott und Tod. / Laß an den errungnen Gaben / Uns täglich mehr Gemeinschaft haben, / Sei Trost und Heil in jeder Noth. / Laß fest den Glauben stehn, / Bis in des Himmels Höhn / Wir dich schauen. / Dir leben wir, wir sterben dir, / Dein eigen sind wir für und für. // (Döring.)

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Nach der Predigt. – Mel. die Tugend wird etc. O Preis dir Heiland und Befreier, / Dir Menschensohn voll Lieb und Macht, / Daß du ein allbelebend Feuer / In unserm Innern angefacht. / Nun erst sehn wir den Himmel offen / Als unser rechtes Vaterland. / Wir glauben nun, wir lieben, hoffen / Und fühlen uns mit Gott verwandt. //

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Am 28. März 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Karfreitag, vermutl. 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 7,26–27 Nachschrift; SAr 62, Bl. 13r–16v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 125r–125v; Gemberg Vakanzpredigt für Herzberg (OGD; vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Eingangsvotum (nur in SAr 52)

Aus der Predigt am Charfr. 1823. früh Ebr. 7 v. 26. 27. Wie der Erlöser während der Tage seines irdischen Lebens die himmlische Wahrheit, welche den Menschen zu offenbaren er gekommen war, nicht anders an ihre Seelen bringen konnte als indem er sich der Sprache bediente und seine Lehren an die ihnen gewohnten Gedanken und Vorstellungen anknüpfte: so auch der Geist Gottes in unsern heilgen Büchern indem er es aus der Fülle des Erlösers nimmt und uns verklärt vermochte es nicht anders als die ewige Wahrheit darzuthun in menschlicher Rede; daher wir denn so vieles finden in den Büchern des neuen Bundes welches sich auf solche Vorstellungen bezieht die aus dem alten Bunde hergenommen sind eben um das Neue dem Alten anzuknüpfen, und daher wird auch von unserem Erlöser immer so geredet als sei er das Haupt eines neuen Bundes, ähnlich aber unendlich viel höher als der den Gott geschlossen mit dem Volk Israel. – Wie wir aber in unsern Betrachtungen über das Leiden des Erlösers hauptsächlich zum Gegenstand unsrer Erbauung hatten, dieses: wie in demselben sich zu gleicher Zeit auf der einen Seite seine Erniedrigung in der er gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz, auf der andern Seite seine Erhöhung durch die Fülle der Gottheit in ihm offenbart hat: so wird nun auch in den Worten des Textes eben so geredet; denn indem der Erlöser genannt wird unser Hohepriester, erhaben über alles Menschliche, so deutet das eben hin auf seine Erhöhung. – Aber indem der Erlöser dargestellt wird 0 Eingangsvotum (vgl. SAr 52, Bl. 125r): „Ehre Preis und Dank dem Höchsten, der seinen eigenen Sohn dahingegeben, daß er uns frei mache von aller Unreinigkeit und uns heiligte ein Volk, dem Herrn angenehm.“ 15–19 Vgl. oben 9. März 1823 vorm.

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als das Opfer für unsre Sünde, so zeigt uns dies seine Erniedrigung; denn bei allen frühern Gottesdiensten wo Menschen geopfert wurden waren es solche welche den Abscheu der andern auf sich geladen hatten, und als diese rohe Zeit vorüber war wurden alle Opfer genommen aus dem Thier und Pflanzenreich: So hat sich also der Erlöser erniedrigt indem er sich | selbst dargebracht hat zum Opfer für unsre Sünde[.] So laßt uns betrachten: 1. Wie der Erlöser unser Hohepriester sei, und zugleich 2. Das Opfer für unsre Sünde 1. Was nun das Erste betrift so heißt es in dem Briefe woraus unser Text [genommen ist] an einer andern Stelle: jeder Priester sei dazu eingesetzt daß er Gebete und Opfer darbringe für das Volk (und daß er ein Pfleger sei der himmlischen Güter und ein Verweser der heilgen Hütte) der neue Hohepriester aber habe eine ewige Erlösung erfunden: so daß nun nichts weiter nöthig sei um die Menschen von der Sünde zu erlösen und ihre Gemeinschaft mit Gott zu befestigen. Darum sagt auch der Apostel „einen solchen Hohenpriester mußten wir haben der da sei heilig...“ damit nicht seine eigne Sünde ihn immer wieder nöthige sein Geschäft zu erneuen, und um eine ewige Erlösung zu erfinden mußte er sein abgesondert von den Sündern, mit einer Kraft erfüllt Alles zu überwinden was sich dem Werke seiner Versöhnung und Erlösung entgegenstellte, und dem höchsten Wesen so nah und so innig verbunden daß seiner Vertretung nichts könne im Wege stehen; denn dazu ist er gen Himmel gefahren daß er uns vertrete bei Gott und seine Nähe beim Vater verbürgt uns eben die Vollständigkeit und Ewigkeit seiner Erlösung: So ist er nun auch immerdar ein Pfleger aller geistigen Güter und ein Verweser der wahrhaftigen Hütte: Ein Pfleger ewiger Güter; denn wie die Schrift sagt „er sei uns gemacht zur Wahrheit zur Heiligung und Gerechtigkeit“, so sind dies eben die geistigen Güter welche das menschliche Geschlecht nicht finden konnte ohne ihn: ehe er erschien war keiner gerecht sondern sie waren allzumal Sünder, sie hatten | die ewige Wahrheit die Gott ihnen offenbart hatte dadurch daß er ein Licht in den menschlichen Herzen angezündet hatte ihn zu erkennen in seinen Werken, diese hatten sie aufgehalten in Ungerechtigkeit und waren dahingegeben in die Thorheit des menschlichen Herzens. Er ist uns aber geworden zur Weisheit; denn wie niemand den Vater erkennen kann als durch den Sohn: so kann es auch ohne Erkenntniß Gottes 15 Menschen] Men

16 befestigen.] befestigen;

30 sondern] sonder

11–13.25–26 Vgl. Hebr 8,2–3 13–14 Vgl. Hebr 9,12 27–28.35 Vgl. 1Kor 1,30 30–33 Vgl. Röm 1,18–20 35–36 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

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der die Fülle der Weisheit ist gar keine geben für uns und so ist er eben erschienen um den Menschen zu offenbaren alles was der Vater ihm gegeben. Und wir wissen es daß wir noch immer schöpfen können aus seiner Fülle Weisheit wie sie uns nöthig ist uns geistig zu nähren und wie ein jeder im Stande ist zu schöpfen. So ist er uns auch geworden zur Heiligung und Gerechtigkeit; denn indem er abgesondert war von den Sündern zeigt uns sein Kreuz die Gewalt auch unsrer Sünde, wir sehn es wie die Sünde in jedem zur Versuchung gereichte dem Andern, indem wir nun aber können von dem Menschen wegsehn, ohne uns des menschlichen Bildes zu entwöhnen weil wir hin sehen auf den Einen Menschen ohne Sünde so wird uns nun die Gemeinschaft mit ihm und durch ihn untereinander zur Heiligung. Und eben dadurch ist nun der Erlöser als Pfleger ewiger Güter zugleich auch der Verweser einer geistigen und vollkommnen Hütte. Wie nun der Hohepriester im alten Bunde gesetzt war als Verwalter des Tempels der heiligen Hütte da Gott wohnt und den höchsten Gottesdienst selbst zu vollziehen: so wird der Erlöser genannt der Verwalter einer ewigen Hütte, eines Tempels nicht mit Menschenhänden gebaut, denn Gott wird nicht in solchen angebetet sondern des unsichtbaren Tempels in welchem | Gott angebetet wird im Geist und in der Wahrheit, des geistigen Tempels an welchem wir alle lebendige Steine sind zusammengefügt zum schönen Ganzen weil Christus der Eckstein ist, des Tempels welcher sich erhebt auf dem Grund den er selbst gelegt hat, und in welchem wir verbunden sind zu Priestern Gottes darzustellen das Heiligthum in welchem der Höchste wahrhaft wohnt, insofern nemlich als Christus mit dem Vater gekommen ist Wohnung zu machen in dem Herzen eines jeden. So ist Christus unser Hohepriester, aber er ist es erst geworden durch seinen Tod, in diesem hat er die ewige Erlösung erfunden; denn wie er auf Erden leben mußte damit wir ihn erblickten als Abglanz des himmlischen Vaters so mußte er auch wieder auffahren damit er uns nach sich ziehe, uns die Stätte bereite und uns vertrete bei seinem Vater, und wie er zuerst den Menschen mitgetheilt jene ewigen Güter und gestiftet hatte den unsichtbaren Tempel, so konnte er der Pfleger und Verwalter nicht sein er mußte denn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels nach seiner Erhöhung von der Erde; denn als die Schaar seiner Gläubigen sich ausbreitete, hätte er sie nicht alle unmittelbar erfreun können wenn er auf Erden lebte: er mußte erhoben werden zu der Höhe von welcher aus er allen gleich nah und gegenwärtig sein konnte im Geist, von der aus er der Pfleger und 18 angebetet] angebettet 5–6 Vgl. 1Kor 1,30 12–13 Vgl. Hebr 8,2 21 Vgl. 1Petr 2,5–7 24–25 Vgl. Joh 14,23 34 Vgl. Mt 26,64; Mk 14,62

18–19 Vgl. Joh 4,21.23 26–27 Vgl. Hebr 9,12

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Verwalter sein konnte durch die Wirkungen seiner geistigen unmittelbaren Gegenwart. Eben so redet er selbst von sich indem er sagt: „so lange das Waitzenkorn nicht versenkt ist und erstirbt bleibts allein, es muß ersterben auf daß es Frucht bringe vielfältig.“ | So sagt er zu seinen Jüngern es wäre ihnen gut daß er hinginge; sonst könne der Geist Gottes nicht zu ihnen kommen. Der ist es aber allein der Geist der Wahrheit, der uns zurichtet zu dem geistigen Tempel des Herrn, der ist es indem er es aus seiner Fülle nimmt und uns verklärt der den Erlöser uns gedeihen läßt zur Weisheit und Gerechtigkeit; denn darum ist der Erlöser erst unser Hohepriester geworden indem er ins Heiligthum einzog durch sein Blut, denn wie sein ganzes Leben Gehorsam war: so konnte er auch keines andern Todes sterben als eben eines solchen daß auch sein Tod wäre ein Werk seines Gehorsams, also ein Bestandtheil der Gott wiederbringenden Kraft und Thätigkeit in ihm, davon der Geist der Wahrheit allein uns Zeugniß geben kann nachdem der Herr das ganze Werk vollbracht. Wie nun aber der Erlöser in den Himmel eingegangen ist durch sein Blut so ist er uns ein Opfer geworden und hat sich selbst geopfert für unsre Sünde. Und das ist das 2. Der Apostel sagt: „Jeder Priester ist dazu eingesetzt daß er Opfer darbringe für die Sünde des Volks unser Hohepriester aber hatte nichts anders zum Opfer zu bringen als sich selbst.“ Laßt uns aber bedenken was es eigentlich nach der Art des alten Bundes sagen will daß der Erlöser sich selbst geopfert hat. So redet unser Brief: „Alle Opfer des Alten Bundes haben nicht vermocht die Sünde wegzunehmen sondern nur zu stiften ein Gedächtniß der Sünde.“ Und das ist auch das Erste daß der Erlöser durch seinen Tod gestiftet hat ein Gedächtniß der Sünde, aber ein ewiges – Denn was war es anders als die Gewalt und Macht der Sünde was die Ursach seines Todes war, was | war es als jene tiefste Verblendung welche die Wahrheit aufhielt in Ungerechtigkeit die zu einer Lästerung Gottes ihm anrechnete daß er sich dargestellt als Gottessohn! was anders daß sie in so verkehrtem Eifer aufgeregt waren gegen den der auch ihnen das Heil mittheilen wollte, was war es sonst daß selbst das Volk einstimmen konnte in das „Kreuzige ihn“, was war es als die größte und schnödeste Gewalt der Sünde daß seine 11 war:] war. 2–4 Joh 12,24 5–6 Vgl. Joh 16,7 8 Vgl. Joh 16,14–15 20–21 Vgl. Hebr 8,3 24–26 Vgl. Hebr 10,1–3 29–30 Vgl. Röm 1,18 30–31 Vgl. Mt 26,63–65; Mk 14,61–64; Lk 22,70–71; Joh 10,33–36 33 Mk 15,13–14; vgl. Mt 27,22–23; Lk 23,21; Joh 19,6–15

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Feinde nicht genug hatten daß sie ihn an’s Kreuz gebracht sondern auch da ihn noch mit Hohn und Spott überhäuften! Ja es giebt kein größres Gedächtniß der Sünde als das der Tod des Herrn gestiftet hat, und in sofern das Gedächtniß der Sünde sie verfolgt so hat er schon darin eine ewige Erlösung erfunden, weil sein Kreuz ein ewiges Gedächtniß der Sünde ist in jedem gläub’gen Herzen. Und nicht etwa so daß wir sagen könnten: das ist das Gedächtniß der alten Sünde: nein, sondern es ist dieselbige Sünde der wir noch mehr oder weniger angehören, und so ist es noch immer: entweder der Mensch kreuzigt in sich die Lust an der Welt wie sie ist ohne den Geist des Herrn oder er kreuzigt den Fürsten des Lebens; denn wo wir irgend etwas Verkehrtes finden welches ja widerstrebt dem Aufbau des Tempels Gottes im Geist und in der Wahrheit, sei es die Selbstgefälligkeit des Menschen welche ihn festhalten läßt an dem was er als wahr anzuerkennen gewohnt ist so daß die göttliche Wahrheit nicht auf ihn eindringen kann, und er so beraubt wird des Lichtes von Oben, sei es die Anhänglichkeit an die Sitten die doch immer noch müssen gereinigt werden durch den Geist, oder sei es was es sei: es ist dasselbige wodurch sie den Herrn getödtet haben. Darum ist das Opfer das der Hohepriester dargebracht hat ein ewiges und unauslöschliches Gedächtniß der Sünde, aber die Unvollkommenheit hat es nicht daß es wie die frühern zwar ein Gedächtniß der Sünde zu stiften aber sie nicht hinwegzunehmen vermöge[.] | Indem wie die Schrift sagt daß er durch Ein Opfer Alles vollendet habe: so nimmt es die Sünde indem es ein ewiges Gedächtniß derselben stiftet zugleich auf ewig hinweg. Aber nur dadurch, daß wir theilnehmen an das Opfer das der Herr selbst dargebracht hat, so daß wir sagen können: Ist nun Christus gestorben so bin ich mit ihm der Welt gestorben auf daß ich mit ihm lebe, nur dadurch ist die ewige Erlösung für uns erfunden; denn das ist das Geheimniß des ewigen Opfers Christi: wir können darin das Gedächtniß der Sünde nicht finden ohne mit ihm der Sünde abzusterben, indem wir das Gedächtniß der Sünde finden verschwören wir uns irgend einen Antheil daran zu nehmen, wir beginnen ein neues Leben durch ihn welchen wir erkennen als unsern Hohenpriester der der Verweser ist der Hütte zu welcher wir hineilen um von ihm geheiligt zu werden und gebildet zu seinem Volk. Aber eben deswegen weil die Sünde hinweggenommen wird durch das Opfer Christi, hinweggenommen dadurch daß wir ihr absterben und so in der Tiefe unsers Bewußtseins uns das Opfer Christi aneignen in der Erscheinung aber immer noch nicht unser Zusammenhang mit der Sünde aufgehoben ist weil sie zwar wirklich aber nur allmählig hinweggenommen werden kann so lange dieser unvoll8 Sünde] Sün 22–23 Vgl. Hebr 10,14

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kommne Zustand währt: eben deshalb sollen wir auch so theilnehmen an das Opfer Christi, daß wir uns freuen wenn wir gewürdigt werden der Gemeinschaft seiner Leiden. Wenn diejenigen welche lebendige Steine sind an dem geistigen Tempel des Herrn wenn die welche seine Jünger sind dadurch daß sie das neue Gebot nach allen Kräften erfüllen, wenn die den Widerstand der Sünde erdulden müssen so schließt sich was sie leiden um der Sünde willen an das Opfer Christi an, als etwas darin liegendes und dazu gehöriges, und so wird das Gedächtniß der Sünde noch gestiftet durch sein Opfer. Und dies soll uns das Andenken seines Todes in unserm Herzen lebendig machen und stärken[.] | Aber wenn wir nun so dem Erlöser uns hingeben, wenn wir so an sein Opfer theilnehmen und durch dasselbe hinweg nehmen lassen unsre Sünde und die Sünde Aller, o dann sollen wir es auch fühlen daß wir Theil haben an seinem Hohenpriesteramte: wir sollen alle Diener Gottes und Stellvertreter des Erlösers sein in dem geist’gen Tempel darin er der Pfleger aller geistgen Güter ist; denn wie er ins Heiligthum eingegangen ist durch sein Blut so sollen auch wir durch ihn die Freudigkeit des Zugangs haben. Und wenn wir gedenken wie der Herr am Kreuz für unsre Sünde gestorben ist und darin das Gedächtniß der Sünde finden so sollen wir auch tief fühlen wie er uns nach sich zieht in seine Erhöhung damit wir auch Theilnehmer werden seiner Würde und Herlichkeit. Darum treten wir hinzu und lassen uns segnen durch den Vater in seinem Sohn; denn indem wir an ihn glauben und er uns vertrit bei seinem Vater so hat er uns Macht gegeben Gottes Kinder zu werden. Und so laßt uns denn mit ihm fest verbunden bleiben als Bestandtheile seines geistgen Tempels, laßt uns uns untereinander wahrnehmen in Liebe, damit wir ein Volk Gottes werden das da fleißig ist in jedem Werk Gottes, und damit wir ein Preis seien ihm, in Absicht auf welchen es Gottes Wohlgefallen war ihn durch Leiden zu erhöhen und durch den Tod am Kreuz zu seiner Herlichkeit einzuführen.

22–23 Vgl. Joh 1,12

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Am 30. März 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 16,1–14 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 125v–126v; Gemberg Keine Nachschrift; SAr 103, S. 540; Andrae (nur Titelblatt vorhanden) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am Oster-Sonntage. Schleiermacher in Dreif. K. 9 Uhr. Markus 16 v. 1–14. Die Perikope geht nur bis v. 8, aber dabei können wir an diesem frohen Fest mit unsrer Betrachtung nicht stehn bleiben, daß die Frauen Zittern und Entsetzen angekommen. Wir sehn, wie der Herr der Maria, dann den beiden Jüngern auf [der] Rückkehr nach Emmaus zuletzt den Eilf erschienen ist und sie schilt ob ihres Unglaubens. Sehn wir auf die mildernden Umstände und dann auf die eigentliche Beschaffenheit dieser scheltenden Zurechtweisung, der strengen und doch wiederum milden.

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ad 1. Die Milde liegt darin, daß der Herr sich, obgleich die Jünger zagen und ungläubig erscheinen, ihrer dennoch liebreich annimmt und ihnen erscheint und sie belehrt. Sie hatten nicht den Glauben an den Gottessohn aufgegeben, nur an seine Auferstehung: er hatte davon geredet, aber sie hatten es nicht vernommen, wie es heißt; von seiner Wiederkunft hatte er auch geredet in Wolken des Himmels, dergleichen mochten sie noch erwarten. So sollen | wir diejenigen unsrer Brüder, welche nur im Wesentlichen eins sind, aber in einzelnen Dingen nicht unsers Glaubens, darum nicht schmähen und verwerfen, sondern ihnen liebend nahen, und sie schelten, aber mild zurechtweisen. Ferner stellt der Herr keineswegs die heiligen Frauen über die Jünger, deshalb, weil er sich ihnen zuerst offenbart. Vielmehr nach den Verhältnis3 Markus 16, v. 1–14.] Markus, v. 1–15. 16–17 Vgl. Mt 26,64; Mk 14,62

12 ad] ad.

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sen der menschlichen Dinge konnten sie nicht wirken und leisten, was die Jünger – diese wurden die Träger des Evangelii, und verkündigten und stifteten die Kirche, während jene im Stillen ihres herrlichen Glaubens lebten und den Herrn durch Leben und Gesinnung verkündigten. Warum offenbarte er es den Frauen zuerst? Geheim sind Gottes Wege, die Liebe waltet, wo und wie sie will. Das Verlangen nach dem Bessern und der Zusammenfluß der Umstände, beides kommt zusammen nach unbegreiflichen Gesetzen, die Gott sich vorbehalten. Wer nur das höhere Verlangen hat, wenn er die Wahrheit heut nicht faßt, sie wird ihm noch werden, wer des frühern begnadigt ist, er hat nichts zum voraus vor dem Späteren. Die wir itzt unbegnadigt sehn, bringen wir ihnen das göttliche Wort, aber geben sie nicht auf – auch für sie wird Zeit kommen, wenn auch in einer höhern Ordnung der Dinge erst, die Zeit der Begnadigung zu dem höhern Leben in Christo. [ad] 2. Welcher Art war nun die Zurechtweisung? Der Herr schalt den Unglauben nicht so, weil sie den Frauen nicht geglaubt hatten und den beiden Jüngern, denen er erschienen. Die Erzählungen über die Erscheinungen des Auferstandnen sind sehr unvollständig und schwierig, das wird jeder aufmerksame Leser finden. Die verschiednen Berichte darüber stimmen nicht einmal ganz überein. Bei einem 1, bei andern 2 Engel, hier Jüngling, da Engel. Markus giebt alles in der gedrängtesten Kürze und läßt Jesum gleich nach seiner Erscheinung vor den Eilf die Worte am Tag seiner Himmelfahrt sprechen. Wenn die Frauen erzählten von Engeln, die es ihnen berichtet, und Maria, daß sie geglaubt, den Gärtner vor sich zu sehn und dergleichen da sie doch den Herrn so genau kannte, so auch die beiden Jünger, diese Berichte sind nicht recht genügend, glaubhaft befunden | zu werden, und wenn Johannes und Petrus (nach Johannes) hineilen nach dem Grabe, um sich zu überzeugen, so liegt darin ihr Unglaube auch, aber der Herr straft sie gar nicht besonders, im Gegentheil offenbart er sich ihnen ganz besonders und zeigt sich ihnen hold. Wohl dürfen wir das Einzelne, was uns zumal so offenbar abgerissen erzählt wird, einer prüfenden Untersuchung unterwerfen, der Glaube an solche Einzelheiten ist keineswegs der Glaube an den Weltheiland, den Gott gesendet uns zur Erlösung und Heiligung. Diesen wahren Glauben hatten die Jünger, und keineswegs den Herrn aufgegeben, sonst mußten sie glauben, er habe sie getäuscht, da er ja von Wiederkunft geredet. Sie erwarteten eine wunderherrliche Offenbarung, welche die erstere erst recht begründen würde, aber wenn sie jetzt weinen und trauern, so liegt darin nur der Ausdruck ihrer heißen Liebe zu ihrem Meister. Was schilt er nun eigentlich? er schilt die Trägheit ihres Herzens 19–20 Vgl. Mt 28,2; Lk 24,4; Joh 20,12 Lk 24,22–23 23–24 Vgl. Joh 20,15 Joh 20,3–8 28–29 Vgl. Joh 21,15–22

20–22 Vgl. Mk 16,14–16 24–25 Vgl. Lk 24,16 38–1 Vgl. Lk 24,25

22–23 Vgl. 26–27 Vgl.

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Am 30. März 1823 vormittags

überhaupt, daß sie nicht tiefer ergriffen wären von dem Wort, das er ihnen gesagt, der Vater müsse durch ihn verherrlicht werden, nicht ergriffen von dem hohen Eindruck, den er ihnen gegeben in seinen Leiden bis zum Kreuz, daß sie sich von ihrem Schmerz hinreißen ließen, und die Freudigkeit ihres Glaubens durch denselben getrübt erschiene. Trauern hätten sie mögen, aber von [der] Herrlichkeit seines Todes, den er ihnen verkündigte, mehr durchdrungen hätten sie das Gemüth aufrecht erhalten sollen in heilger Freudigkeit, und nicht den menschlichen Empfindungen allein nachhängen. Diese Schwachheit fühlen wir in uns allen, nicht immer auf die Wahrheit, aufs Höchste sind wir gewandt, und das Herz ist träg und geht hinter sich, und das höhere reinere Leben im Glauben zeigt sich in seinem Scheine nur mehr in bessern Augenblicken. Fühlen auch wir diese Zurechtweisung und geben uns ihm ganz hin, sterben mit ihm und erstehen mit ihm zum neuen Leben, wie es der Heiland gelebt hat zum Heil und zur Nachfolge der Welt.

[Liederblatt vom 30. März 1823:]

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Am ersten Ostertage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Mache dich mein Geist etc. [1.] Hallelujah, jauchzet, singt, / Christus ist erstanden! / Der sich nun als Sieger schwingt / Aus des Grabes Banden, / Um empor / In dem Chor / Selger Engelschaaren / Himmelan zu fahren. // [2.] Hallelujah, Jesus lebt! / Jauchzt die Schaar der Jünger; / Aus des Grabes Nacht erhebt / Ihn der Allmacht Finger. / Nun ist er / Ewig Herr, / Muß nun groß auf Erden, / Groß im Himmel werden. // [3.] Hallelujah, er ist da! / Jauchzet, Gottes Kinder, / Seht was einst am Grab geschah, / Seht den Ueberwinder! / Blickt ins Grab / Kühn hinab, / Christus ist erstanden, / Hilft aus Todesbanden. // [4.] Hallelujah, Christenschaar, / Laßt uns trimphiren! / Jesus lebt nun immerdar, / Wird uns zu sich führen. / Wer den Sinn / Zu ihm hin / Lenket voll Vertrauen, / Wird sein Heil auch schauen. // (Döring.) Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf, ruft etc. [1.] Wer ists, der im Himmelslichte / Verklärt mit Sieg im Angesichte / Aus jener Todeshöhle geht? / Er ists, o ihr Menschenkinder, / Er ists, des Todes Ueberwinder, / Der siegreich auf dem Staube steht. / Sein ofnes Grab ist leer; / Dort liegen um ihn her / Seine Feinde, Preis ihm und Dank, / Der nun bezwang / Den Tod, die Hölle und ihr Heer. // [2.] Du bists, der für mich Verbürgte, / Der Fürst des Lebens, der Erwürgte, / Der du die Macht dem Tode nahmst, / Du bists, dem ich glaubend traue, / Den ich einst auf dem Throne schaue, / Von dem du zu uns Sündern kamst. / Du kämpfest nicht für dich, / 1–2 Vgl. Joh 14,13

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Du siegest Herr für mich, / Mich Verlornen. Durch deinen Tod / Versöhnte Gott / Die ganze Sünderwelt mit sich. // [3.] Drum betet ihr, erlöste Sünder, / Des Todes ewgen Ueberwinder / In glaubensvoller Demuth an! / Werft vor ihm euch mit mir nieder, / Die er errettet, meine Brüder, / Und rühmt, was er an uns gethan. / Nun sei auch sein Gebot, / Uns ein Befehl von Gott. / Wachet, betet, er stritt allein, / Dringt mit ihm ein, / Siegt über Anfechtung und Tod. // [4.] Held vor dem die Hölle bebet, / Der selbst den Tod sah und nun lebet, / Nun lebt und herrscht in Ewigkeit! / Dir hat dein Gott Sieg und Leben, / Dir hat er seine Welt gegeben / Und alle seine Herrlichkeit. / An allem deinem Heil / Hat dein Erlöster Theil / Durch den Glauben; des Glaubens Licht / Verlösch uns nicht, / So sehn wir ewig einst dein Heil. // (Bremer Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t uns etc. Leucht in uns auf du Himmelsstrahl, / Komm nimm hinweg der Zweifel Quaal, / Wir suchen, laß dich finden. / Entruf uns unserm Sündengrab, / Komm, Leben, in das Herz herab, / Dein Feuer zu entzünden. / Du nur Jesu sollst uns lehren, / Herr wir hören; / Offenbare / Uns dein Wort, das ewig wahre. //

Am 31. März 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostermontag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 15,3–8 Nachschrift; SAr 103, S. 569–588; Andrae Keine Keine Keine

Frühpredigt am zweiten Ostertage 1823 am ein und dreißigsten Lenzmonds.

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(Lied. 131; 152.) | 570

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Tex t. [1.] Korinther XV, 3–8. Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe, daß Christus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift; und daß er begraben sei, und daß er auferstanden sei am dritten Tage, nach der Schrift; und daß er gesehen worden von Kephas, darnach von den Zwölfen. Darnach ist er gesehen worden von mehr denn fünf hundert Brüdern auf einmal, deren noch viele leben, etliche aber sind entschlafen. Darnach ist er gesehen worden von Jakobo, darnach von allen Aposteln. Am letzten nach allen ist er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden. M. a. F. Dieser Bericht des Apostels Paulus ist gleichsam eine Ergänzung zu den Erzählungen, welche die Evangelisten geben von der Auferstehung des Herrn; denn es beruft sich darin der Apostel auf mehrere solcher Offenbarungen des Erstandenen, von welchen in unseren Evangelien nichts erzählt ist, wogegen nun in dieser Erzählung manches fehlt aus den Berichten | der Evangelisten, wovon wir kaum glauben können, daß es dem Apostel könne unbekannt gewesen sein. So wie nun unsere Evangelien manches nicht enthalten von dem, was der Apostel hier erwähnt, wie daß der Herr sei gesehen worden von Jakobus, und dann einmal von fünf hundert Brüdern 10 etliche] entliche

17 Erstandenen,] Erstandenen;

3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 131: „Auf! auf! mein Herz mit Freuden“ (Melodie von „Mein Jesu! schönstes Leben“); Nr. 152: „Wir danken dir, Herr Jesu Christ!“ (Melodie von „Erschienen ist der herrlich’ Tag“)

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zugleich: so mögen wir denken, daß auch in den Evangelien noch manches Andere nicht enthalten ist, was sich in jenen merkwürdigen Tagen der Auferstehung bis zur Himmelfahrt des Herrn zugetragen hat, und daß auch hier nur dasjenige, was auf eine ganz besondere Weise den Christen zum Trost und zur Erbauung in der Gerechtigkeit gereichen kann, sei aufbewahrt worden. Allein dasjenige, weswegen ich vorzüglich diese Stelle gewählt habe, um unserer Betrachtung zum Leitfaden zu dienen, ist das Letzte darin, nämlich, die große Ähnlichkeit, welche zwischen dem Verhältniß des Apostels zu dem Herrn, und zwischen demjenigen, worin wir und alle Christen auch nach seiner Erhöhung zu ihm stehen, Statt findet. – Wenn nämlich der Apostel Paulus sagt, „zuerst | nach allen ist er auch von mir, als einer unzeitigen Geburt, gesehen worden“: so wissen wir alle, daß dies erst nach der Himmelfahrt des Herrn geschehen ist, und daß also der Herr nicht auf dieselbe Weise ist von Paulus gesehen worden, wie von den übrigen Aposteln und von so vielen Christen, auf deren Zeugniß, als zum Theil solcher, die noch leben, Paulus sich in seiner Erzählung beruft. Den Jüngern zeigte sich der Herr, forderte sie ausdrücklich auf, ihn zu berühren, um sie zu überzeugen, daß er nicht ein Geist sei, sondern Fleisch und Bein habe, hielt mit ihnen zusammenhängende Gespräche, wandelte mit ihnen, und ging von einem Orte zum Andern, aß mit ihnen, und trank mit ihnen. Überlegen wir nun, wie uns in der Apostelgeschichte erzählt wird, daß Paulus den Herrn gesehen hat, welches doch zunächst geht auf das, was ihm begegnet auf dem Wege gen Damaskus: so finden wir diesen bestimmten Zusammenhang mit dem ganzen menschlichen Leben des Herrn nicht mehr. Unbezweifelt wohl | war es dem Apostel, daß es der Herr sei, mit dem er redete, den er vernahm, und der sich ihm zeigte als denjenigen, den er verfolgt hatte; aber ob er seine Gestalt gesehen, ob er diese habe erkennen können als die bestimmte Gestalt Jesu, von der wir nicht wissen, daß er sie bei seinem Leben gesehen, darüber haben wir kein bestimmtes Urtheil zu fällen, weil die Erzählung nichts davon erwähnt. Dennoch sagt der Apostel, der Herr sei auch von ihm gesehen worden, und stellt dies allem gleich, was vielen Andern in den Tagen der Auferstehung begegnet war, so daß der Unterschied von Gegenwart und [Vergangenheit in dem] Zusammenhang, wie er für ihn Statt fand nach der Himmelfahrt des Herrn von der Art, wie der Herr in den Tagen seiner Auferstehung mit seinen Jüngern umging, daß er diesen Unterschied für etwas Zufälliges und Unbedeutendes hält. Allein es war nicht nur damals auf dem Wege gen Damaskus, daß Paulus den Herrn gesehen hat, sondern er selbst erzählt uns 5 Gerechtigkeit] Gerechkeit 17–21 Vgl. Lk 24,13–32.39 27 Vgl. Apg 9,5; 22,8; 26,15

21–23 Vgl. Apg 9,3–9; 22,5–11; 26,12–18 38–3 Vgl. Apg 22,17

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in der Apostelgeschichte, als er sich vor dem jüdischen Volk vertheidigt, es sei ihm geschehen, als er zu Jerusalem | gewesen und im Tempel gebetet habe, da sei er entzückt worden, und habe den Herrn gesehen. Dies war ein Zustand, den er uns in dem Brief an die Korinther auf diese Weise beschreibt, daß er sagt: „ich kenne einen Menschen, der entzückt war bis in den dritten Himmel, war er im Leibe oder außer dem Leibe, ich weiß es nicht.“ Hier, m. g. F., sehen wir offenbar wieder einen bedeutenden Unterschied in Beziehung auf die sinnliche Zuversicht und Bestimmtheit in der Art, wie der Apostel den Herrn gesehen hat. Denn wenn er selbst nicht wußte, und keine Rechenschaft davon geben konnte, ob er im Leibe gewesen sei oder außer dem Leibe: so konnte er auch darüber keine Regel geben, ob das, was ihm begegnet war, auf irgend eine Weise etwas Äußerliches war, oder nur ein Zustand seines Gemüths. Auf dem Wege gen Damaskus umleuchtete ihn und die mit ihm gingen ein Glanz vom Himmel, heller denn die mittägige Sonne – das war etwas Äußerliches – und er vernahm darauf die Stimme des Herrn, | der mit ihm redete, und er verglich dasjenige, was ihm begegnete mit dem Antheil, den auch seine Reisegefährten an dieser Begebenheit hatten. Das war etwas bestimmt Gegebenes und äußerlich Wahrnehmbares. Inwiefern etwas davon auch Statt gefunden habe bei der Begebenheit, deren ich zuletzt erwähnt habe, als nämlich Paulus zu Jerusalem im Tempel betete, das wissen wir nicht; aber in den Worten unseres Textes unterscheidet er beides nicht bestimmt, er sagt nicht, daß er einmal nur den Herrn gesehen habe, und er konnte diese Worte doch nicht schreiben ohne auch das zu bedenken, was ihm viel früher schon in Jerusalem begegnet war. So muß er denn beides zusammengefaßt haben, und hat deswegen den Unterschied zwischen jener Erscheinung und zwischen der auf dem Wege gen Damaskus für etwas Zufälliges erklärt, woraus wir denn sehen, daß in Beziehung auf dasjenige, weshalb der Apostel sagt: „wenn Christus nicht auferstanden ist, so ist euer Glaube eitel“, und in Beziehung auf dasjenige, was ihm selbst begegnete, und der Erfolg davon war, daß er den Herrn gesehen hatte, daß er in beiden Beziehungen eben dieses Äußerliche, dieses sinnlich Wahrnehmbare nur für etwas Untergeordnetes und Zufälliges erklärt hat. Hieran, m. g. F., können | wir unmittelbar anknüpfen das Verhältniß, in welchem noch jetzt die Christen zum Erlöser stehen. Zunächst, m. g. F., wie der Apostel in Entzückung war, und den Herrn sah: so haben wir aus ganz verschiedenen Zeiten Berichte von einzelnen Christen ohne daß wir Ursache hätten daran zu zweifeln, daß dasjenige, was ihnen begegnet ist, ihnen selbst vollkommen wahr gewesen sei, wir haben 38 ihm] ihnen 5–7 2Kor 12,2 29 1Kor 15,17

13–18 Vgl. Apg 9,3–7; 22,6–9

20–21 Vgl. Apg 22,17–21

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dergleichen Berichte von Christen aus allen Zeiten, die auch von sich erzählen, daß sie in Entzückung gewesen, und den Herrn gesehen haben. Obenan unter diesen steht ein Beispiel, so uns in der heiligen Schrift erzählt wird, das ist nämlich Stephanus, dieser erste Märtyrer des christlichen Glaubens. Als dieser seine uns allen bekannte Rede an das Volk hielt, welches sich um ihn versammelte, und ihn ergriff und tödtete, da schloß er seine Rede damit, daß er sagte: „ich sehe den Himmel offen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen.“ Und wenn er in dieser Rede, zumal am Schlusse derselben, wo er an seinem Tode nicht mehr zweifeln konnte, so deutlich ausspricht, daß er auch in einem Zustande | der Entzückung gewesen sei, wer wollte daran zweifeln? Paulus aber war damals gegenwärtig, denn diejenigen, die Stephanus anklagten und steinigten, hatten ihre Kleider niedergelegt zu seiner Verwahrung. Diese Begebenheit also war ihm bekannt, und wie er sie damals angesehen hatte aus dem Gesichtspunkte derer, die Stephanus verfolgten, und ihm den Tod bereiteten: so hat er sie nachher betrachtet aus dem Gesichtspunkt gläubiger Christen. Aber obgleich er uns manches erzählt hat in dieser Geschichte, was ihm sonst begegnet war: so erwähnt er doch dieses Beispiels nicht, und so mögen wir schließen, daß er dies nicht angesehen habe als ein äußeres Gesicht, welches Stephanus gesehen, sondern von der innern Überzeugung und Hinwendung seiner Seele zum Erlöser. Dem aber ist vollkommen gleich, was wir von andern, den Herrn aufrichtig liebenden Gemüthern aus verschiedenen Zeiten wissen. Mit derselben Wahrheit und Aufrichtigkeit, womit Stephanus sagt: „siehe, ich sehe den Himmel offen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen“, erzählen auch sie, daß | sie den Herrn in einem ähnlichen Zustande außerordentlicher Gemüthsbewegung unmittelbar wahrgenommen haben. Was dabei eine Offenbarung des Herrn und seiner heiligen Gegenwart, was dabei eine Wirkung des göttlichen Geistes, oder was auf der andern Seite eine Wirkung natürlicher, aber auf eine besondere Weise aufgeregter Kräfte der menschlichen Seele gewesen: das wissen wir nicht; denn alle solche Zustände betreffen dasjenige, was uns noch immer geheimnißvoll ist in der menschlichen Natur, und es vielleicht immer, wenigstens aber noch lange, bleiben wird. Aber wenn sich auch nichts ausmachen läßt, was dabei in dem äußeren Sinn wahr ist, so dürfen wir doch an der innern Wahrheit nicht zweifeln. Aber auch dies, sei es so oder anders beschaffen, gehört mit zu dem, was der Apostel in der Hauptbeziehung des christlichen Glaubens, dem Verhältniß der Gläubigen zu dem Erlöser, doch nur für etwas Zufälliges und Untergeordnetes erklärt. Fragen wir nun, was das wesentliche sei, so ist es eben Folgendes. Betrachten | wir nämlich, was sich mit den Jüngern zutrug jedesmal, wo sich ihnen der erstandene Erlöser 4 das] daß 5–6 Vgl. Apg 7,2–60

7–8.24–25 Apg 7,55

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zeigte, und kurz vorübergehend oder länger anhaltend seinen früheren Umgang mit ihnen fortsetzte: so können wir alles zusammenfassen in dem Ausdruck, dessen sich die Schrift mehrmals bei solchen Fällen bedient: da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. Die Freude, welche die Seelen der Jünger auf eine besondere Weise erfüllte, und alles Leiden und alle Trauer, die durch seinen Tod in ihnen bewirkt war, verschwindend machte: das war es, was der erstandene Erlöser, so oft er ihnen erschien, in ihrem Herzen hervorbrachte. Als Paulus gen Damaskus ging um die Christen zu verfolgen, wie er selbst gleich nach den Worten unseres Textes sagt, rechtfertigend den Ausdruck, daß er sich eine unzeitige Geburt nennt: „ich verdiene nicht, daß ich ein Apostel heiße darum, daß ich die Gemeine Gottes verfolgt habe“: so ging er hin als ein Eiferer für das Gesetz; und wenn er sich selbst noch lange nachher ein gutes Zeugniß giebt von jener Zeit her, daß er nämlich nach seiner besten Erkenntniß und Überzeugung gehandelt | habe, und alles erfüllt, was er nach Anleitung des göttlichen Gesetzes für seine Pflicht gehalten: so war er auch davon überzeugt, zur Ehre Gottes diejenigen zu verfolgen, die er für Feinde des göttlichen Gesetzes hielt, und von dem Wege des Evangeliums abzuführen suchte. Ein größeres Beispiel, m. g. F., kann uns nicht gegeben werden, als daß der Mensch, auf einer hohen Stufe der Einsicht, mit reichen Gaben des Geistes, mit einem in jeder Hinsicht gleichstehenden Charakter, und in einem tadellosen Leben, doch kann von einem Wahn ergriffen werden, der ihn zu einer Handlung treibt, um deretwillen er hernach von sich selbst sagen muß, er sei der Größte unter allen Sündern, der Kleinste unter allen Begnadigten, und verdiene nicht der Gnade Gottes, die ihm widerfahren. Aber als er im Begriff war die Gläubigen zu verfolgen um der Wahrheit willen: da erschien ihm der, der die Wahrheit an’s Licht gebracht hat, und sagte: Saul, Saul es wird dir schwer werden wider die Gewalt anzugehen, die dich vor der ganzen Welt hintreibt zu dem Reiche Gottes, welches durch mich gestiftet werden soll. | Und da war er, wie er hernach sagt, nicht ungehorsam gegen die Erscheinung, sondern folgte der Stimme dessen, der ihm als der Wahrhaftige erschien. Sehet da, m. g. Fr., wenn auch uns, auf welche Weise es auch sei, in unserer Seele, wo wir im Begriff sind fehlzugehen in unserem Leben und etwas zu beginnen, wodurch das Reich Gottes gefährdet werden kann, gleichviel ob Großes oder Kleines, wenn uns dann der Erlöser erscheint, und uns eben so warnt, wie hier seinen großen Apostel: das ist der Zusammenhang mit dem Erlöser, wonach wir streben sollen, und wir sind darin wirklich gleich denen, welchen die Gnade gegeben war, ihn zu sehen in den Tagen seiner Auferstehung. – 30 war er] war es 3–4 Joh 20,20 Apg 9,5; 26,14

10–12 Vgl. 1Kor 15,9 30–31 Vgl. Apg 26,19

12–18 Vgl. Apg 22,3–5

27–30 Vgl.

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Als Paulus in Jerusalem war im Tempel, um daselbst zu beten: da war er hingegen voll Eifer für das Evangelium, und hatte sich vorgenommen, er wolle in Jerusalem, wo er bekannt war als der größte Eiferer für das mosaische Gesetz, das Evangelium predigen, und meinte, | wenn das Volk sähe, derjenige, der sich den Christen sonst so nachdrücklich entgegengestellt, der sonst als Eiferer gegen sie sich ausgezeichnet habe, der sei jetzt selbst von der Wahrheit der neuen Lehre überzeugt, das müsse einen besondern Eindruck auf die Bewohner der Hauptstadt machen: da erschien ihm der Herr in der Entzückung und sprach zu ihm: „Hebe dich eilends hinweg von Jerusalem.“ Warum der Herr dies nicht gewollt habe, m. g. F., das können und dürfen wir nicht wissen; aber soll es uns nicht klar werden, wenn wir uns den Zusammenhang der Gedanken und Entschlüsse des Apostels so darlegen, wie ich es jetzt gethan, und wie es auch hervorgeht aus dem, was er selbst dem Herrn antwortete: „Herr, sie wissen, daß ich gefangen legte und stäupte die, so an dich glaubten in den Schulen hin und her; und da das Blut Stephani, deines Zeugen vergossen ward, stand ich auch darneben, und hatte Wohlgefallen an seinem Tode“, sollen wir nicht den Gedanken haben, es sei doch wohl eine leise Spur | von menschlicher Eitelkeit gewesen, daß er glaubte, er durch seine Person, durch den Gegensatz zwischen seiner frühern Handlungsweise und seinem gegenwärtigen Eifer für das Reich Gottes, müsse einen besondern Eindruck machen: da demüthigte ihn der Herr, und sprach: „Hebe dich behende von Jerusalem hinaus, denn sie werden nicht aufnehmen dein Zeugniß von mir.“ Er wollte ihn sich aufsparen, um ihn ferne unter die Heiden zu senden; denn er war ein großes und herrliches Rüstzeug der Wahrheit, aber der Gefahr wollte er ihn entreißen, daß sein erstes Zeugniß befleckt wäre von menschlicher Eitelkeit, die ihn trieb denen das Evangelium zu verkündigen, denen sein früheres Leben bekannt war; sondern für die Städte, wo niemand weiter um diesen großen Wechsel seines Innern wußte, wollte der Herr ihn senden, damit es nichts sei als die Kraft Gottes und der Geist Gottes, der in ihm wirkte, und aus ihm redete. Ja, m. g. Fr., wenn wir auch so in guter Meinung beschlichen werden von irgend einer Spur der Sünde, und des menschlichen Verderbens, und sich diese mischen will in den Dienst, den wir dem Herrn leisten sollen, welches es auch sei, er bestehe im Großen | oder im Kleinen, und er selbst erscheint uns dann in der Seele, und warnt uns, und beugt uns so, daß wir erfahren müssen seine liebende Gegenwart und die Kraft seines Geistes über die menschliche Verkehrtheit in uns: das ist der Zusammenhang mit dem Erlöser, wonach wir streben, den wir wünschen müssen und wenn wir ihn besitzen, so haben wir alles, was die hatten, die in den Tagen seiner 15 stäupte] stäubte 1–10 Vgl. Apg 22,17–21

14–17 Apg 22,19–20

22–23 Apg 22,18

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Auferstehung gewürdiget waren, seine leibliche Gegenwart zu genießen. Und wenn auch wir, m. g. F., voll Leid sind und voll Trauer, welches immer sein mag, am meisten, wenn es die scheinbar ungünstige Lage des Reiches Gottes auf Erden ist im Großen und im Kleinen, was uns betrübt, und der Herr erfüllt dann unsere Seelen mit Freude und Zuversicht durch das besondere Gefühl seiner Gnade und seiner Macht, durch den besonderen Eindruck davon, daß ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden: dann geschieht uns dasselbe, was den Jüngern geschah, wie sie froh wurden, daß sie den Herrn sahen. Geschehe es nun auf diese oder auf jene Weise, geschehe es auf dem Wege der Natur oder auf eine ausgezeichnete | Art, so daß es entweder an das Ungewöhnliche gränzt, und uns das Gefühl des Wunderbaren giebt, oder in den gewöhnlichen Gang der Entwicklung menschlicher Dinge eingreift, das Eine wie das Andere ist die Wirkung seiner Gnade, die Kraft seines Geistes, sein Leben in uns und mit uns. Aber wenn wir nun einen solchen innern Zusammenhang mit dem Erlöser in der Gemeinschaft der Seele mit ihm wünschen müssen, und wenn wir sehen, wie sich in dieser Ordnung der Dinge immer mehr gestaltet hat das Leben der Christen mit dem Erlöser von den Tagen seiner Auferstehung an, und wenn wir fragen, wie sollen wir es machen, um hinzu zu gelangen, so ist darauf zweierlei zu antworten, was freilich sehr entgegengesetzt zu sein scheint, aber doch beides wesentlich und nothwendig zusammenhängend. Die Jünger, m. g. Fr., hatten es nicht in ihrer Gewalt, wann sie den Herrn sehen wollten, sondern er kam, und stand vor ihnen, und redete mit ihnen ohne daß sie es wußten woher, und wenn sie es nicht erwarteten. So ist es auch mit diesen außerordentlichen, beseligenden | Zuständen der menschlichen Seele, in ihrem Verhältnisse zu dem Erlöser; wir können sie nicht herbeiführen, und jedes bestimmte Bestreben sie herbeizuführen ist eine Gefahr, wodurch wir uns täuschen, und kann nur fruchtlos enden. Aber so wie der Erlöser den Jüngern doch nur erschien, weil sie an ihn glaubten, weil sie in einem innigen Zusammenhange mit ihm lebten, weil sich ihre Seelen nach ihm sehnten, weil sie mit einander redeten vom Reiche Gottes, und einmüthig versammelt waren, um sich des Herrn und seiner Reden zu erinnern, und auf die Stunde zu harren, die er ihnen verheißen hatte: so geht es auch uns. Wir können jene seligen Augenblicke nicht herbeiführen, aber sie sind doch nur denen, die den Herrn lieben, und sich nach ihm sehnen, und die ihn beständig aufsuchen in ihrem Leben. Und wo ist er zu finden? In seinem Wort und in der Gemeinschaft der Gläubigen, der er verheißen hat: „wo zwei oder drei versammelt sein werden in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Haben wir ihn lieben gelernt in seiner 22 ihrer] ihr 7 Mt 28,18

8–9 Vgl. Joh 20,20

38–39 Mt 18,20

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eigenen heiligen Erscheinung, suchen | wir alles, was uns davon aufbewahrt ist, unserem Gemüthe einzuprägen, forschen wir fleißig darnach für jede Stunde, wo wir dessen brauchen, streben wir diesen köstlichen Schatz immer sicherer zu stellen für uns selbst und für alle folgende Zeiten, suchen wir den Herrn in allen seinen Offenbarungen in der menschlichen Seele und in der christlichen Kirche, werden wir von dieser Sehnsucht getrieben, uns immer mehr das Reich Gottes in seinen verschiedenen Erscheinungen zu vergegenwärtigen, alles, was von köstlichen Beweisen der göttlichen Gnade in demselben zerstreut ist, aufzusuchen: dann befinden wir uns in dem Zustande, in welchem die Jünger waren, und dann wird die Gnade Gottes einem jeden unter uns nach seinem Maaße so fruchtbar sein, wie sie den Jüngern war. Und so dürfen wir uns über unser Loos nicht beklagen, sondern können zuversichtlich glauben, daß jedem gegeben wird, nach dem, was er bittet und bedarf, und jedem gemessen nach seinem Maaße von Glauben und Liebe. Das ist das große Wort des Herrn an alle die Seinigen: „bittet | so wird euch gegeben, klopfet an, so wird euch aufgethan, suchet, so werdet ihr finden.“ Aber bittet nur immer in dem Namen des Herrn, das heißt in Beziehung auf sein Reich auf Erden, welches allein der Gegenstand unserer Liebe und unserer Bestrebungen sein muß. Klopfet an, aber nirgend anders als an die rechte Thür, das heißt bei der, die uns der Herr als den Zugang zu ihm eröffnet hat; klopfet an an sein Wort, und eignet dasselbe allen Bedürfnissen eurer Seele an; klopfet an bei der Gemeinschaft der Christen, der ihr angehört: dann wird euch auch aufgethan werden zu jeder Stunde, wo ihr eingelassen zu werden wünschet. Und suchet, wie der Herr sagt, in der Schrift, die von ihm zeuget, so werdet ihr finden, nichts war in jedem bestimmten Augenblick das, was ihr suchet, aber gewiß das, was euch in den Stand setzt, wenn sich euch der Erlöser offenbart, seine Stimme zu unterscheiden von jeder menschlichen, und sie richtig zu erkennen, von seinem Geiste geleitet zu werden in alle Wahrheit, und aus seiner Fülle zu nehmen, wenn sie sich euch aufthut, Gnade um Gnade. Amen.

11 einem] einen 16–17 Vgl. Mt 7,7; Lk 11,9 31 Vgl. Joh 1,16

24–26 Vgl. Joh 5,39

29 Vgl. Joh 16,13

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Am 6. April 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Quasimodogeniti am sechsten Wandelmonds. |

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Quasimodogeniti, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,25–27 Nachschrift; SAr 103, S. 589–616; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 127r–127v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Lukas XXIV, 25–27. Und er sprach zu ihnen: O ihr Thoren und träges Herzens zu glauben alle dem, das die Propheten geredet haben; mußte nicht Christus solches leiden und zu seiner Herrlichkeit eingehen? Und fing an von Mose und allen Propheten und legte ihnen alle Schriften aus, die von ihm gesagt waren. Es ist wohl natürlich m. a. F. daß in dieser Zeit unsre gemeinschaftliche Betrachtung sich zu demjenigen hinlenkt, was in den bedeutungsvollen Tagen der Auferstehung unsers Herrn sich ereignet hat. Ich will aber dieses Jahr vorzüglich Eure Aufmerksamkeit auf einige von den gewichtigen Worten hinlenken, die unser Erlöser in jener Zeit mit seinen Jüngern geredet hat; und so möge denn dies das erste seyn, wie ich es jetzt eben gelesen habe: Was der Herr hier sagt zu den beiden Jüngern, denen er sich zugesellt, da sie aus Jerusalem zurückgingen nach Emahus am Abend der Auferstehung, das bezieht sich | auf die Stimmung, in welcher er sie fand, daß sie nämlich niedergeschlagen waren und traurig auf der einen Seite, auf der andern aber ungewiß und verwirrt über die Nachrichten die sie erhalten hatten von dem leergefundenen Grabe und von den Andeutungen auf die Auferstehung des Herrn. Wir sehen, wie wichtig es dem Erlöser war, zunächst jene Traurigkeit über sein Leiden und seinen Tod aufzuheben, ihr Herz und ihren Verstand dadurch zu öffnen, und ihnen dies in dem großen 4 glauben] glaubem 17–21 Vgl. Lk 24,17–24

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Zusammenhang der göttlichen Rathschlüsse zu zeigen. Darum wendet er sich zuerst an sie mit den Worten: mußte nicht Christus solches leiden? Der Unterricht, den er ihnen hierüber giebt, ist uns freilich nur seinem allgemeinsten Inhalt nach mitgetheilt; um desto wichtiger aber nun muß es uns sein, diese Worte unsers Erlösers zum Gegenstand unsrer Betrachtung zu machen und mit einander zu erwägen, was er den Jüngern über die Nothwendigkeit seines Leidens und seines Todes gesagt hat. Laßt uns m. a. F. zuerst so viel wir es vermögen aus dem Zusammenhang und den Worten des Erlösers uns den Inhalt des Unterrichts, den er | seinen Jüngern hier gegeben hat, ergänzen; dann aber zweitens vorzüglich auch auf die Absicht sehen, die er dabei gehabt. I. Wir haben nun m. g. F. wenn wir uns fragen wollen, wie hat denn wohl der Erlöser seinen Jüngern die Nothwendigkeit seines Leidens und seines Todes dargestellt, um ihr betrübtes und niedergeschlagenes Herz aufzurichten? wir haben dazu keinen andern Leitfaden, als daß die in dieser Beziehung so kurze Erzählung uns nur sagt, er habe angefangen von Mose die Propheten hindurch gehend ihnen auszulegen, was die Schrift von ihm gesagt habe. Mancherlei Stellen m. a. F. giebt es in den Büchern des alten Bundes – und es ist wohl nicht nöthig sie in Euer Gedächtniß zurückzurufen – die besonders wenn man einzelne Ausdrükke heraushebt und zusammenstellt ein so treues Bild geben von dem Leiden des Erlösers, daß man meinen sollte, den heiligen Sehern sey das ganze sinnliche Bild seines Kreuzestodes gegen|wärtig gewesen vor ihren geistigen Augen. Auch machen die Apostel und die andern heiligen Schriftsteller des neuen Bundes von solchen Vorhersagungen aus den Schriften des alten Bundes, in welchen sie einige Umstände von den Leiden und dem Tode des Erlösers aufgezählt finden, Gebrauch; und gewiß können wir glauben, daß sie auch das nicht aus sich selbst, sondern daß sie es von seinem Unterricht hergenommen haben. Betrachten wir aber die Erzählung unsers Textes genauer, so müssen wir sagen, es scheint nicht als ob sich der Erlöser, indem er die Jünger auf eine solche Weise in die Schrift hineinführt, auf einen frühern ähnlichen Unterricht, den er ihnen ertheilt hätte, berufen habe; denn sehr leicht ist wohl zu unterscheiden, auf welche Weise etwas Neues gelehrt, und auf welche Weise Altes und schon Bekanntes vielleicht nur einigermaßen Vergeßenes wieder in Erinnerung gebracht wird. Neu war also dieses Eröffnen des Erlösers aus der Schrift seinen Jüngern und allerdings auch fremd der bisherigen | Art, wie die Weissagungen der Propheten von dem, der da kommen sollte, waren angesehen worden. Denn indem er gedacht ward als ein Retter, der das Volk des Herrn erlösen sollte aus einem tiefen Abgrunde des Elends, so konnte er auch wohl nicht anders als nur unter dem Bilde der Macht und Herrlichkeit dargestellt werden; und so glitt das Auge auch

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aufmerksamer und frommer Leser der Schrift gar leicht von solchen Andeutungen ab, in welchen der Erlöser als ein Leidender, als ein Geplagter, als ein Verachteter, als ein dem Tode Hingegebener dargestellt wird. Wenn nun aber doch der Erlöser sagt zu seinen Jüngern „Ihr Thoren und träges Herzens zu glauben alle dem, was in den Propheten geschrieben steht“: so können wir schwerlich glauben, daß er sie darüber werde gescholten haben, daß sie etwas nicht wahrgenommen hätten, worüber auf der einen Seite er selbst ihnen noch keinen Unterricht ertheilt hatte, und was auf der andern mit der gewöhnlichen Art und Weise, wie die Schrift betrachtet wurde, mit dem Unterricht, der darüber | von andern gegeben wurde, und mit der allgemeinen Denkungsart der Frommen jener Zeit nicht übereinstimmte. Daraus mögen wir also mit Recht den Schluß machen m. g. F., daß wenn allerdings jene Stellen aus den verschiedenen Schriften des alten Bundes, worin auf einzelne Umstände in dem Leiden des Erlösers hingedeutet wird, mit zu dem Unterricht gehört haben, den er hier und vielleicht auch noch sonst in den Tagen seiner Auferstehung seinen Jüngern ertheilt hat, dies doch eben nicht die Hauptsache war, die er bezweckte, indem er ihnen ihre Augen öffnete über den Inhalt der Schrift. Und dasselbe wird sich uns auch wohl darstellen, wenn wir nur seine Worte erwägen „mußte nicht Christus solches leiden?“ Denn m. g. F. wenn auch die heiligen Männer Gottes im alten Bunde das Leiden des Erlösers auf das allergenaueste geweissaget hätten, so würde daraus für uns doch kein Aufschluß entstehen können über die Nothwendigkeit desselben. Indem aber Christus hier sagt „mußte nicht | Christus solches leiden?“ so sieht man, daß der Hauptinhalt seiner Rede darauf ging, seine Jünger zu belehren über die Nothwendigkeit seines Leidens. Denn freilich hatte Gott es in seinem ewigen Rathschluß beschlossen, daß indem er seinen Sohn den Menschen zum Erlöser sandte, dieser das Werk der Erlösung nicht anders sollte vollbringen können, als indem er durch Leiden und durch die Schmerzen des Todes einging in seine Herrlichkeit. War dies der ewige Rathschluß Gottes, so können wir es wohl erklären, wie der Herr durch die Kraft seines Geistes die Andeutungen davon auch schon lange vorher in den Seelen gottesfürchtiger Männer habe können entstehen lassen. Indem aber die Weissagung und die Erfüllung aus einer und derselben Quelle des göttlichen Rathschlusses kommt, so können uns die Weissagungen über die Nothwendigkeit dessen was sie vorher sagen, und was in der Folge der Zeit erfüllt war, keine Belehrung weiter geben. Es muß also noch ein anderer Unterricht gewesen sein aus der Schrift, ein anderes Eröffnen derselben, welches der | Gegenstand des Unterrichts war, den der Herr seinen Jüngern ertheilte. Und dieser m. g. F. steht denn in dem genausten Zusammenhange mit demjenigen, was die Hauptsache ist in den Worten unsers Textes, daß nämlich der Erlöser sagt „mußte nicht Christus solches leiden und in seine Herrlichkeit eingehen?“ Die gesammel-

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ten Schriften des alten Bundes m. g. F. gehen vorzüglich darauf hinaus, an der Geschichte des Volkes Gottes und der Vorfahren desselben uns ein lebendiges Bild zu geben von der Führung Gottes mit dem menschlichen Geschlecht im Allgemeinen. In dieser Geschichte des Volkes Gottes aber deutete alles hin auf denjenigen, der da kommen sollte, um dessentwillen, weil er aus diesem Volke entsprießen sollte, es zusammengehalten ward unter dem Gesetz, und in ihm erhalten das lebendige Bewußtsein von dem Einen Gott, der die Welt gemacht hat, und erhält. Aber eben so auch sind alle andre Führungen Gottes mit dem menschlichen Geschlecht nur Andeutungen auf den Einen, durch | welchen der ganze göttliche Rathschluß ist vollendet worden, alles ist Andeutung auf das große und heilige Werk der Erlösung. Indem nun der Erlöser seinen Jüngern zeigte an jenen geschichtlichen Beispielen, daß überall dasjenige, was allein der Grund einer wahren Herrlichkeit ist, nämlich daß das Gute und Göttliche in dem Gemüthe und in dem Leben der Menschen, nur hervorgebracht werden konnte, weil es der Sieg über die Sünde sein mußte, durch das Leiden von der Sünde: so konnte er ihnen auf diese Weise anschaulich machen, daß nun so viel mehr auch Christus, daß das Fleisch gewordne Wort, welches bestimmt war einen ewigen Sieg über die Sünde zu erringen, welches bestimmt war den Menschen die Fülle einer ewigen und ursprünglichen Herrlichkeit zu eröffnen, sein Werk nicht anders vollenden konnte, als indem er litt durch die Sünde der Menschen und um der Sünde willen. So war es schon ausgesprochen m. g. F. in jener ersten Weissagung über das Schicksal der Sünde, welche gleichzeitig [erging] mit dem Entstehen derselben – es wird ein Streit sein zwischen dem | Geschlecht der Menschen und jener Schlange, die dem ersten Menschen die Veranlassung ward zu seiner Sünde, und des Menschen Sohn wird ihr den Kopf zertreten, aber sie wird ihn in die Ferse stechen – darin schon war angedeutet, daß der Sieg, den das menschliche Geschlecht nur in der Person des Einen Menschensohnes über die Sünde davontragen sollte, nicht errungen werden könnte, ohne daß eben der, welcher die Sünde besiegte, von ihr litt und durch sie Schmerzen empfand. Und an diesem Faden fortgehend konnte der Erlöser seinen Jüngern zeigen, von Mose anfangend und durch alle Propheten hindurchgehend, wie es immer so und niemals anders gewesen sei: Wie schon als zum erstenmahle die Gewalt der Sünde so mächtig geworden war, daß ein außerordentliches Gericht Gottes über dieselbe ergehen mußte, diejenigen die da bestimmt waren, eine neue und beßre Welt, mit welcher im Zusammenhange dann die Erscheinung des Erlösers stehen sollte, zu begründen auf den Trümmern eines alten sündigen Geschlechts, nur durch die Gefahren | des Todes und der allgemeinen Zerstörung hindurch und durch alle die Schmerzen hindurch, die ihnen der Verlust und der Untergang aller befreundeten Menschenseelen bringen mußte, aus den Fluthen jenes Gewässers gerettet wer24–28 Vgl. Gen 3,15

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den konnten in ein neues Land. So Abraham, der Vater der Gläubigen, wie ihn die Schrift so oft und so bedeutungsvoll nennt, er mußte verlaßen seine Freundschaft und sein Vaterland, und die mancherlei Beschwerden und Leiden eines Fremdlings tragen, und lange mit unerfüllter Sehnsucht kämpfen, bis ihm der Sohn geboren ward, auf welchen sich sein Glaube an die göttlichen Verheißungen richten konnte. So Moses[,] bestimmt dem Volke des Herrn diejenigen Gesetze zu geben, unter deren Schutz, freilich unter mancherlei Abwechslungen und Leiden, die aber auch mit ihrer Sünde zusammenhingen, das Volk sollte behalten werden bis auf den Tag Christi und auf das neue Reich Gottes, auch er mußte zuerst sein Volk verlassen und in einem fremden Lande in der Einsamkeit leben, dann kämpfen zuerst mit einer großen irdischen Macht, ehe es ihm gelang, | sein Volk aus dem Lande der Knechtschaft herauszuführen, noch mehr aber hatte er mit dem Ungehorsam und mit der Widerspenstigkeit desselben zu kämpfen, und nur unter beständigen Gefahren konnte er das ihm von Gott gegebene Ansehen aufrecht erhalten, und dem Volke das Gesetz geben, welches sich erst später eines allgemeinen Gehorsams von demselben erfreuen konnte. So alle die Männer, welche späterhin der Herr ausrüstete mit seinem Geist, und sie sandte dem Volke vorzuhalten seine Sünde, und ihm auf der einen Seite das göttliche Strafgericht, auf der andern aber die göttliche Hülfe und Errettung vorzuhalten, immer hatten sie zu kämpfen mit dem Unglauben, der bald in Verachtung bald in Gewaltthätigkeit sich zeigte, und mußten dulden und wurden nicht selten getödtet um des Wortes willen, welches der Herr in ihren Mund gelegt hatte. Aber durch den Tod gingen auch sie in die Herrlichkeit ein, Träger des göttlichen Worts gewesen zu sein, und solche Spuren desselben zurückzulassen, an welchen noch nach Jahrhunderten erkannt werden kann der Zusammenhang des Erfolgs mit den Andeutungen und Ahndungen, die der Herr ihnen eingegeben hat. Und so konnte der Herr das allgemeine Gesetz in den göttlichen Führungen herableiten bis auf sich selbst und seinen Jüngern sagen, wie | es von jeher gewesen sei, daß der Sieg über die Sünde nur errungen werden konnte durch das Leiden von der Sünde, die in dem Menschen wohnt, so noch vielmehr derjenige, der einen ewigen Sieg über dieselbe erringen sollte, bestimmt sei sein Leben zum Schuldopfer zu bringen und den Tod zu leiden um der Sünde willen. Und indem er ihnen so auf der einen Seite gezeigt hat, daß Christus leiden mußte, so zeigte er ihnen auf der andern auch, daß er eben so in seine Herrlichkeit eingehen müsse. Und dies m. g. F. ist nicht die Herrlichkeit, welche er hatte bei dem Vater, ehe denn der Welt Grund gelegt war, nicht die Herrlichkeit des ewigen Wortes, welches mit seiner Kraft alle Dinge 13 hatte] hatter 37–38 Vgl. Joh 17,5

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trägt; sondern die Herrlichkeit des Menschensohnes, welcher erhöht werden sollte zur Rechten Gottes und alle seine Feinde zum Schemel seiner Füße legen, die Herrlichkeit des Menschensohnes, welcher nachdem er sein Leben zum Schuldopfer gegeben die Starken zum Raube haben sollte und eine große Menge von Menschenseelen zur Beute; keine andre als eben die Herrlichkeit auf dem Grunde eines vollständigen Sieges über die Sünde, und indem er mit seinem Blute einging in den Himmel als das wahre Heiligthum, er nun allen denen, die sich im | Glauben an ihn halten, den Zugang eröffnet zu demselben Heil und ihnen die Macht giebt Gottes Kinder zu werden. In diese Herrlichkeit – das zeigt er ihnen auf diese Weise – konnte er nur eingehen, nachdem er vollendet war durch Trübsal und sich bewährt hatte in Gehorsam bis zum Tode am Kreuz. Dies m. g. F. ist das Wesen und die Hauptsache in dem Unterricht gewesen, den der Herr seinen Jüngern ertheilt hat über die Nothwendigkeit seines Leidens; und dies eben konnte ihr Herz wieder trösten mit der Gewißheit, daß er es dennoch sei, welcher berufen war das Volk Israel zu erlösen, und welchen Gott gesetzt hat zu einem Licht, das da leuchtet allen Völkern; durch diese Unterweisung konnten sie getröstet werden, daß sein Tod keinesweges eine Zerstörung seines Werkes sei, sondern bestimmt ihn selbst und mit ihm alle diejenigen, die ihm angehören, in seine Herrlichkeit einzuführen. II. Und dies nun m. g. F. führt uns auf den zweiten Theil unsrer Betrachtung, nämlich welches denn die Absicht gewesen sei, um deretwillen der Erlöser dem Gespräch mit seinen Jüngern diese Wendung gegeben und ihnen auf solche Weise | die Schrift eröffnet habe. Er fand sie traurig und niedergeschlagen über seinen Tod, dessen Zusammenhang mit seinem großen göttlichen Beruf sie nicht begriffen. Wie leicht wäre es ihm gewesen die Traurigkeit verschwinden zu machen, wenn er sich ihnen in demselben Augenblick entdeckt und zu ihnen gesagt hätte: der den Ihr für todt gehalten, der lebt, erkennet mich ich bin es. Und gewiß in dem Augenblick, wo sie ihn erkannt hätten, würde auch jetzt wie später alle Traurigkeit aus ihrem Herzen verschwunden sein; der Glanz seiner Auferstehung hätte sie überschattet, die Freude an derselben würde allen Schmerz aus ihrem Gemüth vertrieben haben, und es würde ihnen gewesen sein, als sei er gar nicht gestorben. So leicht hätte der Erlöser es sich und ihnen machen können; er hat es aber nicht gethan, und dabei müssen wir doch eine besondere Absicht in ihm voraussetzen. Das Erste m. g. F. was dabei wohl einem jeden einfällt, ist dies, daß nur auf dem Wege, den der Erlöser einschlug, nur auf dem Wege 32 überschattet] überschüttet 1–3 Vgl. Hebr 10,12–13 (Zitat aus Ps 110,1) Joh 1,12

3–5 Vgl. Jes 53,10.12

8–10 Vgl.

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der Belehrung und der Einsicht, so weit es dem Menschen vergönnt ist, in den göttlichen Rathschluß die Jünger ganz konnten sicher gestellt werden gegen das Ärgerniß an seinem Kreuz. Denn davon war freilich | die erste leise Spur in der Niedergeschlagenheit ihres Gemüths; sie konnten sich das beides nicht vollkommen miteinander vereinigen, daß Jesus sei der Sohn des Hochgelobten, derjenige der da kommen sollte, und daß er auf eine solche Weise gestorben sei, und gestorben ehe noch irgend etwas von dem Erfolg seines Daseins äußerlich in der Welt feststand. Nicht als ob wir von ihnen glauben dürften, das Leiden des Herrn habe ihren Glauben an ihn ganz und gar vernichtet, wie ich mich darüber auch neulich schon erklärt habe, aber doch war er getrübt und gleichsam umwölkt in ihrer Seele, denn sonst hätten sie nicht können so niedergeschlagen sein und so traurig, wie er sie fand; es war ihnen doch das Beides nicht verträglich, daß Gott den, der sein einziges Kind war, an dem er Wohlgefallen hatte, den durch welchen er sein Werk vollenden wollte, daß er den so sollte haben in die Hände der Sünder geben können. Diese Zweifel wären nun freilich plötzlich beschwichtigt worden durch die Freude an der Auferstehung des Herrn; aber m. g. F. sie hätten dann wieder kommen können, wenn sie nicht wären aus dem Wege geräumt worden durch eine solche tief eingreifende und gründliche Belehrung, wie der Herr sie ihnen ertheilte. Denn das m. g. F. | ist eine allgemeine Erfahrung, daß alles was wunderbar ist und die Gränzen des Natürlichen für unser Urtheil überschreitet, einen großen und gewaltigen Eindruck auf uns macht; allein wenn es sich nicht verbindet mit den natürlichen Grundfesten unsers Denkens und Lebens, sondern für sich allein stehen bleibt als Ausnahme von der Regel, als in diese Welt nicht gehörig so verschwindet auch dieser Eindruck wieder, ohne eine Spur seines Daseins in uns zurückzulassen, und wir sind dann alle dem Preis gegeben, was der natürliche Lauf der Dinge in uns hervorbringen kann. Darum m. g. F. mußte auch das Wort Fleisch werden; darum mußte der Sohn Gottes selbst nicht nur auf Erden als eine wunderbare Erscheinung dastehen, sondern völlig Mensch werden, uns allen gleich, in unserer Natur eingewurzelt, allen Gesetzen unsers Lebens unterworfen, damit jenes Wunderbare und Übernatürliche, daß in einer menschlichen Seele die Fülle der Gottheit wohnt, nicht eben so wieder verschwände, als es die Menschen mit seiner Gewalt ergriffen hatte, sondern sich verbinden könnte mit ihrem ganzen Leben, wie jede einzelne natürliche Erscheinung sich mit allen übrigen verbin|det. Und so würde auch der Eindruck von der wunderbaren Auferstehung des Herrn vom Tode sich wieder haben verlieren können, und denn auch seine Gewalt an den Seelen verloren haben, wenn der Herr nicht eben dies beides so 9 ihn] ihm

16 können] könne

10–11 Vgl. oben 30. März 1823 vorm.

28–29 Vgl. Joh 1,14

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genau Zusammengehöriges, seinen Tod und seine Auferstehung, hätte in Verbindung zu bringen gewußt mit jenem allgemeinen Gedanken, auf welchen der Glaube seiner Jünger daran, daß sie einem Volke Gottes angehörten, und daß aus demselben der Erlöser kommen werde, ruhte. Darum ertheilte ihnen der Erlöser eine solche Belehrung, aus welcher sie einsehen konnten, daß Christus leiden mußte eben deswegen damit er in eine solche Herrlichkeit eingehen könnte, eben deswegen enthielt er sich, ihnen gleich zu erkennen zu geben, damit dieser Grund eines festen und sichern Glaubens in ihnen gelegt werden könnte. Wäre das nicht geschehen, so wären sie wieder Preis gegeben gewesen der Gewalt, welche die Ansicht der großen Menge des Volks über sie würde gehabt haben. Denn unter diesem Volke war das Ärgerniß an dem Kreuze Christi ein allgemeines, es konnte sich nicht entschließen zu glauben, daß ein Mensch, der durch sie selbst in die Hände der Heiden, der Unreinen, war übergeben worden, daß der könnte der von Gott gesandte und bestimmte | Erlöser sein. Weil aber m. g. F. von Anfang an ihr Glaube an den Erlöser auch hervorgegangen war aus derselben Erwartung, die in ihren Seelen wie in der Seele des ganzen Volkes lebte, so würden sie auch durch diesen Widerspruch sein ergriffen worden, wenn der Erlöser nicht eine andre Einsicht in ihrer Seele ergriffen hätte. Und so m. g. F. ist es; anders als so kann das Herz nicht fest werden. Der Glaube entsteht zuerst aus dem tief gefühlten Bedürfniß, aus der eignen Unfähigkeit dasjenige zu leisten, was unser tiefstes innerstes Gewissen als die Stimme Gottes von uns fordert. Aber wenn er entstanden ist, wenn er seinen Gegenstand gefunden hat, dann müssen wir auch uns suchen immer mehr zu befreunden mit dem ewigen unerforschlichen Rathschluß Gottes, dann müssen wir die Übereinstimmung, die in den göttlichen Fügungen ist, von ihrem ersten Anfang an bis zur Erscheinung des Erlösers als dem höchsten Gipfel der göttlichen Liebe und Weisheit und bis zu seiner Vollendung verfolgen; und je mehr wir Gott in seinen Wegen mit den Menschen als den Einen, der sich gleich bleibt, erkennen, desto tiefer wird unser Herz in dem Glauben durch den Geist Gottes[.] – Aber ihr Herz sollte nicht blos sicher gestellt werden dagegen, daß sie nicht mehr ein Ärgerniß nähmen an seinem Kreuze, sondern wie der Apostel sagt: | „das Kreuz Christi ist ein Ärgerniß den Ungläubigen, uns aber ist es eine Gotteskraft im Herzen“, so sollte auch eben die Einsicht, daß Christus leiden mußte, um in seine Herrlichkeit einzugehen, eine wahre lebendige Kraft Gottes in ihrem Herzen werden. Wie der Erlöser das an ihnen erreicht habe, das zeigt uns der Verfolg unsrer Erzählung, wo nämlich die beiden Jünger nachdem der Herr sich ihnen offenbart hatte, aber auch wieder vor ihnen verschwunden 12 ein] eine

12 konnte] konnten

33–35 Vgl. 1Kor 1,18

15 sein] sei

21 dem] den

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war, zu sich selbst sagten „brannte nicht unser Herz in uns, da er mit uns redete auf dem Wege, als er uns die Schrift eröffnete?“ Und m. g. F. wie könnte es auch anders gewesen sein als so? Je mehr wir fühlen, wie tief das Verderben der Sünde in der menschlichen Natur gewurzelt ist; je mehr wir fühlen, wie der Mensch auf diese Erde beschränkt auch nur an dasjenige gewiesen ist, was ihm auf dieser Erde und nach den Gesetzen der Natur, die auf derselben walten, kommen kann; je mehr der Mensch fühlt auf der andern Seite, daß von denen, welche Theil nehmen an dem Verderben der Sünde, die Hülfe gegen die Sünde nicht kommen kann, wie nicht nur alles Wissen Stückwerk ist in den Seelen der Menschen, die Theil nehmen an der Verfinsterung, welche die Sünde hervorbringt, sondern auch alle Hülfe und aller Beistand, den sie einander leisten können, nur Stückwerk ist, alle Liebe, mit der sie einander | zugethan sind, nur etwas Unvollkommnes ist und befleckt von der Selbstsucht, von der Feindschaft gegen das Licht, und eben deswegen die Liebe nicht ganz werden läßt: wie kann es ihm da anders als deutlich sein, daß nur in dem beständigen Kampf zwischen dem was Licht ist in der Seele, und in derselben, daß nur in diesem Kampf der Mensch sich halten kann, daß er nicht ganz in der Dunkelheit untergehe, daß noch ein Schimmer bleibe von dem Licht, in welchem allein seine Seligkeit ist. Wenn dann sein Glaube den gefunden hat, der zwar auf Erden war, aber nicht von der Erde, in welchem sich die schöpferische Allmacht erneuert hat, um in ihm und durch ihn das ganze menschliche Geschlecht zu einer neuen Schöpfung umzubilden, in welcher da wohne Gerechtigkeit und Heiligkeit; und wenn er dann aus seiner Kenntniß von den Gesetzen dieser menschlichen Welt die Einsicht gewinnt, daß auch der selbst leiden mußte im Kampfe gegen die Sünde, und daß nur so er den Sieg erringen konnte, an welchen wir uns, indem wir ihn verherrlichen, anschließen und so alle Früchte desselben genießen: wie muß dann nicht das Herz in ihm brennen vor Anbetung der zwar verborgenen aber doch in ihrem ewigen Walten deutlichen Weisheit Gottes, in dem | Gefühl der so oft verkannten, aber doch hier in der Erscheinung des Erlösers sich unverkennbar aussprechenden unerschöpflichen Liebe des Vaters. Und wenn wir dann sehen, wie Christus rein von allen Nebeln, welche uns das Licht der Wahrheit verhüllen, von Anfang seiner göttlichen Erscheinung auf Erden an es wissen mußte, auch in dem Innersten seiner Seele wissen mußte, daß er leiden müsse; sehen wir es ein, wie sie es erkennen mußten aus dem Zusammenhang seiner Reden, daß ihm das von Anfang an deutlich sein mußte und gewiß in seiner Seele, daß er sein Leben dahingeben müsse zum Schuldopfer für die Sünde, und nicht etwa überrascht wurde von seinem Leiden, sondern wie er die Macht hatte sein Leben zu geben, dasselbe frei hingegeben hat zur Erlösung der Welt: o mußte da nicht ihr Herz brennen in Liebe gegen 1–2 Lk 24,32

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den, der sich so ihnen und allen, die noch seine Feinde waren, hingegeben hat. Und eben dies in Liebe brennende Herz m. g. F., zu welcher der Mensch nur gelangen kann, wenn der Glaube an die Erlösung in ihm gegründet ist, das ist die Gotteskraft in den Seelen jener Jünger, die der Herr erst vorfinden wollte, ehe er ihnen die Freude gewährte, daß er erstanden sei. Aber hieran m. g. F. schließt sich noch eine zweite Absicht des Erlösers, nämlich die, die Jünger vorzubereiten auf die Gemeinschaft seiner Leiden. | Denn freilich vollendet ist das Werk der Erlösung durch ihn dadurch, daß er durch Leiden und Tod eingegangen ist in seine Herrlichkeit, so daß nun Gott – menschlicher Weise davon zu reden – nichts mehr zu thun braucht für die Menschen, sondern lassen wir nur seine Gnade in Christo walten, geben wir uns hin dem belebenden Einflusse des Geistes, den er zurückgelassen hat für die Menschen in seinem Wort: so kann jeder nehmen aus seiner Fülle Gnade um Gnade, anfangend von der Rechtfertigung seiner Seele, und fortschreitend in der Ähnlichkeit mit Christo und in der Heiligung so weit wir dies auf Erden thun können. Vollendet also ist das Werk der Erlösung; aber walten kann die Gnade Gottes in Christo, mittheilen kann sich der Einfluß seines Geistes, um immer mehr das Leben aus dem Tode zu entwikkeln, durch die Mittheilung derer, die ihn im Glauben festhalten. Und darum hat er zwar den Sieg über die Sünde errungen; aber diejenigen, deren seliger Beruf es ist die Erlösung unter dem menschlichen Geschlecht zu verbreiten, den Tod des Herrn zu verkündigen, die müssen wie er auch immer bereit sein um der Sünde willen zu leiden, einen guten | Kampf zu kämpfen im Streite des Lichts gegen die Finsterniß, und dadurch in die Gemeinschaft seiner Leiden einzugehen, und auch in sich selbst die Kraft seines Todes zu erfahren. Wie hätte er anders seine Jünger dazu stärken können, als indem er ihnen zeigte, wie auch Christus leiden mußte, um in seine Herrlichkeit einzugehen? Denn wenn wir nun alle Glieder seines Leibes sind, so gilt auch von uns allen das, was von ihm unserm Haupte gilt, und auch wir müssen leiden, um einzugehen in die Herrlichkeit, die er uns bereitet hat, daß wir einst das Wort vernehmen können: Du bist getreu gewesen über weniges, gehe ein in deines Herrn Freude. Wenn er doch unser Meister ist und wir seine Jünger, so muß es auch wahr sein, daß es dem Jünger nicht besser ergehen wird als dem Meister, und wir müssen bereit sein, dies daß wir ihm angehören auch dadurch zu zeigen, daß wir uns nicht weigern dasselbe Widerstreben der Sünder zu erdulden, unter welchem er gelitten hat; und es ist immer nur das den Erlöser liebende und 37 den] dem 13–14 Vgl. Joh 1,16 Joh 15,20

31–32 Vgl. Mt 25,21.23

33–34 Vgl. Mt 10,24–25;

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in der Liebe zu ihm brennende Herz, welches uns in den Stand setzen kann uns selbst und die Welt zu verleugnen, unser Kreuz auf uns zu nehmen, und wo es uns kommt | nach dem Rathschluß Gottes in die Gemeinschaft seiner Leiden einzugehen. So laßt uns denn m. g. F. in beider Hinsicht, wie der Erlöser es hier mit seinen Jüngern macht, mit der Freude an seiner Auferstehung verbinden das Gefühl von der Nothwendigkeit seines Todes. Kein andrer sei uns und nicht zu trennen der eine von dem andern, der Gekreuzigte und der Erstandene. Leiden mußte er und durch Leiden des Todes vollendet werden, um zu seiner Herrlichkeit einzugehen. Darauf gründe sich immer mehr unser Glaube, und befestige sich in dem freudigen Anschauen aller Wege Gottes, wie sie gewesen sind von Anbeginn an, vor der Erscheinung des Herrn sowohl als nach derselben. Aber wenn nun eben diese seligen Tage der Auferstehung uns am meisten daran erinnern, und mit dem seligen Bewußtsein erfüllen, daß wir in der Gemeinschaft mit ihm ein neues verklärtes geistiges Leben zu führen bestimmt sind: so laßt uns den Blick auf sein Leiden hinwenden, um uns dadurch zu stärken, daß wir | die Kraft des neuen Lebens gewinnen durch den, der allen den Seinen sein Kreuz vorhält, daß wir überall bereit sind unsre Theilnahme an seiner Herrlichkeit zu beweisen dadurch, daß wir uns nicht weigern zu leiden. Wie in den Jüngern der schwach gewordene Glaube dadurch befestigt wurde, daß sie den Herrn sahen, aber nicht durch den leiblichen Anblick desselben, sondern durch die lieblichen Worte des Lebens, die aus seinem Munde gingen: so m. g. F. nachdem nun der Herr sich dieser Erde leiblich entzogen hat, aber verheißen hat geistiger Weise unter uns zu sein und bei uns alle Tage bis an der Welt Ende: so sei es denn nicht das Gefühl allein von seiner göttlichen Kraft, und von seiner Seligkeit, wenn er unsrer Seele nahe ist, sondern vorzüglich auch sei es das Wort des Lebens aus seinem Munde, welches uns den Glanz seiner Herrlichkeit immer mehr vorhalte, durch welches unser Glaube immer mehr verklärt, unser Herz immer mehr befestiget und alles andre heraus getrieben werde, damit Glaube und Liebe allein in demselben walten, und damit wir würdig sein | mögen seine Jünger zu sein, sowohl in dem Kreuze, welches wir ihm nachtragen, als in der Herrlichkeit, deren wir uns durch ihn erfreuen. Amen.

13 nun] um 2–4 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

24–26 Vgl. Mt 28,20

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Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft etc. [1.] Herr und Heiland unser König, / Sieh tief gebeugt und unterthänig / Naht dein erworbnes Volk sich dir. / Sünder, welche du gerufen, / Sie sinken zu des Thrones Stufen, / Erglüht von heiliger Begier. / O mach in dieser Stund / Uns deine Liebe kund, / Daß wir fühlen wie wohl uns ist, / Herr Jesu Christ, / Wenn du im Geist uns nahe bist. // [2.] Zeuch nun ein zu deinen Thoren, / Hilf daß wir gänzlich neu gebohren / Dir ganz geweiht, dein eigen sein. / Rede Herr, wir alle hören, / Nichts soll der Andacht Segen stören, / Wir lauschen deiner Stimm allein. / Kühn flehn wir sonder Scheu / Getrost und kindlich frei, / Hilf uns Allen! dein Angesicht, / Der Seele Licht, / Leucht uns; du weißt was uns gebricht. // [3.] O du Haupt und Hirt der Heerde, / Die du gesammelt von der Erde, / Erquicke, weide, segne sie! / Schau uns, die wir uns verbunden / Zu deinem Hirtenstab gefunden, / Entzieh uns deine Gnade nie. / Du unsre Seligkeit, / Sei unser Sieg im Streit, / Trost im Leide! was schwer uns däucht, / Das wird uns leicht, / Wenn deine Kraft uns Kräfte reicht. // (Döring.) Nach dem Gebet. – Mel. Sollt’ ich meinem Gott etc. [1.] Lasset uns mit Jesu ziehen, / Seinem Vorbild folgen nach, / In der Welt der Welt entfliehen, / Auf der Bahn die er uns brach; / Immerfort zum Himmel reisen, / Irdisch noch, doch himmlisch sein; / Glauben recht und leben rein, / Glauben in der Lieb’ erweisen. / Treuer Jesu bleibe mir, / Geh voran, ich folge dir. // [2.] Lasset uns mit Jesu leiden, / Seinem Vorbild werden gleich! / Nach dem Leide folgen Freuden; / Armuth hier macht dorten reich. / Thränensaat bringt Heil und Wonne, / Hofnung tröstet mit Geduld; / Denn es scheint durch Gottes Huld / Nach dem Regen bald die Sonne. / Jesu hier leid’ ich mit dir, / Dort gieb deine Freuden mir. // [3.] Lasset uns mit Jesu sterben, / Sein Tod wehrt dem ewgen Tod, / Rettet uns von dem Verderben, / Das dem sichern Sünder droht. / Laßt uns sterben, weil wir leben, / Sterben unsern Lüsten ab: / So wird er uns aus dem Grab / In des Himmels Leben heben. / Jesu sterb ich, sterb ich dir, / Daß ich lebe für und für. // [4.] Lasset uns mit Jesu leben! / Weil er auferstanden ist, / Muß das Grab uns wiedergeben / Zu der vorbestimmten Frist. / Wir sind seines Leibes Glieder, / Wo das Haupt lebt, leben wir; / Ach erkenn uns für und für, / Seelenfreund, für deine Brüder. / Jesu, ja ich lebe hier / So wie ewig dort bei dir. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Der Glaube der mich dir verband, / Soll halten mich mit starker Hand, / Herr mehre mir den Glauben! / Im Glauben kann mich niemand dir, / Im Glauben kann dich niemand mir, / O Fürst des Lebens, rauben. / Tapfer werd ich durch dich ringen, / Und bezwingen / Welt und Sünde, / Bis ich gänzlich überwinde. //

Am 13. April 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Misericordias Domini, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,1–5 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 3–14; Andrae Keine Nachschrift; SN 618/1, Bl. 2r–5v; Crayen Nachschrift; SAr 52, Bl. 127v–128v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 1r–4r; Saunier, in: Schirmer Beginn der bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am Sonntage Misericordias Domini 1823. M. a Fr. Die Art und Weise, die uns schon seit einer Reihe von Jahren beschäftigt hat, zuerst in unsern nachmittägigen und dann in unsern Frühandachten einen ganzen Brief der heiligen Schrift durchzugehen, hat mir geschienen sehr segensreich und von großem Erfolg zu sein. Nachdem wir aber auf diese Weise die meisten kleinen Bücher des neuen Testaments betrachtet haben, so hatte ich doch nicht den Muth zu den größeren überzugehen, die doch schwieriger sind ihrem Umfange und ihrem Sinne nach. Es wurde mir aber an die Hand gegeben das Evangelium Johannis durchzugehen, wozu ich mich nicht würde selbst entschlossen haben; denn es ist ein großes und schönes Werk, voll von den herrlichsten und tiefsten Reden unsers Herrn und Erlösers, die auch kein anderer so auffassen konnte als der Jünger, den er lieb hatte und der an seiner Brust lag; es wird auch gewiß niemand jemals den Sinn desselben ganz erschöpfen; aber deswegen wird auch keiner sich rühmen können, was er darüber sagt, sei vollkommen richtig, sondern immer wird der menschliche Verstand zurükkbleiben hinter 2–5 Schleiermacher hielt nachweislich in den Jahren 1817/18 nachmittags und 1822/ 23 früh je eine Homilienreihe über den Philipperbrief. Anhand der fragmentarischen Überlieferungslage der Predigttermine und der behandelten Texte können weitere Homilienreihen nur vermutet werden. Möglichererweise hat Schleiermacher ab Juni 1816 nachmittags über den Galaterbrief gepredigt. Für 1819/20 ist die fortlaufende Auslegung einiger Kapitel des 1. Petrusbriefes belegt, während der Jakobusbrief in den Nachmittagsgottesdiensten ab April 1820 nachweislich bis Kapitel 4, Vers 10 behandelt wurde. Vgl. Predigtkalendarium Schleiermachers, in: KGA III/1 13 Vgl. Joh 13,23

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demjenigen, was darin niedergelegt ist als ein Ausdrukk der Fülle der Gottheit, | die in dem Erlöser wohnte und aus ihm redete. Darum, indem ich es doch unternommen habe, so bitte ich euch, daß, wie wir in unserm Morgengebet bitten, daß der Herr seinen Dienern Kraft und Muth geben möge sein Wort zu verkündigen, ihr eben so meiner gedenken möget in diesen Vorträgen. Wir beginnen dieselben jezt und lesen unsern heutigen Text im

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Evang. Joh. 1, 1–5. Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbige war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht scheinet in der Finsterniß, und die Finsterniß hat es nicht begriffen. Wenn ich diese Worte lese, m. g. Fr., so will es mir immer vorkommen, als sollte vorzüglich das Evangelium Johannis nicht hinter den andern stehen, sondern das erste Buch sein in unserm neuen Testamente, weil nämlich dieser Anfang desselben eine so bestimmte und deutliche Beziehung hat auf den Anfang der Schriften des alten Bundes. Denn wie es dort heißt, Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, so heißt es hier, Im Anfang war das Wort, und wie dort der Hauptinhalt des Buches doch darauf hinausgeht, die Geschichte der Erzväter und die Geschichte des von Gott besonders erwählten jüdischen Volkes zu beschreiben, und der heilige Schriftsteller dabei zurükkgeht bis auf den Anfang des menschlichen Geschlechtes und bis auf die Schöpfung der ganzen Welt: so auch Johannes, dessen Zwekk war, zu beschreiben die Geschichte von dem Fleisch gewordnen Wort, von der Sendung des Erlösers, durch den nun ein neues Reich Gottes gestiftet werden sollte, und also der Mensch zu ei|ner neuen Creatur gemacht, und das geistige Leben sich weiter verbreiten sollte; und wie dies dort der Fall ist, so geht Johannes nun auch zurükk bis auf den Anfang aller Dinge, ja wir können gewissermaßen sagen, noch weiter, und wir werden seine Worte nur recht verstehen können, wenn wir dabei auf der einen Seite denken an diese Beziehung auf den Anfang des ersten Buches Mose, auf der anderen daran, daß bei ihm alles darauf hinausgeht, daß das Wort, von welchem er sagt, daß es im Anfang bei Gott war, Fleisch geworden ist. Nur in dieser Beziehung werden wir nach seinem Sinne diese Worte näher mit einander betrachten. Wie also nun im ersten Buch Mose gesagt wird, Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde, und hernach fortgefahren, wie Gott gesprochen, Es 1–2 Vgl. Kol 2,9

19–20.38–39 Gen 1,1

39–1 Gen 1,3

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werde Licht, und es ward Licht, und dann das ganze Werk der Schöpfung weiter auseinandergelegt beschrieben wird immer unter diesem Ausdrukk, Gott sprach: so geht nun Johannes zurükk auf das Wort, welches Gott sprach, und sagt, Am Anfang, an dem Anfang, da Gott Himmel und Erde schuf, da war das Wort, nämlich dasjenige, wodurch alles geschaffen wurde, das göttliche Wort; und indem er hinzufügt, Und das Wort war bei Gott, so will er darauf hindeuten, daß ehe das Wort gesprochen ward, durch welches Sprechen des Wortes eben alle Dinge wurden in der Ordnung, wie es dort verzeichnet ist, die Dinge bei Gott waren. Indem nun, als Gott sprach, Es werde Licht, das Licht ward, und als er sprach, Es scheide sich die Feste droben von der Feste unten, beides, Himmel und Erde wurden: so müssen wir sagen, daß in dem schaffenden Worte Gottes, gleichsam ehe die Dinge äußerlich wurden, sie in Gott waren, und dies ist es, was der Evangelist ausdrükken will. Indem er sagt, Das Wort war bei Gott, so will er uns deutlich machen, daß, wenn wir verstehen wollen, wie die Welt durch Gottes Wort fertig geworden ist, wir auch daran | denken müssen, daß sie in dem Worte Gottes bei Gott war auf eine ursprüngliche und ewige Weise, und daß dies der Grund war, vermöge dessen sie, als Gott das schaffende Wort sprach, äußerlich wurde und in ihr zeitliches Sein heraustrat. Warum aber, m. th. Fr., führt uns der Apostel auf das schaffende Wort Gottes, in welchem bei Gott die ganze Welt schon auf eine ewige Weise enthalten war, ehe er das schaffende Werde sprach, warum führt er uns auf dasselbe zurükk? Nur deshalb, weil er uns hernach sagen will, dieses Wort, dasselbe Wort sei Fleisch geworden, und darum fügt er hinzu, nachdem er gesagt hat, Und das Wort war bei Gott, Gott war das Wort. Nämlich, m. g. Fr., auch das, daß der Apostel dies das Wort nennt, ist eine bildliche und menschliche Rede, wie es denn nicht anders sein kann; wir können von dem höchsten Wesen nur reden durch menschliche Abbildungen. Wenn wir nun sprechen irgend ein Wort, so unterscheiden wir nun freilich das gesprochene Wort von uns selbst. Wenn wir bedenken, wie der Gedanke in uns war, ehe wir das Wort sprachen, aber wie doch derselbe das gesprochene Wort war, nur in uns, nicht außer uns, und wir haben dabei im Sinn einen einzelnen Gedanken, der da kommt und wieder vorübergeht: so unterscheiden wir auch diesen von uns – und das mit Recht. Warum aber dies? Weil nicht alle inneren Gedanken und Worte in uns selbst, wenn gleich unter einander bestimmt, unser ganzes Wesen ausdrükken; sondern in jedem einzelnen ist, weil wir Menschen sind, etwas unvollkommenes und falsches, und indem wir von einer Zeit zur andern etwas anderes werden, so ist auch von einer Zeit zur andern der Inbegriff unserer Gedanken und Worte etwas anderes. Davon müssen wir absehn, wenn wir an 1–3 Vgl. Gen 1,6–31

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Gott, wenn wir an das ewige sich selbst gleiche Wesen denken. Und wenn wir fragen, könnten wir einmal beisammen haben, wie wir es uns denken von unserm künftigen Zustande, nachdem wir vollendet sein werden, was ja auch der Apostel in seinem Briefe so ausspricht, Es ist noch nicht er|schienen, was wir sein werden, aber wenn es erscheinen wird, werden wir ihm gleich sein, indem wir ihn sehen werden, wie er ist; könnten wir in dieser Zeit die ganze Fülle unsrer innern Worte bei uns haben oder in uns tragen und uns derselben bewußt sein: so würden wir eben so wenig diese von unserm ganzen Wesen scheiden können, sondern von uns sagen, wir selbst wären das Wort, wie der Apostel hier sagt, Gott war das Wort. Denn eben jene ewige Kraft und jene unendliche Fülle der Weisheit, welche Gott offenbaret hat in der Schöpfung der Welt, und die wir niemals ermessen können, weil wir nicht das ganze der göttlichen Werke, weder ihrem Umfange noch ihrem Wesen nach, in der zeitlichen Erscheinung und Entwikkelung derselben zu umfassen im Stande sind, eben diese Kraft ist das göttliche Wesen selbst. Und wenn in dem schaffenden Worte Gottes, wie es bei ihm war auch ehe alle Dinge aus demselben hervorgingen, eben das göttliche Wesen gesezt ist, so sagt der Apostel mit Recht, Gott war das Wort. Worauf er nun aber hiemit abzielt, was er uns bald nachher sagen will, ist dies: dasselbe göttliche Wort, dieselbe Fülle der ewigen Kraft und Weisheit, wodurch Gott Himmel und Erde geschaffen hat, und in welcher gleichsam unabhängig von seiner Schöpfung das ganze seiner Werke ewig in ihm selbst war, ehe es in die zeitliche und räumliche Erscheinung trat, eben dieses Wort, wie er uns hernach sagen wird, ist Fleisch geworden. Indem er nun sagt, Alle Dinge sind durch das Wort gemacht und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist, so faßt er in diesen Worten die ganze Geschichte der Schöpfung zusammen, welche uns am Anfange des ersten Buchs Mose zwar ausführlicher, aber auch in menschlicheren Bildern erzählt ist, weil es ihm nicht darauf ankam, die äußerliche Welt, die durch das Wort Gottes geworden ist, hier | ausführlicher zu beschreiben, sondern er nur darauf ausging, die Fülle des göttlichen Lebens und die innere geistige Welt, deren Grund Christus gelegt hat, als das Wort Fleisch ward, zu beschreiben, wie sie in seiner göttlichen Person zuerst auf Erden erschienen ist. Wenn er nun spricht, Alle Dinge sind durch das Wort gemacht, und ohne dasselbige ist nichts gemacht, was gemacht ist, so will er eben dies sagen, einmal, daß in dem göttlichen Wort, in Gott und bei Gott betrachtet, das ganze der göttlichen Schöpfung enthalten ist; und dann wieder, daß eben diese geistige Kraft und diese Fülle der göttlichen Weisheit, vermöge deren in dem göttlichen Wesen die ganze Welt vor ihren äußerm Entstehen ursprünglich enthalten war, auch der Grund ist, wodurch sie äußerlich geworden und entstanden ist. 4–6 Vgl. 1Joh 3,2

24 Vgl. Joh 1,14

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Und hiermit, m. g. Fr., entscheidet der Evangelist zugleich eine der schwierigsten Fragen, welche, wenn wir an das ganze Werk der göttlichen Schöpfung und Vorsehung denken, immer aufs neue in uns entsteht, daß wir uns nämlich fragen, Wenn doch alles durch Gottes Wort geworden ist, wir aber auch in dieser Welt das böse finden mit allem Uebel, welches daraus entstanden ist und noch entsteht: ist das auch durch Gottes Wort fertig geworden? gehört das auch zu dem Worte Gottes, welches ewig bei Gott war und Gott selbst, und wodurch alle Dinge gemacht sind? Und wir können diese Frage immer auf der einen Seite nicht bejahen, weil wir nicht glauben können, daß der Urheber alles Daseins das böse, das unvollkommene und mangelhafte solle geschaffen haben, auf der andern Seite aber auch nicht verneinen, weil wir nicht glauben können, daß irgend etwas sei gegen den Willen Gottes und ohne Gottes Willen, welcher göttliche Wille sich eben ausspricht in seinem schaffenden und hervorbringenden Wort. Wie sollen wir aus dieser Schwierigkeit herauskommen? So wie der Apostel hier spricht, Alle Dinge sind durch dasselbige gemacht, und ohne das|selbige ist nichts gemacht, was gemacht ist, will er damit sagen, alles, was gemacht ist, was wir als ein fertig gewordenes, als ein in sich bestehendes, als ein wahres Wesen in sich tragendes ansehen können, das ist durch das göttliche Wort, und nichts der Art ohne dasselbe gemacht. Wenn wir nun den Evangelisten fragen, Hast du damit sagen wollen, daß auch das böse zu demjenigen gehöre, was durch Gottes Wort fertig geworden ist? so würde er uns aus dem Buchstaben seiner Rede sagen und beweisen, das böse sei eben nicht gemacht; sondern wie wir lesen, daß geschrieben steht, Gott sprach, es werde Licht, und es ward Licht, so ist das Licht gemacht durch das göttliche Wort, aber nicht die Finsterniß; und so ist die Finsterniß, die nichts anders ist, als der Mangel des Lichts, nicht durch dasselbe gemacht. Eben so ist es mit allem bösen; es ist alles böse überall das nichtgemachte, sondern dasjenige, woraus erst durch das göttliche Wort etwas gemacht werden soll. Alle menschlichen Handlungen und Neigungen, in denen sich nun das böse offenbart, sind als solche freilich gemacht und durch das göttliche Wort fertig, weil ohne sie kein menschliches Leben bestehen kann, aber sie sind nicht das böse, sondern das böse ist eben dies, daß sie nicht dem göttlichen Geiste in uns untergeordnet sind, und in so fern sind sie nicht gemacht; aber es soll das gute und rechte aus ihnen gemacht werden durch das göttliche Wort, wodurch alle Dinge geworden sind, die gemacht sind. Darum nun, weil durch nichts als durch die ewige Kraft des göttlichen Wortes, wodurch alle Dinge gemacht sind, die neue Welt und die neue Creatur hervorgebracht ist, die nichts anders ist, als die Ueberwindung des bösen, und durch welche, indem sie wird, überall wo es finster war das 25 Gen 1,3

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Licht gesezt wird, welches ursprünglich aus dem ersten schaffenden göttlichen Wort hervorgegangen ist, darum geht der Apostel unmittelbar fort, nach der ersten Beschreibung von der allgemeinen Schöpfung der leiblichen Welt zu der geistigen, die wir Christo verdanken, indem | er spricht, In ihm, dem göttlichen Wort, war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint in der Finsterniß, und die Finsterniß hat es nicht begriffen. Wenn der Apostel sagt, In ihm, dem Worte, war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen: so hat dies zuerst einen ganz einfachen und natürlichen Sinn, der auch gewiß einem jeden gleich einfällt. Wenn alle Dinge durch das göttliche Wort gemacht sind, so hat auch das Leben seinen Grund und seinen Ursprung in dem göttlichen Wort. Ueberall ist das Leben das wahre, die Seele in der göttlichen Schöpfung, ohne welches alles andere nichts wäre und todt. Sind also alle Dinge durch das Wort Gottes gemacht, welches bei ihm war, so ist das Leben auch durch dasselbe Wort gemacht. Und wenn der Apostel weiter sagt, Das Leben war das Licht der Menschen, so können wir dies aus dem eben Gesagten verstehen, zumal wenn wir dabei an den Apostel Paulus denken, wie er in seinem Brief an die Römer von allen Menschen sagt, Daß sie wissen, daß Gott sei, ist ihnen offenbar, denn sie können inne werden seiner ewigen göttlichen Kraft, so sie wahrnehmen seine Werke an der Schöpfung der Welt; aber wir erkennen Gott nur an seinen Werken, in wie fern in ihnen das Leben ist. Wenn es möglich wäre, daß eine einzelne menschliche Seele um sich her nur erblikken könnte lauter todtes, so würde sie dadurch gewiß nicht zur Erkenntniß Gottes geführt werden, sondern diese würde in ihr schlummern. Das Leben also ist das Licht der Menschen, das Leben in der Welt führt uns auf Gott, als den Urheber der Welt, zurükk. – Wie sich frei die großen Weltkörper, die seine Allmacht geschaffen hat, in unendlichen Räumen nach unveränderlichen Gesezen bewegen; wie in dem unermeßlichen Gebiete der Schöpfung aus der ewig schaffenden und | erhaltenden Kraft das Leben hervorgeht, gewiß viel herrlicher und größer, als es auf dem engen Raum unsrer Erde der Fall ist, und geordnet nach den uns großentheils verborgenen und in die Dunkelheit dieser Welt nur schwach hineinscheinenden Gesezen: in dieser ganzen Entwikkelung thut sich uns das göttliche Wesen als der Grund alles Lebens kund. Und so ist schon das irdische Leben, weil es seinen Grund in dem schaffenden Worte Gottes hat, das Licht der Menschen. Wenn wir aber diese Worte betrachten in Beziehung auf dasjenige, was hernach folgen wird, daß das Wort Fleisch geworden ist: so mögen wir zu diesem auch die folgenden hinzufügen, Eben dasselbe Wort, welches in Christo Fleisch geworden ist, das ist das Leben, in ihm ist das Leben, und 20–22 Vgl. Röm 1,19–20

39 Vgl. Joh 1,14

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das ist von Anbeginn das Licht der Menschen gewesen. Ist nun, m. g. Fr., dies nichts anders als alles, was jemals in der menschlichen Welt im wahren und eigentlichen Sinne Leben genannt worden ist, alles nämlich, worin sich nicht das Todtsein der Menschen in Sünden, worin sich nicht der Mangel des Ruhms, den sie bei Gott haben sollen, offenbart, sondern worin etwas von dem Leben ist, wovon in dem ersten Buch Mose gesagt wird, daß Gott der Herr es dem Menschen eingehaucht habe, und dieser dadurch geworden sei zu einem lebendigen Wesen und zu einem Ebenbilde des Höchsten, und alles, was sich als Licht den Menschen zu erkennen gegeben hat: so hat dies alles seinen Grund in dem Worte, welches hernach Fleisch geworden ist. Das heißt, in der ganzen Entwikklung des menschlichen Geistes, vom Ursprunge des menschlichen Geschlechts an bis auf die Erscheinung des Fleisch gewordenen Wortes, ist alles Wahrheit, was sich unter den Menschen offenbart hat als ein Licht, welches bald mehr bald weniger hell in die Finsterniß dämmerte; alles Verlangen nach Gott, alle Sehnsucht nach dem höchsten Wesen, alles Gefühl von demjenigen, was mit demselben übereinstimmt und ihm näher bringt, und was ihm widerstrebt | und von ihm entfernt; alle Sehnsucht die Macht der Unwissenheit zu entfernen, und die menschliche Seele an einem höhern Licht zu entzünden, das alles hat seinen Grund in dem ewig belebenden Worte Gottes, welches hernach in Christo Fleisch geworden ist, und ist immer das Licht der Menschen gewesen, immer ihr Leben, in so fern es ein Ausfluß von dem Lichte ist. Und das, m. g. Fr., bestätigt sich gewiß in der ganzen Betrachtung der menschlichen Geschichte. Wenn wir zurükksehen in die Zeiten, ehe Christus der Herr auf Erden erschien, so finden wir gewiß viele Verkehrtheiten, wie der Apostel sie im Anfange seines Briefes an die Römer beschreibt, daß die Menschen das Bewußtsein, welches sie von Gott, dem höchsten Wesen, hatten, verkehrt haben in Ungerechtigkeit; wir finden aber auch Funken von jenem Lichte in die Finsterniß hineinscheinen. Aber, wenn wir uns nun fragen, was tritt uns denn überall als Wahrheit in allen Aeußerungen des menschlichen Geistes, in allen Forschungen, in allen heiligen Reden gottbegeisterter Männer, was tritt uns darin als Wahrheit entgegen? so müssen wir sagen, immer dasjenige, was eine Hindeutung enthält auf die Erlösung, die da kommen sollte durch Christum. In den Schriften des alten Bundes, was ist uns das göttliche und heilige? Die Hindeutung auf Christum. In allen Aeußerungen weiser Männer aus andern Völkern, von welchen auch schon die alten Lehrer der christlichen Kirche sagen, was sie je gutes und wahres geredet haben, sei ihnen geflossen aus der Fülle, die in dem ewigen Sohne Gottes fließt, was ist in ihnen das wahre? Nur worin sich bewährt und ausspricht eine Einwirkung von oben, eine Einwirkung, deren die Menschen bedürfen, um zu Gott zurükkzukehren; kurz, nur wo sich die Hoffnung auf 4–5 Vgl. Röm 3,23

6–8 Vgl. Gen 1,27; 2,7

25–28 Vgl. Röm 1,18–32

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eine gänzliche Rettung ausspricht, ist das Licht, welches in die Dunkelheit hineinscheint, und das wahre Leben der Menschen ist nur jenes himmlische Licht, das sich nicht eher entzünden konnte, als bis das Wort Fleisch ward. | Und nun laßt uns betrachten den wehmüthigen Zustand, den der Apostel darstellt, indem er sagt, Das Licht, das ewige Licht Gottes, welches seinen Grund in Gott hat, das schien in die Finsterniß; aber die Finsterniß hat es nicht begriffen. Nämlich die ganze geistige Welt, die war bei der Schöpfung der leiblichen Welt noch nicht fertig, sondern wartete noch eben jener zweiten Schöpfung, die erst beginnen konnte, als das Wort Fleisch ward. Darum war die Finsterniß gesetzt, darum mußte sich die Sünde und der Irrthum in der menschlichen Seele offenbaren, weil der Mensch nicht eher fertig werden konnte, als da das Wort Fleisch ward, unser Fleisch und Blut annahm, und wir alle geführt waren zu jenem neuen Leben dadurch, daß wir in ihm schauten die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater und den Abglanz seines Wesens. So lange also war die Finsterniß gesezt in den Bestrebungen der Menschen; aber nicht die Finsterniß allein, sondern das Licht schien in die Finsterniß. Eben das Leben, welches Gott der menschlichen Seele eingehaucht, wodurch sie ein vernünftiges Wesen ward, wodurch sie die Fähigkeit und das Vermögen hat, den zu erkennen, von dem sie ausgegangen ist, und ihn wahrzunehmen in seinen Werken, eben dieses Leben mußte das Licht der Menschen bleiben, freilich bald mehr bald weniger dunkel scheinend, aber immer doch auf irgend eine Weise die Finsterniß erleuchtend. Was aber in der Finsterniß war, das begriff das Licht nicht. Das Licht schien in die Finsterniß, aber die Finsterniß hat es nicht begriffen; es konnte seine ganze Kraft nicht ausüben, sondern mußte im Vergleich gegen die Finsterniß schwach bleiben, bis das Wort Fleisch ward in Christo dem Herrn, da erst war ein Licht gesezt, welches immer tiefer in die Finsterniß hineinscheint und von Gott bestimmt ist, das ganze menschliche Geschlecht zu erleuchten und die Finsterniß gänzlich zu zerstreuen; und wenn die Finsterniß ganz aufgehoben ist, dann erst werden alle Dinge vollkommen | gemacht sein durch Gottes Wort, ohne welches nichts gemacht ist, was gemacht ist. Aber m. g. Fr. nicht nur die Zeit beschreibt der Apostel hier von der Schöpfung des menschlichen Geschlechtes bis auf Christum den Herrn, sondern, wenn wir uns fragen, Ist es nicht auch jezt noch so, wie damals? so müssen wir sagen, Ja. Weil eben noch nicht erschienen ist, was wir sein werden, weil noch eine größere Herrlichkeit den Kindern Gottes bevorsteht, so ist neben dem Lichte die Finsterniß gesezt, und immer giebt es Gegenden in der menschlichen Welt, wo das Licht scheint, aber es ist auch die 26 im] in 9–10.12–15 Vgl. Joh 1,14

17–19 Vgl. Gen 2,7

36–37 Vgl. 1Joh 3,2

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Finsterniß da. Aber alle diejenigen, welche das Licht begriffen, die sich selbst geweiht haben zu einem Tempel des Lichtes, in welchem der Geist Gottes wohnt, die haben das Bestreben, die Finsterniß zu zerstreuen durch die Kraft des göttlichen Wortes und sie zu durchdringen mit dem Lichte von oben, und es lebt in ihnen die Hoffnung, daß das Licht siegen werde über die Finsterniß. Und darum wollen wir den mit einander loben und preisen, der uns errettet hat von der Finsterniß, die wir auch einst saßen in dem Schatten des Todes, und uns gebracht zu seinem ewigen und wunderbaren Lichte. Amen.

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Am 19. April 1823 mittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Samstag, vermutl. 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,3 Nachschrift; SAr 104, Bl. 173r–196r; Andrae Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 104, Bl. 222r–250r; Andrae Konfirmationspredigt mit Abendmahlsvorbereitung

Einsegnungsrede im Jahre 1823. |

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Tex t. 1. Korinther. XII, 3. Darum thue ich euch kund, daß Niemand Jesum Christum verfluchet, der durch den Geist Gottes redet; und Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, ohne durch den heiligen Geist. M. a. F., So wie, als unser Herr auf Erden lebte, diejenigen, in denen das Verlangen nach dem Reiche Gottes und nach dem, der da kommen sollte um es zu begründen, am lebendigsten erwacht war, in ihm auch die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater schauten, und aus seiner Fülle nahmen Gnade um Gnade: so auch, nachdem er diese Erde wieder verlassen hatte, aber seine Jünger, wie er es ihnen verheißen, ausgerüstet wurden mit der Kraft aus der Höhe, da geschah es ebenfalls, daß diejenigen, wel|che am meisten in dem Innersten ihres Gemüths darauf vorbereitet waren, in ihnen erkannten den göttlichen Geist, von welchem sie erfüllt waren, und daß die aus der Fülle des Geistes hervorgehende Predigt des Evangeliums ihre Herzen belebte und erschütterte und das Verlangen in ihnen erregte, sich freimachen zu lassen von der Knechtschaft der Sünde und die Gaben des Geistes auch zu empfahen, und man sahe unter den Menschenkindern, die so lange nach nichts anderem getrachtet hatten, als nach den irdischen Gütern dieser Welt, ein Ringen der Seele nach dem göttlichen Geist. Wie es aber in menschlichen Dingen ergeht, daß dem Wahren auch gar leicht das Falsche sich beimischt, und das Verderben den Schein des Rechten anzunehmen weiß: so geschah es auch sehr bald in der ersten christlichen Kirche, daß mancherlei Erscheinungen und Aufwallungen des | menschlichen Gemüths, die nicht alle gegründet waren in der Kraft des Geistes, doch dafür gehalten wurden aus diesem hervorgegangen 8–10 Vgl. Joh 1,14.16

11–12 Vgl. Lk 24,49

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zu sein, so daß es nöthig wurde die Christen darüber zu belehren, wie sie die Geister prüfen möchten und erkennen, welcher Geist aus Gott sei. Dahin gehören nun die Worte des Apostels, die ich eben gelesen habe. Er giebt dies als ein Kennzeichen an, und indem er vorher sagt: „Niemand verflucht Jesum, der durch den Geist Gottes redet“: so fügt er hinzu, worauf wir vorzüglich unsere Aufmerksamkeit richten wollen: „und niemand kann Jesum einen Herrn nennen, denn durch den heiligen Geist.“ Dabei, m. g. F., müssen wir uns allerdings zugleich erinnern an jene ersten Worte unseres Erlösers selbst: „Nicht alle, die zu mir sagen, Herr, Herr, werden in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen thun meines Vaters im Himmel.“ So meint auch der Apostel, wenn | er sagt: „Niemand kann Jesum einen Herrn nennen, denn durch den heiligen Geist“, nicht diejenigen, bei denen dies nur ein Werk der Lippen ist, von welchem ihr Herz nichts weiß; sondern wer Jesum in der Wahrheit einen Herrn nennt, der weiß auch, daß er dazu gekommen ist den Menschen den Willen Gottes nicht nur zu verkündigen, sondern auch, indem sie theilhaftig würden der lebendigen Gemeinschaft mit ihm, und aus seiner Fülle Gnade um Gnade nähmen, sie in den Stand zu setzen, daß sie in seinem Geiste, dem Geiste der Wahrheit und der Freiheit den Willen des Vaters im Himmel erfülleten. Und von diesen nun sagt der Apostel, so könne niemand Jesum einen Herrn nennen, denn nur durch den heiligen Geist. Die Verbindung nun, in welcher diese Worte stehen mit der Einsetzung des heiligen Abendmahls unseres Herrn, auf welche uns vorzubereiten | wir hier gegenwärtig sind, diese Verbindung leuchtet wohl einem jeden ein. Denn es giebt wohl nicht ein trefflicheres und innigeres Jesum einen Herrn nennen, als wenn wir uns vereinigen um in seinem heiligen Mahle den Tod des Herrn zu verkündigen. Da fühlen und bekennen wir es in unserem Herzen, und bezeugen es auch vor der Welt, daß er von Gott zum Herrn und Christ gemacht ist, daß er für uns gestorben ist, indem er gehorsam war bis zum Tode am Kreuz, und, nachdem er durch Leiden eingegangen ist in die Herrlichkeit, nun für uns bei seinem Vater bittet, und uns vertritt, da bekennen wir es, daß wir nur von den Worten seines Mundes das geistige Leben empfangen, durch welches seine Jünger sich auszeichneten, und daß er deswegen unser Herr ist, weil das Alles, und wie viel wir von ihm in unsere Seele aufgenom|men haben, uns überall leitet von einem Guten zum andern, und unsern Geist sättigt mit einer Wahrheit nach der andern. So ist denn das der erfreuliche Sinn der Worte unseres Textes, daß alle wahrhafte Genossen dieses heiligen Mahles auch Theil haben an dem Geiste des Herrn, und sich dessen getrösten können, daß der in ihnen lebt. Dagegen, m. g. F., können freilich mancherlei Zweifel in unserer Seele aufsteigen sowohl wenn wir, wozu wir ja bei dieser heiligen Handlung so besonders aufgefordert sind, uns selbst prüfen, und in dem Inner9–10 Mt 7,21

17 Vgl. Joh 1,16

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sten unserer Seele noch so manches finden, was nicht dem Geiste Gottes angehört, sondern nur die Spuren des Zustandes an sich trägt, in welchem wir waren, ehe wir seiner theilhaftig wurden, als auch wenn wir, geschieht es auch immer, wie das unter Christen der Fall sein soll, mit dem Geiste der Liebe[,] in der Gemeine des Herrn umherschauen. Denn da | finden wir so manche, welche, wenn wir auch nicht von ihnen sagen möchten, daß sie nur mit den Lippen Jesum ihren Herrn nennen, wenn sie ihn an seinem Tische bekennen, doch auch gar wenig in ihrem Leben zeigen von den Früchten des Geistes, wie sie uns die heilige Schrift beschreibt, wie die ganze Geschichte der christlichen Kirche im Großen und im Kleinen voll ist von den Erweisungen derselben. O, m. g. F., auch diese Zweifel wollen wir werthhalten und sie nicht etwa leichtsinnig verscheuchen. Was aber uns selbst betrifft, m. g. F., so sollen wir uns damit trösten, daß wir wissen, so wie nichts, was uns in diesem Leben begegnen kann, kein Kampf, den wir durchgekämpft haben, kein Leiden, das uns trifft, keine Lockung dieser Welt uns scheiden soll von der Liebe Christi, so auch keine Schwachheit, die noch wider seinen Willen in uns übrig ist, kein Verderben, gegen welches wir den Kampf noch nicht ausgekämpft haben, wenn wir nur nie aufhören | es zu bekämpfen, hindern kann, daß wir nicht Gottes Kinder sind in unserm Herren Jesu Christo. Was aber unsere Brüder betrifft, wozu können und sollen wohl solche Zweifel unser Gemüth erheben, als indem wir auf der einen Seite bedenken müssen, auch sie nennen Christum ihren Herrn, und sie sind doch nicht entblößt und entfernt von den Regungen der göttlichen Gnade, sie sind Genossen des göttlichen Wortes, welches niemals unfruchtbar ist in geöffneten Seelen, sie haben Theil an allen den Gaben der göttlichen Gnade, wodurch der Herr seine Gemeine zusammenhält, befestigt und stärkt, wozu könnten uns jene Zweifel erwecken als nur, daß wir nie aufhören, ihnen in dem Geiste der christlichen Liebe zuzurufen: Betrübet nicht den Geist Gottes, mit welchem ihr versiegelt seid, unterdrückt nicht seine Regungen in eurem Herzen, lauscht mit immer größerer Sorgfalt auf seine Stimme, laßt euch dasjenige wohlgefallen, wie wenig es auch im Anfange | sei, was er in eurem Herzen wirkt, und fanget damit an treu zu sein über das Wenige, so werdet ihr gesetzt werden über Mehreres. Ein solches Bündniß der christlichen Liebe, damit überall in der Gemeine des Herrn die Stärkeren, die Kraft, welche ihnen Gott geben hat, anwenden, um die Schwächeren zu ermuntern, damit überall die Erleuchteten das Licht, welches der Herr ihnen angezündet hat, gebrauchen um den dunkeln Weg ihrer Brüder aufzuhellen, und in die verborgenen Falten ihres Herzens hineinzuleuchten, einen solchen Bund der christlichen Liebe sollen wir immer 38 aufzuhellen] aufzuhelten 8–9 Vgl. Gal 5,22; Eph 5,9

28–29 Vgl. Eph 4,30

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schließen unter einander, so oft wir uns zum Tische des Herrn nahen, und ihm und uns das geloben, daß wir aus allen Kräften dazu beitragen wollen, damit das Walten seines Geistes in der Gemeine des Herrn immer reger, immer frischer, immer | lebendiger und ungestörter werde. Ich komme aber nun, m. g. F., noch auf eine besondere Anwendung dieser Worte in Beziehung darauf, daß hier jetzt eine Anzahl junger Christen versammelt ist, um den Bund ihres Herzens mit Gott, den sie in der Taufe geschlossen, zu erneuern, auch, indem sie sich mit uns zum Tische des Herrn nahen, den Tod unseres Erlösers zu verkündigen, und Jesum einen Herrn zu nennen in ihrem Herzen. So können wir sie denn aufnehmen in die Gemeinschaft unserer Kirche in der frohen Zuversicht, daß auch sie Jesum einen Herrn nennen nicht anders als durch den heiligen Geist. Indem diese Handlung, welche wir heute an ihnen vollziehen, nichts anderes ist, als in der That und Wahrheit gleichsam der letzte Theil ihrer Taufe selbst, und die Ergänzung desjenigen durch ihre eigene Zustimmung und durch ihr eigenes herzliches Ergreifen, was im Vertrauen hierauf | in den ersten Tagen ihres Lebens an ihnen geschehen ist, als ihre Eltern sie dem Herrn darbrachten, um sie ihm zum Eigenthum zu weihen, indem, sage ich, dies der rechte Gesichtspunkt ist, aus welchem wir diese Handlung zu betrachten haben, wie könnten wir umhin daran zu denken, daß eben, wie in der Geschichte der Apostel und in den Briefen derselben die Rede ist von der Aufnahme in die christliche Kirche, beides, daß der Mensch getauft werde und daß er die Gaben des göttlichen Geistes empfange, immer in eine unzertrennliche Verbindung gesetzt ist. Nicht als ob wir dadurch veranlaßt werden sollten zu glauben, daß die Gaben der göttlichen Gnade irgend gebunden sein könnten an eine menschliche Willkühr, davon mahnt uns die Schrift selbst ab, indem sie uns bald erzählt, der heilige Geist sei auf diejenigen gefallen, die das | Wort Gottes hörten, und dann seien sie getauft worden, bald auch wieder erzählt, sie wären getauft worden, und dann hätte der heilige Geist ihre Seelen erfüllt. So mögen wir auch sagen, früher oder später, eben so sehr als in diesem bedeutenden Augenblick ihres christlichen Lebens selbst, wird der göttliche Geist geschäftigt sein in ihren Seelen. Früher schon als jetzt hat er sich in denselben wirksam bewiesen von ihrer zarten Kindheit an; aber auch jetzt ist das Werk desselben in ihnen noch nicht vollendet, sondern immer inniger muß er alle Theile ihres Wesens durchdringen, immer kräftiger muß er sie regieren, um alle diejenigen Früchte hervorzubringen, woran ein christliches Gemüth, und woran die Kraft des göttlichen Geistes und des göttlichen Wortes erkannt wird. Wenn wir aber, m. g. F., in der 3 Herrn] Herr

21 die christliche] der christlichen

20–24 Vgl. Apg 2,38 Apg 19,5–6

26–28 Vgl. Apg 10,44–48

29–30 Vgl. Apg 8,14–17;

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Gemeine des Herrn selbst auch in dieser wichtigsten Beziehung eine so große Ungleichheit finden, [indem wir finden] | in einigen Seelen den göttlichen Geist auf das herrlichste sich offenbaren, so daß die Kraft des Evangeliums sich in ihnen zeigt zur Freude aller derer, die es gern sehen, daß der Name des Herrn verklärt werde in den Seelen der Gläubigen, aber auch in mannigfaltigen Abstufungen aller Verhältnisse christlicher Gottseligkeit und Tugend, christlicher Gemeinschaft und Freiheit des Herzens, alle Arten von Verfall und Wankelmuth, von Schwachheit und Abtrünnigkeit zur Sünde; wenn sich darin die Gemeine des Herrn immer gleich geblieben ist von Anfang an, und wir auch sagen können, so lange unsere irdischen Verhältnisse dauern wird gewiß diese Ungleichheit nicht aufhören: wie könnte es dann anders sein als daß wir auch schon unter den jungen Christen, die wir in die Gemeine des Herrn aufnehmen, eine nicht unbedeutende Ungleichheit bemerken. O würden sie alle, jeder zu seiner Zeit, in die Gemeinschaft der Christen | aufgenommen mit einer gleichen Erkenntniß des göttlichen Worts, mit einer gleichen Erweckung ihres Herzens, mit einer gleich lebendigen Richtung auf das Eine, was Noth thut, dann müßte ja bald in der christlichen Kirche diese Ungleichheit verschwinden. Sie darf uns also nicht Wunder nehmen, wir dürfen ihr, daß ich so sage, dreist in das Auge sehen, weil sie aus der Natur der göttlichen Anordnung in allen menschlichen Dingen hervorgeht. Denn überall gefällt sich, das können wir nicht leugnen, die göttliche Allmacht und Weisheit in der größten Mannigfaltigkeit dessen, was sie hervorbringt, und das gilt [auch] von der neuen geistigen Schöpfung der Welt. Darum mögen wir wohl glauben, daß schon von Anfang an die menschlichen Seelen, wenn sie das Licht dieser Welt erblicken, nicht vollkommen gleich sind, daß es der einen leichter ist und der andern | schwerer, daß es der einen schneller von Statten geht und der andern langsamer, durch diejenigen menschlichen Mittel, der sich die göttliche Gnade nur bedienen kann, alles dasjenige, was ihr Gemüth aus dem Verderben errettet, was sie zur Gemeinschaft mit Gott führen soll, in ihr Inneres aufzunehmen. Und wie verschieden sind nicht die Eindrücke, die sie von Jugend auf empfangen, wie verschieden die Richtungen, in welche ihr Leben schon zeitig eingeführt wird, wie verschieden die Begünstigungen, deren sie sich erfreuen, indem die Einen umgeben sind von einer größeren christlichen Vollkommenheit und Gottseligkeit, und Andern dieses Glück in einem niederen Grade zu Theil wird, indem Einige mehr Zeit und Muße haben, sich auf das Geistige zu richten, und durch wiederholte Betrachtung es ihrer Seele anzueignen, Andere | früher in die Geschäfte des irdischen Lebens hineingezogen werden durch eine unabänderliche Nothwendigkeit. Wozu aber, m. g. F., ist diese Ungleichheit als einmal dazu, daß die Menschen 3 Geist auf] Geist sich auf

30–31 aufzunehmen] aufnehmen

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bekennen, wie alle gute Gaben von oben kommen, und Gott der Herr allein es ist, der auf mancherlei Weise wirkt beides das Wollen und Vollbringen; dann aber auch dazu, daß wir in dieser Ungleichheit erkennen lernen unseren Beruf, an einander zu arbeiten und einander zu vertreten durch die Kraft des Glaubens und der christlichen Liebe, immer mehr darnach zu streben und dahin zu arbeiten, daß diese Ungleichheit gleich werde, und daß in jeder Seele, die zu der Gemeine des Herrn gehört, wenngleich in verschiedenem Maaße, doch immer mehr sich der Herr selbst bewähre. In dieser Beziehung laßt mich noch ein | Wort reden über das Verhältniß, in welchem diese junge Christen jetzt stehen. Die Diener des göttlichen Wortes empfangen sie zum Unterricht in demselben und zur Anleitung, die sie ihnen geben sollen zu einem christlichen Leben, aus den Händen ihrer Angehörigen. Die Eindrücke, welche sie im väterlichen Hause und unter denen, mit welchen sie leben, empfangen haben unmittelbar in Beziehung auf dasjenige, was unsere hohe Bestimmung und unsern gemeinsamen Glauben betrifft, gehen demjenigen voran, was das Wort der Lehre in ihnen bewirken kann. Wenn nun wir Diener des Wortes glauben können, das Uns’rige an ihnen gethan zu haben, wenn bald zu größerer, bald zu geringerer Zufriedenheit mit unserem Werk ein höherer oder niederer Grad dieser Überzeugung zusammentrifft mit den äußerlichen | Umständen, welche den Einen früher, den Andern später diesem Unterrichte entziehen: dann geben wir sie auf’s Neue hin den Eindrücken, die sie in demselben oder einem andern häuslichen Leben und geselligen Kreise empfangen werden; und nur in beiden zusammen besteht die christliche Gemeinschaft. Sie ist hier, das ist wahr, auf eine ganz vorzügliche Weise, wenn wir uns in dem Hause der Andacht und der Gottesverehrung versammeln; da erscheinen wir uns als Glieder Eines Leibes, als zusammengehörig durch Eine Liebe, als Genossen Eines Glaubens, als Werke und als Werkzeuge Einer und derselben göttlichen Gnade; da wehet aus dem Worte Gottes und bei der Darreichung der christlichen Gnadenmittel der göttliche Geist nach dem Maaße, in welchem er will, auf eine kräftige und innige Weise; da wirkt nicht nur derjenige, der das Wort Gottes verwaltet, | um seine Regungen in die Gemüther einzupflanzen, sondern alle, die da sind, wirken auf einander durch die stille Kraft der Gemeinschaft, durch das Sichtbarwerden dessen, was in ihren Seelen vorgeht, durch gemeinschaftliche Demüthigung vor Gott und durch gemeinschaftliches Anschließen an den Erlöser. Aber dies ist nur ein kurz vorübergehendes und in bestimmten Zwischenräumen sich wieder erneuerndes Leben der christlichen Gemeinschaft. Hat Gott unsern Eingang und unsern Ausgang aus dem Hause des Herrn gesegnet, dann bringen wir die Kraft des göttlichen Wortes und des göttlichen Geistes in unser bürgerliches und in unser geselliges Leben, und am allermeisten in unser inniges Zusam1 Vgl. Jak 1,17

1–2 Vgl. Phil 2,13

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mensein mit unseren Hausgenossen und Angehörigen. Da soll auch eben so kräftig der göttliche | Geist wirken, da soll sich in dem Zusammensein mit jenen ein beharrliches christliches Leben gestalten, welches sich immer auf’s Neue stärkt und nährt durch die Theilnahme an der Andacht mit allen Genossen unseres Glaubens; aber auch in uns selbst in unserem kleinen Kreise immer tiefer wurzelt, und sich immer vollkommner gestaltet, und immer herrlicher Früchte bringt. Nur in dieser gegenseitigen Wechselwirkung unseres kirchlichen Vereins und unseres häuslichen Lebens, welches ebenfalls ein Dienst Gottes im Geist und in der Wahrheit ist, kann die Kraft des Evangeliums gedeihen, kann der Herr sich in seiner Gemeine verklären. Wenn wir nun aus christlichen Häusern die Jugend empfangen zum Unterricht in dem Worte Gottes, mannigfaltig und ungleich ausgebildet auf längere und auf kürzere Zeit, dann ist schon von Anfang an unser Bestreben darauf gerichtet in dieser Zeit unter ihr selbst eine | lebendige Gemeinschaft zu stiften, daß die Stärkeren den Schwächeren zu Hilfe kommen, und das Maaß der Einsicht in einem jeden nicht nur das sei seiner eigenen Kraft, sondern auch dessen, was das freundliche Zusammensein und Zusammenleben mit Andern in ihm hervorbringt. Ist nun diese Zeit verflossen, dann wissen wir uns bleibt größtentheils nur übrig eben in diesen unseren gemeinsamen kirchlichen Versammlungen auf ihre Seele zu wirken; was aber in ihnen noch vollendet werden muß von dem Werke der göttliche Gnade, das bleibt dann größtentheils demjenigen überlassen, was das gemeinsame kirchliche Leben in den Häusern der Christen und in ihren verschiedenen Berufsverhältnissen in ihnen besser macht, aber leider auch oft trübt und verunreinigt. Darum, m. g. F., wohl denen unter euch, welche als Eltern, als Vorgesetzte, als Führer unserer christlichen Jugend sich selbst das gute Zeugniß geben | können, daß ihr häusliches Leben, daß ihre Ermahnungen und Einwirkungen im Einklang gewesen sind mit dem, was der christlichen Jugend hernach vorgehalten werden soll aus dem Worte Gottes. Wohl denen unter euch, die mit einem recht freudigen Glauben und mit einer recht christlichen Zuversicht die Jugend aus dem Unterrichte der Diener des göttlichen Wortes wieder empfangen können in der Bearbeitung des häuslichen und des geselligen Lebens. Wohl allen denen, die sich das Zeugniß geben können, daß ihr Leben und ihr Wirken nichts dazu beitragen wird die guten Eindrücke abzustumpfen oder zu verlöschen, welche der Unterricht in dem göttlichen Worte hervorgebracht hat in den jungen Seelen, daß ihre Äußerungen und ihre Handlungsweisen nichts dazu beitragen werden, die noch zarte Pflege des christlichen Glaubens in den jugendlichen Gemüthern wieder zu erdrücken, das eben erst angefachte Feuer einer höhern | geistigen Liebe wieder zu erlöschen, und unter den Bestrebungen, die sich ihnen mittheilen können ihren Sinn mehr auf das Irdische zu richten. Wohl denen, 3 gestalten] gestallten

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die sich das Zeugniß geben können, daß ihr ganzes Leben im Einklange mit den Vorschriften des göttlichen Wortes steht, daß sie fähig sind und geneigt, so wie ihnen die Jugend zurück gegeben wird, sie weiter zu bilden, zu beleben, zu stärken und zu leiten. Wohl denen, die, wenn die christliche Jugend den Bund ihrer Taufe besiegelt und erneuert, sich selbst das Zeugniß geben können, daß auch sie dabei ernstlich gedenken dessen, was sie selbst von dem Herrn oft erbeten haben, nicht nur in dem häuslichen Kreise, sondern auch da, wo sie als Zeugen der Taufe auftreten in dem Namen des Herrn, daß nämlich die christliche Jugend unter uns aufgezogen werde in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, daß sie unter den Erwachsenen finde überall die Vorbilder eines christlichen Wandels und die | Bereitwilligkeit ihr zu Hilfe zu kommen, und sich der Schwächeren anzunehmen mit den reiferen Kräften, welche der göttliche Geist und die Erfahrungen des christlichen Lebens in ihnen gewirkt haben. Ja, m. g. F., so mögen wir uns sagen, ein gemeinsames Werk Aller ist es, wenn die Gemeine des Herrn sich unter uns baut. Wenn wir den Herrn, so oft wir ihm unsere Kinder in der Taufe darbringen, darum bitten, er möge alle Segnungen des Evangeliums dem künftigen Geschlecht erhalten, wenn wir ihn bei unseren sonntäglichen Versammlungen darum bitten, er möge unter uns erhalten die reine Predigt des göttlichen Wortes und das hellere Licht des Evangeliums, welches er in der Kirche, die diesen Namen besonders führt, angezündet hat: o so bitten wir ihn darum als um etwas, was freilich allein kommen kann durch die guten Gaben des Geistes, die er von oben herab ergießt über die Gemeine seines Sohnes, aber die nicht wirken | können, ohne daß er sich dazu unserer Aller als seiner Werkzeuge bedient. Je mehr uns selbst daran gelegen ist, daß das Licht des Evangeliums immer heller leuchte, je mehr wir fühlen, daß wahres menschliches Wohlergehen allein abhängt von seiner gesegneten Kraft, je mehr wir selbst wünschen, immer mehr erleuchtet zu werden durch das Licht, welches Christus der Herr auf Erden angezündet hat, immer mehr unser Herz erfüllen zu lassen von seiner Liebe, damit unser ganzes Leben ein Zeugniß sei, welches wir von ihm ablegen: mit desto wahrerem und aufrichtigerem Herzen können wir unsere Bitten über das gesegnete Fortbestehen der christlichen Kirche vor den Thron des Höchsten bringen, und in dem Maaße, als es uns selbst Ernst ist um die Wahrheit, um das christliche Leben und um das fernere Fortbestehen der Kirche, können wir Theil nehmen an dem wichtigen Schritte, den jährlich | unter uns die Jugend thut, wenn sie aufgenommen wird in unsere Gemeine. Möge also diese Gesinnung uns alle erfüllen, um auch diese jungen Christen, indem wir sie in die Gemeinschaft der christlichen Kirche aufnehmen mit unseren herzlichen, verheißungsreichen und gesegneten Gebeten zu begleiten. Wir wollen, um sie aufzunehmen in die christliche 23 herab] heras

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Gemeinschaft, nicht verziehen, wenn wir vorher gesungen haben aus dem angefangenen fünf hundert sieben und sechzigsten Liede den fünften, sechsten und siebenten Vers. Meine geliebte Kinder. Ich soll euch jetzt aus dem Unterricht, den ihr bei mir genossen, aus dem Leben, welches wir in einer genauen Verbindung mit einander geführt haben, entlassen, um euch etwas freilich viel Köstlicheres und Herrlicheres zu geben, nämlich die Mitgliedschaft unserer evangelischen Kirche mit allen den Rechten und Vor|zügen, deren sich die Mitglieder derselben erfreuen. Wie sehr aber auch das, was bisher für euch geschehen ist, in einem genauen Zusammenhange steht mit eurem früheren und künftigen Leben, und für euch nur ein besonderer Abschnitt war in einem und demselben fortlaufenden Ganzen, für mich ist es ein eigenes Werk, von welchem ich jetzt scheiden, welches ich gleichsam aus den Händen geben soll. Und kein Mensch wohl giebt irgend ein Werk aus seinen Händen als mit dem Gefühl der menschlichen Unvollkommenheit, welche daran hafte, und anders kann ich auch von dem meinigen nicht sagen. Ich tröste mich aber mit dem Besseren und Schöneren, welches ihr jetzt bekommt, und erinnere euch nur, indem wir von einander scheiden, an dasjenige, was ich euch öfter in meinem Unterricht gesagt und eingeschärft habe über das große Recht eines evangelischen Christen selbst das Wort Gottes zu seinem Heile zu gebrauchen, und über die richtige Art dieses Recht anzuwenden. | Denn darauf war auch vorzüglich mein ganzes Bestreben mit euch gerichtet, wie ihr dessen wohl werdet inne geworden sein, einen solchen Grund der Erkenntniß christlicher Wahrheit in euch zu legen, daß ihr dasjenige, was darüber die heilige Schrift uns sagt, aus dem rechten Gesichtspunkte ansehen, und seinem wahren Sinne nach in euch aufnehmen könnt, und eine solche Lust und eine solche Freude an den heiligen und himmlischen Gütern, die das Reich Gottes enthält, in euren Seelen zu entzünden, welche auch natürlich dazu wirke, das Auge eures Geistes zu öffnen und zu schärfen für alles dasjenige, was die Schätze des ewigen und himmlischen Lebens in sich schließen. Ist nun dieses mein Werk in allen seinen Äußerungen unvollkommen gewesen und geblieben, so ist das göttliche Wort, welches ich euch jetzt gleichsam zu eurem eigenen freien Gebrauch übergebe, vollkommen und rein. | Aber, m. g. Kinder, auch dieses Recht ist ein Recht, welches haftet an der Gemeinschaft der Christen, und welches wir nur in derselben recht gebrauchen und zu unserem wahren Heil anwenden können. Darum habe ich euch öfter aufmerksam gemacht darauf, wie es die Verkündigung des göttliches Wortes in der christlichen Gemeine ist, welche euch immer geschickter macht und geschickter machen muß auch für euch selbst aus dem göttlichen Worte zu schöpfen, daß, 1–3 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 167: „O Ursprung des Lebens“ (in eigener Melodie)

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wenngleich durch schwache und unvollkommene Werkzeuge der göttliche Geist in den Dienern des Wortes, die dasselbe erklären und auf den Gebrauch im menschlichen Leben anwenden, geschäftig und wirksam ist, um die Christen, jeden nach seinem Maaße, zu erleuchten, und im Glauben zu befestigen und zu stärken. Darum muß ich euch nun herzlich ermahnen, was | meinem Werke an euch noch Unvollkommnes anklebt, und was in demselben unvollkommen geblieben ist aus Schuld menschlicher Schwachheit, immer mehr in euch zu ergänzen durch den rechten Gebrauch des göttlichen Wortes: dann werdet ihr geführt werden von einer Klarheit zur andern, und wenngleich, wie der Apostel sagt, es auch so manches giebt, was immer noch, wie im Dunkeln und in der Dämmerung von uns gesehen wird, so geht doch einem jeden redlichen Gemüthe bei dem treuen Gebrauch des göttlichen Wortes das Licht der Wahrheit immer mehr auf über alles, was zum Heil der Seele und zur rechten Führung eines christlichen Lebens gehört. Vor allem aber, geliebte Kinder, erinnert euch dessen, was ich euch gesagt habe über die Heiligkeit der Handlung, welche mit uns zu begehen ihr jetzt erst die Befugniß und das Recht empfanget, | welchen besondern Segen er in diese Handlung gelegt hat, um die Gemeinschaft des Herzens mit ihm immer inniger und seliger zu machen, um die Seele immer mehr zu reinigen von allem, was dem göttlichen Leben fremd ist, und vorzüglich auch um die Liebe, mit welcher die Christen sich unter einander beides tragen und leiten müssen, immer inniger und immer herzlicher zu machen. Wißt ihr nun dies, und ist es euer inniges Gefühl, daß ihr jetzt zwar hingewiesen seid auf das Heil eurer Seele, und das Ziel euch vorgesteckt ist, welches ihr erreichen sollt, daß ihr aber dasselbe nur erreichen könnt, indem ihr wahrhaft lebt in der Gemeinschaft der Christen, in welche ihr jetzt aufgenommen werdet: o so laßt euch besonders das große und eigenthümliche Mittel der göttlichen Gnade, welches uns alle mit dem Erlöser immer inniger | und unter einander immer enger verbindet, recht heilig sein. Es kann ja wohl nicht fehlen, daß die erste Erfahrung, die ihr von den Segnungen desselben machen werdet, euch besonders fühlbar und erfreulich sein wird. Wenn ihr jetzt mit euren Eltern, mit euren Angehörigen und mit allen, die daran Theil nehmen, das heilige Mahl des Herrn zum ersten Male feiert, wenn dadurch euer Glauben an ihn euch in klarer und himmlischer Gewißheit erscheint, wenn ihr euch dabei angeregt fühlt zur Liebe des Sohnes und des Vaters und aller derer, die der Sohn dem Vater zuführt: o so haltet diesen Eindruck fest in eurer Seele, und wenn auch das irdische Leben mit seinen Sorgen und Schmerzen, mit seinen 11 gesehen] geschehen 10–12 Vgl. 1Kor 13,12

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Trübsalen und Widerwärtigkeiten erscheint, ihr kennt die Quelle, aus der ihr schöpfen müßt, um euch wieder zu ermuthigen, um jenen Eindruck wieder zu erneuern, um alles aus der | Seele zu vertilgen, was Fremdartiges in sie eingedrungen ist, um euch immer mehr, wie die Reben aus dem Weinstock, zu sättigen, und immer größere Güter zu nehmen aus seiner Gnade. Aber noch Eins, geliebte Kinder, muß ich euch jetzt einschärfen. Ihr habt bisher gestanden in einer innigen Verbindung mit mir, in den Stunden unseres gemeinschaftlichen Gesprächs habe ich gesucht die Gedanken eurer Seele hervorzulocken, und bin den Spuren derselben nachgegangen, um, so viel in meinen Kräften stand, Zweifel zu beseitigen, Ungewißheiten zu erklären und zu vertilgen, und was euch heilsam und gewiß sein muß mit fester Gewißheit in eurer Seele zu begründen. Diese Verbindung hört jetzt auf, diese Vermittelung hat nun ihr Ende erreicht, ihr seid und werdet nun in der christlichen Gemeine selbstständige Mitglieder derselben. Vieles von dem, was | ich bisher an euch gethan habe, wird jetzt auf eure Seele gelegt, eure Sorge ist es nun dahin zu trachten, daß das Herz fest werde. Und wenn euch in dem Kreise eures Lebens manches vorkommt, was droht euren Glauben zu erschüttern, wenn manches, was euch jetzt hell und klar ist in dem Gebiet der christlichen Erkenntniß, wieder dunkel wird, so ist es eure Sache für das Bestehen und für das Gedeihen der Wahrheit in eurer Seele zu sorgen, denn keiner ist nun da, dem es so angelegen sein könnte, die verborgenen Falten derselben zu erforschen. Aber bedenkt, daß eben dies eine gesegnete Einrichtung Gottes und des Erlösers in seiner Kirche ist, daß überall Einige dazu gesetzt sind, und unter gläubigem Gebet und im Vertrauen auf den göttlichen Segen dazu geordnet, damit jeder Christ in allen Zuständen | seines Gemüths, in denen er sich selbst nicht zu rathen weiß, vorzüglich in allem, was sich auf unsern christlichen Glauben und auf unser christliches Leben bezieht, ein Recht habe, seine Zuflucht zu diesem zu nehmen, mit ihnen sich zu berathen, und durch die Kenntniß, die sie haben von dem göttlichen Worte und von der menschlichen Seele, seinen eigenen Bemühungen zu Hilfe zu kommen. Das ist der Seegen der christlichen Seelsorge, und laßt es euch gesagt sein, es ist eine Erfahrung, die sich von beiden Seiten zu sehr unter uns bewährt, daß, jemehr von dieser ein freier und zweckmäßiger Gebrauch gemacht wird von den Mitgliedern der evangelischen Kirche, desto fester stehen sie im Glauben, desto weniger vermag etwas die festgewordenen Herzen zu erschüttern, desto mehr wird überall dem Ver|derben des Unglaubens, der Zweifelsucht und allen Verunstaltungen des göttlichen Wortes in der christlichen Gemeine [entgegen] gesteuert. Je weniger aber davon Gebrauch gemacht wird, je mehr sich die Glieder der christlichen Gemeine vereinzeln, und jeder glaubt sich selbst 24 gläubigem] gläubigen

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genug zu sein, je mehr sie diesem oder jenem sich hingeben, je mehr die Einheit der christlichen Gemeine durch kleine Gesellschaften gestört wird, desto mehr sehen wir Uneinigkeit und Zweifel in den Angelegenheiten des christlichen Glaubens unter den Christen hervorwachsen. Daher ermahne ich euch, den graden Weg zu gehen, der euch als Mitgliedern der Kirche durch die Ordnung derselben vorgezeichnet ist. Wie sollte es wohl zugehen, daß, wenn euch daran gelegen ist, und wenn ihr den | rechten Weg einschlaget, ihr künftig unter den Dienern der christlichen Kirche nicht einen oder den andern finden solltet, dem ihr euer Vertrauen schenken, an den ihr euch wenden könnt in den Angelegenheiten eures Herzens. Das kann nicht fehlen, sonst müßte der Herr mit seinen Segnungen und mit seinen Verheißungen die Gemeine seines Sohnes verlassen haben. So gebraucht denn dieses köstliche Gut der christlichen Seelesorge, und bedenkt, daß ich euch das auf’s Herz gelegt habe in dieser wichtigen und für euer ganzes Leben bedeutenden Stunde, daß ihr euch nicht sollt selbst überlassen sein, weder in diesen Jahren der Jugend, aber auch nicht hernach, denn keiner ist sich selbst genug, damit ihr an den Segnungen der Kirche Theil nehmen möget. Dies, m. g. Kinder, sind die Ermahnungen, die ich euch nochmals wiederhole, an denen ihr den Faden finden werdet zu allem Bedeutenden | und Wichtigen, was ich euch in den vergangenen Jahren vorgetragen habe, und mit denen ich euch nun entlassen werde in die Gemeinschaft der Christen aus dem engeren Bande des Unterrichts, welches unter uns bestanden hat. Ich lege euch daher jetzt die Frage vor, ob ihr euch von Herzen bekennt zu unserem christlichen Glauben, wie derselbe verzeichnet ist in dem alten und allgemeinen Bekenntniß, nach dessen Zügen ihr seid unterrichtet worden, und wie euch derselbe in seinen Theilen auseinander gelegt ist in der Lehre unserer evangelischen Kirche, wollt ihr euch zu diesem bekennen, und erneuert ihr nach diesem Bekenntniß den Bund, den ihr in der Taufe geschlossen habt mit der Kirche, der Sünde abzusterben mit Christo, und mit ihm aufzustehen zu einem neuen Leben, ist das Festhalten an diesem Bekenntniß und das Leben nach diesem Bekenntniß der Entschluß, den ihr | gefaßt habt, und den ihr in dieser heiligen Stunde bekennen wollt, so antwortet: Ja. Wenn ihr nun aber aufgenommen werdet zu Mitgliedern unserer evangelischen Kirche, so bedenkt, wie euch nun auf der einen Seite das Recht ertheilt, auf der andern aber auch die heilige Pflicht aufgelegt wird, eure Seele zu weiden an dem göttlichen Worte, und alles Gute, was in derselben niedergelegt ist, zu stärken durch alle Mittel, in deren Besitz die Christen sich befinden, um ihre Gemeinschaft mit dem Erlöser und also auch mit seinem und unserem Vater zu befestigen. Ehe ich euch dieses Recht ertheile, muß ich von euch vernehmen, ob es auch euer 32 gefaßt] gefaß

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Entschluß ist fleißig, aber immer mit einem wohl geprüften Gemüth, zu dem Tische des Herrn zu nahen, und an demselben mit seinen Gläubigen und den Gliedern der christlichen Gemeine die Gemeinschaft mit ihm und den Bund der | Liebe, in welchem wir unter einander stehen, zu befestigen, und das heilige Sakrament des Tisches heilig zu halten als ein Mittel der göttlichen Gnade, ist das euer Entschluß, dem ihr unter Gottes Gnade treu zu bleiben gedenkt, so antwortet: Ja. Endlich aber bedenkt, daß, indem ihr aus dem besondern Unterricht der christlichen Jugend entlassen werdet, ihr, wie ich euch eben gesagt habe, gewiesen werdet an den gemeinsamen Unterricht und an die gemeinsame Erbauung, welcher alle Christen sich erfreuen durch die Predigt des göttlichen Wortes, so wie an alle die Segnungen, die aus der innigen Verbindung gläubiger Christen mit den Dienern des göttlichen Wortes hervorgehen. Wollt ihr auch in diesem Stücke die Hoffnungen der evangelischen Kirche, die euch jetzt zu Mitgliedern aufnimmt, erfüllen, wollt ihr euch in unserem christlichen Glauben fleißig stärken durch die schönen Gottesdienste, welche eingerichtet sind in dem Hause des Herrn, und euch unter allen Umständen des Lebens | in der christlichen Gemeinschaft, die immer gesegnet sein wird, erhalten, ist auch das euer Entschluß, dem ihr unter Gottes Beistand getreu zu sein denkt, so antwortet: Ja. Wohlan, so wollen wir euch jetzt zu würdigen Mitgliedern der christlichen Gemeine Gott empfehlen in einem herzlichen Gebet. Barmherziger, gütiger Gott und Vater im Himmel, diese jungen Christen erneuern jetzt den Bund, den sie in der Taufe geschlossen haben, und begehren aufgenommen zu werden in die christliche Gemeine. Laß Du sie Dir jetzt auf’s Neue empfohlen und geweiht sein, wie wir sie Dir dargebracht haben als sie durch das Band der Wiedergeburt vorläufig aufgenommen wurden in die Gemeinschaft der christlichen Kirche. Du hast die ersten Anfangsgründe der Erkenntniß des Heils in ihre Seelen gelegt, Du hast sie durch die Regungen Deines Geistes geheiligt, und das Bild Dei|nes Sohnes, unseres Erlösers, ist aus Deinem Worte in ihre Seelen eingegraben worden. O hüte Du mit Deiner göttlichen Gnade diese köstlichen Güter, laß sie ihnen nicht geraubt werden durch dasjenige, was in dieser Welt immer noch geschäftig ist um das Licht und die Segnungen derselben zu zerstören und die menschlichen Seelen von dem Wege des Heils zu entfernen. Warne Du sie durch Deinen Geist in der Stille ihres Gewissens, wenn sie straucheln wollen, laß in ihren Seelen geschäftig sein die Erinnerung an dasjenige, was bis jetzt an ihnen geschehen ist, und laß sie unter dem Beistand und unter der Obhut derer, die weiter sind als sie im Glauben und in der Liebe, immer weiter fortschreiten in christlicher Gottseligkeit, damit es ein von Dir gesegnetes Werk sei, daß ich sie jetzt aufnehme in die Gemeinschaft

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Deiner Gläubigen, und die Versprechungen, die | sie jetzt vor den Augen der christlichen Kirche abgelegt haben, o verleihe Du ihnen die Kraft sie heilig zu halten und laß das Gute, was ihnen jetzt unterworfen wird, immer das Heiligste sein in ihrem Leben. Wenn Du sie segnest durch reiche Erfahrungen von Deiner Gnade, wenn Du sie erfahren lässest, wie diese mächtig ist im Schwachen, wenn Du sie fühlen und inne werden lässest, wie Du gnädig erhörst ihre Gebete, wie sie Dich bitten in dem Namen Deines Sohnes um dasjenige, was ihnen frommt zum Heil ihrer Seelen: o so dürfen wir hoffen, daß sie immer fester werden in der Zuversicht zu Dir, daß sie immer weniger weichen werden von dem Wege, der uns alle zu unserem gemeinsamen Ziele führt, daß sie sich immer fester mit uns verbinden werden zum innigen Glauben an den, den Du allein den Menschen zum Heil gegeben hast, und | daß der Glaube an ihn immer thätig sein werde durch die Liebe, die das Band ist der Vollkommenheit. Das ist es, gütiger Gott und Vater, was wir für sie von Dir erbitten, und wozu wir uns verbinden jeder nach dem Maaße, nach welchem er der christlichen Gemeinschaft und der Jugend nahe steht, das Werk dieses Geistes in ihnen zu fördern, und sich dadurch zu bereiten zum Preise Deines Namens. Darum rufen wir Dich an in dem Gebete Deines Sohnes. Unser Vater pp. Und nachdem wir euch Gott empfohlen haben, so erkläre ich euch, als ein verordneter Diener des Wortes nach den Versicherungen, die ihr gegeben habt, für Mitglieder der evangelischen Kirche, und ertheile euch das Recht Theil zu nehmen an dem Mahle, welches der Herr den Seinigen geordnet hat zu seinem Gedächtniß und zur Befestigung und zur Vermehrung ihrer Gemeinschaft, ich ertheile euch das Recht an allen Gottes|diensten der Christen Theil zu nehmen, und das Wort Gottes zum Heil eurer Seele zu gebrauchen. Ich ertheile euch das Recht bei der heiligen Taufe Zeugen zu sein, und im Namen der Christen die Gelübde derer, die in den Schooß der christlichen Kirche aufgenommen werden, auszusprechen und anzunehmen; aber ich ermahne euch zugleich, sorget nun auch von jetzt an schon dafür, daß euer eigenes Leben denen, welche jünger sind als ihr, zur Erbauung gereiche, und daß ihr, so eben in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen, derselben gleich helfet das Gute in den jüngeren Seelen zu pflegen, und daß es fern von euch sei anderen noch Schwächeren durch ein verderbliches Beispiel das Heil ihrer Seele aus den Augen zu rücken. Ich ertheile euch auch das Recht als solchen, denen die göttlichen Gesetze bekannt sind, und deren Gewissen geschärft ist, überall wo die Obrigkeit es von euch fordern wird, | die Wahrheit zu bekräftigen durch einen Eidschwur, aber ich ermahne euch auch, denselben heilig zu halten, und nicht 5–6 Vgl. 2Kor 12,9

14–15 Vgl. Kol 3,14

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leichtsinnig zu mißbrauchen, damit eure Gewissen nicht beschwert werden.Hiemit habe ich euch aufgenommen zu Mitgliedern der christlichen Kirche. Tretet nun her, und empfanget zur Bestärkung unseres Gebets, unserer Hoffnungen den Segen der Kirche. Der Herr segne pp.

Am 20. April 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Jubilate 1823 am zwanzigsten Wandelmonds. |

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Jubilate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,21 Nachschrift; SAr 103, S. 645–674; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 129r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Johann. XX, 21. Da sprach Jesus abermal zu ihnen: Friede sei mit euch! Gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Diese Worte m. a. F. sprach der Erlöser, als er am Tage seiner Auferstehung des Abends zu seinen versammelten Jüngern eintrat, und sie froh wurden, daß sie den Herrn sahen. Gewiß müssen wir diese Worte zu den bedeutendsten zählen, welche der Herr in diesen feierlichen Tagen geredet hat; denn wie könnte es einen größern Ausspruch geben über den heiligen Beruf seiner Jünger als das, was er hier in kurzen Worten sagt, daß sie von ihm gesendet würden, wie er selbst gesandt sei vom Vater? Wir kennen aber m. g. F. keinen bestimmten und festen Unterschied zwischen den ersten Jüngern des Herrn und uns; wir sind alle derselben geistigen Gaben theilhaftig, wir haben das gleiche Erbe im Reiche Gottes, und getrost dürfen wir alles was der Herr zu seinen Jüngern sagte | auf uns anwenden. Und gewiß ist dieser Trost uns sehr nothwendig, weil er ja grade das Größte und Herrlichste in diesem engen Kreise gesprochen hat, der aber eben damals schon die ganze christliche Kirche darstellte. Wir sollen also gewiß auch diese Worte auf uns anwenden und sie ansehen als eine Verzeichnung und Beschreibung, die uns der Herr giebt, von unserm großen und heiligen Beruf als seine Jünger. Er giebt sie uns so, daß er diesen unsern Beruf und unsre Sendung mit der seinigen vergleicht; und das ist es also, worauf wir in 11 als] als,

12 kennen] kamen

6–8 Vgl. Joh 20,19–20

22 diesen] diesem

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dieser Stunde unsre Betrachtung richten wollen. Es ist aber zweierlei, worin wir unsern Beruf mit dem des Erlösers vergleichen können; es gehört dazu nämlich die Sendung selbst, dann aber auch der Erfolg derselben; und in beiden zusammen können wir hoffen das Wesentliche in diesen Worten unsers Erlösers uns zu vergegenwärtigen. | I. Wenn wir nun zuerst darauf sehen, daß der Vater den Sohn gesandt hat, und der Sohn nun uns sendet: so ist es, so oft wir an das große Werk der Erlösung denken und uns das vergegenwärtigen, daß es anders nicht konnte vollbracht werden, als indem der Sohn Gottes erscheinen mußte in dieser armen Welt, Fleisch und Blut an sich nehmen, als das Licht in die Finsterniß hineinscheinen, so ist es unser gemeinschaftliches und gewiß sehr wahres Gefühl, daß wir dies ansehen als Erniedrigung, die er sich hat gefallen lassen um unsertwillen. Daran haben wir gewiß recht, insofern uns die [Erlösung] auffordert aus dem tiefsten Grunde eines demüthigen Herzens auszurufen „Was ist der Mensch, daß du also seiner gedenkest, und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst?“ Aber m. g. F. sollen wir nun deswegen denen Beifall geben und ihnen aus unserm eignen Herzen zustimmen, welche, wie wir dies so häufig vernehmen, auch den Beruf des Christen in dieser Welt ansehen als eine Erniedrigung desselben, und eben deswegen sich selbst und andern nicht | genug gefallen können in Darstellung dieser Welt, in welche sie Gott gesetzt hat, als sei sie ein Thal des Jammers, unwürdig eigentlich der Aufenthaltsort zu sein einer von Gott begnadigten und beseligten Seele, mit Beschreibungen unsers Zustandes, als könne er uns nicht die geringste Befriedigung gewähren, sondern in dem Maaße als der Mensch sich der Sehnsucht nach einem höhern bewußt sei, könne man glauben, daß er sich auf dem rechten Wege befinde, um das Ziel zu erreichen, welches der Herr ihm gesteckt hat. Nicht genug können sie darstellen diese menschliche Welt, in deren mancherlei Verhältnisse ihr Leben gesetzt ist, als eine Wüste, in welcher sich der Christ mit seinen Gefühlen und mit seinen Bestrebungen überall allein finde, seine Worte ohne Leben und ungesegnet zu ihm zurückkehrend, und sich gleichsam ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, in welche er selbst gehört[.] Diejenigen zwar m. g. F. mögen wir wohl noch am ersten ansehen als sich auf diese Weise erniedrigend, die [–] von einem lebhaften Triebe beseelt | das Licht des Evangeliums zu verbreiten [–] die wohlgeordnete sich der herrlichen Früchte und Segnungen des göttlichen Geistes erfreuende Gemeinschaft 24 Beschreibungen] Beschreibungen, 28 ihm] ihnen 35 beseelt] beselt 36 verbreiten] vertreiben 16–17 Ps 8,5 (zitiert in Hebr 2,6)

33 welche] welcher

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der Christen verlassen, um sich hinauszubegeben unter entfernte Völker, die noch in dem Schatten des Todes sitzen, wo sie allerdings die menschliche Seele antreffen auf der niedrigsten Stufe ihrer Ausbildung, ja vielleicht auf dem Gipfel ihrer Entartung und ihres Verderbens. Diese haben dann freilich einen Grund sich zurückzusehnen dahin, wo sie vorher waren und wo sie es besser hatten, nach eben der Gemeinschaft, die sie verlassen hatten um sie zu vergrößern. Aber auch von ihnen müssen wir billig sagen, daß sie den Beruf den sie selbst gewählet haben, nur insofern wahrhaft erfüllen werden, als bei ihnen eben so wenig davon zu merken ist, daß sie ihren Zustand für eine Erniedrigung halten, als es an dem Erlöser zu merken war. Er selbst hat nie anders als mit freudiger Heiterkeit von seinem persönlichen Zustand in dieser Welt geredet – und wenn er auch | um diejenigen zu prüfen und ihnen rechten Grund und Besinnung zu geben, welche mit ihm wandeln wollten, aufmerksam darauf machte, daß des Menschen Sohn nicht habe, wo er sein Haupt hinlege; wenn er auch von sich selbst, um seinen Jüngern die richtige Vorstellung von ihrem Beruf zu geben, sagt, sie sollten nicht vergessen, daß auch des Menschen Sohn nicht gekommen sei, um ihm dienen zu lassen, sondern daß er diene und sein Leben hingebe für das Heil der Welt; wenn er auch eben so über seinen Zustand redet: so ist doch die Gemüthsstimmung in welcher er es that, nie gewesen eine Klage über seine Erniedrigung. Das ewige Licht konnte sich nicht dadurch erniedrigt halten, daß es herab mußte in die Finsterniß, um in derselben zu scheinen, weil ja nur dadurch die Finsterniß konnte erleuchtet werden, und weil es kein herrlicheres Selbstbewußtsein des Lichtes geben kann, von seiner ewigen Kraft als das, daß es die Finsterniß zerstreut und vertreibt, und diejenigen welche des Lichtes fähig sind in die Gemeinschaft desselben aufnimmt, und ihre Augen öffnet um es einzusaugen. Wie viel weniger aber wir m. g. F. | deren ganzes Leben nicht dem Theile gleicht von dem Leben des Erlösers, in welchem wir ihn erblikken unter einem großentheils rohen wiederspenstigen und seinen geistigen Bestrebungen abgewandten Volke, sondern demjenigen Theil seines Lebens, den er in der Gemeinschaft seiner Jünger zubrachte, derjenigen kleinen Zahl, die er bald auf eine eigenthümliche Weise an sich zog, und in der er seines Wirkens am unmittelbarsten froh ward. Das m. g. F. ist ja unser aller erfreulicher Zustand, wir sind in die Gemeinschaft der Christen gestellt, überall umgeben von denen, welche den Namen des Herrn mit Ehrfurcht nennen; und wenn wir freilich auch, so viel uns vergönnt ist menschliche Gemüther zu beurtheilen – was aber nur 9 erfüllen] erfüllet 10 Erlöser zu] Erlöser es zu 11 seinem] seinen gen] Kj einzufangen 31 demjenigen] denjenigen 14–15 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

17–19 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

27 einzusau-

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insofern wahr sein würde und richtig, als es der Geist der Liebe ist, der unser Urtheil in Bewegung setzt und leitet – wenn gleich, so viel wir urtheilen können, wir eine Ungleichheit finden unter denen die den Namen des Herrn bekennen, so groß, daß wir leicht geneigt sein könnten, einige im Vergleich mit andern anzusehen als | solche, die ihm ganz abgewendet wären: so ist das nichts anders, als was auch dem Erlöser im Umgang mit seinen Jüngern beständig begegnete, daß er nämlich auf unerleuchtete Gegenden ihres Gemüths stieß, auf mancherlei Befangenheit in Irrthum und Wahn, der erst durch das von ihm ausgehende Licht sollte vertrieben werden, auf Mißverstand seiner Worte und Handlungen. Aber demohnerachtet war dies der erfreulichste Theil seines Lebens, an welchen er sich eben, auch mit der innigsten Dankbarkeit gegen Gott erinnert und das schöne Bild desselben zusammenfaßt in jenem Gebet, mit welchem er seine öffentliche Wirksamkeit endet. – So laßt uns denn m. g. F. die Ähnlichkeit unsers Berufs mit dem des Erlösers da nicht suchen, wo sie nicht ist; sondern wenn wir an jene denken, die sich aus der Gemeinschaft der Christen entfernen, um derselben neue Mitglieder aus der Ferne zuzuführen, wenn wir auch schon von diesen sagen müssen, sie seien aber darin ebenfalls dem Erlöser ähnlich, daß ihre scheinbare Erniedrigung ihnen selbst zur Erhöhung gereicht, weil nämlich die göttliche Gnade bei einem treuen und eifrigen Dienst es ihnen nicht | daran fehlen läßt die Früchte ihrer Arbeit zu segnen, weil das köstliche Gefühl, auch nur Eine Seele, von der man sagen kann, sie wußte noch nichts von dem Heil des Erlösers und von der Gemeinschaft mit ihm, eine solche dem Reiche Gottes zugeführt zu haben, etwas ist was durch nichts ersetzt werden kann, und ein unmittelbarer Antheil an dem Lohn, den Gott dem Erlöser für seine unermüdete Wirksamkeit und für seinen treuen Gehorsam bis in den Tod gegeben hat, an dem Bewußtsein, daß er viele[,] unendlich viele zur Beute haben soll; wenn wir diese auch nicht an sich selbst sondern als der Gemeine der Christen angehörig auf unsere guten Wünsche, auf unsre lebhafte Theilnahme auf unsre treuen Gebete verweisen, um in der Gemeinschaft mit ihnen zu bleiben, und ihre Werke auch uns auf eine gewisse Weise aneignen zu können: so laßt uns daran denken, daß in unserm Beruf wenig oder nichts übrig ist von der treuen Erniedrigung, die jene theilen, daß wir nur sollen voll dankbarer Gefühle sein gegen Gott darüber, daß [wir] in einen Kreis gestellt sind wie der Erlöser, wo er sich immer freudig | bewegte, und nur das bedenken, daß eben weil in diesem alles so genau verbunden ist und so gemeinsam, wie auch der Erlöser nicht zu dem einen oder dem andern sondern zu allen seinen Jüngern sagte „wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, 3 denen] dennen

7 seinen] seinem

13–14 Vgl. Joh 17,1–26

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alles dasjenige für uns alle eine wahre Erniedrigung ist, was in der Gemeinschaft der Christen, der wir angehören, des Geistes noch nicht würdig ist, und daß es keine andre Erhöhung giebt für uns, aber auch kein anderes wahres Leben des Geistes, als dies daß aus jener Erniedrigung eine Erhöhung werde, aber keine andre als die, daß wir uns unter einander ermuntern fleißig zu sein in guten Werken, und in der Gemeine des Herrn das Bild des Herrn immer kräftiger darzustellen, damit sie immer ähnlicher werde seinem erhöhten Zustande. Zweitens wenn der Erlöser sagt „wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, so macht dies natürlicher Weise den Eindruck auf uns | daß er rede von einem Befehl seines Vaters, kraft dessen er eben in die Welt gekommen sei, so wie auch von einem Auftrag an seine Jünger, kraft dessen er sie nun an seine Stelle weiter sendet. Aber wenn wir nie anders können als in dem Erlöser neben dem Menschlichen das Göttliche denken, wie können wir anders als sagen, daß in diesem nothwendiger Weise alles muß freiwillig sein und aus sich selbst hervorgehend, und daß kein Unterschied zu denken ist zwischen dem Gehorsam des Sohnes gegen den Vater und zwischen dem freien Willen des Sohnes selbst, wie er denn auch überall so redet von seiner Sendung als einer freiwilligen Erscheinung. So m. g. F. soll es nun auch unter uns sein. Es ist ein Befehl und ein Auftrag des Erlösers, der uns sendet, den einen in die Nähe, den andern in die Ferne, beides um sein großes Werk weiter zu führen; und keiner darf sagen, daß er diesem Befehl nachgekommen sei, | wenn er sich nicht bewußt ist alle seine Kräfte verwendet zu haben in dem Auftrage des Erlösers. Aber dieser Befehl desselben und unser eigner freie Wille soll hier wie dort nicht zweierlei sein, sondern Eins und dasselbige. Wie auch die Apostel nicht anders als so von sich reden, einmal sich berufend auf den Befehl, den ihnen ihr Herr und Meister gegeben hatte, und dem sie nicht anders könnten als immer gehorchen, und zwar mehr gehorchen, denn den Menschen; auf der andern Seite aber auch zurückgehend auf ihr innerstes Selbstbewußtsein, ihre treue Arbeit im Reiche Gottes darstellend als den Trieb ihres eigenen Herzens, und davon redend in den Worten „die Liebe Christi dringet uns also.“ Ja m. g. F. so ist es und muß es sein bei wahren Christen. Der Erlöser ist unser Herr, und wenn er unser Herr ist und Meister, so sind wir alle seine Diener und seine Jünger. Aber was ist er für ein Herr? Ein solcher, der diejenigen, welche ihm gehorchen | frei macht, und nicht eher sagt, daß seine Herrschaft über sie ihr Ziel erreicht habe, als bis sie frei gemacht sind durch die Wahrheit, nicht eher seinen eigenen Beruf an ihnen erfüllt glaubt, als bis er ihnen jenes schöne Zeugniß geben kann; Ich sage hinfort nicht mehr, daß ihr 4–5 Erhöhung] Erlösung 27–29 Vgl. Apg 5,29

18 dem] den 32 2Kor 5,14

39–2 Vgl. Joh 15,15

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Knechte seid, sondern ihr seid meine Freunde, denn ein Knecht weiß nicht was sein Herr thut, ich aber habe es euch alles verkündigt. So m. g. F. soll der Dienst, den wir dem Erlöser leisten, indem wir uns ansehen als von ihm ausgesendet, und immer mehr die ganze Welt ihm zu gewinnen und zu heiligen [suchen], und immer mehr seinem geistigen aber irdischen Leib des Hauptes, welches im Himmel lebt und ihn von dort aus regiert, würdig zu machen – dieser Dienst den wir ihm leisten, wir wissen es wohl und sollen es bekennen, wir würden nicht im Stande sein ihn zu leisten, wenn wir uns nicht begeben hätten unter seine Gewalt, wenn er uns nicht aufgenommen hätte in den Umfang seiner lebendigen und geistigen Kräfte; aber wir sollen ihn auch zugleich fühlen als das freie Werk eines aufgeregten Geistes; die Liebe zu dem | Erlöser soll uns dringen nicht als ein fremder Antrieb, sondern als unser eignes innerstes Wesen, das uns selbst mahnt zu seinem Dienst; und je mehr wir dies ausdrüken in allen Augenblikken und Handlungen unsers Lebens, je mehr dies unser herrschendes Gefühl ist: desto mehr befinden wir uns gegen ihn in demselben Verhältniß, in welchem er sich gegen seinen Vater befand. Aber drittens, indem der Erlöser sagt „wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, so können wir diese Worte nur recht verstehen, wenn wir auf ein anderes Wort des Erlösers zurückgehen, in dem er sagt „Niemand kennt den Vater denn der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren.“ Darum eben hat der Vater den Sohn gesandt, weil er allein ihn kannte, und Gott den Menschen wieder sollte bekannt gemacht werden, die das Bewußtsein von demselben verloren und die innerste Wahrheit ihres Wesens aufgehalten hatten in Ungerechtigkeit. Nun aber sagt der Herr nicht etwa „wie mich der Vater gesandt hat, so sendet der | Vater auch euch“, nein sondern: „wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ In demselben Sinne als von Gott gesandt wie er es war können wir uns nicht ansehen eben deswegen, weil wir die Kunde von Gott nicht auf eine so unmittelbare Weise in unsrer Seele tragen wie er, eben deswegen weil wir nicht von uns sagen können: alles was der Vater hat, hat er dem Sohne gegeben und gezeigt, und er zeigt ihm immer noch Größeres. Sondern m. g. F. nachdem die Sünde in der menschlichen Seele die Erkenntniß Gottes verdunkelt hat bis auf die letzten schwachen Spuren, die sich dann wieder entzünden und erwärmen konnten, seitdem reden wir von Gott, daß ich mich so ausdrükke, nur aus der dritten Hand; der Sohn hat es uns offenbaret, darum wissen wir etwas von dem Vater. Was wir von ihm wissen 5 seinem] seinen 14 seinem] seinen nich

6 ihn] ihm 7 ihm] ihn 20 zurückgehen] zurückzugehen

20–22 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

31–32 Vgl. Joh 5,20

10 lebendigen] lebenden 28 wir] wie 36 mich]

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können und sollen, das schauen wir in dem Sohne, in dem wir den Eingebornen vom Vater, das Ebenbild seines Wesens, den Abglanz seiner | Herrlichkeit erblikken; nur so hängen wir mit ihm zusammen auf eine solche Weise, wie er mit seinem Vater zusammenhängt. Aber wenn nun dieses schöne Wort wahr sein soll, wenn uns der Erlöser so senden soll, wie der Vater ihn gesandt hat: so kann auch das nur wahr sein, wenn wir in ihm den Erlöser, das Fleisch gewordene Wort, den in menschlicher Gestalt erschienenen Sohn Gottes kennen, wenn wir so in unserm ganzen Wesen mit ihm Eins sind und darum ihn so kennen, wie er den Vater kannte. Wer m. g. F. wollte aber das von sich sagen und also ein Recht zu haben meinen, das Wort auf sich anzuwenden, daß ihn der Erlöser gesandt habe, wie der Vater den Sohn gesandt hat? Aber m. g. F. das ist auch nicht die Absicht des Erlösers; eben deswegen hat er dies von keinem und zu keinem Einzelnen gesagt, eben deswegen hat er seine Jünger so sehr davor gewarnt, daß kein Einzelner unter ihnen herrschen soll über die Gemeine und über die Gewissen, sondern jeder mit seinen | Gaben den andern dienen – denn wer da herrschen wollte, der würde von sich sagen daß er eben so von dem Sohne gesandt sei, wie der Sohn von dem Vater gesandt ist. Zu keinem Einzelnen von seinen Jüngern hat er je dieses gesagt, zu keinem hat er gesagt, daß er ihn allein für sich auf eine besondre und eigenthümliche Weise sende, sondern immer hat er den ganzen Kreis der Jünger als ein Ganzes angesehen und gemeinschaftlich zu ihnen diese herrlichen Worte geredet, und auch so nur dürfen wir sie ansehen, das sagt jedem sein innerstes Bewußtsein, nur in der ganzen Gemeine der Christen ist eine solche Erkenntniß des Erlösers, eine solche lebendige Gemeinschaft mit ihm, wie er allein sie hat mit seinem und unserm ewigen Vater. Keiner für sich allein kann sagen daß er den Herrn erkennt, sondern jeder muß zu seinem Bruder gehen, und sich von ihm einen Theil seiner Erkenntniß geben und dadurch seine eigne ergänzen lassen. Nur in unserm Zusammenwirken und Zusammensein, nur in dem Maaße als jeder in dem herrlichen geistigen und lebendigen Ganzen aufgeht, dem er angehört, nur [in] | dem Maße als jeder nicht für sich selbst denkt und handelt, sondern in dem Geiste der es von dem Seinen nimmt und es uns immer mehr verklärt, aber nicht jedem für sich, sondern jedem für alle und allen für jeden Einzelnen – nur auf diese Weise m. g. F. besitzen wir das was nöthig ist um uns für Gesendete vom Herrn in der That und Wahrheit halten zu können. O so laßt uns denn m. g. F. fest halten an dieser Gemeinschaft, und jeder mit der wärmsten und innigsten Liebe zu sich selbst seine Brüder umfassen, um eben in der Liebe zu ihnen auch jene zu haben, und das für sich gewinnen, was sein 19 dieses] die

39 haben,] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

1–3 Vgl. Joh 1,14; Hebr 1,3

14–16 Vgl. Mt 23,8–11

32–33 Vgl. Joh 16,14–15

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größter und heiligster Wunsch ist. Nur in der Gemeinschaft mit allen, die dem Herrn angehören und von ihm erlöst sind, sind wir Gesendete des Herrn; nur in der Gemeine, die er gestiftet hat, ist niedergelegt die ewige und unerschöpfliche Fülle der lebendigen Erkenntniß Gottes; nur in dieser Gemeine wirkt der Christum verklärende Geist; in sie müssen wir immer zurückkehren, wenn wir die Wahrheit des Christenthums | finden wollen. Jeder aber, der sich selbst vereinzeln und für sich ein Werkzeug des Herrn sein wollte, der würde eben in den gefährlichen Wahn fallen, als sei er selbst so von dem Erlöser gesendet, wie der Vater seinen Sohn gesandt hat. Auf diese Weise also verhält es sich mit unsrer Sendung von dem Erlöser ähnlich der seinigen vom Vater. II. Aber nun laßt uns auch zweitens miteinander achten auf den Erfolg unsrer Sendung, der ja auch nach den Worten unsers Erlösers ähnlich sein muß dem seinigen. Was liegt uns da wohl näher als zuerst das, was der Herr so oft und unter so mancherlei Ausdrükken in Beziehung auf ihren Beruf seinen Jüngern gesagt hat? „Der Jünger ist nicht über dem Meister und der Knecht nicht größer als sein Herr; wie es mir ergangen ist, so wird es Euch auch ergehen.“ Und damit hat er ihnen denn vorhergesagt und angekündigt die Gemeinschaft seiner Leiden. Diese haben auch die ersten Jünger des Herrn in reichem Maaße erfahren und sich derselben erfreut; | denn sie freueten sich, wenn sie gewürdigt wurden um seines Namens willen zu leiden, wie er gelitten hat; und sie wurden verfolgt und getödtet, wie es ihm begegnet war. Wir aber m. g. F. wir scheinen von dieser Gemeinschaft fast ausgeschlossen zu sein; und wenn wir jetzt noch hören, daß beiweilen der eine oder der andre rühmend klagt oder klagend sich rühmt, daß er leide um des Evangeliums willen, wie wenig Wahres werden wir darin finden, wie wenig anderes als dasjenige, was der Christ, der Mensch Gottes, der geschickt ist, zu jedem guten Werk, was der welcher durchdrungen ist von dem Geist der Liebe, weder als ein äußeres Leiden, noch als einen innern Schmerz und als eine innere Trübsal ansehen soll, sondern wenn es ihm erscheint, soll es auch verschwunden sein. Aber freilich auch anderes Ähnliche sagt der Erlöser von sich, zum Beispiel wenn er sich erklärt: „Wie oft habe ich Euch gesagt, was zu Eurem Frieden dient, aber Ihr habt nicht vernommen; wie oft habe ich Euch sammeln wollen unter meinen Fittig, aber Ihr habt nicht gewollt. Ich bin gekommen ein Feuer anzuzünden auf Erden, und ich wollte es brennete schon; aber es brennt noch nicht.“ So war | 3 ewige] ewigen

15 dem] den

36 gewollt] gewolt

17–19 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20 28–30 Vgl. 2Tim 3,17 35–36 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34 36–37 Vgl. Lk 12,49

33–35 Vgl. Lk 19,42

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der Erlöser m. g. F. mit seinem persönlichen Dasein auf Erden nur an den ersten Anfang seines Werkes gestellt. Was wirklich geschah menschlicher und sinnlicher Weise wahrnehmbar, das war fast für nichts zu rechnen gegen dasjenige, was in seiner Seele ihm vorschwebte als das Ziel seiner Bemühungen für die Menschen; und die Art, wie sich bald viele bald wenige zu ihm wendeten, sie war wenig oder nichts in Vergleich mit der innigen Vereinigung mit sich selbst, wozu er die Menschen berufen wollte. Wohlan m. g. F. ist jetzt nicht die Zeit, wo sich die Christen auf eine besondre Weise rühmen und erfreuen könnten der Gemeinschaft der Leiden des Erlösers, so ist doch immer noch die Zeit der Gemeinschaft dergleichen Entbehrung; und diese m. g. F. wird dauern, so lange der Lauf der irdischen Welt dauert. Nur daran daß wir dem Erlöser hierin ähnlich sind, können wir erkennen, daß wir eben so leiden wollen wie er gelitten hat. Denn m. g. F. wer sich bei einem kleinen Erfolg beruhigt, wenn das was er verrichtet unmittelbar übereinzustimmen scheint mit dem, was sein Herz begehrt, ach der wirkt nicht als ein Gesandter des Herrn | und nicht in seinem Auftrage. Haben wir aber m. g. F. ein wahres und lebendiges Bild des Reiches Gottes in unser Herz aufgenommen; ist die Kraft des Evangeliums um so viel lebendiger geworden unter uns, daß wir fühlen, was der Mensch sein kann und sein soll, wenn dieses Licht ihm leuchtet, und wenn dieser Geist ihn treibt und bewegt: o wie wird dann jeder Zustand der Gemeine Christi, in den wir gestellt sind als lebendige Theile und Glieder derselben und um mit ihr und auf sie zu wirken, wie wenig befriedigend wird er uns erscheinen, wie wenig durch uns und durch andre nicht nur sondern auch durch den ganzen Zustand unsers gemeinsamen Lebens der Durst unsers Herzens und unser innigstes Verlangen befriedigt; wie sehr fühlen wir uns in diesem Falle aufgefordert auszurufen: Herr wann kommst du endlich? kommst du nicht bald, um dein Reich vollkommen unter uns aufzubauen? wie lange soll dieser trübe Zustand noch dauern, dieser Kampf des Lichtes mit der Finsterniß, des Guten mit den Bösen? Ach unter denen die deinen Namen bekennen, wie lange soll die Schwachheit und Mangelhaftigkeit noch dauern, in welche | sie hingegeben sind? wie lange soll die neue Kreatur, die dein ewiges Wort geschaffen hat, noch seufzen nach dem Besitz des ungetrübten himmlischen Lichtes und sich aus diesem unvollkommenen Zustande sehnen nach dem vollkommenen Leben und Weben in Gott? So wird der Geist auch aus uns reden: ich bin gekommen ein Feuer anzuzünden auf Erden, und ich wollte, es brennte schon; so werden wir von allen uns selbst eingeschlossen sagen können, wie wenig wir gehorsam sind jener Stimme 34 unvollkommenen] unvolkommenen 36–37 Lk 12,49

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des Geistes, der uns immer inniger vereinigen will mit dem, welcher uns zum Heil erschienen ist. Und so sollen wir denn m. g. F. eben so klar sehen über die Unvollkommenheit unsers Wirkens, wie der Erlöser es that in den Ausdrükken, an die wir uns eben erinnert haben. Aber wie wohl er in seinem Gemüth davon erfüllt war, daß seine Sendung auf Erden ihrem ganzen Umfange nach ein Kampf sei, wie konnte er selbst über diesen sprechen: Jetzt ist die Stunde der Finsterniß, und der Fürst dieser Welt kommt, aber er hat nichts an mir. So konnte der Erlöser reden von sich selbst, er der gesandt war vom Vater; dasselbe m. g. F. sollen auch wir von uns sagen wenn wir in der | That von ihm gesandt sind. Darum m. g. F. konnte der Erlöser diese Worte zu seinen Jüngern nicht eher reden als in den Tagen seiner Auferstehung. Vorher kannten sie weder ihn recht und wußten was da sei die Gemeinschaft seiner Leiden und die Kraft seiner Auferstehung, weil sie ihn nie verstanden, wenn er davon redete, noch auch war die gefährliche Zeit vorüber, wovon der Herr sagte: wenn der Hirt wird geschlagen sein, so werden die Schafe der Heerde sich zerstreuen; der Satanas hat Euer begehret, daß er Euch sichte wie den Weizen, aber siehe ich habe gebeten für Euch daß Euer Glaube nicht verloren gehe. Nun aber hatten sie sich wieder gesammelt zu ihm, nun war ihre Seele des Glaubens und der Hoffnung voll geworden, nun verstanden sie den Vater zu preisen dafür, daß er ihnen seinen Sohn gegeben hatte, und eben deswegen weil nun eben so wenig der Fürst dieser Welt an ihnen etwas haben sollte als an ihm selbst, konnte er zu ihnen sagen „ich sende Euch, wie mich der Vater gesandt hat“. Aber m. g. F. wie steht es in dieser Hinsicht um uns? Wohl müssen wir sagen, die Gefahr von dem Fürsten dieser Welt besteht eben darin, | wenn die Christen sich vereinzeln und von einander trennen; dann ist jeder wie ein verlornes Schaf in der aus einander getriebenen Heerde, dann ist jeder Preis gegeben jedem sichtenden Bestreben alles dessen, was feindselig ist dem Reiche Gottes. Von seiner Gemeine aber sagt der Herr, die Macht der Finsterniß hat keine Gewalt über sie, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Halten wir uns an diese und weichen nicht von der Gemeinschaft, welcher der Herr seinen Segen verheißen hat; halten wir uns an diese, in welcher der Geist waltet und das Wort desselben immer mehr verklärt: dann dürfen wir hoffen, auch an uns wird der Fürst dieser Welt nichts haben, und in jeder Prüfung, die uns das irdische Leben bereitet, werden wir hervorgehen siegreich nicht durch unsre eigne Kraft, sondern durch die Kraft der Gemeinschaft, die mit uns ist, und welche ist die Kraft 4–5 seinem] seinen jeden

5 ihrem] ihren

7 Stunde der] Stunde, den

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7–8 Vgl. Joh 14,30; Mk 14,27 15–16 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7) 16–18 Vgl. Lk 22,31–32 29–31 Vgl. Mt 16,18

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des Erlösers selbst. Und das m. g. F. ist wohl das innerste Gefühl eines jeden unter uns. Haben wir Zuversicht zu uns selbst, ist in unsrer Seele ein freudiges Vertrauen, und wollen fragen, bezieht es sich auf unser eigenes persönliches Dasein? Nein nein werden wir gleich sagen, wenn wir der Wahrheit die Ehre geben wollen, sondern darauf, | daß wir dem Verein menschlicher Kräfte unter dem Schutze des göttlichen Geistes angehören, wo die Kraft eines jeden die Unterstützung findet, durch welche er auch in den trübesten Augenblikken seines Lebens die schwerste Versuchung besiegt, und in welchem der Geist des Herrn sich immer mehr verherrlicht und den Herrn selbst verklärt. Und das m. g. F. ist eben das Letzte in der Wirksamkeit der von dem Erlöser Gesendeten, wie sie der seinigen gleicht. Das sagt der Herr von sich selbst, indem er seinem Vater Rechenschaft ablegt von dem Leben seines Berufes auf Erden „Ich habe deinen Namen den Menschen offenbaret, die du mir gegeben hast. Denn alles was ich von dir habe, habe ich ihnen mitgetheilt“. Wie nun der Vater den Sohn gesandt hat, damit der Sohn den Vater verkläre: so sagt der Sohn zu dieser Stunde „Vater die Stunde ist da, daß du deinen Sohn verklärst“, und darum sandte er die Seinigen, daß sie ihn verklären sollten, wie er den Vater verklärt hat. Und das ist die Wirkung, die unser Dasein, in sofern es seine Sendung ist, hervorbringen soll, daß wir ihn verklären, wie er den Vater verklärt hat. Das aber m. g. F. kann nur hervorgehen aus jener lebendigen innern mehr für sich vergnügenden und verklärenden | Erkenntniß des Erlösers, wie sie nur das Werk der ganzen ungetheilten christlichen Gemeinschaft sein kann, welche geleitet wird von dem Geist des Erlösers; das ist nur das Werk derjenigen Treue in unserm großen Beruf, die auch keiner für sich selbst und durch sich selbst hat, sondern die jeder nur in dem Maaße erweiset, als er sich dazu hergiebt von dem Ganzen getragen [und] gehalten zu werden. So m. g. F. wenn sich in der Gemeinschaft der Christen Alles einigt zu Einem großen Ganzen, was in jedem Einzelnen durch den Geist Gottes gewirkt wird; wenn alle einander leiten aus einer Wahrheit in die andre, aus einer Klarheit in die andre; wenn alle zerstreute Gaben des göttlichen Geistes in der Gemeinschaft der Gläubigen in der Kraft Eines und desselben lebendigen Ganzen zusammen wirken: o dann dürfen wir hoffen, daß aus den zerstreuten Zügen das Ebenbild des Einen, der über uns alle erhöht ist, hervorleuchten werde, wie er den Vater verklärt hat. O an diesem Beruf m. g. F., an diesem Vermächtniß des Erstandenen, laßt uns halten, und unsern Beruf immer ansehen in dem herrlichen und himmlischen Lichte, welches er uns in den Tagen seiner Auferstehung angegründet hat; dazu laßt uns immer fester miteinander verbinden, | daß sich gegenseitig unsre 12 seinem] seinen 13–15 Vgl. Joh 17,6–8

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Schwachheiten ausgleichen, daß jeder dem andern zu Hülfe komme mit seiner Kraft und mit seiner Tugend, daß der Geist der Liebe, in welcher der Glaube sich erweist, in uns zurückwirke auf den Glauben, und dieser sich immer mehr stärke zur Erkenntniß Gottes, zum lebendigen Einssein mit ihm, wie er Eins [ist] mit dem Erlöser. Wenn wir so den Erlöser in uns tragen in unserm gemeinsamen Leben ihn verklären: dann m. g. F. wird es auch nicht fehlen, daß das nicht wahr sein sollte, daß wie der Herr sagen konnte in den letzten Augenblikken seines Lebens „Es ist vollbracht“, so auch die ganze Gemeinschaft der Christen, nicht ein Einzelner – denn wo der Einzelne für sich ist, da ist nicht der Geist des Herrn – nicht irgend eine bestimmte Gegend oder ein bestimmter Theil derselben – denn wo ein Theil ist, da ist Stückwerk – aber das Ganze, der ganze Leib des Herrn eben so einst, wenn seine irdische Bestimmung wird erfüllt sein, wenn dieser Kreislauf des menschlichen Lebens wird | vollendet sein, eben so mit derselben Gewißheit wird sagen können, „Es ist vollbracht“, wie der Erlöser es sagte. Amen[.]

[Liederblatt vom 20. April 1823:] Am Sonntag Jubilate 1823. 20

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Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Ein Loblied laßt uns Jesu singen, / Er kam aus Lieb’ in diese Welt; / Die Wahrheit kam mit lichten Schwingen / Ihm göttlich strahlend beigesellt. / Als Finsterniß und Todes Schatten / Noch über allen Völkern lag, / Und Weise kaum erst Dämmrung hatten, / Kam er, und mit ihm voller Tag. // [2.] Er kam mit hohen Himmelslehren, / Und falscher Weisheit Stimme schweigt; / Bald drängen Heiden sich zu hören, / Da sich das Licht der Heiden zeigt. / Er lehrt im Sohn den Vater kennen, / Ermuthigt Sündern Herz und Mund, / Daß sie sich Gottes Kinder nennen, / Er ladet sie zum neuen Bund. // [3.] Und weil das schuldige Geschlechte / Dem Tod anheimgefallen war, / Stellt sich der einzige Gerechte / Als Opfer zur Versöhnung dar. / Verloren waren Adams Kinder; / Doch Gottes Sohn hilft aus der Noth, / Er stirbt für uns gefallne Sünder, / Erniedrigt bis zum Kreuzestod. // [4.] Vergebens lehnen Nationen / Sich wider den Gesalbten auf, / Die Jünger, wo nur Menschen wohnen, / Versammeln Jünger ihm zu Hauf. / So grünt des Glaubens zarte Pflanze / Aus dem verströmten Blut hervor, / Mit ewig ungeschwächtem Glanze / Hebt er im Sturm das Haupt empor. // (Bremer Ges. B.) 1 komme] kommen 8.15 Joh 19,30

7 den] dem

12 wenn] wem

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Nach dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Laß o Jesu mich empfinden, / Welche Seligkeit es ist, / Daß du mich vom Joch der Sünden / Zu befrein erschienen bist; / Daß ich deinen Weg nun walle, / Daß du liebreich, eh’ ich falle, / Die Gefahr mir offenbarst, / Mich ergreifest, mich bewahrst. // [2.] Doch wie könnt ich des mich freuen, / Und kaltsinnig Menschen sehn, / Jene Knechtschaft stets erneuen, / Wege des Verderbens gehn! / Rufen will ich, bis sie hören, / Eilet, Brüder, umzukehren, / Nüzt zur Heiligung die Zeit, / Ringet nach der Seligkeit. // [3.] Ja auch für der Brüder Seelen, / Nicht für meine Seel allein, / Soll ich sorgen; wenn sie fehlen, / Wo ich kann, ihr Führer sein. / Ruf ich sie nicht vom Verderben, / Eh’ sie durch die Sünde sterben, / Liebevoll, o Herr! zu dir: / Wie besteh’ ich dann vor dir! // [4.] Von des Irrthums Finsternissen / Selbst errettet, soll auch ich / Locken, rühren das Gewissen / Deß der ab vom Pfade wich. / Was ihn blende ihm zu zeigen, / Und sein Herz zu dir zu neigen, / Diese Pflicht ist freudenreich, / Macht uns dir, o Meister, gleich. // [5.] Hilf des Bruders Herz erweichen, / Und wenn meine Bitten nicht / Bis zu seinem Herzen reichen, / Sei mein Wandel ihm ein Licht; / Daß er an mir sehen möge, / Wie so heilsam Gottes Wege, / Jedem der sie lieb gewinnt / Und mit Treue wandelt, sind. // [6.] Laß ihn sehn an meinen Freuden, / Wie der Fromme selig sei, / Wie so heiter auch im Leiden, / Wie von Druck und Sorgen frei, / So laß auch durch mich auf Erden, / Andre fromm und weise werden. / Selig, selig ist der Christ, / Wenn er Seelen Retter ist. // (Cramer.) Nach der Predigt. – Mel. Auf meinen lieben etc. [1.] O mache mich getreu, / Daß ich nie Menschen scheu, / Und nie des Kampfes Mühe / Und Leiden mich entziehe, / Auch nie in einer Plage / An deinem Schuz verzage. // [2.] Wer mit dir leiden soll / Mit dir auch wonnevoll / Einst leben, soll nicht sterben, / Soll deinen Himmel erben, / Begnadigt hier auf Erden / Und dort einst selig werden. // (Brem. Ges. B.)

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Am 23. April 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Bußtag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 17,10 Nachschrift; SAr 103, S. 677–699; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 129v–130r; Gemberg Keine

Frühpredigt am Bettage 1823 am drei und zwanzigsten Wandelmonds. |

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Tex t. Lukas XVII,10. Also auch ihr, wenn ihr alles gethan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte; wir haben gethan was wir zu thun schuldig waren. M. a. F. diese Worte des Erlösers sind wohl ganz vorzüglich geeignet unser christliches Nachdenken zu leiten an einem Tage wie der heutige, wo wir in ernster demüthiger Prüfung vor Gott unser gemeinsames Leben betrachten, von unsern Fortschritten in der Heiligung uns Rechenschaft geben, alles was noch Unvollkommnes und Sündhaftes in unserm Leben ist in dem Lichte der göttlichen Wahrheit erkennen, und so die Vergebung sowohl als die Gnade Gottes mit einander erflehen. Denn sie sind wohl ganz vorzüglich geeignet uns eine richtige aber eben deswegen auch zur tiefsten Demüthigung vor Gott veranlassende Vorstellung zu geben von uns’rer Stellung in dem Reiche Gottes und von der Beschaffenheit uns’rer Thätigkeit in demselben. Das sei denn der Gesichtspunkt, aus welchem wir sie be|trachten, und der Gegenstand, über welchen wir mit einander reden wollen. Der Herr m. a. F. sagte diese Worte zu seinen Jüngern, als er sein Gesicht gewendet hatte nach Jerusalem zu gehen zum letzten mal, wo also ganz vorzüglich seine Gedanken schon damit beschäftigt waren, das Werk, welches er innerlich zwar in Beziehung auf das Verhältniß zwischen Gott und den Menschen im Allgemeinen zu vollenden im Begriff war, äußerlich aber doch nur beginnen und den ersten Grund dazu legen konnte, dieses ihnen zu übergeben. Da kommt nun freilich, wenn wir sie recht verstehen wollen und sie anlegen als den Maßstab, nach welchem wir uns selbst beurtheilen, ganz vorzüglich viel darauf an, daß wir richtig verstehen, was der

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Erlöser denn gemeint habe, wenn er sagt: „wenn ihr alles gethan habt, was euch befohlen ist.“ Lasset uns deswegen auch an die unmittelbar vorhergehende wohl allgemein bekannte Rede des Erlösers denken, wovon dieses Wort der Schluß ist. Er sagt nämlich, wenn ein Knecht vom Felde heimkommt, meint ihr, daß sein Herr zu ihm sagen werde, nun setze dich | flugs her und iß und trink und ruhe dich aus? Nein sondern er wird sich selbst zu Tische setzen und zu dem Knechte sagen, erst warte mir auf, daß ich esse und trinke, und hernach setze dich auch hin und iß und trink. Wir sind gewohnt, m. g. F., und vielleicht zu sehr zur Beschönigung mancher Mittelmäßigkeit und Unvollkommenheit, überall auch in dem geistigen Gebiet der Menschen das Nothwendige und Unvermeidliche zu unterscheiden von einem Andern, was wir mehr für überflüssig halten; und dieser Unterschied ist es, den der Erlöser in seiner Rede aufheben und vertilgen will. Denn so ist es wohl natürlich, daß wir denken, wenn der Knecht draußen auf dem Felde, oder wo es sonst sei, sein Tagewerk treu vollbracht hat und dort nichts versäumt von dem was er in den Angelegenheiten seines Herrn thun konnte: so ist es gut und löblich; und wenn jeder das thut an seinem Orte und nach dem Maaße seiner Pflichten, so kann das ganze Hauswesen wohl bestehen, wenn der Herr das auch | hernach übersieht, daß indem er selbst seiner Bequemlichkeit und Ruhe pflegt, seine Diener ihm nicht aufwarten, sondern auch ruhen und durch Speise und Trank sich erquicken. Der Herr aber will von einem solchen Unterschiede nichts wissen, sondern er sagt, der Herr werde seinem Knechte nicht erlassen was nur zur entbehrlichen Bequemlichkeit gehört, was aber doch nöthig ist, wenn Ordnung und Schönheit des Lebens, wenn Anstand, wenn Sitte und Zierlichkeit eines wohlgebildeten Hauswesens überall und immer erscheinen soll. So m. g. F. ist es auch im Reiche Gottes. Wenn wir uns selbst prüfen, ob wir unsere Pflichten in demselben treu erfüllt, ob wir nichts verabsäumt haben von dem was uns in demselben obliegt: so beschränken wir uns leicht dahin auf das Nothwendige und Unentbehrliche zu sehen. Aber, m. g. F, die Gemeine Christi soll ihm zugeführt werden als seine Geliebte ohne irgend eine Runzel oder irgend einen Flecken oder irgend einen Tadel an ihrer ganzen Gestalt; so soll also in dem | Reiche Gottes nicht nur das, was uns nach unsrer engen menschlichen Vorstellung unentbehrlich scheint, gewirkt werden, sondern es soll nichts von demjenigen verabsäumt werden, wodurch die christliche Gottseligkeit sich auch in ihrer ganzen natürlichen holden Anmuth und Schönheit erweist, wie sie allein des Erlösers würdig ist. Wenn es nun so wäre, wie müßte es dann in der ganzen Gemeine des Herrn und in dem Kreise eines jeden unter uns stehen? Dann könnten wir uns nicht damit begnügen, daß die Welt und diejenigen, die über unser Betragen zu richten haben, uns keinen bestimmten Vorwurf zu machen wüßten, daß wir 4–8 Vgl. Lk 17,7–9

30–33 Vgl. Eph 5,27

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irgend ein Gesetz übertreten, irgend einen bestimmten Auftrag unerfüllt gelassen hätten, daß wir irgendwo verderblich gewesen wären durch ein bestimmtes Unterlassen; weit mehr müßten wir, wenn wir dieses Bild des Erlösers recht in das | Auge fassen, weit mehr von uns, jeder von sich selbst und alle von jedem fordern – dies daß nirgends im Reiche Gottes eine Uneinigkeit und ein Zwiespalt sei, sondern alles zusammenstimmend zu einem schönen Ganzen; daß in der treuen Pflichterfüllung eines jeden kein Augenblick der Erschlaffung und der Ermüdung sei; daß immer frisch, immer von gleicher Kraft beseelt jeder wirke, so lange es Tag für ihn ist, ehe die Nacht kommt, wo niemand wirken kann; daß keine leidenschaftliche Aufwallung die reine Wirkung des göttlichen Geistes der Liebe in unserm Leben unterbreche oder auch nur trübe; daß wir alles, was uns zu thun obliegt in seinem gehörigen Verhältnisse gegen alles Übrige im Reiche Gottes ansehen und ausführen, weder einen größern Werth legend als sich gebührt auf das Geringe, noch das Große verabsäumend, weil es noch Größeres giebt: dann müßte jeder seine Pflichten in ihrem ganzen Umfange und in | ihrer Begränzung gegen den Geschäftskreis jedes andern hell und deutlich erkennen und ausführen, ohne daß irgendwo eine Lücke bliebe, noch eine unterbrochene Reihe der Thätigkeit sich endigte. Ein solches vollkommnes Ebenmaaß, eine solche tadellose Schönheit und Anmuth in jedem Einzelnen und in dem Allen gemeinsamen Ganzen, das m. g. F, wäre dasjenige, was der Herr meint, wenn er sagt „wenn ihr alles gethan habt was euch befohlen ist“, wenn ihr auch diejenigen Dienste nicht vernachlässigt und übersehen habt, die zu der Vollkommenheit und Schönheit des Reiches Gottes, dessen Pflege euch anvertraut ist, gehören: Dann – aber was sagt er dann? dann wird euch euer Herr loben und zu euch sagen, du getreuer Knecht, gehe ein in des Herrn Freude? Nein dann sollt ihr selbst sprechen: wir sind unnütze Knechte, wir haben nur gethan, was wir zu thun schuldig waren. Wie, m. g. F? Auch dann wenn wir so alles erfüllt haben, sollen wir uns | nicht einmal in unserm eigenen Bewußtsein des Lobes und der Zufriedenheit dessen getrösten können, der unser Herr und Meister ist? Es scheint nicht, wenn wir doch seinen Worten glauben. Soll uns denn aus diesem der Gedanke entstehen, m. g. F., als könne der Mensch mehr thun als er zu thun schuldig ist? sollen wir uns umsehen nach andern guten Werken, von denen niemand behaupten kann, sie wären unsere Pflicht und lägen uns ob, und uns aus denen einen Schatz der Verdienstlichkeit erwerben, und das harte Wort von uns abwenden „ihr habt gethan, was ihr zu thun schuldig waret“, und die Wirksamkeit desselben von uns entfernen? Aber den Schlüssel zu diesem Worte des Erlösers finden wir in andern Worten der Schrift, wo es heißt, „auf daß der Mensch Gottes sei vollkommen und zu jedem guten Werke geschickt“. In allem was wir thun können in der 26–27 Mt 25,21.23

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Welt, insofern es gut ist und nicht aus dem Argen, insofern es aus der innern lebendigen Quelle alles Guten herrührt, und nicht aus dem menschlichen | Verderben oder aus thörichter Eitelkeit, in alle dem können wir nichts thun als was wir zu thun schuldig sind. Aber es entsteht außerdem noch die Frage nach unserm innern Geschick zu dem was uns in dem Kreise unseres Lebens aufgegeben ist. In diesem m. g. F. wie viel kommt da einem jeden zu Statten? Alle Augen, die ihn umgeben, und denen dasselbe Werk Gottes der Gegenstand der Betrachtung ist, helfen ihm sehen und erkennen, was Recht ist [und] Noth thut, alle können ihn aufmerksam machen auf seine Fehler und Unvollkommenheiten, tausend Hände kommen ihm in der brüderlichen Gemeinschaft der Christen zu Hilfe. Was aber das Meiste ist, wie ein großer Theil unseres Lebens in gleicher Pflichterfüllung aufgeht: wie hilft uns nicht die Zeit? wie kommt uns die Übung zu statten, wie wird uns durch sie leicht und gewohnt, was uns anfangs schwer und ungewohnt war? Und so sind wir denn geschickt zu dem Werke Gottes, was uns auf der Stelle angewiesen ist, wo wir stehen. Aber wenn sich diese ändert, wenn im menschlichen Leben eine bedeutende Ver|änderung entsteht, wenn wir auf einen andern Platz gestellt werden, wo uns andere Pflichten obliegen: wie unvollkommen würden wir dann sein, wie weit entfernt und wenig geschickt dasjenige zu thun, was der Herr von uns fordert, und das gehörig anzuwenden, was uns entgegen kommt? Das aber ist die Vollkommenheit [des Menschen] Gottes, wie sich der Apostel ausdrückt; der soll in seiner Pflichterfüllung nicht allein ruhen auf der Unterstützung, die ihm aus seiner äußern Lage und aus seinen Umgebungen kommt; er soll in sich das Geschick haben zu jedem guten Werke, welches ihm im Leben vorkommt zu thun. Aber eben deswegen soll er keine Veränderung der menschlichen Dinge, die Gott der Herr in seinem ewigen Rathschluß beschlossen haben mag, zu hintertreiben suchen, eben deswegen soll er sich nicht entgegenstellen der lebendigen Kraft des Geistes, wo sie neues Leben hervorruft aus dem Alten und Abgestorbenen, eben deshalb soll er nicht | ängstlich den Kreis seiner Thätigkeit zusammenziehen, sondern weit umhersehen auf alle Veränderungen, die Gott in dem ganzen Umfange seines Berufskreises und in allen Lagen seines Lebens beabsichtigen könnte, sich stützend auf diese innere Vollkommenheit, auf dieses innere Geschick zu jedem guten Werk. Darum hat der Erlöser hier sehr Recht; wie es auch in jedem menschlichen Hauswesen vorkommt, daß irgend einer etwas verrichten muß, was nicht in dem gewöhnlichen Kreise seines Geschäftes liegt, und dasselbe schlecht berathen wäre, wenn keiner die Stelle dessen vertreten könnte, der nur vorübergehend aus der ihm angewiesenen Bahn seiner Thätigkeit abgerufen ist, sondern gerade jeder bei der Hand sein sollte, um das zu verrichten was der Augenblick fordert: so ist auch im Reiche Gottes nur der ein brauchbarer 41 ist auch] ist es auch 21–22 Vgl. 2Tim 3,17

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und nützlicher Knecht, der nicht nur immer thut und gethan hat, was ihm befohlen ist, sondern auch auf den der Herr die Zuversicht setzen kann, wenn | er aus dem gewohnten Kreise seiner Pflichterfüllung herausgerissen werden sollte und an eine andere Stelle gesetzt, weder an Vollkommenheit und Geschick noch an Freudigkeit und Lust würde es ihm fehlen, dasjenige zu verrichten zu seiner Zufriedenheit, was dann von ihm gefordert würde. M. g. F. Wenn wir diesen Maaßstab anlegen, was müssen wir von uns selbst sagen? Wenn wir uns danach prüfen, wie werden wir gestehen müssen, nicht nur von der Vollkommenheit zu jedem guten Werk, wozu der Mensch Gottes geschickt sein soll, sind wir weit entfernt, sondern auch noch weit entfernt davon, alles gethan zu haben was uns befohlen war. Das m. g. F. führe ich nicht weiter aus; Euer eigenes inneres Gemüth, nachdem ich nur einige Züge desselben gezeichnet habe, wird in sich gegangen sein, Ihr werdet selbst fähig sein Euch das ganze Bild Eures Zustandes zu entwerfen; | und jeder wird sagen müssen, daß er nicht alles gethan hat, was ihm befohlen war. Und das lebendige Bild, welches wir vor uns haben, von unserem gemeinsamen Zustande, von dem Grade der Vollkommenheit, in welchem sich die Kirche Christi gegenwärtig befindet, ganz deutlich müssen wir aus demselben ersehen, daß was jeder selbst in dem Innern seines Herzens erkennen muß, ihm auch von andern klar zu Tage liegt. Aber, m. g. F. wenn wir nun so weit davon entfernt sind, nicht einmal solche unnütze Knechte zu sein, die doch alles gethan haben, was ihnen ihr Herr befohlen hatte: was sagt der Erlöser an einer andern Stelle von einem, den er doch nur einen unnützen Knecht nennt? Den unnützen Knecht aber, der mit dem ihm anvertrauten Pfunde nicht alles geschafft hat zum Vortheil seines Herrn, was ihm möglich gewesen wäre, den bindet und werfet hinaus in die äußerste Finsterniß. Das ist das Wort, wodurch erst die Rede unseres Erlösers vollendet wird. | So ist denn keine heitere Aussicht für ein ernstes und wahrheitsliebendes Gemüth, welches den Maaßstab des göttlichen Wortes an sein Leben anlegt? so dürfen wir denn keine Zuversicht hegen zu uns selbst in Beziehung auf dasjenige, was wir in dem Reiche Gottes sind? Wohl, m. g. F., wenn wir diese Worte erwägen, müssen wir uns umsehen nach einer andern Hilfe. Sollte denn das was der Herr hier sagt auch wirklich anwendbar auf uns sein, und so daß wir uns in keinem andern Lichte betrachten können als in diesem? Wenn der wahre christliche Sinn damit anfangen muß überall sich zu demüthigen vor Gott, wo wäre doch die seligmachende Kraft des Evangeliums, wenn er nicht auch wieder fände, was ihn aufrichtet und erhebt? Wohlan! wenn der Herr auf dem Wege nach Jerusalem zu seinen Jüngern sagt „also auch Ihr, wenn Ihr alles gethan habt was Euch be20 Aber,] Aber. 8–10 Vgl. 2Tim 3,17

24–27 Vgl. Mt 25,30

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fohlen ist, so sprechet, wir sind unnütze Knechte“: | so sagt er in Jerusalem zu ihnen „Ich sage hinfort nicht mehr, daß Ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut; Ihr aber seid meine Freunde, denn alles was ich von meinem Vater gehört habe, habe ich Euch verkündigt“. Und der Apostel, der von sich selbst sagt, er verdiene nicht diesen Namen, und er sei der größte unter den Sündern, die des Ruhmes ermangeln, den sie vor Gott haben sollten, weil er die Gemeine verfolgt habe, den aber der Herr auf einmal erhob zu seinem Freunde[,] und seinem wie treuen Freunde, der sagt: „So ist nun hier kein Knecht, sondern eitel Kinder, weil der Herr seinen Geist in Eure Herzen gesandt hat, welcher ruft lieber Vater!“ Als wir unter dem Gesetz standen als einem Zuchtmeister, da war auch uns fremd das Erbe der göttlichen Gnade und Heiligkeit und kein Unterschied zwischen uns und einem Knechte, weil wir eben standen unter der Gewalt des Zuchtmeisters. | Nun wir aber den Geist haben und in dem Geiste leben, so stehen wir nicht mehr unter dem Gesetz, und darum sind wir nicht mehr Knechte, sondern Kinder, solche denen er Macht gegeben hat Gottes Kinder zu werden, weil sie ihn aufgenommen haben, dasjenige aufgenommen haben was er ihnen von seinem Vater verkündigt hat, und dadurch eben seine Freunde geworden sind. Von Moses sagt die Schrift, er sei treu gewesen in dem Hause des Herrn als ein Knecht; und das ist wohl ein feines und schönes Lob. Aber auch er stand unter diesem strengen Gesetz, daß er nur ein unnützer Knecht war, wenngleich er in einem hohen Grade alles that, was ihm zu thun befohlen war; und das zeigte der Herr dadurch, daß er ihm nicht einmal gestattete einzugehen in das gelobte Land, für welches er so viele Kämpfe und Anstrengungen bestanden hatte. Und so sind alle, die dem Moses folgen und unter dem Gesetz stehen, auch nur zu beurtheilen nach dem Maaßstabe der Knechte, nur mehr oder weniger treu oder unnütz, und dürfen keines Lobes gewärtig sein von ihrem Herrn. | Von Christo aber sagt dieselbe Schrift, er ist treu ewiglich in dem Hause des Vaters, wie der erwachsene Sohn, der darin schaltet nach seiner Einsicht. Und so sind alle, die von ihm frei gemacht sind, aus dem Zustande der Knechtschaft, alle die von ihm die Macht bekommen Gottes Kinder zu werden, treu von ganzem Herzen ewiglich in der Kraft des Geistes in dem Hause seines Vaters, in welches er sie gestellt und jedem als der darin schaltende Herr seine Arbeit angewiesen hat. Aber m. g. F. hat der Erlöser denn durch das zweite Wort das erste aufheben wollen? können wir das von uns rühmen, daß wir 19 sind.] sind.“ 2–4.17–19 Vgl. Joh 15,15 5–7 Vgl. Röm 3,23; 1Kor 15,9 9–10 Vgl. Gal 4,6– 7 14–15 Vgl. Gal 5,18 16–17.32 Vgl. Joh 1,12 19–20 Vgl. Num 12,7; Hebr 3,5 23–24 Vgl. Dtn 32,52 28–30 Vgl. Joh 8,35; Hebr 3,5–6

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so in der Kraft des Geistes leben, daß wir unter dem Gesetz gar nicht mehr stehen und seiner nicht mehr bedürfen? Was sagt derselbe Apostel, welcher eben die zuletzt angeführten Worte geredet hat? Indem er das Gesetz rühmt als etwas Großes und als eine herrliche Gabe Gottes, so sagt er „denn aus dem Gesetz kommt Erkenntniß der Sünde“. Darum m. g. F. an einem Tage wie der heutige, und überall wo es uns darauf ankommt uns | selbst zu prüfen, fühlen wir wohl, daß wir einen Maaßstab suchen müssen außer uns selbst, um uns nach demselben zu richten; und da finden wir das Gesetz Gottes, wie es weit schöner und herrlicher in den Worten des Herrn und in den lebendigen Vorschriften seiner Jünger gegeben ist uns, die wir in dem Reiche Gottes leben, als es damals furchtbar und schrecklich, aber doch in einzelnen vom Sinai gegeben ward dem Volke: Dieses Gesetz sollen wir uns vorhalten, hineinschauen sollen wir in die heiligen Worte der Schrift und darin sehen wie wir gestaltet sind, ach und es nicht wieder vergessen. Wenn wir aber so gefunden haben, wie viel uns noch fehlt an der innern Vollkommenheit des Menschen Gottes, der zu allen guten Werken geschickt ist; wenn wir auch das Verhältniß der Knechtschaft von uns werfen, weil der Sohn uns frei gemacht hat in unserm Herzen, weil wir treue Diener sind in seinem Weinberge, und als Genossen des Sohnes, als lebendige Glieder seines Leibes wohnen in dem Hause des Vaters, weil was wir mit der innigsten | Liebe unseres Herzens umfassen unser höchstes Gut ist; und wenn wir dann alle jene Mängel und Unvollkommenheiten an uns bemerken, die uns das Wort Gottes, betrachten wir es als Gesetz, vorhält: o nicht – und das ist ja das Schönste in dem Bilde des Sohnes Gottes, der gekommen ist, uns frei zu machen von der Knechtschaft der Sünde und des Gesetzes, und uns zur lebendigen Gemeinschaft mit Gott zurückzuführen, dem Bilde, nach welchem wir unser ganzes Leben immer gestalten sollen – wenn wir aber dann unserer Unvollkommenheit gedenken – o nicht an das Wort wollen wir denken „den unnützen Knecht werfet hinaus in die äußerste Finsterniß“ – davon hat uns der Herr befreit – fühlen wollen wir in unserm Innern, wenngleich schwach und unvollkommen, den Geist, den uns der Sohn gegeben, der uns frei gemacht hat und aus uns ruft: lieber Vater! den Geist, der uns vertritt mit allerdings unausgesprochenen Seufzern – aber doch ist dies die einzige Vertretung des schwachen | sterblichen Menschen vor Gott – und der für uns wacht und spricht, wie der Apostel sagt: „so uns unser Herz verdammt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater.“ Das, 12 einzelnen] Hier fehlt offenbar ein Satzteil. ken,.

12 vom] von

28 gedenken] geden-

4–5 Röm 3,20 15–17 Vgl. 2Tim 3,17 29–30 Mt 25,30 Gal 4,6 32–33 Vgl. Röm 8,26 35–36 Vgl. Röm 8,34

31–32 Vgl. Röm 8,15;

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m. g. F. ist der erhebende Trost des Christen, ohne welchen alle Demüthigung vor dem Worte Gottes uns als Jüngern des Herrn nicht anstehen würde; sondern uns zu einem Gefühl der Verwerflichkeit bringen, von welchem wir so gewiß frei sein müssen, als wir Theil haben an der Erlösung Christi. Allein der Geist, der in unsern Herzen ruft: lieber Vater! der tröstet und versichert uns, daß der Vater auf die Bitte seines Sohnes immer über uns ausgießen werde die Fülle des Geistes und uns immer inniger verbinden mit dem göttlichen Wort, damit wir uns immermehr gestalten in die Züge des Ebenbildes des göttlichen Sohnes, und so je länger je mehr nicht als Knechte, sondern als Freunde des Herrn in unserm gemeinsamen Leben erscheinen, nicht damit wir uns trösten können mit uns selbst und uns den Ruhm beilegen, sondern zum alleinigen Preise dessen, von dem alle gute Gaben kommen. | Darum m. g. F. ist der Tag der Selbsterkenntniß der Prüfung und der Buße zugleich ein Tag des Gebetes; es giebt aber nur Eins, welches Gott gefällt, das wahre Gebet im Namen Jesu, daß der Herr allen denen den Geist geben werde, die nach ihm verlangen, damit das Reich seines Sohnes immer schöner erblühe und immer weiter sich ausbreite, damit jeder dessen immer würdiger werde, der ihn erlöst hat, und damit uns der Herr so immer mehr in unserm Bewußtsein auf eine tröstliche Weise nicht [nur] zur Gerechtigkeit werde, sondern auch zur Heiligung und zur Weisheit und zur Erlösung. Dazu also laßt uns den Tag der Buße und des Gebetes hier versammelt und jeder in der Stille anwenden, und den Herrn anrufen, daß er immer mehr seinen Geist ausgießen möge über alle, die ihn verehren, und die da wissen, daß wenn sie an sich selbst gewiesen wären sie nichts als unnütze Knechte sein würden, und daß er immer mehr die menschliche Welt reinigen möge von allen Schwachheiten und Verkehrtheiten und alles immer mehr untergehen lasse in dem Geist der reinen Liebe: | Damit wir so fest verbunden bleiben als heilige Steine an dem Tempel Gottes, immer höher und herrlicher hinaufgebaut zu seinem Preise. Dazu rufen wir ihn an in dem Gebete seines Sohnes: Unser Vater, der du bist im Himmel pp.

3 würde] würden 5 Vgl. Gal 4,6

19–21 Vgl. 1Kor 1,30

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Andere Zeugen: Besonderheiten:

Cantate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,16 a. Drucktext Schleiermachers; Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb?, 1824 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 143–156; 21844, S. 192–205 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 116–127 b. Nachschrift; SAr 103, S. 702–723; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 130v–132r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Drucktext Schleiermachers Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21, 16.

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Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche gehalten von Herrn Dr. F. Schleiermacher. Herausgegeben von einigen Mitgliedern der Gemeinde. Der Ertrag ist zu einem Beitrage für die neue Evangelische Gemeinde zu Mühlhausen im Großherzogthume Baden bestimmt.

Berlin, 1824. Bei Ferdinand Dümmler. | 10

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Vorwort der Herausgeber. Der Druck dieser Predigt wurde gleich Anfangs von Manchen begehrt, welche wünschten dieselbe vollständig auch solchen mittheilen zu können, die sie nicht selbst gehört hatten. Die Herausgabe, wofür wir glauben auf den Dank vieler rechnen zu dürfen, hat indessen erst jetzt erfolgen können, nachdem wir dazu die Erlaubniß des Herrn Verfassers, nebst einer sorgfältigen, von ihm selbst durchgesehenen Nachschrift erhalten haben. Mögen diese Worte, wie bei den Hörern, so auch bei den Lesern ihr Theil dazu beitragen, daß die Herzen feste werden, und daß sie im Streite der Meinungen sich nicht von dem Einen, was noth ist, abkehren lassen.

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Am 27. April 1823 vormittags Den Ertrag dieser Predigt glaubten wir nicht angemessener verwenden zu können, als indem wir ihn zu einem Beitrage für die Bedürfnisse der neuen Evangelischen Gemeinde bestimmten, die sich zu Mühlhausen an der Würm im Großherzogthum Baden gebildet hat, an welchem früher ganz Katholischen Orte bekanntlich im April des verflossenen Jahres über 40 Familien, nebst | ihrem Grundherrn, dem Freyherrn von Gemmingen mit seiner Familie, und ihrem bisherigen Pfarrer, Aloysius Henhöfer, durch dessen biblische Vorträge in ihnen der Geist der christlichen Freiheit geweckt war, zur Evangelischen Kirche übergetreten sind; welchem Beispiele seitdem auch noch einige andere Familien gefolgt sind. [Fußnote: So eben kommt uns zur Hand: Geschichtlich-treue Rechtfertigung der Rückkehr zur evangelischen Kirche, von A. Henhöfer, evangelischer Pfarrer zu Graben im Großherzogthum Baden. Heidelberg 1824. 8. LXX. S. welche Schrift (besonders abgedruckt aus der Vorrede zur zweiten Auflage des Henhöferischen Glaubensbekenntnisses) eine einfache, lebendige Darstellung des ganzen Herganges der Begebenheit enthält, und deren Lesung dringend Allen zu empfehlen ist, die sich auf zuverlässige Weise belehren wollen, aus welchem Geiste dieselbe hervorgegangen ist.] Diese aber, obwohl sie die Hälfte der ganzen Gemeinde ausmachen, haben auf allen Antheil an dem Eigenthum ihrer bisherigen Kirche Verzicht leisten müssen und willig Verzicht geleistet; daher ihnen, bei der Entfernung des Ortes von andern Evangelischen Gemeinden, die Sorge nicht nur für die Errichtung einer neuen Kirche und einer Pfarr- und Schulwohnung, sondern auch für die Besoldung ihres Evangelischen Pfarrers und Schullehrers obliegt; obwohl sie, da die kleine, großentheils aus unbemittelten Landleuten bestehende Gemeinde nicht im Stande ist, es aus eignen Kräften zu bestreiten, wohl mit Recht erwarten dürfen, von ihren Evangelischen Brüdern Beihülfe zu erhalten. – Sollte vielleicht ein oder der andere Leser sich gedrungen fühlen, dem festgesetzten Preise dieser Predigt für denselben Zweck noch eine Gabe der Liebe hinzuzufügen, so ist der Herr Verleger sehr gerne erbötig, dieselbe in Empfang zu nehmen und zu besorgen.

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Predigt am Sonntage Cantate 1823. Text. Johannes 21, 16. Spricht er zum andernmal zu ihm: Simon Johanna, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja Herr, du weißt daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: weide meine Schaafe. Meine andächtigen Freunde! Einen größern Auftrag giebt es nicht als welchen der Herr in diesen Worten seinem Apostel gab. Er selbst nennt sich den Hirten seiner 39–1 Vgl. Joh 10,12.14

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Heerde; Sein eigenes Geschäft also zu verrichten in Seinem Namen unter Seiner des Oberhirten Aufsicht und höchsten Leitung, das war es was Er in diesen Worten dem Apostel übertrug. Aber eben dieser Auftrag, meine andächtigen Freunde, ist nicht etwa ein ausschließender des Apostels Petrus, nicht ein ausschließender für die übrigen Apostel, nicht ein ausschließender | für diejenigen, die auch jetzt noch in dem besondern amtlichen Beruf als Lehrer und Vorsteher dem Herrn in Seiner Gemeine dienen; sondern es ist der gemeinsame Beruf aller Christen; Arbeiter in Seinem Weinberge sind wir alle. Was kann aber in diesem, dessen Pflanzen keine andre sind als die erlösten Seelen, dessen Früchte keine andre als die Früchte des Geistes, was kann in diesem Weinberge des Herrn irgend einer thun, das nicht auch zu befassen wäre unter diesen Ausdruck: weide meine Schaafe? Mitarbeit und Hülfe an dem Werke, welches der Herr zu verrichten hat an den Seelen, die Gott Ihm gegeben, dies und nichts anderes können wir ihm leisten, wie auch Er von nichts anderem Gebrauch machen kann. Wenn also doch unser aller Leben ein lebendiges Dankopfer sein soll, welches wir ihm darbringen; wenn wir doch, daß Er wahrhaft unsre Seelen geheiligt hat, dadurch beweisen müssen, daß wir mit den Kräften, die wir ihm verdanken, irgend etwas thun: wohlan, so müssen wir ja alle theilnehmen an demselben Werke, welches er in den Worten unseres Textes dem Apostel überträgt. Er knüpft aber diesen Auftrag an die Antwort, welche ihm Petrus giebt auf die Frage: Simon Johanna, hast du mich lieb? Und so erscheint uns eben dies, Christum lieb haben, als das Einzige, was der Herr gleichsam bei einer Prüfung, die er mit diesem seinem Jünger anstellt, eben zu diesem Behuf von ihm fordert, damit er seine Schaafe weiden solle. Hierüber, meine geliebten Freunde, finden wir aber unter den Christen aller Zeiten sehr verschiedene Ansichten. Die Einen halten sich streng an das Wort des Herrn, und sagen, es gebe also auch gar keine andre Ausstattung des Geistes für diesen Beruf, nichts anderes habe der Mensch nöthig sich vorher zu erwerben, um dem Herrn den Dienst zu leisten, zu welchem alle berufen | sind, als daß er immer mehr erstarke in der Liebe zu dem Erlöser, daß er immer freudiger, wie der Apostel antworten könne: Herr du weißt, daß ich dich lieb habe. Andre im Gegentheil behaupten, was übrigens in dem Apostel war, welche Kräfte des Geistes in ihm erweckt, welches Licht der Erkenntniß in ihm angezündet, das habe ja der Herr gewußt; weil aber Petrus gefallen war und ihn verleugnet hatte, so habe er grade über dies Eine können im Zweifel 24 lieb?] lieb! 38–39 Vgl. Joh 18,16–18.25–27

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stehn, oder vielmehr, wenn auch Er, der da wußte was in jedes Herzen war, nicht zweifeln durfte, so hätten doch die übrigen Jünger zweifeln können, ob in diesem auch die Liebe zu dem Herrn noch eben so lebendig sei, als sie vorher gewesen war. Darum also sagen sie, habe der Herr diese Frage an ihn gerichtet, nicht als ob sonst nichts erforderlich wäre seine Schaafe zu weiden, sondern weil von allem andern zwar auch alle andren Jünger wußten, wie und in welchem Maaße es sich in der Seele dieses Jüngers befände, über dieses unentbehrlichste aber er sich erst habe ausweisen müssen. In Beziehung auf diese verschiedenen Ansichten nun, ob die Liebe zu Christo hinreiche, oder ob noch etwas anderes dazu gehöre, den Beruf des Christen zu erfüllen, in dieser Beziehung laßt uns die Worte unsers Textes näher betrachten, und zwar so, daß wir zuerst, was das Nothwendigste ist, die Worte des Erlösers in dieser Beziehung recht zu verstehen suchen; dann auch zweitens, daß wir weiter zurückgehen und mit einander untersuchen, woher denn wol jene verschiedenen Ansichten unter den Christen kommen, um uns auch dadurch in dem, was der Wille und die Meinung des Herrn gewesen ist, noch mehr zu befestigen. | 8

I. Zuerst also, meine geliebten Freunde, wenn wir wissen wollen, auf welche von beiden Seiten sich wol der Erlöser eigentlich hingeneigt habe in den Worten, die wir hier mit einander zu betrachten haben, so werden wir wol den Anfang damit machen müssen zu fragen, was doch dazu gehöret, der Natur der Sache nach, den Auftrag, den der Herr hier seinem Jünger giebt, auszurichten: Weide meine Schaafe. Dazu nun gehört unstreitig, um bei dem bildlichen Ausdruck stehen zu bleiben, dessen sich der Erlöser selbst bedient, vorzüglich zweierlei, einmal die Schaafe der Heerde müssen gehütet werden, dann aber müssen sie auch genährt werden. Auf beides erstreckt sich die Sorgfalt des Hirten; beides also fordert der Herr auch von seinem Jünger und vertraut es ihm an. Wohl! so laßt uns nun weiter fragen, wodurch denn und auf welche Weise die Seelen der Menschen behütet werden, daß sie sich von der Heerde des Herrn nicht wieder entfernen oder verlaufen, und daß ihnen in derselben keine Gefahr nahe und kein Uebel sie treffe? Gewiß antworten wir alle einstimmig, die Liebe zu ihm sei das erste Erforderniß; sie muß in jedem die Lust hervorrufen, seine und andrer Seelen in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm zu 4 Darum] Darum, 1–2 Vgl. Joh 2,25

27 Dazu] Dazu,

35 kein] kein,

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erhalten; sie muß die Aufmerksamkeit schärfen für alles dasjenige, was eben dieser Gemeinschaft feindselig ist. Aber wenn wir nun weitergehen und behaupten sollen, die Liebe zu dem Erlöser allein reiche hin, so scheint es freilich, wir müßten dies verneinen. Welche Kenntniß von dem menschlichen Herzen in seinem Trotz und in seiner Verzagtheit gehört nicht dazu, um trotz beider die Seelen zu hüten! mit welchen scharfen Blicken des Geistes müssen wir eingedrungen sein in die geheimen verborgenen Falten desselben, wenn wir | das richtig bemerken und ehe es zu spät ist aufspüren wollen, was in den Seelen der Menschen selbst ihrer Gemeinschaft mit dem Erlöser gefährlich ist, wenn wir das Verderben noch in seinen ersten Regungen bemerken und es denen selbst in welchen es sich regt bemerklich machen wollen, damit sie umkehren, wo möglich noch ehe sie eigentlich angefangen haben sich zu verirren! Wie bekannt müssen wir sein mit den Wegen der Sünde, mit den verschiedenen Nachstellungen, welche diejenigen, die noch versunken sind in das Tichten und Trachten des irdischen Lebens und der sinnlichen Lust, denen zu bereiten pflegen, die eben anfangen wollen zum höhern geistigen Leben hindurchzudringen! Welche immer nur theuer erworbene Erfahrungen von dem Lauf der Welt gehören nicht dazu, um, was Heuchelei und Verstellung hervorzubringen wissen, von der Wahrheit und ihren Früchten zu unterscheiden um die Unerfahrenen warnen zu können, und den betrüglichen Schein der Anmuth und Güte aufzulösen, hinter welchen sich nur zu oft diejenigen verbergen, welche gern Andere auf die Wege des Verderbens locken möchten! Ja denken wir hieran, so müssen wir wohl gestehen, daß außer der Liebe zu Christo auch noch die rechte Weisheit dazu gehöre, seine Schaafe zu weiden. Sehen wir nun weiter auf das zweite, daß die Seelen, die zu der Heerde des Herrn gehören, auch sollen genährt werden: was für eine andre Nahrung giebt es für die Seelen als das göttliche Wort? Keine gewiß! denn das Wort welches Fleisch geworden ist und in die Welt gekommen, ist auch das wahre Brot des Lebens, das vom Himmel kommen ist. Und Christus selbst sagt, das Fleisch sei kein nütze, seine Worte aber seien Geist und Leben. Wer also die erlösten Seelen nähren will, der muß ihnen zu spenden und auszutheilen wissen das göttliche Wort. Nun ist | gewiß, daß sollen wir dieses selbst genießen und dann auch damit haushalten, so muß zuförderst die Liebe zu Christo gegründet sein, welche es erkennt, daß Er allein Worte des Lebens hat. Aber nächstdem was gehört nicht auch hiezu wieder auf der einen Seite für eine richtige Be12 welchen] welchem 30–31 Vgl. Joh 1,14

31–32 Vgl. Joh 6,35.41.48.51

33–34 Vgl. Joh 6,63

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urtheilung menschlicher Verhältnisse und des Zustandes, in welchem sich die Gemüther befinden, zu bestimmen welches jedes mal die nothwendigste und zweckmäßigste Nahrung für die Seele sei, und aus dem großen Reichthum und der unendlichen Fülle des göttlichen Wortes dasjenige mit rechter Weisheit auszuwählen, was jedes Gemüth in der Verfassung, worin es sich grade befindet, am meisten zum Guten kräftigen, und am sichersten nähren kann? Aber dann noch weit mehr auf der andern Seite, was gehört dazu, um das göttliche Wort recht austheilen zu können, wenn wir nun auch wissen, wie es jedem ausgetheilt werden soll? Doch gewiß dies, daß wir es zuerst selbst rein und vollkommen verstehen. Aber es ist von uns entfernt durch den Zwischenraum einer großen Reihe von Jahrhunderten, es ist abgefaßt in einer fremden und nicht mehr lebendigen Sprache; und doch kann die wahre und vollkommne Erkenntniß des göttlichen Wortes nur die sein, die am genauesten zusammentrifft mit der Art, wie unter allen, die es lebendig aus dem Munde des Herrn und seiner Apostel hörten, die aufgewecktesten und geneigtesten und die am besten vorbereiteten es aufgefaßt und sich angeeignet haben. Ein Zurückversetzen also in ferne Zeiten und uns fremde menschliche Verhältnisse, eine Kenntniß fremder Sprachen und Sitten gehört dazu, um richtig das Wort Gottes auszutheilen. Darum, sollen wir unsere Brüder mit dem göttlichen Worte nähren, und so die Schaafe Christi weiden, so ist auch dazu freilich die Liebe zu ihm die erste Bedingung; denn diese ist ei|nerlei mit unserer eigenen Lust und Freude am göttlichen Wort, und sie nur kann uns drängen zu diesem ganzen Geschäft, weil wer Christum selbst nicht liebt auch seine Heerde nicht liebt. Allein will man nun behaupten die Liebe allein reiche hin so werden wir das auch hier verneinen, und zwar von uns noch weit mehr als von seinen ersten Jüngern, und werden sagen müssen, daß außer der Liebe auch noch die rechte Erkenntniß dazu gehöre. Wenn wir also die Sache von dieser Seite betrachten, so scheinen diejenigen Recht zu haben, welche meinen, als der Erlöser seinem Jünger den Auftrag ertheilen wollte seine Schaafe zu weiden, habe er nach seiner Liebe zu ihm vorzüglich deshalb gefragt, weil es zweifelhaft habe sein können, ob er in dieser noch stehe, alles übrige aber, was ihm dazu nöthig gewesen, die Weisheit und die Erkenntniß habe er bei ihm vorausgesetzt und als bekannt angenommen. Aber meine geliebten Freunde, laßt uns, damit jedem sein Recht widerfahre, die Sache nun auch von einer andern Seite betrachten. Denkt euch die Liebe zu Christo recht lebendig in uns; müssen wir dann nicht auch nothwendig einen innigen Antheil nehmen an dem ganzen großen Werke des Herrn? Müssen wir dann nicht von Begierde brennen, auf der einen Seite ihn selbst, auf der andern Seite den gan-

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zen Umfang des großen Werkes Gottes, welches ihm anvertraut ist, nach dem Maaße unsrer Kräfte kennen zu lernen? Das Gegentheil würde ja offenbar Gleichgültigkeit verrathen! Wenn wir aber den Erlöser kennen wollen, ihn als den allein Reinen und Guten, als den vollkommenen Menschen Gottes: müssen wir dann nicht zugleich auf der andern Seite immerfort in das sündige menschliche Herz hineinschauen, um eben, was in demselben das Werk des Erlösers ist und die Züge seines Bildes trägt, von demjenigen unterscheiden zu | können, was aus menschlicher Verdorbenheit herrührt, ihm aber fremd war, damit der Gegenstand unsrer Liebe immer rein und heilig gehalten werde, und nichts Fremdes sich in denselben mische? Also sehen wir ja, daß die Liebe zu dem Erlöser schon von selbst in uns erzeugt eben jene Kenntniß des menschlichen Herzens und aller seiner Tiefen und Verirrungen, welche nothwendig ist, um die Schaafe des Herrn mit Weisheit zu weiden und unsre Arbeit in seinem Reiche zu verrichten! Und eben so, wäre es wol möglich, daß wir den Herrn lieben können, ohne mit herzlicher Begierde zu lauschen auf jedes Wort seines eigenen Mundes und auf jedes, welches der Geist, der aus der Fülle Christi nahm und ihn verklärte, durch den Mund seiner Jünger geredet hat? Kann es jene lebendige Liebe zu dem Erlöser geben ohne eine fleißige Beschäftigung mit dem Wort? Und wenn denn auch von diesem nicht alles jeglichem zugänglich ist, weil manches freilich mehr, manches weniger von jenen Hülfsmitteln bedarf, die auf allerlei menschlicher Weisheit und geschichtlichen Kenntnissen beruhen: fühlen wir nicht dennoch, daß in der christlichen Gemeinschaft, in welcher niemand sein Pfund vergräbt, jedem Hülfsmittel genug zu Gebote stehn, um zu einer solchen Kenntniß des göttlichen Wortes zu gelangen mit welcher er ausreichen kann, um soviel es von ihm zu verlangen ist, auch die Seelen seiner Brüder zu nähren, und ihnen die Speise des Trostes und der Wahrheit zur rechten Zeit aus der Fülle dieses göttlichen Schatzes darzureichen? Ja ich will noch mehr sagen. Wir haben auf dieser Welt jeder seinen besonderen Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft, nach Maaßgabe des Ortes, auf welchen ihn der Herr gestellt hat, und Jeder bedarf zum Behuf des seinigen, um ihn weislich und mit Erfolg zu üben, ebenfalls mancherlei Kenntnisse | der Welt und des Menschen, und muß sich in Handhabung mancherlei menschlicher und irdischer Dinge Geschick und Einsicht erwerben. Wollen wir nun sagen, daß diese ganze Berufsthätigkeit der Liebe zu dem Erlöser fremd sei, so daß alle Lust und Freude davon aus einer andern Quelle als dieser Liebe herkomme? wollen wir sagen, daß, wenn wir hierauf unsere 18–19 Vgl. Joh 16,14–15

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Zeit verwenden und unsere Geisteskräfte dabei anstrengen, wir dann von einem andern Triebe müssen beseelt werden, so daß jeder der irgend einen irdischen Beruf übe, nothwendig müsse getheilten Herzens sein zwischen der Liebe zu diesem und der zum Erlöser, und dem einen entziehen müsse, was er dem andern geben wolle? Keinesweges, meine geliebten Freunde! vielmehr steht alles was die Kräfte der Christen mit Recht in Anspruch nimmt, auch in Verbindung mit dem großen Werke des Erlösers auf Erden. Und wenn seine Apostel ihren Gemeinden anempfehlen, jeder solle arbeiten mit seinen Händen, daß er etwas Gutes schaffe, und solle nach allem trachten, was löblich ist und wohllautet: so sind auch diese Vorschriften eben daher geflossen wie alle anderen, weil die Liebe Christi seine Apostel drängte; und von derselben Liebe sollen auch die Christen bei der Ausübung dieser Vorschriften getrieben werden. Denn wer den Herrn wahrhaft liebt, der will ihm auch Ehre machen vor den Menschen, der will die geistige Gegenwart des Herrn verherrlichen helfen auf das schönste, der will die ganze Seele so gänzlich durchdrungen darstellen von der Liebe zu ihm, alle ihre Bewegungen so durch ihn geheiligt, und die Liebe zu ihm als eine solche Kraft, welche den Gläubigen in allem, was zum menschlichen Leben gehört, weiter führt, und alle Hindernisse reiner und kräftiger zu besiegen im Stande ist, als irgend ein anderer Antrieb dem er folgen könnte. Eben so gewiß aber ist auch dieses, daß alle | jene menschlichen Erkenntnisse und Einsichten, welche, aus der Liebe zu Christo fließend, uns in allen Theilen unseres Berufes fördern, wenn sie aus irgend einer andern Quelle herrühren, nicht anders als verderblich werden können. Eine Kenntniß der Welt und des menschlichen Herzens, die nur gleichsam erschlichen ist, um mit größerem Erfolg Entwürfe des Eigennutzes auszuführen oder dem Ehrgeiz zu fröhnen, wird nicht nur nichts ausrichten können im Reiche Gottes und keine menschliche Seele fördern, sondern auch am Ende ihren Besitzer selbst um seine thörichten Zwecke betrügen. Alle Kenntniß vergangener Zeiten, erstorbener Sprachen, und alles, was zu einer gründlichen und tiefen Einsicht in die verschiedenen Theile des göttlichen Wortes gehört, wenn sie nur erworben sind um damit vor der Welt zu glänzen, um den menschlichen Geist deswegen, weil er seine höchste Bestimmung verkennt, auf einem andern Gebiete zu befriedigen und zu sättigen, und es wollte sich Einer dennoch damit an die Erforschung des göttlichen Wortes geben wie an eine andere menschliche Angelegenheit: o gewiß, eine lebendige und richtige Erkenntniß desselben wird er so nicht erlangen; und weit entfernt, daß einer, so ausgerüstet zur Aus9–10 Vgl. Eph 4,28

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theilung des göttlichen Wortes schreitend, im Stande sein sollte die Schaafe des Herrn zu nähren, wird sein Thun vielmehr ihm selbst zum Fall gereichen. Darum, meine geliebten Freunde, ist es doch nichts anderes als die Liebe zu Christo allein! Wenn wir sie nur betrachten zusammengenommen mit alle dem, was aus ihr hervorgeht: so reicht sie hin, um den großen Beruf, den in den Worten unsers Textes der Herr allen seinen Jüngern gegeben hat, in dem Maaße zu erfüllen als er es von jedem fodert. Hat einer vorher gedankenlos hingeträumt und wenig Sorge getragen die in jeder Seele verborgenen Schätze | hervorzuholen und zu gebrauchen: so ist sie es, welche ihn zuerst weckt, und ihn treibt nach Maaßgabe des Ortes, auf welchen der Herr ihn gestellt hat, alles um sich zu sammeln und in sich aufzunehmen, was ihn fähig macht den großen Beruf aller Diener des Herrn in der Welt zu erfüllen. Ist hingegen einer schon früher, ehe er in die lebendige Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe mit dem Erlöser trat, auf einem andern Wege eifrig gewandelt, und hat seine Seele mit Kenntnissen bereichert, und ihr Fertigkeiten angebildet aus irgend einem andern Antriebe: wie wird ein solcher verwandelt von der Liebe zu dem Erlöser, sobald diese sich seiner Seele bemächtigt! Sie durchdringt sein ganzes Wesen, gestaltet in ihm alles um, giebt allem eine neue Richtung, daß es aus dem Dienst der Eitelkeit erlöset nun Kraft und Leben zum Guten wird, so daß er dasteht als eine neue Kreatur, alle Vermögen seiner Seele auf eine lebendige Weise mit dem Triebe, der ihn beseelt, verbunden und keinem andern dienend als diesem. So erscheinen uns nun auch jenen ersterwähnten ähnlich in jeder Beziehung die frühern Apostel des Herrn. Diese fand Er als schlichte, in wohlmeinender Frömmigkeit das Bessere ahndende und hoffende Seelen; aber schwach ausgerüstet, fern von tiefer Erkenntniß des göttlichen Wortes und so auch des menschlichen Herzens und der Welt, in welche sie gestellt waren. Aber alles empfingen sie von Ihm; die Liebe zu Ihm und der freudige Glaube in Ihm den Verheißenen gefunden zu haben, und die innige Dankbarkeit dafür, daß Er sie zu Seinen Werkzeugen erwählt hatte, dies trieb und drängte sie, alle Worte der Weisheit aus Seinem Munde aufzunehmen und in dem Innersten ihres Herzens zu befestigen, und so konnten sie hernach auftreten und lehren anders und kräftiger als die, welche von Jugend an unterwiesen waren in | der Schrift und in den Satzungen der Väter. – Aehnlich hingegen denen, welche früher auf einen andern Weg abgeirrt waren, erscheint uns der Apostel, den der Herr sich erwarb, eben indem er im Verfolgen Seiner Gemeine 27 Herrn] Herrrn

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begriffen war. Dieser hatte zu den Füßen großer Lehrer gesessen, und war ausgerüstet mit aller Weisheit seines Volkes, welche sich vorzüglich bezog auf alles, was zu den früheren göttlichen Offenbarungen gehört; eben so war er geübt in allem was irgend erfoderlich war, um in dem Berufe des Schriftgelehrten und des Lehrers, den er sich gewählt hatte, seines Erfolges gewiß zu sein. Aber wie gestaltete sich alles um von dem Augenblick an, wo er erkannte, daß der Weg den er verwüstete von Gott sei, als die Stimme ihn faßte: „es wird dir schwer werden anzustreben gegen die Gewalt, die auch dich vorwärts treibt!“ von dem Augenblick an, wo die Frage einen tiefen Eindruck auf ihn machte: „Saul, Saul, warum verfolgst du mich?“ wo sein Herz den Herrn erkannte und den großen Beruf annahm, von Ihm gesandt zu werden unter alle Völker, und unter ihnen das Evangelium zu verkündigen! Von dem Augenblick ward alles auf den Einen Zweck gerichtet, alles in seiner Seele der Liebe zu Christo untergeordnet, von ihr regiert und durchdrungen, und konnte so Dienste leisten in dem Werke des Herrn; so daß, soviel Gebrauch Paulus auch machte von dem was er von Jugend auf gelehrt worden war, er doch immer mit Recht sagen konnte, er komme nicht mit menschlicher Weisheit; denn es verwandelte sich ihm alles in eine wahrhaft göttliche Weisheit, Wissenschaft und Kunst. Wollten wir aber deshalb meinen, daß weil aus der Liebe zu Christo alles hervorgehen muß, was wahrhaft wirksam sein kann in seinem Reiche, auch jeder Einzelne in dem Maaße als die Liebe zu Christo | ihn beseelt und dringt alles leisten könne; und wollte deshalb jeder sich zu allem drängen was in dem Reiche Gottes zu thun vorkommt: so wäre dies eine falsche Vorstellung von menschlichen Dingen, und eine Verblendung der Eitelkeit. Nein, meine geliebten Freunde, wenn wir uns betrachten abgesehen von allem, was unsere Wirksamkeit in dieser Welt näher bestimmt und ihr erst eine feste Richtung giebt: so gleichen wir mit aller unsrer Liebe zu Christo erst jenen, von denen der Herr in seinem Gleichnisse sagt, daß sie an dem Markte ständen und warteten, bis jemand sie dinge zur Arbeit; da kommt dann der Herr und führt in seinen Weinberg, so oft er welche findet, und weiset jedem seine Arbeit an nach seinen Kräften und Umständen. So auch wir, haben wir nur Liebe zu Christo, so wird es nicht fehlen; der Herr ruft uns, den einen hierhin, den andern dorthin; wohin und wann, das bestimmt sich durch die Verhältnisse, in denen jeder lebt, und die mehr Begünstigungen für den einen, mehr Hemmungen für den andern mit sich führen; denn jeder wird doch gewiß 1–4 Vgl. Apg 22,3 8–10 Vgl. Apg 9,5; 26,14 1Kor 2,4 32–36 Vgl. Mt 20,1–7

11 Apg 9,4; 22,7; 26,14

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beide erfahren. Aber wie auch einem jeden sein Loos geworfen sei: Arbeiter in dem Weinberge des Herrn wird er nur, insofern die Liebe zu Christo ihn dringt und ihm zeigt, was ihm an der Stelle, wohin ihn der Herr gestellt hat, zu thun gebühre. Dafür also hat jeder zu sorgen, übrigens aber nichts auf menschliche Kunst oder Willkühr zu bauen. Denn alles übrige ist das geheimnißvolle Werk der göttlichen Führungen, und wird gewiß grade deswegen oft so wunderbar geleitet, damit keiner sich einbilde es selbst lenken zu können, sondern erkenne, daß der Herr sich selbst vorbehalten hat nach dem verborgenen Gang seiner Rathschlüsse einem jeden die Stelle anzuweisen in seinem Weinberge, wo er die Schaafe der Heerde zu weiden bestimmt ist nach dem Maaße seiner Einsichten und seiner Kräfte. | Darum, meine geliebten Freunde, scheint es, als ob unter den Christen eigentlich kein Streit darüber sein könnte, inwiefern die Liebe zu Christo zureiche oder nicht, um den Beruf, den uns der Herr ertheilt hat, zu erfüllen. II. So laßt uns denn, meine geliebten Freunde, noch mit Wenigem sehen, woher dennoch dieser Streit entstanden und worin er gegründet ist. Natürlich darin, daß zu beiden Seiten der Wahrheit zwei entgegengesetzte Abwege laufen, auf jeder Seite einer, wie denn die Menschen auch im Reiche Gottes auf solche zu gerathen pflegen. Derjenige nun welcher einschärft die Liebe Christi allein reiche hin, und der Mensch bedürfe weiter nichts als sie, der will gegen den einen warnen; der andere aber welcher sagt, die Liebe Christi sei zwar der erste und unentbehrlichste Grund, aber vieles andre bedürfen wir noch, wenn wir wahrhaft Frucht bringen und dem Herrn nützlich sein sollen, der will dem andern entgegentreten. Der erste Abweg besteht darin, daß viele auch fromme Menschen nicht genug bedenken, was der Herr meint, wenn er sagt: „mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die Gemeine des Herrn lebt immer noch im Kampfe gegen das, was die Schrift im Gegensatz gegen sie die Welt nennt; immer noch währt der Streit des Lichtes gegen die Finsterniß. Denn immer noch, wie hell auch das Licht in die Finsterniß scheint, giebt es einen Theil derselben, der es nicht aufgenommen hat; und so lange währt der Kampf des Guten gegen das Böse, der einfachen himmlischen Wahrheit gegen die Verkehrtheit der Kinder dieser Welt, der Kampf den wir alle kennen. Aber weil dieser Kampf nicht immer leicht ist, sondern die Gemeine des Herrn noch oft hier und dort in Bedrängniß geräth, so hegen noch im|mer Viele aus lebendiger freilich und inniger aber falsch geleiteter 30 Joh 18,36

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Liebe zu Christo und seinem Reiche die Meinung, wenn doch die Welt durch Anwendung äußerer Mittel, Macht und Ansehn, die Gemeine des Herrn bedränge, so würde auch diese ihrerseits wohl thun, wenn sie suchte sich Kräfte und Hülfsmittel aller Art zu verschaffen, damit sie ihr eben so widerstehen könne, wie sie angegriffen wird; wenn durch menschliche Weisheit und Kunst die Gegner des Evangeliums den einfältigen Bekenner desselben zu hintergehen suchen, so müßten auch wir suchen durch einen zweckmäßigen Gebrauch menschlicher Wissenschaft und Kunst die Gegner einzuschüchtern und irre zu machen. Und so wird denn gar leicht das große Wort vergessen was der Herr gesagt hat: „wenn mein Reich von dieser Welt wäre, so würden meine Diener auch mit den Waffen dieser Welt dafür kämpfen“, und sie kämpfen doch mit den Waffen dieser Welt für das Reich Gottes, und richten dadurch nur noch mehr Verwirrung und Ungewißheit in demselben an, trüben das Licht und vermehren die Finsterniß. Wenn nun solches geschieht, dann ist es Zeit daran zu erinnern, daß Christus, als er seinem Jünger auftrug seine Schaafe zu weiden, ihn auf nichts anders geprüft habe als auf die Liebe zu Ihm. Was also aus dieser hervorgeht, das müsse auch zum Nutzen angewendet werden für die Heerde des Herrn; alles andre aber, was dieser Liebe fremd ist, könne auch nicht wohlthätig wirken in Seinem Reich und könne Seine Heerde weder beschützen noch fördern. Solches ist aber geschehen, und auf diesen Abweg ist die christliche Kirche vielfältig gerathen, seitdem sie aus einer verfolgten und höchstens geduldeten eine herrschende geworden ist, vorzüglich aber seitdem sie in einem ausgezeichneten Sinne die Römische hieß. Denn nun ward sie, von der weltlichen Gewalt geehrt und | verherrlicht, auch selbst mit solcher Gewalt bekleidet, und alle Waffen der Macht wurden ihr dargereicht, um sie zu ihren Zwecken zu gebrauchen. Und wie auch die weltliche Macht sich auf mancherlei Weise auch der Rede bedient um ihre Absichten zu erreichen: so ward auch hier eine Kunst der Rede aufgenommen und geübt, oft schmeichlerisch und betrüglich genug um Absichten zu erreichen, welche durch soviel weltliche Bestrebungen verunreinigt waren. Und freilich gehörte auch mehr dazu, als nur die Liebe Christi, um die Heerde desselben an das beschwerliche Joch zu gewöhnen, unter welchem sie gefangen sollte gehalten werden. So ward denn statt eines wahren Tempels des göttlichen Geistes ein Gebäude aufgeführt, in welchem denen, welche die geistige Verbindung mit dem Erlöser wahrhaft hatten kennen gelernt, und nur in dieser ihre Seligkeit schaffen wollten, je länger je mehr unmöglich sein mußte zu wohnen, bis endlich der Herr die Zeit kommen ließ, für welche wir ihm an unsern Versammlungstagen so oft danken in un11–12 Vgl. Joh 18,36

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serm Morgengebet, die Zeit wo das hellere Licht des Evangeliums uns wieder scheinen konnte, und wir zurückkehrten zu dem lebendigen Grundbewußtsein des Christen, daß das Reich des Herrn nicht von dieser Welt ist, daß keine weltliche Macht oder Kunst es jemals beschützen und verteidigen kann, daß allein die geistige Kraft im Stande ist es gegen alle Stürme und Anfechtungen stehen zu machen, und daß in allen, welche zu demselben gehören, keine andre Kraft herrschend sein darf als die Liebe zu dem Erlöser und alles, was durch sie in den Seelen der Menschen erzeugt wird. Der andre Abweg aber, meine geliebten Freunde, ist der, daß es gar viele Christen giebt, welche die Liebe zu dem Erlöser ganz in eine stille und einsame Liebe des Genusses verwandeln möchten. In | das Bewußtsein Seiner geistigen Nähe und Gegenwart wollen sie sich vertiefen; sie verehren und lieben Ihn als den von welchem alles Gute und Schöne herrührt, was sich in ihrem Herzen regt, und der sich auch dessen wieder liebend erfreut. Das nun ist schön und recht, und gewiß kein Abweg. Aber wenn sie von nichts andrem wissen wollen als von solchem Genuß, und dabei die ganze Welt um sich her so gut als vergessen: was entsteht anders daraus als ein in sich selbst abgeschlossenes und eben deshalb für den großen Zweck des Erlösers eigentlich unthätiges Leben? Denn es ist offenbar, daß ein Mensch doch immer selbstsüchtig ist, wenn er sich an seinem eignen Heil genügen läßt; und daß er dann immer gleichgültiger wird gegen den ganzen äußern Beruf des Christen, und gegen das große Werk des Erlösers in der Welt, um deßwillen ihm doch vorzüglich unsre innige Liebe und unsre ausschließende Verehrung gebührt, daß er nicht sich selbst lebte, sondern gekommen war zu dienen, zu suchen und selig zu machen das Verlorne, und die Mühseligen und Beladenen zu sich zu rufen. Wenn der Mensch nun sich selbst zwar verloren und verirrt fühlt und gern den Erlöser kommen sieht, der ihn selig machen will; wenn er sich selbst mühselig und beladen fühlt, und nicht vergeblich die Spur des Weges findet zu dem, der allein seine Seele erquicken kann; aber es bleibt seiner Seele fern und fremd, daß der Erquickte nun auch gedeihen soll in allem Guten und Schönen, daß auch er sich aufmachen soll in der Kraft der Liebe zu dem Herrn, um selig zu machen und zu erquicken, und daß jeder nicht nur ein Schaaf aus der Heerde sein soll, sondern auch selbst berufen ist die Schaafe des Herrn mit zu weiden: so ist das ein Abweg; und je mehrere Seelen ihn einschlagen, und wenn auch nicht jede für sich allein sein will, sondern sie sich zu | Hunderten mit einander aber immer nur dieser in sich gekehrten genießenden Liebe erfreuen, um desto mehrere zerstreuen 26–27 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

27–28 Vgl. Lk 19,10

28–29 Vgl. Mt 11,28

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sich von dem Reiche Gottes, daß es nicht bestehen, und von dem Werke Gottes, daß es nicht fortgehen kann. Dann wird es nun hohe Zeit, daß die entgegengesetzte Stimme sich vernehmen läßt gegen solche einsame und in unthätiger Liebe zu dem Erlöser versunkene Seelen und ihnen sage: an einer solchen Liebe ist es nicht genug, sondern es gehört mehr dazu um dem Ruf den Christus auch an Euch ergehen läßt zu genügen; wollt ihr wirklich mit ihm leben, so müßt ihr auch für ihn handeln; sind Gaben des Geistes in Euch gewirkt, so müßt Ihr auch damit thätig sein im Reiche Gottes. Insofern kann man freilich sagen, es gehöre noch etwas anderes dazu als die Liebe zu Christo um seine Schaafe zu weiden; aber die vollkommne Wahrheit ist doch nur die, daß eine solche Liebe nicht die wahre Liebe sei, sondern nur eine unreine und noch selbstsüchtige Liebe. Denn der Herr ist nicht gekommen, um in einzelnen Seelen zu wohnen, und in jeder besonders sein Leben auf eine geheimnißvolle Weise zu beginnen, sondern durch die Gemeinschaft sollen die Segnungen seines Daseins sich über Alle verbreiten; und nicht eher soll das aufhören, als bis alle Schaafe gesammelt sind aus allen Gegenden der Welt, nicht eher als bis alle herangereift sind zur männlichen Vollkommenheit Christi, nicht eher als bis seine Kirche in Beziehung auf alles was zu dem Beruf des Menschen auf Erden gehört tadellos vor ihm steht. Wer nun an diesem Werke des Herrn nicht arbeitet, der liebt nicht das Werk des Herrn; und wer dieses nicht liebt, der würde sich vergeblich rühmen, wenn er sich rühmen wollte ihn zu lieben. Haben wir also eine dürftige und armselige Liebe zu dem Erlöser vor uns, die aber gewiß auch immer unrein und falsch sein wird, wenn | sie sich doch nur auf den eignen Genuß beschränkt: so haben wir Recht zu sagen: um den ganzen Beruf des Christen zu erfüllen, dazu gehört mehr als die Liebe. Haben wir es aber zu thun mit der wahren und kräftigen Liebe zu Christo, wie sie in den Aposteln war, und wie sie immer in allen treuen, lebendig thätigen und auf das gemeine Wohl bedachten Christen gewesen ist: so müssen wir sagen: wir haben nichts anderes nöthig als sie; aus ihr wird alles hervorgehen, was wir irgend nur gebrauchen können als Arbeiter in dem Weinberge des Herrn. Aus ihr wird sich jegliche Kraft entwickeln, die jeder bedarf um da wirksam zu sein, wohin ihn der Herr gestellt hat; und so werden wir mit unserm ganzen Dasein den Herrn preisen können, wenn alles, was unter Christen lieblich ist und löblich und wohllautet, aus keiner andern Quelle kommt als aus der Liebe zu dem Herrn. Es ist also auch hier nicht anders als mit dem Streit, ob der Glaube genug sei, den Menschen gerecht und selig zu machen, oder ob zu dem Glauben noch die Werke hinzukommen müssen. Wie dieses im16 Segnungen] Segungen

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mer nur ein leerer Streit ist um Worte – denn der Glaube ist kein rechter Glaube, sondern ein todter, wenn er nicht thätig ist durch Werke; und die Werke sind keine rechten Werke, sondern nur todte, wenn sie nicht aus dem Glauben kommen; – eben so auch der Streit, ob die Liebe genug sei, um die Schaafe des Herrn zu weiden, oder ob noch anderes dazu gehöre, ist ein leerer Wortstreit; denn die Liebe zu dem Erlöser ist nicht die wahre, welche nicht das wirkt, daß wir alle unsre Kräfte ihm weihen und heiligen, und mit denselben wirken für sein Reich. Thut sie das, so bedürfen wir nichts weiter. Alles Eingreifen in menschliche Dinge, wozu auch die Christen als Menschen berufen werden, alle Kenntniß dessen was noth ist, um Christi Sache | auf Erden zu fördern, das alles wird sich entwickeln, wenn nur in jedem Augenblick, in jedem Theil unsres Lebens die rechte Liebe zu Christo uns beseelt, wenn wir alles, was uns an unserm Ort zu thun vorkommt, aus keinem andern Gesichtspunkte betrachten, als daß auch dies in sein heiliges Reich gehört. Und so bleibe es denn, meine geliebten Freunde, bei dem Einen, als dem allein nothwendigen; nur laßt es uns auch in seiner ganzen Fülle und Herrlichkeit empfinden, und klar einsehen, was zu dem Einen gehört. Laßt uns mit diesem anvertrauten Pfunde wuchern, und alles damit hervorbringen, wodurch das Reich Gottes verherrlicht werden kann, damit, wenn der Herr auch uns dasselbe fragt in dem Innersten unseres Herzens, wie er in den Worten unsres Textes den Petrus fragte, auch wir mit gutem Gewissen antworten können: „Herr du weißt, daß ich dich lieb habe.“ Dann werden wir alle mit Freude und mit froher Hoffnung, daß das Wort nicht vergeblich geredet ist, von ihm den Ruf hören: So gehe denn hin und weide meine Schaafe. Amen.

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Tex t. Johannes XXI,16. Spricht er zum andernmal zu ihm: Simon Johanna, hast du mich lieb? Er spricht zu ihm: Ja Herr, du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: weide meine Schaafe. M. a. F. Einen größern Auftrag giebt es nicht, als welchen der Herr in diesen Worten seinem Apostel gab. Er selbst nennt sich den Hirten seiner Heerde; 1–3 Vgl. Jak 2,17

3–4 Vgl. Röm 3,28; Gal 2,16

34 Vgl. Joh 10,12.14

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sein eigenes Geschäft also zu verrichten in seinem Namen unter seiner des Oberhirten Aufsicht und Leitung, das war es, was er in diesen Worten dem Apostel auftrug. Aber eben dieser Auftrag m. a. Fr. ist nicht etwa ein ausschließender des Apostels Petrus, nicht ein ausschließender für die übrigen Apostel, nicht ein ausschließender für diejenigen, die auch jetzt noch auf eine ausgezeichnete Weise dem Herrn in seiner Gemeine dienen; sondern es ist der Beruf aller Christen; Arbeiter in seinem Weinberge sind wir alle. Was kann aber in diesem, dessen Pflanzen keine andre sind als die erlösten Seelen, dessen Früchte keine andre als die Früchte des Geistes, was kann in diesem Weinberge des Herrn irgend einer thun, das nicht auch zu befassen wäre unter diesem Ausdruck: | weide meine Schaafe? Nichts anderes als eine Arbeit und Hilfe an dem Werke des Herrn, welches er zu verrichten hat an den Seelen, die Gott ihm gegeben, nichts anderes als dies können wir ihm leisten. Und wenn also doch unser aller Leben ein lebendiges Dankopfer sein soll, welches wir ihm darbringen; wenn wir doch dies, daß er unsre Seelen geheiligt hat, dadurch beweisen müssen, daß wir mit den Kräften, die wir ihm verdanken, irgend etwas thun: wohlan so müssen wir alle Theil nehmen an diesem Werke, welches er hier dem Apostel überträgt. Er knüpft aber diesen Auftrag an die Antwort, welche ihm Petrus giebt auf die Frage: Simon Johanna, hast du mich lieb? Und so erscheint uns eben dies, Christum lieb haben als das Einzige, was der Herr gleichsam bei einer Prüfung, die er mit diesem seinem Jünger anstellt, von ihm fordert eben zu diesem Beruf, damit er seine Schaafe weiden solle. Hierüber m. g. F. finden wir unter den Christen aller Zeilen sehr verschiedene Ansichten. Die Einen halten sich streng an das Wort des Herrn und sagen, es gebe weiter nichts, keine andere Ausstattung des Geistes, nichts was sich der Mensch vorher erwerben müsse, um dem Herrn den Dienst zu leisten, zu welchem alle berufen sind, als daß er immer mehr erstarke in der Liebe zu dem Erlöser, daß er immer freudig | wie der Apostel antworten könne: Herr du weißt, daß ich dich lieb habe. Andere im Gegentheil sagen, was übrigens in dem Apostel war, welche Kräfte des Geistes in ihm erweckt, welches Licht der Erkenntniß in ihm angezündet, das wußte der Herr. Weil aber Petrus gefallen war und ihn verläugnet hatte: so hätte er können ein Zweites thun; oder wenn auch Er, der da wußte was in jedem Herzen war, nicht zweifeln durfte, so konnten doch die übrigen Jünger zweifeln, ob in diesem auch die Liebe zu dem Herrn noch eben so lebendig vorhanden war. Darum, sagen sie, richtete der Herr seine Frage an ihn, nicht als ob sonst nichts nothwendig wäre seine Schaafe zu weiden; sondern weil dies das Unentbehrlichste ist, von allem andern aber alle andern wußten, wie und in welchem Maaße es sich 12 welches] welche

15 soll,] soll;

32–33 Vgl. Joh 18,16–18.25–27

20 Johanna] Johanne 33–34 Vgl. Joh 2,25

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in der Seele des Jüngers befände. – In Beziehung auf diese verschiedenen Ansichten, ob die Liebe zu Christo hinreiche, oder ob noch etwas anderes dazu gehöre, um den Beruf des Herrn zu erfüllen, in dieser Beziehung laßt uns die Worte unseres Textes näher betrachten, und zwar so, daß wir zuerst, was das Nothwendigste ist, suchen die Worte des Erlösers in dieser Beziehung recht zu verstehen; dann auch zweitens, daß wir weiter zurückgehen und mit einander untersuchen, woher denn wohl diese verschiedenen Ansichten unter den Christen kommen, um uns auch dadurch in dem, was der Wille und die Meinung des Herrn gewesen ist, zu befestigen. | I. Zuerst also m. g. F. laßt uns fragen, auf welche Seite wohl der Erlöser in den Worten, die wir hier mit einander zu betrachten haben, sich hinneigt. Hierauf werden wir uns aber wohl die Antwort nicht anders geben können, als wenn wir fragen, was denn wohl dazu gehört, der Natur der Sache nach, den Auftrag, den der Herr seinem Jünger giebt, auszurichten: weide meine Schaafe. Dazu, um bei dem bildlichen Ausdruck selbst stehen zu bleiben, dessen sich der Erlöser bedient, gehört wohl vorzüglich zweierlei, einmal, daß die Schaafe der Heerde müssen gehütet werden, dann aber, daß sie müssen genährt werden; auf beides erstreckt sich die Sorgfalt des Hirten; beides also fordert der Herr von seinem Jünger und vertraut es ihm an. Fragen wir uns nun m. g. F. was gehört denn dazu die Seelen der Menschen zu hüten, daß sie sich von der Heerde des Herrn nicht wieder entfernen und verlaufen, daß ihnen in derselben keine Gefahr nahe und kein Übel sie treffe? Freilich sagen wir uns alle, die Liebe zu ihm ist das erste Erforderniß, sie muß die Lust in dem Menschen hervorbringen seine und anderer Seelen in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm zu erhalten, sie muß die Aufmerksamkeit schärfen für alles dasjenige, was eben dieser Gemeinschaft feindselig ist. Aber wenn wir uns sagen sollen, daß die Liebe zu dem Erlöser allein hinreicht, so scheint es freilich, wir müßten dies verneinen. Wie viel Kenntniß | gehört nicht dazu von dem menschlichen Herzen in seinem Trotz und in seiner Verzagtheit? mit welchen scharfen Blicken des Geistes müssen wir eingedrungen sein in die geheimen verborgenen Falten desselben, wenn wir das richtig bemerken und ehe es zu spät ist aufspüren wollen, was in den Seelen der Menschen selbst ihrer Gemeinschaft mit dem Erlöser gefährlich ist, wenn wir noch in den ersten Regungen das Verderben wollen bemerken und ihnen selbst bemerklich machen, damit sie umkehren, ehe sie angefangen haben sich zu verirren? Wie müssen wir bekannt sein mit den Wegen der Sünde, mit den Nachstellungen, welche diejenigen, die noch versunken sind in das Tichten und Trachten des irdischen Lebens, denen zu bereiten pflegen, die zum höhern geistigen Leben hindurch gedrungen 7 denn] dann

9 befestigen] beschäftigen

37 verirren] verwirren

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sind? Welche Erfahrungen und Kenntnisse der Welt gehören dazu, um den schönen Schein aufzulösen, hinter welchem sie sich zuweilen verbergen, um diesen zu unterscheiden von der Wahrheit und allem Trug und Heuchelschein, mit welchem sich diejenigen umgeben, die andre gern auf die Wege des Verderbens locken wollen, [um diesen Schein] mit Einem Blicke zu erkennen? Und wenn wir dann weiter auf das andere sehen, daß die Seelen, die zu der Heerde des Herrn gehören, auch sollen genährt werden: was für eine andre Nahrung giebt es für die Seelen als das göttliche Wort? | Wer also die erlösten Seelen nähren will, der muß ihnen zu spenden und auszutheilen wissen das göttliche Wort. Was gehört nicht auch hiezu wieder auf der einen Seite für eine richtige Kenntniß der menschlichen Verhältnisse und des Zustandes, in welchem sich die Gemüther befinden, um zu beurtheilen, welches in jedem Augenblick die nothwendigste und zweckmäßigste Nahrung für die Seele sei; aus dem großen Reichthum und der unendlichen Fülle des göttlichen Wortes dasjenige mit rechter Weisheit auszuwählen, was jedes Gemüth in der Verfassung, worin es sich gerade befindet, am meisten kräftigen und am sichersten nähren kann? Aber dann noch weit mehr, was gehört dazu, um das göttliche Wort selbst austheilen zu können, wenn wir auch wissen, wie es ausgetheilt werden soll? Doch gewiß das, daß wir es zuerst rein und vollkommen verstehen. Aber es ist von uns entfernt durch den Zwischenraum von einer großen Reihe von Jahrhunderten, es ist abgefaßt in fremden und nicht mehr lebendigen Sprachen; die wahre und vollkommene Kenntniß des göttlichen Wortes aber kann nur die sein, welche unter allen, die es lebendig aus dem Munde des Herrn und aus dem Munde seiner Apostel hörten, | diejenigen [hatten], welche die aufgewecktesten waren und die geneigtesten und die am meisten vorbereiteten, die dieses verstehen und sich aneignen konnten. Ein Zurückversetzen also in fremde Sprachen und ferne Zeiten und menschliche Verhältnisse, eine Kenntniß fremder Sprachen und Sitten gehört dazu, um richtig das Wort Gottes auszutheilen. Darum um die Seelen der Menschen mit dem göttlichen Worte zu nähren, dazu freilich ist auch die Liebe zu dem Erlöser die erste Bedingung; denn auf dieser ruht der Glaube, daß es keine andere Nahrung giebt für den Geist als das Wort Gottes, welches uns der Sohn des Höchsten gebracht hat; die Liebe Christi muß uns dringen auf diesen Gegenstand alle Sorge und allen Eifer zu verwenden, ohne welchen eine lebendige Kenntniß und ein richtiger Umgang mit demselben nicht kann erworben werden; aber wie vieles andere außer der Liebe zu Christo gehört nicht noch dazu? Wenn wir also die Sache von dieser Seite betrachten, so scheinen diejenigen Recht zu haben, welche meinen, indem der Erlöser seinem Jünger, nachdem er sich bekannt hatte ihn zu lieben, den Auftrag 1 sind?] sind.? 3 allem] allen 27 dieses] diese

12 befinden] befunden

20 verstehen.] verstehen?

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ertheilte seine Schaafe zu weiden, habe er alles übrige bei ihm vorausgesetzt und als bekannt angenommen. | Aber m. g. F. laßt uns die Sache nun auch von einer andern Seite betrachten. Wenn wir uns die Liebe zu Christo lebendig in uns denken, ist es wohl möglich, daß wir nicht sollten von Herzen Theil nehmen an dem ganzen großen Werke des Herrn? Wenn wir den Erlöser lieben, müssen wir nicht vor Begierde brennen, auf der einen Seite ihn selbst, auf der andern Seite den ganzen Umfang des großen Werkes Gottes, welches ihm anvertraut ist, nach dem Maaße unserer Kräfte kennen zu lernen? Wenn wir aber den Erlöser kennen wollen, ihn als den allein Reinen und Guten, ihn als den allein vollkommnen Menschen Gottes: können wir das ohne auf der andern Seite immerfort in das sündige menschliche Herz hineinzusehen, um eben das, was in demselben das Werk des Erlösers ist und die Züge seines Bildes trägt, von demjenigen unterscheiden zu können, was aus dem menschlichen Verderben herrührt, und was ihm fremd war, damit der Gegenstand unserer Liebe immer rein und heilig gehalten werde, und nichts Fremdes sich in denselben mische? Ist es wohl möglich, daß die Liebe zu dem Erlöser in uns nicht erzeugen sollte eben jene Kenntniß des menschlichen Herzens in allen seinen Tiefen und Verirrungen, welche nothwendig ist, um die Schaafe des Herrn zu weiden und unsre Arbeit in seinem Reiche zu verrichten? Und eben so, ist es möglich, daß wir den Herrn lieben können, | ohne mit herzlicher Begierde zu lauschen auf jedes Wort seines eigenen Mundes und auf jedes, welches sein Geist, der es aus seiner Fülle nahm und verklärte, aus dem Munde seiner Jünger geredet hat? Kann es jene lebendige Liebe zu dem Erlöser geben ohne eine fleißige Beschäftigung mit dem göttlichen Wort? Und wenn denn auch von diesem nicht alles jeglichem zugänglich ist, weil manches freilich mehr manches weniger von jener Hilfe bedarf, die auf allerlei menschlicher Weisheit und geschichtlichen Kenntnissen beruht: fühlen wir nicht doch, daß jener in der Kenntniß des göttlichen Wortes, die ihm zu Gebote steht, Mittel genug hat, die Seelen der Menschen zu nähren, und ihnen die Speise des Trostes und der Wahrheit zur rechten Zeit aus der Fülle des göttlichen Schatzes beizubringen? Ja noch mehr, m. g. F., wenn wir sehen auf den Beruf, den wir alle in der menschlichen Gesellschaft und in dieser irrdischen Welt haben, und worin jeder auch zu diesem Behuf nach dem Ort, auf welchen ihn der Herr gestellt hat, mancherlei Kenntnisse der Welt und des Menschen und der menschlichen und irrdischen Dinge sich erwerben muß: wollen wir sagen, daß dies der Liebe zu dem Erlöser fremd sei, und daß, was wir | von Zeit und Kraft unsers Geistes hierauf verwenden müssen, aus einer andren Quelle herkomme, und daß wir dabei von einem andern Triebe 15 war,] war;

26 freilich] freilich,

22–23 Vgl. Joh 16,14–15

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beseelt werden, so daß wir nur ungern von dem gewohnten Wege auf ein anderes Gebiet abgleiten müßten? Keinesweges m. g. F., denn alles steht in Verbindung mit dem großen Werke des Erlösers auf Erden; und wenn seine Apostel den Christen anempfehlen, daß sie nach allem trachten sollen, was löblich ist und wohllautet: wollen wir sagen, sie haben ihnen dies aus einer andern Ursache empfohlen, als weil die Liebe Christi sie dazu dringen soll? Nein, denn wer den Herrn wahrhaft liebt, der will ihm Ehre machen vor den Menschen, der will die Gegenwart und das Wort des Herrn schmücken helfen auf das schönste, der will die ganze Seele so gänzlich darstellen als durchdrungen von der Liebe des Herrn, alles was sie bewegt durch ihn geheiligt, und die Liebe zu ihm als eine solche Kraft, die in allem was zu dem Leben des Menschen gehört, weiter führt, und alle Hindernisse mehr zu besiegen im Stande ist, als wenn er einem andern Antriebe folgt. Wo aber alle diese menschlichen Erkenntnisse und menschlichen Einsichten, welche erfordert werden, um unsern Beruf im Reiche Gottes | zu erfüllen, wo diese aus irgend einer andern Quelle herrühren als aus der Liebe zu Christo, da können sie nicht anders als verderblich werden. Eine Kenntniß der Welt und des menschlichen Herzens, die der Mensch sich erworben hat, damit er mit größerem Erfolg die Entwürfe seines Eigennutzes ausführe oder seinem Ehrgeize fröhne, mit der wird er nichts ausrichten im Reiche Gottes und keine menschliche Seele fördern mit den Kenntnissen vergangener Zeiten, erstorbener Sprachen und mit alle dem, was zu einer gründlichen und tiefen Einsicht in alle Theile des göttlichen Wortes gehört, wenn sie nur erworben sind um damit vor der Welt zu glänzen, um den menschlichen Geist deswegen, weil er seine höchste Bestimmung verkennt, auf einem andern Gebiete zu befriedigen und zu sättigen: o dann wird die lebendige und richtige Kenntniß des göttlichen Wortes durch sie nicht erlangt werden; und wer so ausgerüstet zur Austheilung desselben gehen will, wird nicht im Stande sein die Schaafe des Herrn zu nähren. – Darum m. g. F. ist es doch nichts anderes als die Liebe zu Christo allein, wenn wir sie nur betrachten zusammengenommen mit alle dem, was aus ihr hervorgeht; sie reicht hin, um den großen Beruf, den in den Worten unseres Textes der Herr allen seinen Jüngern gegeben hat, in dem Maaße zu erfüllen als er es von jedem fordert. Ursprünglich auf der | einen Seite bringt die Liebe zu dem Erlöser hervor, daß der Mensch, der ihm leben will, nach Maaßgabe des Ortes, auf welchen der Herr ihn gestellt hat, alles um sich sammelt und in sich aufnimmt, was ihn fähig macht den großen Beruf aller Diener des Herrn in der Welt zu erfüllen. Und ist der Mensch zuerst ehe er in die lebendige Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe mit dem Erlöser kommt, ist er vorher abgewichen auf einen andern Weg und hat seine Seele mit Kenntnissen bereichert und ihr Fertigkeiten angebildet aus einem an4–5 Vgl. Phil 4,8

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dern Antriebe als von der Liebe zum Erlöser geleitet: so wie diese sich seiner Seele bemächtigt, so durchdringt sie sein ganzes Wesen und gestaltet alles in ihm um, giebt allem eine neue Richtung, und wird nun Kraft und Leben in ihm, so daß er dasteht als eine neue Kreatur, und alle Vermögen seiner Seele verbunden sind auf eine lebendige Weise mit dem Triebe, der ihn beseelt, keinem andern dienend als diesem. So erscheinen uns auf der einen Seite in jeder Beziehung die frühern Apostel des Herrn; diese fand er als schlichte, wohlmeinende, fromme, auf das Ewige gerichtete, aber schwach ausgerüstete Seelen, fern von tiefer Erkenntniß des göttlichen Wortes und des menschlichen Herzens und der Welt, in welche sie gestellt waren; sie hatten es | alles erst empfangen von ihm, und die Liebe zu ihm hatte sie gedrungen die Worte der Weisheit aus seinem Munde aufzunehmen und in dem Innersten ihres Herzens zu befestigen. Von einer andern Seite erscheint uns der Apostel, den der Herr sich erwarb, als er ein Verfolger seiner Gemeine gewesen war; den fand er theils ausgerüstet mit allen Einsichten in menschliche Dinge und in alles was zu den frühern göttlichen Offenbarungen gehört, teils ausgerüstet mit allen Künsten, welche erforderlich sind, um in dem Berufe des Lehrers, den er sich gewählt hatte, seine Pflicht zu erfüllen; aber alles gestaltete sich um von dem Augenblick an, wo die Stimme ihn faßte „es wird dir schwer werden anzustreben gegen die Gewalt, die dich treiben wird“, von dem Augenblick an, wo die Frage einen tiefen Eindruck auf ihn machte „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ wo sein Herz den Herrn erkannte und den großen Beruf aufnahm, von ihm gesandt zu werden unter alle Völker, und unter ihnen das Evangelium zu verkündigen, von dem Augenblick an gestaltete sich alles um in seiner Seele, der Liebe zu Christo untergeordnet und von ihr regiert und durchdrungen, und so ward es erst fähig ihn in dem Dienste seines Herrn zu leiten, und verwandelte sich aus einer menschlichen | Weisheit in eine wahrhaft göttliche Weisheit, Wissenschaft und Kunst. Wollten wir aber deshalb meinen, daß weil aus der Liebe zu Christo alles hervorgehen muß, was wahrhaft wirksam sein muß in seinem Reiche, auch jeder Einzelne in dem Maaße als die Liebe zu Christo ihn beseelt und dringt alles leisten kann: so wäre dies eine falsche Vorstellung von menschlichen Dingen. Nein m. g. F. wenn wir uns betrachten abgesehen von allem, was unsere nähere Wirksamkeit in dieser Welt bestimmt und ihr eine feste Richtung giebt: so gleichen wir mit unserer Liebe zu Christo jenen, von denen der Herr in seinem Gleichnisse sagt, daß sie auf den Gassen ständen und warteten, bis jemand sie dinge zur Arbeit; da kommt dann der Herr und führt sie in seinen Weinberg und weiset jedem seine Arbeit an nach seinen Kräften und nach der Beschaffenheit 13 einer] über der 20–21 Vgl. Apg 9,5; 26,14

22 Apg 9,4; 22,7; 26,14

36–1 Vgl. Mt 20,1–7

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derselben. So auch wir, haben wir nur Liebe zu Christo, so wird es nicht fehlen, der Herr ruft uns, den einen hierhin, den andern dorthin, das bestimmt sich durch die Verhältnisse, in denen wir leben, und die Begünstigungen für den einen, Hemmungen für den andern mit sich führen; und beide wird jeder erfahren. Aber welches auch eines jeden Los geworden sei: Arbeiter in dem Weinberge des Herrn wird er nur, insofern die Liebe zu Christo ihn dringt und ihm zeigt, was er an der Stelle, wohin ihn der | Herr gestellt hat, zu thun hat. Wohin aber ein jeder gestellt wird, das ist das geheimnißvolle Werk seiner Führungen, es ist das, wovon wir wissen, daß wir am wenigsten dazu beitragen können; es ist das Werk der Weisen göttlichen Weltregierung, der verborgene Gang der Rathschlüsse Gottes, nach welchem er einem jeden die Stelle anweiset in seinem Weinberge, wo er die Schaafe der Heerde zu weiden bestimmt ist nach dem Maaße seiner Einsichten und seiner Kräfte. Darum m. g. F. scheint es, als ob unter den Christen kein Streit darüber sein könnte, inwiefern die Liebe zu Christo zureiche oder nicht, um unsern Beruf, den uns der Herr ertheilt hat, zu erfüllen. II. So laßt uns denn noch mit Wenigem sehen, woher dieser Streit entstanden und worin [er] gegründet ist. Natürlich m. g. F. in zwei entgegen gesetzten Abwegen, auf welche die Menschen im Reiche Gottes zu gerathen pflegen; und der welcher sagt, die Liebe Christi allein reiche hin, und der Mensch bedürfe weiter nichts als sie, der will dem einen, und der welcher sagt, die Liebe Christi ist der erste und unentbehrlichste Grund, aber vieles andre bedürfen wir noch, wenn wir wahrhaft nützlich sein sollen, der will dem andern entgegen treten. Der erste ist dieser, | daß die Menschen nicht genug bedenken, was der Herr meint, wenn er sagt „mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Die Gemeine des Herrn lebt immer noch im Kampfe gegen das, was die Schrift im Gegensatz gegen sie die Welt nennt; immer noch herrscht der Streit des Lichtes gegen die Finsterniß; denn immer noch, wie hell auch das Licht in die Finsterniß scheint, giebt es einen Theil derselben, der es nicht aufgenommen hat; es ist der Kampf des Guten gegen das Böse, der einfachen himmlischen Wahrheit gegen die verkehrten Kinder dieser Welt, der Kampf, den wir alle kennen. Aber wenn nun die Gemeine des Herrn in diesem Kampfe hier und dort in Bedrängniß geräth, dann entsteht aus der freilich lebendigen und innigen aber falsch geleiteten Liebe der Gedanke, wie die Welt durch äußere Gewalt die Gemeine des Herrn bedrängt, so müsse auch diese ihrerseits suchen zu einer äußern Gewalt zu 23 einen,] einen; 27–28 Joh 18,36

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gelangen, damit sie ihr widerstehen könne. Wenn es menschliche Weisheit und Kunst ist, wodurch die Gegner des Evangeliums den einfältigen Bekenner desselben zu hintergehen suchen: so müsse man ein anderes Gebäude menschlicher Wissenschaft und menschlicher Kunst aufrichten, um jenen entgegen zu arbeiten. Und so vergessen die Menschen gar leicht das große Wort des Herrn | „wenn mein Reich von dieser Welt wäre, dann würden meine Diener auch mit den Waffen dieser Welt dafür kämpfen“, und kämpfen doch mit den Waffen dieser Welt für das Reich Gottes, und richten dadurch noch mehr Verwirrung und Ungewißheit in demselben an, trüben das Licht und vermehren die Finsterniß. Dann ist es Zeit zu sagen: mit nichts anderm als mit der Liebe zu Christo sollen wir für ihn leben und für ihn streiten; alles andere ist nicht wohlthätig und kann seine Heerde weder beschützen noch fördern. Das m. g. F. ist der Abweg, den die christliche Kirche vielfältig gegangen ist, seitdem sie in einem ausgezeichneten Sinne die römische ward, die von einer weltlichen Macht umgeben ist, und alle Waffen dieser Macht zu ihren Zwecken gebraucht; und so ist aufgeführt ein Gebäude, in welchem denen, die in der That die geistige Verbindung mit dem Erlöser kannten, und in dieser leben wollten, und darin ihre Seligkeit fanden, je länger je mehr unmöglich sein mußte zu wohnen, bis der Herr die Zeit kommen ließ, für welche wir ihm sonntäglich danken in unserm Morgengebet, wo uns das hellere Licht des Evangeliums aufging, und wir zurückkehrten zu dem lebendigen Grundbewußtsein des Christen, daß das Reich des Herrn nicht von dieser Welt ist, daß keine leibliche | Gewalt es jemals beschützen und vertheidigen kann, daß allein die geistige Kraft im Stande ist es gegen alle Stürme und Anfechtungen stehen zu machen, und daß in denen, welche zu demselben gehören, keine andere Kraft herrschend ist als die Liebe zu dem Erlöser und alles, was sie in den Seelen der Menschen erzeugen kann. – Der andere Abweg aber, m. g. F. ist der, daß es Menschen giebt, welche meinen, die Liebe zu dem Erlöser sei eine stille und einsame Liebe des Genusses; in seine geistige Nähe und Gegenwart wollen sie sich vertiefen, sie ehren und lieben ihn als einen solchen, der an allem Guten und Schönen Theil nimmt, was in ihrem Herzen wohnt; aber so allein möchten sie seiner genießen und die ganze Welt um sich her vergessen. Was entsteht aber anders daraus m. g. F. als ein zwar in sich versunkenes aber für den großen Zweck des Erlösers unthätiges Leben, ein Leben, in welchem, indem der Mensch doch immer selbstsüchtig an seinem eignen Heil sich genügen läßt, er immer gleichgiltiger wird an dem, was den großen Beruf und das große Werk des Erlösers in der Welt betrifft, und um deßwillen ihm allein unsere eigene Liebe und unsere ausschließende Verehrung gebührt; daß er nicht sich selbst lebte, sondern gekommen war zu dienen, zu suchen und selig zu machen das Verlorne, und die Mühseli6–7 Vgl. Joh 18,36 1 Vgl. Mt 11,28

40–41 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

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gen und Beladenen zu sich zu rufen. Wenn der Mensch nun sich selbst verloren fühlt und zu dem Erlöser geht, um sich seligmachen zu lassen, | wenn er sich selbst mühselig und beladen findet und die Spur des Weges findet zu dem, der allein seine Seele erquiken kann; aber es bleibt seiner Seele fern und fremd, daß auch er sich aufmachen soll in der Kraft der Liebe zu dem Herrn, um zu suchen und selig zu machen was verloren ist, daß auch er die Mühseligen und Beladenen erquicken soll, und daß jeder nicht nur ein Schaaf aus der Heerde sein soll, sondern auch selbst berufen ist die Schaafe des Herrn mit zu weiden, wenn das der Seele fern bleibt: so ist das ein Abweg, bei welchem, jemehr er sich in der Seele festsetzt, um desto weniger das Reich Gottes bestehen kann; und daher tritt nun die entgegengesetzte Stimme gegen solche einsame und in Liebe zu dem Erlöser versunkene Seelen auf und spricht: das ist gut, daß Ihr den Herrn liebt; aber Ihr müßt auch den Ruf hören, den er an Euch ergehen läßt „weide meine Schaafe“; um im Reiche Gottes zu leben, müßt Ihr etwas in demselben thun; und wenn die Gaben des Geistes in Euch gewirkt sind, so müßt Ihr damit thätig sein im Reiche Gottes. So m. g. F. ist das wohl wahr und richtig, aber nicht ganz wahr, sondern wir müßten sagen: das ist nicht die wahre Liebe, sondern eine unreine und selbstsüchtige | Liebe. Denn er ist nicht gekommen, um in der einzelnen Seele zu wohnen, sondern die Segnungen seines Daseins über alle zu verbreiten, er hat seine Jünger nicht gerufen, damit sie in der Verborgenheit mit ihm bleiben möchten, sondern um sie auszusenden; und nicht eher soll das aufhören, als bis alle gesammelt sind aus allen Gegenden der Welt. Wer nun an dem Werke des Herrn nicht arbeitet, der liebt nicht das Werk des Herrn; und wer dieses nicht liebt, der würde sich vergeblich rühmen, wenn er sich rühmen wollte ihn zu lieben. Betrachten wir die Liebe zu dem Erlöser so, wie sie aber immer nur armselig und falsch sein kann, wenn sie sich auf das eigene Bedürfniß und den eigenen Genuß beschränkt: so haben wir Recht zu sagen, um den ganzen Beruf des Christen zu erfüllen, dazu gehört mehr als die Liebe. Aber betrachten wir sie, wie sie sein soll, wie sie war in den Aposteln, welche zuerst ausgingen, um in dem Namen des Herrn das Evangelium zu verkündigen; wie sie war zu allen Zeiten in denen, die den Ruf hörten „weide meine Schaafe“: so müssen wir sagen, wir haben nichts anderes nöthig als sie; aus ihr wird alles hervorgehen, was wir nicht entbehren können, um Arbeiter zu sein in dem Weinberge des Herrn; | aus ihr wird sich jegliche Kraft entwickeln, die jeder bedarf um da wirksam zu sein, wohin ihn der Herr gestellt hat; und so werden wir mit unserm ganzen Dasein den Herrn preisen können, wenn wir wissen, daß alles was unter den Menschen, die der Gemeine Christi wahrhaft angehören, lieblich ist und löblich und wohllautet, aus keiner andern Quelle kommt als aus der Liebe zum Herrn. Wie m. th. Fr., der Streit, ob der Glaube genug sei, den Menschen gerecht und selig zu machen oder 6 Vgl. Lk 19,10

7 Vgl. Mt 11,23

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ob zu dem Glauben noch die Werke hinzukommen müssen, immer nur ein leerer Streit ist und Worte – denn der Glaube ist kein Glaube, wenn er nicht thätig ist durch Werke; und die Liebe ist keine Liebe, wenn sie nicht aus dem Glauben kommt – : so auch der Streit, ob die Liebe genug sei, um die Schaafe des Herrn zu weiden, oder ob noch anderes dazu gehöre, ist ein leerer Wortstreit; denn die Liebe zu dem Erlöser ist keine, wenn sie nicht das wirkt, daß wir alle unsere Kräfte ihm weihen und heiligen und mit denselben wirken für sein Reich. Thut sie das, so bedürfen wir nichts weiter. Alles Eingreifen in menschliche Dinge, wozu wir berufen werden, alle Kenntniß | dessen was Noth ist, um seine Sache auf Erden zu führen, das alles wird sich entwickeln, wenn in jedem Augenblick, in jedem Theil uns’res Lebens die Liebe zu Christo uns beseelt, wenn wir alles, was uns in seinem Werke zu thun vorkommt, aus keinem andern Gesichtspunkte betrachten, als daß auch dies in sein heiliges Reich gehört. Und so bleibe es denn m. g. F. bei dem Einen; aber laßt uns auch dies empfinden und klar einsehen, was zu dem Einen gehört; damit wir sagen können mit gutem Gewissen, wenn der Herr uns fragt in dem Innersten unseres Herzens, wie er in den Worten unseres Textes den Petrus fragte „Herr du weißt, daß ich dich lieb habe“. Dann werden wir alle mit Freude und mit froher Hoffnung, daß das Wort nicht vergeblich geredet ist, von ihm den Ruf hören: So gehe denn hin und weide meine Schaafe. Amen.

[Liederblatt vom 27. April 1823:] Am Sonntag Cantate 1823. 25

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Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] Der du dein Blut und Leben / Am Kreuz so williglich / Für mich dahin gegeben, / Wie lieb ich Jesu dich. / O möchte mein Verlangen / Doch ganz gestillet sein! / Dir ewig anzuhangen / Ist nur mein Wunsch allein. // [2.] Was kann mir sonst auch nüzen? / Der Erde Gut ist Staub! / Und will ein Freund mich stüzen; / Er wird des Todes Raub. / Nur deine treue Liebe / Nimmt keinen Wechsel an; / Wenn ich nur treu dir bliebe, / Wie selig wär ich dann! // [3.] Ich preise dein Erbarmen, / Das auf mein Elend sieht, / Und voller Huld mich Armen / Für jene Welt erzieht. / Wo du mich weißt zu finden, / Eilst du auch treulich hin, / Und suchst mich von den Sünden / Stets wieder abzuziehn. // [4.] Wer kann, o Freund, dir gleichen, / Wer kann den hohen Sinn / 15 laßt] laßt es 2–3 Vgl. Jak 2,17

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Von deiner Huld erreichen? / Ich sinke dankbar hin; / Verläugne nun mit Freuden / Den eitlen Erdensinn, / Und geh durchs Thal der Leiden / Mit dir zum Vater hin. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. [1.] Herr Jesu Christ, mein höchstes Gut, / In dem allein mein Glaube ruht, / Du meines Herzens Freude, / Ich bleibe fest und treu an dir, / So ist auch nichts, was dich von mir, / Was unsre Liebe scheide. / Du machst mir deinen Weg bekannt, / Führst mich mit deiner starken Hand, / Regierest meines Lebens Lauf, / Hilfst gnädig meiner Schwachheit auf, / Herr Jesu Christ! / Herr Jesu Christ, du bist mein Licht, / Ich folge dir, so irr’ ich nicht. // [2.] Mein Sinn ist ganz zu dir gericht’t, / Hab ich nur dich, so frag ich nicht / Nach Himmel und nach Erden; / Denn wär der Himmel ohne dich, / So könnte keine Lust für mich / In tausend Himmeln werden. / Wärst du nicht schon auf Erden mein, / Möcht’ ich auch nicht auf Erden sein; / Denn nichts ist in der ganzen Welt, / Was je mir ohne dich gefällt, / Herr Jesu Christ! / Herr Jesu Christ, wo du nicht bist, / Ist nichts was mir erfreulich ist. // [3.] Und ob mir unter Kreuz und Noth, / Und unter Marter, Angst und Tod, / Auch Seel’ und Leib verschmachten; / Ja gäb es auch der Qual noch mehr, / Die schrecklich, gleich der Hölle, wär, / Mein Glaube wirds nicht achten. / Du bist und bleibest doch mein Heil / Und meines Herzens Trost und Theil, / So wird und muß durch dich allein / Auch Leib und Seele selig sein, / Herr Jesu Christ! / Herr Jesu Christ ich hoffe fest, / Daß deine Kraft mich nicht verläßt. // [4.] Nun Herr ich halte mich zu dir, / Du aber hältst dich auch zu mir, / Und das ist meine Freude. / Ich seze meine Zuversicht, / Auf diesen Fels, der nie zerbricht / In noch so großem Leide. / Dein Thun soll alles und allein / In meinem Mund und Herzen sein, / Bis ich dich werd im Himmel sehn, / Wo alle Selgen um dich stehn, / Herr Jesu Christ! / Herr Jesu Christ, ich warte drauf, / Du kommst und nimmst mich zu dir auf. // Nach der Predigt. – Mel. Zerfließ mein Geist etc. Hilf Jesu hilf, daß ich mit reinem Herzen / Dich über alles lieb allein! / Sich lieben und die Welt macht lauter Schmerzen, / Nur wer dich liebt kann selig sein. / Laß mich empfinden mehr und mehr, / Wie du mich liebst so hoch und sehr, / Damit aus solchen reinen Flammen / Auch meiner Liebe Funken stammen. //

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Rogate, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,6–13 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 15–28; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 132r–132v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 4r–9r; Saunier, in: Schirmer Vakanzpredigt für Herzberg (OGD; vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am Sonntage Rogate 1823.

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Tex t. Joh. 1, 6–13. Es war ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Johannes; derselbige kam zum Zeugniß, daß er von dem Licht zeugete[, auf daß sie alle durch ihn glaubeten]. Er war nicht das Licht, sondern, daß er zeugete von dem Licht. Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Es war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbige gemacht; und die Welt kannte es nicht. Er kam in sein Eigenthum, und die seinen nahmen ihn nicht auf; wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben; welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. Der Evangelist Johannes, m. a. Fr., läßt nicht, wie zwei der andern Evangelisten thun, seine Lebensbeschreibung des Herrn mit dessen Geburt und Kindheit beginnen, sondern gleich mit seinem öffentlichen Auftreten als derjenige, der da von Gott ge|sandt sei, um das Reich Gottes aufzurichten, denn damals lernte er selbst erst den Erlöser kennen; und es ist gewiß seine Absicht gewesen, uns im wesentlichen nichts von ihm zu sagen, als was er selbst gesehen und gehört hatte. Dessenungeachtet konnte er sich nicht enthalten von Johannes dem Täufer zu reden, und damit beginnt er nun 14–15 Vgl. Mt 1,18–2,23; Lk 2,1–52

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nach dem ersten Eingang, den wir neulich mit einander betrachtet haben. Wie überhaupt sein ganzes Evangelium ein rechtes Buch aus der Fülle des Herzens ist: so kommt nun auch dies aus der Fülle des Herzens. Denn er selbst der Apostel und Evangelist war vorher ein Schüler, ein Freund und Zuhörer Johannes des Täufers gewesen, und durch ihn selbst erst zu dem Erlöser gewiesen worden; darum läßt er die Nachrichten von dem öffentlichen Auftreten des Erlösers, und wie dasselbe mit seiner Taufe begonnen, der Geschichte des Johannes selbst ihrem Wesen nach folgen. Wenn er nun zuerst von ihm selbst sagt, er sei nicht das Licht gewesen, sondern nur daß er zeugete von dem Lichte: so hat dies seinen Grund darin, weil eine lange Zeit hindurch und wirklich auch noch damals, als Johannes sein Evangelium schrieb, manche den Vorläufer des Herrn für mehr hielten als er selbst von sich behauptete; vielleicht auch sogar schon darin, daß Johannes der Täufer selbst, eben weil er diese große Neigung in dem Volke bemerkte, seinem Zeugniß, daß derjenige im Begriff sei aufzutreten, auf den sie alle harrten, immer wohlbedächtig das hinzufügte, daß er selbst es nicht sei. Und wir sehen hier nun recht deutlich den großen und ganz bestimmten Unterschied, den unser Evangelist macht zwischen der Sendung und Bestimmung des Erlösers und der des Johannes und aller andern, welche vor ihm zu einem gleichen Zeugniß berufen gewesen waren. Von dem Erlöser sagt er, er sei das Licht der Welt gewesen; von Johannes sagt er ausdrükklich, er sei nicht das Licht gewesen, sondern nur daß er von dem Lichte zeugete. Nun aber sagt der Herr selbst vom Johan|nes, er sei der größte im alten Bunde, der größte unter den Propheten. Die aber hatten doch auch den Geist des Herrn, der über sie kam, wenn sie ihren Beruf an dem Volke Gottes zu erfüllen hatten. Zwischen dieser Begeisterung aber von dem Geiste des Herrn und zwischen der Fülle der Gottheit, welche in dem Erlöser wohnte, macht Johannes einen so bestimmten Unterschied, daß er, indem er von der Sendung des Erlösers redet, wie wir in der Folge sehen werden, sagt, Das Wort ward Fleisch, indem er von Johannes redet, nur sagt, Ein Mensch, d. h. der vorher nichts anderes war als ein gewöhnlicher Mensch, ward nachher von Gott gesandt, d. h. es ward ihm von Gott ein besonderer Auftrag gegeben; und daß er eben so von dem Erlöser sagt, er war das Licht; von dem Johannes aber und einschließend von allen Propheten des alten Bundes, sie waren nicht das Licht, sondern nur daß sie zeugeten von dem Lichte. Und so, m. g. Fr., ist es auch. Es ist nicht dieselbe göttliche Wirkung in der menschlichen Seele und auf das menschliche Geschlecht, welche mit den alten Offenbarungen der Propheten begonnen hätte, und wovon Christus der Herr nur der höchste Gipfel gewesen wäre, dem Grade nach von 3–6 Vgl. Joh 1,35–37 14–17 Vgl. Lk 3,15–16; Joh 1,19–27 23–24 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28 27–28 Vgl. Kol 2,9 30 Vgl. Joh 1,14 34 Vgl. Joh 1,4

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ihnen verschieden, dem Wesen nach ihnen gleich. Wenn das Johannes geglaubt hätte, so hätte er anders reden müssen über das Verhältniß des Erlösers und seines Vorgängers als er hier thut; sondern eine neue sich offenbarende Schöpfung Gottes war diese Verbindung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in dem Erlöser, der vorher nichts gleich gewesen war; und alle Wirkungen des göttlichen Geistes auf die Diener des Herrn in dem alten Bunde, wie sie auf der einen Seite für sich selbst nur einen vorübergehenden Zwekk hatten, das Volk zu ermahnen und abzuschrekken, auf der andern aber ihr bleibender nur darin bestand | hinzudeuten und vorzubereiten auf das bessere, was da kommen sollte, und weil sie ihrer unmittelbaren Bestimmung nach auch nur einen vorübergehenden Erfolg hatten, sind eben deswegen nur von untergeordneter Art und nicht zu vergleichen mit der geistigen Herrlichkeit des Erlösers. Aber der Evangelist sagt doch zu gleicher Zeit etwas sehr großes von Johannes dem Täufer, er sei nämlich gesandt worden, daß er von dem Lichte zeuge, auf daß sie alle durch ihn glaubeten; und auch dieser Ausdrukk rührt aus der Fülle seines dankbaren Herzens her. Es hat aber damit unstreitig folgende Bewandniß. Johannes der Täufer war es, der, wie der Evangelist in der Folge erzählt, als der Herr gekommen war nach dem Jordan, um sich von ihm taufen zu lassen, und jener ihn dort erkannt hatte als den, auf den seine eigene Andeutung und Bestimmung ging, ihm auch die ersten Jünger zuwies, unstreitig die besten und empfänglichsten unter den seinigen dazu auswählend, ihnen zuerst die bestimmte Kunde zu geben. Diese waren es, die ihm hernach wieder ihre Freunde zuführten, und so war das erste Häuflein seiner Jünger durch diesen seinen Vorläufer ihm entstanden, und so haben hiernach alle anderen durch sie ihn kennen gelernt und sind seine Jünger geworden; sie hat er hernach, als er im Begriff war die Erde zu verlassen, ausgesendet, um so weit sie könnten unter alle Völker zu gehen und das Reich Gottes zu verkündigen. Und so nähert hier Johannes seinen ehemaligen Lehrer dem Erlöser selbst, indem er sagt, er wäre das Werkzeug gewesen, dessen sich Gott bedient habe, um die Erscheinung des Lichtes auf Erden bekannt zu machen, weil von seinem Zeugnisse aller Glaube an den Erlöser zuerst ausgegangen war. Denn wiewol der Herr in der Folge gesagt hat, daß er keines menschlichen Zeugnisses bedürfe, so streitet dies doch nicht damit, daß er selbst nicht den Anfang machen wollte von | sich zu zeugen, sondern erst nachdem einige wenn auch nur wenige auf diese Weise zu ihm gewiesen waren, fing er an von sich selbst in Beziehung auf das Reich Gottes zu predigen. Nun aber, m. g. Fr., können wir uns nicht von dieser Stelle, in der unser Evangelist von dem Vorgänger des Herrn redet, trennen, ohne dabei an ein 18–24 Vgl. Joh 1,29–37 Mk 16,15; Lk 24,46–48

24–27 Vgl. Joh 1,40–46 33–35 Vgl. Joh 5,34

27–29 Vgl. Mt 28,19–20;

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Wort unsers Erlösers zu denken, welches ich seinem ersten Theile nach schon vorher angeführt habe, in dem er nämlich sagt, Johannes ist der größte unter den Propheten, und es giebt keinen im alten Bunde, der größer wäre als er; aber der kleinste im Reiche Gottes ist wieder größer als Johannes. Nun sind wir alle im Reiche Gottes, so viel unser wahrhaft an den Namen des Herrn glauben; und nachdem wir nun dies gehört haben auf der einen Seite, Johannes sei freilich nicht selbst das Licht gewesen, sondern nur dazu gesandt worden, daß er zeuge von dem Lichte, auf der andern Seite aber auch, er sei dazu gesandt worden, daß alle durch ihn glauben: sollen wir uns nun selbst fragen, wie rechtfertigen wir denn dieses große Wort des Erlösers, daß der kleinste im Reiche Gottes größer sei als Johannes? Das schon, m. g. Fr., können wir nun nicht von uns sagen auf dieselbige Weise, wie Johannes es hier von seinem ersten Lehrer sagt, er sei dazu gesandt worden, und das sei auch erreicht worden durch seine Sendung, daß durch ihn mittelbar oder unmittelbar alle an den Herrn glauben, weil er den Anfang gemacht damit, den Glauben an ihn zu predigen; wir können es deshalb nicht, weil wir mitten in die Zeit des Glaubens gekommen sind, und es außer uns schon eine große Schaar der gläubigen an den Herrn giebt, auf deren Glauben keiner von uns einen Einfluß gehabt hat ihn hervorzubringen; wir können es auch nicht von uns sagen, wenn wir es bloß auf dasjenige, was noch kommen soll, beschränken wollten. Denn freilich ist die christliche Kirche, wie sie in einer Zeit besteht, der Grund der Fortpflanzung des Glaubens an den Erlöser und sei|ner weitern Verbreitung, indem durch die christliche Kirche der Glaube an den Herrn von einem Geschlecht auf das andere fortgetragen wird, und alle einzelnen Bemühungen das Evangelium dahin zu bringen, wo es noch nicht erschollen war, gehen von ihr aus; aber beides nicht anders, denn als das gemeinsame Werk aller, wovon keiner seinen bestimmten Theil unterscheiden kann, und jeder, wenn er auf der einen Seite von sich sagen muß, er könne nicht bestimmen das geringste als etwas was er selbst dazu beigetragen hat, doch auf der andern Seite nicht sagen darf, er sei zu nichts da, weil er doch ein lebendiges Glied ist an dem Leibe des Herrn, von welchem diese Fortpflanzung und Verbreitung des geistigen Lebens ausgeht. Aber, m. g. Fr., es führt uns dies darauf zurükk, daß der Werth des Menschen nicht in demjenigen besteht, was er leistet und ausführt, denn das ist nicht das seine allein, sondern hängt ab von dem Raum, der ihn begränzt, und von den Gelegenheiten, die er empfängt, mit dem Pfunde, welches ihm Gott verliehen hat, wirksam zu sein, sondern das Maaß eines jeden Menschen und seines Werthes ist das, was er in sich selbst ist. Und dies führt uns dann 2–5.11–12 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28

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zurükk auf jenes andere Wort, Johannes war nicht das Licht, sondern nur daß er zeugete von dem Lichte, dazu war er gesandt. Dazu nun, um zu zeugen von dem Lichte, sind wir alle gesendet, und unser ganzes christliches Leben soll und darf nimmer etwas anderes sein als ein solches Zeugniß von dem Herrn. Wie viel es ausrichtet, das hängt davon ab, wie die Menschen, die unsers Zeugnisses noch bedürfen und insofern sie desselben bedürfen, auf uns sehen und im Stande sind unser Zeugniß zu erkennen und anzunehmen. Also es soll unser ganzes Leben und darf nichts anders sein als ein Zeugniß von dem Herrn; alles gute, was an uns zu bemerken ist und von uns ausgeht, soll seine Ueberschrift und sein Gepräge haben, und wir selbst sollen es nie für etwas anderes ansehen als für eine Wir|kung seines Lebens, aus welchem sich das unsrige nährt und pflegt, und alles, was in uns noch dunkel ist und ein Zeugniß von der Finsterniß ablegt, der wir selbst noch nicht ganz entrissen sind, das sollen wir selbst ansehen und darstellen als dasjenige, was noch bedürfe von dem Lichte durchdrungen, erleuchtet und überwältigt zu werden. Aber das andere, Johannes war nicht das Licht: wie steht es mit uns in dieser Beziehung? Denn soll das Wort des Herrn wahr sein, daß wir alle größer sind als er, so kann dieser Unterschied nur hierin liegen und in nichts anderm. Wenn wir hören den Herrn, welcher sagt, Ich bin der Weinstokk, und ihr seid die Reben; wenn er sagt, Ich und der Vater sind eins, und dann seinen Vater anruft, er solle geben, daß diejenigen, welche er ihm gegeben hat, und die an ihn glauben, auch so eins seien mit ihm, wie er selbst eins sei mit dem Vater; wenn wir ihn so reden hören: so müssen wir sagen, es kann von uns nicht in demselben Sinne gesagt werden, wie der Evangelist von dem Johannes sagt, daß er nicht das Licht war. So gewiß m. g. Fr., so gewiß als wir Reben sind an dem Weinstokke, so gewiß das Gebet des Herrn an uns in Erfüllung gegangen ist, daß wir in ihm bleiben und sind, wie er in uns ist und bleibt: so sind wir nicht zu trennen von ihm, sondern eins mit ihm, und es ist ein gemeinsames Leben, wovon er der Anfang ist, und welches in ihm ursprünglich begonnen hat; aber so auch ist es dann in uns; sein eignes Leben ist nicht zu trennen von dem unsrigen; denn der Weinstokk ist auch nicht ganz, wenn die Reben abgeschnitten sind, er muß erst neue treiben, so wie die Reben nichts sind und todt, wenn sie abgelöst sind von ihm. So ist es ein gemeinsames Leben das seinige und das unsrige, und wir sind das Licht, aber nicht durch uns selbst, sondern durch ihn, und stehen in einer innigern Verbindung mit ihm als der, welcher von Gott gesandt war, um gleich den Propheten | von ihm zu zeugen, nur in einer größern Nähe und in einer größern Bestimmtheit als jene. Diesen großen Vorzug, dessen wir uns erfreuen auch vor allen den großen Werkzeugen Gottes im alten Bunde, den wollen wir lebhaft empfin20–21 Joh 15,5

21 Joh 10,30

22–24 Vgl. Joh 17,8–9.11

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den, nicht um uns desselben zu überheben, sondern damit wir das Maaß nicht verlieren, nach welchem wir uns messen sollen, und uns immer aufs neue zu ermuntern und zu fragen, ob wir auch so wie wir können und sollen das Licht sind, welches von ihm ausgeflossen ist, und welches er selbst war; ob wir den Ruhm verdienen, der darauf beruht, daß wir mit ihm eins sind und Reben an dem Weinstokk; ob wirklich, seitdem seine Gemeine auf Erden besteht, das alte und unvollkommene vergangen ist, und alles neu geworden. Denn vorher war es die Finsterniß, die unter den Menschen waltete; jezt aber soll das Licht sein Reich auf Erden haben, und die Welt belebend, wie es in dem Herrn ursprünglich die Quelle des Lebens war, soll es leuchten in allen Menschen, immer mehr die Finsterniß durchdringend, freilich allein durch seine Kraft, durch die Einheit unseres Lebens mit ihm; aber eben diesen großen Beruf sollen wir nie aus den Augen verlieren, und uns immer nach demselben und durch ihn vor den Augen Gottes und mit dem herzlichen Verlangen, unser ganzes Dasein immer mehr in die Aehnlichkeit mit dem Erlöser zu gestalten, selbst prüfen. Nachdem aber der Apostel dies gesagt hatte, so konnte er freilich nicht anders als eine gewisse Rechenschaft davon geben, warum denn, unerachtet das Licht schon da war und erschienen, ein Zeugniß von ihm und zwar ein so untergeordnetes nöthig gewesen sei. Diese Rechenschaft giebt er in folgenden Worten, indem er sagt, Das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen, war schon in der Welt – zu der Zeit nämlich, als Johannes von | Gott gesandt ward – und die Welt, ohnerachtet sie durch dasselbe gemacht ist, kannte es nicht. Da wiederholt er dem wesentlichen nach, aber nur in einer bestimmten Beziehung, das was er schon im allgemeinen in früheren Worten des Einganges gesagt hat, Das Licht schien in die Finsterniß, und die Finsternisse haben es nicht begriffen. Das wahrhafte Licht war in der Welt, aber die Welt erkannte es nicht, und um recht bemerklich zu machen, was das eigentlich sagen will, fügt er nun hinzu, Die Welt, ohnerachtet sie durch dasselbe gemacht ist, erkannte es nicht. Hiebei, m. g. Fr., kann ich nicht umhin an ein anderes Wort eines andern Apostels, nämlich des Paulus, zu erinnern, welcher in Beziehung auf die Erkenntniß Gottes überhaupt in seinem Briefe an die Römer von dem menschlichen Geschlecht im ganzen sagt, Daß man weiß, daß Gott sei ist ihnen offenbar, denn Gott hat es ihnen offenbaret, damit daß Gottes unsichtbares Wesen, das ist seine ewige Kraft und Gottheit, wird ersehen, so man deß wahrnimmt, an den Werken, nämlich an der Schöpfung der Welt; also daß sie keine Entschuldigung haben. So sagt er, die Menschen hätten überhaupt Gott zu erkennen vermocht, denn Gott habe ihnen in ihrer Vernunft dasjenige Vermögen gegeben, aus der Welt als der Gesammtheit sei5–6 Vgl. Joh 15,5 20

7–8 Vgl. 2Kor 5,17

26–27 Vgl. Joh 1,5

35–3 Röm 1,18–

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ner Werke, wenn sie derselben auf die rechte Weise wahrnehmen wollten, seine ewige Kraft und Gottheit zu erkennen; aber sie hätten sie demohnerachtet nicht erkannt, sondern die Wahrheit aufgehalten in Ungerechtigkeit. Er weiset aber in demselben Briefe die Spuren nach von noch einer eben so allgemeinen Offenbarung Gottes in den Menschen, indem er sagt, So die Heiden, die das Gesez nicht haben, sind sie ihnen selbst ein Gesez, damit daß sie beweisen, des Gesezes Werk sei geschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen sie bezeuget, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen | oder entschuldigen. Und diese Worte nun verbinden jene ersten Worte des Apostels Paulus mit diesen Worten des Apostels Johannes. Denn so wie die Menschen an den äußern Werken Gottes seine ewige Kraft und Gottheit erkennen können als dessen, der sie geschaffen hat: so auch die geistige Schöpfung Gottes können sie erkennen an dem Gesez, welches der Herr in ihren Herzen geschrieben hat, und welches sich in dem Gewissen und in dem innersten Bewußtsein der Menschen nie ganz verläugnen konnte, sondern ihnen zu erkennen giebt, wie sie etwas sein sollen, was sie nicht sind. Nun aber sah die Welt in dem Erlöser die vollkommene Erfüllung alles göttlichen Gesezes, so vollkommen, nicht als ob er nachgekommen wäre einem ihm von außen gegebenen und angelernten Geseze, oder von außen ihm gegebenen Vorschriften, sondern das Gesez des Herrn war sein innerstes Leben und ging aus ihm neu hervor, wie eben durch dieses sein gesezgebendes und gesezbildendes Leben die ganze neue Schöpfung entstanden ist. Aber was davon vorher schon bestand und gemacht war, das war durch dasselbe Licht gemacht, welches er war, durch dasselbe ewige Wort, welches er war, denn das Gesez, welches in den Herzen der Menschen geschrieben ist, erkennen sie alle als eine Stimme Gottes und als ein Wort Gottes, wiewol nur ein schwacher Abglanz jenes ewigen Wortes. Wenn nun da war eben die Sehnsucht und das Verlangen – denn daran hat es nie gefehlt – nach der neuen Welt, nach der vollkommnen Ausbildung der geistigen Welt, die durch den Erlöser entstehen sollte: so hätten sie, eben weil sie zu der Welt gehörten, welche durch dasselbe Licht gemacht war, wiewol sie damals erst in großer Unvollkommenheit und in dem Anfange ihrer Entwikklung da war, so hätten sie in ihm erkennen können und sollen die ewige Quelle des Lichtes. Aber wiewol die geistige Welt, nach der sie sich sehnten, durch | ihn gemacht war, und sie den innersten Grund und die ganze göttliche Lebenskraft derselben in ihm hätten erkennen können durch den rechten Gebrauch des Gesezes, welches in ihnen geschrieben war: so erkannten sie dieselbe doch nicht. Dies nun schildert der Apostel Johannes bestimmter, indem er fortfährt, Er kam in sein Eigenthum, und die seinen nahmen ihn nicht auf. Daß 5–9 Vgl. Röm 2,14–15

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nun im Vergleich mit dem vorigen allgemeinern Ausdrukk, Das Licht war in der Welt, und die Welt ist durch dasselbe gemacht, und die Welt kannte es nicht, dieser besondere näher bestimmte, Er kam in sein Eigenthum, und die seinen nahmen ihn nicht auf, auf das besondere Verhältniß geht, in welchem der Herr zu dem Volke der Juden stand, unter dem er geboren, und dessen Gesez er seiner leiblichen Natur nach unterworfen war, darüber können wir wol leicht einig werden. Diese eben deswegen, weil sie die Stimme der Propheten, die ihnen das herannahende Reich Gottes vorhielten, vor sich hatten; weil ihre ganze Aufmerksamkeit gerichtet war auf den, der da kommen sollte; weil auch abgesehen von dem Zeugniß des Johannes die Menschen des damaligen Geschlechts voll waren der Erwartung, die Zeit seiner Erfüllung nahe: so hätten diese mehr Grund gehabt als alle andre, in dem Erlöser, als sich sein Leben in der Welt entfaltete, jenes ewige Licht und jenes ewige Wort zu erkennen. Aber als er in sein Eigenthum kam, so nahmen seine angehörigen ihn nicht auf; und eben deswegen war ein besonderes Zeugniß nöthig, damit einige wenigstens ihn aufnähmen. Von dieser traurigen Beschreibung der großen Unfähigkeit und Unempfänglichkeit der damaligen Welt, von dieser bestimmten Erklärung, daß die Zeit erfüllt war, und daß der Erlöser erscheinen mußte, ehe diese Unempfänglichkeit überging in eine gänzliche Verstokkung und Erstarrung, von dieser kann der | Evangelist nicht weiter fortgehen in der geschichtlichen Erzählung, ohne sich selbst und seine Leser zu erheitern durch die tröstlichen Worte, welche folgen, Wie viele ihn aber aufnahmen, denen gab er Macht Gottes Kinder zu werden, die an seinen Namen glauben, welche nicht von dem Geblüt noch von dem Willen des Fleisches noch von dem Willen eines Mannes, sondern von Gott geboren sind. Viele mochten es sein oder wenige, diejenigen, die ihn aufnahmen, an denen ging das in Erfüllung; und so wie nur ein kleines Häuflein solcher Kinder Gottes beisammen war, aus Gott und seinem Willen geboren, so war auch das Reich Gottes fest gegründet, und die Pforten der Hölle konnten es nicht mehr überwältigen. Und darum eben fühlt der Apostel so bestimmt den Unterschied zwischen denen, die durch Christum Kinder werden, und zwischen denen, die auf irgend einen andern Ruhm, wie der war, den das jüdische Volk sich aneignete, ihre Kindschaft gegen Gott gründen wollen, wie auch der Apostel Paulus überall in seiner Verkündigung des Evangeliums und besonders in dem Briefe, den ich vorher angeführt habe, darauf ausgeht, dieses Verhältniß richtig auseinander zu sezen, um jeden andern Stolz zu beugen, um jeden andern Vorzug zu vernichten, damit nichts übrig bleibe als die Ehre, die Christo gebührt. Denn die Mitglieder des jüdischen Volkes rühmten sich 1 im] in 30–31 Vgl. Mt 16,18

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Kinder Gottes zu werden durch das Geblüt und durch den Willen des Mannes, indem sie meinten, weil sie Kinder Abrahams wären, so wären sie auch Kinder Gottes, da Gott ja auf den Abraham die Fülle seiner Verheißung niedergelegt habe, und daher dieselbe unverkürzt auf seine Nachkommen sich erstrekken müßte. Darum giebt nun der Apostel zu verstehen – vorzüglich denen, die Eigenthum des Herrn waren, aber die ihn nur in geringer Zahl aufnahmen, – welch ein Unterschied sei zwischen der neuen Kind|schaft derer, von denen der Erlöser selbst sagt, daß sie aus dem Geiste geboren sind, und zwischen der Kindschaft derer, die von dem Saamen Abrahams waren, und daß sie nicht in das Reich Gottes kommen würden, sie seien denn auch aus dem Geiste geboren; denen giebt er zu verstehen, was das für ein Unterschied sei, und wie das die rechte Kindschaft Gottes sei, wenn der Mensch aus Gott geboren wird zu einem unvergänglichen Leben in der Gemeinschaft mit dem Erlöser; aber diejenige Kindschaft Gottes, welche nur auf der natürlichen Abstammung und auf dem Willen des Fleisches und auf dem Willen des Mannes ruhe, sei dagegen etwas geringes; erst durch diese neue Geburt aus Gott sei das, weshalb das Licht in die Welt gekommen und das Wort Fleisch geworden ist, in Erfüllung gegangen. Aber auch uns, m. g. Fr., müssen diese Worte werth sein; denn auch zu unserm Glauben gehört wesentlich – und das innerste Gefühl eines jeden stimmt damit überein – daß, wenn gleich wir in dem Schooße der christlichen Kirche geboren sind und auch unsere Kinder so geboren werden, wir doch wissen, die Kindschaft Gottes hänge nicht ab von dem Willen des Fleisches oder des Mannes, sondern sie müssen aus Gott geboren werden. Die unsichtbare aber ewig lebendige Wirksamkeit des göttlichen Geistes ist nicht etwas durch die leibliche Geburt geschehenes, sondern ein Werk Gottes an jedem einzelnen, nicht für sich, sondern zusammenhangend mit jener großen Erscheinung, daß das Licht in die Welt gekommen, und das Wort Fleisch geworden ist. Seitdem nun wirkt, daß ich so sage, das Bestreben des göttlichen Wesens sich mit der menschlichen Natur zu verbinden durch die Kraft des göttlichen Geistes fort auf alle diejenigen, die des göttlichen Wortes theilhaftig sind, aber nicht durch die Kraft der Geburt und durch das Fleisch, sondern aus Gott müssen sie alle erst geboren werden. | Und nun, nachdem der Apostel hieher gekommen ist, fährt er fort, was wir uns aber auf nächstens vorbehalten, daß das Wort Fleisch geworden und unter uns gewohnet hat, und wir seine Herrlichkeit schauen; hier aber hat er uns zurükkgeführt auf dasjenige, was eigentlich durch die Erscheinung des Erlösers, durch das Eindringen des Lichtes in die Welt gewirkt worden ist, daß er nämlich allen denen, die an seinen Namen glauben, Macht gegeben hat Gottes Kinder zu werden. Ja, so ist es! m. g. Fr. Nur 8–11 Vgl. Joh 3,5 über Joh 1,14–18

28–29 Vgl. Joh 1,14

34–36 Vgl. unten 11. Mai 1823 früh

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Am 4. Mai 1823 früh

durch ihn haben wir die Vollmacht Kinder Gottes zu werden; nur dadurch, daß der Glaube an ihn in unserm Herzen lebendig ist, sind wir aus Gott geboren; nicht unsere eigene Kraft ist es, sondern er hat uns die Macht gegeben Kinder Gottes zu werden; nur dadurch, daß er, das fleischgewordene Wort Gottes, lebendig wird in unserm Herzen und sich in unserm ganzen Leben als eine bestimmende und unvergängliche Kraft offenbart, bleiben wir in ihm und er in uns, auf daß sich unter allen denen, die an ihn glauben, immer mehr offenbare die Herrlichkeit Gottes, welche er denen bereitet hat, die seinen Sohn aufnehmen und an ihn sich halten. Amen.

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Am 8. Mai 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

Himmelfahrt, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 28,20 Nachschrift; FHDS 34, 103/1, Bl. 1r–28v; Andrae Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 20–29 – Schleiermacher-Auswahl, ed. Bolli, 1968, 21980, 31983, S. 234– 244 (Textzeugenparallele; Vorlage in: FHDS 34, 103/1 [Bl. 1r–28v] und 103/2 [Bl. 1r–22v]) Nachschrift; FHDS 34, 103/2 [Bl. 1r–22v]; Andrae Nachschrift; SAr 103, S. 749–772; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 141r–141v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Himmelfahrts-Tage 1823 am achten Wunnemonds. | Preis und Ehre sei dem Herrn, der wieder aufgefahren ist zu dem Vater, von welchem er gekommen war. Amen. 5

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Tex t. Matth. XXVIII, 20 Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Mit diesen Worten m. a. F. schließt Matthäus sein Evangelium. Ohnerachtet er uns, wie Euch bekannt sein wird, keine bestimmte Erzählung giebt von der Himmelfahrt des Herrn, insofern dabei etwas für die leiblichen Augen des Menschen zu schauen war: so sind dies doch die letzten Worte, | welche er den Erlöser reden läßt zu seinen Jüngern, und also auch die letzten, von welchen der Evangelist wußte, innig verbunden mit dem letzten Auftrage den der Herr seinen Jüngern gab, und also auch mit seiner gänzlichen Entfernung von der Erde, durch welche sie erst vollkommen in seine Stelle traten, und den Beruf beginnen konnten, den er ihnen ertheilte. Lukas in der Apostelgeschichte erzählt uns, als der Herr in einer Wolke zusehends aufgehoben wurde von der Erde, und sich allmählig den Augen der Jünger entzog, und sie ihm nachsahen gen Himmel: da | hätten bei ihnen gestanden zween Männer in weißen Kleidern und zu ihnen gesagt „Ihr Männer von Galiläa, was stehet Ihr da und sehet gen Himmel? Dieser Jesus wird 15–1 Vgl. Apg 1,9–11

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wiederkommen, wie Ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“ Dies m. g. F. war gewiß für den Augenblick der beste und beruhigendste Trost, den die Jünger des Herrn erhalten konnten, daß auch diese Trennung von ihrem Herrn und Meister etwas dem Wesen nach vorübergehendes sei, wenn ihnen gleich freilich nicht gesagt wurde, und sie sich nicht denken konnten, wie weit das Ende derselben | noch hinausgesetzt sei, daß er wiederkommen würde, wie sie ihn gesehen hätten gen Himmel fahren. Uns aber m. g. F., die wir seines leiblichen Anbliks nicht genossen haben, und nicht Augenzeugen gewesen sind seiner Erhebung von der Erde, uns ist dieser Trost, den uns die Worte geben, welche der Herr selbst in Beziehung auf seine gänzliche Entfernung von der Erde ausgesprochen hat, ohnstreitig der erhebendste und gedeihlichste. Wenn wir denken an die frühere Zeit seines menschlichen Lebens und Wandelns unter den Menschen und nun daran daß er erhoben ist gen Himmel, und etwa bedauern | möchten, daß er nicht noch hier auf Erden unter den Seinigen wandelt: dann ergreift uns auf eine herrliche und seiner wahrhaft würdige göttliche Weise der Trost „Siehe ich bin euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Wie nun m. g. F., jene auf dem Schiffe, als der Herr durch sein Wort das Toben des Meeres und das Brausen des Sturmes stillte, sich unter einander fragten, Wer ist denn der, daß ihm auch Wind und Meer gehorsam sind? so möchten wir, wenn der Herr sagt, er sei nicht fern von uns ohnerachtet seiner Erhebung von der Erde, sondern unter uns bis an das Ende der Tage, so möchten wir | unter einander nicht fragen: wer ist der, welcher sich zuschreibt, daß er allgegenwärtig sei, indem er ja eben als er dieses sagte seinen Jüngern den Auftrag gab, sich über die ganze Erde zu zerstreuen? aber doch möchten wir fragen: wie ist es denn, daß er bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende? welches ist die Gegenwart unter uns, die er sich zuschreibt? Auf diese Frage nun finden wir die Antwort in einer Rede des Herrn, welche uns aufgezeichnet hat der Evangelist Johannes im sechsten Kapitel seiner Lebensbeschreibung, | wo der Herr nämlich zu seinen Jüngern, als es sie verdroß, daß viele von seinen Zuhörern dasjenige, was er gesagt hatte, für eine unbegreifliche und harte Rede hielten, zu ihnen sagt „Aergert Euch das? Wie erst das, wenn des Menschen Sohn wird aufgefahren sein, von wannen er gekommen ist. Der Geist ist es, der da lebendig macht; das Fleisch ist kein nüze; die Worte, die ich zu Euch rede, die sind Geist und Leben.“ Da weiset er sie also mit deutlicher Beziehung auf diese Zeit, wo sein menschliches Leben ganz würde beendigt werden, auf seine geistige Gegenwart, indem er sagt, der Geist sei es, | der da lebendig mache, das 6 noch] Ergänzung aus SAr 103, S. 751 17–20 Vgl. Mt 8,24–27; Mk 4,37–41; Lk 8,23–25 36 Joh 6,60–63 38–3 Joh 6,63

24–25 Vgl. Mt 28,19

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Fleisch sei kein nütze, und diese geistige Gegenwart würde ersetzt werden in seinem Wort, indem er hinzufügt „die Worte, die ich zu Euch rede, die sind Geist und Leben.“ Daß also die Allgegenwart des Erlösers unter den Seinigen bis an das Ende der Tage keine andre ist als die Allgegenwart seines ewigen unvergänglichen lebenden Wortes, und daß er so unter uns ist bis an das Ende der Tage, das ist es, worüber wir jetzt weiter miteinander reden wollen. Es ist aber freilich zu besorgen, daß Manche sich nicht | mögen befriedigt fühlen auf den ersten Augenblick durch diese Erklärung von der Gegenwart des Herrn. Wie viele Khristen giebt es nicht, welche einen Werth darauf legen, Bilder von Menschenhänden gemacht, die Gestalt des Erlösers darstellend, vor ihre Augen zu halten, um sich daran zu erquicken und zu erbauen, und sich ihn dadurch auf eine sinnlichere Weise zu vergegenwärtigen. Aber m. g. F., die Schrift nennt uns nichts von der Gestalt und von dem äußeren Ansehen des Herrn; mit ihm zugleich, wie er in der Wolke erhoben wurde gen Himmel, ist | jede Spur davon verschwunden; kein Gleichzeitiger hat die Züge seines Angesichtes aufgenommen, um sie den künftigen Geschlechtern zu bewahren; sondern es ist nur die fromme Erfindungsgabe der Menschen, die bald mehr bald minder glücklich das Ebenbild des eingebornen Sohnes in menschlichen Zügen darzustellen sucht – und so giebt uns für eine solche sinnliche Vergegenwärtigung des Erlösers weder die Geschichte noch seine eigenen Worte und Verheißungen irgend eine Unterstützung. Aber andre giebt es welche meinen, das Wort sei ja doch nur ein todter Buchstabe; in der innersten Tiefe und Verborgenheit ihres Herzens, da möchten sie | auf eine unbegreifliche aber gewisse, an kein Wort gebundene und durch kein Wort bedingte Weise die geistige Nähe und Gegenwart ihres Herrn empfinden. O das m. g. F. das ist der Durst eines Herzens, welches nach der wahren und lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser strebt; aber wenn ein solches sich nicht befriedigt fühlt durch die Anleitung, welche uns die Schrift giebt, so kann es nur daher kommen, wenn es seine Worte nicht versteht. Denn er sagt nicht, daß sein Wort unter uns wohnen soll wie ein todter Buchstabe – das wäre wieder nur auf | eine andere Weise das Fleisch, von welchem er sagt, daß es kein nüze sei, – sondern Geist und Leben soll sein Wort in uns werden, es soll uns bewegen in dem Innersten unsers Gemüths, und da seine unmittelbare Nähe und Gegenwart verkündigen und ausüben. Aber anders können wir sie nicht in uns hervorrufen als durch die lebendige Auffassung seines Wortes, und anders kann sie sich nicht in uns bewähren, anders kann jene Erscheinung des Herrn sich nicht in uns offenbaren, als wenn Geist und Leben aus dem Worte des Herrn | entsprungen ist, und dieses geistiger aus demselben hervorgeht. Auf diese Weise also laßt uns sehen, wie der Herr unter uns gegenwärtig ist mit seinem Worte. Es geschieht aber dies dadurch, einmal 32–33 Vgl. Joh 6,63

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daß sein Wort in uns wird zu einem inbrünstigen Gebet; dann daß es in uns wird zu einem lebendigen Gesez; und endlich dadurch daß es in uns wird zur freien Erkenntniß. Dies sei es denn was wir jetzt näher mit einander erwägen wollen, und wozu ich mir Eure khristliche Aufmerksamkeit erbitte.

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I. Zuerst sage ich die Gegenwart des | Herrn unter uns beweiset sich dadurch, daß sein Wort in den Gläubigen wird zu einem inbrünstigen Gebet. Das hat er selbst gesagt bei dem nämlichen Evangelisten, aus welchem die Worte unsers Textes genommen sind. Wenn zwei oder drei unter Euch Eins werden, was sie bitten wollen, so wird es der Vater ihnen geben; denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Wie könnten wir aber wohl m. g. F. Gebet und Fürbitte vor Gott bringen und Eins werden darüber, was wir bitten wollen | in seinem Namen versammelt, wenn es nicht sein Wort ist, das in uns zum Gebet und zur Fürbitte wird? Wie wenig können wir sicher sein auch der wohlgemeintesten Wünsche unsers eignen Herzens, daß sie sich nicht doch entfernen von demjenigen, was allein in seinem Namen kann gebeten werden? Aber wie sollten wir auch m. g. F., wo wir eine solche herrliche Fülle von Worten des Erlösers haben, die in uns Geist und Leben werden müssen, sobald wir sie uns aneig|nen mit dem lebendigen Glauben an ihn, wie sollten wir wohl zu irgend etwas Anderm nöthig haben unsre Zuflucht zu nehmen, oder wie sollte irgend etwas anderes aus einem khristlichen Gemüth als Gebet zu Gott emporsteigen? Wie der Herr gesagt hat, als er auf Erden wandelte „Ich bin gekommen ein Feuer anzuzünden, und wie wollte ich es brennte schon“; wie er gesagt hat, über die Menschen die ihn umgaben trauernd und weinend „O Jerusalem, bedächtest du auch nur in dieser deiner | Stunde was zu deinem Frieden dient“; wie er während seines irdischen Lebens selbst rufend umhergegangen ist und die Seinigen gesandt hat zu rufen „Das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen; so thut nun Buße, damit ihr eingehet in dasselbe“: o m. g. F. wie sind das Worte des Erlösers, die in jedem gläubigen Gemüth in jedem andächtigen Augenblik müssen Gebet und Fürbitte werden; wie sind das Worte, über welche so leicht und gewiß, wenn sie über alles andre streitig werden | und uneinig, die Gemüther der Khristen einig werden können und müssen vor Gott. Wenn wir nun darum bitten, wie er uns gelehrt hat zu beten, daß sein Reich komme und sich immer weiter verbreite über diejenigen, die noch fern sind von seinem Namen, und immer mehr Gewalt gewinne in jedem Gemüthe; wenn wir alle voll Liebe zu ihm und voll Glauben an ihn in dem Bewußtsein des Friedens, der durch ihn in die versöhnte Seele kommt, eben dieses himmli|sche Gut 9–11 Vgl. Mt 18,19–20 30 Vgl. Mt 4,17; Mk 1,15

23–24 Vgl. Lk 12,49 26–27 Vgl. Lk 19,42 35 Vgl. Mt 6,10; Lk 11,2

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so gern allen denen gönnen möchten, die ihre Ruhe und Zufriedenheit noch in etwas Anderm suchen, und nun bittend und flehend ausrufen: o möchten die Menschen, die verblendeten und verirrten, bedenken was zu ihrem Frieden dient; möchten sie Frieden und Glükseligkeit, Leben und Heil nirgend anders suchen als bei dem Einen, bei dem es gewiß zu finden ist für alle; möchten sie aus der Quelle schöpfen, die in allen, welche daraus schöpfen, selbst zu einem | Quell des lebendigen Wassers wird, das in das ewige Leben rinnt – o m. g. F. das ist die Sehnsucht des Herrn selbst, die ihn vom Himmel auf die Erde getrieben hat, um dem verirrten und verlornen Geschlecht der Menschen Heil zu bringen, die dann aus uns redet und betet. Und dabei m. g. F., sollten wir irgend etwas vermissen was Geist und Leben ist von seiner lebendigen Gegenwart? dabei sollten wir nicht gewiß sein, was wir so in seinem Namen bitten, das wird der Vater geben? Das könnte für | irgend einen unter uns nur ein fremder äußerer todter Buchstabe sein? Nein m. g. F., es ist das Leben des Glaubens selbst, welches aus der Brust, in der er Wurzel gefaßt hat, sich weiter verbreitet auch über das Gebiet menschlicher Seelen und so weit der menschliche Name geht; es ist die Sehnsucht, von welcher die Gemeine des Herrn von jeher gebrannt hat, und die sich verkündigt in allen heiligen Geschichten derer, die das Wort zur That gemacht haben, wie denn kein Wort ist, wel|ches Geist und Leben wäre, was nicht auf irgend eine Weise zur That würde. – Da sehen wir die Züge des Erlösers, da sehen wir seine lebendige Gestalt in dem, was er selbst, seitdem er von der Erde entfernt ist, seinen Leib nennt; so steht er selbst vor uns in dem gottgeweihten und gottseligen Leben derer, die an seinen Namen glauben und ihr Heil gefunden haben; und so sehen wir in dem Gebet zugleich die Erfüllung in dem was geschehen ist seit so vielen Jahrhunderten. | II. Zweitens aber m. g. F. seine Gegenwart unter uns verkündigt sich dadurch, daß sie in uns wird zu einem lebendigen Gesez. Erinnert Euch dessen, was der Herr sagt bei dem Evangelisten Johannes im vierzehnten Kapitel „Wer mein Wort hält, den wird mein Vater lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Sehet da m. g. F. wie ist es möglich, daß Gott, daß der Vater mit seinem Sohne Wohnung mache in einer menschlichen Brust, als nur indem er | wirksam ist in derselben? wie eben der Herr sagt „Mein Vater wirkt bisher und ich wirke auch.“ Wo er und der Vater wohnen, da müssen beide auch wirken. Wie aber das Wirken und Walten Gottes in der Welt nicht sowohl besteht in dem Einfluß als in der großen Zusammenstimmung der ewigen Geseze, nach denen er die Welt regiert, und wir ganz 6–8 Vgl. Joh 4,14

31–33 Vgl. Joh 14,23

36 Joh 5,17

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eigentlich als das eigenthümliche Werk des Vaters ansehen, daß er Geseze gege|ben der Welt, die er geschaffen, und den Menschen, die er nach seinem Bilde geschaffen hat, jener indem er sie in ihr innres Leben, diesen indem er sie in die Tiefen ihrer Brust hineinsenkt: so wenn der Vater und der Sohn kommen und Wohnung machen in dem Menschen, so wird ihre Gegenwart in demselben ein lebendiges Gesez, das ihn regiert. Der Herr aber spricht „Das ist mein Gebot, welches ich Euch gebe, daß Ihr Euch untereinander liebt, wie ich Euch geliebt habe.“ In diesem | Worte m. th. F. haben wir beide, den Vater und den Sohn. Denn der Vater ist es, dessen Liebe den Sohn gesendet hat, welcher selbst sagt „Wie mich der Vater liebt so liebe ich Euch; und wie mich der Vater gesendet hat, so sende ich Euch.“ Der Sohn aber hat uns, indem er den Willen des Vaters erfüllte, durch welchen er Eins ist mit ihm, geliebt mit der erlösenden Liebe, durch welche eben der Vater selbst seine Liebe preist, daß er seinen Sohn für uns gesandt und in den | Tod gegeben hat, da wir noch Sünder und Feinde waren. Wohl ist also das Wort des Herrn, welches in uns Geist und Leben wird, und seine Gegenwart in uns verkündigt, ganz vorzüglich dies, daß wir uns unter einander lieben sollen mit derselben Liebe, mit der er uns geliebt hat. Und wie er sagt „Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich habe Euch erwählt“: so auch wir m. a. F., sollen nicht warten, bis die Menschen uns suchen und uns erwählen, um diesen oder jenen Dienst von uns zu fodern, da|mit sie gefördert werden auf dem Wege des Heils; sondern wie von Anbeginn seine ersten Diener und Jünger, so noch immer dringt und treibt die Liebe Khristi eine jede von lebendigem Glauben an ihn erfüllte Seele, um mit den Gaben des Geistes, die er in sie gesenkt hat, wirksam zu sein, wo sie nur irgend kann, zum Heil der Menschen. Zu erwählen alles das, was der Vater selbst durch seine Führungen einem jeden gegeben hat, und daran zu erweisen die Liebe, die der Herr an uns bewiesen hat, zu uns | rufend das Mühselige und Beladene, um es zu trösten und zu erquicken, suchend das Verlorne um es selig zu machen, nicht durch unsre Kraft, sondern durch die seinige, die in uns lebt und wirkt – das ist die Gegenwart seines Wortes als eines lebendigen Gesezes in unserm Herzen. Und dabei m. g. F. sollten wir noch irgend etwas anderes vermißen? irgend eine sinnliche lebendige Gegenwart des Erlösers sollten wir uns wünschen? Was sehen wir denn in der ganzen Ge-| meine der Gläubigen, in der ganzen Geschichte der khristlichen Kirche walten, als eben das Gesez der Liebe, womit der Herr die Seinigen geliebt hat? O es glänzt aus jedem lebendigen Zuge der Verbindung der Khristen, es kommt uns entgegen in seiner milden belebenden erquikenden Gestalt 4–5 Vgl. Joh 14,23 7–8 Vgl. Joh 15,12 10–11 Joh 15,9 11 Joh 20,21 14–15 Vgl. Röm 5,10 17–18.36 Vgl. Joh 13,34; 15,12 19 Joh 15,16 28– 29 Vgl. Mt 11,28 29–30 Vgl. Lk 19,10

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überall, wo wir hinsehen auf das, was die Gemeine des Herrn von seinem Geiste und von seiner Liebe getrieben gewirkt hat; wir sehen darin ihn selbst, sein geistiges Ebenbild, erneuert und | erweitert dargestellt in dem Bunde der Khristen, den er gestiftet hat. Da ist Geist und Leben, wo das Gebot der Liebe waltet, welches er gegeben hat, und kein anderer Geist als der seinige, kein anderes Leben als das, welches von ihm kommt. Wo diese Liebe waltet, da ist er gewiß gegenwärtig und gekommen und hat Wohnung gemacht mit seinem Vater. Wie könnten wir unmittelbarer seine Nähe und Gegenwart fühlen als in jeder erregenden Liebe, die unser Herz durchströmt, als in jedem erquikenden Worte, das | von unsern Lippen geht, ein Abglanz und ein Abbild von dem Worte des Herrn, als jedesmal, wo einer von uns die tröstende Hand denen reicht, die betrübt sind, die stärkende denen, welche gefallen sind und straucheln. Ueberall in jedem belebenden Zuge, welcher das Leben der Khristen ausmacht, ist die Nähe des Herrn. Ja nicht wir sind es, sondern er ist es, der das wirkt in allen denen, die an seinen Namen glauben. | III. Endlich m. g. F. die Gegenwart des Herrn verkündigt sich in uns dadurch, daß sein Wort in uns wird nach dem Maaße eines jeden eine freie Erkenntniß – welches nichts anderes sagen will als ein lebendiger Glaube. Der Herr sagt in einer seiner Reden, welche uns der Evangelist Johannes verzeichnet hat in seinem achten Kapitel, zu den Juden die ihn hörten, noch wären sie Knechte, aber die Wahrheit müsse sie frei machen; so lange sie sich aber hielten an Moses, der da | gewesen sei ein Knecht des Herrn, wären sie noch nicht auf dem Wege der Befreiung, denn der Knecht bleibe nicht ewiglich in dem Hause des Herrn; der Sohn aber bleibt ewiglich, sezt er hinzu, und der Sohn muß Euch frei machen; so Euch der Sohn frei macht, so seid Ihr recht frei. Und in einer andern Rede, die uns derselbe Evangelist aufbewahrt hat in seinem fünfzehnten Kapitel, sagt der Herr zu seinen Jüngern „Ich sage hinfort nicht mehr, daß Ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht | was sein Herr thut, Ihr aber wisset es, denn alles was der Vater mir gegeben hat habe ich Euch kund gemacht.“ Also, so spricht er selbst, wenn wir dies alles zusammennehmen, in der ganzen Fülle seines Wortes, worin er uns kund gemacht hat alles dasjenige, was der Vater ihm gezeigt und ihm für das Geschlecht der Menschen mitgegeben hat, in dieser Fülle des Wortes ist die Freiheit, weil wir nämlich nun wissen, daß wir in allem, was unser Herz von dem uns kund gemachten Wort ergreift, | in freier Ueberzeugung mit ihm Eins sind. So sind wir denn frei durch die Wahrheit, so wie durch den Irrthum, durch den Wahn und die Verblendung jeder ein Knecht ist. So geht das Wort des Herrn in Erfüllung, welches er betend 7–8 Vgl. Joh 14,23

20–28 Vgl. Joh 8,31–36

30–32 Vgl. Joh 15,15

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gesprochen hat ehe er sein Leiden antrat „Herr heilige sie in deiner Wahrheit, dein Wort ist die Wahrheit.“ Geheiligt Gott m. g. F. sind nur die Freien, nichts Knechtisches kann dem Herrn geweiht sein. Geheiligt werden wir durch die Wahrheit, weil wir befreit werden durch die Wahrheit. Aber keine andre giebt | es als das Wort Gottes. Das aber wüßten wir nicht, wenn der Sohn es uns nicht offenbart hätte. Darum ist Er uns die Wahrheit geworden, weil er uns gebracht hat das göttliche Wort und uns kund gemacht, was der Vater ihm gegeben. Das wird nun m. g. F. in allen die es annehmen eine freie Erkenntniß. An kein anderes menschliches Wort gebunden nehmen wir nun aus seiner Fülle wie Gnade um Gnade so auch Wahrheit um Wahrheit. Uns allen steht sie offen; und wie er die Liebe ist, so ist auch sein Wort die Liebe, giebt sich jedem | durstigen Gemüthe hin, eignet sich einen jeden an auf seine Weise, und wird von einem jeden so gestaltet und so angewendet, daß sein eigenthümliches Heil aus demselben hervorgeht. Haben wir nur ein geöffnetes Ohr um sein Wort zu belauschen, und nehmen wir dasselbe auf ohne unser eigenes Hinzuthun: so wird es für einen jeden sein Heil. Und eben indem das Wort des Herrn in einem jeden eine freie Erkenntniß wird; eben indem jeder auf dem Einen Grund, der einmal gelegt ist, und einen andern als welchen keiner legen kann, welcher ist | Khristus der Herr, baut nach der Freiheit seines Gemüths, welches der Sohn frei gemacht hat: so entsteht eben aus diesen vereinigten Bemühungen der befreiten Khristen der geistige Tempel des Herrn, den seine Gemeine darstellen soll. Wie der Herr selbst als er auf Erden wandelte aus seiner eigenen Fülle genommen hat die Worte des Lebens, die er den Menschen gab, nicht angenommen hat irgend eines andern Menschen Wort, und seine Worte nicht hat richten lassen von irgend einem andern Menschen: | so schallt auch sein Wort frei und ungehemmt, keinem menschlichen Richterstuhl unterworfen, keinem fremden Zusaze zugänglich, wenn wir uns nicht selbst dadurch die lebendige Kraft desselben schwächen wollen, so schallt es in den Gemüthern der Gläubigen, so verklärt es der Geist Gottes jedem auf seine eigene Weise; und nur indem wir es so annehmen und ausbilden, werden wir theilhaftig des Ruhmes, den der Herr seinen Jüngern gegeben hat „Ich sage hinfort nicht mehr, daß Ihr Knechte seid, denn Ihr | seid meine Freunde, weil ich Euch alles gegeben habe, was der Vater mir kund gemacht hat.“ Wenn also unserm Durst nach Wahrheit und Erquikung, nach Festigkeit des Herzens das Wort des Herrn sich hingiebt, sich einem jeden in der innersten Tiefe des Gemüths enthüllt zu einem immer reichern Schatz von Wahrheit und Zufriedenheit, wenn wir immer mehr hineinschauen lernen durch das 31 nur] Ergänzung aus SAr 103, S. 767 1–2 Joh 17,17 Joh 15,15

9–10 Vgl. Joh 1,16

18–20 Vgl. 1Kor 3,11

32–34 Vgl.

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Wort des Herrn auf der einen Seite in die Tiefen unsers eignen Herzens, damit uns nichts mehr darin verblende und betäube, da|mit uns kein Schatten und keine Spur des Verderbens verborgen bleibe; auf der andern Seite aber auch immer mehr hinausschauen in die Werke, die der Vater dem Sohne gezeigt, ja durch ihn vollbracht hat, und uns so immer mehr fügen und finden lernen in die unbegreiflichen zwar aber gnädigen Wege des Herrn, uns immer tiefer versenken in die Fülle und in den Umfang seiner ewigen Rathschlüsse, immer sorgfältiger merken auf dasjenige, was unsre Gedanken und Wünsche in diesem irrdischen | Leben beschäftigt, immer mehr begreifen lernen das Eine ewig gepriesene Werk der Erlösung dadurch, daß das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat: dann m. g. F., ist das Wort des Herrn als eine freie Erkenntniß, als ein lebendiger Glaube, Geist und Leben in uns geworden; dann, wie der Apostel, dürfen wir mit Recht auch in dieser Beziehung sagen, sind wir es nicht sondern Khristus ist es, der in uns lebt; Er der da weiß was in dem Menschen ist, Er allein kann auch uns erleuchten zu | einer wahren und lebendigen Erkenntniß; und nur er ist es, durch welchen wir in die Tiefen unsers eignen Innern dringen. Wie er es war, dem der Vater seine Werke gezeigt hat und ihm immer noch größere zeigt: so ist auch er es allein, der uns die göttlichen Geheimniße enthüllen kann, der sie uns enthüllt hat und sie den gläubigen und aufmerksamen Gemüthern immer mehr enthüllt durch die Kraft seiner Worte, wenn wir nur sehen, wie sie von einer Zeit zur andern immer glorreicher in Erfüllung | gehen an dem, der sich dieselben reichen läßt durch den Herzog der Seelen, der sich den Glauben reichen läßt durch den Anfänger und Vollender des Glaubens. So leben nicht wir, sondern er in uns, immer mehr erleuchtend das Auge unsers Geistes und die Tiefe unsers Herzens. Und das m. g. F., ist seine befreiende, seine erregende, seine den Geist erfüllende und sättigende Gegenwart. O wenn wir auf dieses Walten des göttlichen Wortes sehen von jener Zeit an, wo zuerst seine Jünger mit der Kraft aus der Höhe erfüllt | zusammentraten, um das Wort des Lebens, welches der Herr ihnen kund gemacht hatte, zu verbreiten unter den Menschen; wie seitdem alle begnadigte Gemüther, jedes auf seine eigene Weise, immer tiefer eingedrungen sind in seine göttliche Fülle und in den ewigen Reichthum der Offenbarung Gottes in Khristo; wie seitdem keiner, der das Heil in Khristo erkannt hat, hat sagen dürfen, daß er ungelöschten Durstes fortgegangen sei, wenn er heilsame Wahrheiten schöpfen wollte aus sei|ner Fülle: ist das etwas Geringeres als was der Herr selbst durch seine menschliche Gegenwart gewirkt hat? Sehen wir nicht in einem weit größeren Maaße jene seligen Wirkungen, die damals nur einzelne Menschen erfahren konnten, und verkündigt sich nicht dadurch die Gegenwart des Herrn jetzt um 4–5.18–19 Vgl. Joh 5,20 11 Vgl. Joh 1,14 Joh 2,25 24–25 Vgl. Hebr 12,2

14–15.25 Vgl. Gal 2,20

15 Vgl.

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so herrlicher, als der Himmel, wo er ist, und von wo er uns seine Gegenwart schenkt, höher und herrlicher ist als die Erde? Ja wohl | m. g. F., mögen wir sagen, wenn wir zusammenfassen, wie sein Wort Geist und Leben in uns wird in inbrünstigem Gebet, wie es Geist und Leben in uns wird in dem lebendigen Gesez, welches unser ganzes Dasein regiert, in dem Gesez seiner ewigen himmlischen Liebe, wie es Geist und Leben in uns wird in der freien Erkenntniß, welche die Fülle seines Wortes allen heilsbegierigen Seelen darbietet: dann mögen wir sagen in diesem Worte „Ich bin bei Euch alle | Tage bis an der Welt Ende“ hat er uns reichlich entschädigt dafür, daß er aufgefahren ist gen Himmel, und daß seine menschliche Gestalt nicht mehr dem leiblichen Auge sichtbar unter uns wandelt. Denn wie schon in den Tagen seiner Auferstehung, deren Ende wir hiermit feiern, nur in einzelnen und nur in flüchtigen Augenbliken der Erlöser erscheinen konnte seinen Jüngern, um mit ihnen zu reden und zu leben, die übrige Zeit aber verborgen war vor ihnen: wie könnte es anders sein, wenn er jezt noch leiblich auf Erden | wandelte, als daß er auch als Mensch nur Einzelnen unter uns erscheinen könnte und mit ihnen und für sie leben? Ja jeder andre Ersatz, den wir uns denken könnten für seine leibliche Gegenwart, würde auch nichts anders sein können als so zerstreutes und so verschwindendes. Ewig allgegenwärtig aber und ewig lebendig ist sein Wort; es wogt ununterbrochen und haucht Leben überall, wo nur der Name des Herrn erschollen ist; kein Augenblick ist, welcher nicht von der belebenden Kraft desselben erfüllt wäre und eben deswegen einen Pulsschlag darstellte von dem geistigen Leben, | welches der Herr unter den Seinigen führt. Ja wenn er uns noch eine andre Gegenwart verheißen und vergönnt hat, nämlich die in seinem heiligen Sakrament: so sind wir weit entfernt diese trennen zu wollen von der lebendigen Gegenwart seines Wortes, vielmehr beruht sie auf den lebendigen und ewig kräftigen Worten seiner Einsezung. Was haben wir da und was genießen wir? Nichts anders als daß das inbrünstige Gebet in dem Augenblik selbst die Erfüllung findet, und der Vater uns giebt, was wir ihn bitten in dem Namen des Sohnes; nichts anderes als daß das lebendige | Gesez sich verbreitet in seinen heilsamen Wirkungen unter allen, welche Glieder sind an dem geistigen Leibe des Herrn; nichts anderes als daß, wenn wir sein Fleisch essen und sein Blut trinken, wie er selbst gesagt hat, daß alles Sinnliche dabei nicht nüze sei, dann sein Wort, das Wort welches er selbst gewesen ist, Leben in uns wird, und uns von einer Stufe der Kraft und der Seligkeit zur andern hinführt. Möchten wir nur m. g. F., immer so seine Gegenwart unter uns feiern und ihrer froh werden; möchten wir uns nie loken lassen von irgend einem andern Worte als dem seinigen, welches uns ja kein Leben bringen könnte | sondern den Tod; möchten wir uns durch nichts trennen lassen von dem Rechte welches er 34 Vgl. Joh 6,54–56

35–36 Vgl. Joh 6,63

41–2 Vgl. Joh 15,16

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uns gegeben hat, uns in seinem Namen dem Vater zu nahen in Gebet und Fürbitte; möchten wir keiner Menschensazung je wieder gehorchen, sondern allein dem lebendigem Gesez des Geistes; möchten wir uns unter kein Menschenwort je gefangen nehmen lassen, die der Herr selbst frei gemacht hat zur freien lebendigen Erkenntniß seines Wortes. O dann wird der Herr durch seine Gegenwart sich unter uns beweisen, und froh werden wir werden des Gefühls, daß er bei uns, unter uns und in uns ist alle Tage bis an der Welt Ende. Amen. | Ja aufgefahrner Erlöser, auch Du bist nicht fern von einem jeglichen unter uns, denn in dir leben und weben und sind wir. O zeige Du immer mehr unter uns dein geistiges Leben; laß dein Wort immer wirksamer werden, und die Früchte deines Geistes immer mehr und immer herrlicher unter uns reifen. Mache deine Kirche immer würdiger des heiligen Namens, den sie führt, daß sie dein Leib ist; laß keine Bewegung in ihr sein, die nicht ausginge von Dir dem Haupte, und alle immer mehr zusammenstimmen in Einheit des Glaubens und der aufrichtigen erlösenden Liebe, durch welche beide Du uns das Heil gebracht hast, dessen der Vater im Himmel uns würdigte. Wir hoffen auf Dich, vollbringe Du Dein Werk unter uns nach Deinem Wohlgefallen. Amen.

[Liederblatt vom 8. Mai 1823:] Am Himmelfahrtstage 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel’ etc. [1.] So gingst zu deinem Lohne / Du Herr ins Haus des Vaters ein: / Dein ist des Siegers Krone / Und Ruhm und Herrlichkeit sind dein. / Empor aus diesem Staube / Schwangst du zum Himmel dich: / Nun steht der Jünger Glaube / Wol unerschütterlich. / Das Werk ist wohl vollendet, / Vollbracht gewiß dein Lauf, / Denn Gott, der dich gesendet, / Nimmt dich nun wieder auf. // [2.] Wir blicken voll Verlangen, / Vollendeter, ans Ziel dir nach, / Du bist vorangegangen, / Erfüllt ist, was dein Mund versprach. / Wir blicken mit Erhebung, / Vollendeter, zu dir, / Denn Hoffnung und Ergebung / Gewährt dein Vorbild hier. / Du trugst die schwere Bürde, / Verfolgung, Schmerz und Spott; / Doch zu welch hoher Würde / Erhebt dich nun dein Gott. // [3.] Noch wandeln wir im Glauben, / Doch jenseit einst bei dir im Schaun! / Dein Trost soll nichts uns rauben, / Auch nicht des Todes dunkles Graun. / Auch deine Pfade wa9–10 Vgl. Apg 17,27–28

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ren / In seine Nacht gehüllt; / Und wie hast du erfahren, / Das Gott sein Wort erfüllt. / So währt auch unser Leiden / Nur eine Spanne Zeit, / Und reine Himmelsfreuden / Bringt uns die Ewigkeit. // [4.] Ob sich zu blutgen Kriegen / Die Falschheit gegen uns vereint; / Doch wird die Wahrheit siegen, / Weil du gesiegt, du Wahrheitsfreund! / Die Stätt’ ist ja bereitet / In einer bessern Welt; / Und dorthin wird geleitet, / Wer Glaub und Treue hält. / Dein Wort muß frei erschallen, / Das Seelen zu dir führt; / Die Feinde müssen fallen, / Denn du hast triumphirt. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Jerusalem du etc. [1.] Du schwangest dich aus deinem Felsengrab, / Der Himmel nahm dich auf; / O sende Kraft auch in mein Herz hinab / Und fördre meinen Lauf. / Von einer Kraft zur andern / Eilt dahin, wo du bist, / Dein Pilger; er muß wandern, / Bis er bei dir einst ist. // [2.] Du bittest dort für uns nun immerdar, / Und giebst uns deinen Geist, / Bleibst allen nah, daß die versöhnte Schaar / Der Sünde sich entreißt. / Hirt weide deine Heerde, / Daß nichts ihr mangle hier, / Bis sie von dieser Erde / Erhöhet wird zu dir. // [3.] Zieh mich hinauf, der du die Stätte dort / Auch mir bereitet hast! / Ich schau empor zu jenem selgen Ort, / Und leicht wird jede Last. / Ich werde nie verderben, / Denn ich bin Gottes Kind; / Mit denen soll ich erben / Die jezt schon bei dir sind. // [4.] Mein siegreich Haupt dort in der Herrlichkeit! / Du lebest und regierst, / Ich bin dein Glied; lieg ich gleich noch im Streit / Bis du zum Frieden führst. / Doch darf ich nicht erliegen, / Wie stark der Feind auch sei; / Denn daß ich könne siegen / Stehst du mir kräftig bei. // (Döring.) Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen etc. Seht der nun versöhnten Erde / Ist des Menschen Sohn entschwebt, / Daß er wieder himmlisch werde, / Daß ihr euch zu ihm erhebt. / Dringt in jenes selges Leben! / Ihm ist alle Macht gegeben / Eure Seelen zu erneun, / Euch auf ewig zu erfreun. //

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Exaudi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,14–18 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 29–42; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 141v–142r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 9r–14v; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am Sonntage Exaudi 1823.

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Tex t. Joh. 1, 14–18. Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Johannes zeuget von ihm, ruft und spricht, Dieser war es, von dem ich gesagt habe, nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist, denn er war eher denn ich; und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Denn das Gesez ist durch Mosen gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden. Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schooß ist, der hat es uns verkündet. Wenn wir, m. a. Fr., diesen Abschnitt, dessen einzelne Theile wol allen Christen leicht verständlich sind, in seinem rechten Zusammenhange verstehen wollen: so müssen wir zuvörderst auf den Zusammenhang der frühern Worte des Apostels zurükkgehen. Nachdem er zuerst gesagt hatte, daß das ewige Wort von An|fang an das Leben und das Licht der Menschen gewesen sei, aber das Licht habe nur in die Finsterniß hineingeschienen, und die Finsterniß habe es nicht begriffen, nachdem er in diesen Worten den ganzen Zustand der Menschen vor der Erscheinung des Herrn, den alten Bund Gottes mit seinem Volke mit eingeschlossen, geschildert hatte: kam er hernach auf dasjenige, was gleichsam den Uebergang bildet von dem einen zum andern, indem er sagt, Es war ein Mensch von Gott gesandt, Johannes mit Namen, um von dem Lichte zu zeugen, und sezte hinzu, das wahrhaf15–18 Vgl. Joh 1,4–5

22–2 Vgl. Joh 1,6–10

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tige Licht, von welchem Johannes zeugen sollte, sei schon in der Welt gewesen; womit er uns daran erinnert, was wir alle wissen, daß, als Johannes auftrat um zu verkündigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, der Heiland der Welt schon sei geboren gewesen. Aber er machte dann darauf aufmerksam, weshalb ohnerachtet das wahrhaftige Licht schon in die Welt gekommen war, nicht mehr in die Finsterniß bloß hineinschien, dennoch das Zeugniß des Johannes nothwendig gewesen sei, weil nämlich die Welt es nicht anerkannt habe, ja ohnerachtet es in sein besonderes Eigenthum gekommen sei, doch die seinigen es nicht angenommen hätten. Wie er sich nun damals, wie wir auch bemerkt haben, nicht enthalten konnte gleich davon zu reden, wovon sein Herz voll war, nämlich was nun alle diejenigen, welche ihn aufgenommen, davongetragen haben, wie er denen die Macht gegeben habe Gottes Kinder zu werden, und zwar nicht solche, wie ehedem die einzelnen Mitglieder des jüdischen Volkes glaubten vermöge ihrer Abstammung von Abraham und also vermöge des Geblütes zu sein, sondern solche, die von Gott geboren worden: so hängen nun hiermit die Worte, die wir gelesen haben, und die wir jezt näher mit einander erwägen wollen, genau zusammen. Denn in diesen Worten hat Johannes den großen und wesentlichen Unterschied ausgesprochen zwischen den Mitgliedern des | alten Bundes, die sich der Kindschaft Gottes kraft ihrer natürlichen Abstammung von Abraham rühmten, und zwischen den Mitgliedern des neuen Bundes, die von Gott geboren sind und die Macht empfangen haben Gottes Kinder zu werden. Der Apostel aber kann diesen Unterschied nicht deutlich machen, ohne noch einmal zurükkzukommen auf den Eintritt Christi in die Welt, welchen er schon vorher bezeichnet hatte, aber freilich geschieht es hier auf eine deutlichere Weise. Der Zusammenhang seiner Worte ist dieser. Als nämlich das Wort Fleisch geworden war und unter uns wohnete, sobald Johannes sein Zeugniß von ihm abgelegt hätte, da hätten auch diejenigen, welche ihm folgten, nach einander und jeder zu seiner Zeit die Herrlichkeit des Fleisch gewordenen Wortes erkannt – da vorher die Welt ihn nicht erkannt hatte, und die seinigen ihn nicht aufgenommen – als eine Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit, und hätten aus seiner Fülle genommen Gnade um Gnade; denn durch Mosen sei zwar das Gesez gegeben, Gnade und Wahrheit aber sei erst durch Christum in die Welt gekommen. Und weil diese nur kommen konnte dadurch, daß der Mensch in die Gemeinschaft mit Gott wieder zurükkkehrte und wirklich sie fand auf eine Weise, wie er sie noch nicht gehabt hatte: so fügt er hinzu, vorher habe niemand Gott je gesehen, den habe der eingeborne Sohn, der 2–4 Vgl. Mt 3,1–2

5–9.32–33 Vgl. Joh 1,10–11

12–16 Vgl. Joh 1,12–13

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in des Vaters Schooße ist, verkündigt; und deshalb sei alles frühere nur ein Vorspiel und eine schwache Vorbereitung und Hindeutung gewesen auf das, was die Menschen erst hätten werden können, und auf die Fülle von Gnade, die ihnen erst geworden, nachdem der gekommen sei, der in des Vaters Schooße size. – Nachdem wir so den Zusammenhang der Worte des Evangelisten uns deutlich gemacht haben: so laßt uns nun auf das einzelne unsere Aufmerksamkeit richten. Da ist nun das erste das Wort, welches von je her als der schönste und lebendigste Ausspruch von dem wahren Glauben der | Christen ist angesehen worden, Und das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Auch wir, m. g. Fr., die wir den Erlöser nicht gesehen haben unter den Menschen wohnen, stimmen doch mit voller Ueberzeugung in diese Worte des Apostels ein. Denn unsere ganze Kunde von dem Erlöser und der Glaube, vermöge dessen auch wir in ihm die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erkennen, beruht doch darauf, daß er in der Welt unter den Menschen gewohnt hat; alles Zeugniß von ihm, alle Wirkung, die von ihm ausgegangen ist, hängt daran und ist dadurch bedingt gewesen; und wir könnten uns nicht denken, daß es einen solchen Glauben der Christen, eine solche Gemeinschaft der Christen gäbe, daß solche unbeschreibliche und beseligende Wirkungen von einem einzigen Punkt ausgingen, sich immer weiter ausbreiteten und immer aufs neue die Menschen ergriffen, wenn nicht das Wort Fleisch geworden wäre und unter uns gewohnt hätte. Mit diesem Ausdrukk aber, m. g. Fr., bezeichnet der Apostel zu gleicher Zeit den großen Unterschied zwischen dem Erlöser und allen denen, die vor ihm als von Gott gesendet in der Schrift dargestellt werden und sich in der Geschichte der Menschen als solche bewährt haben. Wenn der Apostel vorher gesagt hat, in dem Worte war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht schien in die Finsterniß: so hat er dadurch zu verstehen gegeben, daß alle Erleuchtung der Menschen, die im dunkeln wandelten und in dem Schatten des Todes, ausgegangen sei von derselben Fülle des göttlichen Wesens, die in Christo wohnte, aber so, daß das Licht überall in die Finsterniß nur hineinschien. Und das gilt nicht nur | von denen, die diesen Schein sahen, sondern auch von denen selbst, von denen er ausging. Auch ein Prophet, der größte wie der kleinste, war ein solcher, in welchem das Licht nur in die Finsterniß hineinschien; es waren nur die einzeln erleuchteten, vom Geiste Gottes besonders ergriffenen und beseelten Augenblikke in welchen das Licht von oben in seine Seele fiel; es hing nur an einzelnen Augenblikken des Lebens, im ganzen aber hatten auch diese Männer Gottes Theil an der Finsterniß, die das Licht nicht begrei29–30 Vgl. Joh 1,4–5

33 Vgl. Kol 2,9

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fen konnte. Ja wir mögen sagen, daß in einem gewissen Sinne sie selbst, in welchen und durch welche das Licht in die Finsterniß hineinschien, das Verhältniß beider gegen einander nicht begriffen haben; ihr eigener Zustand, ihr Unterschied von den übrigen Menschen, ihr Verhältniß zu den allgemeinen Ordnungen und Führungen Gottes mit dem menschlichen Geschlecht war ihnen unbekannt; ja auch das, worauf sie hindeuteten, die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. Denn alle Propheten, wie die Schrift sagt, haben von ihm geweissagt, nur ihnen unbekannt; und nur in Beziehung auf das, was sie weissagten, waren sie das Licht in der Finsterniß. Von dem Erlöser aber lautet es anders, Das Wort ward Fleisch; eben das ewige göttliche Wort, welches von Anfang an das Licht der Menschen war, diese Fülle der Gottheit ward Fleisch, das heißt ward in einem Menschen Mensch; und nur so konnte es geschehen, daß wir in ihm erkennen konnten die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, und nur in dem Sohne konnten auch wir den Vater sehen, weil sonst ihn niemand vermochte zu sehen, und überall die Finsterniß herrscht; und indem wir so die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes schauten und in dem Sohne den Vater erkannten, konnten wir aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade. Es ist aber noch besonders zu bemerken, wie bestimmt der Apostel hier die Vereinigung dieser Fülle der Gottheit mit der menschlichen Natur in den Anfang des menschlichen Le|bens Christi selbst hineinlegt, indem er sagt, Das Wort ward Fleisch. Nicht der Mensch Jesus war vorher da, und nachher kam das Wort des Herrn über ihn, wenn gleich in einem viel höheren Grade als über die Propheten, und vereinigte sich mit seinem Wesen; sondern, das Wort ward Fleisch, der Mensch Jesus als Erlöser der Welt ward nur dadurch, daß das Wort Fleisch wurde; von Anbeginn an war in ihm diese Vereinigung der Fülle der Gottheit mit der menschlichen Natur. Aber Fleisch mußte das Wort werden; nur in einem Menschen, der uns übrigens gleich war, Fleisch und Blut theilte mit allen Menschenkindern, und uns in allem gleich war ausgenommen die Sünde, nur in einem solchen konnten wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erkennen. Ein vollkommner Mensch mußte er sein wie wir, sonst hätten wir ihn nicht erkennen können; denn nur das Gleiche erkennt das Gleiche. Ein fremdes Wesen, welches uns gesandt wäre, in welchem das Wort Gottes eine andere Gestalt angenommen hätte als die menschliche, und das also nicht wäre Fleisch geworden in diesem vollen menschlichen Sinne des Worts, dadurch hätten wir überwältigt werden können von einer Herrlichkeit, die uns entgegengestrahlte; aber erkennen hätten wir sie nicht können. Das geschah aber erst, wie der Apostel sagt, nachdem Johannes von ihm gezeugt hatte, welches Zeugniß aber, in welchem er von ihm sagt, 7–8 Vgl. Lk 24,27

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Dieser war es, von dem ich gesagt habe, nach mir wird kommen, der vor mir gewesen ist, denn er war eher denn ich, wir hier übergehen wollen, weil wir es in der ausführlichen Rede Johannes des Täufers selbst mit denselben Worten wieder finden; erst, nachdem Johannes dieses sein Zeugniß von ihm abgelegt hatte und so die Aufmerksamkeit wenigstens einiger Menschen auf ihn hingelenkt, da geschah es, daß nun diese wirklich in ihm erkannten die Herrlichkeit, die der | Apostel nun beschreibt als eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit. Hier nun, m. g. Fr., könnte uns leicht das Wort als in unserer Sprache, dessen sich Luther in seiner Uebersezung bedient, verleiten zu glauben, der Evangelist habe gemeint, die Herrlichkeit sei nicht die des eingebornen Sohnes vom Vater selbst gewesen, sondern eine ähnliche; denn in diesem Sinne bedienen wir uns oft des Wortes als. Aber so hat es Luther nicht gemeint, und es ist auch nicht der Sinn der Worte selbst in ihrer ursprünglichen Gestalt; sondern schlechthin, Wir sahen die Herrlichkeit, welche war die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. Und wie in den Worten, Das Wort ward Fleisch, der Apostel uns tröstlich versichert von der wahren und vollkommnen Menschheit des Erlösers: so in diesen Worten, daß seine Herrlichkeit war die des eingebornen Sohnes des Vaters, versichert er uns eben so von seiner Einzigkeit, der nichts anderes gleichkam; und daß er auf eine ganz andere Weise und im göttlichen Sinne des Worts sei ein Sohn des Vaters, dem kein anderer gleiche, sondern von welcher Art er nur einen habe, der eingeborne Sohn des Vaters, durch welchen erst alle anderen, wie er vorher schon gesagt hat, die Macht bekommen Kinder Gottes zu sein. In diesen Ausdrükken, m. g. Fr., wenn wir sie mit einander vergleichen, Kinder Gottes und Sohn Gottes, liegt ein Unterschied, der in der Schrift beständig beobachtet wird, aber oft von uns übersehen. Nämlich wir alle, so viel unser die Macht von Christo bekommen haben, heißen und sind Kinder Gottes; er aber ist der Sohn Gottes. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch aber deutet eben jener Ausdrukk Kind auf einen Zustand der Unmündigkeit und Ungleichheit mit dem Vater, der andere aber Sohn auf einen Zustand der Reife und Selbständigkeit, worin schon eine gewisse Gleichheit zwischen Vater und Sohn liegt; und der Sohn, wie die Schrift sagt, waltet | im Hause des Vaters ewiglich. Das ist und bleibt das Verhältniß zwischen dem Erlöser und denen, die durch ihn die Macht bekommen haben Gottes Kinder zu werden. Er ist der Sohn, dem, wie er selbst sagt, alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden; welcher, wie die Schrift sagt, im Hause des Vaters ewiglich waltet; und wie die Schrift sagt, Der Knecht bleibt nicht in dem Hause seines Herrn: so ist er es, der Sohn, der immer und ewig die Angelegenheiten desselben leitet; und so ist er denn dem 3–4 Vgl. Joh 1,27

34–35.38–41 Vgl. Joh 8,35

37–38 Vgl. Mt 28,18

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Vater gleich, mit der Macht desselben ausgerüstet, mit der Herrlichkeit desselben bekleidet, mit dem Willen und den Rathschlüssen desselben vertraut, der Abglanz seines Wesens. Wir alle bekommen von ihm die Macht Gottes Kinder zu werden; wir bleiben für uns selbst betrachtet unmündige und unerwachsene auf dem Gebiete des geistigen Lebens; wir werden niemals dem gleich, der als der eingeborne Sohn im Hause des Vaters ewig waltet. Aber je mehr wir seine Herrlichkeit als die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erkennen, um desto mehr werden wir auch, wie der Apostel sagt, von seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade. Vorher schon hatte er gesagt bei der nähern Beschreibung der Herrlichkeit Christi, sie sei die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, und auf diese Worte kommt er auch hernach noch einmal zurükk, wo er von dem Zustand des jüdischen Volks im Vergleich mit dem Reiche Gottes, welches Christus der Herr gestiftet hat, redet, indem er sagt, Das Gesez ist durch Mosen gegeben; die Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden. Was nun die Wahrheit betrifft, so sagt der Erlöser selbst von sich, er sei die Wahrheit, und im Zusammenhange da|mit, daß doch eigentlich nichts anderes wahr ist als Gott, und alles nur so weit als es in Gott geschaut und aus ihm begriffen und erkannt wird, und wir selbst von uns wissen und der Herr es auch bezeugt, daß niemand Gott erkennt als der Sohn und wem er es will offenbaren, in diesem Zusammenhange, müssen wir sagen, war seine Herrlichkeit eine Herrlichkeit voller Wahrheit, dadurch daß sich in dem Sohn der Vater offenbart, und daß wir in dieser Offenbarung des Vaters und des Sohnes zum Besiz der Wahrheit gelangen, die den Menschen über allen Trug und allen Schein und allen Irrthum erhebt und ihn so beseligt und befestigt, wie allein die Kraft des Ewigen, welche Wahrheit ist, es vermag. Voller Gnade aber war er, weil in seiner Herrlichkeit auch dies lag, daß er den Menschen die Macht gab Gottes Kinder zu werden; denn das ist die Gnade, welche sie befreit hat aus jenem Zustande, in dem sie von Gott getrennt und verlassen waren, weil sie ihn verlassen und, wie der Apostel sagt, die Wahrheit aufgehalten hatten in Ungerechtigkeit; und weil sie das natürliche Gefühl Gott aus seinen Werken zu erkennen geschwächt und getrübt hatten, so war es die befreiende göttliche Gnade in Christo, welche uns über diesen Zustand erhob, und welche, da er die Wahrheit war, und wir dieselbige aufnahmen, uns die Macht gab Gottes Kinder zu werden, insofern und deswegen, weil wir an seinen Namen glauben. Aber laßt uns noch besonders betrachten, was der Apostel hier schon aus dem Schaz seiner eigenen Erfahrung sagt, Und von seiner Fülle haben wir alle genommen Gnade um Gnade. Dies Gnade um Gnade will nicht so 18–21 Vgl. Joh 14,6–7

22–23 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

33 Vgl. Röm 1,18

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viel sagen als eine Gnade nach der andern, sondern es heißt eigentlich so viel als Gnade für Gnade, d. h. dafür, daß wir eine Gnade von ihm annehmen, wird uns wieder eine andere zu Theil; und so | häuft sich aus seiner Fülle die Gnade, die wir empfangen. Das, m. g. Fr., ist eine gar schöne und erfreuliche Erklärung von den Worten unseres Herrn, welche in mancher Hinsicht vielleicht sonst streng erscheinen, Wer da hat, dem wird gegeben; wer aber nicht hat, dem wird auch genommen was er hat. Von dem leztern sieht der Apostel hier weg; und was sollten auch wir uns damit beschäftigen, wo es uns darauf ankommt, den Zustand der Menschen kennen zu lernen, die von Christo die Macht bekommen haben Gottes Kinder zu werden? Die haben also, und weil sie haben, so wird ihnen immer mehr dafür zu Theil; weil sie angefangen haben seine Herrlichkeit zu erkennen, und von ihm die Macht suchen Gottes Kinder zu werden, dafür erlangen sie immer mehr. Wie es auch natürlich ist; denn dadurch, daß wir etwas von dem Erlöser empfangen, wird das gemeinsame Leben zwischen uns und ihm gestiftet, worin unser ewiges Heil ruht. Er wird als das göttliche Wort unser Licht und Leben, das Leben und das Licht in unserem Innern, und daraus entsteht dann in uns das Vermögen, Gnade um Gnade von ihm anzunehmen und die Fülle der Gottheit in ihm anzuschauen. Ist das beseligende Band der Gemeinschaft zwischen uns und dem Erlöser geknüpft, so schlingt es sich immer fester, und wir werden immer mehr eins mit ihm. Ist er unser Leben und unser Licht, welches darin besteht, daß der Sohn mit dem Vater kommt und Wohnung macht in unserm Herzen: so wächst dieses Leben immer schöner und herrlicher und verbreitet sich nach allen Seiten hin gleich einem Baume, der seine Zweige weithin ausdehnt, und in dessen Schatten die Vögel des Himmels wohnen. Unerschöpflich ist seine Fülle; haben wir einmal angefangen aus ihr zu schöpfen, so nehmen wir nun Gnade um Gnade, und seiner immerwährenden Einladung folgend werden wir erquikkt und gesättigt. Das ist das, was er sagt, Wen da durstet, der komme | zu mir und trinke; und wer da trinkt von dem Wasser, welches ich ihm gebe, den wird nicht dursten ewiglich, sondern es wird in ihm eine Quelle des lebendigen Wassers werden, die in das ewige Leben quillt. Das ist das Gnade um Gnade oder Gnade für Gnade nehmen aus seiner Fülle, und das ist die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. Diese ist es aber, worin sich die göttliche Macht der Liebe in ihm offenbart, so daß es von Seiten des Menschen nichts bedarf als daß er anfängt zu empfangen, daß er sein Auge öffnet, um die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes zu schauen, daß er die Strahlen des himmlischen Lichtes einsaugt; dann geht auf diese Weise eine Gnade aus der andern hervor, bis es endlich dahin kommt, daß diejenigen, welche von ihm die Macht bekommen haben Got6–7 Vgl. Mt 13,12; 25,29; Lk 19,26 22–23 Vgl. Joh 14,23 25–26 Vgl. Mt 13,32; Mk 4,32; Lk 13,19 29–30 Vgl. Joh 7,37 30–32 Vgl. Joh 4,14

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tes Kinder zu werden, mit ihm einen gemeinschaftlichen Leib bilden, er das Haupt und sie die Glieder. Und hievon kehrt der Apostel zurükk zu der Betrachtung des früheren Zustandes der Menschen im alten Bunde, indem er sagt, Das Gesez ist durch Mosen gegeben, Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden. Von hier aus, m. g. Fr., können wir wol nicht anders als uns erinnern an die Art, wie der Apostel Paulus in seinen Briefen diesen Unterschied und Gegensaz behandelt zwischen dem alten und neuen Bunde. Johannes geht gleichsam schonend und leise zu Werke, indem er sagt, das Gesez sei durch Mosen gegeben, aber auch nichts als das Gesez, und uns errathen läßt, indem er Gnade und Wahrheit, die durch Christum geworden ist, dem gegenüber stellt, was durch Mosen gegeben ist, nämlich dem Gesez, daß das Gesez die Gnade und Wahrheit nicht enthalte. Der Apostel Paulus aber sagt es gerade heraus, weil es in den Verhältnissen, in welchen er lebte und lehrte, nothwendig war. Und so kann es uns nur willkommen sein, daß wir hier auf der einen | Seite die milden und gleichsam nur halb angedeuteten Worte des Johannes haben, aber auch auf der andern Seite die strengen des Paulus, Durch das Gesez wird kein Fleisch vor Gott gerecht; durch das Gesez kommt nur Erkenntniß der Sünde. Ein solches Gesez ist durch Mosen gegeben, und das ganze Wesen des alten Bundes bestand darin, daß die Menschen in demselben Erkenntniß der Sünde hatten durch das Gesez, und daß sie in einen Zustand geriethen, wo ihnen Rettung werden mußte aus dem Zustand der Sünde und ihrer Knechtschaft, welche Befreiung ihnen das Gesez nicht geben konnte, weil es ihnen durch einen Menschen gegeben war und ihnen keine Kraft mittheilte das bessere zu ergreifen. Durch Christum ist geworden Wahrheit und Gnade, und das Reich des Gesezes ist vorübergegangen. Denn in der Gnade, die wir aus seiner Fülle nehmen, und in der Wahrheit, die er in unsere Seele gelegt hat, und wodurch der Sohn uns frei macht, hört auf die Knechtschaft des Gesezes, und es entstehen aus der Gnade und Wahrheit, die in Christo liegt, alle herrlichen Früchte des Geistes, in deren Besiz und Kraft der Mensch, d. h. der von Christo erleuchtete, der, welcher die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, der mit dem Vater eins ist, schaut, der, zu dem der Sohn mit dem Vater gekommen ist und Wohnung gemacht hat in seinem Herzen, sich selbst ein Gesez ist, das Gesez in jedem Augenblikk seines Lebens in sich trägt als einen Ausdrukk der göttlichen Gnade, die in diesem Augenblikk mächtig in ihm ist, aber an keinen Buchstaben des Gesezes gebunden, außer insofern er durch menschliche Ordnung dazu verpflichtet ist; aber im Reiche der Gnade hat er diese Knechtschaft aufgehoben, und das Reich des Geistes, welches Gnade und Wahrheit ist, hat für ihn begonnen. 18–19 Vgl. Röm 3,20

32–33 Vgl. Joh 10,30

33–34 Vgl. Joh 14,23

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Und noch von einer andern Seite macht der Apostel diesen Unterschied deutlich in den lezten Worten, die wir gelesen haben, | Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborne Sohn, der in des Vaters Schooße ist, der hat es uns verkündigt. So spricht nämlich der eingeborne Sohn in dem Evangelio des Johannes im sechsten Kapitel, Nicht daß jemand den Vater habe gesehen, ohne der vom Vater ist, der hat den Vater gesehen. Und recht bestimmt und deutlich spricht hier der Erlöser von sich als von einem Einzigen, der seines Gleichen nicht habe. Denn wir können die Worte nicht so auslegen, Jeder der vom Vater ist hat den Vater gesehen, aber kein anderer, sondern Einer ist es, nur Einer der vom Vater ist, der hat den Vater gesehen. Denn wenngleich das Gesez durch Mosen gegeben ist als ein göttliches Gesez; wenngleich an die Propheten der Geist Gottes kam und über sie; wenngleich Abraham schon vor Moses die herrlichen göttlichen Verheißungen erhielt, aus welchen alle Führungen Gottes mit dem jüdischen Volke hervorgegangen sind: so hat doch keiner von ihnen Gott gesehen. Nur von dem, der Gott gesehen hat, der aus dem Schooße seines Vaters herabgekommen ist, kann das Reich der Wahrheit und der Gnade unter den Menschen ausgehen; alles übrige mußte dagegen verschwinden, es hatte kein Wesen, sondern nur den Schatten und das Vorbild der künftigen Güter in sich. Alle Gnade und alle Gotteserkenntniß hat erst mit Christo angefangen, mit dem, der in des Vaters Schooße war, und aus ihm in diese menschliche Welt herabgestiegen ist. Nur in ihm und durch ihn kann der Mensch Gott den Vater erkennen und aus seiner Fülle Gnade und Wahrheit schöpfen. Das Gesez war durch Mosen gegeben als ein göttliches; die Propheten brachten dem Volke das göttliche Wort: aber die wahre Offenbarung Gottes, das lebendige Bewußtsein des Herzens von ihm, die Erfahrung, daß wir die Macht haben Kinder Gottes zu sein, die konnte uns nicht anders werden als durch den Sohn, der aus dem Schooße des Vaters | zu uns herabgestiegen ist, und die verbürgt uns auch, daß niemand je Gott gesehen hat, daß eben deswegen eine solche Vereinigung der Menschen mit Gott, wie er sie gestiftet, noch nie statt gefunden, daß noch niemand das geistige Auge der Menschen wie er geöffnet hat für das Licht von oben, daß noch durch niemand das menschliche Herz, welches in sich erkaltet und erstorben war, erweicht worden ist und empfänglich gemacht für den himmlischen Einfluß der Wahrheit, wie durch ihn, der uns alles kund gethan hat, was der Vater ihm offenbart, und uns alle seine Werke gezeigt hat. Das ist die göttliche Fülle, aus welcher, wie der Apostel sagt, nicht nur er und seine Zeitgenossen genommen haben Gnade um Gnade, aus der nicht nur alle gläubigen nach ihm das ewige Leben geschöpft haben, sondern es ist die unerschöpfliche Fülle, aus der auch wir und alle, die Durst haben, getränkt werden, so daß dadurch immer herrlicher sich gestalten 5–6 Vgl. Joh 6,46

35–36 Vgl. Joh 15,15

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wird die Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, die auch die Pforten der Hölle nicht überwältigen können, und immer mächtiger hervorsprudeln die Quelle, die in das ewige Leben quillt. Amen.

1–2 Vgl. Mt 16,18

3 Vgl. Joh 4,14

Am 18. Mai 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstsonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,12–14 Nachschrift; SAr 103, S. 797–827; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 142–143r; Gemberg Nachschrift; SN 608/3, Bl. 1r–4v; Saunier Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am ersten Pfingsttage 1823 am achtzehnten Wonnemonds. |

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Tex t. Johannes XVI, 12–14. Ich habe Euch noch viel zu sagen; aber ihr könnt es jetzt nicht tragen. Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird Euch in alle Wahrheit leiten; denn er wird nicht von ihm selbst reden, sondern was er hören wird, das wird er reden, und was zukünftig ist wird er Euch verkündigen. Derselbe wird mich verklären; denn von dem Meinen wird er es nehmen und Euch verkündigen. M. a. F. die letzten Reden, welche nach dem Bericht des Johannes der Erlöser an seine Jünger gehalten, ehe er zu seinen Leiden ging, sind voll von tröstlichen Verheißungen, die sich auf unser heutiges Fest beziehen. Indem ihm selbst schwer auf dem Herzen lag, als sie, die es immer noch nicht glauben konnten, es in diesem Augenblick begriffen, daß er bald sollte von ihnen genommen werden, und daß dann die menschliche Gemeinschaft zwischen ihm und ihnen gelöst sein würde: so weiset er sie darauf hin, an seine Stelle werde kommen der Tröster, der heilige Geist. Wenn nun | gleich zunächst in Beziehung auf den Verlust seiner persönlichen Wirksamkeit, den sie erleiden sollten, und den wir freilich nicht mit ihnen theilen, obgleich zunächst in Beziehung hierauf, hat er ihnen doch den Geist der Wahrheit nicht verheißen etwa als eine vorübergehende Erscheinung, welche so lange sie lebten oder so lange noch irgend einer von denjenigen lebte, die sich seines persönlichen Umgangs gefreut hatten, seine Stelle bei ihnen vertreten werde; denn er sagt „Ich will den Vater bitten, und er soll Euch einen andern Tröster geben, den Geist der Wahrheit, daß er bei Euch bleibe 24–1 Vgl. Joh 14,16

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ewiglich“. Damit nun m. g. F. ist er nicht ihnen allein, sondern auch uns verheißen. Soll er ewiglich bleiben, so muß er auch vorzüglich sein herrliches Amt, zu trösten und in alle Wahrheit zu leiten, unter uns verwalten. Die Erscheinung des Erlösers, des Fleisch gewordenen Wortes, diese mußte ihrer Natur nach eine vorübergehende sein. Die Fülle der Gottheit wohnte in ihm, allein sie war für uns gebunden an die Erscheinung eines menschlichen Lebens; und eben weil er Fleisch und Blut an sich genommen wie alle Menschenkinder, so war er auch dem Tode unterworfen wie sie, und seine tröstliche und erlösende | Gegenwart auf Erden mußte vorübergehen wie jedes menschliche Leben. Der Geist der Wahrheit aber ist uns auch verheißen als eine Fülle der Gottheit, welche da wohne in dem menschlichen Geiste; aber er hat seinen Sitz nicht in irgend einem Einzelnen, sondern der ganzen Gemeinschaft der Christen, der ist er verheißen und gegeben, in der wohnt er; und wie alle menschliche Verbindungen, welche mehrere Geschlechter hinter einander dauern, indem einige aus demselben verschwinden, andere [ihre Thätigkeit] wieder aufnehmen, so können sie eben deswegen auch unsterblich sein und so lange währen, als das Geschlecht der Menschen selbst. An diese Verbindung nun ist der göttliche Geist gewiesen, der Gemeinschaft der Christen ist er verheißen und gegeben; und indem aus dieser einige entrückt werden von dem Schauplatz dieser Erde, andere aber wieder aufgenommen werden in dieselbe durch die nämliche Wirksamkeit des göttlichen Geistes, so erneuert sich immer wieder die Gemeinschaft, in der er wohnt, und kein Ende soll es nehmen, so lange das Geschlecht der Menschen währt, daß diejenigen in demselben, welche gläubig geworden sind an unsern Herrn Jesum Christum, zusammengenommen und in ihrer | Gemeinschaft bilden den Tempel des göttlichen Wesens, in welchem der Geist Gottes wohnt. – So laßt uns denn dem zufolge nach Anleitung der verlesenen Worte unseres Textes sehen, wie auch wir uns dieses beständigen Waltens des göttlichen Geistes in der christlichen Kirche zu getrösten haben. Es sind aber besonders zwei Betrachtungen, die einem jeden, der auf die göttliche Heilsordnung in der Verkündigung des Evangeliums merkt, überall gleichsam von selbst entgegenkommen, welche uns diesen Glauben an das Walten des göttlichen Geistes zu einer Quelle des Trostes und der Beruhigung machen, an dessen Stelle wir nichts anderes zu setzen wissen. Das ist nämlich auf der einen Seite die Betrachtung des Wechsels in den Fortschritten der christlichen Kirche, auf der andern Seite die Betrachtung des Gegensatzes in den Bestrebungen und in den Ansichten der Christen, über welches beides uns zu uns’rer innigsten Beruhigung zu verständigen wir ohne den Glauben an das 13 und] und zu 5–6 Vgl. Kol 2,9

15 einander] einandern

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fortwährende Walten des göttlichen Geistes nicht vermögen würden. Das ist es also, m. g. F., wozu ich in dieser Stunde Eure andächtige christliche Aufmerksamkeit in Anspruch nehme.

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I. Laßt uns zuerst uns nur in einigen Zügen vorhalten den Wechsel, den wir von Anbeginn finden in den Fortschritten des Evangeliums. – Als der Erlöser auf | Erden lebte, sammelte er sich eine kleine Schaar von Wenigen, welche an ihn glaubten; wenige nur von solchen, welche bereit waren mit ihm und für ihn in den Tod zu gehen, von solchen, welche auch nachdem er von der Erde wieder entfernt war, nichts Lieberes für sich wußten, als an ihn zurück zu denken, und nichts Seligeres als sich zu freuen auf die Erfüllung aller der Verheißungen, die er ihnen gegeben hatte. Über diese kam sein Geist an jenem denkwürdigen Tage der Pfingsten, den wir in einem bestimmten Sinne die Geburt der christlichen Kirche auf Erden nennen können. Da wurden erst die Gläubigen ganz und vollkommen Ein Herz und Eine Seele; und wie wird uns von ihnen gerühmt, daß sie es geblieben wären, daß sie alles Irdische mit einander gemein hatten, weil sie auf alles wenig Werth legten, allein trachtend nach dem Vaterlande, welches im Himmel ist. Aber wie lange währte es, so mußte doch schon einer gestraft werden von dem göttlichen Geist, weil er nicht Menschen sondern Gott gelogen hatte? wie lange währte es, so sagte der Geist den Gemeinen, daß die erste Liebe erkaltet sei? Sie erneuerte sich freilich wieder; die Boten des Herrn gingen aus unter viele Völker die noch im Schatten des Todes saßen, und verkündigten das ewige Licht; und wie sich die Gläubigen nun | sammelten und sich sonderten von denjenigen, die in dem eigenen Wandel nach väterlicher Weise begriffen waren: wie waren sie da eifrig bestrebt sich in ihrem ganzen Wandel von denen zu unterscheiden, die das Heil in Christo nicht erkennen wollten und nicht gefunden hatten! wie warfen sie alle Thorheit und alles kindische Spielzeug des irdischen Lebens von sich! wie lebten sie in der Selbstverleugnung, damit sie nur Christum sich und andern gewönnen! wie wenig achteten sie des Hohnes und des Spottes der Welt! Aber je größer die Schaar ward, je mehr sich zu derselben gesellten von den Großen der Erde, je mehr sie festen Besitz nahm von dem irdischen Leben: desto mehr erkaltete auch jene Reinheit des Eifers, desto mehr trübte sich jene Lauterkeit des Wandels. Da wurden die alten Thorheiten allmählig wieder aufgenommen, und das verworfene Spielzeug beschäftigte wieder die müßigen Augenblicke, welches die Kinder des Lichtes gar 30–31 gewönnen] gewöhnen 12–13 Vgl. Apg 2,1–4 22 Vgl. Offb 2,4

15–17 Vgl. Apg 4,32

19–21 Vgl. Apg 5,1–6

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nicht hätten haben sollen; und bald kam eine Zeit, wo wenn man in das Leben der Menschen hinein sah man die christlichen Nachkommen nur wenig unterscheiden konnte von den heidnischen Vorfahren. Und so m. g. F. wie oft hat sich dieser Wechsel in der Geschichte der christlichen Kirche erneuert! Ja als nach einer langen und drückenden Finsterniß in der herrlichen | Zeit der Kirchenverbesserung das Licht des Evangeliums wieder anfing zu glänzen; als es wie Schuppen von den Augen vieler Christen herabfiel und sie nun erkannten, daß sie eigentlich noch gar nicht die reine und himmlische Gestalt des Christenthums gesehen hatten; als sie von sich warfen eine Schaar von Vorurtheilen und leeren Handlungen; als das Wort Gottes wieder lauter in die Herzen der Menschen hineinfiel und in ihnen entbrannte, wie sie es vorher noch nie gefunden hatten: o was konnte man da alles weissagen von dem nun erschienenen Lichte, von dem wieder angefachten Feuer des Glaubens und der Liebe! Aber wie bald verwandelte sich dies in leere Streitsucht um einzelne Punkte der Lehre! wie bald wurde vergessen der Geist, in welchem jene Werkzeuge und Diener Gottes das große Werk der Verbeß’rung unternommen hatten! wie schlich sich auch leeres und eitles Tichten und Trachten überall ein, daß dann voll Sehnsucht des Herzens die Gläubigen wieder zu Gott riefen, ob nicht eine neue Zeit der Erleuchtung kommen wolle über die gesunkene auch evangelische Christenheit! Und solche Zeiten der Erleuchtung | und der Erwärmung sie kehren wieder nach der göttlichen Ordnung von Zeit zu Zeit. Aber warum folgt immer wieder die Verdunkelung? warum verunreinigt sich immer wieder was rein und lauter von oben kommt? Das m. g. F. das ist das Niederschlagende und Betrübende in diesem in der ganzen Geschichte der christlichen Kirche vor uns liegenden Wechsel von Fortschritten und Rückgängen. Wenn wir uns darüber trösten sollen und beruhigen und die göttliche Leitung verstehen und anbeten, aber ohne zu glauben an das fortwährende Walten des göttlichen Geistes, sondern vielleicht durch diese Betrachtung geneigt gemacht zu denken, daß das eine leere Hoffnung sei, die nicht in Erfüllung gegangen wäre, und daß der Erlöser das nicht so könne gemeint haben wie wir glauben, wenn wir, sage ich, ohne diesen Glauben uns darüber beruhigen wollen: wie schlecht wird es uns gelingen? Was wollen wir denen antworten, welche uns sagen „Könnt ihr glauben, daß eben der Christus, den Ihr Euern Herrn und Meister nennt, eine ewige Erlösung erfunden hat, da ja doch immer die Finsterniß siegt über das Licht, immer wieder das Böse mächtig wird und das Gute | zurückdrängt? könnt Ihr dies alles für etwas anderes halten als für die von Zeit zu Zeit wiederkehrende Anmaßung der menschlichen Natur, die sich erheben will über das Irdische, der aber Gott ihr Maaß gestellt hat, über welches sie nicht hinaus kann, die immer wieder zurück geschlagen wird aus dem Lichte in die Finsterniß, immer wieder festgekettet wird an die Beschränkungen des zeitlichen Lebens?“ – was sollen wir dem antworten, welcher uns sagt „Könnt ihr denn

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wirklich noch glauben, daß ihr ein auserwähltes Volk seid, das königliche Priesterthum; könnt Ihr glauben, daß es einen Israel Gottes im Geist gebe, da Ihr ja doch nicht vermögt irgend einen festzuhalten von den Vorzügen, die Ihr Euch anmaßet? Was der Apostel von den Heiden sagt, daß sie die Wahrheit aufgehalten hätten in Ungerechtigkeit und die natürliche Erkenntniß Gottes, die sie hätten haben können, verfinstert in dem Tichten und Trachten ihres Herzens nach dem Vergänglichen und Irdischen, das alles ist ja im reichsten Maaße auf Euch anzuwenden. Ihr geht immer wieder dessen verlustigt, was Eure Vorfahren Euch erworben haben an Kraft des Geistes: wie | könnt Ihr glauben, daß man an Euch sehe die Spuren eines längst verschwundenen Daseins, eines Gottesohnes und Menschensohnes?“ Ja m. g. F. wahr ist es, wenn das Wort, welches uns das Fleisch gewordene Wort zurückgelassen hat, wenn das ganze Geheimniß der Erlösung, wenn der ganze Bund der Christen nur vertraut ist derselben menschlichen Natur, die der Herr gefunden hat in der Sünde, als er sie von der Sünde erlösen wollte, wenn aber nichts in derselben hinzugekommen ist als diese Kraft und Aneignung des göttlichen Wortes von außen: o dann dürfen wir nicht hoffen, daß es je die Härte des menschlichen Herzens überwinden, daß sich je ein Reich Gottes unter den Menschen gestalten werde; dann würden wir vergeblich trachten uns selbst einen Unterschied klar zu machen zwischen der sichtbaren Kirche Gottes, die Theil hat an der Sünde und an dem Verderben des Irdischen, und zwischen der unsichtbaren, die im Geiste immer rein und fleckenlos steht anbetend den Erlöser auf seinem Throne zur Rechten Gottes; vielmehr was würde uns übrig bleiben als der untröstliche Glaube an einen ewigen Kreislauf aller menschlichen Dinge, an einen ewigen Wechsel zwischen Licht und Finsterniß, von welchem wir niemals wissen können, was das | letzte sei, weil das eine immer wieder das andere hervorbringt? So aber nicht wir m. g. F. wenn wir uns halten an das Wort des Erlösers, daß er, in dem alle Verheißungen Gottes ihre Erfüllung in sich tragen, den heiligen Geist, den Tröster, den Geist der Wahrheit verheißen und gegeben habe ewiglich: o wie ganz anders erscheint uns dann alles wieder! Er sagt zu seinen Jüngern „Ich habe Euch noch viel zu sagen, aber jetzt könnt Ihr es noch nicht tragen“; und dieses Wort, m. g. F. muß wahr sein und bleiben immer dar. Der Unterschied zwischen dem Erlöser selbst und zwischen denen, die an seinen Namen glauben, bleibt immer derselbe. Immer ist in ihm eine Fülle des Göttlichen, die er bereit ist mitzutheilen, aber die wir nicht tragen können. Und eben nur, so wie er damals redete, und seinen Jüngern nicht nur vieles zu sagen hatte, sondern auch vieles wirklich sagte, was sie noch nicht tragen konnten: so leuchtet und blitzt auch der göttliche Geist aus denen hervor, die er sich besonders zu seinen Werkzeugen erkohren. 1–2 Vgl. 1Petr 2,9

4–7 Vgl. Röm 1,18–22

32–33 Joh 16,12

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Da kommt mitten aus der Finsterniß ein Licht heraus, welches die große Menge auch der Gläubigen nicht ertragen kann. Daß sie es nicht ertragen können, woher kommt es anders als von der Sünde, von welcher | wir nie ganz frei werden können? was anderes hält die Augen der Menschen gefangen, wenn sie das himmlische Licht nicht sehen, welches sich ihnen darbietet, was anderes betäubt ihr Ohr, wenn auch die Stimme Gottes lebendig hinaus schallt in das menschliche Leben, daß sie dieselbe nicht hören, als immer nur Eines und dasselbe? Was sie also nicht tragen können, wenn es auch noch so hell geschienen hat, das verdunkelt sich wieder; denn wenn es nicht findet, wo es hafte, so muß es allmälig erlöschen. Aber eben deswegen, weil wir nicht anders als so, daß wir ganz frei werden von der Sünde, daß sich dieselbe mit jedem neuen Geschlecht der Menschen erneuert, jetzt in dieser, dann in jener Gestalt, weil wir nur so in diesem irdischen Leben unserem Ziele entgegenstreben können, eben deswegen nun hat Gott der Herr, wie die Schrift sagt, alles beschlossen unter die Sünde. Wie der Mensch erst mußte durch das Gesetz zur Erkenntniß der Sünde kommen, damit er den himmlischen Schein des Evangeliums in seine Seele aufnehmen könnte, damit der Mühselige und Beladene durch den Glauben erquickt würde und erhoben: so geht es auch noch immer in der Gemeine des Herrn. Indem die Sünde den Geist wieder verdunkelt, | indem die Sünde die Liebe wieder trübt, indem die Sünde den Glauben wieder schwächt: so ist das alles nichts anderes als eine Vorbereitung dazu, daß die Menschen die Sünde erkennen lernen, wie sie dieselbe noch nicht erkannt hatten; und unter diese Sünde und diese Erkenntniß der Sünde ist jede neue Erleuchtung von oben beschlossen und dadurch bedingt. Nur in dem Maaße als wir die Sünde, welche da ist, wirklich fühlen, kann das Herz der Sehnsucht empfänglich werden sie von sich zu stoßen, nur in dem Maaße kann es Alles besitzen und festhalten, was dieser Sünde Widerstand leistet und sie je länger je mehr überwindet. Und nehmen wir so zusammen und betrachten für sich allein alle diese einzelnen Zeiten einer göttlichen Erleuchtung und Belebung der christlichen Kirche nach ihrer verschiedenen Beschaffenheit, wenn wir sie alle zusammenfassen: o dann können wir gewiß nicht umhin die Tiefen des göttlichen Geistes und den Reichthum seiner Weisheit darin zu erkennen; dann können wir gewiß nicht umhin aus den zerstreuten Zügen uns das Bild von der ganzen innern Reinheit des Glaubens und der Liebe, | die da ihr Entstehen Christo dem Herrn verdanken, zusammenzusetzen zu uns’rer Freude; und darin sehen wir dann das Werk des göttlichen Geistes, darin sehen wir dann dasjenige, was wir nicht mehr begreifen können aus der immer unzuverlässigen und verdunkelten menschlichen Vernunft, was uns nur erklärlich wird, wenn wir annehmen, 15–16 Vgl. Gal 3,22

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der Strahl aus der Höhe, den der Herr verheißen, mit dem er die Seinigen erleuchtet und getröstet hat, ist immer noch da, fährt immer noch von oben herab, und an ihm sehen wir alle das menschliche Geschlecht beseligende und erhebende Boten Gottes hinauf- und herabsteigen, die Gemeinschaft des Irdischen mit dem Himmlischen immer fester knüpfend, wie der Herr es selbst sagte, als er auch das erste und kleine Häuflein von gläubigen Seelen um sich gesammelt hatte. Und darum dürfen wir hoffen und glauben fest daran, auf jede Verdunklung folgt eine neue Erleuchtung, und aus allem zusammen geht immer etwas Reines, Herrliches und Göttliches hervor, bis endlich die Stunde kommt, wo die Gemeine des Herrn fähig ist aufgenommen zu werden in den Zustand, den er als die letzte Vollendung derselben geweissagt und verheißen hat. | II. Aber nun m. g. F. laßt uns noch das Zweite mit einander erwägen, und unsere Aufmerksamkeit darauf richten, wie entgegengesetzt in der Gemeine des Herrn die Bestrebungen und die Ansichten der Gläubigen gewesen sind und noch sind. Schon von Anfang an, als zu denjenigen, die der Herr selbst während seines irdischen Lebens gelehrt und geleitet hatte, er sich noch einen berief, ihn besonders erwählend zu seinem Dienst unter den Heiden, und dieser große Schaaren von Gläubigen aus denselben sammelte, die er in die unmittelbare beseligende Gemeinschaft mit dem Erlöser einführte, schon da entstand ein Zwiespalt unter den Gläubigen. Der eine war Eiferer für das Gesetz Moses und wollte, daß die an Christum glauben sich demselben unterwerfen sollten eben so wie der Herr selbst ihm durch seine Geburt unterworfen gewesen war; der andere stritt für die Freiheit der Kinder Gottes, die das Joch des Gesetzes nicht zu tragen brauchten – der eine den andern beschuldigend, dieser jenen, daß indem er das Joch des Gesetzes wegnähme, er nur um desto mehr und um desto reichlicher der Sünde Thür und Thor öffne; jener wiederum diesen, daß wer da noch einen Werth lege auf das Gesetz, dem sei Christus vergeblich gestorben, wer die Gläubigen beladen wolle mit einem Gesetz, | welches er selbst nicht zu ertragen vermöge, der suche nicht, was Christi ist, sondern wolle nur das Ansehen, welches nicht mehr bestehen könne, aufrechterhalten. Und so war von Anfang an die Gemeine der Gläubigen zerrüttet durch einen Zwiespalt, der sich mild auflöste, so lange die ursprünglichen Jünger des Herrn noch lebten, mit ihrem ausgezeichneten Ansehen die Gläubigen zusammenhaltend, aber nach der Zeit oft in lange bittere und heftige Spaltungen ausartete. Und diese erblicken wir m. g. F. nun noch immer zu allen Zeiten in der Christenheit. Da giebt es Einige, die in dem Erlöser mehr herausheben das Menschliche, weil sie meinen, nur dadurch könne der 22–33 Vgl. Apg 15,1–12; Gal 2,21

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Glaube an ihn seine stärkende Wahrheit erhalten, nur dadurch würden wir seine Freunde, wenn wir ihn recht und ganz betrachteten als unsern Bruder, wie er | uns selbst seine Brüder nennt; die Andern wiederum die heben mehr heraus in dem Erlöser das Göttliche, weil sie sagen, daß dadurch der Glaube allein seine Kraft erhalte, und darin der Grund unserer Zuversicht liege, weil nicht durch Menschliches, sondern Göttliches allein wir hätten können erlöst werden von der Knechtschaft sowohl als von der Strafe der Sünde. Und wenn nun in der Heftigkeit des Streites die Einen so weit gehen, das Menschliche in dem Erlöser beinahe aufzuheben und zu läugnen, die Andern dagegen, um das Menschliche recht fest zu halten, das Göttliche in die möglichst größte Ferne und Dunkelheit zurücktreten lassen; wenn dann jeder den andern beschuldigt, der eine diesen, daß er die einfache und reine Lehre des Christenthums überschütte und verstelle durch eine Menge von unbegreiflichen und spitzfindigen Lehrsätzen, dieser | wiederum jenen, daß er das Ausgezeichnete und ganz Eigenthümliche in der Offenbarung Gottes durch den Erlöser verkenne, und das Göttliche des Christenthums zu einer bloß menschlichen geschichtlichen Erscheinung herabwürdige; wenn sie jeder dem andern seinen Theil an der Gemeinschaft mit dem Erlöser streitig machen, und nicht glauben, der eine mit dem andern Eins sein und ihm die Bruderhand in Christo reichen zu können: wo ist dann die Eintracht, welche die christliche Kirche zusammenhalten soll? Wenn in allem was die Anordnung des christlichen Lebens betrifft, die Einen das Strenge der Foderungen herausheben, welches in einer Menge von bestimmt ausgesprochenen Aufopferungen und Entbehrungen sich zeigen kann, die Andern aber das Milde in denselben heraus heben, wodurch die Gemeinschaft unter den Menschen befördert wird, wodurch das Christenthum | auch denen soll lieb und werth gemacht werden, und sich in seiner himmlischen Anmuth denen soll anempfehlen, die von demselben noch weit entfernt sind: wie bald treten dann die Gränzen wieder auseinander, und welche heftige Gegensätze entstehen daraus, der eine den andern beschuldigend, er habe den Geist des christlichen Lebens verloren, der sei ein freudiger und liebreicher Geist, und er habe sich gefangen gegeben unter Satzungen gleich denen des alten Bundes, aber das Göttliche, die Freiheit der Kinder Gottes, sei ihm verloren gegangen; dieser wiederum jenen beschuldigend, die Heiligkeit und der hohe Ernst des christlichen Lebens sei fern von ihm, er wolle sich gleich stellen der Welt, er wolle unter einem Schein von christlicher Frömmigkeit ein sündiges Leben führen, und wolle das Evangelium herabwürdigen zu einer Dienerinn sinnlicher Lüste und eitler Ergötzungen: wo bleibt | dann die Einigkeit der Gemüther, wo die Liebe, die unter den 35 Heiligkeit] Heilichkeit 39–1 Vgl. Kol 3,14

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Christen das Band aller Vollkommenheit sein soll? Und m. g. F. wie viel Ähnliches ließe sich nicht aus allen Theilen der christlichen Lehre und des christlichen Lebens anführen; aber es sei an diesem genug. Wie müssen wir nun hierüber denken, m. g. F., wenn wir nicht glauben an ein fortwährendes Walten und Regieren des göttlichen Geistes in der christlichen Kirche? Muß uns nicht, wenn beide gleich sehr fest sind in ihrer Überzeugung, aber auf eine solche Weise einer dem andern entgegengesetzt, muß uns da nicht bange werden, auch der festeste Glaube sei in den wenigsten Menschen etwas anderes als eine leidenschaftliche Verblendung, der Eine glaubt das Eine, der Andere das Andere, nicht weil es ihm so offenbart sei in seinem Innern als eine göttliche und heilsame Wahrheit, sondern weil jedem, dieses dem Einen jenes dem Andern, am meisten übereinstimmend mit der Schwachheit seiner eigenen Natur? müssen | wir nicht glauben, die Liebe arte aus in bloße Selbstsucht, jemehr sie sich auf diejenigen beschränkt, die in dem aller besondersten und aller einzelnsten mit einander übereinstimmen? Übrigens helfe auch das Christenthum nicht dazu, die menschliche Seele zu befreien von allem, was der Haß Widerwärtiges und Verderbliches in sich trägt. Und wenn es so wäre, müßten wir nicht glauben, daß diejenigen, wenn auch nicht besser doch eben so gut wären, welche wenig bekümmert um die Art, wie sich zu ihrer Zeit das Christenthum mit seinen Segnungen entwickelt und gestaltet, mehr auf das Irdische gerichtet sind und den Glauben an Gott und unser Verhältniß mit ihm nur gebrauchen, um die gewaltsamsten und verderblichsten Neigungen des menschlichen Herzens im Zaume zu halten, und die so in dem ruhigen des Maaßes von geistigen und irdischen Naturgaben fortleben, welches ihnen der Herr gegeben hat, daß diese eben so gut | leben als jene, die sich aber unter beständigem Kampf und Streit für die Helden des Glaubens und für die Verkündiger und Festhalter der göttlichen Wahrheit ausgeben? Ja so müßten wir freilich glauben, daß das Himmlische und Ewige dem irdischen Zwiespalt übergeben und unterworfen wäre und hätte keine Hoffnung aus demselben gerettet zu werden. Aber wie nun, wenn wir glauben an das ewige Walten des göttliche Geistes in der Gemeine des Herrn? Wir wissen es dann, er hat es zu thun mit einer sündigen und verderbten Natur, und kann sie nur so angreifen und behandeln, wie es einer solchen gemäß ist. Nirgends findet er einen, der rein wäre und den er sich auswählen könnte zu einem reinen Werkzeuge, um die ganze Wahrheit durch ihn auszuspre9–13 der Eine ... Natur?] Der Teilsatz ist offensichtlich unvollständig. Die intendierte Aussage kann aber anhand von SN 608/3, Bl. 4r rekonstruiert werden. Dort heißt es: Der eine glaubt dieses, der andre jenes, nicht weil es ihnen offenbart sei als himmlische Wahrheit, sondern weil dieses und jenes mit der Schwachheit der menschlichen Natur eines jeden am meisten übereinstimmt, seiner Gebrechlichkeit am angemessensten ist? 15–16 übereinstimmen? Übrigens] übereinstimmen übrigens 18 trägt.] trägt? 29 Ewige] Evige

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chen, und die ganze Fülle des Gutes in ihm darzustellen; das müßte ja ein zweiter Christus sein – es ist uns aber nur Einer gegeben. Wenn er nun aber doch | soll uns in alle Wahrheiten leiten, wenn er doch soll Christum verklären, und das niemals aufhören zu thun: wie kann er es anders als eben so wie er es thut, diesem das Eine offenbarend, jenem das Andere, und indem er so jeden sehen ließe, wie auf der ihm entgegen gesetzten Seite sich das Mangelhafte Unvollkommne und Verderbliche mitoffenbart, diesen strafen zu lassen, wie ihm ja das Geschäft obliegt, daß er die Welt strafen soll, durch das Wort des Andern; damit so überall und von allen Seiten entstehen könne die Erkenntniß der Sünde, damit zusammengeschaut werden könne von jedem geöffneten und gesunden geistigen Auge aus den einzelnen zerstreuten Strahlen das Bild der himmlischen Wahrheit. Und wenn wir dann sehen, wie der Streit beschaffen ist, den diejenigen, die doch sämmtlich den Namen Christi bekennen, unter einander führen: o so laßt uns vor allen Dingen nicht vergessen das große Wort des Apostels „Niemand kann Jesum einen Herrn heißen, denn nur durch den heiligen Geist“. | Wie sehr auch der Glaube der Christen von einander abweicht; wie der eine auf dieses, der andere auf jenes einen höhern Werth legt: ist nur das da, merken wir nur das, daß sie Christum einen Herrn nennen, daß sie sich demüthigen vor ihm und unter ihn, daß sie seine Herrschaft und seine Gewalt über die Seele anerkennen, daß sie keinem andern menschlichen Leitstern folgen wollen, sondern allein diesem göttlichen; und sehen wir auf der andern Seite, wie sie jeder gerade wo er im Streit mit einem andern begriffen ist, Jesum einen Herrn nennt, und indem er ihm eben die Herrschaft desselben empfehlen will wie er sie in sich fühlt: können wir zweifeln, daß sie das thun durch den göttlichen Geist, wenngleich in der Erscheinung immer das Unvollkommene und Sündliche dazwischen tritt? Und haben sie alle die Ansicht, jeder dem andern die Herrschaft Christi zu empfehlen, jeder dem andern ihn zu verkündigen und zum lebendigen Bewußtsein zu bringen, jeder ihn den andern so dazustellen, wie er glaubt, daß sie ihn werden festhalten können: was ist es | dann anderes als die Liebe, die sie treibt? Das ist die Wirkung des göttlichen Geistes; aber die Leidenschaft und der Zorn, der dabei mit zum Vorschein kommt, ist das Werk der Sünde, die sich daran hängt. So m. g. F. fängt der Geist Gottes an von allen Seiten und auf alle Weise Christum zu verklären; er kann es nicht anders als indem er in jedem Einzelnen, wie viel eben die Gnade Gottes an ihm thut, auf eine lebendige Weise wirksam ist, und jeden Einzelnen stellt er aus der Fülle seiner Kraft dem Ganzen gegenüber, so daß jeder anzusehen ist als sein Werk. Und wenn nun hierauf unser Glaube sich gründet, daß er in der 6 jeden] jedem 15–16 1Kor 12,3

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Gemeine tröstend waltet und waltend tröstet, und alles Gute der Erfolg seiner Wirksamkeit ist, die Sünde aber sich äußerlich daranhängt, so daß nichts Reines zur Erscheinung kommt, sondern alles befleckt: wohlan so erkennen wir dennoch sein Walten und seine Gegenwart; so vermögen wir doch wenigstens in den besseren Stunden unseres Lebens, wo wir selbst am meisten gereinigt | sind durch die Liebe zum Erlöser, wo wir selbst am fähigsten sind die Augen des Geistes dem himmlischen Lichte zu öffnen, wenigstens da zu erkennen sein Werk, und in allen entgegengesetzten Behauptungen, Ansichten und Bestrebungen der Christen seine Wirksamkeit, die alles zu Einem Ziele leitet, und in den Gemüthern der Christen, wenn sie gleich gehässiges enthalten, doch die Kraft der Liebe, die alles beseligen will durch den Einen, der allein Seligkeit geben kann. So ist also überall in dem Streit der Meinungen unter den Christen die Einwirkung des Einen Geistes, der in der christlichen Kirche waltet; so ist überall in den entgegengesetzten einander aufhebenden Überzeugungen der Christen die Wahrheit, weil der Geist der Wahrheit leitet; so ist also doch in dieser großen Mannigfaltigkeit, wenn wir darauf merken wollen, vor unsern Augen immer geöffnet die ganze Fülle, der ganze Schatz von Weisheit und Liebe, von Kraft und Seligkeit, die der Herr gekommen ist über die sündige Welt auszugießen; und so erfahren wir, daß der Geist, der | uns heiligt ihn selbst zu erkennen und zu verehren, der Geist, der uns lehrt die Tiefe seiner Leitungen in der christlichen Kirche zu erforschen, daß er auf der einen Seite ein Geist ist, der in alle Wahrheit leitet, daß er auf der andern Seite ein Geist ist, der uns tröstet und beruhigt über alles Unvollkommne, was in der Erscheinung des göttlichen Werkes auf Erden unvermeidlich ist. O daß nur unsre Aufmerksamkeit immer darauf gerichtet wäre sein geheimes Wirken zu belauschen, daß wir nur so immer mehr von ihm in alle Wahrheit geleitet werden könnten; daß wir immer nur darauf gerichtet wären, mit dem Auge der Liebe überall in den Bestrebungen uns’rer Brüder die Wahrheit zu erblikken, und sie hier und dort immer reiner und richtiger zu unterscheiden von dem Irrthum; daß nur diejenigen, die selbst nicht begriffen sind in einem leidenschaftlichen Gegensatz, eben das Band der Vollkommenheit würden für die andern, nicht indem sie versöhnend einen falschen Frieden stiften wollen, sondern darauf aufmerksam machen, daß in | ihnen allen waltet derselbe göttliche Geist, daß sie in dem Innersten ihres Herzens zusammenstimmen bei allen verschiedenen Ansichten und Bestrebungen, weil diese ja hervorgegangen sind aus Einer und derselben Quelle! Dann würde freilich auch immer mehr Ruhe und gegenseitiges Verständniß einkehren in die verblendeten und getrübten Gemüther; dann würde freilich, wenn ein solcher Streit ausgebrochen ist, sich leichter herstellen ein ruhiges und 39 Gemüther] Gemüthern

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freundliches Verfahren, wodurch allein das Werk des Geistes, der in alle Wahrheit leitet, kann gefördert werden; dann würde sich nach jeder Zeit der Verdunkelung unser Auge wieder emporstrecken nach dem Lichte, uns’re Sehnsucht und unser Verlangen würde es herabziehen auf die Erde vom Himmel, wie das ja das große Werk des Herrn ist, den der Vater in die Welt gesandt hat, daß er uns das Licht bringe; dann würden wir dessen immer | getröstet werden, daß der Geist Gottes in uns wohnt, und daß wir durch ihn Kinder sind des lebendigen Gottes. Amen. Ja Preis und Dank sei [Dir], heiliger himmlischer Vater, der Du die Bitte Deines Sohnes gewährt und die Fülle des Geistes ergossen hast über seine Kirche. O laß dieses göttliche Licht immer mehr alle diejenigen durchdringen, die zu dem geistigen Leben Deines Sohnes gehören, daß immer reiner und vernehmlicher Dein Geist rede aus dem Munde der Gläubigen, und er immer herrlicher schmücke ihren Wandel zum Ebenbilde dessen, dessen Vorbilde wir nachfolgen sollen. Wir dürfen Dich nicht bitten, erhalte Du uns Deinen Geist; denn Du bist der ewig Treue, und auch die Ungerechtigkeit und Unempfänglichkeit der Menschen können Deine Verheißungen nicht leer machen. Nun Dein Sohn hat ihn | uns verheißen ewiglich, und ewiglich wird er unter uns wohnen und ihn verklären. O möchte er uns alle immer mehr erheben von dem Irdischen und uns fähig machen, daß durch uns und in uns derjenige verklärt werde, der Eins ist mit Dir, damit, wenn so Dein Geist in uns lebt, auch Du mit Deinem Sohne kommest Wohnung zu machen in unserm Herzen, und wenn wir alle die Fülle des Guten in uns tragen, hier schon den Himmel zum Vaterlande haben: Ja das thue Du, und erhöre uns um Christi willen. Amen.

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[Liederblatt vom 18. Mai 1823:] Am ersten Pfingsttage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft etc. [1.] Geist des Vaters und des Sohnes, / Komm von den Höhen deines Thrones, / Herab in das bedürftge Herz! / Du in deiner Welt geschäftig, / Dring 3 emporstrecken] emporstecken 23–24 Vgl. Joh 14,23

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auch in unsre Herzen kräftig, / Daß sie aufstreben himmelwärts! / Geist Gottes, mach uns neu, / Von Sünden völlig frei, / Heilig, selig! Komm heilger Geist / Du starker Geist, / Der allen Kerkern uns entreißt. // [2.] Du kennst ja die blöden Seelen, / Die sich mit bangen Zweifeln quälen / Ob sie auch Gottes Kinder sind. / Komm du Tröster, und erfreue, / Erleuchte, tröste und erneue / Ein jedes schwaches Glaubenskind, / Mach uns des Heils gewiß / In Zweifels Finsterniß, / Geist des Glaubens! Komm heilger Geist, / Der Kindschaft Geist, / Den Jesus Christus uns verheißt. // [3.] Alle Leiden werden enden, / Wir fühlen uns in Gottes Händen, / Deß Liebe endlich wir erkannt. / Sei Geist Gottes du dem Pilger / Licht, Tröster, Führer, Sündentilger, / Mach uns von deinem Feur entbrannt. / Gelangten dann auch wir / Bald dahin, wo wir Dir / Selig danken; Komm heilger Geist, / Du ewger Geist, / Der uns den Weg zum Himmel weist. // (Döring.)

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Nach dem Gebet. – Mel. Warum sollt’ ich etc. [1.] Höchster Tröster, komm hernieder! / Geist des Herrn, / Sei nicht fern, / Stärke Christi Glieder! / Er der nie sein Wort gebrochen, / Jesus hat / Deinen Rath / Seinem Volk versprochen. // [2.] Lehr auf Jesum uns vertrauen, / Und in Noth / Wie im Tod / Gläubig auf ihn schauen / Wenn uns unsre Sünden drücken, / Sprich uns du / Tröstend zu, / Um uns zu erquicken. // [3.] Geist der Wahrheit, gieb uns Allen / Durch dein Licht / Unterricht, / Wie wir Gott gefallen! / Willst du uns bei ihm vertreten, / O so lehr / Noch vielmehr / Selbst uns gläubig beten. // [4.] Hilf den Kampf des Glaubens kämpfen, / Gieb uns Muth / Fleisch und Blut / Sünd und Welt zu dämpfen. / Daß uns Trübsal, Kreuz und Leiden, / Angst und Noth / Selbst der Tod / Nicht von Jesu scheiden. // [5.] Hilf uns nach dem Ziele streben! / Dein Erguß / Sei der Schluß / Christi werth zu leben. / Gieb daß wir nie stille stehen! / Treib uns an / Froh die Bahn / Unseres Heils zu gehen. // [6.] Sei in Schwachheit unsre Stärke, / Steh uns bei / Mach uns treu / In des Glaubens Werke! / Und wenn Gott uns nach dem Leibe / Sterben heißt, / Führ den Geist / Zu des Himmels Freude. // (Bair. Ges. B.)

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Nach der Predigt. – Mel. Liebster Jesu du wirst etc. [1.] Laß mich, weil ich leb auf Erden / Wachsam stets erfunden werden / Und nach göttlichem Geheiß / Thun mein Amt mit allem Fleiß. // [2.] Dann werd’ ich an solcher Treue / Inne werden stets aufs neue, / Daß du werther Gottesgeist / In mir wohnst, und kräftig seist. //

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Am 19. Mai 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Aus der Predigt am 2. Pfingsttag 23. Eph. 4 v. 30

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Pfingstmontag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 4,30 Nachschrift; SAr 62, Bl. 18r–22v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 143v; Gemberg Keine

Wenn es uns allen höchst erfreulich und erhebend ist, daß wir den heilgen Geist ansehn müssen als ununterbrochen in der Gemeinde des Herrn waltend, sie zur christlichen Vollkommenheit erhebend und alles abwendend was sie entfernen könnte von Christo aus welchem ihr ganzes Leben stammt: so werden diese Worte des Apostels uns auf uns selbst aufmerksam machen; denn wenn das Werk des heiligen Geistes sich nicht so kräftig beweist wie unsre Sehnsucht wünscht und wie wir erwarten von der Kraft des Lichtes das der Herr angezündet hat, an wem anders kann die Schuld liegen als an uns selbst, indem wir das thun was den Geist betrübt, [und dies] ihm gleichsam das Bewußtsein giebt daß seine Kraft gehemmt sei und seine Wirksamkeit aufgehalten. Und da ist es wol der Mühe werth daß wir uns fragen: Was versteht der Apostel darunter wenn er sagt: „betrübet den Geist Gottes nicht damit ihr versiegelt seid auf den Tag der Erlösung“: Und eben aus diesen letzten Worten sehn wir daß er die Warnung nicht ergehn läßt an die welche den Geist noch nicht hatten, sondern an die Christen. Das Erste nun was hiebei wol jedem einfallen kann, ist das: daß der Geist Gottes betrübt wird durch alles was noch von menschlichem Verderben und sündhafter Schwachheit in uns ist, allein genauer betrachtet müssen wir von dieser Vorstellung zurükkommen; denn der Apostel giebt hiebei einzelne Vorschriften und in diesem Einzelnen haben wir nicht Ursach so Allgemeines zu vermuthen. Und wenn wir fragen: wird denn der Geist Gottes in uns betrübt durch das was noch vom Verderben in uns sich regt, so müßen wir wol sagen: nein, sondern der Geist des Menschen selbst wird betrübt durch die Sünde, aber das ist eben | die Traurigkeit die zur Seeligkeit führt, und 26 Vgl. 2Kor 7,10

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macht daß der Mensch sich der Wirkung des göttlichen Geistes immermehr hingiebt, aber der Geist Gottes der da weiß was im Menschen ist der kann nicht betrübt werden durch das was nach den ewigen Gesetzen in der Führung Gottes nicht anders sein kann, jedes Verderben das nur durch die Zeit entsteht kann auch nur durch die Zeit allmählig ausgerottet werden, wie nur allmählig das Werk der Heiligung gelingen kann; was so in der Natur der Sache geordnet ist das kann den Geist Gottes nicht betrüben, sondern wenn er das Verderben wahrnimmt so wird in dem Menschen die Traurigkeit erregt zur Erkenntniß der Sünde und er wird auf den Weg des Heils hingeführt und gewinnt durch den göttlichen Geist in sich, Zuversicht und Vertrauen zu der göttlichen Gnade. Dieses hemmt also nicht, sondern fördert das Werk des Geistes wo er schon waltet. So müssen wir also anderwärts aufsuchen was den Geist Gottes betrübt. Nun ist das Erste was dabei zu bedenken ist dieses: daß der Geist Gottes uns als einzelne Person an und für sich nicht erscheint, wir kennen sein Leben in der Gemeinschaft der Christen, wir fühlen seine Regungen in unserem Gemüthe, aber ihn als persönliches Wesen schauen wir nicht an. Wenn also der Apostel warnt den Geist Gottes zu betrüben, so können wir das nicht anders verstehen als daß wir es darauf beziehen, daß wir ihn nicht anders betrüben können als insofern er in den Seelen aller Christen thätig ist und einen Theil ihres Selbstbewußtseins ausmacht. Wenn nun die Zeit schon da wäre, von der der Apostel sagt, daß der neue Bund in seiner ganzen Herlichkeit werde angeschaut werden können, wo alle von Gott gelehrt sein werden, wenn diese Zeit schon da wäre. Dann könnte der Geist Gottes nicht mehr betrübt werden; denn | nichts anders kann wol das: von Gott gelehrt: heißen, als daß jeder mit dem Bedürfniß seiner Seele nicht mehr an die Brüder gewiesen ist, (sondern unmittelbar an das Wort Gottes) so daß der Geist sich des Einen bedienen müßte um den andern zu lehren sondern in seinem Verkehr mit Gott sich der Wirkungen des göttlichen Geistes in seiner Seele bewußt würde und keines Beistandes bedürfe als daß er fleißig Umgang pflege mit dem Worte Gottes, dann würde auch die menschliche Sehnsucht ihn unmittelbar auf das hinweisen in dem göttlichen Worte was darin ihm am meisten zur Seeligkeit gereichen müßte, und jeder Erkenntniß der Sünde und jeder Traurigkeit würden neue Mittel zur christlichen Vollkommenheit folgen, dann wird der Geist Gottes gar nicht mehr betrübt werden, sondern das kann er nur so lange noch nicht Alle von Gott gelehrt sind und insofern die Gemeinschaft der Christen noch von der Art ist daß einige zu mancher Zeit wenigstens stärker und reiner sind als andere und ihnen helfen müssen und beistehn, da wird gewiß der Geist auf eine eigenthümliche Weise be27–28 so ... lehren] (so ... lehren) 22–23 Vgl. Hebr 8,10–11

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trübt wenn diese Wirksamkeit des Einen auf den Andern gehemmt wird und gestört. Und worin besteht denn nun diese Wirksamkeit die der göttliche Geist so, durch seine Werkzeuge, ausübt? Wir dürfen um die Antwort zu finden nur auf das zurükgehn was der Herr davon zu den Jüngern redet und welches in diesem beiden zusammengefaßt ist: 1. daß der heilge Geist der Tröster sei 2. daß er in alle Wahrheit leitet.

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[1.] Das ist das Werk das er an den menschlichen Seelen ausübt wozu er sich aber Einiger bedienen muß. Wenn dieses nun wozu sich der Geist Einiger bedient, um es an andern auszuüben wenn dies gestört wird durch irgend jemand dann wird der Geist betrübt in dem den er sich aus|erwählt hat. Was ist nun nothwendig wenn der Geist Gottes das Werk der Gnade durch Einen an Andern fördern soll, daß es gelinge? – Wenn der Mensch in alle Wahrheit soll geleitet werden so muß sein Sinn offen sein für die Wahrheit und unverfälscht; der Herr hat diesen in alle Menschen gelegt, aber wie die Wahrheit aufgehalten ist in Ungerechtigkeit: so auch der Sinn für die Wahrheit durch die Sünde, wenn er aber auch unterdrükt ist so ist er doch nicht ausgerottet. Und der Erlöser der sich selbst die Wahrheit nennt, hat, durch die einfache und schlichte Art die göttliche Fülle in ihm darzustellen, und kund zu machen, dadurch hat er den Sinn für die Wahrheit erweckt und gestärkt und die Lust und Freude daran wieder belebt weshalb er sich die Wahrheit nennt. – Nun weiß der Mensch aber die Wahrheit nicht anders zu finden als in dem Streite der sich untereinander verklagenden und entschuldigenden Gedanken in ihm. Die Wahrheit hat einen Freund in jedem: das ist das Göttliche in der Seele, aber sie hat auch einen Feind im Herzen eines jeden aus welchem die argen Gedanken aufsteigen, welche eben die Kraft der Wahrheit schwächen. Wenn nun der Geist Einige durch Andre will in alle Wahrheit leiten, was kann er anders als daß er die, in welchen die Ueberzeugung von der seeligmachenden Wahrheit des Christenthums zu solcher Lebendigkeit gekommen ist daß sie im Stande sind Andern das Wort Gottes aufzuschließen, erwählt und sich ihrer bedient, um durch ihre reifere Erkenntniß die Andern zu aufrichtiger Erkenntniß und Bekenntniß ihres innern Zustandes zu bringen, von welchem Bekenntniß alle zunehmende Heiligung ausgeht. Aber die Schrift sagt: „Gott hat die Menschen einfach erschaffen aber sie suchen viel Künste“: So giebt es nun Künsteleien des | menschlichen Verstandes um den Eindruk der Wahrheit zu schwächen, und von dieser Selbsttäuschung ist kein Mensch ganz frei; 13 Andern] Andre

19 ihm] ihm,

6 Vgl. Joh 14,16–17.26; 15,26 35 Vgl. PredSal 7,29

7 Vgl. Joh 16,13

18 Vgl. Joh 14,6

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Viele lieben die Wahrheit über Alles, aber doch giebt es immer auch für sie gewisse Beziehungen wo sie sie lieber nicht sehen; weil sie fühlen daß sie entweder noch nicht Lust haben oder sich nicht Kraft genug zutrauen ihren Forderungen genüge zu leisten. Diese Scheu vor der Wahrheit muß überwunden werden, und jeder geschikt gemacht werden zu dem lebendigen Auffassen derselben im jedem Verhältniß des innern Lebens so daß er durch dieselbe jede Regung für das erkenne was sie wirklich ist. Das ist das Geschäft des göttlichen Geistes welches der Herr bezeichnet durch den Ausdruk: „Die Menschen in alle Wahrheit leiten“: Alle diejenigen nun, welche durch jenes verkehrte Tichten und Trachten des menschlichen Herzens und durch die Klügelei und Künstelei des Verstandes mißgeleitet die Wahrheit verdunkeln in ihrem Innern und so sich selbst täuschen, wenn diese ihre Ueberzeugung als richtig mittheilen: dieses verwirrt den reinen Sinn für die Wahrheit. Und wenn es sich nun mischt in das gemeinsame Leben, in die Kreise wo die Wahrheit soll gelehrt werden, und in die der vertrauteren Mittheilungen: dann wird der Geist Gottes betrübt, weil die Fortschreitung der Leitung in alle Wahrheit gehemmt wird. – Es giebt aber gewiß kein weiter verbreitetes Verderben als eben dieses wodurch der reine Sinn für die Wahrheit geschwächt wird, und überall, in allen Verhältnissen haben wir Gelegenheit zu beobachten daß auch Menschen deren Verstand sonst wenig ausgebildet ist, doch dieser traurigen Kunst Meister sind, sich durch Klügelei die Wahrheit, die ihrem Herzen heilig ist, und sie zur | Lauterkeit der Gesinnung führen soll, in sich selbst auf mancherlei Weise zu verdunkeln. – Wenn wir nun auf der einen Seite nicht leugnen können: es giebt kein eigentliches Leben in der Gemeinschaft der Christen und keine Förderung desselben, als in einem freien brüderlichen und offnen Austausch der Gedanken, nur in diesem kann jeder lernen und Vortheil ziehn von den Fortschritten derer die in diesem oder jenem schon mehr erleuchtet sind. Aber wenn wir nun unbehutsam auch solche Gedanken mittheilen welche nicht die Frucht sind eines reinen unverfälschten Sinnes für Wahrheit sondern die Erfindung solcher menschlichen Klügelei, und wenn wir das geltend zu machen suchen was vor dem ewigen Lichte nicht bestehn kann, alsdann betrüben wir den Geist Gottes, da die Menschen leider gar zu empfänglich sind für diese Verderbniß des Verstandes, und indem wir so der Wahrheit den Weg in die Seelen hinein zu dringen, versperren, so müssen wir den Geist der in alle Wahrheit leiten will, betrüben. – Wie aber sollen wir es machen um das zu hindern? ja wer sich selbst immer vollkommen erkennte, wer überall genaue Rechenschaft sich geben könnte darüber was aus der Wahrheit in ihm hervorgegangen ist und was aus jener Verkehrtheit des menschlichen Herzens und Verstandes, der könnte sich hüten den Geist Gottes zu betrüben, er würde das Letzte tief in sich verschließen und all9 Vgl. Joh 16,13

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mählig ausdrängen, und nur das Erste kund machen und verbreiten so weit er könnte. Aber diese vollkommne Selbstkenntniß fehlt uns immer noch in einem gewissen Grade, darum können wir uns nicht anders sicher stellen gegen dieses Betrüben des Geistes Gottes als dadurch daß wir die Lauterkeit und Festigkeit unserer Ueberzeugungen ernst prüfen an dem köstlichen Wort: „Was nicht aus dem Glauben kommt | ist Sünde“: – Thun wir das so ist es wohl nicht möglich daß nicht Widerspruch entstehn sollte in uns selbst gegen das was dem Geiste der Wahrheit zuwider wäre. Und wenn wir dann das über uns gewinnen daß wir nichts anders als gewiß vortragen als was diese Prüfung ausgehalten hat, wo aber der Geist zeigt wie wenig wir vollkommen im Glauben fest stehn, unsre Mittheilungen so einrichten daß sie uns selbst immer mehr befestigen und läutern, dann regen wir selbst den Sinn der Prüfung auf, machen die Brüder zu Theilnehmern des Geschäftes in uns, und treten nicht zwischen der Wirksamkeit des göttlichen Geistes in ihnen. Darum laßt uns das immer als das Erste ansehn, in der Warnung des Apostels, und uns das zur theuersten Regel machen in Beziehung auf unsre Mittheilungen, daß wir durch dieselben immer mehr lernen wollen als lehren, daß wir immer mehr Andre auffordern uns zu dienen mit ihrer Einsicht und Erkenntniß als daß wir ihnen unsre Ansichten aufdringen wollten; dann wird der Geist Gottes uns in alle Wahrheit leiten. [2.] Das zweite Wort des Herrn über die Wirksamkeit des Geistes ist dieses: daß er soll der Tröster sein, daß er also überall das Herz der Gläubigen ermuthigen soll und beruhigen und eben dadurch die Fröhlichkeit und Freiheit erhalten, welche das Wesen der Kinder Gottes ausmacht. Auch hiezu bedürfte der Geist keiner menschlichen Hülfe wenn Alle schon von Gott gelehrt wären. Wenn er aber das Werk der Tröstung vollbringen soll durch Einen an den Andern was könnte dann nothwendiger sein als gegenseitiges Vertrauen? denn der Trostesbedürftige ist schwankend und unsicher und muß sich an den lehnen der ruhiger und fester ist im Gemüth. Bedürfen | wir getröstet zu werden so sehen wir uns um nach solchen an die wir uns lehnen können und befinden uns recht wohl wenn wir solchen Kreis von Gläubigen gefunden haben, darin wir, wie wenig wir auch uns auf uns selbst verlassen können, umgeben sind von einer heilgen Schutzwehr; weil wir in ihnen die Werkzeuge sehen deren der Geist sich bedient um uns aufrecht zu halten. Und o wer möchte wol leben ohne dieses Vertrauen das Christen zu Christen hegen! Wer könnte ein sichres Gefühl haben von dem Walten des Geistes wenn es nicht solche Verbindungen gäbe! Wo nun dieses Vertrauen geschwächt wird, da wird der Geist Gottes betrübt, 5 unserer] unserr 6 Röm 14,23

14 zwischen] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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das Werk der Tröstung gehemmt. Und dies geschieht öfter als wir wol denken mögen; weil es so viele Verschiedenheiten giebt in den Ansichten der Christen, eben weil sich nicht Alle gleich nah stehen können, und jeder hat ein gewisses Mißtrauen gegen das was er nicht versteht. Es ist aber gewiß daß keiner bei dem welchen er nicht versteht seinen Trost suchen wird: dieses nun was jener nicht versteht und auch nicht sucht, das ist es was jeder für sich behalten soll um sich damit an einen andern Bruder zu wenden, aber die irre machen welche ihr Vertrauen in einen solchen gesetzt haben den wir nicht verstehn: das ist es wovor wir uns hüten sollen, weil wir dadurch den Geist betrüben würden. Gar vieles giebt es wodurch so der Geist betrübt wird, besonders in einer vielseitig angeregten Zeit wo diejenigen natürlicher Weise zusammentreten die gleiche Ansichten theilen wo aber auch eben deswegen oft ein zu großer Werth gelegt wird auf dies oder jenes und dadurch das gegenseitige Vertrauen geschwächt durch solche die zu einem andern Kreise gehören. Solche Verbindungen sind zu billigen wenn nur nicht eine die andre stört, und ihr Maaßstab sein will: Hier ist das Wort anzuwen|den: „Richte nicht einen fremden Knecht“: und das: „Richtet nicht auf daß ihr nicht gerichtet werdet“: Und von beiden finden wir die Wahrheit nicht so auffallend als eben hierin: Wenn wir uns anmaßen entscheiden zu wollen in wie fern Andre das Vertrauen verdienen welches ihnen zu Theil wird, so richten wir über sie und maßen uns an zu wissen daß sie nicht Werkzeuge des Geistes sein können, und das dürfen wir nicht, indem wir alle Knechte sind und nur ausrichten sollen was der Herr uns aufgetragen hat, nun aber hat er uns nichts aufgetragen in dem was uns fremd ist, und wo wir also nichts zu thun haben da haben wir auch nichts zu richten. Wohlan so laßt uns nicht richten damit uns nicht dasselbe treffe, und dadurch der Geist immermehr betrübt werde; denn durch nichts kann wol das Werk der Tröstung mehr gehemmt werden als dadurch daß an die Stelle des Vertrauens, Unsicherheit und Verdacht herbeigeführt wird; denn dadurch werden dem Geist die Mittel des Trostes entzogen. Wollen wir uns dessen erfreuen daß der Geist Gottes nicht aufhört zu trösten und in alle Wahrheit zu leiten, ist es aber eben so wahr daß er sich dazu bedienen muß menschlicher Werkzeuge, o so laßt uns dafür sorgen daß er unter uns und von uns nie betrübt werde, denn wird er betrübt so löset sich das Siegel auf den Tag der Erlösung; denn wir weisen dadurch die Erlösung zurück. Je weniger wir ihn betrüben, jemehr wir ihn walten lassen ohne alle Schranken, um so mehr wird die Wahrheit herschend werden und er wird uns Alle immermehr in alle Wahrheit leiten, und Alle werden getröstet werden, und keiner gestört auf dem Wege des Heils. | Und 8 einen] einem 17 Vgl. Röm 14,4

12 zusammentreten] zusammtreten 18 Mt 7,1; Lk 6,37

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nur so wird die Freude am Herrn endlich siegen über Alles, und wo die waltet da hat der Geist sein Werk so weit vollendet wie es nöthig ist um ganz ungestört in alle Wahrheit zu leiten, da hat er selbst immer weniger zu trösten und zu beruhigen. Darum laßt uns das zum ersten Gegenstande der Selbstprüfung machen ob wir den Geist betrüben, damit wir uns bewußt werden ob wir seine Werkzeuge sein können, und aus seiner Fülle nehmen Licht und Wahrheit Trost und Hülfe für uns Alle, bis wir durch diese Einigung der Herzen mit ihm, gedeihen zu dem vollkommnen Alter Christi!

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Am 25. Mai 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 3,13–14 Nachschrift; SAr 104, Bl. 6r–21r; Andrae Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 34–44 (Textzeugenparallele; Vorlage in: FHDS 103/3 [Bl. 1r–16r] und 103/4, S. I–XVI) Nachschrift; FHDS 103/3 [Bl. 1r–16r]; Andrae Nachschrift; FHDS 103/4, S. I–XVI; Andrae Nachschrift; SAr 54, Bl. 63r–74v; Andrae, in: Schirmer Nachschrift; SAr 52, Bl. 144r–145r; Gemberg Nachschrift; SAr 62, Bl. 24r–28r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Trinitatis 1823 am fünf und zwangzigsten Wonnemonds. |

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Tex t. Galater III, 13 und 14. Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes, da er ward [ein] Fluch für uns; auf daß der Segen Abraham’s unter die Heiden käme in Christo Jesu, und wir also den verheißenen Geist empfingen durch den Glauben. M. christl. Fr. Wenn wir zurücksehen auf den Kreis uns’rer heiligen Feste, die wir mit dem Feste der Pfingsten beschlossen haben, und darin die ganze Geschichte der Erlösung von der Erscheinung des Herrn auf der Erde an bis zu der festen und unerschütterlichen Begründung seiner Kirche uns vor Augen liegt; so ist die Frage wohl sehr natürlich und liegt allen nahe genug, was haben wir nun durch diese Veranstaltung Gottes gewonnen? | ist der Zustand wiedergebracht, in welchem sich der Mensch befand, ehe er durch die Sünde abfiel von Gott? oder bleiben wir hinter demselben doch noch zurück? oder ist uns noch etwas Höheres als jenes geworden dadurch, daß Christus in die Welt kam und das Reich Gottes gründete? Über diese Fragen m. g. F. geben uns nun die verlesenen Worte der Schrift Auskunft. Wir können nicht sagen, daß wir zurückblieben hinter dem Zustand, in welchem der Mensch gewesen sein würde ohne die Sünde; denn der Apostel spricht: „Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes“; es gäbe aber keinen Fluch des Gesetzes ohne die Sünde; und beides ist daher Eins und dasselbe. Hat uns Christus erlöset von dem Fluch des Gesetzes, so hat er uns auch

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erlöset von alle dem, was Nachtheiliges durch die Sünde in das menschliche Geschlecht hineingekommen ist. | Wenn er nun aber, m. g. F. hinzufügt: Christus hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes „auf daß der Segen Abrahams komme über die Völker“, und was er weiter hinzufügt: so sehen wir ja daraus ganz deutlich, seine Meinung geht dahin, Christus habe noch mehr gethan als uns von dem Fluch des Gesetzes erlöst, es sei durch ihn ein Segen über die Völker und über die Geschlechter der Menschen gekommen, dessen sie vorher und ohne ihn nicht hätten können theilhaftig werden; denn was schon von selbst daraus entstanden wäre, daß der Fluch des Gesetzes aufgehoben worden wäre um Christi willen, das könnte der Apostel nicht als einen neuen Segen uns darstellen; sondern jenes war nun freilich die Bedingung, ohne welche dieser Segen nicht konnte über die Menschen kommen; aber daß der Segen Abrahams in Christo über die Völker käme, daß wir durch den Glauben den | verheißenen Geist empfingen, das ist nach den Worten des Apostels, wenn wir sie in ihrem Zusammenhang betrachten, überschwenglich mehr als die Aufhebung von dem Fluch des Gesetzes. Und so laßt uns nach Anleitung dieser Worte näher mit einander erwägen, welches denn der Gewinn sei, über den ursprünglichen Zustand des Menschen hinausgehend, welcher uns durch die Erlösung und durch alles was mit ihr zusammenhängt zu Theil geworden ist und in immer reicherm Maaße zu Theil werden soll. Es kommt aber dabei, wie das menschliche Leben und Dasein überhaupt diese zwiefache Betrachtung zuläßt, vornämlich auf folgendes beide an: einmal auf unsern innern Zustand an und für sich betrachtet; und dann auf die ganze Thätigkeit, durch welche sich dieser und die innere Kraft unseres Lebens und Daseins in dieser Welt zu beweisen hat – und beides also laßt uns, wie es sich durch den Segen, der in Christo Jesu über die Völker gekommen ist, gestaltet, näher mit einander betrachten. | I. Sehen wir nun zuerst, m. g. F. auf den innern Zustand des Menschen und fragen uns, was ist denn in dieser Hinsicht der Segen Abrahams, welcher in Christo über die Völker kommen sollte und gekommen ist? Der Apostel erklärt sich darüber in den Worten, die auf unsern Text folgen, noch näher, indem er sagt, das sei die Verheißung gewesen, die Gott dem Abraham gegeben, daß durch seinen Samen, nämlich einen Einzigen, gesegnet werden sollten alle Geschlechter der Erde. Der Einzige aber, der Nachkomme Abrahams, auf welchem dieser Segen ruht, das ist der Erlöser. Und was ist nun der Segen, der durch ihn über alle Völker gekommen ist, abgesehen davon, daß er den Fluch des Gesetzes getragen und aufgehoben hat, als daß in seiner Person vereinigt gewesen ist die menschliche Natur, deren wir 34–37 Vgl. Gal 3,16

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alle theilhaftig sind, so unsündlich wie sie in ihrem ersten Ursprunge von Gott her gewesen ist; außerdem aber die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, und das ewige Wort, | welches kräftiglich alle Dinge trägt – daß diese Vereinigung in seiner Person bestanden hat, das ist unser Glaube; daß er, in welchem sie bestand, uns Brüder nennt, das ist der Segen, der durch ihn über alle Völker gekommen ist, und dessen sie ohne ihn nicht hätten können theilhaftig werden. Wenn die menschliche Natur, m. g. F. auch geblieben wäre ohne Sünde, rein und unbefleckt wie Gott der Herr sie mit einschloß in jenes große Wort „Und der Herr sahe an alles was er gemacht; und siehe da, es war sehr gut“; wie weit wäre sie doch immer entfernt geblieben von der Theilnahme an einer solchen Vereinigung mit Gott wie diese? Wenn wir jetzt mit dem Verfasser des Briefes an die Hebräer getrost und zuversichtlich sagen können, „Herr was ist der Mensch, daß du seiner gedenkest, und des Menschen Kind, daß du es annimmst? denn die Engel hat er nicht angenommen, zu dem Menschen aber sagt er, Heute habe ich dich gezeuget, und du bist mein Sohn“: wie weit m. g. Fr. wäre der Mensch immer entfernt [davon] geblieben, wenn nicht eben | die Sünde nothwendig gemacht hätte, daß das Wort Fleisch ward, um den Fluch des Gesetzes aufzuheben? Wie sehr auch der Mensch sich erfreut hätte der hohen Kräfte, mit welchen Gott ihn ausgerüstet, um die andern Geschöpfe dieser irdischen Welt zu beherrschen, und in dieser Herrschaft das Ebenbild Gottes darzustellen; wenn er auch in sich selbst immer mehr ausgebildet hätte diese ihm von Gott verliehenen Kräfte: nur je mehr er dies erfahren haben würde, um desto mehr würde er ihre Beschränktheit und Unvollkommenheit gefühlt haben. Und nicht einmal zu reden von dem unendlichen Abstand zwischen ihm und dem ewigen höchsten Wesen, dessen Erkenntniß ihm dann nie würde fremd geworden sein: wie sehr würde er sich nicht diesen Abstand ausgefüllt haben mit andern höhern reicher begabten Wesen, wie die Schrift eben im Allgemeinen zu ihrer Bezeichnung sich des Ausdruckes Engel Gottes bedient? und wie tief würde er sich nicht unter diesen Geschöpfen halten, ein Geschöpf niederer Ordnung, an beschränkende | Bedingungen des Daseins gebunden, die jene nicht kenneten, einer irdischen Natur unterworfen, und durch nichts über sie erhaben? Jetzt aber ist er aufgenommen in die Gemeinschaft des göttlichen Wesens selbst durch den, in welchem die Fülle der Gottheit als in einem Menschensohne wohnte, und welcher uns alle zu seinen Brüdern angenommen hat; ausgefüllt ist nun diese Kluft; und in der Vereinigung mit Christo, mit dem eingebornen Sohne, mit dem Abglanz der göttlichen Herrlichkeit, welch’ ein Bewußtsein, zu welchem der Mensch sich erheben kann! welch ein Gefühl 2–3.35–36 Vgl. Kol 2,9 3.38 Vgl. Hebr 1,3 9–10 Gen 1,31 13–14 Vgl. Hebr 2,6 (Zitat aus Ps 8,5) 14–16 Vgl. Hebr 1,5 18 Vgl. Joh 1,14

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einer freilich durch die göttliche Gnade allein ihm gewordenen [Würde] – aber wie könnte auch anders als durch sie dem Menschen das höchste kommen? – in dem Gefühl sage ich einer Würde, über welcher er nichts mehr erblickt, indem er sich unmittelbar durch Christum an das ewige höchste Wesen anschließt? Wie hätte je zu solchem Bewußtsein der Mensch sich erheben können, als dadurch, daß das Wort | Fleisch ward, und unter uns wohnte, und wir seine Herrlichkeit sahen und immer mehr sehen mit den Augen des Geistes als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit? – Und weiter sagt der Apostel: „Auf daß wir durch den Glauben den verheißenen Geist empfingen“ – durch eben den Glauben, daß in Christo dem Herrn die Fülle der Gottheit wohnte, und in Ihm alle göttliche Verheißungen Ja und Amen sind, durch den Glauben, durch welchen wir uns Ihm zu eigen hingegeben und mit ihm Eins werden, wie Er uns alle dazu eingeladen und berufen hat – „auf daß durch diesen Glauben wir den verheißenen Geist empfingen“. In diesen Worten, m. g. Fr., weiset uns der Apostel auf noch etwas hin, wodurch sich der gegenwärtige Zustand des Menschen von dem frühern, abgesehen von der Sünde und von dem Falle des Geschlechts, unterscheidet. Was sagt der Apostel von dem Geist des Menschen, | wie er ursprünglich gewesen ist? Daß niemand als der Geist des Menschen wisse was in dem Menschen ist. Und freilich müssen wir sagen, die Erkenntniß, welche durch die Kraft des Geistes, womit Gott ursprünglich bei der Schöpfung das menschliche Geschlecht ausgestattet hatte, die Erkenntniß von sich selbst, welche der Mensch durch diesen hat, sie ist etwas, wovon wir nichts Ähnliches in der irdischen Welt und unter den übrigen uns bekannten Geschöpfen Gottes bemerken können. Von dieser Erforschung des eigenen Wesens, die dem Menschen möglich ist, weil er von jedem Augenblick seines Lebens zurücksehen kann in den vergangenen, und in jedem schon findet den Keim der Zukunft, von dieser Erkenntniß seiner selbst hängt dann ab und geht aus alle wahre Erkenntniß, welche er haben kann von den Werken Gottes, die ihn umgeben. Aber was sagt der Apostel von dem verheiß’nen Geist? „Wie nur der Geist des | Menschen weiß was in dem Menschen ist: so ist es auch der Geist Gottes, der die Tiefen der Gottheit durchforscht; und wir haben, sagt er, nicht empfangen einen Geist der Welt, sondern wir haben empfangen den Geist Gottes, auf daß wir erkennen könnten, was uns von Gott gegeben ist.“ Einen Geist der Welt auch in einem guten und löblichen Sinne empfängt der Mensch allmälig durch die Kenntniß seiner selbst und der Welt, einen solchen Geist, wodurch er in alles forschend hineingeht, was der Herr in diese Welt gelegt hat, sich mit allem Guten und Wahren darin innig befreundet, und alle 6–9 Vgl. Joh 1,14 10–11 Vgl. Kol 2,9 1Kor 2,11 31–35 Vgl. 1Kor 2,10–12

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geistige Kräfte des menschlichen Geschlechtes zu der Erreichung Eines und desselbigen großen Zweckes zu verbinden sucht. Aber der Apostel sagt, noch etwas Anderes und Höheres haben wir empfangen als einen solchen Geist der Welt, aus welchem sich eine vernünftige Erkenntniß der Welt und eine vernünftige Liebe zu der Welt entfalten kann; sondern wir haben empfangen den Geist aus Gott, daß wir erkennen können, | was uns von Gott gegeben ist. Wenn der Geist des Menschen m. g. F. das Innere des Menschen erforscht, so erkennt er auch was dem Menschen von Gott gegeben ist; denn alles kommt von ihm und nichts haben wir ohne ihn. Wenn also der Apostel von einem Geiste Gottes redet, den er unterscheidet von dem Geist des Menschen, und der eben eine lange Reihefolge von Geschlechtern, während der Mensch schon immer diesen ursprünglichen Geist besaß, der verheißene Geist war und blieb; und wenn wir durch diesen erkennen sollen etwas was uns von Gott gegeben ist: so muß er damit etwas Anderes meinen als nur das was auch der Geist des Menschen schon erkennt und immer als ein von Gott uns Gegebenes erkennen kann. Und eben dies uns von Gott Gegebene, das ist dasselbe, was der Apostel vorher ausdrückt durch die Tiefen der Gottheit, die er uns eröffnet. Sie klingen uns entgegen in jenem Worte des Apostels Johannes: „Gott ist die Liebe.“ Das sind die Tiefen der Gottheit, die uns der Geist Gottes eröffnet und uns in ihnen erkennen läßt, was uns von Gott gegeben; das ist der verheißene | Geist, durch welchen der Mensch Gott nicht nur erkennt als die ewige Macht, als die unendliche Kraft, die alles leitet, sondern seine innersten Tiefen durchforscht und sein Wesen als die Liebe. Der Mensch aber kennt keine and’re Liebe als welche das Verwandte zu einander hegt; so die nächsten und heiligsten Bande der Natur; so jede Liebe des Menschen zum Menschen, worin er dasselbe Wesen wieder erkennt. Wenn wir also die Tiefen der Gottheit erforschen, daß Gott die Liebe ist: so können wir das auch nur, indem wir uns selbst als das Gottverwandte erkennen, wogegen er seine Liebe beweiset, und welches seine Liebe auffassen kann. Der ursprüngliche Geist des Menschen m. g. F. steht auch nach Gott und sucht ihn auf; aber wenn er gleich auf der einen Seite erkennt, daß er nicht fern ist von einem jeglichen unter uns, sondern daß das ewige Wesen allgegenwärtig sein muß, überall seine Kraft und seine Wirksamkeit beweisend: so kann er es doch nur erkennen als ein Fremdes, wie das Geschöpf den Schöpfer, wie das Irdische das Himmlische, wie das Vergängliche das Ewige erkennt. | Durch den verheißenen Geist aber sind uns die Tiefen der Gottheit aufgeschlossen, daß wenn Gott auch für uns die Liebe ist, er es sein muß wie das Verwandte gegen das Verwandte; daß wir einig sind mit ihm auf eine ganz besondere Weise durch die Verbindung, in welcher er mit uns steht durch Christum – das ist es, was wir durch den verheißenen Geist erkennen als das uns von 19 1Joh 4,8.16

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Gott Gegebene. Dieser verheißene Geist, der die Tiefen der Gottheit erforscht, der uns in alle Wahrheit leitet, der es aus der Fülle Christi nimmt und uns giebt und ihn uns verklärt: o er ist etwas unendlich Höheres als der ursprüngliche Geist des Menschen jemals hätte werden können. Denken wir das allmälige Aufsteigen des Menschen von den Nebeln des Wahnes und des Irrthums zu einem immer heller aufdämmernden und immer heller strahlenden Lichte; denken wir uns ihm die Welt als das Werk Gottes sich entfaltend; denken wir uns ihm die Tiefen der menschlichen Natur sich eröffnend – und das alles ohne daß er irre geleitet würde | durch die Sünde, ohne daß irgend etwas, was verderblich ist, ihn verleitete zum Wahn und zum Irrthum, sondern er nur von der Unwissenheit aufstiege zur Erkenntniß: dennoch wie eng würden die Schranken seiner Erhebung gezogen sein! Aber dieser Geist, der Einer und derselbe mit immer frischer Kraft von oben herabkommt und auf uns wirkt, der es nicht aus dem Irdischen nimmt, um uns allmälig in demselben auf irgend eine Weise dem Himmlischen zu verklären, sondern es unmittelbar von oben nimmt aus den Tiefen der Gottheit, aus der Fülle Christi: wer wollte sich nicht dessen freuen und dankbar erkennen, daß durch ihn nun alle, auch diejenigen, welche am wenigsten fähig sind auf dem Wege menschlicher Forschungen sich menschliche Weisheit und menschliche Erkenntniß zu erwerben, daß dennoch auch alle diese fähig sind, daß ihren Seelen aufgeschlossen werden die Tiefen der Gottheit, daß alle diese dennoch erkennen können, daß Gott die Liebe ist in seinem Sohne, und daß | sie durch den Geist, der in seiner Kirche waltet, genährt werden können und geleitet in alle Wahrheit, die nothwendig ist zu einem gottseligen und gottgefälligen Leben. Dieser verheißene Geist nun, den wir durch den Glauben empfangen, den beschreibt uns der Apostel an einer andern Stelle unseres Briefes als den Geist, der in unserm Herzen ruft: Abba, das heißt, lieber Vater. Der ursprüngliche Geist des Menschen, von dem fordert ebenfalls unser Apostel in dem Brief an die Römer, daß wenn er wahrnähme die Werke Gottes, nämlich die Schöpfung der Welt, in aller ihrer Mannigfaltigkeit und Ordnung, er daraus abnehmen könnte Gottes ewige Kraft, und ihm dadurch offenbar werde, daß ein Gott sei. So weit m. g. F. würde es der Mensch gebracht haben, durch seinen ursprünglichen Geist; und diese ursprüngliche Offenbarung wäre nicht unterdrückt worden in ihrer heiligen Wahrheit durch die Ungerechtigkeit, wenn die Sünde nicht gekommen wäre über das menschliche Geschlecht, sondern immer inniger würde er aus | der Welt wahrgenommen haben die ewige Kraft der Gottheit, immer gewisser und immer fester würde sein Glaube und seine Über16 verklären] erklären 1–2 Vgl. 1Kor 2,10 Röm 1,19–20

2–3 Vgl. Joh 16,13–14

27–28 Vgl. Gal 4,6

28–32 Vgl.

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zeugung von derselben geworden sein, so daß er in allem was ihn umgiebt und was er in der Tiefe seines eigenen Wesens empfindet, auch würde Gott erkannt haben, und an dessen ewige Kraft und Gottheit würde erinnert worden sein. Aber welch’ ein Unterschied von dem Schöpfer zum Vater, von dem Geschöpf zum Kinde! Freilich auch in seinem ursprünglichen Zustande würde der Mensch sich dessen bewußt worden sein, daß eben der Geist, den Gott ihm eingehaucht hatte und kraft dessen er eine lebendige und vernünftige Seele geworden war, er, das Geschöpf aus Erde, eine Gabe sei, die Gott den niedern Geschöpfen versagt; in einem andern Verhältniß zu Gott würde er sich gesehen haben als die übrigen Geschöpfe, sich als den Mittelpunkt der irdischen Schöpfung, und alles Andere nur | dazu da, ihm zu dienen und sich auf ihn zu beziehen, in ihm allein die herrschende und regierende Gewalt auf dieser Erde niedergelegt, ihm allein die Kraft und die Schönheit und die Würde der Erkenntniß aufgespart. Aber der Ruf lieber Vater! in dem Herzen des Menschen, woher kommt er anders als eben aus dem Segen, der durch Christum über die Völker gekommen ist? woher anders als durch eben den Glauben an die Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur in der Person des Erlösers? Daß wir göttlichen Wesens theilhaftig sind durch die Vereinigung mit Christo und dem verheißenen Geist, den er uns gegeben hat, und der der Geist Gottes selbst ist – das allein ist der Grund, warum wir lieber Vater zu dem ewigen Wesen rufen können; das allein ist der Grund, warum wir uns dem ewigen Urheber aller Dinge, vor welchem der Mensch an und für sich betrachtet nur Staub ist, daß wir uns dem so befreundet nahen können und uns ihm so befreundet fühlen. | „Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren“; das heißt ja offenbar m. g. F. niemand kann Gott als den Vater erkennen als nur der Sohn, dem er auf eine ursprüngliche und ewige und einzige Weise Vater ist, und diejenigen, denen Er es offenbaren will und kann dadurch, daß sie sich mit Ihm vereinigen, daß sie Ihn und seinen Geist in das Innere ihres Herzens aufnehmen. Nur in der Überzeugung, von einer solchen Vereinigung Gottes mit der menschlichen Natur, die nur möglich war und sein konnte durch eine Verwandtschaft seines Wesens mit dem uns’rigen, nur in dieser Überzeugung rufen wir lieber Vater! und alles Freundliche, alles Zärtliche, alles unmittelbar Liebende, wovon unser Verhältniß zu Gott, so bald wir uns ihm in Christo nahen, voll ist, und wie es sich in dem Innersten uns’rer Seele äußert, das ist seine Gabe und sein Segen, der ohne dies nicht wäre über die Menschen gekommen. Ja die Stimme Gottes hätte der Mensch gehört in dem Garten der Natur, der Herr hätte ihm vorgeführt die | Geschöpfe der Natur, um sie zu erkennen und sie auf sich selbst zu beziehen; aber immer auch ohne die Sünde, würde er erfüllt gewesen sein von einem geheimen Schauer, und nicht ohne Zittern 6–8 Vgl. Gen 2,7

14–15.33–34 Vgl. Gal 4,6

25–26 Mt 11,27

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und Bangigkeit seine Stimme vernommen haben, wo er sie gehört. In Christo nur sind wir erhaben über alle Furcht befestigt in der Überzeugung, daß Gottes Wesen die Liebe ist, und indem dadurch alle Bangigkeit und alles Grauen von uns gewichen ist, fühlen wir es, daß diejenigen, welche dem himmlischen Vater nicht befreundet sind in Christo, sich ihm auch nicht nahen können mit dem Ausrufe: lieber Vater! Sehet da, m. g. F., diese Erhebung der menschlichen Natur durch die Erscheinung des Erlösers, diese neue Begeisterung derselben durch den verheißenen Geist, diese Verknüpfung des menschlichen Geschlechts als Kinder Gottes, die es sind in Christo, mit Gott dem Vater, das ist der überschwengliche Segen, der über uns gekommen ist durch Christum in Beziehung auf den innersten Zustand unseres Gemüths; das sind die heiligen Güter, die in seinem ursprüng|lichen Zustand das menschliche Geschlecht nicht würde erlangt haben, weil sie der menschlichen Natur, wie sie an sich war, nicht konnten werden, sondern ihr nur konnten zu Theil werden dadurch, daß das menschliche Geschlecht in Christo und durch Christum ein neues Geschöpf wurde. Und darum, m. g. F., ist eben dies auch das heiligste Losungswort des Christenthums: Christus hat den Fluch des Gesetzes aufgehoben und uns von demselben erlöst. Hätte er weiter nichts gethan, so wären wir nur das alte Geschöpf wieder geworden, in seine ursprüngliche Würde und Herrlichkeit zurückversetzt. Aber ein neues Leben sollte uns werden durch Christum, welches herrlicher ist als jenes; und das ist der Segen, der in dem Einen, durch welchen die ganze menschliche Natur und alle Geschlechter der Menschen gesegnet werden können, über uns kommt; und dessen werden wir inne allein durch den heiligen Geist, den wir nur empfangen können durch lebendigen Glauben an ihn. II. Aber laßt uns zweitens sehen, wie sich ein solcher Gewinn durch die Erlösung zeigt, | wenn wir auf die Thätigkeit achten, die der Mensch ausüben soll. Dabei nun kommt es auf zweierlei an, nämlich auf die innere Beschaffenheit dieser Thätigkeit und auf den Umfang ihrer Wirksamkeit. – Was das Erste betrifft, so kennen wir immer keine andere Thätigkeit, insofern wir Christo angehören, als die des Glaubens, welcher sich beweiset eben durch die Liebe. Aber durch welche Liebe? Durch die, welche uns Christus ebenfalls als ein neues Gebot gegeben hat, indem er uns machte zu einem neuen Geschöpf, daß wir uns unter einander lieben sollen mit der Liebe, mit welcher er uns geliebt hat. Mit einer solchen aber, m. g. F., konnten die Menschen einander nicht lieben, ausgenommen seitdem und deswegen 37 m. g. F.,] m. g. F.. 34–37 Vgl. Joh 13,34; 15,12

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weil Christus erschienen ist. Denn wenn die Sünde nicht hätte die Erlösung nothwendig gemacht, so hätte es dann auch keine erlösende Liebe geben können. Die erlösende Liebe aber ist die, welche unser Herr gegen uns bewiesen hat; und sie ist daher auch die, mit der wir uns unter einander lieben sollen. Die aber m. g. Fr., ist eine göttliche Liebe; denn | nur durch jene Vereinigung des göttlichen Wesens mit der menschlichen Natur vermochte der Erlöser das menschliche Geschlecht zu erlösen. Sehen wir nun von ihm ab und betrachten die ursprünglichen Verhältnisse der Menschen gegen einander: so würde das freilich immer gewesen sein das Gesetz ihrer Wirksamkeit, daß jeder seinen Nächsten geliebt hätte wie sich selbst; sich selbst aber hätte er so geliebt, daß sein Tichten und Trachten dahin gegangen wäre, die Entwicklung seiner unbefleckten geistigen Kräfte so regelmäßig, so stark und kräftig als möglich zu fördern; mit eben dieser Liebe hätte er dann auch seinen Nächsten geliebt. Was ist aber diese gegen die erlösende Liebe des Herrn? wie wenig kann jene wohl an diese reichen? Welch ein starkes Band, das den Erlöser eben durch die Liebe, mit welcher er sich dahingegeben für uns, da wir noch Sünder | waren, mit dem menschlichen Geschlecht verbindet! welch eine Fülle von geistigem Entgegenkommen, von Kraft zu segnen und zu beleben liegt in dieser Liebe, gegen die jede andere, welche wir uns denken können, doch nur etwas Schwaches und Geringes sein könnte! Und diese Liebe nun sollen wir mit dem Erlöser theilen; jeder der durch den Glauben sein geworden ist, wird auch, indem er Eins mit Ihm wird, von dieser Liebe durchdrungen und beherrscht, so daß sie sein ganzes Leben einnimmt. Denn das werden wir doch für den einzig wahren, von uns als Christen anzuerkennenden und zu billigenden Gehalt unseres Lebens ansehen können; nur das was geschieht, um der Erlösung durch Christum zu dienen, um sie festzustellen, ihre seligen Früchte zu verbreiten und die Menschen derselben immer theilhaftiger zu machen. Das ist das einzige Gute | was wir bewirken können; alles Andere würde nur den Schein der Sünde an sich tragen und eben deswegen auch ihr dienen. Wenn der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand geblieben wäre, so hätte er sich selbst seiner Natur nach entwickeln können; und nur gering wäre die Unterstützung gewesen, die er von Andern hätte empfangen können, nothwendig in der Zeit, wo die ersten Keime des Lebens sich entwikkeln und der Mensch am meisten unbehülflich ist, abhängig in der Zeit, wo von allen Seiten die Blüthe seines Daseins sich zu entfalten strebt; und unabhängigen Wesens hätte jeder dastehen können, jeder sich selbst genügend, nachdem die Zeit der Entwicklung vorüber gewesen wäre, und jeder die Fülle seiner Kräfte besessen hätte. Wie wenig Beistand hätte da einer dem andern leisten können. Wohl hätte | auch in jenem Zustand die Liebe das alles gebildet und ihn selbst immer mehr verschönert; aber was wäre das gewesen gegen die Liebe, die da warnt, die da befreit aus dem Joche, die da hervorholt aus dem Abgrunde, die Unseligkeit in Seligkeit verwan-

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delt, gegen die Liebe, die statt des alten Lebens in uns ein neues an die Stelle setzt! O diese Liebe, die aus dem Glauben hervorgeht, die verdanken wir nur Christo, sie gehört zu dem Segen, der durch ihn über die Völker gekommen, und daher ist sie der ganze wahre Inhalt unsers Lebens, ein solcher, wie wir ihn in unserm ursprünglichen Zustande niemals hätten hervorbringen können. – Eben deswegen können wir auch nicht weiter von einander trennen die innere Beschaffenheit der Thätigkeit des Glaubens und der Liebe von dem Umfange derselben. Einen größern Umfang von | thätiger Wirksamkeit giebt es nicht als den, den Christus ausgeübt hat über das ganze menschliche Geschlecht, der allen eben geworden ist die Quelle der Seligkeit, der alle eben aufgefordert hat für alle zu leben. Indem wir uns nun an Ihn anschließen und von seiner Liebe erfüllt sind: so erbaut sich dann jenes große Reich Gottes, so entsteht nun jener innige Verband aller Kinder des Geistes, die sich eben vereinigen, um immer mehr die Schatten der Finsterniß, wo sie sind, zu vertreiben, und allein mit der Kraft Christi und mit der Kraft der Erlösung die Menschen an sich zu ziehen. Keine Gränze der Völker und was sonst die Menschen scheidet vermag diese Liebe einzuschränken oder ihr Gränzen zu setzen. Ihr Gegenstand ist das ganze menschliche Geschlecht; in der Nähe wie in der Ferne wirkt sie durch dieselbe Kraft, immer nur das | Eine Ziel vor Augen habend, daß dem Erlöser nichts entgehe, daß sich ihm alles zu Füßen werfe, und sein Name überall verherrlicht und gepriesen werde, und daß sein Reich keine andern Gränzen finden möge als die des menschlichen Geschlechts selbst. Wo würde je eine solche Verbindung der Menschen, wo würde je eine solche Vereinigung der Kräfte, wo würde je eine solche Erweiterung der Thätigkeit jedes Einzelnen entstanden sein, wenn sie nur dadurch entstehen konnte, daß auf einen festen Mittelpunkt alle unmittelbare geistige Thätigkeit des Menschen gerichtet werde! Je mehr der Mensch sich selbst genügt hätte, desto mehr hätten die Menschen sich selbst vereinzelt. Je mehr alle Erweiterung ihrer Kräfte und alle Verschönerung ihres Daseins nur eine Erhöhung gewesen wäre, keine Rettung und Erlösung: desto schwächer hätte die Kraft der Liebe werden können, dagegen die erlösende Liebe nie auf|hören kann auf eine lebendige und kräftige Weise zu wirken. – Worauf wir also sehen, auf den innern Zustand des Menschen in seinen verborgenen Tiefen, oder auf die Darstellung der geistigen Kräfte in dem gemeinsamen Leben: wohl mögen wir sagen, Christus hat uns nicht nur erlöset von dem Fluch des Gesetzes, sondern ein neuer ein überschwänglicher himmlischer Segen ist durch ihn gekommen über das ganze Geschlecht der Menschen, dessen wir theilhaftig werden, indem wir den verheißenen Geist empfangen durch den Glauben. Und so mögen wir mit dem Apostel in uns’rer heutigen Sonntagsepistel ausrufen „O welch eine Tiefe des Reichthums, beides der Weisheit 40–1 Sonntagsepistel war Röm 11,33–36.

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und der Erkenntniß Gottes“, daß Gott der Herr alles beschlossen hat unter die Sünde und den Unglauben, und es sich offenbart, daß nach seinem | weisen Rathe das ursprüngliche Geschöpf nicht konnte unbefleckt bleiben durch die Sünde, damit wenn das Wort Fleisch würde zu der Zeit, da er es bestimmt hatte, ein neues Geschöpf hervorginge, gesegnet durch die innige Vereinigung der menschlichen Natur mit Gott, Gott befreundet als Kind, von ihm angehaucht mit einem himmlischen Geist, der immer gleich lebendig, immer gleich kräftig und ursprünglich in der Verbindung mit dem Erlöser uns leiten wird in alle Wahrheit und in die Kraft der Liebe, die durch den Glauben thätig ist. So wollen wir denn preisen mit einander unser Geschlecht, daß seine Gnade sich mächtig bewiesen hat an der Sünde, und den Herrn dadurch rühmen und verherrlichen, daß indem wir uns freuen seiner heiligen Liebe wir immer freier werden von demjenigen, was sie nothwendig gemacht, von der Gewalt des menschlichen Verderbens; damit so das neue Geschöpf aus seiner Sendung hervorgegangen und von seinem Geiste geleitet immer mehr ihm zugeführt werde als sein geliebtes Kind und sein Eigenthum, frei so viel [als] möglich von jedem Flecken, der an seinen ursprünglichen Zustand erinnert. Amen.

[Liederblatt vom 25. Mai 1823:] Am Sonntage Trinitatis 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Komm heiliger Geist etc. [1.] Lob, Preis und Ehre bringen wir / Herr unser Gott und Vater dir. / Dein Ruhm soll unter uns erschallen, / Laß unser Lob dir gefallen. / Wir wollen deiner Lieb’ uns freun, / Und ewig ewig dankbar sein. / Lobsingt ihm Christen unsre Brüder! / Fallt vor dem Gott der Liebe nieder, / Und betet an. :,: // [2.] Lob, Preis und Ehre, Christe, dir! / Verlorne Sünder waren wir, / Du bist am Kreuz für uns gestorben, / Hast ewigs Heil uns erworben. / Wer zu dir flieht, nur an dich gläubt, / Und in Versuchung treu dir bleibt, / Der soll, befreit vom Fluch der Sünden, / Erbarmung, Ruh und Leben finden / In Ewigkeit. :,: // [3.] Preis dir und Ehre, Geist des Herrn! / Wir waren einst von Christo fern, / Entfernt von dir und von dem Leben, / Mit Finsternissen umgeben; / Du hast durch deiner Predigt Macht / Auch uns zum wahren Licht gebracht; / Du lehrst uns leben, hilfst uns sterben, / Und weihest uns zu Himmelserben / Durch Christi Tod. :,: // [4.] Lob, Preis und Ehre bringen dir, / Dem Vater, Sohn und Geiste, wir! / Es müsse jedes Land auf Erden / Voll deiner Herrlichkeit werden! / Wie selig, wie begnadigt ist / Ein Volk, deß 1–2 Vgl. Röm 11,32

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Zuversicht du bist! / Ja, Ewger, deinem großen Namen / Sei ewig Ruhm und Ehre, Amen! / Gelobt sei Gott! :,: // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Ein’ feste Burg etc. [1.] Der Herr ist ewiglich mein Theil, / Mein Führer und mein Tröster; / Er ist mein Gott, mein Licht, mein Heil, / Und ich bin sein Erlöster. / Er versäumet nicht, / Was er verspricht, / Er hält die Seligkeit / Schon hier für mich bereit, / Wie er es hat verheißen. // [2.] Fern von der Welt mit dir allein, / Welch Heil ist mir erlesen! / Wie ist von aller seiner Pein / Durch dich mein Herz genesen. / Der die Welt schuf, der / Der sein wird, er / Hilft mir und ist mein Gott; / Allmächtig hilft mein Gott, / Und giebt mir seinen Frieden. // [3.] Wenn meine ganze Seele fleht, / Erhoben aus dem Staube, / Wenn ich im freudigen Gebet, / Mein Vater mächtig glaube; / Zu der Sieger Chor, / Zu dir empor / Steig ich dann, ruh in dir / Bin dort schon, nicht mehr hier, / Bin schon durch Hofnung selig. // [4.] Allgegenwärtig hast du mich, / Auch mich den Staub umgeben; / Erfüllst mich, ich empfinde dich, / Dich werd’ ich schaun und leben! / Hier und dort und da / Ist Gott mir nah; / Gedanke meiner Ruh, / Wie reich an Heil bist du, / Wie reich an Troste Gottes. // [5.] Ich sterbe dir, ich lebe dir, / Doch nicht durch meine Kräfte; / Ich bin des Herrn, sein ist in mir / Dies göttliche Geschäfte. / Ja ich lebe dir, / Ja ich sterbe dir, / Im Geist durch Christum dein, / Will ich auf ewig sein, / Du Vater der Erlösten. // (Klopstock.) Nach der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] Herr, welch ein unaussprechlich Heil, / An dir an deiner Gnade Theil, / Theil an dem Himmel haben! / Im Herzen durch den Glauben rein / Dich lieben, und versichert sein / Von deines Geistes Gaben. // [2.] Erhalte mir, o Herr mein Hort / Den Glauben an dein göttlich Wort / Um deines Namens willen! / Laß ihn mein Licht auf Erden sein, / Ihn täglich mehr mein Herz erneun, / Und mich mit Trost erfüllen. //

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Trinitatis, Trauung Haus (Schloss Steglitz) Keiner Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 376–380 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 808–811; 21844, S. 845–848 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 662–664 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Traupredigt für Karl Friedrich von Beyme und Anna Christine von Schulze geb. Frentzell Tageskalender: „Trauung und Mittagsmahl bei Beyme“

Traurede. Wenn die heilige Schrift bei der ersten Erwähnung des innigen Verhältnisses, in welches Sie, Verehrteste, jetzt mit einander treten, in die 0 Karl Friedrich von Beyme, 1765 in Königsberg in der Neumark in bescheidenen Verhältnissen geboren, wurde nach einem Studium der Rechte an der Universität zu Halle 1788 als Assessor des Kammergerichtes vereidigt und war in der Folgezeit an der Ausarbeitung des Allgemeinen Preußischen Landrechts beteiligt. 1791 wurde er Kammergerichtsrat und Zensor sowie Mitglied der Examinations-Kommission. Ein Jahr später heiratete er die reiche Witwe Charlotte Ernestine Kammergerichtsrätin Schlechtendahl, die ein Vermögen von 400.000 Talern mit in die Ehe brachte, wodurch er unabhängig wurde. 1798 wurde Beyme als Kabinettsrat ein enger Vertrauter Friedrich Wilhelms III. Er war Referent für Innere Angelegenheiten und Justiz, beriet den König aber auch in Fragen der Diplomatie. Außerdem beschäftigte er sich mit der Reform der Staatsrechtspflege und hatte bedeutenden Einfluss bei den Vorarbeiten zur Gründung der Berliner Universität. Als Stein und Hardenberg 1807 ihren Amtsantritt an die Entfernung Beymes aus dem Kabinett knüpften, verließ er 1808 den Hof und zog sich auf sein Gut in Steglitz bei Berlin zurück. Als Hardenberg bald darauf entlassen wurde und alle Geschäfte wieder aus dem Kabinett geleitet wurden, kehrte Beyme ins Zentrum der Macht zurück und wurde zum Staatsminister und Großkanzler ernannt. Nach dem Sturz der Regierung durch Hardenberg 1810 musste der König Beyme entlassen. In der Zeit der Befreiungskriege war er schließlich als Zivilgouverneur in Pommern mit militärischen Angelegenheiten betraut und wurde Anfang 1816 für seine Verdienste geadelt. In demselben Jahr wurde er mit Zustimmung Hardenbergs in die Immediatkommission für die Justiz der Rheinprovinzen, im März 1817 in den Staatsrat und im November 1817 an die Spitze des Ministeriums für Gesetzesrevision berufen. Beymes Karriere endete 1819, als er zusammen mit Wilhelm von Humboldt und Hermann von Boyen gegen die Karlsbader Beschlüsse opponierte, was seine Entlassung zum 31. Dezember zur Folge hatte. Beyme führte in der Folgezeit auf Gut Steglitz ein Leben in Wohlstand. Seine erste Frau starb am 17. April 1821. Am 25. Mai 1823 schloss er eine zweite Ehe mit der wohlhabenden Witwe Anna Christine v. Schulze. Beyme starb 1838, drei Jahre nach seiner zweiten Frau. Vgl. ADB 2, S. 601–605; NDB 2, S. 208; Stamm-Kuhlmann, König in Preußens großer Zeit, S. 140–141.

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Worte ausbricht: Also wird der Mann Vater und Mutter verlassen, und wird dem Weibe anhangen, auf daß sie Beyde Eins seyen: so ist das mehr nach der alterthümlichen Weise jener kindlichen Zeit geredet, als nach der unsrigen. Denn in den meisten Fällen hat bei uns schon lange vorher der Sohn das väterliche Haus verlassen, um sich für einen Beruf in der bürgerlichen Gesellschaft zu bilden und ihn anzutreten. Sondern bei uns ist es die Tochter, welche am Längsten, und gewöhnlicher bis sie denjenigen gefunden, mit dem sie sich für das Leben verbinden kann, im älterlichen Hause weilt, als dessen Zierde und Freude. Bei den meisten unserer Brüder nun aus jenen einfacheren Kreisen der Gesellschaft, welche mehr bestimmt sind, in der Reihefolge der Geschlechter die gleiche Sitte und Lebensweise an derselben Stelle des Erdbodens zu erhalten, siedelt sich das junge Geschlecht an in der Nähe des älteren. Nicht weit entfernen sich Sohn und Tochter, wenn sie den eigenen Herd gründen, und die Eltern bleiben ihre nahen Zeugen, ihre theilnehmenden Berather, ihr liebstes Vorbild. Anders freilich ist das Loos der Jugend aus denjenigen Regionen der Gesellschaft, in denen eine größere Fülle geistiger Gaben und Schätze einheimisch ist. Denn wie diese mit der ganzen Wirksamkeit ihres Lebens auf einen größeren Raum angewiesen sind: so liegt es schon in ihrem Berufe, weiter auseinander zerstreut zu werden, ja nicht selten müssen sie in weiter | Ferne das Bild eines dort ungewohnten Lebens aufstellen, und noch ungekannte Güter zeigen und mittheilen. Doch auch darüber trösten sich liebende Eltern und Angehörige. Wenn der Sohn und Bruder ihnen schon lange entfernt gewesen ist, und die Mühen und Sorgen des geschäftigen Lebens geschmeckt hat, – was kann ihnen erfreulicher seyn, als wenn er die treue Gefährtin seiner Tage findet? Denn in keinem, zumal öffentlichen, Berufe fehlt es an solchen Zufällen und Verwickelungen, welche das Gemüth verstimmen, die Thatkraft lähmen, und den Muth niederschlagen; der eigene Herd aber, von äußeren Verhältnissen weniger berührt, durch Liebe gepflegt und geschmückt, bietet eine sichere Freistätte dar, wo wir in der zärtlichen Sorge und Theilnahme der treuen Hausfrau, in der reinen Freude geliebter Wesen an unserm Daseyn, uns selbst wiederfinden, und auf’s Neue gestärkt Allem entgegen gehen, was uns auf dem Wege der Pflicht betreffen kann. Und Eltern, welche die geliebte Tochter mit ihrem Erwählten in die Ferne ziehen lassen, thun es freilich nicht mit thränenloser Freude, aber doch mit Freude. Denn sie wird ja nun mit allen den schönen Gaben und Tugenden, welche sich hülfreich und aufheiternd erwiesen im älterlichen Hause, der Mittelpunkt eines eigenen, sich immer mehr verbreitenden 1–2 Vgl. Gen 2,24

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Wirkungskreises. Was sie in diesem leiten und bilden wird, dessen freuen sich Vater und Mutter im Voraus wie eigenen Werkes, weil sie selbst von ihnen ist gebildet und zu diesem Ziele geleitet worden. Was sie wirken und bilden wird, wie ihren Kreis sich gestalten, daran wird das Gepräge des Vaterhauses nicht zu verkennen seyn, und dessen Art und Geist wird ein wesentlicher Bestandtheil der Eigenthümlichkeit, die in keinem gebildeten Hausstande darf vermißt werden. Doch diese Zuversicht der beiderseitigen Eltern, Geschwister und Freunde ist nur ein schwacher Widerschein von dem unerschütterlichen Vertrauen und der inneren Gewißheit, mit welcher die Beiden selbst, welche sich einander ganz hingeben, ihren neuen gemeinsamen Lebensweg antreten, ist anders der Bund, | den sie schließen, auf die rechte Weise zu Stande gekommen. Wenngleich viel Einzelnes sich erst recht zeigen kann im Verlaufe des gemeinsamen Lebens, dem innersten Grunde nach müssen sie einander doch erkannt haben und anerkannt, von der Gleichheit des Geistes, der sie beseelt, von der Zusammenstimmung ihres Tichtens und Trachtens, von der vollendenden Ergänzung, die Jeder dem Anderen gewährt, davon müssen sie doch überzeugt seyn, und wissen, daß keine Verwickelung menschlicher Dinge, kein neues Lebensverhältniß zu dem Einen etwas von der Art entdecken könnte in dem Anderen, wodurch sie an einander irre würden, und fürchten müßten, eben in demjenigen, weßhalb sie einander ihre Liebe schenkten, Einer den Andern mißverstanden und unrichtig aufgefaßt zu haben. Wenn sie gleich manche Verschiedenheiten entdecken werden, von denen sie bei der Schließung ihres Bundes nichts wußten, – in die Uebereinstimmung darf doch kein Mißlaut kommen, kraft deren allein sie einander ganz angehören können, und ohne welche ein so eng und innig verbundenes Leben sich bald in ein ganz äußerliches Verhältniß verwandeln müßte. Woher aber kommt es dennoch, daß wir so häufig – um nicht an den traurigen Fall gänzlicher Auflösung zu denken – Verringerungen in der Innigkeit dieses Bundes bemerken, so daß nach einer Reihe von Jahren nicht wenige Ehegenossen so gleichgültig neben einander hergehen, daß ihnen so gut auch zu Muthe seyn könnte, wenn sie ganz anders verbunden wären? Und das finden wir nicht etwa nur unter denen, welche überhaupt noch nicht lebhafter Empfindungen geistiger Art fähig sind, nicht etwa nur in solchen Fällen, wo das Ehebündniß schon leichtsinnig beschlossen, oder nur auf äußere Verhältnisse berechnet war, und also ein besserer Ausgang sich nicht erwarten ließ, sondern auch nicht selten da, wo die Vorbedeutungen glücklich waren, und wir an beiden Theilen viel Schönes und Würdiges ehrend anerkennen. Was sollen wir sagen? Muß uns nicht diese Bemerkung darauf führen, daß Alles in der menschlichen | Seele der Ausartung

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und der Vergänglichkeit unterworfen ist, wenn es nicht seine Haltung findet in der Verbindung mit demjenigen, was allein, wenn es einmal Wurzel gefaßt hat in unserem Gemüthe, unverderblich ist, und auch Anderes zu unverminderter Lebendigkeit erheben kann. Das ist aber nichts Anderes, als das Gefühl der Seele von ihrem Verhältnisse zu Gott; hat uns dieses einmal durchdrungen, so ist etwas gerettet in uns gegen die Gewalt der Zeit und des irdischen Wechsels, wie aber Gott die Liebe ist, und sich also auch in Allem, was Liebe ist, am Deutlichsten den Menschen offenbart: so kann auch vorzüglich jede menschliche Liebe, die diesen Namen verdient, sich am Innigsten an unser Gefühl für das höchste Wesen anschließen und durch dasselbe heiligen. Vorzüglich aber muß dieses gelten von der ehelichen Liebe, der so Vieles und Großes anvertrauet ist. So wird es demnach eine fromme Ehe seyn, welche uns Bürgschaft leistet für die Beständigkeit, welche wir von diesem Bunde fordern. Fromme Eheleute werden sich das Bewußtseyn immer erhalten, daß sie gemeinschaftlich Haushalter sind über Gottes Geheimnisse. Denn was ist wohl verborgener und doch in seinen Folgen bedeutender, als der stille Einfluß, den ein äußerlich wohlgeordnetes, geistig reiches, sittlich tadelloses, christlich gehaltenes und belebtes Hauswesen auf seine Umgebungen ausübt? Was ist geheimnißvoller, als die Entwickelung der menschlichen Seele durch die Anregungen väterlicher und mütterlicher Liebe; und zwar nicht nur die natürliche Entwickelung, sondern noch mehr jene tiefere, welche die Schrift die Geburt aus dem Geiste nennt, und durch welche die Seele Gott zugeführt, und durch die Segnungen der Offenbarung und der Erlösung erhoben und beseligt wird. Wie müssen sich in dem Bunde der Ehe die Gemüther immer mehr gegen einander aufschließen, wenn das heilige Verhältniß aus diesem Gesichtspunkte betrachtet wird? Wie muß sich die Liebe als die zärtlichste Fürsorge darstellen, daß Jeder seinen | Weg unsträflich wandele? Wie muß sie erhöht und geheiligt werden durch die gemeinsame Dankbarkeit gegen Gott, und durch ernste Prüfung des Herzens und Lebens vor Ihm. Solcher Glaube und solche Gesinnungen, die Ihnen, ohnerachtet der kirchlichen Verschiedenheit, welche zwischen Ihnen statt findet und Ihnen auch an diesem feierlichen Tage nahe getreten ist1, dennoch

1 Der Bräutigam gehörte zur römischen Kirche, und das Brautpaar war schon einige Stunden früher nach jenem Ritus copulirt.

24–25 Vgl. Joh 3,5

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gemeinsam sind, werden auch Ihnen die festeste Stütze gewähren, und das reinste Glück in dem Bündnisse, welches Ihre Herzen geschlossen haben, und welches wir jetzt kirchlich segnen und bestätigen wollen. (Folgte die Trauhandlung nach Anleitung des Formulars.) 5

Schl.

4 Das Formular ist der von Schleiermacher verfassten Agende für die Unierte Dreifaltigkeitskirche zu entnehmen (GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876; Bl. 108v–112v; abgedruckt in: KGA III/3).

Am 1. Juni 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,19–24 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 43–54; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 145r–146r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 14v–20r; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am 1. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Tex t. Joh. 1, 19–24. Und dies ist das Zeugniß Johannis, da die Juden sandten von Jerusalem Priester und Leviten, daß sie ihn fragten, Wer bist du? Und er bekannte und leugnete nicht; und er bekannte, Ich bin nicht Christus. Und sie fragten ihn, Was denn? Bist du Elias? Er sprach, Ich bin es nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete, Nein. Da sprachen sie zu ihm, Was bist du denn? daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben. Was sagst du von dir selbst? Er sprach, Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste, Richtet den Weg des Herrn, wie der Prophet Esaias gesagt hat. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern.

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In diesen Worten nun, m. g. Fr., kommt endlich der Evangelist Johannes zu dem, wovon er schon früher im sechsten Verse unseres Kapitels, als er angefangen hatte, Es ward ein Mensch von Gott gesandt, der hieß Johannes, hatte reden wollen, bisher aber wieder abgegangen war, um dem | Drange des Herzens folgend von Christo selbst zu reden. Nun fängt er an von dem Zeugnisse Johannes des Täufers in Beziehung auf Jesum Christum zu erzählen. Was wir aber jezt gelesen haben ist nur der erste Theil desselben, betreffend seine eigene Person. Wenn Johannes erzählt, die Juden, d. h. der Hohepriester und der hohe Rath von Jerusalem hätten an Johannes gesandt Priester und Leviten, um ihn zu fragen, wer er sei: so kann es uns auf den ersten Anblikk wunderbar vorkommen, daß er in seiner Antwort damit angefangen habe zu versi2 1, 19–24] 1, 19–25

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chern, er sei nicht Christus, da doch in der Frage dies nicht ausgedrükkt gewesen, ob er es sei. Hierzu liegt der Schlüssel darin, daß, wenn sie auch nicht ausdrükklich sich dieser Worte bedient, sie doch gewiß ihre Frage so gestellt hatten, daß er daraus schließen mußte, sie wollten von ihm eine bestimmte Antwort haben, ob er sich selbst für den Gesandten Gottes ausgebe oder nicht. Und wenn Johannes der Evangelist in diese Antwort einen vorzüglichen Nachdrukk legt, indem er zweimal sagt, Und er bekannte, und leugnete nicht; und er bekannte, Ich bin nicht Christus: so wollte er uns allerdings aufmerksam machen, wie weit Johannes der Täufer davon entfernt gewesen sei sich für den Sohn Gottes zu halten. Wenn er sich nun so bestimmt darüber erklärt, so hängt dieses aber zugleich auch damit zusammen, daß es zur Lebenszeit Jesu, der Apostel und Evangelisten mehr oder weniger Menschen gegeben habe, welche der Lehre und der Person Johannes des Täufers in dem Grade anhingen, daß sie glaubten, er sei der von Gott verheißene Messias, und es werde kein anderer mehr nach ihm von Gott gesandt werden. Wir sehen es ja, m. g. Fr., wie leicht die meisten Menschen dazu geneigt sind, etwas an sich gutes und schönes, wenn sie von demselben ergriffen sind, zu überschäzen, so daß die eigentliche Wirkung davon für sie verloren geht, und es ganz seinen Zwekk verfehlt. Aus allen Berich|ten über den Täufer Johannes geht hervor, daß seine Predigt ganz vorzüglich immer darauf gerichtet war, seinen Zeitgenossen einzuschärfen, der, den Gott gesandt habe, werde bald erscheinen und öffentlich auftreten; daß, wenn er dieses auch nicht allgemein lehrte, er doch seinen vertrauten Jüngern, wie wir bald sehen werden, Jesum von Nazareth auf die bestimmteste Weise als den von Gott gesandten dargestellt und auf ihn hingewiesen habe. Wie leicht war es möglich, daß solche, die ihn oder doch seine Jünger näher gekannt hatten, vielleicht zum Theil von ihm getauft waren, zu dem Glauben kommen konnten, er selbst sei der von Gott verheißene Erlöser, oder daß sie doch dasjenige, was von diesem verkündigt war, der Kraft und der Lehre Johannes des Täufers zuschrieben, von deren Gewalt die heiligen Bücher selbst Zeugniß geben. Das ergriff mächtig das Gemüth seiner Zeitgenossen, daß er lehrte, Thut Buße, das Reich Gottes ist nahe herbei gekommen, indem er zugleich die Drohung aussprach, daß dem Baume schon die Axt an die Wurzel gelegt, und nur noch kurze Frist dem Menschen auf Erden gegeben sei. Die Strenge, mit welcher er gegen sich selbst verfuhr, mit welcher er Reinigung des Gemüths forderte, ergriff die Menschen. So, dachten sie, wenn nur alle den Worten Johannes des Täufers folgten, wenn sie nur alle durch Umkehrung und Reinigung des Gemüths dem Reiche Gottes sich anschlössen, wenn sie nur alles entfernten und ausschlössen, was er als verderblich bezeichnete, und dem genau nachlebten, was er begehre, werde das Reich Gottes ganz 24–26 Vgl. unten 13. Juli 1823 früh über Joh 1,35–42 35 Vgl. Mt 3,10; Lk 3,9

32–33 Vgl. Mt 3,2

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von selbst entstehen, und man dürfe dann nicht mehr eines andern warten, sondern es sei in den Worten und in der Taufe Johannes dann schon alles gegeben, was der Mensch bedürfe. Das wäre nun alles wahr und richtig gewesen, wenn der Mensch für sich selbst vermocht hätte den Willen Gottes zu er|füllen und jene Lehren des Täufers für das Leben wahr zu machen. Wenn die Umkehrung von allem verkehrten, die Reinigung des menschlichen Tichtens und Trachtens nach dem Reiche Gottes eine Wirkung des Menschen selbst hätte sein können: so möchten wir wol sagen, es sei nichts anderes nöthig als die Lehren Johannes des Täufers, um die Menschen zur Seligkeit des Reiches Gottes und in das Wesen desselben hineinzuführen. Aber so geht es, m. g. F.; die Neigung alles zu überschäzen und auf das Thun und Lassen anderer einen zu hohen Werth legen, hängt auf eine unmittelbare Weise mit der Ueberschäzung seiner selbst und mit dem uns eigenen Stolze zusammen. Nur diejenigen, welche sich zutrauten, daß sie allein im Stande wären der Lehre Johannes Wahrheit zu geben in ihrem Leben, konnten glauben an ihm genug zu haben. Er aber, Johannes der Täufer, hat eine viel bescheidenere und demüthigere Meinung von sich selbst, und er wußte es wohl, daß durch eine solche Predigt allein, wie er sie gab, wie kräftig und gewaltig sie auch immer sei, das Reich Gottes doch nicht kommen könne; sondern dies sei nur zu erwarten von demjenigen, den Gott dazu bestimmt, und in welchen er ein höheres Leben, die unendliche Fülle der Gottheit gelegt, um die Menschen an sich zu ziehen und ihnen die Kraft seines Geistes mitzutheilen. Als nun Johannes so bestimmt bekannt hatte, er sei nicht Christus, so fragten sie ihn, Was bist du denn? Bist du Elias? Er sprach, Ich bin es nicht. Bist du ein Prophet? Und er antwortete, Nein. So natürlich uns nun jene erste Antwort des Johannes erscheinen muß, daß er gleich bekannte, er sei nicht Christus: so sehr muß es uns auf den ersten Anblikk wunderbar erscheinen, daß er auch diese beiden Fragen gänzlich verneint. Nämlich es ist nichts seltenes, sondern der menschlichen Schwachheit und der Eitelkeit des menschlichen Herzens natürlich, daß wir geneigt sind eine günstigere Meinung von uns selbst durch die günstige Mei|nung anderer über uns zu fassen. Wenn andere, die uns kennen und uns wohlwollen, irgend eine Gabe Gottes bei uns vermuthen, oder irgend eine durch Fleiß und Treue ausgebildete Eigenschaft der menschlichen Seele in uns entdekken, von welcher uns nichts offenbar ist, oder irgend eine Fähigkeit bei uns erwarten, von welcher wir nichts wissen: so geschieht es nur gar zu leicht, daß wir voraussezen, jene würden gar nicht auf die Vorstellung davon gekommen sein, wenn wir nicht selbst zu derselben Gelegenheit gegeben und diese Meinung hervorgelokkt hätten. Wenn nun auch damals noch so viele gewähnt hätten, der Täufer Johannes sei Christus selbst, so konnte sich freilich diese Meinung ihm selbst nicht aufdrängen, weil das zu weit über dasjenige hinausging, was der

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Mensch in seinem innern verbergen kann. Wer Christus war, der mußte es wol selbst wissen, mußte durch sein eigenes inneres Bewußtsein so unterschieden sein von allen andern Menschen, daß kein Zweifel bei ihm selbst an seiner Sendung sein konnte. Daher denn der Erlöser auch in der unerschütterlichen Festigkeit und Sicherheit dieses Bewußtseins diese Ueberzeugung fand, keines andern Zeugnisses bedurfte, sondern hieran genug hatte zum Zeugniß für sich selbst. Aber nicht so ist es mit dem andern. Wenn nun nämlich, als die Abgesandten des hohen Raths und des Hohenpriesters fragten, Bist du Elias? er es verneinte und auch die Meinung, daß er ein Prophet sei, von sich ablehnte: so scheint dies um so mehr im Widerspruch zu stehen mit dem Zeugniß, welches der Erlöser dem Johannes gegeben hat. Hat nicht der Erlöser selbst hernach seinen Jüngern, als er von Johannes dem Täufer redete, gesagt, Wenn sie es verstehen wollten, er sei Elias, der da kommen soll; hat der Erlöser selbst nicht dem Johannes das Zeugniß gegeben: die Propheten reichten bis auf Johannes, und kein vom Weibe geborner sei größer als er? wie konnte er | nun selbst von sich sagen, er sei nicht Elias, er sei kein Prophet? Können wir uns von einem Manne Gottes, wie Johannes der Täufer war, vorstellen, daß er unbewußt seiner selbst und in Unbekanntschaft mit der ihm beiwohnenden Kraft die Antwort gegeben? oder war es eine falsche Bescheidenheit sich als den Gesandten und das Rüstzeug Gottes zu verleugnen, wie er in diesen Worten zu thun scheint? Dieses m. g. Fr. sollten wir eigentlich nicht. Denn was das leztere betrifft, so können wir es niemals für etwas gutes halten, wenn der Mensch die Gaben, die ihm Gott verliehen, vor der Welt verleugnet; denn das ist ja nichts anders als eine Verleugnung Gottes selbst. Ja wenn wir irgend etwas geistiges für unser Eigenthum ansehen könnten und nicht als eine Gabe Gottes: so könnte man sich es als natürlich vorstellen, daß wir es suchen zu verbergen und zu verleugnen. Denn die unnatürliche Ungleichheit, wenn sie zu groß ist, verlezt den Stolz der Menschen; aber das wissen sie doch, daß Gott austheilt nach seinem Wohlgefallen, und daß keiner über die verschiedenen göttlichen Gaben mit ihm zu rechten sich anmaßen dürfe, daß er, der Herr über alles, nach seinem Wohlgefallen dem einen etwas giebt und verleiht, was er dem andern versagt. Je mehr aber der Geist Gottes in uns wirkt, desto mehr müssen wir ihn bekennen und werden von keiner Gabe größere Rechenschaft geben müssen als von dieser; nicht als sei das unser eigenes Werk, sondern etwas ursprüngliches, aber nach den geistigen Gesezen in uns vorhandenes und durch die Wirkung des Geistes in uns hervorgebrachtes. Wie sollten wir dazu kommen es zu verleugnen? Wenn Johannes Elias war, so war dieses nicht sein eigenes Werk; sondern es war die Gemeinschaft und Aehnlichkeit seiner äußern Erscheinung und seines 4–7 Vgl. Joh 8,14

14–15 Vgl. Mt 11,14

15–17 Vgl. Mt 11,11.13; Lk 7,28; 16,16

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Auftretens in der Welt. War es ein Prophet, so war es ein Werk des Geistes Gottes; ein Wort des Herrn war an ihn ergangen, und der Geist des Herrn über ihn gekommen. Wie durfte er dieses verleugnen ohne | die Menschen selbst von dem Glauben an das abzuwenden, was er ihnen sagen konnte, ohne seinem eigenen Beruf in den Weg zu treten und ihn zu zerstören. Wer den Geist Gottes, der in ihm wohnt, verleugnen will, der thut ja nichts anderes als was der Erlöser selbst seinen Jüngern verbietet, ihre Gaben nicht zu verbergen vor den Augen der Menschen, sondern sie leuchten zu lassen, damit die Leute ihre guten Werke sehen und den Vater im Himmel preisen. War Johannes Elias, so war das ein mächtiges Zeichen des Herrn an das Volk davon, daß Christus bald kommen werde; war er ein Prophet, so war es eine mächtige Aufforderung an das Volk, seinen Worten Gehör zu geben und sie zu ehren. Leugnete er also das eine oder das andere, so trat er sich selbst in den Weg und wucherte nicht für den Willen und den großen Endzwekk Gottes mit den Gaben, die er in ihm anvertraut hatte, und machte sich einer schweren Verantwortung schuldig. Aber auch das andere ist schwer zu denken, daß Johannes in einer solchen Unkunde von sich selbst sollte gewesen sein, nicht zu wissen, daß er in dem Sinne, in welchem der Erlöser das Wort gebraucht, Elias sei, nicht zu wissen, daß er ein Prophet sei, da doch der Erlöser selbst gesagt hatte, er sei der größte unter allen Propheten. Wenn wir das erstere auf eine buchstäbliche Weise nehmen sollten und die Frage so verstehen, als wäre es die Seele jenes alten Propheten selbst gewesen, die zum zweiten Mal auf Erden erschienen wäre: so war es möglich, daß Johannes Nein geantwortet hätte, weil er kein Bewußtsein von einem frühern irdischen Leben gehabt. Und eben dies, daß die Frage auf eine so mannigfaltige Weise konnte verstanden werden, giebt uns den besten Schlüssel zu jener wie zu dieser Antwort des Johannes. Sollte sie buchstäblich genommen werden, nun ja, so konnte Jo|hannes sagen, er wisse nichts davon, daß er Elias sei, er kenne sich nur als sich selbst. Sollte sie so gemeint sein, daß seine ganze Art und Weise ähnlich sei der Kraft, mit welcher Elias das Wort des Herrn verkündigt hatte, so konnte er es auch mit eben so großem Rechte verneinen; und doch war es in gewisser Beziehung wahr, daß er der Elias sei. Es ist dieses selbst eine in sich unbestimmte Frage, und wohl konnte ein und dasselbe dem einen ähnlich und dem andern unähnlich erscheinen; wohl mochte Johannes für sich selbst noch gar nicht nachgedacht haben über diesen damals so weit verbreiteten Glauben an die Erscheinung des Elias oder eines dem Elias ähnlichen. Denn das wenige, was wir von dem Geiste des Elias in der Schrift dargestellt finden, ist wesentlich nicht verschieden von dem des Johannes; allein wunderbare Hülfe war ihm selbst und durch ihn andern zu Theil geworden, und solcher 7–10 Vgl. Mt 5,14–16

21 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28

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war Johannes sich nicht bewußt. Die Schrift sagt ausdrükklich, er habe keine Wunder gethan, und es sei ihm nichts außerordentliches begegnet. Was aber das innere betrifft, so wissen wir, wie oft es begegnet, daß dem einen eine Aehnlichkeit hervorleuchtet, wo dem andern eine Verschiedenheit erscheint. Da nun Johannes auf diese Weise in einer Beziehung ähnlich, in der andern verschieden von ihm war, so wollte er die Frage lieber verneinen als bejahen. Denn gesezt auch, jener Glaube sei in der Schrift vollkommen begründet gewesen, daß ehe der Messias erscheine müsse Elias vorhergehen: so konnte, ohnerachtet der festen Ueberzeugung des Johannes, daß der Messias erschienen sei, und daß er sich bald werde dem Volke zeigen und als einen solchen bekannt machen, so konnte er doch nicht wissen, ob nicht außer ihm ein anderer aus dem Volke vor dem Herrn hergehen werde, der des Namens des Elias würdiger sei als er und demselben mehr entspreche. Die zweite Frage, ob er ein Prophet sei, war gleichfalls unbestimmt, und Johannes Antwort war ganz richtig für die, welche ihn fragten, wenn er darauf antwortete, Nein. Denn | auf der einen Seite verstand man unter einem Propheten einen solchen, welchem Gott gegeben habe in die Zukunft zu schauen, und zu gleicher Zeit einen solchen, welcher das Volk auf einen richtigen Weg in der Erfüllung der göttlichen Geseze hinwies mit Begeisterung und dichterischer Kraft der Rede. Des leztern nun war sich Johannes nicht bewußt; denn das, was wir von seinen Reden an das Volk in der Schrift finden, trägt auch wenig das Gepräge der Begeisterung der alten Propheten; es ist nicht die dichterische Erhebung, sondern es ist die Strenge der Lehre, die das Gemüth der Menschen ergreift und das Gefühl von selbst rege macht. Eben so war es nicht das zukünftige, was ihm der Herr zu schauen gegeben hatte, sondern es war das gegenwärtige. Auf der andern Seite aber war es das Wesen aller Weissagung hinzuweisen auf den, der da kommen sollte, und alle Vorhersagung des zukünftigen der alten Propheten sollte darauf seine Beziehung haben, alles andere hingegen, was die äußern Schikksale des Volkes Gottes betraf, nur als zufällig betrachtet werden, und in diesem Sinne des Erlösers gab es keinen größern Propheten als Johannes, weil der in seinen Tagen den Messias am nächsten geschaut hatte, weil er unmittelbar auf ihn als den gegenwärtigen hinweisen konnte. Und so hatte also der Erlöser recht zu bejahen, Johannes aber zu verneinen. Nur wenn er nicht von jener Vorstellung ausging konnte er sagen, was ihr erwartet von euren Propheten, werdet ihr in mir nicht finden, in eurem Sinn bin ich kein Prophet. Aus dem verschiedenen Sinn der fragenden erklärt es sich auch, daß als später der Erlöser seine Jünger fragte, Wer denn die Leute sagten, daß er sei? diese zur Antwort gaben, Etliche sagen, du seist Johan1–2 Vgl. Joh 10,41

39–2 Vgl. Mt 16,13–14; Mk 8,27–28; Lk 9,18–19

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nes der Täufer, die andern, du seist Elias, etliche, du seist Jeremias oder der Propheten einer. Aus diesen Worten sieht man deutlich, daß sie den Erlöser nicht für Christum, für den Sohn Got|tes hielten, sondern nur für einen, der ihm vorangehen sollte. Es war aber auch die Meinung, daß einer der alten Propheten wiederkehren würde und von ihm verkündigen, so tief gegründet in dem Gefühl von dem Verfall des Volkes Gottes, daß sie glaubten, neue Propheten könnten nicht aufstehen, der Kreis sei geschlossen, und die Gabe Gottes werde keinem verliehen, es müsse der Odem des Schöpfers einen der alten Propheten aufs neue beleben. Daher war der Sinn der fragenden offenbar der, Bist du einer von jenen alten Dienern Gottes? Und hierauf mußte Johannes nach seinem unmittelbaren Bewußtsein antworten, Nein. Wenn sie ihn nun endlich fragten, Wer bist du denn? daß wir Antwort geben denen, die uns gesandt haben; Was sagst du von dir selbst? und er ihnen erwiderte, Ich bin eine Stimme eines Predigers in der Wüste, Richtet den Weg des Herrn, wie der Prophet Jesaias gesagt hat: was war das anders als was das eigenthümliche innere Wesen eines Propheten ausmacht, die Stimme eines Predigers, an welchen das Wort des Herrn ergangen war. Richtet den Weg des Herrn, d. h. bereitet euch ihn zu empfangen, richtet alles ein für seine Ankunft. Das war ja der Kern aller Weissagungen, mit prophetischem Geiste zu verkündigen, daß der Herr kommen werde. Was Johannes also in jenem Sinne verleugnet, bejahet er in diesem. Indem er die Stelle aus dem Jesaias Cap. 40. V. 3. anführt, wußte er, daß er es mit solchen zu thun hatte, welche die Schrift verstanden, und führte daher nur den Anfang jener Stelle an, in der Voraussezung, daß sie des folgenden Zusammenhangs dieser Stelle gedenken würden, Alle Thäler sollen erhöhet werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedriget werden. Was heißt das anders als, Wenn der Gesandte des Herrn kommen wird, dann sollte vor seiner Ankunft aller äußerliche Unterschied verschwinden, alles sollte geebnet, alles gleich sein vor ihm. | Und wohl, m. g. Fr., fühlen wir, wie wahr dies ist. So lange der Mensch sich selbst noch irgend einen Vorzug beilegt vor seinen Brüdern und etwas für sich zu haben meint, wodurch er höher steht als die andern, so ist er noch nicht geschikkt zum Reiche Gottes, und der da kommen sollte und jezt gekommen ist, ist nicht für ihn gekommen. Sobald auf der andern Seite der Mensch sich unter seine Brüder erniedrigt glaubt durch irgend einen Unterschied zwischen sich und ihnen und sich tief unter dieselben hält und nicht diese Tiefe und Niedrigkeit allein findet in dem Verderben des innern Zustandes, das allen gemein ist: so ist er auch nicht geschikkt zum Reiche 16 Jesaias] Jesais 26–27 Jes 40,4

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Gottes, nicht fähig durch den Erlöser erhoben zu werden, und der, der da kommen sollte und jezt gekommen ist, ist nicht für ihn gekommen. Alle Unterschiede der Menschen sollen sich nur beziehen auf die äußerlichen Verhältnisse, vor dem Erlöser aber sollen alle gleich sein. Die aber hier an Johannes, ihn zu fragen, wer er sei, gesandt waren, die Priester und Leviten, waren von den Pharisäern, die grade am meisten auf gewisse Unterschiede der Menschen hielten, als seien nur die für den Kern des Volkes Gottes zu halten, die des Gesezes und seiner Geschichte und aller menschlichen Meinungen über dasselbe kundig wären, die übrigen aber als Söhne der Erde tief unter sich gestellt glaubten und sich selbst eine höhere Würde beilegten. Denen brachte er jene heilsame Wahrheit in Erinnerung und konnte die Frage, wer er sei, nicht beantworten ohne seinen Beruf auszuüben und ihnen das Wesen desselben zu erkennen zu geben in den Worten, Richtet den Weg des Herrn. Und dies ist noch jezt das Wort, welches von den Zeiten Johannes des Täufers erschollen ist, das ist der Grund aller christlichen Lehre. Alle Höhen und Tiefen sollen ausgefüllt, alles soll eben und gleich werden; einer Verderbniß sind alle theilhaftig geworden, eine Hülfe soll für alle sein; wir alle sind gleich bedürftig vor ihm, er gleich bereit allen zu helfen, ohne | Unterschied zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, ohne Rükksicht auf Verschiedenheiten uns alle gleich zu finden, so daß jeder nur etwas sei durch die Gemeinschaft und die Gabe des Geistes. Dazu sind wir berufen. Und insofern wir so gesinnt sind, ist er derjenige, der da gekommen ist uns mit Gott zu verbinden, ist er derjenige, in dessen Namen wir alle unser Heil finden. Und so betrachten wir Johannes den Täufer als den lezten Propheten, der den Grund gelegt hat zu dem Reiche Gottes, welches der Erlöser allein stiften konnte; Johannes konnte predigen, aber die Kraft seines Wortes konnte uns nur Christus bringen. So ist es auch noch jezt; er muß uns erscheinen in seiner ganzen Herrlichkeit, ehe wir die Kraft seines Geistes empfangen können; er muß erst kommen, die Fülle der Gottheit in sich tragend, um alle Menschen mit sich selbst innig zu verbrüdern und die Gleichheit unter ihnen herzustellen, auf welcher allein das Reich Gottes sich erbauen kann. Das ist das erste Wort des Herrn gewesen, welches er selbst verkündiget hat, Das Reich Gottes ist herbei gekommen, und es ist dasjenige, dessen Annahme die erste Bedingung ist, wenn uns sein Reich zu Theil werden soll. Wie sollten wir nicht alles gering achten, sobald wir die Herrlichkeit des Vaters erkennen, der seinen Sohn gesendet hat! Wie sollten wir nicht jeder in der Tiefe seines Gemüths fühlen, daß wir alle einen gleichen Anspruch haben auf seine Gnade, sobald wir nur die unendliche Fülle dieser Gnade erkannt haben, aus der wir alle schöpfen können, und die allen auf gleiche Weise offen steht! 20 Vgl. Lk 19,10

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So laßt uns denn diesen Anspruch festhalten und uns immer inniger mit unsern Brüdern verbinden; laßt uns alle Unebenheiten, die sich noch unter uns finden möchten, je länger je mehr ausgleichen, damit so immer herrlicher erbaut werde das Reich Gottes, in welches wir durch seine Gnade schon eingegangen sind. Amen.

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Am 8. Juni 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 6,33 Nachschrift; SAr 104, Bl. 22r–37v; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 146v–147r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1823 | Tex t. Matthäi VI, 33. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit: so wird euch solches alles zufallen. 5

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M. a. F. Wenn das, wie wir es neulich mit einander gesehen haben, die freudigste Überzeugung des Christen ist, daß durch die Erlösung, die unser Herr gestiftet, nicht nur alles wiedergebracht sei, was der Mensch jemals durch die Sünde und durch seine Entfernung von Gott verloren hat, sondern auch noch ein herrlicherer und vortrefflicherer Zustand der menschlichen Natur durch ihn sei herbeigeführt worden, als wir uns jemals dessen würden zu freuen gehabt haben, wenn der Sohn Gottes nicht wäre Fleisch geworden; wenn dies sage ich uns’re lebendigste und freudigste Überzeugung ist: so muß auch diese Herrlichkeit sich in dem ganzen Leben des Christen | ausdrücken, es muß ein schöneres freieres in jeder Hinsicht vollkommneres sein, als wir es uns ohne die Verbindung des Erlösers mit dem menschlichen Geschlecht jemals denken könnten. Aber wir wissen es freilich, das ist die Herrlichkeit, nach der wir alle nur trachten, der wir nur in dem Maaße auch wirklich theilhaftig werden, als jeder für sich immer genauer mit dem Herrn sich vereinigt, als wir nicht mehr für uns, sondern er allein in uns lebt und wir in ihm. Daher wenn wir uns beschauen in der wirklichen Welt, so finden wir diese Herrlichkeit nicht; wenn wir in die Tiefe unseres eigenen Herzens hinabsteigen, so fehlt viel daran, daß wir sie auch dort jemals sollten vollkommen und ungetrübt erblicken. Wo also kann sie sich zeigen als in derjenigen Darstellung unseres Lebens, die der Erlöser selbst in seinen heiligen, tröstlichen und erfreulichen Worten, in seinen mil5 Vgl. oben 25. Mai 1823 vorm.

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den, reinen und göttlichen Anweisungen zu dem, was wir in diesem Leben mit ihm und durch ihn sein können, ausspricht. | Darum ist es meine Absicht, in dem noch übrigen Theile unsers kirchlichen Jahres solche Aussprüche des Herrn, worin sich die Herrlichkeit, die an den Kindern Gottes soll offenbart werden, recht deutlich zeigt, uns zu uns’rer Erweckung und zu uns’rer Freude vorzuhalten; und hierunter sei nun das verlesene Wort des Herrn das erste „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach Gottes Gerechtigkeit; so wird euch jenes alles schon zufallen“. Was jenes alles ist, das ergiebt der uns allen wohl bekannte Zusammenhang jener Worte des Herrn. Unmittelbar darauf meint er eben deshalb sollten wir nicht sorgen für den andern Morgen, es sei genug, daß jeder Tag seine eigene Plage habe. Und so sind es eben alle die Gegenstände menschlicher Sorge in diesem irdischen Leben, was der Erlöser im Sinne hat, wenn er sagt „Jenes alles wird euch zufallen, sofern ihr nur zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachtet“. Wenn nun | der Mensch m. g. F., wie wir ihn größtentheils in diesem irdischen Leben sehen, überall die Zeichen an sich trägt, daß er der Sorge angehört, daß diese einen großen Theil seines Lebens beherrscht, und auch die freiern und schönern Augenblicke desselben auf mancherlei Weise einengt: wie sollten wir es nicht zu den wesentlichsten Vorzügen des Christen rechnen, daß der Herr ihn von der Sorge befreit, ihn ganz und gar derselben überhebend, jeden Wahn, als ob die Sorge könnte mit zu seiner Pflicht gehören, von ihm nehmend. Das also laßt uns seiner des Erlösers ganzen Meinung nach näher mit einander erwägen, und die Sorglosigkeit des Christen, wie sie nach diesen Worten des Herrn begründet ist in seinem Trachten nach dem Reiche Gottes uns näher vor Augen halten. Es kommt aber dabei auf zweierlei an: zuerst daß wir das recht fassen, wie diese Befreiung von der Sorge zusammenhängt mit unserm Trachten nach dem Reiche Gottes | und in diesem begründet ist; dann aber auch zweitens, daß wir nun diese Freiheit von der Sorge selbst in ihrer wahren Beschaffenheit kennen lernen. Das sei also, worauf wir mit einander unsere christliche Aufmerksamkeit richten wollen. I. Wenn wir nun nach den Worten des Erlösers fragen wollen, wie die Freiheit von der Sorge, die er uns empfiehlt, verheißt, gebietet, mit unserm Trachten nach dem Reiche Gottes zusammenhängt; so muß ich da freilich erst ein Mißverständnis beseitigen, welches sich gar leicht einschleichen könnte. Wenn der Erlöser sagt „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch jenes alles zufallen“: so kann es wohl scheinen, als enthielten diese 27 Befreiung] Befreinung 10–12 Vgl. Mt 6,34

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Worte vorzüglich und ausschließlich ein Versprechen, welches er uns giebt, und zwar dieses, daß denen, die zuerst nach dem Reiche Gottes trachten, alles dasjenige, was eben in seiner Ungewißheit und um seiner Ungewißheit willen der Gegenstand der menschlichen Sorge ist, gleichsam von selbst zufallen werde. So klingen die Worte freilich; aber daß sie | nicht so gemeint sein können, davon können wir uns wohl leicht überzeugen. Denn sollte er etwas versprechen und nicht halten? sollte er etwas sagen und nicht thun? Das ist nicht möglich. Aber was verheißt er seinen Jüngern grade unter der Bedingung, daß sie recht ernstlich trachten und tichten würden nach seinem Reiche und sich und ihr ganzes Leben ausschließlich dem Dienste und der Förderung desselben weihen? was verheißt er ihnen? Daß es dem Jünger nicht besser ergehen werde denn dem Meister, daß wie die Menschen ihn verfolgt hätten, sie auch sie verfolgen würden um seines Namens willen, daß wie er nicht gehabt hätte wo er sein Haupt hinlege, sie auch nicht dürften Rechnung machen auf die Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten des irdischen Lebens; ja Trübsale und Gefahren und Leiden aller Art und der Tod mit allem was ihm Betrübendes und Drückendes angehört, wenn er von der Bosheit des Menschen ausgeht, das ist es was er ihnen verheißt. Aber jenes nicht zu ertragen, sondern auf jede Weise zu vermeiden, das ist der Gegenstand menschlicher Sorge. Und so kann | er das nicht verheißen haben, daß dasjenige, um dessentwillen der sorgende Mensch sich abmüht sein Lebelang und der Sorge Knecht sein muß, daß das den Seinigen, wenn sie nach seinem Reiche trachten, in großer Fülle von selbst zufallen werde. Und in der That wir können auch wohl auf keine Weise irgend ein Recht haben, ein solches Versprechen bei ihm vorauszusetzen oder von ihm zu erwarten. Denn ist die Sorge etwas so Schweres, wie wir das alle kennen und fühlen: wollen wir nicht daran genug haben, wenn er uns von der Sorge frei und los macht auch unter der Bedingung, daß es uns nicht besser ergeht wenn wir sorgen, als wenn wir nicht sorgen. Und wie ergeht es denn dem Sorgenden? Mag sich der Mensch noch so sehr abmühen in der Welt und sorgen von einem Tage zum andern: er wird immer erfahren, daß so wie der sorgende Mensch mit aller Sorge seiner Länge nicht Eine Spanne zusetzen kann noch auch der Länge seines Lebens, so auch wie hiezu schon der Grund gelegt ist in seinem ersten Auftreten in der Welt, so auch | zu allem was ihm in dem Leben bevorsteht der Grund schon gelegt ist, und das meiste, was ihm begegnet, unabhängig von seinem Thun und Sorgen. Wenn wir also nun eben dasselbe erreichen ohne die Sorge, was der sorgende Mensch mit ihr und durch sie erreicht: so haben wir genug empfangen, indem wir von der Last und dem Druck der 11–13 Vgl. Mt 10,24–25; Joh 15,20–21 Mt 6,27; Lk 12,25

14 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

32–33 Vgl.

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Sorge befreit worden sind; und wenn der Herr sagt „Trachtet nur am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit: so wird euch jenes alles schon zufallen“: so hat er nichts anderes gemeint als, ihr werdet mit demselben Maaße in Beziehung auf die irdischen Dinge gemessen werden wie die andern; es wird jenes alles auch euch eben so beigelegt werden nach dem göttlichen Willen und Rathschlusse, wenn ihr euch auch der eiteln und leeren Sorge enthaltet und entschlagt. Ja laßt uns noch mehr bedenken, wenn er uns ein größeres Versprechen gegeben hätte als dieses, wie gefährlich würde das nicht für den Menschen sein, für den Menschen, dem es so schwer ist sich selbst zu erkennen, der mit so unsichern Blicken in die Tiefe seines eigenen | Herzens hineinschaut, dessen Gedanken und Empfindungen sich auf eine unstäte Weise unter einander entschuldigen und verklagen? Wenn die Fülle alles dessen, was der Gegenstand der menschlichen Sorge ist, der Preis würde für das Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes und nach Gottes Gerechtigkeit: wer von uns wollte dann wohl seiner selbst sicher sein? wer könnte für sich selbst einstehen, daß wenn er auch glaubt rein und ohne alle Nebenabsichten mit allem Ernste nach dem Reiche Gottes zu trachten und sich der Gerechtigkeit zu befleißigen, die vor Gott gilt, daß doch nicht der geheime Blick nach dem, was ihm als das Ziel seines Lebens vorgesteckt wäre, wenn er der eiteln Sorge diente, seine Aufmerksamkeit von dem Reiche Gottes ablenkte, daß nicht die Lüsternheit nach dem, was der Gegenstand der irdischen Sorge des Menschen ist, mehr oder weniger Theil hätte an dem Guten, welches er in seinem | Leben darzustellen sucht, und es verunreinigte und trübte. Darum wollen wir uns freuen, daß der Herr uns nichts verheißen hat, was unsere Liebe zu ihm und die Treue und Uneigennützigkeit zu dem Dienste, den wir ihm leisten, jemals stören und trüben könnte. Aber es ist noch Ein Mißverstand in den Worten des Herrn möglich, den wir uns auch aus dem Wege räumen müssen, und der schon seiner Natur nach noch weiter verbreitet ist als jener. Nämlich wenn der Erlöser sagt „Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit; so wird euch jenes alles schon zufallen“: so begünstigt dieser Ausspruch allerdings die Meinung, es könne doch noch ein zweites geben, wonach der Mensch zu trachten hätte, außer dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit; und dies was könnte es anders sein, da es doch für den Menschen nichts anderes giebt als Himmel und Erde, nichts als das Reich Gottes und jenes Zufällige, was der Gegenstand der menschlichen Sorge ist, was könnte es anders sein | als eben wiederum jenes? Und so meint auch ein großer Theil wohlgesinnter Christen, der Herr habe hier nur die Sorge für die irdischen Dinge einschränken wollen, daß nur das Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit vorangehen solle; aber es müsse ja natürlicher Weise auch ein Streben des Menschen geben

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auf der einen Seite sich jene irdischen Dinge zu verschaffen, auf der andern Seite sie in Ordnung zu halten; und dies sei dann das zweite, wonach der Mensch zu trachten habe. Aber ganz im Gegentheil. Wenn wir uns nun fragen, wie ist denn die Sorgenfreiheit, die uns der Herr verheißt, in unserm Trachten nach dem Reiche Gottes begründet? so dürfen wir nur zurücksehen auf frühere Worte, die in derselben Rede des Herrn vorkommen, mit welchen die uns’rigen noch immer in dem genausten Zusammenhange stehen. Er sagt nämlich „Niemand kann zweien Herren dienen, sondern | er wird den einen lieben und so den andern hassen, er wird den einen ehren und so den andern gering schätzen; niemand kann Gott dienen und den irdischen Dingen und ihrer Sorge“. Hat er das gesagt und sagt hernach „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes“: so ist das nicht ein erstes, wozu es noch irgend ein zweites geben soll, als nur die Gerechtigkeit Gottes, die wesentlich zum Reiche Gottes gehört, sondern das erste, welches alles zugleich ist; das erste, welches das einzige ist und kein zweites neben sich leidet; denn zweien Herren kann der Mensch nicht dienen. Wenn wir, m. g. F. zu dem Einen ein zweites suchen und uns an das Wort des Herrn nicht halten „Niemand kann zweien Herren dienen“: so gerathen wir immer, auf welche Weise wir es auch thun mögen, in Widerspruch mit uns selbst. Räumt der Mensch, noch zu sehr klebend an den Dingen dieser Welt, und kaum eine dunkle Vorstellung von dem Reiche Gottes habend, die bei weitem nicht hell und stark genug ist, um sich eines Willens und aller seiner Bestrebungen zu bemächtigen, räumt er dem irdischen Tichten und Trachten des menschlichen Herzens noch so viel ein, | daß er bei sich denkt, du sollst trachten nach den Dingen dieses Lebens und sorgen, daß du dein Herz erfreust, und es dir wohl gehe die kurzen Tage deines irdischen Lebens hindurch; genug ist es, daß du das Reich Gottes damit nicht gefährdest und verletzest; daß die heiligen Gebote dasjenige sind, was dich in Schranken hält; thut der Mensch dies: wie will das abgehen ohne einen tiefen innern Widerspruch? Werden wir denn das Reich Gottes und die Gebote der göttlichen Gerechtigkeit lieben können, wenn sie uns nun einmal beschränken in dem, was das thörigte Herz geleitet hat? Dann wird das Wort wahr werden, daß wir den einen Herrn, denselben dem wir so treu dienen sollten, hassen werden, weil er uns nicht ganz dem Dienste des andern überlassen wird. Meinen wir es aber anders, daß wir zuerst trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, aber so viel es gestattet ist doch auch die Dinge dieser Welt nicht aus den Augen lassen, | und auch die unschuldigen Neigungen des menschlichen Herzens befriedigen: werden uns diese nicht jede auf ihre eigne Weise nur zu bald so gefangen nehmen, 26 Tage] Tagen 8–11.18.33–35 Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13

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daß wir wünschen werden zu der entgegengesetzten Ansicht überzugehen? wird nicht so der Augenblick einmal erscheinen, wo wir doch dieses irdische Tichten und Trachten höher stellen als das Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit? Es kann nicht anders sein; die Liebe zu Gott und die Liebe zur Welt, sie können nicht ohne Streit neben einander bestehen, die eine ist wider die andere, und fleischlich gesinnt sein, wie der Apostel sagt, ist Feindschaft wider Gott, sei es das erste oder sei es das zweite. Darum ist dies eben die wahre Begründung uns’rer Freiheit von der Sorge, daß wir wissen, weil der Mensch, indem er zugleich dienen muß, doch auch sich selbst angehört, – und sich selbst gehört er nur an, insofern Einheit und Friede in seinem Wesen ist und er frei ist von Widersprüchen – so kann er nur Einem Herrn dienen. Haben wir einmal | gewünscht Gott zu dienen, ist uns das Reich Gottes in unserm Innern erschienen und aufgegangen, daß wir nach demselben tichten und trachten wollen: so giebt es auch für uns kein anderes Tichten und Trachten mehr als dieses eine, so können wir uns kein anderes Ziel setzen für uns’re Bestrebungen als die Gerechtigkeit Gottes und sein Reich, welches durch diese Gerechtigkeit immer mehr soll aufgerichtet werden. Und um dieses in sein volles Recht und in seine ganze Herrschaft zu setzen, und uns so zu beruhigen und zu befreien, darum sagt der Erlöser „Trachtet nach dem Reiche Gottes und sorget nicht um das, worum die Heiden sorgen“. Keine Sorge soll je uns abhalten und hemmen in unserm Trachten nach dem Reiche Gottes; keine Vorstellung von dem, was uns begegnen kann in irgend einer irdischen Beziehung soll uns je aufhalten dasjenige zu thun, wovon wir in unserm Innern überzeugt sind. Das ist für uns die große Regel der Gerech|tigkeit Gottes, das ist der Beitrag, den wir zu seinem Reiche geben können. Ja was noch mehr ist m. g. F., stellen wir uns einmal in diesen Standpunkt des wahren Christen und schauen um uns her in das Reich Gottes und in das Gebiet seiner Gerechtigkeit hinein: wie sollte es uns dann anders gehen als wie der Erlöser seine Jünger aufmerksam machte, als sie zu ihm zurückkamen und irdische Speise gekauft hatten, er aber zu ihnen sagte, er habe sich unterdessen gesättigt an dem Worte Gottes? wie sollte es anders sein als wie er damals zu ihnen sagte „Blicket um euch her und sehet auf, das Feld ist reif und die Ernte nahe, aber der Arbeiter wenige; darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter sende in seine Ernte“. Einen andern als diesen Blick können wir niemals haben. Wer kann aber mit treuem und reinem Herzen den Herrn bitten, daß er immer mehr Arbeiter sende in das Reich Gottes, wenn er nicht alle seine Kräfte, wenn er nicht alle seine Zeit, wenn er nicht alles was er ist und hat seinem Dienste widmet, und alle seine Wünsche einzig darauf richtet, daß | er selbst mit allen 6–7 Vgl. Röm 8,7 Joh 4,35

30–32 Vgl. Joh 4,8.31–34

33–35 Vgl. Mt 9,37–38; Lk 10,2;

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Gaben, die Gott ihm verliehen, auf alle Weise und nach bester Ueberzeugung nur sein Reich vor Augen habe und nur nach seiner Gerechtigkeit lebe? Steht es nun so um das Reich Gottes m. g. F., so hat jeder von uns in demselben zu thun die Hülle und die Fülle; in jeder Stunde unsers Lebens muß uns’re Aufmerksamkeit gerichtet sein auf das Reich Gottes und auf das, was wir in demselben zu thun haben, und jeder Pulsschlag desselben muß etwas kund geben, was die Gerechtigkeit Gottes fördert. Wie sollte also unser Auge zurückschauen auf die Dinge dieser Welt und auf dasjenige sehen, was wir verlassen haben und dahin gegeben? wie sollte unser Auge den schönen Blick in die unvergängliche Herrlichkeit des Reiches Gottes und in den reichen Schatz der Erkenntniß göttlicher Weisheit und in die Fülle der göttlichen Liebe in dem Herrn abwenden auf die nichtigen und vergäng|lichen Dinge des Irdischen? Laßt uns in dem Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes, in dem Sporn und Stachel seiner Gerechtigkeit, keine Zeit haben nach den irdischen Dingen zu trachten und uns’re Aufmerksamkeit auf sie zu richten: so werden wir auf die rechte Weise von der Sorge befreit. Und sind wir so fest gegründet in dem Vertrauen auf das Reich Gottes, welches alle dunkle Mächte, die ihm entgegenstehen, nicht werden überwältigen können: dann wird uns auch das Wort in seinem höchsten Sinne wahr werden, welches der Herr sagt „Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und nach Gottes Gerechtigkeit; so wird euch alles andere beigelegt werden“. Was der Herr uns zurückläßt in Beziehung auf dasjenige, was der Gegenstand der menschlichen Sorge zu sein pflegt, es wird uns nur wieder eine Veranlassung werden, anders als es sonst geschehen sein würde, | der Gerechtigkeit Gottes zu leben, auf eine andere Weise als es sonst möglich gewesen wäre für sein Reich und in demselben thätig zu sein. Alles endigt sich endlich darin, alles geht darin auf und wird uns eine Gelegenheit für unser Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. – Sehet da m. g. F. das ist die Art, wie die Freiheit von der Sorge, die der Herr den Seinigen empfiehlt und von ihnen fordert, zugleich das Größte ist, was er ihnen verheißen hat, und wie sie zusammenhängt mit dem Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes, ohne welches wir ihm nicht angehören können. Und so löset er sein Wort, welches er seinen Jüngern gegeben hat „So euch der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei“. Denn das ist ja wohl die schönste und höchste Freiheit des Menschen, wenn er die Sorge aufgegeben und ihre Last abgeworfen hat; das ist die schönste Freiheit des Menschen, wenn ihn nichts jemals | stört und 3 lebe?] lebe. 34–35 Joh 8,36

25 würde, der] würde. Der

33 Wort,] Wort„

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aufhält im Trachten nach dem Reiche Gottes, wenn ihm nichts jemals verkümmert den Dienst der Gerechtigkeit Gottes.

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II. Und so laßt uns denn zweitens diese Befreiung von der Sorge noch in ihrer eigenthümlichen Beschaffenheit, wie sie ganz und gar ausschließlich dem Gebiete der Erlösung angehört, mit einander betrachten. Ich glaube m. g. F., wir können nicht besser zusammenfassen, was sie ihrem ganzen Wesen nach ist, als wenn wir sagen: sie ist die reinste und vollkommenste Verklärung alles Irdischen. Das werden wir am lebhaftesten empfinden und am deutlichsten einsehen, wenn wir einen Augenblick zurückgehen auf den Zustand des Menschen, in welchem er noch nicht frei ist von jenem Zwiespalt mit sich selbst, von jenem Bestreben zweien Herren zu dienen. Denken wir uns den Menschen, m. g. F. in dem gegenwärtigen Zustande, | wie er ist seitdem der Herr erschienen und die Zeit erfüllet war, wo das Reich Gottes in seiner Vollkommenheit konnte begründet werden, diesen verklärten Zustand des menschlichen Lebens: so müssen wir gestehen, auch das Geistige und Höchste in seinen Bestrebungen hängt zusammen mit der irdischen Seite seines Lebens, und giebt also dem Einfluß der Sorge auf sein höheres Tichten und Trachten einen freien Spielraum, so lange er sich nicht ganz von derselben losmacht. Was ist das Höchste in den Bestrebungen des Menschen auf Erden, in demjenigen, was er zu seinem Geschäft machen kann, womit er seine Zeit ausfüllt, wie er die gemeinsamen Gaben, die Gott allen Menschen anvertraut hat, benutzt? Das Größte und Höchste in dem menschlichen Gebiete das ist die Macht, auf welcher Recht und Ordnung und gesetzliches Leben unter den Menschen beruht. Diese handhaben, diese immer mehr zu vervollkommnen und dem Zustande der Menschen | angemessen zu machen, das ist der höchste Beruf, der auf dem Grunde weltlicher Macht aufgerichtet werden kann. Das Größte und Höchste in dem geistigen Gebiete ist der Dienst des Herrn, welchen wir ihm und in verschiedenem Grade allen Seinigen leisten, berufen sein Wort zu verkündigen, zu predigen von dem Reiche Gottes und zu ebnen den Weg des Herrn in den Gemüthern der Menschen. Wenn nun aber, m. g. F., der Mensch noch nicht frei ist von der Sorge, so wird auch das Höchste auf eine gewaltsame Weise herabgezogen zu dem Irdischen. Wenn diejenigen, denen ein größerer oder kleinerer Theil von der gemeinsamen Macht der Menschen und der Völker anvertraut ist, um sie zu handhaben und dadurch Recht und Ordnung zu schützen, wenn diese noch den Besitz irdischen Wohlergehens im Auge haben, wenn ihre Sorge sich wendet auf das künftige Ergehen ihrer unmittelbaren Nachkommen und Angehörigen: wie wird dann das reine Tichten und Trachten durch weltliche Macht das Reich Gottes aufzurichten, wie wird dann das reine Bestreben die menschliche Gerechtigkeit zu ver|walten als Gerechtigkeit Gottes, wie leicht wird es getrübt, wie lehnt sich der minder

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Mächtige an den Mächtigern, und bringt ihm mehr oder weniger von seinen Ansichten und von seiner Überzeugung zum Opfer, damit er ihn halte, wo er steht? Und wie dies die tiefste Herabwürdigung des menschlichen Lebens ist, worin sich doch überall das Geistige verklären soll, das fühlen wir wohl. Aber nun gar, wenn wir in unserm gemeinsamen großen Beruf, von dem Reiche des Herrn zu reden und zu lehren, der Wahrheit, die uns doch frei gemacht hat, die Ehre zu geben, wenn wir darin irgendwie beschränkt werden durch die Sorge, wenn wir unsere Überzeugung nicht anders aussprechen als mit einer vorsichtigen und feigherzigen Rücksicht auf die herrschende Meinung der Menschen, auf die mancherlei Verwicklungen, in die wir dadurch mit anders Denkenden und anders Gesinnten gerathen können: wie wird dies das Edelste und Herrlichste, was der Mensch hat, was die Stimme Gottes in ihm ist, herabziehen in den | Dienst des Irdischen? Und, m. g. F., dieses tiefe Verderben, es kann unmöglich aufhören, bis der Mensch von der Sorge ganz frei gemacht ist, bis er ganz und gar tichtet und trachtet nach dem Reiche Gottes und nach der göttlichen Gerechtigkeit, und neben diesem Einen Bestreben es kein anderes mehr in seiner Seele giebt. Ist er aber dahin gekommen m. g. F., o dann entsteht auch daraus die höchste Verklärung des Irdischen. Denn laßt uns nur einmal unsern Blick auf die entgegengesetzte Weise wenden und fragen, was ist denn das Dürftigste, das am meisten an der Erde Klebende, womit der Mensch seine Zeit in diesem irdischen Leben hinbringt, wodurch er seinen Beitrag giebt zum gemeinsamen Wohl und die von Gott ihm verliehenen Kräfte nutzt? O unstreitig dies, wenn er den größten Theil seines Lebens den Geschäften widmen muß, die auf das Irdische sich beziehen, auf den geringen Grad der Herrschaft, die er über die Welt und über die Dinge dieser Welt selbst ausüben soll. Aber, m. g. F., was sagt | uns darüber die Schrift? „Wer ein Amt hat, der warte es.“ Und wie sollten wir nicht sagen, daß Alles, auch das Geringfügigste, was zu dem großen Beruf gehört, den Gott dem Menschen angewiesen hat, als er ihn auf die Erde setzte, sie zu beherrschen, daß auch dies eine Arbeit sei im Reiche Gottes? Wie die Seele nicht ist ohne den Leib, so ist auch das Innerste und Tiefste des Reiches Gottes auf Erden nicht ohne Verbindung mit den irdischen Dingen. Wer da ein Amt hat, der warte seines Amts, der pflege seines Berufes als des ihm beschiedenen Theiles der Arbeit, die Gott ihm anvertraut hat; und dann wird er fröhlich sein über seine Arbeit; er sieht sie nicht an als eine Quelle zahlreicher oder weniger Freuden des Lebens – denn er ist frei von der Sorge – und behandelt sie als sein Geschäft in dem Reiche Gottes, worin sich sein Dienst gegen den Herrn und gegen die menschliche Gesellschaft erweisen kann, und worin sich seine Treue gegen den Erlöser als den obersten Aufseher im Reiche Gottes ausspricht. Denn darin besteht die Allmacht Gottes, daß sie 27–28.33–34 Röm 12,7

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sich in allem verklären kann, wodurch sich | auch in ihm und durch ihn das Wort Gottes verklären soll, indem er unerschütterlich ist in seinem Beruf, dem zu dienen, welcher der Herr ist. Dann m. g. F. wird das Irdische verklärt, es wird ein Höheres, wenn er die Sorge abgeworfen hat; denn dann bleibt ihm nichts übrig, als daß er es nur in Beziehung auf das Höhere, auf die Gerechtigkeit Gottes, handhabe und ausübe. Aber m. g. F. eben diese Reinheit und Verklärung des Irdischen, welche nicht eher möglich ist, als bis der Mensch sich des Dienstes der Sorge entschlagen und sich ganz dem Dienste der Gerechtigkeit Gottes und seines Reiches widmet, sie ist das Eigenthum der Erlösung, und auf keinem andern Wege als durch diese konnte sie für uns möglich werden. Laßt uns zurückgehen so gut wir können – denn ganz und vollkommen werden uns’re Vorstellungen davon nie sein können – auf den Zustand des Menschen, den uns die Schrift darstellt, ehe die Sünde war. Da lebte der Mensch im Reiche Gottes und übte die Herrlichkeit Gottes aus. Da war keine Sorge; denn er war gesetzt in die Fülle der irdischen Dinge, und die gehorsame Natur befriedigte von selbst alle irdische Bedürfnisse seines Lebens; nichts war ihm feindselig und strebte ihm | entgegen, sondern mit allem, was ihn umgab, war er freundschaftlich und friedlich verbunden. Da konnte er kein Kind der Sorge sein, sondern blieb in Freiheit von derselben, und sein Zustand war darin ähnlich der Unschuld und Unbefangenheit der Kinder; einen Zusammenhang jener Sorge mit dem Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seinem Besitz in demselben konnte es für ihn nicht geben; und eben darum war die Gerechtigkeit Gottes in ihm das Geistige seines Lebens, die Freiheit von der Sorge war die irdische Genügsamkeit desselben und sein irdisches Wohlbefinden und Wohlergehen. Aber Eins war beides nicht, und in einander aufgehend in seinem Bewußtsein war beides auch nicht und konnte es nicht sein. In dem Zustande der Sünde und außer dem Reiche Gottes ohne die Erlösung giebt es auch eine Freiheit von der Sorge und wohl mehr als eine. Die eine ist die Sache der gemüthlichen Neigungen und eines leichten Sinnes, wenn der Mensch so geartet ist oder glauben mag es sei sein eigenes Verdienst, den gegenwärtigen Augenblick nicht dem künftigen aufzuopfern, immer bereit aufs beste zu genießen, was ihm | der Augenblick darbietet, und der Zukunft nicht zu gedenken. Das ist die Sorgenfreiheit eines leichten und heitern Sinnes. Wir freuen uns derselben, wo wir sie finden, denn sie bereitet ein heiteres und fröhliches Leben. Aber abgesehen von dem Reiche Gottes und ohne Zusammenhang mit dem Tichten und Trachten nach demselben und nach der göttlichen Gerechtigkeit kann sie doch ein würdiges Leben nie bereiten; und lebt der Mensch doch nicht ein würdiges Leben außer der Sorge, so lebt er doch in demselben Bewußtsein, daß ihm die Freiheit von der Sorge aus einer andern Quelle kommt als aus dem Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes. Es giebt eine andere Freiheit von der Sorge, die mehr hervorgeht aus einer Richtung des Verstandes, ein mal

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für alle mal einen gewissen Blick in die Zukunft zu thun, darnach, so gut es sich thun läßt, mit sicherer Rechnung Wohlbefinden und Übelbefinden zu vertheilen unter die verschiedenen Zeiten des menschlichen Lebens, das Bevorstehende so viel als möglich zu durchschauen, und uns dabei zu denken und gegenwärtig zu halten den Wechsel des menschlichen Lebens und der menschlichen Dinge, und nach diesem Maaßstab den Wechsel, wenn er kommt, weniger zu empfinden. Das ist eine Freiheit von der Sorge, aber eine solche, welche das Ziel aller | Genüsse beschränkt; sie bereitet ein wohlüberlegtes Leben, welches sich gleich bleibt, und ist so angesehen gut; aber sie ist eine Berechnung der irdischen Dinge für sich, unabhängig von dem, wonach der Mensch als nach einem Höhern tichten und trachten soll. Und so sehen wir, die rechte Freiheit von der Sorge, sie ist allein gegründet auf das höhere Bestreben des Menschen, sie ist Eins und hat dieselbe Quelle mit der Gemeinschaft, worin er mit dem Höchsten steht, mit seinem Bestreben sich der Gerechtigkeit Gottes zu befleißigen, mit seiner Arbeit im Reiche Gottes und für dasselbe. Ja m. g. F. wenn mitten in der Finsterniß der Sünde und des Irthums, mitten in der Verwirrung, in die mehr oder weniger der Mensch geräth, so lange er noch nicht den Weg zum Heile gefunden hat; wenn mitten in diesem Zustande ihm aufgeht durch die Gnade Gottes und seine ewige Liebe das Reich Gottes; wenn die Stimme, daß es nahe herbei gekommen sei, nun auch an ihn ergeht und sein Herz durchdringt und ihn betrifft, und auch er nun den Entschluß faßt, ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen; bestehe denn dieses Haus aus zweien oder dreien oder tausenden von Menschen: von diesem Augenblick an giebt | es für ihn nur dies Eine, das Eine Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. So wie er sich dem Herrn, der dieses Reich aufgerichtet hat, angelobt, so wie der Glaube in ihm aufgegangen ist, in der Gemeinschaft des Erlösers gerecht zu werden vor Gott: so hat er alles andre von sich abgeworfen, klar und einfach ist sein Leben, alle Sorge hat ihr Recht an ihn verloren; in dem Einen Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes hat er das gefunden, was er gesucht hat, daß im Himmel sein Vaterland ist. Damit kann er alles Irdische in die Beziehung bringen, daß sich auch durch ihn die Gerechtigkeit Gottes offenbaren soll, daß auch er das Reich Gottes fördern soll. Und was ihm dabei zu Theil wird, Freudiges oder Betrübendes, es kommt alles aus Einer Hand, es kommt alles aus der Einen [Hand Gottes], welche denen, die ihn lieben, alle Dinge zum besten gereichen läßt, und wird von ihm aufgenommen mit der Freudigkeit, der es gleich ist, ob Angenehmes oder Unangenehmes kommt, und die überall nur nach dem 20 es] er an ihm

22 wollen] will

22–23 Jos 24,15

29 ihr] sein

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29–30 Recht an ihn] im Sinne von: Recht

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Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachtet. Hierauf also, m. g. F. – und | gewiß nichts Größeres giebt es als dies – laßt uns das Tichten und Trachten unsers ganzen Lebens richten; laßt uns die drückende Sorge und alles was uns in diesem Streben stören kann, von uns werfen, und uns immer mehr befestigen in der Freiheit der Kinder Gottes. Denn wen der Sohn frei gemacht, der ist wohl frei; er sorgt nicht für den andern Morgen und was derselbe bringen kann, sondern betrachtet ihn als einen Zeitpunkt der göttlichen Gnade, um die Gerechtigkeit Gottes zu üben und immer fleißiger zu trachten nach dem Reiche Gottes. Und ein Tag kommt so zu dem andern, bis auch uns’re Saat reif ist, und der Herr andere Arbeiter sendet in seine Ernte. Amen.

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[Liederblatt vom 8. Juni 1823:] Am 2. Sonntage nach Trinitatis 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Dies ist der Tag an welchem deine Frommen, / Gott, in dein Haus dich anzubeten kommen, / Dich, Herr, mit Dank und Flehen zu verehren, / Dein Wort zu hören. // [2.] Welch Heil verheißet deine Näh’ den Deinen? / Wer wollte nicht mit dir sich gern vereinen, / Sich von der Eitelkeit der Welt entfernen, / Und fromm sein lernen! // [3.] Ich freue mich die Stätte zu begrüßen, / Wo Durstigen des Lebens Bäche fließen, / Wo Heil verkündigt wird für deine Kinder, / Trost für die Sünder. // [4.] Ich nahe mich mit redlichem Gemüthe, / Nicht mit den Lippen nur, zu deiner Güte, / Denn was ein ernstliches Gebet begehret, / Das wird gewähret. // [5.] Die Welt verlockt mich nicht durch ihre Freuden, / Mein Geist will sich auf deinen Auen weiden. / Laß deine Diener Wahrheit hier uns lehren, / Sie will ich hören. // [6.] Dein Tag erinnre mich an deine Liebe, / Damit mein Glaube sich im Guten übe; / Erinnre mich, daß Jesus starb vom Bösen / Mich zu erlösen. // [7.] Ihn preis’ ich hier, des Todes Ueberwinder, / Der einst an diesem Tage für die Sünder, / Die fern von Gott in finstern Schatten saßen, / Sein Grab verlassen. // [8.] Sein Siegstag ist ein Freudentag der Erde, / O daß er immer heiliger mir werde, / Und daß ich würdig deinem heilgen Namen / Lobsinge. Amen. // (Holstein. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf, ruft etc. [1.] Herr, welch Heil kann ich erringen, / In welche Höh’n darf ich mich schwingen: / Im Himmel soll mein Wandel sein. / Schalle nicht zu mir vergebens / Verheißungswort voll ewgen Lebens, / Der Wandel droben werde mein! / Ich sink’ erstaunend hin, / Empfinde wer ich bin, / Wer ich sein kann! Zwar trag ich noch / Des Todes Joch, / Im Himmel ist mein Wandel doch. // 5–6 Vgl. Joh 8,36

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[2.] Schwing dich denn in diese Höhen, / Und lern’ im Lichte Gottes sehen, / Wer du versöhnte Seele bist. / Mit dem göttlichsten Entzücken / Wirst du in diesem Licht erblicken, / Wer, Seele, dein Versöhner ist. / Du durch sein Opfer rein, / Und stark dich ihm zu weihn, / Siehst in Jesu des Vaters Sohn, / Des Glaubens Lohn / Findst du dort einst an seinem Thron. // [3.] Wenn die Seel in tiefe Stille / Versunken ist, wenn ganz ihr Wille / Des Vaters Willen sich ergiebt; / Wird ihr inniges Vertrauen / Ihr freud’ges Hoffen fast zum Schauen, / Und selig ist sie wenn sie liebt, / Wenn sie wahrhaftig weiß, / Durch Christi Todesschweiß / Sei gegründet für alle Zeit, / Troz jedem Streit, / Sein Reich und für die Ewigkeit. // [4.] O dann ist ihr schon gegeben / Ihr neuer Nam’ und ew’ges Leben, / Im Himmel ist ihr Wandel schon. / Stark den Streit des Herrn zu streiten, / Sieht sie die Krone schon von weiten, / Die ihr gereicht wird einst zum Lohn. / Preis, Ehre, Stärk und Kraft / Sei dem, der neu uns schafft, / Ihm zu leben! Ihm auch allein / Will ich mich weihn, / Um ganz sein Eigenthum zu sein. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich etc. [1.] So sei denn nun mein Leben / Erbarmer ewig dein, / Mein eifrigstes Bestreben / Sei deiner werth zu sein. / Die Sünde zu bekämpfen, / Nur für dein Reich zu glühn, / Was dir mißfällt zu dämpfen, / Sei ewig mein Bemühn. // [2.] Und wankt auf meinem Pfade / Noch ungewiß mein Schritt: / So lenke, Geist der Gnade, / Zum Ziele meinen Tritt. / Dir Führer folg ich immer, / Dir folg ich bis ans Grab! / Verlassen wirst du nimmer / Den, der sich dir ergab. //

Am 15. Juni 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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3. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,24–28 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 55–67; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 147v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 20r–24v; Saunier, in: Schirmer Vakanzpredigt für Herzberg (OGD; vgl. Einleitung, Punkt I.1.) Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am 3. Sonntage nach Trinitatis 1823. Tex t. Joh. 1, 24–28. Und die gesandt waren, die waren von den Pharisäern, fragten ihn und sprachen zu ihm, Warum taufest du denn, so du nicht Christus bist, noch Elias, noch ein Prophet? Johannes antwortete ihnen und sprach, Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet; der ist es, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, deß ich nicht werth bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse. Dies geschah zu Bethabara jenseit des Jordans, da Johannes taufte.

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M. a. Fr. Nachdem Johannes der Täufer in den Worten, die wir neulich mit einander betrachtet haben, über sich selbst und seine Person denen, welche zu ihm gesandt waren, Antwort gegeben hatte: so fragten sie ihn nun, nachdem er so bescheiden von sich selbst geurtheilt und alle Ansprüche, als sei er selbst derjenige, der da kommen sollte, oder als sei er ein Prophet und ein Gesandter Gottes, von sich abgewiesen – so fragten sie ihn | nun, wie er denn also dazu komme zu taufen? Denn sie sahen darin, wenn gleich nicht genau unterrichtet von der Absicht des Johannes, doch auf jeden Fall in dem Gebiete des gottesdienstlichen Lebens und der gemeinsamen Andacht eine Neuerung und fragten ihn also nach dem Recht, welches er dazu zu haben glaube. Dazu hatten sie ein Recht, weil ihnen die bestimmte 11–13 Vgl. oben 1. Juni 1823 früh über Joh 1,19–24

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Aufsicht gebührte über alle Angelegenheiten dieser Art. Johannes giebt ihnen aber darüber keine bestimmte Auskunft, er läßt sich nicht darauf ein sein Recht darzulegen oder zu vertheidigen, sondern überläßt ihnen ganz und gar das eigne Urtheil darüber und begnügt sich nur damit – denn das ist der nächste Sinn seiner Antwort – sein Geschäft, daß er taufe, darzustellen als ein geringes und als ein solches, das nicht lange dauern werde. Denn wenn er sagt, Ich taufe mit Wasser, aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet, nun so versteht man darunter von selbst, ohne daß er es sagt, denjenigen, der auf eine andre Weise taufen werde; wie er sich denn später von Christo so erklärt, Das ist der, welcher mit dem heiligen Geist tauft. Was er nun später wirklich gesagt, das hat er bei dieser Gelegenheit wirklich im Sinne gehabt und sagen wollen, Derjenige aber ist mitten unter euch getreten, wiewol ihr ihn nicht kennet, der mit dem heiligen Geist tauft. Wie sollen wir nun diesen ersten Theil der Antwort des Johannes verstehen, wenn er sagt, er taufe mit Wasser, da doch wir auch mit Wasser taufen und durch die Taufe aufgenommen werden in die Gemeinschaft Christi, und da auf der andern Seite die Worte des Johannes, daß Christus mit dem heiligen Geist taufen werde, von diesem selbst, wie uns Lukas in der Apostelgeschichte berichtet, angewendet werden auf die Ausgießung | des heiligen Geistes als auf die eigentliche Taufe mit dem Geist, von welcher Johannes der Täufer gesagt habe? Wir müssen hier nun zuerst bedenken, daß als Christus selbst, oder vielmehr nicht er, sondern seine Jünger tauften, zu der Zeit, da er noch lebte, und da Johannes selbst auch noch taufte, der Jünger Taufe auch nur die Taufe des Wassers war; daß aber, sobald der heilige Geist über die Jünger des Herrn ausgegossen war, eine Verbindung statt fand zwischen der Taufe und der Mittheilung des göttlichen Geistes, wovon sich die Spuren durch das ganze neue Testament hindurchziehen, und woran der Glaube fest und unerschütterlich in der christlichen Kirche geblieben ist. Wenn die Jünger des Herrn Ursache hatten zu glauben, daß der heilige Geist wirksam sei in den Seelen der Menschen: so eilten sie, die Ausgießung desselben über sie mit der Wassertaufe zu verbinden; so wie auf der andern Seite, wenn sie Muth hatten und Freudigkeit, die Menschen durch die Taufe in die Gemeinschaft des Christenthums aufzunehmen, so regte sich auch der heilige Geist in denen und war geschäftig und wirksam durch diejenigen, welche sie getauft hatten. Was ist nun der Unterschied zwischen dieser Wassertaufe des Johannes und zwischen der Taufe, wo der heilige Geist sich mit dem Wasser verbindet? Die Taufe des Johannes stand auf gewisse Weise zwischen dem Gesez 10–11 Vgl. Joh 1,33

18–22 Vgl. Apg 1,5

23–24 Vgl. Joh 4,1–2

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und dem Evangelium. Von dem Gesez sagt die Schrift, daß durch dasselbe nur die Erkenntniß der Sünde kommt. Die Taufe des Johannes, indem sie eine Taufe zur Buße war, so war auch in derselben anschaubar die Erkenntniß der Sünde; denn ohne diese ist keine Buße. Aber außerdem, daß sie die Erkenntniß der Sünde war, war sie auch die Erkenntniß des Reiches Gottes; denn deswegen forderte er die Menschen auf Buße zu thun, weil das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, dadurch, daß sie in sich selbst bekannten | und glaubten und durch ihn überzeugt wären, daß jeder, der in das Reich Gottes eingehen wolle, Buße thun müsse. Aber der Eingang in das Reich Gottes war die Taufe des Johannes noch nicht. Und als unser Herr seine Jünger taufen ließ mit Wasser, so lange er lebte, so war diese Taufe in nichts verschieden von der Taufe des Johannes, seitdem dieser mit der Verkündigung, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, auch die bestimmte Hinweisung auf Jesum von Nazareth, als den, der da kommen sollte, verband. Denn der Eingang in das Reich Gottes war jene Taufe noch nicht, weil dieses nur ist in einer bestimmten Gemeinschaft derer, die durch die Einheit des Geistes und des Glaubens verbunden sind. Johannes aber stiftete keine Gemeinschaft, und der Erlöser, so lange er lebte, stiftete auch keine so bestimmte Gemeinschaft, wie hernach seine Jünger mittelst der Ausgießung des Geistes sich unter einander verbanden, welches erst das feststehende Reich Gottes war, von welchem der Herr sagt, daß die Pforten der Hölle es nicht überwältigen sollen. Es wäre auch vergebens gewesen, wenn der Herr selbst hätte die Menschen zu einer solchen Gemeinschaft verbinden wollen, ohne daß sie noch den eigenthümlichen Geist derselben empfangen hatten. Denn jede Verbindung der Menschen unter einander ist nur etwas todtes und ein leerer Schein, wenn sie nicht auf einem gemeinsamen Geist ruht, der alle belebt, welche zu derselben gehören, und sie zu einem ganzen macht. Nun aber sollte der Geist Gottes erst ausgegossen werden, wenn er von der Erde erhöht sein würde, und so sagt er selbst, wenn er nicht hinginge zum Vater, so käme der Tröster nicht. Und so wäre es vergeblich gewesen, wenn er schon während seiner Lebenszeit die, welche an ihn glaubten, zu einer solchen bestimmten Gemeinschaft verbunden hätte. Aber es war auch seiner Weisheit nicht gemäß. Denn wenn er noch auf Erden wandelte, so hätten die | Menschen, die an ihn glaubten und sich zu einer solchen Gemeinschaft verbanden, doch für sich nicht sicher sein können, wie viel an ihrem Glauben jene verkehrte Vorstellung, die unter dem jüdischen Volk so weit verbreitet war, daß das Reich Gottes, welches nun gestiftet werden sollte, auch ein äußerliches sein solle, wie der erste Bund, den Gott mit seinem Volke gemacht, ein solches hervorgebracht hatte, wie viel diese Vorstellung an ihrem Glauben und an ihrer Bereitwillig1–2 Vgl. Röm 3,20 30 Vgl. Joh 16,7

6–7 Vgl. Mt 3,2; Mk 1,15

21–22 Vgl. Mt 16,18

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keit in die Gemeinschaft mit Christo einzugehen Antheil gehabt hätte. Auf einem so unreinen Grunde aber wollte der Herr und konnte er seine Gemeine nicht erbauen; daher konnte auch denen, die an ihn glaubten, eine solche Gemeinschaft, ein ganzes des Glaubens und der Liebe, erst werden, nachdem nach seiner Entfernung von der Erde alle Möglichkeit einer äußerlichen Verbindung und der Gestaltung eines äußern Reiches Gottes verschwunden war, und die, welche an ihn glaubten, an nichts anderes als an seine geistige Kraft, an die Macht, die ihm im Himmel und auf Erden verliehen ist, und mit welcher er, das geistige Haupt, vom Himmel herab seinen Leib auf Erden regiert, gewiesen waren. Und in dieser Hinsicht sagt Johannes mit Recht, seine Taufe mit Wasser sei etwas geringes gegen jene Taufe mit dem heiligen Geist, weil sie die Menschen nicht zu einer bestimmten Gemeinschaft verbände, in welcher ein neues Leben entstände und eine neue geistige Kraft über sie käme; sondern seine Taufe war ein Zeichen von den Wirkungen, welche seine Predigt in einzelnen Seelen hervorgebracht hatte, etwas woran diese sich selbst erinnern, und was sie festhalten konnten, in der Ueberzeugung, die dadurch in jedem begründet war, daß keiner in das Reich Gottes kommen könne, es sei denn, daß er seinen Sinn ändere und Buße thue. Das zweite, was Johannes durch die Antwort zu erkennen giebt, ist dies, daß sein Geschäft, wie es ein geringfügiges sei, auch ein nicht lange dauerndes sei. Denn das liegt in seinen Worten, Ich taufe mit Wasser, aber er ist mit|ten unter euch getreten, der mit dem heiligen Geist tauft; als ob er ihnen sagen wollte: es lohnt euch nicht der Mühe eine solche Untersuchung, wie ihr gern wollt, anzustellen über etwas, was so geringfügig und unbedeutend ist und so bald vorübergehend, da ihr ohne dies bald werdet Ursache haben und die Verpflichtung lösen müssen, eine Untersuchung anzustellen über das, was schon unter euch ist, und euch dadurch der Verantwortlichkeit für die Seelen des Volks, die der Herr euch aufgelegt hat, zu entledigen. War denn aber die Taufe Johannes, wenn wir sie in ihrer ganzen Wirkung betrachten, in der That etwas vorübergehendes? – Wir werden es bald sehen, m. g. Fr., wie, wenn Johannes nun denen, die ihn am meisten liebten und ehrten und ihn am besten verstanden hatten, Jesum zeigt als den, der da gekommen sei mit dem Geist zu taufen, wie sie da bald ihren alten Lehrer verließen und sich zu ihm wandten; und insofern war freilich seine Taufe etwas bald vorübergehendes, denn es war von einer eigenen Schule des Johannes und von eigenen Schülern und Anhängern desselben wenig mehr die Rede, sobald nach der Himmelfahrt des Herrn und nach der Ausgießung des Geistes sich die Schaar seiner Jünger in das Band der Gemeine sammelte. 8–9 Vgl. Mt 28,18

32–36 Vgl. unten 13. Juli 1823 früh über Joh 1,35–42

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Aber wenn wir auf der andern Seite betrachten, was doch die Taufe des Johannes bewirkt hat: so müssen wir sagen, sie ist in ihren Wirkungen nicht etwas so kurze Zeit dauerndes und so schnell vorübergehendes. Denn wenn die Gemeine des Herrn diejenige Gestalt bekommen sollte, die ihr bestimmt war, und diejenige Ausbreitung über verschiedene Völker der Erde, die sie bald erlangen mußte, um fest zu stehen und begründet zu sein: so mußte jenes Vorurtheil überwunden werden, das unter einem großen Theile des jüdischen Volks, aus welchem eben die ersten Anhänger unsres Erlösers stammten, so weit verbreitet war, daß nämlich auch, wenn das Evangelium das Licht der Heiden sein | sollte, und die Heiden sich zu diesem Lichte sammeln sollten, sie doch erst müßten in das Volk Gottes aufgenommen werden und das Gesez desselben mit übernehmen und sich zu demselben verpflichten, ehe ihnen an diesem himmlischen Lichte ein Antheil könne gegeben werden – dieses Vorurtheil mußte überwunden werden; und wir sehen aus der Geschichte der Apostel und aus den Briefen derselben, wie viel sie damit zu kämpfen hatten während der Zeit ihres Lehramts, und wie eben dies ein großer Theil von dem Verdienst des Apostels Paulus ist, der zuerst die Gemeinen aus den Heiden gegründet hat, daß er nicht abließ und nicht müde wurde in diesem Kampfe, und nicht aufhörte über dieses Vorurtheil zu reden, bis die erste Gemeine der Christen erkannt hatte, daß denjenigen, welche aus den Heiden gläubig würden, das schwere Joch des Gesezes, welches ihre eigenen Väter nicht hätten tragen können, auch nicht brauche aufgelegt zu werden. Dazu aber eben hat Johannes der Täufer am besten das Volk vorbereitet. Denn genau zusammenhangend mit jenem Vorurtheil war auch ein anderes, daß nämlich jeder, der zu dem Volke des Herrn, zu den Nachkommen Abrahams dem Fleische nach gehöre, schon dadurch für sich ein Recht habe in das Reich Gottes aufgenommen zu werden und an allen Wohlthaten und Segnungen desselben Theil zu nehmen. Dieses erschütterte er, indem er seinen Landsleuten und Volksgenossen sagte, daß Gott dem Abraham auch aus den Steinen der Erde Kinder erwekken könne, indem er ihnen sagte, die Axt sei dem Baume schon an die Wurzel gelegt, und wenn sie nicht umkehrten und rechtschaffne Früchte der Buße thäten, so würden sie abgehauen werden, ehe noch das Reich Gottes seinen Anfang nähme; und alle, die sich taufen ließen von ihm, erkannten diese Nothwendigkeit an, daß die Geburt selbst und alles was damit zusammenhängt kein Anrecht gebe und kein Antheil am Reiche Gottes, sondern daß | der erste und für alle ohne Unterschied derselbe Grund eine Aenderung des Sinnes sei und eine tiefe Erkenntniß der Sünde. So ist es also mit diesem Theile der Antwort des Johannes so beschaffen wie mit dem, den wir neulich mit einander betrachtet haben. Er hat 30–34 Vgl. Mt 3,8–10; Lk 3,8–9

41 Vgl. oben 1. Juni 1823 früh über Joh 1,19–24

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freilich Recht in allem, was er bescheiden von sich selbst sagt. Wir aber, die wir den ganzen Zusammenhang der Dinge überschauen können, müssen ihm doch mehr zuschreiben, als er sich selbst zugeschrieben hat. Darin hat er freilich Recht, daß seine Taufe mit Wasser nicht die Kraft hatte, den einzelnen Menschen einen wirklichen Antheil zu geben an der Gemeinschaft, die er selbst noch nicht stiften konnte und sollte, und wozu der Geist erst ausgegossen werden sollte, wenn der Herr selbst seinen irdischen Wirkungskreis würde vollendet und das Ziel seines Lebens erreicht haben. Er hat auch darin Recht, daß seine Taufe als sein Werk und sein Geschäft während seines öffentlichen Lebens bald vorübergehen werde. Aber welchen Einfluß sie gehabt hat auf die ganze Bildung des Reiches Gottes und auf das schnelle Wachsthum desselben unter vielen Völkern, das können wir, die wir die Vergangenheit, welche ihm noch Zukunft war, vor uns haben, allerdings besser übersehen als er. Wenn er nun, m. g. Fr., denen, die zu ihm gesandt waren, den Erlöser bezeichnet in den Worten, Er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennet; der ist es, der nach mir kommen wird, welcher vor mir gewesen ist, deß ich nicht werth bin, daß ich seine Schuhriemen auflöse: so war dies gewiß denen, welche ihn anhörten, dunkel, ja wir können es nicht läugnen, diese Worte sind auch uns dunkel. Denn wir haben freilich die Erkenntniß von dem göttlichen in dem Erlöser und von dem menschlichen in ihm; und wenn wir die Worte lesen, Der ist es, der vor mir gewesen ist, welcher nach mir kommen wird: so sind wir gar sehr geneigt eben an diese Verschiedenheit und gleichsam Zwiefältigkeit in dem Wesen des Erlösers zu denken. Wenn wir es aber ge|nau überlegen, so müssen wir sagen: sah Johannes auf das göttliche in dem Erlöser, welches freilich vor ihm gewesen war, so konnte er von demselben nicht sagen, daß es nach ihm kommen werde; sah er aber auf das menschliche in dem Erlöser, so mußte er von diesem zwar gestehen, daß es nach ihm kommen werde – denn erst nach ihm trat der Erlöser in seinem menschlichen Beruf öffentlich auf – aber von diesem konnte er auch nicht sagen, daß es vor ihm gewesen sei. Aber überdies wissen wir ja gar nicht, wie weit Johannes der Täufer in das Geheimniß der Person Jesu eingeweiht, und wie viel ihm davon offenbar war. Und wenn wir bedenken, wie dieses Anerkennen des göttlichen in dem Erlöser eigentlich in einem jeden die Sache seiner eigenen Erfahrung sein muß, indem er weiß und fühlt, daß die Wirkung, welche der Herr in seiner Seele hervorgebracht, von nichts geringerm als von der Fülle der Gottheit in ihm ausgehen kann; wenn wir bedenken, wie der Erlöser selbst von Johannes dem Täufer sagt, daß, wenn er gleich der größte sei im alten Bunde, doch der kleinste im Reiche Gottes größer sei als er: so müssen wir gestehen, wir können nicht wissen und haben keine gegründete und bestimmte Ursach zu vermu39–40 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28

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then, daß Johannes selbst so ganz in das Verhältniß des göttlichen zum menschlichen in Christo eingeweiht war, wie er es sein mußte, wenn seine Worte genau verstanden werden sollten. Aber überdies wäre es nicht zur Sache gehörig gewesen, wenn in dieser Antwort Johannes auf eine Erläuterung von dem Verhältniß des göttlichen und menschlichen in der Person Christi sich hätte einlassen wollen; sondern wie die Frage nur war von seinem Recht zu taufen, und er dieses nur darstellen wollte als etwas untergeordnetes und geringfügiges im Vergleich mit dem, was von viel größerem Werth war: so muß sich auch dieser Theil seiner Antwort auf den Gegenstand der Frage bezogen haben; | und in dieser Hinsicht können wir die Worte des Täufers wol nicht anders verstehen als so, daß er meint, das Recht des Erlösers, das sei ein viel älteres, aber erst später würde er anfangen dasselbe geltend zu machen und aufstehen, um es auszuüben. Er sei zwar schon unter sie getreten, den sie nicht kenneten; aber doch würden sie durch seine eigene Taufe auf dieses uralte Recht, auf welchem alle Verheißungen des alten Bundes ruheten, und auf welches sie alle hinzielten, hingewiesen, und erst nach ihm werde derjenige auftreten, der dieses uralte Recht geltend machen soll. Indem nun aber Johannes, der Evangelist, hinzufügt, Solches geschah zu Bethabara jenseit des Jordans, da Johannes taufte: so sehen wir, welchen Nachdrukk er darauf legt, und, um die Thatsache dadurch zu beglaubigen, den Ort, wo es geschehen war, ausdrükklich namhaft macht, daß Johannes ein solches Zeugniß ablegte, um diejenigen, welche von Seiten des jüdischen hohen Rathes an ihn gesandt waren, schon zur Zeit darauf aufmerksam zu machen, wie ihnen bald würde zustehen und die Verpflichtung aufgelegt sein zu untersuchen, ob derjenige, der unter sie getreten sei, und der sich für den Gesandten Gottes ausgeben werde, es auch wirklich sei, oder nicht. Aber laßt uns, m. g. Fr., noch einen Augenblikk stehen bleiben bei dieser Antwort Johannes des Täufers, wie er nun sein ganzes Werk und seinen Beruf nur als etwas so geringfügiges und vorübergehendes ansah und sich selbst so niedrig stellte gegen den, der da kommen sollte, daß er sagt, er sei nicht werth ihm die Schuhriemen aufzulösen, d. h., ihm die Dienste zu leisten, die nur Knechte ihrem Herrn oder Schüler ihrem Lehrer leisteten; ob wir wol dabei im geringsten merken, daß ihn dies gedemüthigt und gebeugt habe, oder ob nicht vielmehr die ganze Antwort das Gepräge einer großen Freudigkeit des Herzens und einer innern Zufriedenheit mit seinem Beruf | ausdrükkt. Damit stimmen seine spätern Worte überein, in welchen er, fern von allem niedrigen Neide und von aller kleinlichen Eitelkeit, sich so ausdrükkt, wie er abnehmen müsse und der Herr zunehmen. 40 Vgl. Joh 3,30

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Auch wir, m. g. Fr., haben jeder unsern Beruf in Beziehung auf das Reich Gottes. Wir können nicht umhin ihn anzuerkennen als etwas geringfügiges und unbedeutendes, wenn wir ihn ansehen in Beziehung auf dasjenige, was jeder einzelne thut. Ja auch die, welche die ersten Helden des Glaubens und die ersten Verkündiger des Evangeliums gewesen sind, konnten nicht anders, wenn sie sich mit Christo dem Herrn und Meister verglichen, als so, wie hier Johannes es thut, von ihrer Wirksamkeit urtheilen. Und so müssen wir, wenn wir auf dieser Seite stehen bleiben, wiewol alles, was von Gott geordnet ist und seinem heiligen Willen gemäß, nicht vergeblich ist und vergänglich, sondern seine nothwendige Wirkung ausübet, so müssen wir doch sagen jeder von seiner Wirksamkeit auf Erden, daß sie sei eine nur kurze Zeit dauernde und schnell vorübergehende; ewig ist keine andere als das Werk dessen, der von oben gekommen ist; was jeder einzelne thut, geht bald vorüber und ist etwas untergeordnetes und geringes, weil auf das unvollkommene ein vollkommneres folgen soll. Aber eben so freudig sollen wir sein in dieser unsrer Arbeit, wie Johannes es war, und nie darf das Gefühl der Unvollkommenheit und Unzulänglichkeit dessen, was wir im Reiche Gottes thun können, uns zu irgend einer Vernachläßigung dessen gereichen, was der Herr uns aufgetragen hat. Auch Johannes übersah den Zusammenhang nicht, den seine Taufe mit Wasser hatte mit der Taufe des Herrn, welche die Menschen in die Fülle des Geistes untergetaucht hat, damit sie mit demselben von jenem erfüllt würden; er übersah diesen Zu|sammenhang nicht, aber doch erkannte er sein Werk und sich selbst für etwas geringes; gering aber war es in so fern, als es nur eine Hindeutung war auf das Werk dessen, der nach ihm kommen sollte. Wir haben nun keinen, der nach uns kommen soll, sondern der eine, der über uns allen ist, ist auch vor uns allen gewesen. Wir selbst genießen die Früchte seines Werks, nicht nur seines unmittelbaren, sondern auch des großen geistigen Werks, daß, nachdem er hingegangen war, der Geist gekommen ist, mit welchem er uns und vor uns alle gläubigen getauft hat. Unser Dienst, den wir ihm unserm Herrn und Meister leisten können, ist ein kleiner und schnell vorübergehender, aber doch ist er das größte, was der Mensch thun kann, und alles übrige, was uns in der Welt zu verrichten obliegt, ist doch nichts, wenn wir es vergleichen mit dem sei es auch geringen und unbedeutenden, was wir für das Reich Gottes thun können. Das ist das einzige, was unser Herz zufrieden stellt und unsern Glauben befestigt gegen jeden Zweifel, der in dem verzagten menschlichen Herzen wieder aufsteigen möchte. Aber so wie in dieser Antwort des Johannes, wie wir aus den Worten des Evangelisten selbst erkennen, eben dies ihm als das höchste erschien, daß er ein Zeugniß ablegte von dem Erlöser: so auch ist für uns alle, wie unbedeutend es auch sei, was wir für das Reich Gottes und in demselben thun können, dies das größte, wenn wir ein aufrichtiges Zeugniß von dem

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Erlöser ablegen, wenn wir sein Recht, welches er sich an den Menschen erworben hat, als ein ewiges, das vor aller Zeit gewesen ist, verkündigen, wenn wir alles unvollkommene, wie wir es ja immer nur leisten können, und den ganzen Zustand des Reiches Gottes in unsern Tagen immer vergleichen mit dem, was nach uns kommen wird. Denn das gehört zur Freudigkeit unsers Glaubens, daß wir wissen, das Reich Gottes wird sich von einer Zeit zur andern immer schöner erbauen; der Geist Gottes, der in demselben waltet, wird immer mehr aus der Fülle | des Herrn nehmen und es ihm verklären; die Gemeine des Herrn wird auch in ihrer äußern Erscheinung immer ähnlicher werden Christo ihrem Haupte, der sie vom Himmel herab mit seiner geistigen Kraft regiert, und so wird die Gemeine der Christen immer näher kommen der Vollkommenheit des männlichen Alters Christi selbst. Solches Zeugniß von der unerschöpflichen Quelle der Vollkommenheit Christi, solches Zeugniß von seinem ewigen Recht an das ganze Gebiet der menschlichen Natur abzulegen durch Worte und That und durch alles, was wir in seinem Reiche thun können, indem wir uns mit allen Kräften, welche Gott uns verliehen hat, dem Dienste desselben ganz weihen, solches Zeugniß abzulegen, das ist das größte, was wir thun können; dadurch leisten wir ihm den Dienst, den er ein Recht hat von uns zu fordern, und dadurch werden wir unsere eigene Seele immer mehr verklären, wie wir das fühlen aus den Worten des Johannes, daß er selbst erst verklärt war und ganz zufrieden gestellt, als ihm der erschienen war, den er verkündigt hatte. So auch je mehr sich der Geist Gottes in unserer Seele verklärt, desto mehr fühlen wir unsere eigene Seligkeit und erwerben uns das Vertrauen, daß wir den Beruf, in welchen Gott uns gestellt hat, erfüllen. So wie nun jenes geschah als Johannes taufte, so möge dies geschehen überall, wo der Name des Herrn verkündigt wird, und jeder, die Wohlthaten seiner Erlösung genießend, ein eben so freudiges Zeugniß von ihm ablegen, wie derjenige that, der vor ihm herging. Amen.

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3. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Luisenstadtkirche zu Berlin 1Petr 5,6–11 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 104, Bl. 38r–49v; Andrae Keine Keine Vermutl. Vakanzpredigt

Nachmittagspredigt am dritteen Sonntage nach Trinitatis 1823, am fünfzehnten Brachmonds, gesprochen in der Luisenkirche.

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(Lied. 678; 357; 198; 332,14–16.) | 5

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M. a. F. Unser Erlöser sagt von dem menschlichen Herzen, daß es ein trotziges und verzagtes Ding sei, und damit beschreibt er den natürlichen Zustand desselben sehr genau. Denn wenngleich die Menschen darin verschieden sind, daß in dem Einen mehr der Trotz und der Übermuth, in dem Andern mehr die Feigheit und das verzagte Wesen das Überwiegende ist: so giebt es doch keinen, der nicht auch eines Überganges aus dem Einen in das Andere fähig wäre, und denselben bei manchen Veranlassungen des menschlichen Lebens selbst erführe. Der Verzagteste und Feigherzigste kann dennoch in Übermuth und Trotz umschlagen, und auch der Trotzige kann gedemüthiget werden, daß er verzagt und sich die Furcht seiner bemächtigt. Der Erlöser nun sagt dies nicht ohne Tadel, und darin stimmen wir gewiß alle überein. Es ist einmal dies daran zu tadeln, daß weder der 16 überein.] überein; 0 Der zweite Prediger der Luisenstadtkirche, Karl Rudolf Richter (geb. 1757 in Müncheberg), war am 4. Juli 1822 gestorben; vgl. EPMB 2, S. 692. Schleiermacher hatte während des Witwenjahres bereits am 22. Dezember 1822 vorm. in der Luisenstadtkirche gepredigt. 4 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 678: „Lobet den Herrn, und dankt Ihm seiner Gaben“ (Melodie von „Herzliebster Jesus! was hast du verbrochen“); Nr. 357: „Gott herrschet und hält bey uns Haus“ (Melodie von „Herr! straf’ mich nicht in deinem Zorn“); Nr. 198: „Laß mich dein seyn und bleiben“ (Melodie von „Herzlich thut mich verlangen“); Nr. 332: „Herzlich lieb hab’ ich dich, o Herr!“ (Melodie von „Für G’richt Herr Jesu! steh ich hie“) 5–6 Vgl. Jer 17,9. Schleiermacher behandelt dieses Prophetenwort in der Regel als Christusrede.

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Trotz noch die Verzagtheit dasjenige ist, was dem Zustande des Menschen geziemt. Verzagt soll er nicht sein, weil er weiß, wenigstens wissen kann und soll, daß er sich einer gnädigen Leitung Gottes zu erfreuen hat; trotzig | soll er nicht sein, weil das Bewußtsein seiner eigenen Schwachheit ihn niemals verlassen soll. Aber außerdem ist nun auch noch der Widerspruch zu tadeln, in welchen der Mensch mit sich selbst geräth, wenn der Trotzige verzagt wird, und der Verzagte trotzig. Betrachten wir nun aber den Menschen nicht in seinem natürlichen Zustande, sondern so wie er werden kann in der Bearbeitung des göttlichen Geistes und in der Zucht des göttlichen Wortes: so werden wir dennoch finden, daß auch diejenige richtige Stimmung des Gemüths, die für einen solchen die natürliche ist, bald nach dieser und bald nach jener Seite hinüber sieht. Unsere Frömmigkeit theilt sich auch, und hat nicht dieselbe Gestalt in allen Zeiten des menschlichen Lebens; sie ist bald mehr frohes und kindliches Vertrauen zu Gott, und dann spricht sich darin die Fröhlichkeit und der gute Muth eines wohlberathenen Herzens aus; bald aber ist sie wieder auch mehr Demüthigung vor Gott, und dann spricht sich darin die natürliche Schwäche des Menschen aus, die auch in dem Zustande der Gnade niemals von ihm verschwindet. Aber der große Unterschied zwischen beiden ist der: daß der Trotz und die | Verzagtheit des menschlichen Herzens sich widersprechen, daß das Eine nur da sein kann, wo das Andere verschwunden ist; aber die Demuth und das Vertrauen des frommen Gemüths widersprechen sich nicht, sondern beides soll sein und ist auch wirklich Eins und dasselbe. Auf diese Betrachtung, m. g. F., führt uns sehr natürlich unsere heutige Sonntagsepistel, und wir wollen sie nach Anleitung derselben mit einander fortsetzen, wenn wir vorher zur Erbauung unserer Andacht werden gesungen haben das 198. Lied: „Laß’ mich dein sein und bleiben“ pp. Tex t. 1. Petri V, 6–11. So demüthiget Euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er Euch erhöhe zu seiner Zeit. Alle Eure Sorge werfet auf ihn; denn er sorget für Euch. Seid nüchtern und wachet; denn Euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe, und sucht, welchen er verschlinge. Dem widerstehet fest im Glauben; und wisset, daß eben dieselbigen Leiden über Eure Brüder in der Welt gehen. Der Gott aber aller Gnade, der uns berufen hat zu seiner ewigen Herrlichkeit in Christo Jesu, derselbe wird Euch, die ihr eine kleine Zeit leidet, vollbereiten, stärken, kräftigen, gründen. | Demselbigen sei Ehre und Macht von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen. Es ist vorzüglich der Anfang dieser epistolischen Lektion, m. g. F., welcher mit dem Vorhergesagten genau zusammenhängt. Der Apostel verbindet 27 Laß’] Laßt

33–34 dieselbigen] dieselbige

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hier unmittelbar mit einander zwei Vorschriften, wovon die Eine „So demüthiget Euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, daß er Euch erhöhe zu seiner Zeit“ diejenige Richtung und Gestalt der christlichen Frömmigkeit ausdrückt, welche mit der natürlichen Verzagtheit des menschlichen Herzens eine gewisse Ähnlichkeit hat; die Andere aber „So werfet nun alle Eure Sorge auf den Herrn; denn er sorgt für Euch“ drückt eben das Vertrauen der christlichen Frömmigkeit aus, welches Manchem wohl erscheinen kann als verwandt mit jenem Trotz und Übermuth des menschlichen Herzens. Indem er aber beides so unmittelbar an einander fügt, so kann auch gewiß seine Meinung nicht gewesen sein, daß das Eine nur für Einige, und das Andere für die Übrigen gelten soll, noch auch, daß das Eine für gewisse Zeiten des menschlichen Lebens gelten soll, das Andere aber für Andere und entgegengesetzte; sondern indem er sie unmittelbar auf einander folgen läßt, so kann er wohl nicht anders als voraus|setzen, daß bei dem Einen auch das Andere uns immer würde gegenwärtig sein; und so muß auch seine Absicht gewesen sein, daß beides in dem Gemüth des Christen sich auf das genauste verbinden soll. Dem zufolge laßt uns mit einander reden über die Verbindung zwischen der Demuth und dem Vertrauen des Christen, wie beide immer und gleichmäßig in ihm wohnen sollen. Wir werden uns aber davon überzeugen, wenn wir jedes für sich einzeln betrachten. Und so laßt uns zunächst bei dem letzten anfangen, welches denn das Vertrauen sei, so darin besteht, daß wir alle unsere Sorge auf den Herrn werfen sollen, weil er für uns sorgt; und dann zweitens, welches die Demuth sei, die sich unter die gewaltige Hand Gottes beugt, damit er uns erhöhe zu seiner Zeit. I. Was nun das Erste betrifft, so sehen wir wohl sehr leicht, m. g. F., daß dieses „Werfet alle Eure Sorge auf den Herrn, denn er sorgt für Euch“ keine Regel sein kann, die dem Menschen gegeben wird, dessen Tichten und Trachten irdisch ist. Freilich wäre demselben geholfen, wenn er seine Sorge auf den Herrn werfen könnte; allein wir mögen ihm diesen Rath geben so oft wir wollen: so wird | er ihn nicht befolgen; denn wo des Menschen Schatz ist, da ist auch sein Herz. Ist nun des Menschen Schatz in den vergänglichen Dingen dieser Welt, wobei ihn nothwendiger Weise die Gegenwart allein nicht beruhigt und befriedigt; sondern er von ihr immer zurück getrieben wird in die Vergangenheit und hinaus in die Zukunft: so wird auch des Menschen Herz da sein. Je mehr und je öfter er die Erfahrung schon gemacht hat, daß dasjenige, wobei er seine Befriedigung hatte, vergeht, und daß er das nicht mehr hat, was er früher beseßen hat: desto weniger wird er sich der Sorge entschlagen können, wie er sich dasjenige aufbewahren 32–33 Vgl. Mt 6,21; Lk 12,34

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kann für die Zukunft, was er hat, und seine Gegenwart mag reich oder arm sein, er wird sorgen, wie er sich dasjenige aufbewahren könne, was er besitzt, und alle Dinge, die ihm begegnen können, werden ihm vor Augen stehen, und der Gegenstand seiner Sorge werden; und auf der andern Seite wird sein Tichten und Trachten darauf gerichtet sein, alles, was ihm wahrscheinlicher Weise begegnen kann, so anzuordnen, daß es sich fügen muß zu dem Zwecke, damit seine Zukunft reicher werde | als die Gegenwart. Darum kann der irdisch gesinnte Mensch alle seine Sorge nicht auf den Herrn werfen. Aber wenn wir ihn dahin bringen könnten, daß er glaubt und einen Versuch macht seine Sorge auf den Herrn zu werfen: so würde der Erfolg zeigen, daß dieses Wort des Apostels so für ihn nicht gemeint sei. Denn wie selten wird es sich finden, daß er nach seiner Weise sagen kann, der Herr sorge für ihn; denn wenn von seinen Wünschen für die Zukunft, die er etwa verscheucht hat oder nicht geduldet, daß sie sich in Sorge verwandeln, weil er seine Sorge auf den Herrn geworfen hat nun kaum die Hälfte oder der zehnte Theil in Erfüllung geht: so wird er freilich, wenn das Gegenwart wird, was jetzt noch als Zukunft vor ihm liegt, nicht dem beistimmen, daß es gut und rathsam sei, seine Sorge auf den Herrn zu werfen; sondern er wird sagen: es wäre besser gewesen, wenn er selbst fortgefahren hätte für sich zu sorgen, denn der Herr habe schlecht für ihn gesorgt. So ist es, m. g. F., und das können und wollen wir uns nicht ableugnen, das menschliche Leben auf Erden ist nicht so gestaltet, daß es die Wünsche dessen, der nur nach | den vergänglichen Dingen trachtet, befriedigt, und höchstens werden wir sagen können, es sei gleichviel, ob er selbst sorge oder ob er den Muth und das Vertrauen fasse, seine Sorge auf den Herrn zu werfen. Seine eigene Sorge wird oft vergeblich sein, und wenn er sich der Sorge entschlagen hat, wird er doch oft sagen, daß der Herr nicht für ihn gesorgt habe. Also m. g. F., für den irdisch gesinnten Menschen ist dies keine Regel. Wir werden freilich immer sagen müssen, auch mit seiner eignen Sorge, auch damit, daß er die Sorge für sich behält und sie nicht auf den Herrn wirft, wird ihm gerathen sein, weil er doch nicht im Stande sei das, was er sorgt, in That zu verwandeln, und in dem was er thut den Gegenstand der Sorge von sich abzuwenden, und den Erfolg einzuerndten, den er davon erwartet. Aber eben so wenig werden wir ihn damit trösten können, daß der Herr für ihn sorge. Was beweist also dies? Daß, wenn dieses Wort überhaupt eine Wahrheit haben soll, von der Sorge für den Besitz oder den Verlust der irdischen Güter dieses Lebens und alles dessen, was zu dem Vergänglichen darin gehört, gar nicht die Rede sein könne. Fragen wir uns nun, was ist denn also das für eine Sorge, von welcher der Apostel sagt, wir sollen sie auf den Herrn werfen, der werde für uns sorgen? | Das geistige Wohl unserer Seele, das m. g. F., können wir doch nicht sagen, daß wir dafür nicht sorgen sollen, sondern die Sorge dafür auf den Herrn werfen; 34 erwartet] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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vielmehr sagt ja die Schrift: „So schaffet nun eure Seligkeit mit Furcht und Zittern.“ Dadurch lehrt sie uns bedenken, daß diese, obwohl das höchste Gut, doch für den Menschen in diesem irdischen Leben ein solches ist, was er gewinnen und verlieren kann, was er in einem höhern und geringerem Grade besitzen kann. Aber nicht auf einen Andern sollen wir die Sorge dafür werfen, sondern die Schrift lehrt uns, unsere Seligkeit selbst zu schaffen, sie zu erringen durch unsere eigene That mit Furcht und Zittern, das heißt, mit aller Anstrengung und mit aller Thätigkeit. Aber was der Gegenstand unserer Thätigkeit ist, das ist nicht der Gegenstand unserer Sorge; sondern wo unsere Thätigkeit aufhört, da geht unsere Sorge an. Dasjenige zu vollbringen, was wir thun ist kein Gegenstand der Sorge; sondern der Wille des Menschen, so er nur nicht müde wird, bringt zu Stande, was er begonnen hat. Was also ist es denn, wovon der Apostel sagt, es sei die Sorge, die wir auf den Herrn werfen sollen, weil er für uns sorge? Wenn wir nun von dem Letztern | ausgehen, so müssen wir uns sagen, unsere eigene Seligkeit zu schaffen, das hat uns die Schrift geboten als den Gegenstand unserer Thätigkeit, freilich auch so und nur in dem Gebiet, welches sie schon ansieht als unter dem Beistand göttlicher Gnade stehend, als durch den göttlichen Geist in den Stand gesetzt zu einer solchen Thätigkeit und zu einem solchen Schaffen, woraus die Seligkeit des Menschen hervorgeht. Betrachten wir es aber näher, so müssen wir uns gestehen, daß wir dies für uns allein nicht haben und erwerben können, daß die göttliche Gnade ihren Sitz nicht hat in dem einzelnen Menschen, daß der göttliche Geist nicht einwohnt dem einzelnen Menschen für sich; sondern die göttliche Gnade ist verheißen der Gemeinschaft der Frommen, und der göttliche Geist, der ist eine gemeinsame Gabe aller derer, die an den Herrn glauben, und eben dasjenige, wodurch sie zu einem lebendigen Ganzen verbunden werden. Was wir also nicht für uns allein und nicht durch uns selbst haben, das ist insofern ein Gegenstand der Sorge für uns. Fragen wir also, was ist denn die Sorge des wahren Christen? so werden wir sagen müssen, er hat keinen andern Gegenstand derselben als das Reich Gottes auf Erden, und zwar in einer zwiefachen Beziehung, einmal insofern er weiß, es ist dasselbe die Quelle, durch welche ihm alle die guten Gaben kommen von oben, deren er bedarf, um seine Seligkeit zu schaffen; auf der andern | Seite, indem er weiß, es ist auch ihm anvertraut, daß er in demselben mit seinen Gaben wirksam sein soll, um es zu erhalten für die künftigen Zeiten, um es immer weiter zu verbreiten, und immer mehr zu befestigen unter seinen Brüdern, und daß Gott von ihm Rechenschaft fordern werde von dem Gebrauch, den er darin von den Gaben, die ihm der Herr verliehen, gemacht hat. Das m. g. F., das ist die wahre Sorge des Christen, von welcher der Apostel redet. Wir haben die Verheißung des Herrn, daß seine Gemeine nicht soll überwältigt werden 1–2 Vgl. Phil 2,12

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von den Pforten der Hölle, wir wissen, daß ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, und daß er sie nur gebraucht, um seine Gemeine, die sein Leib ist in dieser irdischen Welt, von oben herab zu regieren, alle ihre Bewegungen zu leiten, und sie in allen ihren Bedürfnissen zu vertreten bei seinem himmlischen Vater. Aber so lange wir sehen das Reich Gottes auf Erden im Streite mit der Welt, so lange wir sehen die heilige Werkstätte und den Sitz des göttlichen Lichtes noch im Streite mit der Finsterniß: so ist das Reich Gottes der Gegenstand unserer Sorge, und je mehr unser Herz erfüllt ist durch den göttlichen Geist von derjenigen Liebe gegen | die Menschen, welche der Liebe des Erlösers zu denselben ähnlich ist, desto mehr ist auch ihre Seligkeit der Gegenstand unserer Sorge, und so nähren wir die Sorge um desto sorgfältiger und stärker, je mehr uns nach unserm beschränkten Gesichtskreis das Reich Gottes auf Erden mancherlei Gefahren und Widerwärtigkeiten ausgesetzt zu sein scheint. Und das ist die Sorge, von welcher der Apostel sagt, daß wir sie auf den Herrn werfen sollen. Das können wir, weil wir, uns an jene Verheißung haltend, zugleich wissen, daß dasjenige, was uns ein Großes und Schweres erscheint, dem Herrn ein Leichtes und Kleines ist, daß wir nicht im Stande sind zu übersehen, wie das, was dem Reiche Gottes gefährlich und verderblich zu werden scheint, vielleicht wohlthätig für dasselbige ist. Und so sollen wir unsere Sorge auf den Herrn werfen, und können gewiß sein, daß, insofern wir nur das Uns’rige thun, er auch niemals aufhören wird, das Beste seines Reiches zu berathen. Das ist seine Angelegenheit, daß das Reich des Herrn auf Erden besteht, und immer festere | Wurzel faßt, daß es sich immer weiter ausbreite auch über diejenigen, die noch in dem Schatten des Todes sitzen, und daß in demselben die Herrlichkeit der Kinder Gottes immer mehr zum Vorschein komme und sich verkläre. – Aber auch in einer andern Hinsicht ist das Reich Gottes der Gegenstand unserer Sorge. Wir alle, m. g. F., nehmen an der Erhaltung desselben einen thätigen Antheil; unser Beruf auf Erden ist vorzüglich dem Reiche Gottes gewidmet; das Größte und Schönste, was wir thun können, besteht darin, daß wir die Segnungen desselben unsern Zeitgenossen erhalten, und auf unsere Nachkommen fortzupflanzen suchen, und der wichtigste und bedeutendste Theil unseres Lebens soll mit diesem Geschäft ausgefüllt sein. Er soll es nicht nur, sondern er kann es auch; denn dazu kann ein jeder nach seinen Kräften wirken, der nur irgend wie auf andere Menschen einen Einfluß hat, der nur irgend wie im Zusammenhange steht mit der Sorge für das künftige Geschlecht. Und es kann nicht nur, sondern muß auch geschehen; denn jeder wahre Christ | wird 1 gegeben] gewesen 1–2 Vgl. Mt 28,18

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sich das Zeugniß geben, daß ihm alles in dem menschlichen Leben nur wichtig erscheint, insofern es damit in Verbindung steht, daß ihm seine übrige Thätigkeit nicht geringfügig wird, und er ihrer überdrüssig sie ergreift, weil er sie damit in Zusammenhang bringt. Das ist der Gegenstand unserer Thätigkeit, und hier überall das Rechte zu thun, und alles das zu thun, was das Rechte hervorbringt, ist nicht der Gegenstand unserer Sorge, sondern eine Ausübung unseres Willens, das ist das Schaffen unserer Seligkeit mit Furcht und Zittern. Denn wir wissen, daß der Herr uns Rechenschaft abfordern wird von dem, was er uns verliehen hat, daß er uns vorhalten wird, was wir hätten thun können, jeder nach seinem Maaße, und wie dagegen sich verhält, was wir gethan haben. Aber wie dasjenige, was wir thun, ausschlägt für das Reich Gottes, inwiefern der Erfolg, den wir davon suchen, in den Seelen der Menschen wirklich erreicht wird oder nicht, das ist nicht der Gegenstand unserer Thätigkeit, sondern wird, je mehr wir das Reich Gottes lieben und demselben anhangen, der Gegenstand unserer Sorge, von der der Apostel sagt, daß wir sie | auf den Herrn werfen sollen. Seine Sache ist es und kann nur die Sache der Allmacht sein, daß keine, wenn gleich noch so schwere menschliche Arbeit, insofern nur daran etwas ein Werk des göttlichen Geistes und der göttlichen Gnade war, daß keine solche jemals ganz verloren geht, daß etwas wenigstens davon übrig bleibt und in den nächsten Augenblick eingreift, so daß die Spur davon niemals verloren geht. Das ist und kann nur sein der Gegenstand der Allmacht. Dafür zu sorgen, daß, wenn nun unsern schönsten Bemühungen vieles Unvollkommne sich entgegenstellt, und nun jene durch dieses unterdrückt werden, auch dies zum wahren Besten des Reiches Gottes ausschlagen werde, und daß auch der Streit gegen das Böse, der dem ersten Anschein [nach] vergeblich gewesen, doch zu dem künftigen Sieg des Guten etwas beitragen werde, das ist nicht der Gegenstand menschlichen Tichtens und Trachtens; sondern kann nur das Werk der Allmacht sein, die alle unzählige Fäden in dem großen Gewebe des menschlichen Geschlechts fest zusammen knüpft, und sie zu Einem Ziele hinführt, und sie | in ein großes Ganzes, welches immer stärker und kräftiger wird, zusammenfaßt. Also ist das auch eine Sorge, die wir auf den Herrn werfen sollen, wovon wir eben überzeugt sein können, daß er sie übernimmt und für uns sorgt, daß er das, was wir wünschen und wollen, aber besser als wir es verstehen und mit unserer geringen Übersicht der menschlichen Dinge verstehen können, wirklich machen wird, und herbeiführen zu seiner Zeit. Und dies, m. g. F., daß wir getrost alle unsere Sorge für das Reich Gottes und für die Angelegenheiten desselben auf den Herrn werfen können, der allein das menschliche Herz zu beruhigen vermag, und der allein im Stande ist dasjenige zu bewirken, 7–8 Vgl. Phil 2,12

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was für uns ein Gegenstand der Sorge ist, das ist das schöne, das kindliche und stärkende Vertrauen des Christen.

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II. Nun laßt uns zweitens sehen, welches ist die Demuth, die der Apostel so beschreibt, daß wir uns demüthigen sollen unter die gewaltige Hand Gottes, damit er uns erhöhe zu seiner Zeit. Der natürliche Mensch, m. g. F., wenn ihn die Unfälle und die Widerwärtigkeiten dieses Lebens treffen, wenn keine menschliche Vorsicht, die er selbst angewendet hat, im Stande war sie von ihm zu entfernen, wenn auch die Hilfe anderer Menschen sich ihm vergeblich zuwendet, und alle ihre Liebe und Treue nicht hinreicht das Mißgeschick von ihm zu nehmen: so erkennt er dann den Druck der gewaltigen Hand Gottes, unter die er | sich demüthigen muß. Aber, m. g. F., ist das wohl die Demuth, kann sie das sein, von der der Apostel redet? Gewiß nicht, sonst hätte er nicht hinzufügen können „damit er Euch erhöhe zu seiner Zeit.“ Denn wo ist wohl eine Gewährleistung für den, der, wie sehr er auch von den Widerwärtigkeiten des Lebens gedrückt werde, wie unverhältnißmäßig er auch die Last des irdischen Lebens trage, sich mit der Hoffnung schmeichelt, daß eine Zeit für ihn kommen werde, wo ihn der Herr erhöhen wird. Wie zahlreich kommen uns nicht die Beispiele entgegen, daß sein Leben, einmal untergetaucht in das irdische Elend und in Noth mancherlei Art, auch in derselben bleibt und untergeht, ohne daß eine Zeit der Hilfe und der Erhöhung kommt. Wollen wir aber sagen, ja eben in diesen Worten will uns der Apostel von der Gegenwart auf die Zukunft, von diesem Leben auf das künftige hinweisen, und dieses Leben darstellen als die Zeit, wo wir uns beugen sollen unter die gewaltige Hand Gottes, jenes aber als die Zeit, wo er uns erhöhen wird: so können wir wohl überlegt auch dabei nicht stehen bleiben. Denn wo haben wir doch eine Vergleichung in Beziehung auf das, was wohlergehen und übelergehen heißt, zwischen diesem Leben und jenem. Wenn der Apostel diejenigen, welche am meisten gebeugt werden durch Leiden dieser Zeit, weil sie in den Freuden dieser Zeit die Befriedigung ihrer Seele suchen, wenn er diese dadurch auffordern soll, sich unter die gewaltige Hand Gottes zu demüthigen, weil Gott sie in Zukunft erhöhen werde: so ist dies etwas, wovon sie keinen Gebrauch machen können ohne von solchen Ge|danken verleitet zu werden, die in dem Sinne des Apostels nicht gewesen sind. Sollen sie getröstet werden in den Leiden dieser Zeit durch eine künftige Erhöhung, so müssen sie auch eben so gedemüthiget werden in den Freuden dieser Zeit, nach denen sie am meisten getrachtet haben. Daß aber das nicht die Absicht des Apostels ist, daß wir uns das künftige Leben denken sollen als eine Fülle von Freuden und Genüssen, die der entbehren muß, der sich noch beugen soll unter die gewal12 Aber,] Aber.

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tige Hand Gottes, das wissen wir alle, und ich brauche es nicht zu erörtern oder darzuthun. Davon also kann in den Worten des Apostels nicht die Rede sein. Ja, m. g. F., noch mehr, wenn wir uns den natürlichen Inhalt der Worte des Apostels denken sollen, dabei aber zugleich denken, er habe sie gesagt zu wahren Christen, die nach der Gerechtigkeit des Reiches Gottes trachten, und nicht nach irdischen Dingen: so müssen wir gestehen, diese sollen auch eigentlich durch die Widerwärtigkeiten des Lebens nicht so gedemüthiget werden, daß sie darin die gewaltige Hand Gottes erkennen. Nein, verstehen wir uns nur darauf, wie denen, die ihn lieben, alle Dinge zum Besten gereichen müssen, lernen wir nur immer mehr, was wir doch durch die göttliche Gnade können und sollen, aus allem, was uns in dieser Welt begegnen kann, eben das Große und Herrliche heraussuchen, was den wahren Wert des Menschen ausmacht, lernen wir immer mehr in allen menschlichen Wirkungen die Kraft des Geistes gewinnen, und uns mit getrostem Sinne unseres schönen Verhältnisses und unserer liebevollen Gemeinschaft mit den Brüdern bewußt werden: so werden wir nicht gedemüthiget, sondern erkennen darin nur die Mannigfaltigkeit, den unendlichen Reichthum und die Tiefe | der väterlichen Liebe Gottes. Darum dürfen wir auch nicht darauf warten, weil wir gedemüthiget sind, daß wir zu einer andern Zeit werden erhöht werden. Wohlan denn, m. g. F.; was ist denn diese Demuth, die sich beugt unter die gewaltige Hand Gottes, und daher eben des Trostes und der Hoffnung bedarf, daß er uns in Zukunft erhöhen werde? Wenn wir nun fragen: was ist denn die Erhöhung, die der Herr selbst den Seinigen verheißen? O was kommen uns da, wenn wir auf den ersten Theil unserer Betrachtung und auf den Inhalt desselben zurückgehen, was kommen uns da für herrliche Reden unsers Erlösers in den Sinn. Du getreuer Knecht, du bist über Wenigem getreu gewesen, ich will dich über viel setzen, gehe ein in deines Herrn Freude. Ja m. g. F., eine andere Erhöhung können wir uns nicht denken und können wir uns nicht wünschen als eben dieses über Vieles gesetzt werden im Reiche Gottes, dem wir so gern unser ganzes Leben und unsere Kräfte weihen, eben weil wir sie ihm verdanken, weil er sie zu ihrer natürlichen Stärke wiederhergestellt hat. Und was ist denn die gewaltige Hand Gottes, unter welche sich der beugen muß, der kein anderes Tichten und Trachten hat? Ja m. g. F., das ist die verborgene Hand Gottes, die, so lange wir auf dieser Erde wallen, den Streit zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Licht und der Finsterniß nicht läßt zu Ende gehen, und das ist eben die Ursache, daß, weil nicht alle zusammenwirken, sondern Viele nach einander, jeder nur über Weniges ge3 Ja,] Ja: 7 eigentlich] eingentlich 34 hat?] hat. 35 den] dem 9–10 Vgl. Röm 8,28

26–28 Mt 25,21.23

23 werde?] werde

30 dieses] diese

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setzt sein kann, und nur Weniges auszurichten vermag. Wenn wir so sehen, wie alle Anstrengungen derer, die für den Dienst des Herrn leben und wirksam sind, so wenig ver|mögen um sein Reich auszubreiten und immer fester zu begründen: dann fühlen wir uns gedemüthiget unter die gewaltige Hand Gottes. Wenn so manche schöne Hoffnungen, die wir gefaßt haben für die Befestigung des Guten und für die geistige Kraft des menschlichen Daseins durch die verborgenen Wege der göttlichen Vorsehung wieder scheitern und zu nichte werden: dann beugen wir uns unter die gewaltige Hand Gottes. Aber eben deswegen, weil dies der geistige Theil unseres Lebens ist, weil es zu demjenigen gehört, was hier schon unsern Wandel bezeichnet als einen solchen, der im Himmel ist, weil sich diese Sorge und dieses Gefühl auf nichts anderes bezieht als auf unser himmlisches Vaterland: so mögen wir in dieser Hinsicht wohl von dem gegenwärtigen Leben auf das künftige sehen. Und darauf sind denn die Worte des Apostels gerichtet „demüthiget Euch nun unter die gewaltige Hand Gottes, auf daß er Euch erhöhe zu seiner Zeit“. Denn das ist die Hoffnung, die wir haben, daß wenngleich auf dieser Erde nur sehr langsam der Sieg sich zeigt in dem Streite zwischen dem Lichte und der Finsterniß, wenngleich nur sehr langsam das Reich des Glaubens und der Liebe wächst, so daß, wenn wir hier warten wollten auf eine Erscheinung, wodurch wir, nachdem wir gedemüthiget sind unter die gewaltige Hand Gottes, die vollkommne Erhöhung im Reiche Gottes erführen, die Länge eines auch durch viele Geschlechter fortgesetzten menschlichen Lebens nicht dazu ausreichen würde; darum aber eben ist uns die Hoffnung gegeben, daß dort der Herr uns erhöhen wird, und daß diejenigen, welche in dem Wenigen, worüber sie hier gesetzt waren, treu gewesen sind, und sich | durch nichts haben irre machen lassen und abschrecken von dem, was sie ihres Orts zu thun hatten, um das Gute und Gottgefällige nach dem heiligen Willen Gottes zu fördern, und diesen in allen Verhältnissen ihres Lebens walten zu lassen, und mit allen Kräften, die ihnen verliehen waren, zu erfüllen, wenn sie dann gedemüthiget unter die gewaltige Hand Gottes, die Schwäche und Unvollkommenheit aller menschlichen Werke und den geringen Umfang ihrer Kräfte gefühlt haben: so werden sie dann dort erhöhet werden und über Vieles gesetzt, wo der Streit zwischen dem Lichte und der Finsterniß aus ist; und dieser Hoffnung können und sollen wir uns schon jetzt getrösten. – Und nun m. g. F., werden wir wohl einsehen, wie dies beides in dem wahren Christen nicht verschieden ist, sondern Eins und dasselbige. Wir würden nicht auf diese Weise gedemüthiget unter die gewaltige Hand Gottes, wenn wir eine andere Sorge hätten als die für sein Reich. Wir würden keine Ursach haben uns dessen zu erfreuen, daß wir werden erhöhet werden in einem bessern Leben, wenn wir in diesem eine andere Sorge gehabt hätten als die, die wir immer getrost auf den Herrn werfen können. Wir hätten aber in der That keine Sorge, die wir mit froher Zuversicht auf den Herrn werfen könnten,

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wenn nicht eben die irdische und gebeugte Lage des Reiches Gottes auf Erden uns demüthigte unter die gewaltige Hand Gottes. So ist also dies | beides[,] die Sorge auf den Herrn werfen und sich demüthigen unter seine gewaltige Hand, das Vertrauen, daß er für uns sorgt und die Hoffnung, daß wir werden erhöht werden zu seiner Zeit, beides ist nicht zweierlei, sondern es ist Eins und eben dasselbige. Indem sich der Christ demüthiget unter die gewaltige Hand Gottes, so bekommt er das Recht, alle seine Sorge auf den Herrn zu werfen; und indem er die lebendige Hoffnung in sich walten läßt, daß der Herr für ihn sorgt, und daß dem auch sein Reich empfohlen ist: so kann er auch die gewisse Zuversicht hegen, daß der Herr jeden unter seinen Dienern, der in diesem festen Vertrauen getreu gewesen ist in dem gegenwärtigen Leben, dort erhöhen werde und über Vieles setzen, und daß er den, der in diesem Leben oft in dem Falle gewesen ist die wohlgemeinte Sorge für das Reich Gottes auf den Herrn zu werfen, eingehen lassen werde in die Fülle der Freude, die von keiner Sorge getrübt wird. Aber, m. g. F., so weit sind wir niemals entfernt von dem Zustande des natürlichen Menschen, daß wir nicht immer in Gefahr wären uns zu verwickeln in irdische Sorgen, die wir nicht auf den Herrn werfen können, oder gedemüthiget zu werden unter die gewaltige Hand Gottes durch irgend eine äußere Widerwärtigkeit, die uns so nicht beugen sollte, und uns also kein Recht geben könnte zu erwarten, daß wir werden erhöht werden. Darum fügt der Apostel hinzu: „Seid nüchtern und wachet; denn Euer Widersacher, der Teufel, gehet umher wie ein brüllender Löwe, und sucht, | wen er verschlinge.“ Eben dieses köstliche Kleinod, daß der Trotz und die Verzagtheit aus unserer Seele verschwunden ist, daß die Demuth und das Vertrauen Eins und dasselbige ist, das ist ein Kleinod, welches wir tragen in zerbrechlichen Schalen; und nüchtern müssen wir sein um es zu bewahren. Denn überall umgiebt uns die Gelegenheit und die Versuchung hingerissen zu werden zu irdischen Sorgen; überall umgiebt uns die Gelegenheit und die Versuchung für Demüthigung zu halten, was Heil für uns sein soll. Darum seid nüchtern und wachet, und haltet Euer Herz weise, daß es nicht hingegeben werde den irdischen Sorgen des Lebens, daß keine andere Sorge in demselben aufkomme als die, die wir auf den Herrn zu werfen vermögen, nämlich die für das himmlische Vaterland. Darum seid nüchtern und wachet, damit Ihr nicht aus der wahren Demuth des Christen in die falsche Demuth, in die Erniedrigung dessen herabgestürzt werdet, dem das Irdische mehr werth ist als das Himmlische, und der deshalb auch in dem Irdischen enden muß. Seid nüchtern und wachet, damit Ihr dem Widersacher, der Euch umgiebt in tausend Gestalten, muthig entgegentreten, und so zunehmen könnt in der Demuth und in dem Vertrauen, die beide Eins und dasselbige sind, und uns zu Einem Ziele führen, indem sie uns hindurch leiten durch alle 15 Aber,] Aber;

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Versuchungen dieses irdischen Lebens, und uns dahin führen, wo wir den Herrn sehen, wie er ist, um deßwillen, der uns geworden ist zur Erlösung und zur Seligkeit. Amen.

Am 22. Juni 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 6,37–38 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 104, Bl. 50r–61r; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 148r–148v; Gemberg Nachschrift; SAr 62, Bl. 29r–32v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am vierten Sonntage nach Trinitatis 1823 am zwei und zwanzigsten Brachmonds. |

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Tex t. Lukas VI, 37 und 38. Richtet nicht, so werdet Ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet Ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird Euch vergeben. Gebet, so wird Euch gegeben. Ein voll gedrückt, gerüttelt und überflüssig Maaß wird man in Euren Schooß geben: denn eben mit dem Maaße, da Ihr mit messet, wird man Euch wieder messen. Nicht grade deswegen, weil diese Worte, wie es gewiß so Manchem von Euch gegenwärtig ist, aus unserer heutigen evangelischen Lektion genommen sind, habe ich sie zum Gegenstand unserer Betrachtung gewählt; sondern, weil sie auch einen Ausspruch des Erlösers enthalten über die Herrlichkeit des [Zustandes des] Christen mit einer Anweisung dazu verbunden, so habe ich sie, weil eben dies der fortlaufende Gegenstand unserer Betrachtungen ist, um so lieber heute für dieselbe gewählt. Denn das wird wohl in einem jeden gleich der Eindruck gewesen sein, den sie auf ihn gemacht haben, wenn der Herr sagt: „Gebet, so wird Euch gegeben; ein voll gedrückt, gerüttelt, geschüttelt und überflüssig Maaß wird man in Euren Schooß legen, eben so wie Ihr messet, wird man Euch wieder messen“, daß er uns darin überall den herrlichen Zustand des Christen beschreiben will, als eine Fülle freilich, die wir nicht selbst haben, sondern die wir empfangen, | aber doch so, daß es von uns abhängt zu empfangen, indem er uns die Bedingungen vorhält. So laßt uns denn eben dies näher mit einander erwägen, wie der Erlöser uns hier den Zustand des Christen beschreibt als eine reiche und herrliche Fülle, die er immerdar empfangen kann, wenn 10 Sonntagsevangelium war Lk 6,36–42.

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er will. Laßt uns dabei zuerst darauf sehen, was denn der Herr versteht unter demjenigen, was uns in so reicher Fülle soll gegeben werden? und dann zweitens, welches das Maaß sei, von dem er sagt, daß wir damit zu messen haben, und daß uns dann wieder eben so soll gemessen werden?

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I. Was nun das Erste betrifft, so hängt jene schöne und herrliche Beschreibung des Erlösers allerdings zunächst an den Worten „Gebet, so wird Euch gegeben“. Aber indem diese Worte in einer eben solchen Verbindung stehen mit dem „Vergebet, so wird Euch vergeben“, wie vorher das Verdammen und Richten mit einander in Verbindung gesetzt sind: so muß wohl jeder gleich sehen, daß von einem leiblichen Geben hier nicht die Rede sein kann. Auch dieses, m. g. F., auch die gewohnten Werke der christlichen Mildthätigkeit sind allerdings etwas Gutes und Schönes, von denen gar wohl gesagt werden kann, daß Geben seliger ist, denn Nehmen, aber sie sind deswegen schon etwas Untergeordnetes; um sie zu geben | muß man erst haben eben von diesen irdischen und leiblichen Gaben Gottes, und kann nur geben nach dem Maaße als man hat. Wir wissen aber, daß diese zu haben nicht zur Seligkeit des Christen gehört, vielmehr, wie die Apostel des Herrn von sich rühmen, daß sie gleich frohen Herzens wären, mochten sie viel haben oder wenig, mochten sie arm sein oder reich: so soll aber auch das unser beständiges Gefühl sein, daß die Fülle der leiblichen Güter, die uns in den Stand setzt von ihnen wieder reichlich zu geben, nicht zu unserer Glückseligkeit, so weit wir Christen sind, gehören kann. Der Herr selbst hat uns in seinem irdischen Leben ein solches Vorbild dargestellt von nicht nur einer innern Vollkommenheit, sondern auch von einer vollkommnen Zufriedenheit und Glückseligkeit, aber ganz unabhängig von irgend einem irdischen Besitz. Allerdings giebt es auch ein Geben leiblicher Gaben und irdischer Güter, welches nicht unmittelbar von einem ähnlichen Besitz abhängt. Wenn die Apostel des Herrn zu jenem Leidenden sagten: „Silber und Gold haben wir nicht, was wir aber haben, das geben wir dir in dem Namen des Herrn, stehe auf und wandle“: so war die wiederhergestellte Kraft, die so lange entbehrte Gesundheit allerdings auch eine irdische und leibliche Gabe, sie ging aber nicht hervor aus einem irdischen Besitz, sondern aus einer geistigen Kraft, die ihnen einwohnte. | Und so mögen wir freilich sagen, daß diejenigen allerdings gesegneter sind und besser bedacht, die nicht grade selbst einer Fülle von irdischen Gütern bedürfen, um irdische und leibliche Gaben mitzutheilen, sondern dasselbe vermögen durch die geistige Kraft, in der sie nämlich überall eine zweckmäßige Ver25 innern] inner 14 Vgl. Apg 20,35

28 welches] welche

37 leibliche] Leibleiche

18–20 Vgl. Phil 4,10–13

29–31 Vgl. Apg 3,6

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theilung, eine erhaltende Ordnung, einen leitenden und zum Guten führenden Verstand walten lassen über sich und andere. Aber auch dieses Geben, nothwendig und herrlich wie es ist, gewährt doch die Sicherheit nicht, die der Herr hier in das Wort seiner Verheißung hineinlegt „Gebet, so wird Euch gegeben“; viel mehr machen wir oft in unserm Leben die Erfahrung davon, wie grade die, welche am meisten darauf bedacht sind, durch solche geistige Kräfte den irdischen Besitz der Menschen sicher zu stellen, selbst am meisten zu leiden haben unter den Wirkungen derjenigen geistigen Zustände der Menschen, die dem Recht, der Ordnung und dem Verstande am meisten entgegen sind, und sich ihrer Herrschaft zu entziehen suchen. So laßt uns denn auch diese Erklärung als etwas Untergeordnetes und die reichen und herrlichen Worte des Erlösers nicht erschöpfend bei Seite stellen, und weiter fragen, welches das selige Geben sei, durch welches uns eben so wieder gegeben wird das volle, reiche und überflüssige Maaß. Wir werden es wohl nicht richtig verstehen als nur, je genauer wir bei dem ganzen Zusammenhang der Worte des Herrn stehen | bleiben. Er sagt: „Richtet nicht, so werdet Ihr auch nicht gerichtet; verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet“, und dies beides, so viel sieht und fühlt wohl jeder ohne eine besondere Erörterung, gehört ganz genau zusammen; das Gegentheil aber von beiden, das ist das Vergeben, wovon der Herr sagt: „Vergebet, so wird Euch vergeben.“ Und daran knüpft er nun, eben so, wie er an die Warnung vom Richten, die Warnung vom Verdammen anknüpft, die Verheißung an: „Gebet, so wird Euch gegeben.“ Das wissen wir, m. g. F., sollen wir aufrichtig und von Herzen vergeben, so muß allerdings dabei zum Grunde liegen, daß wir nicht Richten und nicht Verdammen, oder sobald wir es vorher gethan haben, so muß dies zuvor ganz ausgetilgt sein in unserer Seele, sonst ist ein Vergeben nicht möglich. Haben wir nun aber vergeben, so ist ja eben dies, daß wir etwas zu vergeben haben, ein sicheres Zeichen und eine deutliche Aufforderung, eine Aufforderung dazu, daß wir geben sollen, ein Zeichen davon, daß ein Bedürfniß da ist, etwas von uns zu empfangen. Denn was haben wir zu vergeben, m. g. F., als die Sünde und alles, was mit ihr zusammenhängt? Wenn wir dann auch nicht richten und nicht verdammen, das heißt, uns nicht anmaßen ein bestimmtes Urtheil darüber zu fällen, inwiefern die Sünde in dem innersten Wesen | und in dem Willen des Menschen gegründet ist oder nicht, und welcher Grad von Strafbarkeit ihm wegen dessen zukommt, was wir an ihm gesehen haben: so können wir doch nur insofern ihm etwas vergeben, als wir das klar einsehen, daß die Sünde wirklich in ihm ist und aus ihm heraus gehandelt hat; und so tritt uns ja dann das Bedürfniß entgegen, den Menschen von der Herrschaft der Sünde zu befreien, ihm, so viel in unsern Kräften liegt, von demjenigen mitzutheilen, was ihn davon befreien kann, und so wir selbst 32 zusammenhängt?] zusammenhängt.

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Vergebung empfangen haben, und auf dem Grunde der Vergebung das, was uns in den Stand setzt, der Sünde Widerstand zu leisten, davon eben ihm zu geben und mitzutheilen. Was sagt der Herr selbst von sich, m. g. F., in einer ähnlichen Rede? „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen die Welt zu richten, sondern die Welt selig zu machen.“ Wer nicht richten will, m. g. F., sondern vergeben, der hat auch gewiß eben so sehr den innigen Wunsch in dem Innern seines Herzens, selig zu machen, damit die Nothwendigkeit des Vergebens nicht wiederkehre, damit die gefährliche und gehässige Herrschaft der Sünde immer mehr vernichtet werde, damit die Menschen sich immer mehr des Gutes erfreuen, welches der selbst schon genießt, dem vergeben ist. Sehet da, m. g. F., das ist das Geben, wovon der Herr sagt: „Gebet, so wird | Euch gegeben, und ein volles und reiches und überflüssiges Maaß wird man in Euren Schooß geben“; theilet mit von den geistigen Gaben, welche Ihr empfangen habt; seid Ihr frei geworden durch den Sohn, so strebt auch Andere frei zu machen durch ihn; habt Ihr in seiner Gemeinschaft gefunden das ewige Leben, welches er verheißen hat denen, die an ihn glauben; so theilt auch dasselbe wieder mit, und sucht es, indem Ihr Euer Licht leuchten lasset vor den Menschen und sie Eurer guten Werke wegen den Vater im Himmel preisen, ihnen annehmlich zu machen und wünschenswerth, und wenn sie außer Eurer Vergebung Euch entgegen kommen mit der Bitte und mit dem Verlangen der Mittheilung; so gebet von dem, was Ihr empfangen habt. Aber, m. g. F., wenn nun das Vergeben das Erste ist und die geistige Mittheilung das Andere, worauf die Verheißung des Herrn ruht, wie ist denn nun das zu verstehen, daß er sagt: „Gebet, so wird Euch gegeben“? Gewiß, nur der kann vergeben in dem rechten, tiefsten und christlichsten Sinne des Worts, der schon Vergebung empfangen hat. Dennoch, wir wissen es wohl, das harte Herz des Menschen wird nicht eher zu einer richtigen und wahren Versöhnlichkeit erweicht, als bis er selbst durchdrungen ist in seinem Innersten | von dem Gefühl des Elends, welches die Sünde verbreitet. So lange er ihr selbst noch dient, so weiß sie auch auf alle Weise den rechten Trieb der Liebe in dem Menschen zu dämpfen und zurückzuhalten, und keiner wird gefunden werden können, der selbst noch nicht frei gemacht wäre und beseligt durch die Wahrheit, die Christus selbst ist und gebracht hat, aber doch im Stande wäre diese Regel des Herrn zu befolgen: Richtet nicht und verdammet nicht, sondern vergebet, damit Euch vergeben werde. Wohl, m. g. F., giebt es eben deshalb, weil das Wort des Herrn auch da, wo es noch nicht in das innerste Herz der Menschen dringt, sich doch immer eine Art von Glauben und von Ehrfurcht gleichsam zu erzwingen weiß: so giebt es auf dem Grunde dieses 7 damit] damitt 4–5 Vgl. Joh 3,17; 12,47

16–17 Vgl. Joh 3,36; 6,40.47

17–19 Vgl. Mt 5,16

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Wortes ein Vergebenwollen der Menschen, welches keinen andern Zweck hat, als daß sie denken: dann werde ihnen auch vergeben; wenn sie es nicht genau nehmen mit den Fehlern mit den Schwachheiten, mit den Sünden ihres Nächsten: so werde dieser es auch nicht genau nehmen: Allein weit entfernt davon, daß dies dem Sinne des Erlösers entspräche, und daß darauf ein Anspruch könnte gegründet werden, daß er seine Verheißung erfüllen soll: so ist eben dies selbst etwas Frevelhaftes, weil dasjenige dadurch | erstickt werden soll, worauf alles wahre Vergeben nur aufgerichtet werden kann, nämlich daß in dem Menschen der Unterschied niemals ersterbe, sondern sich tief eingrabe zwischen dem Guten und dem Bösen. Dieses leichtsinnige Vergeben finden wir oft bei denen, die noch nicht von dem Dienste der Sünde frei geworden sind; aber das kann auch dasjenige nicht sein, an welches der Herr seine Verheißung geknüpft hat. Eben deshalb hat er Geben und Vergeben so genau mit einander verbunden. Wer nur auf jene Weise vergeben kann, der ist noch nicht im Stande das große Wort des Herrn, daß er geben soll, damit ihm gegeben werde, zu erfüllen, weil er noch nichts hat in seinem Innern, was der Mühe werth wäre, zu geben. Demjenigen aber, der in dem Namen des Herrn Vergebung schon empfangen hat, der hat sie auch nur empfangen deswegen, weil er an ihn glaubt. Denn glauben muß der Mensch erst an ihn, ehe er in seinem Namen Vergebung suchen und empfangen kann. Hat er aber Glauben, so hat er auch, wie der Herr selbst sagt, in und mit der Vergebung zugleich das ewige Leben. Denn so sagt er: „Wer an mich glaubt, der stirbt nicht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen.“ Hat er aber das Leben, so hat er auch schon empfangen die Fülle geistiger und himmlischer Kraft, | die nur unterhalten werden muß, so ist in ihm die lebendige Gemeinschaft mit dem Erlöser, durch welche wir aus seiner unendlichen Fülle nehmen können Gnade um Gnade. Er hat also schon und giebt davon; was kann ihm noch mehr gegeben werden als das, was er schon hat? Daher, m. g. F., müssen wir uns das noch näher vor Augen halten, wie der Herr es meint, daß der, welcher schon geben kann, weil er hat, doch immer noch empfangen muß, und sich eben dessen als einer herrlichen Verheißung getrösten, daß er, wenn es ein reiches Maaß ist, womit er mißt, eben deswegen, weil er giebt, auch empfangen kann. Doch, m. g. F., schwer wird es uns wohl nicht das zu begreifen, und uns in den Sinn der Worte des Erlösers zu finden. Denn freilich müßte unser Glaube noch nicht der Glaube sein, wie ein Senfkorn groß in dem menschlichen Herzen, wenn wir das nicht wüßten, wer einmal in der lebendigen Verbindung des Glaubens mit dem Erlöser steht, wer als der Rebe an ihm, dem Weinstock, lebt, der empfängt auch 4 Nächsten] Nächstens 23–24 Vgl. Joh 5,24

27–28 Vgl. Joh 1,16

39–1 Vgl. Joh 15,4–5

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aus seiner Fülle, und besitzt eigentlich seine ganze Fülle als sein wahres Eigenthum; er hat nicht mehr nöthig, daß irgend etwas Neues gethan oder unternommen werde, um ihm zu geben, sondern er ist in einen ursprünglichen Besitz wirklich gesetzt. Aber wenn wir dann doch auf der andern Seite auch wissen, daß nur das der wahre Besitz ist und das wahre Haben, | was wir zugleich gebrauchen, und fragen uns nun in diesem Sinne, wie viel oder wie wenig haben wir denn von den Schätzen des Erlösers, wie viel oder wie wenig gebrauchen wir denn beständig aus seiner Fülle, die uns offen steht, wie viel von der Weisheit, von der Gerechtigkeit und von der Heiligung, zu der er uns geworden ist, wenn wir auch den ganzen Segen der Erlösung durch ihn beständig in unserm Herzen tragen könnten? O so müssen wir gestehen gegen das, was wir haben könnten, ist das wenig, was wir haben, was wir wirklich schöpfen aus seiner Fülle. So ist uns denn freilich ein ununterbrochenes Empfangen nothwendig von ihm. Eben das ist es, was der Apostel sagt, in keinem Augenblick dieses Lebens sei die Herrlichkeit der Kinder Gottes schon erschienen. Sie ist da, sie erfreuen sich ihrer, aber sie erscheint nur in einem unscheinbaren Anfang, wir wissen aber, wenn sie erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, weil wir ihn sehen werden, wie er ist. Wenn sie erscheinen wird, so muß eben das geschehen sein, so weit müssen wir gediehen sein, daß wir seine ewige Fülle von Weisheit und Heiligung, von Liebe und Gerechtigkeit haben, und auch beständig gebrauchen. Wer aber hat, der begehrt, und wer auch nur | ein wenig zu gebrauchen gelernt hat und in dem wahren lebendigen Besitz ist von den Schätzen und Gütern des Heils, die uns in Christo aufgethan sind, der begehrt freilich immer mehr; und darum ist es ein köstliches Wort „gebet, so werdet ihr empfangen“. Wohlan, daran hat also der Erlöser geknüpft dieses beständige Wachsthum in dem wahren und lebendigen Besitz aller seiner Güter, daß wir selbst geben. Und wohl, m. g. F., können wir auch hier die Ähnlichkeit zwischen uns und ihm wiederfinden. Er ist zu seiner Herrlichkeit eingegangen, freilich durch Leiden, aber wie kam ihm dieses Leiden als nur dadurch, weil er in einem beständigen Geben begriffen war? Das war das Wirken seines ganzen Lebens, die Mühseligen und Beladenen zu sich zu rufen, damit er sie erquikte, das war sein beständiges Streben, selig zu machen das Unselige, zu suchen das Verlorne, und eben in diesem beständigen Geben ist ihm geworden das Leiden, durch welches er in seine Herrlichkeit eingegangen ist. Wie aber beschreibt die Schrift selbst diese Herrlichkeit des vollendeten Erlösers? So, daß Gott ihm für seine | Arbeit 3 einen] einem

18 ihm] ihnen

9–11 Vgl. 1Kor 1,30 Jes 53,12

37 vollendeten] vollendenten

15–19 Vgl. 1Joh 3,2

32–33 Vgl. Mt 11,28

37–1 Vgl.

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eine große Menge von Menschenseelen zur Beute gegeben hat. Dieses Gefühl des Gegebenhabens, diese Freude an allen denen, die durch ihn errettet worden sind von der Gewalt der Sünde, das m. g. F., das ist seine Seligkeit. Und so ist eben dies, das uns gegeben wird, weil wir geben, gewiß in der unmittelbaren Ähnlichkeit mit dem Erlöser. Denn was kann es Seligeres geben für uns als wenn wir wissen, daß auch wir sein Werk auf Erden fortführen, daß wir alle in seinem Sinne Arbeiter sind in seinem Weinberge, und seine Werkzeuge in seinem Reiche, daß durch uns die Schätze, die er dem menschlichen Geschlecht gebracht hat, weiter verbreitet werden. Wie der Sohn nun rief: „Ihr seid frei, wenn Euch der Sohn frei macht, Ihr könnt nicht anders frei werden als durch die Wahrheit“: so wenn Christus in uns lebt, wenn er uns den Vater offenbart hat, und uns die Quelle der ewigen und lebendigen Wahrheit geworden ist: so vermögen auch wir, frei geworden durch den Sohn, die freimachende Wahrheit den Menschen nur mitzutheilen aus seiner Fülle; und so geben wir, wenn er uns gegeben hat, und empfangen eben diese innere Seligkeit zum Lohn, wie er selbst empfangen hat als der Menschensohn, der durch Leiden in seine Herrlichkeit | eingegangen ist. Aber freilich auch anders als wir, denn in ihm selbst konnte die Fülle der Kraft und der Reichthum der Gaben nicht wachsen, sondern wie [sie] einmal in ihm war als die Fülle der Gottheit, so war sie keiner Vermehrung und keines Wachsthums fähig. Aber wir in dieser Hinsicht empfangen in dem Maaße als wir geben. Je mehr wir geben, desto mehr werden wir in den Stand gesetzt zu geben, weil wir durch das Geben empfangen. Und so mögen wir also die ganze Tiefe dieser Worte des Herrn verstehen „Richtet nicht, so werdet Ihr auch nicht gerichtet; verdammet nicht, so werdet Ihr auch nicht verdammet; vergebet, so wird Euch vergeben; gebet, so wird Euch gegeben“. Wer da geben will und giebt, wer könnte den richten? von dem kann im eigentlichen Sinne des Worts gesagt werden: „Wer will verdammen, Christus ist hier, der gestorben ist, ja viel mehr, der auch auferstanden ist von den Todten?“ Er ist aber gestorben um unserer Sünde willen, und auferwecket um unserer Gerechtigkeit willen. Wo nun nicht gerichtet wird und nicht verdammet, da ist die Gerechtigkeit Christi, die darin besteht, nicht zu richten, sondern selig zu machen, die Schätze der göttlichen Liebe über die Menschen auszugießen, und dadurch immer mehr unnöthig zu machen die Vergebung, welche ihm geworden ist. Wer spärlich | giebt, der wird auch desto mehr fühlen, daß er immer noch unvollkommen die Gaben der göttlichen Gnade besitzt und gebraucht. Aber wer eben deshalb, weil er die Nothwendigkeit und die Seligkeit des Vergebens fühlt, sich aufgefordert fühlt zu geben, wo einer ist, dem er geben kann, dem wird auch immer mehr gegeben, dem wächst die Fülle der Kraft und der 10–11 Vgl. Joh 8,32.36

28–30 Röm 8,34

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Gaben von einem Tage zum andern, und gestaltet sich immer mehr in die Ähnlichkeit dessen hinein, in dem sie nicht wachsen konnte, weil er die Fülle der Gottheit in sich trug.

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II. Und nun werden wir auch zweitens einsehen, was der Erlöser meint mit dem Maaß, von welchem er redet: „denn mit welchem Maaß Ihr messet, wird man Euch wieder messen.“ Auch das kann uns auf den ersten Anblick gar wenig tröstlich erscheinen, sondern vielmehr niederschlagend. Denn wenn wir nun auch den besten Willen haben zu geben, mit welchem geringen Maaße können wir doch immer nur messen. Wenn uns nun mit demselbigen Maaße gemessen werden soll, mit welchem wir messen, wie gering erscheint uns dann die Verheißung, die uns so viel versprechen kann. Freilich ist das wahr, wenn wir auf den Umfang sehen, in welchem wir wirken können, so ist unser unmittelbares Werk in einen engen Kreis eingeschlossen. Diejenigen, die uns zunächst verbrüdert sind durch die | heiligen Bande der Natur, diejenigen, an welche unser Beruf in der menschlichen Gesellschaft sich knüpft, die Wenigen, die wir uns gleichsam auswählen können zu einer nähern Gemeinschaft des Gemüths, die sind es, die unsern Kreis bilden, auf die wir allein wirken, denen wir auch allein und unmittelbar geben können. In einem solchen, für die meisten unter uns auch auf den ersten Augenblick sehr eng eingeschränkten Umfang ist die Kraft des Gebens in uns eingeschlossen. Ja auch die, welche weit höher zu stehen scheinen, und deshalb auf einen größern Kreis von Menschen wirken sollen, es ist mit ihnen nicht anders gestellt als mit uns, sondern wir können uns in dieser Hinsicht einer großen Gleichheit erfreuen. Denn auch sie vermögen unmittelbar nur auf diejenigen zu wirken, welche sie umgeben, und müssen das Übrige dem allgemeinen Zusammenhang der menschlichen Dinge und der Leitung Gottes anheimstellen. So wäre es denn freilich ein kleiner und enger Kreis, innerhalb dessen wir geben, und also auch nur ein kleines Maaß, mit welchem wir messen. Aber wenn wir fragen, woher können wir denn empfangen, und mit welchem Maaß kann uns wieder gemessen werden? so müssen wir ja wohl | gestehen, auch wir empfangen das Meiste aus diesem engen Kreise, auch wir können, was uns recht tief in das Innere dringen soll, was uns erquiken, was uns froh und selig machen soll, nur in diesem kleinen engen Kreise finden. Da können wir, was wir wirken, auf die richtige Weise übersehen, da können wir, was uns von dort kommt, genau beurtheilen und richtig würdigen. Und so ist es der nächste Beruf des Menschen, daß er sich den kleinen Kreis seiner Wirksamkeit abstecke als eine kleine Welt, die er mit wenigen Menschen gemein hat. Aber was thut es, geben wir nur, wie wir mit dem kleinen Maaße vermögen, und empfangen 20 einem] einen

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so, wie es dem Umfang unseres Gebens angemessen ist, so ist es doch ein volles gerütteltes und geschütteltes Maaß. Wenn die Seele voll ist, mehr kann sie nicht verlangen. Und ist nicht unser ganzes Leben in diesem kleinen Kreis geschlossen und darauf angewiesen? Und müssen wir nicht gestehen, daß der Glücklichste ist und der Seligste, der sich darauf zu beschränken weiß, aber der, der in das Weite hinausschweift, und da geben und empfangen will, sich in leeren Wünschen | verzehrt, die nicht können befriedigt werden. Aber, m. g. F., laßt uns auch das nicht verkennen, grade durch den, der dieses Wort der Verheißung gesprochen hat, ist die Verbindung der Menschenkinder unter einander auf eine solche Art erweitert worden, wie es vorher nicht der Fall war, und auch nur durch ihn geschehen konnte. Denn wenn auf der einen Seite allerdings das Maaß des Menschen überhaupt die Ursache davon ist, daß ein jeder nur auf einen engen Kreis beschränkt sein muß: so können wir doch nicht leugnen, es giebt eine Beschränkung und ein gegenseitiges Einkerkern der Menschen, welches von der Sünde herrührt. Ein jedes Verschließenwollen, wo man wirksam sein kann, ein jedes Abstoßen, wo man anziehen kann, ist das Werk der Sünde. Aber alle diese Schranken, die so die Menschen sondern, sind nun gefallen durch den, der als der Sohn Gottes herabgekommen ist vom Himmel auf die Erde, um alle Menschen durch eine allgemeine geistige Liebe in ein schönes brüderliches Band zu vereinigen. Und wie sehr, m. g. F., erneuert und erweitert nicht dies die Kraft unserer | Wirksamkeit; eben je deutlicher das Wort des Herrn ist, desto mehr dringt es in die Welt ohne daß wir es sogleich wissen und wollen, sondern erst in der Folge, wenn die Saat aufgegangen ist oder blüht, [können wir] den Erfolg davon wahrnehmen. Eines solchen Wirkens nun, m. g. F., vermag sich ein jeder unter uns zu erfreuen. Je mehr er selbst in dem wahren Besitz von den Schätzen des Erlösers ist, je tiefer der Eindruck, den er damit macht, wenn auch nur auf einzelne menschliche Gemüther, desto mehr wirkt dies fort von dem Einen auf den Andern, und verliert sich in dem unscheinbaren Umfang des Reiches Gottes, wo auch das Kleinste nicht getrennt ist von dem Großen, was eine bestimmte Wirkung hervorgebracht hat. Das, m. g. F., das ist das große Maaß, mit welchem jeder unter uns messen kann, in dem nur das Wort des Herrn Mark und Gebein durchdrungen hat und geschieden, der nur seine Kraft in sich walten läßt; das ist das volle Maaß, mit welchem uns dann auch wieder gemessen wird. Denn m. g. F., wie viel empfangen wir nicht aus der großen Ferne | der Zeiten, was wären wir, wenn wir nicht ergriffen worden wären von den ersten Wirkungen, die der göttliche Geist in den Aposteln des Herrn und durch sie hervorgebracht hat; was wäre wohl unser Glaube ohne dieses feste prophetische Wort der Schrift, welches seit vielen Jahrhunderten her sich uns erhalten hat, und noch lange erhalten bleiben 33–34 Vgl. Hebr 4,12

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wird? Aber eben so, je weiter sich das Wort des Herrn verbreitet, je mehr es unter allen Völkern der Erde erschallt: wie viel schöne Züge von der Kraft desselben, wie viel herrliche Bilder von dem Einfluß des christlichen Glaubens, von der ungetrübten Reinheit der christlichen Liebe kommen uns aus diesem allgemeinen Zusammenhang, der unter den Christen besteht, von den entferntesten Orten der Erde her, und wie stärkt dies wiederum den Glauben und die Liebe in uns. Ja das ist ein großes Maaß, mit welchem wir messen können, und mit welchem dann auch uns wieder gemessen wird. Aber freilich, nicht uns verdanken wir es, nicht aus unserer Schwachheit geht | es hervor; sondern dem müssen wir die Ehre geben, der ein solches Wort der Verheißung sprechen konnte, weil er durch die Fülle der Gottheit im Stande war, es zu erfüllen. Geben ist seliger, denn Nehmen, sagt die Schrift. Aber, m. g. F., so wenig wir dieses wahre Wort leugnen wollen, so müssen wir doch gestehen, es ist immer nur wahr, je mehr wir bei dem stehen bleiben, was uns [als] das nächste vor Augen liegt, und das Äußere ist in dem irdischen und geistigen Leben der Menschen. Sehen wir aber auf dieses Wort des Herrn, welches in der jetzigen Stunde unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, so erblicken wir einen solchen herrlichen Kreislauf von Geben und Nehmen, daß wir nicht sagen können was seliger sei, Geben oder Nehmen. Nur so viel ist wahr, was wir auch nehmen mögen, und in welchem vollen, reichen, unendlichen Maaße, das empfangen wir als Bedürftige, als solche, die noch einer immer nähern und innigeren Verbindung mit dem, von dem alles Heil kommt, fähig sind, als solche, die | noch bedürfen durch seinen Geist geläutert und gereinigt zu werden. Was wir aber geben, das geben wir aus seiner Fülle, kraft dessen, daß wir fühlen, daß die Säfte des Weinstocks schon den Reben durchdrungen haben, daß die Kraft des göttlichen Geistes die Sünde in uns schon überwunden hat, daß die Wahrheit frei gemacht hat unsere Kräfte, die früher auch nicht der Wahrheit, sondern der Sünde und der Lüge dienten. Darum ist Geben seliger denn Nehmen, weil Geben ein Zeichen davon ist, daß wir mit dem Herrn Eins geworden sind. Um aber des Gebens immer mehr fähig zu werden, so laßt uns nicht aufhören aus seiner Fülle zu nehmen Gnade um Gnade. Amen.

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[Liederblatt vom 22. Juni 1823:] Am 4. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Mein Vater, zeuge mich [1.] Mein Heiland, bilde du mich ganz nach deinem Bilde / Und schaffe selbst in mir die neue Kreatur; / Auf daß ich heilig sei demüthig weis’ und milde, / Und in mir ausgetilgt des alten Menschen Spur. // [2.] Mein Licht, erleuchte mich, führ mich in alle Wahrheit, / Und bringe meinen Sinn zur rechten Lauterkeit! / Vertreib den Lügengeist durch deines Wortes Klarheit, / Damit ich wacker sei in jedem Kampf und Streit. // [3.] Mein Leben, leb’ in mir, und laß in dir mich leben; / Ich bin ja ohne dich zum Guten gänzlich todt. / Du bist das Lebensbrodt, du kannst mir Nahrung geben / Und laben meinen Geist in aller seiner Noth. // [4.] Mein Hirte, weide mich auf deinen grünen Auen, / Und führe mich zum Quell lebendgen Wassers hin; / Verirrt ich mich von dir in Wüsten voller Grauen: / Dann bringe mich zurück, weil ich dein eigen bin. // [5.] Mein Ein und Alles du, mit dir laß eins mich werden: / So wird mir Alles nichts, du wirst mir alles sein. / Und ist die Stunde da zu scheiden von der Erden: / So geh in Frieden ich zu deinen Freuden ein. // Nach dem Gebet. – Mel. In dich hab’ ich gehoffet etc. [1.] Ich freue mich mein Gott in dir / Du bist mein Trost, was könnte mir / Bei deiner Liebe fehlen? / Gehörst du mir, und bin ich dein; / Was mangelt meiner Seelen? // [2.] Du hast mich von der Welt erwählt / Und deinen Kindern zugezählt; / Mag doch die Welt mich hassen! / Du denkest meiner gnadenvoll, / Und wirst mich nicht verlassen. // [3.] Du trägst mich liebreich mit Geduld, / Vergiebst in Christo mir die Schuld, / Wenn ich aus Schwachheit fehle. / Du giebst an seinem Heil mir Theil, / Und tröstest meine Seele. // [4.] Du bist mein Leben Trost und Licht / Mein Fels und Heil, drum frag ich nicht / Nach Himmel und nach Erden. / Herr, nichts ist ohne dich für mich / Im Himmel und auf Erden. // [5.] Du bist mein allerhöchstes Gut, / Auf dem mein ewges Wohl beruht; / In dir leb’ ich zufrieden. / Hier bleib ich so wie dort von dir / In Liebe ungeschieden. // [6.] Du segnest mich, wenn man mir flucht; / Und wer mich zu verderben sucht, / Dem wird es nicht gelingen. / Denn du, Herr, stehst mir kräftig bei / Daß ich kann frölich singen. // [7.] Du läßt mirs ewig wohlergehn; / Einst werd ich dich noch näher sehn, / Du Urquell reiner Freuden. / Dann wird an dir sich ewiglich / Die sel’ge Seele weiden. // [8.] Kein sterblich Aug’ hat je gesehn, / Was dort uns Gutes soll geschehn; / Doch harr’ ich des im Glauben. / Dort ist die Herrlichkeit mein Theil, / Die soll mir niemand rauben. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt ich meinem etc. Weil denn ohne Ziel und Ende / Vater deine Gnaden sind / O so heb’ ich meine Hände / Zu dir auf, erhör dein Kind! / Vater Vater, du wollst geben, / Daß ich Seel und Leib dir weih, / Daß ich ganz dir eigen sei / Hier und in dem bessern Leben. / Heilig, heilig, heilig ist / Er der sein wird, war und ist. //

Am 29. Juni 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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5. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,29–34 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 68–84; Andrae Keine Nachschrift; SAr 55, Bl. 24v–30v; Saunier, in: Schirmer Nachschrift; SAr 62, Bl. 33r–37r; Woltersdorff Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Punkt II.3.I.)

Am 5. Sonntage nach Trinitatis 1823. Tex t. Joh. 1, 29–34. Des andern Tages siehet Johannes Jesum zu ihm kommen und spricht, Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Dieser ist es, von dem ich gesagt habe, Nach mir kommt ein Mann, welcher vor mir gewesen ist, denn er war eher denn ich. Und ich kannte ihn nicht; sondern auf daß er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Und Johannes zeugte und sprach, Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht, aber der mich sandte zu taufen mit Wasser, derselbige sprach zu mir, Ueber welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem heiligen Geist tauft. Und ich sah es und zeugte, daß dieser ist Gottes Sohn.

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M. a. Fr. Das ist das zweite Zeugniß, welches Johannes der Täufer ablegt von Jesu von Nazareth, das erste aber, worin er | ihn wirklich nennt und persönlich bezeichnet. Das frühere hatte er abgelegt denen, die zu ihm gesandt waren von dem hohen Rath von Jerusalem, um auf der einen Seite eine falsche Schäzung seiner selbst zu vermeiden, auf der andern aber sie auf den Inhalt der Botschaft, mit welcher Gott ihn beauftragt hatte, so viel es in seinen Kräften stand aufmerksam zu machen, und ihnen denselben ans Herz zu legen. Damals hatte er Jesum schon getauft und wußte, wie wir aus unserm heutigen Texte sehen, daß er es sei, von welchem er zeugen sollte; aber er war damals nicht zugegen, und so nannte ihn Johannes auch 16–17 Vgl. Joh 1,24–27

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nicht; des andern Tages aber, wie unser Text erzählt, sieht er ihn zu sich kommen, und da legt er nun dieses Zeugniß ab. Indem nun die verlesenen Worte theils das Zeugniß des Johannes selbst enthalten, theils aber auch uns das bemerklich machen, worauf es beruht: so ist es billig, daß wir mit dem leztern anfangen, um uns dadurch das erstere desto deutlicher und verständlicher zu machen. Wir wissen aus den Erzählungen anderer Evangelisten, daß Johannes, der Sohn des Zacharias, in der Wüste war; und da geschah das Wort des Herrn zu ihm, er solle hingehen und allem Volke predigen, daß sie Buße thäten, weil das Reich Gottes nahe herbei gekommen sei. Das war also der Inhalt des Auftrages, den Gott ihm gab, und den er von Stunde an erfüllte. Nun wußte er auch aus den Stimmen der alten Propheten und aus der Art, wie diese schon seit langer Zeit von allen verständigen unter dem Volke waren ausgelegt worden, daß das Reich Gottes gestiftet werden sollte durch einen besondern Gesandten Gottes. Wie nun aber der Auftrag Buße zu thun, weil das Reich Gottes nahe herbei gekommen war, an das damals lebende Geschlecht sollte gerichtet sein: so mußte daraus dem Johannes von selbst hervorgehen, daß noch unter dem da|mals lebenden Geschlecht dieser Gesandte Gottes, der das Reich Gottes begründen sollte, auftreten werde. Das also wußte er aus dem Inhalt des Wortes Gottes, welches an ihn ergangen war; wer es aber sei, das wußte er nicht; denn er sagt es selbst in dieser Rechenschaft, die er von dem ganzen Hergang seiner Ueberzeugung seinen Jüngern, zu welchen er redet, giebt, Ich kannte ihn nicht, aber damit er offenbar würde in Israel, darum bin ich gekommen zu taufen mit Wasser. Diese bestimmte Erwartung, daß noch unter dem damaligen Geschlecht der Erlöser auftreten sollte, mit dieser Unbekanntschaft in Absicht auf seine Person, erinnert uns an jenen alten Diener Gottes, der zuerst den Erlöser bei seiner Darstellung im Tempel bewillkommnete. Dieser war auch, wie viele fromme in Israel damaliger Zeit, voll von der Erwartung, daß die Tage der Verheißung kommen, und daß bald der Gesandte Gottes erscheinen werde, der die Welt erlösen würde und das Volk zu seiner ursprünglichen Bestimmung wiederbringen. In dieser Ueberzeugung hatte er sich erbeten von dem Herrn, er möge ihn nicht eher sterben lassen, bis er seinen Gesandten gesehen habe; und darüber war ihm ein Zeichen geworden von Gott, dessen Erfüllung er in dem Augenblikk inne ward, als Maria mit Joseph kam und mit dem Kinde, um es in dem Tempel des Herrn darzustellen, und die Danksagungsgabe für dasselbe zu reichen. Eben so hatte Johannes, wissend, daß der Erlöser, wie er unter dem damaligen Geschlecht aufstehen sollte, lehrend und das Reich Gottes stiftend, schon da sein müsse, auf eben diese Weise hatte auch er Gott gebeten, ihm doch den zu zeigen, auf den er hinweisen solle; und da hatte ihm Gott gesagt, Derjenige, über den du 7–10 Vgl. Mt 3,1–2; Mk 1,4; Lk 3,2–3

27–37 Vgl. Lk 2,25–32

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sehen wirst den Geist Gottes herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem heili|gen Geist tauft. Hier war also dem Johannes auf der einen Seite das Geschäft Christi auf eine eigenthümliche Weise beschrieben, nämlich er sei der, der mit dem heiligen Geist tauft, auf der andern Seite aber war ihm das Kennzeichen dessen gegeben, der dies Geschäft üben werde, nämlich es sei eben der, auf welchem er sehen werde den Geist, nachdem er auf ihn herabgefahren sei, beständig bleiben. Diese Beschreibung von dem Geschäft des Erlösers, m. g. Fr., weiset uns nun auf den Gesammtzustand der Christenheit, die durch ihn geworden ist, hin; die göttliche Verheißung knüpft sich hier gleich an dasjenige an, worauf das ganze Bestehen des Reiches Gottes, welches eben der Erlöser stiften sollte, beruht. Denn, m. g. Fr., was wäre es anders als eine Lehre, wie eben jede andere menschliche Lehre auch ist, ihre Vollkommenheit abgerechnet, was wäre selbst sein Verdienst, welches er sich lebend und sterbend um das menschliche Geschlecht erworben hat, wenn er die Menschen zwar von der Strafe der Sünde und von der Herrschaft der Sünde durch dasselbe befreit hätte, aber er hätte sie nicht getauft mit dem heiligen Geist? Wenig Unterschied wäre dann zwischen dem Evangelio und dem Gesez. Aus dem Gesez kommt die Erkenntniß der Sünde, aber die Kraft die Sünde zu vermeiden kann es dem Menschen nicht geben. Durch den Erlöser wäre dann gekommen die Vergebung der Sünde und die Befreiung aus der Knechtschaft der Sünde; aber hätte uns der Herr nicht mit dem heiligen Geist getauft: so wäre doch die Kraft zu einem göttlichen Leben, welches in der That eins ist mit dem seinigen und aus dem seinigen abstammt, nicht in uns entstanden, und seine Lehre sowol als sein Leiden und sein Tod hätte doch den eigentlichen und lezten Zwekk Gottes mit dem menschlichen Geschlechte nicht erreicht; denn der ist das göttliche Leben der Menschen. Darum bezeichnet nun auch die göttliche Stimme, um der Seele des Johannes, so weit es zu seinem Beruf nöthig war, so weit als es ihm auf der Stufe, die ihm in | diesem Leben möglich gewesen zu erreichen, nüzlich sein konnte und zwekkmäßig, den Erlöser zu bezeichnen, darum bezeichnet sie ihm den Erlöser als denjenigen, der mit dem heiligen Geist taufen werde; und wie er demüthig von sich selbst sagt, er sei nur gekommen mit Wasser zu taufen, und damit bezeichnen will das in sich selbst unzulängliche seines Geschäfts: so beschreibt die göttliche Stimme ihm das Geschäft des Erlösers als dessen, der mit dem heiligen Geist taufen werde, der die Menschen in die ganze Fülle desselben untertauchen und mit demselben durchdringen werde. Damit er ihn nun aber erkennen sollte, wenn er kommen würde, so hatte die göttliche Stimme gesagt, Ueber welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, derselbige ist es, der mit dem heiligen Geist tauft. Wie sich nun Johannes dies gedacht, und was er eigentlich gesehen, davon vermögen wir uns aus seiner Erzählung, wie ausführlich sie

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auch sonst erscheint, kein vollständiges Bild zu machen. Denn wenn er den Geist herabfahren sah vom Himmel wie eine Taube, und doch das eigentliche Zeichen, welches ihm geworden, dies gewesen ist, daß nun der Geist, wenn er auf den Erlöser würde herabgefahren sein, auf ihm bleiben werde: so vermögen wir dies beides nicht zu vereinigen, indem eben jenes Herabfahren vom Himmel wie eine Taube doch nur eine vorübergehende Erscheinung sein konnte und das Bleiben des Geistes nicht ausdrükken kann. Es muß aber etwas da gewesen sein, woran Johannes dies, daß der Geist beständig auf dem Erlöser ruhen würde, erkannt, und worauf er es angewendet hat. Denn das wissen wir, die Ueberzeugung wurde nun durch das Zeichen fest in ihm, daß derjenige, den er eben getauft hatte, der sei, auf den seine ganze Verkündigung hinging. Aber wir können uns wol nicht von diesem göttlichen Kenn|zeichen, das dem Johannes gegeben worden, trennen, ohne unsere Aufmerksamkeit darauf zu richten, wie doch dasselbe scheine das eigenthümlich ausgezeichnete und göttliche in dem Erlöser nicht auf die Weise auszudrükken, wie wir darüber zu reden pflegen, und wie unser Glaube sich darin vollkommen ausspricht. Denn, m. g. Fr., wenn von seiner Geburt an das ewige Wort Gottes mit Jesu von Nazareth vereinigt war, in seiner Person lebte und aus ihm heraus redete und handelte, wie konnte denn er späterhin, als er nun auftreten sollte unter allem Volk, um zu lehren und das Reich Gottes zu verkündigen nicht nur sondern auch zu stiften, wie konnte da erst der Geist Gottes auf ihn herabfahren? Und wenn es unsere innigste Ueberzeugung ist, daß, wie die Apostel des Herrn es auch sagen, die Fülle der Gottheit in ihm wohnte, wie können wir denn davon für eine hinreichende Bezeichnung den Ausdrukk halten, daß der Geist Gottes auf ihm ruhe und auf ihm bleibe, welches ja doch mehr eine äußere Verbindung als eine innere und wesentliche Vereinigung andeutet? Sehet da, m. g. Fr., wie auch hier die göttliche Weisheit auf der einen Seite klar ist und auf der andern unerforschlich. Wir finden hier das ganze Wesen unseres Glaubens an den Erlöser nicht ausgedrükkt; und doch wenn wir uns fragen, ob wir etwa durch dieses Wort, welches Johannes als ein an ihn ergangenes Wort Gottes hinstellt, uns veranlaßt finden sollten, unsern Glauben an den Erlöser seinem Inhalte nach zu verringern und zu glauben, daß vielleicht seine Jünger zu viel von ihm gesagt haben möchten, daß die Fülle der Gottheit in ihm gewohnt habe, wenn sie sagten, daß in seiner Person das ewige Wort Gottes selbst Fleisch geworden sei und menschliches Wesen an sich genommen habe: so werden wir gewiß dies alle verneinen, und unser Glaube wird fest und unerschütterlich und unverkürzt bleiben. Was uns nun dabei klar ist, das ist dies: daß, wie Gott der Herr ja überhaupt das menschliche Geschlecht von | einer Stufe zur andern führt, 24–25.35–36 Vgl. Kol 2,9

37–38 Vgl. Joh 1,14

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und ein göttlicher Rathschluß, der in der Zeit erfüllt werden soll, auch nicht anders als nach der Weise der Zeit und allmälig erfüllt werden kann, wir hier in der Erkenntniß, die dem Johannes von dem Erlöser mitgetheilt worden, noch nicht die vollkommene Erkenntniß seiner göttlichen Person finden, sondern gleichsam den Uebergang von dem, was auch schon in den Zeiten des alten Bundes von dem geglaubt wurde, der da kommen sollte, zu demjenigen, was nur denen aufbehalten war zu glauben, die ihn wirklich geschaut hatten, und mit ihm aus- und eingegangen waren von dieser Zeit an bis dahin, wo er von der Erde hinweggenommen wurde. Laßt uns bedenken, was der Herr selbst von Johannes dem Täufer sagt, er sei zwar der größte unter den Propheten, und keiner im alten Bunde größer als er, weil nämlich da die höchste und größte Bestimmung nur die war, auf den Erlöser hinzuweisen, keinem aber vergönnt wurde, dies so unmittelbar zu thun, ja mit der Kenntniß seiner Person zu thun, als eben dem Johannes. Aber indem er zugleich sagt, der kleinste im Reiche Gottes sei größer als Johannes, wie können wir dies anders verstehen als eben so, daß, weil wir wissen, daß wir unsere Stelle im Reiche Gottes, unser Erbe und unsern Besiz in demselben durch nichts anderes haben als durch unsern Glauben an den Erlöser, auch Johannes diesen Glauben, wie wir ihn in uns tragen, nicht gehabt hat, und eben deshalb der kleinste im Reiche Gottes größer sei als er, wiewol auch wiederum er eine vollkommnere Erkenntniß hatte als alle Propheten vor ihm gehabt haben. Denn das war in den Zeiten des alten Bundes das höchste, was man von menschlicher Vortrefflichkeit und von göttlicher Begnadigung gegen eine menschliche Seele wußte und sich denken konnte, daß bisweilen in Augenblikken, wo es noth that, und wo Gott sich wieder durch einen neuen Strahl seines | ewigen Lichtes unter dem menschlichen Geschlechte verherrlichen mußte, er sich alsdann ausersah eine besonders reine kräftige ihm geweihte Seele, an welche dann sein Wort erging für ein bestimmtes Geschäft und zu einer bestimmten Stunde, und über welche dann sein Geist kam, aber nur um dieses Geschäft zu vollbringen, und auf so lange Zeit als es dauerte; war aber die Stunde der Begeisterung vorüber, war das Wort der Lehre, der Warnung, des Trostes, der Vorherverkündigung geredet; hatte sich die begeisterte Seele auf diese Weise ergossen in Worten, die andere Seelen wieder anregen und erwekken konnten: so wich der Geist wieder von dem Menschen, und er unterschied sich nicht weiter von allen andern Menschen als eben durch das, was ihn fähig gemacht hatte von dem göttlichen Geiste ergriffen zu werden. War nun dies, m. g. Fr., das höchste, was man sich in jenen Zeiten von der Erhebung der menschlichen Seele und von ihrer Vereinigung mit Gott denken konnte, so konnte auch nur nach diesem Maaßstabe dem Johannes eine Erkenntniß des Erlösers mitgetheilt werden: 15–16 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28

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nur durch die Vergleichung mit jenen Mittheilungen des göttlichen Geistes an die Propheten konnte ihm der Erlöser kenntlich gemacht werden, und diese Vergleichung konnte nicht anders ausfallen, als die göttliche Stimme sie ihm an die Hand gab, nicht könne der Geist Gottes über den Erlöser kommen für einen bestimmten Augenblikk, oder zu einem bestimmten Geschäft, sondern er ruhe auf ihm, und nur eine solche beständige Begeisterung der Seele des Erlösers von oben her, das war es, woran Johannes sie erkennen sollte, das war der höchste Begriff, den er fähig war sich von dem Erlöser zu machen. Woher nun aber, m. g. Fr., ist es den Jüngern des Herrn selbst, von denen wir doch nicht sagen können, daß sie an und für sich einen höhern Werth gehabt hätten als dieser edle Vorläufer des Erlösers, von denen wir nicht sagen können, daß sie ein höheres Maaß von Weisheit und Tugend schon vorher gehabt hätten, woher ist es diesen gekommen, daß sie eine weit in|nigere und tiefere Erkenntniß von dem Erlöser gewannen, und ihr Glaube etwas anderes war als das, was dem Johannes offenbart worden? Woher ist es diesen gekommen, daß sie in ihm erkannten das Fleisch gewordene Wort, daß sie in ihm erkannten die ewige Herrlichkeit des ewigen Abbildes vom Vater? Dies, m. g. Fr., haben sie nicht anders gewinnen können als eben durch die unmittelbare Wirkung, die der Erlöser selbst auf sie hervorgebracht hatte durch seinen Umgang mit ihnen, durch seine Reden an sie und durch sein Leben vor ihren Augen. Dem Johannes erschien er in einem vorübergehenden Augenblikk als einer von denen, die da kamen um sich auf das Bekenntniß, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, und daß ein jeder sündige Mensch Buße thun müsse um in dasselbe einzugehen, taufen zu lassen; und indem er aus dem Wasser hervorstieg und betete: da bekam Johannes das Zeichen, wodurch ihm deutlich wurde, der, über den er eben das Wasser des Jordans ausgegossen habe, der sei derjenige, der nicht nur mit Wasser taufe, sondern mit dem heiligen Geist. Aber eben so schnell ging der Herr an ihm vorüber; und wenn er auch noch in den wenigen Tagen, wo, wie der Evangelist Johannes erzählt, Jesus in dieser Gegend, wo er sich hatte taufen lassen, wandelte, wenn auch in diesen Tagen Johannes der Täufer ihn mehrmals gesehen und mit ihm geredet hat: so war dies doch nur eine kurze Zeit, nicht geeignet für den Erlöser dem Johannes einen gründlichen Aufschluß über sein eigenthümliches Wesen und über sein Verhältniß zu dem himmlischen Vater zu geben, und ihn, der unmittelbar auf die neue Ordnung der Dinge, die durch den Erlöser gestiftet werden sollte, hingewiesen hatte, aus einem solchen, welcher der größte war im alten Bunde, zu verwandeln auch nur in den kleinsten im Reiche Gottes; sondern ihm war es beschieden auf der Stufe stehen zu bleiben, auf welcher er sich in | Rükksicht seines innersten geistigen Lebens 17–19 Vgl. Joh 1,14

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befand; es war ihm beschieden nach dem ewigen Rathschlusse Gottes, der unerforschlich zwar, aber nothwendig über ihn waltete und in den ewigen Gesezen, nach denen Gott das ganze menschliche Geschlecht und jede einzelne Seele leitet, gegründet war. Ja wir müssen gestehen, daß ein solcher Unterschied bestehen sollte zwischen dem, der, weil er dem Erlöser so nahe stand und unmittelbar auf ihn hinweisen konnte, der größte war in der Reihe derer, denen die Gabe der Weissagung von Gott verliehen war, und zwischen denen, die auf dem Grunde des Glaubens an denjenigen, der von oben gekommen war um das Reich Gottes zu stiften, in dasselbe eingingen, freilich nur durch die Wirkung seines Geistes. Denn wenn er in den Seelen der gläubigen nicht etwas höheres hervorgebracht hätte, und was auf eine andere Weise in ihnen wirken und die lebendige Triebfeder ihres Lebens werden sollte, als was die Seele des Johannes erfüllte: so wäre er nicht der gewesen, welcher er war. Darum mußte der himmlische Vater ihn auf eine solche Weise verherrlichen bei seiner Taufe, daß doch der kleinste im Reiche Gottes immer noch mehr war als Johannes, dem er dieses Zeichen gegeben hatte. Wenn nun aber Johannes eben deswegen, weil ihm Jesus war offenbart worden als derjenige, dem da gegeben sei mit dem heiligen Geist zu taufen, von ihm zeugte, daß er sei der Sohn Gottes: so ist uns dies ein neuer Beweis von der Vieldeutigkeit dieses Ausdrukks, der in den Zeiten des alten Bundes auf mancherlei Weise verstanden und auch gebraucht wurde. Denn wenn Johannes den Erlöser Sohn Gottes nennt, so dürfen wir doch nicht glauben, daß er ganz dasselbe darunter verstanden habe, was die ersten Jünger des Herrn und die, denen sie das Wort verkündigten, darunter verstanden, und was auch wir noch darunter begreifen, und was der Glaube der Christen, so lange er auf Erden bestehen wird, darunter verstehen wird, eben weil seine | Kenntniß von dem Erlöser unvollkommen war und in die Zeiten des alten Bundes gehörte, nicht aber in die des neuen. Aber das, m. g. Fr., ist nun wieder das schöne und herrliche in dem Johannes, daß, so wie er die Gewißheit aufgenommen hatte, wer der war, den er so eben getauft hatte, er sie nicht für sich selbst behielt, sondern zeugte, dieser sei eben der Sohn Gottes. In seinem ersten und ursprünglichen Auftrage lag das nicht, denn er hatte diesen schon eine geraume Zeit, wie wir wenigstens vermuthen dürfen, ausgeübt, ehe auch Jesus kam unter allem Volk, um sich von ihm taufen zu lassen, und ehe er den kennen lernte, der mit dem heiligen Geist zu taufen berufen war; in seinem ersten Auftrage lag es nicht; aber er machte sich kein Bedenken daraus, nachdem ihm diese Erkenntniß durch eine besondere Gnade Gottes geworden war, sie seinem Zeugnisse hinzuzufügen. Nicht überall, denn namentlich hat er auch am vorigen Tage denen, die von dem hohen Rath zu Jerusalem zu ihm gesandt 40–1 Vgl. Joh 1,26–27

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waren, den Erlöser nicht bezeichnet als den Sohn Gottes, sondern nur da that er es, wo er es für gut hielt. Sehet da, m. g. Fr., eine herrliche und der christlichen Weisheit würdige Regel, die wir uns nehmen können aus dem Betragen des Johannes. Keine göttliche Wahrheit, keine Spur des Lichtes, die ihr gegeben wird von oben, empfängt eine menschliche Seele um sie für sich behalten zu sollen; sondern so wie sie in dem innern lebendig geworden ist, so treibt und drängt sie sich heraus und will äußerlich erscheinen in der Welt, und wir können sie nicht festhalten, wir können nicht glauben, sie auf eine würdige Weise zu besizen, wenn wir nicht ein Zeugniß von ihr ablegen. Aber wie wir nicht Vertheiler sind der göttlichen Gaben, sondern Haushalter, so steht auch uns wohl an, was Johannes hier that, der diese zu dem ursprünglichen an ihn ergangenen Auftrage Gottes hinzukommende Erkenntniß allerdings seinen Freunden und Jüngern, die am meisten mit ihm umgingen und am tiefsten in seine Denkweise eingeweiht waren, mittheilte, | aber nicht allen ohne Unterschied, die zu ihm hinauskamen in die Wüste, auf daß die Gabe Gottes nicht verunehrt würde. Nicht, m. g. Fr., als ob wir nun gleichsam so bestimmte einzelne Kreise unter den Menschen, auf die wir wirken sollen, ziehen wollten, und als ob wir irgend einen Theil der Weisheit und des Lichtes, die uns durch die göttliche Gnade geworden sind, absichtlich auf einen kleinen Kreis von Menschen einschränken, andere aber davon ausschließen und bei jeder Veranlassung zur Wirksamkeit auf sie von ihnen sagen wollten, sie seien nicht fähig oder nicht würdig die göttliche Gabe in sich aufzunehmen; und am wenigsten kann dies gelten in den kleinern und größeren Kreisen der Kirche selbst, wo es keinen Unterschied dieser Art giebt, sondern alle auf gleiche Weise der göttlichen Gnade theilhaftig sind, und indem Christus sie alle Brüder nennt, auch alle sich gleicher Rechte vor ihm sich zu erfreuen haben. Aber doch sagt der Erlöser zu seinen Jüngern, sie sollten die Perlen nicht vor die Säue werfen, und doch giebt es ein Haushalten mit den göttlichen Gaben, welches ein Abglanz ist von der Weisheit, mit welcher Gott das menschliche Geschlecht leitet, wie sie in der menschlichen Seele nur wohnen kann. Aber wenn wir nun ein Zeugniß ablegen sollen und uns gedrungen fühlen, die Wahrheit, von der unsere Seele erfüllt ist, zu verkündigen: so können wir keine andere Absicht dabei haben als die, welche aus der Liebe hervorgeht, nämlich, daß die Menschen auch empfangen sollen, was wir ihnen zu geben bereit sind. Mit allen Gaben Gottes geht es so, daß wenn der Mensch sie unwürdig empfängt, so empfängt er sie sich selber zum Gericht. Darum ist mit dem Triebe die Wahrheit zu verkündigen in der Seele der Christen verbunden eine heilige Scheu alles dasjenige zu verhüten, was im Widerspruch sein könnte mit dem göttlichen Geist, der sie in 29–30 Vgl. Mt 7,6

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ihm hervorgerufen hat, und darum geben wir sie nicht | allen unsern Brüdern ohne Unterschied, zu jeder Zeit und unter allen Verhältnissen, sondern nur nach dem Maaße der Empfänglichkeit, welches wir in ihnen finden, nicht um sie ihnen vorzuenthalten, sondern um sie allmälig von einer Stufe der Erkenntniß zur andern zu erheben und sie glauben zu machen, daß sie einer immer innigeren Vereinigung mit dem Herrn fähig sind, nicht um sie auszustoßen von der Gemeinschaft der himmlischen Güter, die uns der Erlöser gebracht hat, sondern um sie desto sicherer auf dem Wege der allmäligen Erkenntniß und der ruhigen Ueberzeugung zu demjenigen hinzuführen, was ihnen allen eben so wie uns das höchste und theuerste sein soll, und worin wir immer deutlicher den Herrn erkennen müssen, der uns und allen Christen zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und Seligkeit geworden und ihnen so gut wie uns vom Himmel gesendet ist. Aber zulezt laßt uns noch sehen, wie Johannes sein Zeugniß einrichtete, und wie er den Erlöser bezeichnete. Die Stimme Gottes hatte ihm gesagt, Der, auf welchen du sehen wirst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist es, der mit dem heiligen Geist tauft; Johannes aber, indem er seinen Freunden Jesum kenntlich machen will, so sagt er, Siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Wie stimmt denn dieses beides mit einander, und wie ist eben dieses Zeugniß des Johannes ein Abdrukk von demjenigen, was ihm die göttliche Stimme über den Erlöser gesagt hatte? Wenn ein anderer Apostel des Herrn, m. a. Fr., von dem Erlöser sagt, Wir haben auch ein Osterlamm, nämlich Christum für uns geopfert: so wird in diesen Worten der Erlöser auch ein Lamm genannt und damit verglichen, aber das hat den Grund, weil der Herr sein heilsames Leiden angetreten hatte und vollendete in dieser Zeit der größern Feste, welche sein Volk alljährlich feierte. Das aber wußte Johannes nicht, denn eine | solche genaue Kenntniß von demjenigen, was dem Erlöser begegnen würde, haben wir nicht Ursach ihm zuzuschreiben, ja die Folge zeigt deutlich, daß ihm diese Kenntniß gemangelt hat. Was meint er also, wenn er den Erlöser das Lamm Gottes nennt, und von ihm sagt, daß er die Sünde der Welt trage? In dem leztern, m. g. Fr., möchten wir vielleicht sagen, daß ihm eine Ahndung vorgeschwebt habe von dem Wege, den der Erlöser werde zu gehen haben, sei es nun, daß sie aus seiner eigenen Seele gekommen, oder daß er sie aus eines anderen Gefühl für den Erlöser, indem er ihn für den erkannte, der mit dem heiligen Geist tauft, verkündigt hat. Aber dadurch wird das erstere nicht bestimmt, denn das Opfer, welches die Sünden des Volks trug, war kein Lamm; von einer solchen Vergleichung also war Johannes nicht ausgegangen. Was bleibt uns also übrig, als daß es ein Zeugniß sei von 11–12 Vgl. 1Kor 1,30

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dem Eindrukk, den die ganze Person des Erlösers, wie sie sich in seine Seele eingrub, auf ihn gemacht hatte. Das milde, das freundliche, das liebende, das duldende, das war der Eindrukk, den seine Person in ihm hervorbrachte, und darum, indem er zugleich jene Tiefe und Milde in ihm erkannte, so sagt er, Das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt. Den Geist sah er vom Himmel herabfahren in der Gestalt einer Taube, der Erlöser erschien ihm als das Lamm Gottes, tragend die Sünde, beides mit einander übereinstimmend, aber beides auch ihm selbst fremd. Er war der strenge und trauernde, in der Wüste lebend, von der Gesellschaft der Menschen sich zurükkziehend, dürftige Speise genießend, ärmlich gekleidet, mit strengen Worten hohe und niedrige, reiche und arme anredend, daß dem Baume die Axt schon an die Wurzel gelegt sei, und daß jeglicher Baum, der nicht gute Früchte bringe, abgehauen würde und ins Feuer geworfen; mit bitterm Tadel diejenigen | scheltend, welche die Lehre von dem heilbringenden Reiche Gottes nicht annehmen, und entweder selbst glauben oder das Volk Gottes glauben machen wollten, daß die, welche vom Saamen Abrahams wären, nicht Buße thun dürften, um in dasselbe einzugehen. So streng war er selbst; aber der Geist des neuen Bundes erschien ihm dem strengen in einer milden und freundlichen Gestalt; der Stifter des neuen Bundes, der König und Herr des Himmelreichs, der stellte sich ihm in dem ersten Eindrukk, den seine Person auf ihn machte, dar als das Lamm Gottes. O, m. g. Fr., laßt uns auch darin die ewige Weisheit und die unergründliche Tiefe der göttlichen Gnade erkennen. Will sie den Menschen erleuchten, will sie ihn auf einen höheren Standpunkt erheben, als worauf er bis dahin gestanden hat: so stellt sie ihm dasjenige als das höchste und herrlichste dar, was seiner eigenen Beschaffenheit und seinem eigenthümlichen Streben das fernste und fremdeste ist. Das ist die Art, wie die göttliche Gnade dem Menschen seine Einseitigkeit, seine Schwächen vorhält und zum Bewußtsein bringt; das ist die Art, wie sie ihm alles göttliche und selige des Reiches Gottes darstellt als das höchste, würdig seiner Sehnsucht und seines Strebens, was er aber durch sich selbst nicht erreichen kann, sondern wohin er erst durch die Hand der göttlichen Gnade muß geleitet werden. Wie wahr nun aber die Beschreibung ist, die Johannes von dem Erlöser macht, wie richtig sein einfältiges Auge den Eindrukk seiner Person aufgenommen hat, das lehrt uns das ganze folgende Leben des Erlösers. Denn das war die Milde des Herrn, mit welcher er die mühseligen und beladenen zu sich rief, um sie zu erquikken, das war die Milde des Herrn, mit welcher er auch die Zöllner und Sünder nicht verschmähete, wenn sie sich ihm 9–11 Vgl. Mt 3,1.4; Mk 1,4.6 Mt 11,28

11–18 Vgl. Mt 3,7–10; Lk 3,7–9

37–38 Vgl.

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naheten, das war die Milde des Herrn, mit welcher er nicht wieder schalt, da er gescholten ward, | und durch sein ganzes öffentliches Leben hindurch den Weg zur Schlachtbank ging, wie ein Lamm. So hat Johannes ihn erkannt in dem ersten Augenblikk, wie wir ihn erkennen aus seinem ganzen Leben, wie es in den Erzählungen seiner Jünger von ihm vor unsern Augen liegt; so sehen wir das Bild, in welchem wir den Erlöser am liebsten anschauen, immer darauf uns zurükkführen, daß der Geist, mit welchem er uns getauft hat, auch ein Geist der Milde ist, daß nur auf dem Wege der Geduld mit allen menschlichen Schwächen und der Milde gegen die Vergehungen unserer Brüder, die mit uns einen Herrn und Meister verehren, daß nur auf diesem Wege auch wir die Milde verstehen können, mit welcher der Erlöser als das Lamm Gottes einherging, daß auch wir nur ein rechtes Zeugniß im Geist und in der Wahrheit von ihm ablegen können, wenn wir eben so mild und freundlich wie er ihm nachfolgen auf dem Wege der Beglükkung und Befreiung derer, die noch in dem Schatten des Todes sizen, daß auch wir sein Reich auf Erden nur fördern können, indem wir ihn ansehen als das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt trägt. Ist nun der Herr so mild und freundlich schon dem Johannes erschienen, und ist dies das Bild, in welches sich alle gläubigen so gestalten sollen, daß ihr ganzes Dasein nichts anderes ist als ein treues Abbild von dem Urbilde der Vollkommenheit, welches in ihm erschienen ist: so laßt uns auch diese Betrachtung uns gesegnet sein; laßt uns alles, was noch seiner göttlichen Milde in uns widerstrebt, aus unserer Seele vertilgen; laßt uns eben so, wie von ihm gerühmt wird, er habe kein Gezänk erregt und keinen Hader, noch habe man sein Geschrei auf den Gassen gehört, eben so still und mild wie er wirken, aber auch eben so ausgerüstet mit seiner Kraft, eben so wenig im Stande zu weichen von dem Beruf, den uns der Herr gegeben hat; | laßt uns mit voller Lust und mit allen Kräften danach trachten, sein Reich zu fördern, und im Streite mit dem Reiche der Finsterniß uns wie er vom bösen nicht überwinden zu lassen; sondern das böse mit gutem zu überwinden. So werden wir dem Lamme Gottes nachgehen und seine Freunde heißen und seine Milde immer mehr erfahren, aber auch auf diesem Wege immer mehr frei gemacht werden durch den Sohn, der allein uns frei machen kann. Amen.

1–3 Vgl. Jes 53,7; 1Petr 2,23 33–34 Vgl. Joh 8,36

24–25 Vgl. Mt 12,19

29–31 Vgl. Röm 12,21

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Am 6. Juli 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 4,18–20 Nachschrift; SAr 104, Bl. 62r–73r; Andrae Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 47–55 (Textzeugenparallele; Vorlage in: FHDS 34, 103/5 [Bl. 1r–13r]) Nachschrift; FHDS 34, 103/5 [Bl. 1r–13r]; Andrae Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am sechsten Sonntage nach Trinitatis 1823. am sechsten Heumonds. |

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Tex t. Matth. IV, 18–20. Als nun Jesus an dem Galiläischen Meer ging, sahe er zween Brüder, Simon, der da heißt Petrus, und Andream, seinen Bruder; die warfen ihre Netze in das Meer, denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folget mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen. Bald verließen sie ihre Netze, und folgten ihm nach. Mit diesen Worten, m. g. F., rief unser Herr und Erlöser zween seiner Jünger, welche er schon vorher kurz nach seiner Taufe hatte kennen lernen unter den Jüngern des Johannes, und die ihn schon damals erkannt hatten für den, den sie und alles Volk erwarteten, mit diesen Worten rief er sie auf zu derjenigen nähern Verbindung mit ihm, in welche sie von dem Augenblick an traten, um als seine Gehilfen und seine Diener an dem Werke der Erlösung zu arbeiten: „Folget mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen.“ Aber es war dies nicht etwa nur der Beruf der Apostel des Herrn, es war nicht etwa nur der Beruf der Christen jener Zeit; sondern es ist der allgemeine aller Jünger des Herrn zu allen Zeiten. Nicht, m. g. F., um Klage zu erheben über den gegenwärtigen Zustand der Menschen in dem | Reiche der Gnade, nicht dazu haben wir vorher mit einander gesungen, wie klein noch immer die Heerde des Herrn erscheine, und wie vieles von allen Seiten es gäbe, was die Menschen von der Gemeinschaft mit ihm zurückhält und verblendet gegen das Heil, welches sie in ihm finden können; sondern um uns selbst zu erinnern wie auch wir alle an denselben Ort gestellt sind, den die Apostel des Herrn einnahmen, wie auch an uns alle derselbe Beruf ergangen, und es auch unser heiligstes Geschäft und die von ihm uns er-

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theilte Bestimmung ist die Seelen ihm zuzuführen und bei ihm zu erhalten. Dieses m. g. F., als den allgemeinen Beruf und die Bestimmung aller Christen laßt uns jetzt näher mit einander betrachten; indem wir zuerst auf diesen Beruf an und für sich sehen, dann aber auch zweitens auf das Verhältniß zu dem allgemeinen irdischen Beruf der Menschen, welches sich ebenfalls in der Erzählung unseres Textes entfaltet.

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I. Zuerst also, m. g. F., es ist eben deswegen, weil das Werk des Herrn immer noch fortgeht, weil auch jetzt noch die Menschen keinesweges | etwa schon in der heilsamen Gemeinschaft mit ihm geboren werden, sondern erst zu derselben und zu ihrem wahren Genuß gelangen können, nachdem sie sich, wie dies das Geschick aller menschlichen Seelen auf Erden ist, nachdem sie sich verirrt haben, und den Weg der Sünde gegangen sind, wie eben deswegen es noch jetzt die allgemeine Bestimmung aller Christen ist, die Seelen zu sammeln und zu verknüpfen dem Herrn, sie gleichsam zu fangen in dem Netze des göttlichen Wortes, und zu locken durch die Stimme der Liebe des Erlösers, die ihnen überall und durch jeden, der sich seiner Gnade erfreut, zuruft: so laßt uns bedenken, wie auch dies ein Beruf ist, der uns anders nicht als nur dadurch, daß der Mensch sich aus seinem ursprünglichen Zustande verirrte, und daß der Herr kam um ihn zu erlösen, möglich ist, zugleich auch etwas Herrlicheres in sich schließt als alles, was ohne dieses den Menschen auf Erden hätte werden können. Mögen wir nun auf den großen Umfang dieser unserer höhern Bestimmung sehen, oder auf | den geistigen und herrlichen Inhalt: beides zeigt sich als etwas Größeres und Herrlicheres als jemals dem Menschen ohne die Sünde und ohne die Erlösung würde möglich gewesen sein. Als der Herr den Menschen geschaffen hatte, da sagte er zu ihm: er habe ihn gesetzt zum Herrn der Erde, auf dieser solle er fruchtbar sein und sich mehren, und sich alles unterwerfen, was außer ihm auf derselben gemacht sei. Und das m. g. F., in Unschuld und Gerechtigkeit wäre der gemeinsame Beruf aller Menschen geblieben, wenn die Sünde nicht dazwischen getreten wäre. Wie aber etwas Großes und Herrliches die Herrschaft des Menschen über die Erde sei, das erkennen wir alle, und erfreuen uns dessen innig, und nehmen es allewege mit zu dem Preise des Herrn, der durch uns ihm bereitet wird, wenn immer mehr das menschliche Geschlecht sich alle irdischen Kräfte unterwirft, wenn immer mehr die Menschen auf eine verständige Weise sich das aneignen, daß ihnen gegenseitig alles zu Gute kommt durch brüderliche Gemeinschaft, was der Herr von gemeinsamen Gütern auf Erden zerstreut und verbreitet hat. Und nicht nur, m. g. F., das Verkehr der | Menschen mit den 26–29 Vgl. Gen 1,28

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irdischen Dingen gehört zu dieser Erfüllung seines ursprünglichen Berufs auf Erden, sondern allerwege auch die Ausbildung seiner geistigen Kräfte; denn wenn diese nicht ausgebildet werden, wenn diese sich in ihrer Ausbildung nicht unterstützen: so bleibt er ein Knecht der Dinge, und allen den Zufällen unterworfen, über welche er durch die Kraft des Geistes herrschen soll. Aller thätige Einfluß also, den Einer auf den Andern ausüben kann, um diese Kraft des Geistes zu entwickeln, der würde beständig zu dem Beruf der Menschen auf Erden gehört haben, und jeder Verein der Menschen unter sich wäre immer eine solche Gemeinschaft heilsamer Bestrebungen und edler Güter geblieben. Aber freilich, wie der Herr vorher versehen hatte, daß die Geschlechter der Menschen auf Erden wohnen sollten, so wäre jedes durch Sprache und Sitten immer verbunden geblieben, wie auch jetzt jedes Volk für sich verbunden ist zum Behuf dieses ursprünglichen Berufs auf Erden, und nur sparsam würden die Bande gewesen sein, welche die Völker verknüpften, nur die | Befriedigung der Neugierde und des Wissens des menschlichen Geistes hätte Einzelne aus dieser engen Gemeinschaft herausgerissen, um zu schauen, was anderswo der Herr auf Erden Großes und Herrliches vertheilt hat. Aber das Reich Gottes, grade so wie es der Herr beschreibt in einem Gleichniß, hergenommen von dem Geschäft, in welchem er seine Jünger abrief zu seiner Nachfolge, umfaßt die Seelen aus allen Völkern, aus allen Zeiten, aus allen Geschlechtern, und bindet sie in eine große Gemeinschaft, die keine andern Grenzen kennt als die der menschlichen Natur und des menschlichen Geschlechtes selbst. Eine solche aber, m. g. F., war nicht gekannt auf Erden ehe der Herr kam, und kein Grund wäre gewesen, sie zu stiften, wenn nicht erst die Sünde den Menschen erniedrigt hätte und herabgewürdiget, damit von dem einen Punkte aus, in welchem sich das göttliche Wort auf’s innigste mit der menschlichen Natur vereinigte, alle auf’s Neue sich umfassen und verbrüdern könnten. Solche Erweiterung der Liebe, sie ist ein Schatz, dessen wir uns nur durch das Verdienst und durch das Dasein unseres Erlösers, und nur in seiner Gemeinschaft erfreuen können. | Alles, was auf’s Neue dazu beiträgt die Menschenkinder in eine enge Gemeinschaft zusammenzufügen, alles, was aufs Neue strebt die, welche Brüder sind in dem Herrn, von einander zu sondern: o es kann nur überwunden werden durch die Liebe dessen, der da kam, um das ganze menschliche Geschlecht zu beseligen, der das Herz voll trug von der allen genügenden, alle umfassenden und keinen unterscheidenden Liebe. In ihm sind wir fähig gemacht zu der Einen alle Menschen verbrüdernden Liebe, die aber auch keinen geringern Gegenstand haben kann als das Reich der Gnade, als das Reich des Glaubens, der Liebe und der Seligkeit, welches der Herr gestiftet hat. Und wenn er nun also seine Jünger beruft und sendet um ihm die Seelen zuzuführen, um sie in 18–20 Vgl. Mt 13,47–48

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seiner Gemeinschaft zu binden und zusammen zu halten: so ist die Mittheilung dieses Heiles der Zweck, den er dabei hat. O, m. g. F., alle diejenigen, welche durchgedrungen sind von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Lichte, alle diejenigen, welche erfahren haben, daß der Sohn, | dem der Vater gegeben hat das Leben zu haben in sich selbst, dazu auf Erden kommen ist, um die geistig Toten zu erwecken, um den Menschen um zu bilden zu einer neuen Kreatur, die nach Gott geschaffen sei in Gerechtigkeit und Heiligkeit, die wissen es, etwas Größeres kann dem Menschen nicht begegnen, als daß er aufgenommen wird in diesen Bund der Liebe, eine größere Veränderung giebt es nicht, die in der menschlichen Seele vorgehen kann, mehr weiß sich der Mensch nicht aus den hohlen Tiefen seines eigenen zerstörten und elenden Lebens auf einmal in die Fülle des Reichthums zu setzen, in die unmittelbare Nähe des ewigen Wesens, in die Gemeinschaft mit dem ewigen Vater, als wenn er gefangen wird in dem Netze Christi. Dazu, m. g. F., sind wir alle berufen, darum will er, daß wir Eins sein unter einander, wie er mit dem Vater Eins ist, damit wir im Glauben und in der Liebe das Werk, welches er den Seinigen hinterlassen hat, weiter fördern können. Jeder von uns soll dazu beitragen, den Menschen zu zeigen durch die That, zu lehren durch das Wort, daß nur, | was aus dem Herzen kommt, auch wieder zu Herzen gehe, daß es nur die Eine Seligkeit gäbe in der Gemeinschaft mit dem, der Leben, Licht und Unsterblichkeit wiedergebracht hat, daß aber in der Verbindung mit ihm dem Menschen nur eine höhere Seligkeit möglich ist, als der er sich jemals würde zu erfreuen gehabt haben, wenn auch das menschliche Geschlecht in dem Besitz seiner ursprünglichen Kräfte geblieben wäre, aber ohne die höhern, die ihm der Herr gab. Und wahrlich m. g. F., wir dürfen nicht glauben als ob wir dazu auf irgend eine Weise, sei es zu gering wären oder zu ungeschickt, oder im zu niedern Grade begnadigt, und als ob dieser große und herrliche Beruf doch nur der Antheil weniger Auserwählten sein könnte unter den Jüngern des Herrn. O derjenige, m. g. F., der uns allen zugerufen hat, was wir neulich mit einander betrachtet haben: „Gebet, so wird euch gegeben“, der hat dafür gesorgt, daß wir alle empfangen, und daß wir alle des frohen Gefühls voll sein können, was wir nicht durch uns | selbst, aber mit ihm und durch ihn geben können unsern Brüdern. Was waren die Jünger des Herrn, die er zu sich rief, um sie zu Menschenfischern zu machen? Sie waren Fischer, und warfen eben ihre Netze aus. In einem irdischen Beruf begriffen, freilich erfüllt von der Sehnsucht nach einem ewigen Heil, welches sie getrieben hatte zu dem Johannes, der in der Wüste lehrte, daß das Reich Gottes nahe herbei gekommen sei, freilich fähig auch gleich am Anfang in demjenigen, den er ihnen zeigte als das Lamm Gottes der Welt Sünde tragend, die Stil4–5 Vgl. Joh 5,26 über Lk 6,37–38

15–16 Vgl. Joh 17,22 30–31 Vgl. oben 22. Juni 1823 vorm. 38–39 Vgl. Mt 3,1–2 40 Vgl. Joh 1,29

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lung ihrer Bedürfnisse und die Befriedigung ihres Herzens zu ahnden – aber mit weiter waren sie nichts ausgerüstet, und andere Vorzüge hatten sie nicht aufzuweisen – so nahm sie der Herr, wie er sie fand, und das Wort, welches er sprach, es wurde wahr, wie jedes Wort aus seinem Munde wahr geworden ist; von dem Augenblick an, wo sie ihm nachfolgten, wurden sie seine Gefährten in dem Werke der Erlösung, und halfen die Menschen in den Bund des Glaubens und der Liebe hineinbringen. So können auch wir uns dessen getrösten, daß es bei uns nichts weiter bedarf. | Glauben wir an den Herrn, o so haben wir jene Sehnsucht auch in uns nach dem Heil, welches aus uns selbst nicht hervorgehen kann, und nach Befreiung von allen Ketten, mit welchen wir uns gebunden fühlen, und immer auf’s Neue uns selbst binden an das Irdische und Vergängliche, an das Reich der Finsterniß. Glauben wir an ihn, so haben wir in ihm erkannt denjenigen, in welchem die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes wohnt, und wissen, daß wir aus seiner Fülle nehmen können Gnade um Gnade. In diesem Glauben ruft er jeden unter uns: Folget mir nach, ich will Euch zu solchen machen, die, wie Ihr selbst gefangen seid in meine Liebe, auch andere Seelen gefangen nehmen können in das Reich der Kraft und der Wahrheit und der Freiheit. Denn m. g. F., es sind nicht wir selbst, es ist nicht etwas, was wir vermögen durch irgend eine menschliche Kunst oder menschliche Wissenschaft, oder was wir vermögen durch die wohlmeinenden Bestrebungen eines nicht verderbten menschlichen Gemüthes, sondern nur das, was uns aus seiner Kraft wird, | setzt uns in den Stand, ihm Diener und Gehilfen in dem Werke der Erlösung zu verschaffen. Alle, die daran Theil nehmen sollen, die müssen schauen in dem Herrn eben diese Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater; nun aber ist er ihnen dem irdischen Auge nach verschwunden, in sparsamen Zügen vermögen wir aus der Schrift sein Bild zusammen zu suchen, unvollkommen würde dieses sein für sich allein, wenn nicht außerdem eben die Gemeinschaft der Christen da wäre, die der Herr selbst seinen Leib nennt. In dieser erst ist die Schrift entstanden, in welcher wir nun das Licht des Herrn wiederfinden; aber wäre nicht dieses sein Werk da, so würde nicht leicht einer in derselben erkennen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, aber der Vater zeugt von ihm immer noch in demjenigen, was schon durch ihn geworden ist, in der Gemeinschaft der Christen, in dem heiligen Gesetz der Liebe, dem sie folgen, in dem innern Verlangen die Seligkeit, die sie empfangen haben, weiter auszubreiten, in dem Verlangen, welches sie theilen mit dem Erlöser, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist. | Da spiegelt sich die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, da müssen die Menschenkinder erkennen die Kraft dessen, der ihnen zum Heil gegeben ist, da müssen sie erkennen das Leben, 13–15 Vgl. Joh 1,14.16

37–38 Vgl. Lk 19,10

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welches er den Menschen gegeben hat, und aus der neuen Kreatur müssen ihnen hervorleuchten die Züge des göttlichen Sohnes. Durch diese und durch die Kraft des Wortes zusammengenommen werden auch jetzt noch immer die Herzen gefangen und aufgenommen in die Gemeinschaft dessen, der sie allein selig machen, und ihnen geben kann das Leben zu haben nicht in sich selbst, aber durch ihn. So gehört denn auch von unserer Seite nichts weiter dazu, als was Glaube und Liebe nothwendig in uns hervorbringt, nichts anderes als dies, daß, so wie der Herr auf Erden kam, nicht um zu herrschen, sondern um zu dienen: so auch wir dasjenige, was wir von ihm empfangen haben, nicht etwa nur in dieser Gemeinschaft für uns selbst benutzen und genießen wollen, sondern eben so, wie er, erfüllt sind von der Liebe, die empfangene Seligkeit weiter zu verbreiten unter denen, die unsere Brüder sind in der Schwach|heit, und auch unsere Brüder werden können in der Herrlichkeit. Und so allein, m. g. F., kann und soll alles überwunden werden, was noch immer den Menschen ein Hinderniß ist, in die Gemeinschaft mit dem Erlöser zu treten, in welcher sie allein Heil finden können. Vergleichen sie das, was sie in dem Leben der Christen finden, mit dem, was jeder auf dem Wege des Irrthums und der Verkehrtheit erlangen kann: so sollen sie erkennen lernen, wie wenig sie selbst sind mit allen ihren leiblichen und geistlichen Gütern gegen die Schätze, die dem Menschen aus dem Innern des Erlösers zufließen, und die er über das menschliche Geschlecht ausgegossen hat; wie gering und unbedeutend dasjenige ist, was sie selbst schaffen können, gegen das, was er sie einladet in sich aufzunehmen. So viel aber, m. g. F., Christus herrlicher ist als Adam war, so viel herrlicher das, was die Menschen in der Gemeinschaft Christi finden und erreichen als dasjenige gewesen wäre, was sie ohne ihn in der ursprünglichen Kraft des menschlichen Geschlechts würden erreicht haben. Diese Vergleichung nur dürfen wir anstellen, um zu wissen, daß in diesem | Bestreben die Seelen in Gemeinschaft mit dem Erlöser zu bringen und darin zu erhalten, dies herrliche ist, daß wir uns zu einem höheren Beruf nun emporschwingen können, und daß, weil wir diesen gefunden haben durch ihn, wir auch leicht verschmerzen können dasjenige, was wir verloren haben dadurch, daß durch einen Menschen die Sünde in die Welt gekommen ist; denn die Gerechtigkeit, die durch den Einen geworden ist, seine Herrlichkeit und Seligkeit ist viel größer als das, was der erste Mensch den andern hinterlassen hatte, oder was sie sich selbst erwerben könnten. Aber wie der Herr seine Jünger abrief von dem irdischen Beruf, den sie hatten, um ihnen den himmlischen und göttlichen zu ertheilen: so laßt uns auch diesen unsern himmlischen und geistigen Beruf ansehen in seinem Verhältniß mit dem irdischen, den wir alle haben. II. Und so laßt uns zuerst bedenken, und aus der Erzählung unseres Textes lernen, wie dieser geistige und himmlische Beruf sich mit jedem irdischen

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verträgt. Denn wenngleich der Herr zu seinen Jüngern sagt: „Folget mir nach, ich will Euch zu Menschenfischern machen“, und sie alsbald die ausgeworfenen Netze im Stiche ließen, und | ihm folgten: so lehrt uns doch die Schrift selbst, daß sie auch ihren irdischen Beruf keinesweges haben fahren lassen, und demselben entsagt; denn es wird uns erzählt mehr als einmal, daß sie auf dem See gefahren wären, um zu fischen schon zu der Zeit, als der Erlöser sie zur Gemeinschaft mit sich selbst gerufen hatte, und der Herr selbst begleitete sie öfter bei diesem Beruf, in welchem er sein Werk an ihnen führte, und seinen Beruf an ihnen vollzog. Ja auch, nachdem er von ihnen genommen war, in den Tagen seiner Auferstehung, finden wir eben diese Jünger wieder an demselben See Galiläa’s in eben dem Geschäft, von welchem sie der Herr abrief, und auch da erschien er ihnen, und veredelte diesen ihren Beruf durch Hinzuziehung des himmlischen, indem er ihnen den Auftrag gab: seine Heerde zu weiden. Und so ist es auch jetzt noch der Fall mit den Seinigen. Wir dürfen nicht den geistigen und himmlischen Beruf, daß auch wir helfen sollen dem Herrn Seelen zuzuführen, und sie in der Treue seiner Gemeinschaft zu erhalten, wir dürfen diesen Beruf nicht trennen von unserm irdischen; denn keiner hat den himmlischen für sich, und das ist auch das große Gesetz | in dem Leben der Christen, daß keiner sich etwas soll zu einem Beruf machen, was ihn von allen andern Menschen sondert. Diejenigen, welche meinen, daß sie dem himmlischen Beruf nur so folgen können, indem sie sich vereinzeln, indem sie sich von den Geschäften des irdischen Lebens entfernt halten, indem sie sich aus der Gesellschaft der Knechte zurückziehen, und sie sich in die Stille eines verborgenen Lebens sammeln, die verstehen die Kraft des Evangeliums nicht. In dem Leben mit Menschen sollen wir zeigen, was der Herr an unserer Seele gethan hat; in der Art, wie wir die irdischen Dinge behandeln, wie wir die irdischen Geschäfte verrichten, wie wir die irdischen Freuden genießen, wie wir die irdischen Widerwärtigkeiten ertragen; daran sollen sie erkennen lernen, daß unser Vaterland im Himmel ist, auf diese Art können sie sehen und empfinden den Himmel, der in dem Herzen des Christen ist, daß auch sie gelüstet in ihn einzugehen. Und wo gäbe es einen Beruf, sei er auch noch so groß oder geringfügig, daß der eine dem Menschen nicht Kraft, der andere nicht Muth genug ließe, um zu gleicher Zeit dem Herrn zu leben; ein solcher kann nicht gefunden werden. | Je höher der Mensch gestellt ist unter seinen Brüdern, je mehr die Menschen auf ihn sehen, desto mehr werden sie erquickt werden, wenn sie an ihm erkennen die Zeichen der Gemeinschaft mit dem, der den Menschen ewiges Heil gebracht hat. Je größer der Beruf des Menschen in den irdischen Angelegenheiten seiner Brüder, desto mehr muß sich alles, was von ihm ausgeht, unterscheiden von dem, was dem eigentlichen Sinne Christi fremd ist. Aber 9–14 Vgl. Joh 21,1–17

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nichts ist auch so klein, und den Menschen so gefangen nehmend in irdische Sorge und Noth, daß auch ihm nicht der Ruf ertönen könnte: „Ich will Euch zu Menschenfischern machen.“ Der Apostel hätte sonst unrecht gehabt, den Christen zuzurufen: „Ihr esset oder trinket, so thut es alles zur Ehre Gottes.“ Was sich zur Ehre Gottes thun läßt, o darin kann auch der Geist Gottes und Christi sich offenbaren, was zur Ehre Gottes gethan werden kann, das muß die Spuren des geistigen und ewigen Lebens in der Gemeinschaft mit Gott an sich tragen können; aber was heißt das anders, alles zur Ehre Gottes thun als dies, daß man darin nicht bloß die Treue im irdischen Beruf, | das Maaß der irdischen Weisheit, sondern auch das himmlische Leben darin erkennt, die Gemeinschaft der Seele, die vom Geiste erfüllt ist, empfindet und den Frieden einer solchen Seele darin sehen kann. So ist denn, m. g. F., nicht nur nichts so groß und schwer und bedeutend, sondern auch nichts so geringfügig und klein, in diesem menschlichen Leben, was uns scheiden könnte von der Liebe Gottes, nicht nur von ihrem Genusse, sondern auch von ihrer thätigen Ausübung, indem wir als Diener des Herrn in seinem Reiche arbeiten. Und wie sich jeder irdische Beruf mit diesem himmlischen verträgt, so erinnert uns auch jeder daran. Darum ist die Schrift so voll von herrlichen Gleichnissen und Reden des Erlösers an seine Jünger, welche den innigen Zusammenhang zwischen dem Irdischen und Himmlischen aussprechen. Die Welt, in welcher das Reich Gottes sich gründen soll, ist der große Acker des Herrn, in welchen er seinen Saamen streut, damit er reichliche Früchte bringe; die Gemeinschaft, in welcher die Christen unter einander stehen, ist das Haus Gottes, welches immer schöner und herrlicher im | Innern soll geschmückt werden, und von unten immer höher emporsteigen, indem wir selbst die lebendigen Steine sind; die Kraft der christlichen Wahrheit, durch welche die Seelen zusammengehalten werden, ist das Netz, in welches die Seelen gefangen werden, um aufbewahrt zu werden zu immer schönern Werkzeugen des Herrn. Ja wenn wir das ganze Bild unserer irdischen Verhältnisse zusammenfassen, was hat darin eine größere Kraft als dies, daß wir Hausgenossen sind und Glieder der bürgerlichen Gesellschaft. Aber Hausgenossen werden wir genannt und Bürger mit allen Heiligen. Und so giebt es nichts, was uns nicht erinnert an das Göttliche, dem wir leben sollen; so ist in der That hier schon Erde und Himmel vereinigt, und in jedem Augenblick des irdischen Lebens ahnden wir das himmlische Vaterland. Das, m. g. F., das ist der herrliche Beruf des Christen, den hat der Herr uns allen ertheilt, in ihm und durch ihn ist nicht nur alles wiedergebracht, was der Mensch verloren hatte; 13 groß und] Ergänzung aus FHDS 34, 103/5 [Bl. 11v] 4–5 1Kor 10,31 21–23 Vgl. Mt 13,37–38 32–33 Vgl. Eph 2,19

23–27 Vgl. Eph 2,21–22; 1Petr 2,5

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sondern göttliche Kräfte | üben wir in diesem Beruf, himmlische Gedanken gehen durch unsere Seele, himmlische Werke aus unseren Händen; wir sind Haushalter der himmlischen Gaben Gottes, die uns nur anvertraut sind durch Christum, und so ist auch in dieser Hinsicht dasjenige, was der Herr uns gegeben hat, etwas Größeres, als was wir hätten behalten können, wenn die Sünde nicht wäre gekommen und dazwischen getreten, unter welche der Herr alles beschlossen hielt, um eine größere Herrlichkeit zu offenbaren, und eine innige Gemeinschaft zu stiften zwischen sich und der menschlichen Seele in der Kraft des Geistes und in der Gemeinschaft des Sohnes. – So laßt uns denn immer mehr dem Rufe des Herrn folgen, laßt uns alle Bestrebungen darauf richten das Irdische an das Himmlische zu knüpfen, und in allem, was wir für die Menschenkinder thun in dem Gefühl, welches wir haben von unserer eigenen und ihrer Schwachheit und Krankheit, in der Gefahr, daß die einzelnen | Seelen, auch wenn sie in das Netz des göttlichen Wortes gefangen sind, doch wieder hinausschlüpfen können, in dem Bewußtsein des Verderbens, welches so viele, die in der Gemeinschaft des Herrn schon leben, von dem höhern Genuß des Reiches Gottes fern hält: o in dem Allem laßt uns hören den Ruf des Herrn, und, ohne das Irdische zu verlassen, das Irdische mit dem Himmlischen immer fester verbinden, bis da kommt die Herrlichkeit der Kinder Gottes, die wir hier nicht haben können, von der wir aber ahnden, daß wir ihm gleich sein werden, weil wir ihn erkennen werden, wie er ist. Amen.

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Vor dem Gebet. – Mel. Meinen Jesum laß etc. [1.] Licht vom Licht erleuchte mich / Bei dem neuen Tageslichte! / Gnadensonne zeige dich / Meinem frohen Angesichte! / Deiner Weisheit Himmelsglanz / Schmücke meinen Sabbath ganz. // [2.] Dieser Tag sei dir geweiht; / Weg mit allen Eitelkeiten. / Ich will deiner Herrlichkeit / Mich zum Tempel zubereiten, / Nichts begehren und nichts thun / Als in deiner Liebe ruhn. // [3.] Brunnquell aller Seligkeit / Laß mir deine Ströme fließen; / Mache Mund und Herz bereit / Ihre Fülle zu genießen! / Streu des Wortes Saamen ein, / Laß ihn hundertfrüchtig sein. // [4.] Zünde selbst mein Opfer an, / Das schon auf den Lippen lieget! / Leucht mir auf die richtge Bahn, / Wo kein Irrthum mich betrüget; / Wo kein falsches Feuer brennt, / Welches dein Altar nicht kennt. // [5.] Mache Wohnung, Herr, bei mir! / Bau ein Paradies im Herzen! / 20–22 Vgl. 1Joh 3,2

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Ruh’ in mir, und ich in dir, / So quillt Freude selbst aus Schmerzen; / Und ich schmecke dann schon hier, / Wie’s im Himmel ist bei dir. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket alle etc. [1.] Wie klein erscheinen, Herr, / Hier deine frommen Heerden; / Doch soll ja deiner Hand / Kein Mensch entrissen werden. / Du hast die ganze Welt / Von Zorn und Fluch befreit; / Dein Wort, das alle ruft, / Führt uns zur Seligkeit, // [2.] Von deinem Reiche fern, / Bedeckt mit Finsternissen / Will die verkehrte Welt / Den Weg des Heils nicht wissen; / Verachtet frech dein Wort, / Und scheut sein helles Licht, / Das gleich der Sonne Glanz / Durch finstre Wolken bricht. // [3.] Auch Völker, welche sich / Nach Christi Namen nennen, / Und ihn, den Gott gesandt, / Aus seinem Worte kennen, / Sind doch zum großen Theil / Von seinem Reiche fern, / Und ehren Christum nicht / Als ihren eingen Herrn. // [4.] Der Spötter sucht das Wort / Verstrickt in Eitelkeiten / Mit zweifelnder Vernunft / Und Bosheit zu bestreiten; / Ihm ist das Wort vom Kreuz / Thorheit und Aergerniß; / Ihn tröstet’s nicht, und macht / Nur sein Gericht gewiß. // [5.] Des Aberglaubens Macht / Verblendet Andrer Seelen, / Daß sie den Weg zu Gott, / Den Christus zeigt, verfehlen. / Auch schwacher Tugend Stolz, / Die Selbstbetrug nur liebt, / Verläugnet unsern Herrn, / Durch den uns Gott vergiebt. // [6.] O Jesu guter Hirt, / Die Schaafe deiner Weide / Beschüzet deine Macht, / Und sättigt sie mit Freude; / Wer deinen Ruf nicht hört / Und sich von deiner Huld / Und von der Heerde trennt, / Verdirbt durch seine Schuld. // [7.] Erhebe dich o Herr / Dein Wort weit auszubreiten, / Verirrte deinen Weg / Zum Frieden hinzuleiten! / Ach suche, treuer Hirt, / Durch deinen guten Geist / Die, so der Sünde Trug / Noch deiner Heerd’ entreißt. // (Holsteiner Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt’ ich meinem etc. O du Geist der reinen Liebe / Segensquell in Freud’ und Schmerz / Laß mich spüren deine Triebe, / Komm und senk dich in mein Herz! / Laß mich kräftig widerstreben / Allem was nicht gut es meint / Mit dem Feind wie mit dem Freund. / Was mich reizt nur mir zu leben, / Davon mache Herr mich frei, / Daß ich lauter Liebe sei. //

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Am 13. Juli 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Wiederabdrucke: Andere Zeugen: Besonderheiten:

7. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,35–42 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 85–99; Andrae Keine Nachschrift; SN 608/1, Bl. 1r–2v; Saunier Nachschrift; SAr 55, Bl. 30v–36r; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am 7. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Tex t. Joh. 1, 35–42. Des andern Tages stand abermal Johannes und zween seiner Jünger. Und als er sahe Jesum wandeln, sprach er, Siehe, das ist Gottes Lamm. Und zween seiner Jünger hörten ihn reden und folgten ihm nach. Jesus aber wandte sich um und sprach zu ihnen, Was suchet ihr? Sie aber sprachen zu ihm, Rabbi, – das ist verdolmetschet, Lehrer – wo bist du zur Herberge? Er sprach zu ihnen, Kommt und sehet es. Sie kamen und sahen es, und blieben denselben Tag bei ihm, es war aber um die zehnte Stunde. Einer aus den zween, die von Johanne hörten und Jesu nachfolgten, war Andreas, der Bruder Simonis Petri. Derselbige findet am ersten seinen Bruder Simon und spricht zu ihm, Wir haben den Messias gefunden – welches ist verdolmetschet, der Gesalbte; – und führte ihn zu Jesu. Da ihn Jesus sahe, sprach er, Du bist Simon, Jonas Sohn; du sollst Kephas heißen – das wird verdolmetschet, ein Fels. | Hier, m. g. Fr., sehen wir die erste herrliche Frucht von dem Zeugnisse, welches Johannes der Täufer ablegte von Jesu. Nachdem er am vorigen Tage ihn zuerst bezeichnet hatte als das Lamm Gottes der Welt Sünde tagend, und denen, die zunächst um ihn waren, erklärt, wie er dazu gekommen sei, in diesem Jesu von Nazareth, den er so bezeichnet hatte, den Sohn Gottes zu erkennen, der nach ihm kommen werde, aber vor ihm gewesen sei: so sieht er ihn am folgenden Tage wieder und wiederholt seine vorige Bezeichnung, gewiß zunächst in der Absicht, um ihn noch genauer und 17–22 Vgl. Joh 1,29–34

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bestimmter, als am vorigen Tage hatte geschehen können, denen die ihn hörten persönlich bekannt zu machen, wobei die Absicht zum Grunde lag, daß sie ihrerseits suchen sollten eine persönliche Bekanntschaft mit ihm anzuknüpfen. Die beiden Jünger des Johannes, die dies damals hörten, und wovon der eine, wie unser Text selbst sagt, Andreas, der Bruder Simonis Petri, gewesen ist, der andere aber, wie dies wol ein jeder fühlt, und auch die Christen darin immer einig gewesen sind, Johannes, der Evangelist selbst, diese beiden hatten entweder selbst am vorigen Tage die Rede des Johannes gehört, oder wenn sie zufällig abwesend gewesen, so wird gewiß derselbe Tag nicht vergangen sein, ohne daß sie von andern Freunden und Genossen dieselbe werden vernommen haben; denn was konnte es größeres und wichtigeres geben für die Verkündigung des Täufers, als daß er den gefunden und persönlich kennen gelernt hatte, der das Ziel seiner Verkündigung war. Sei es nun, daß jene Jünger das Zeugniß des Johannes am ersten Tage selbst gehört, oder sei es, daß sie dasselbe erst später vernahmen, das erstere aber ist das wahrscheinliche, so viel ist gewiß, daß erst nun, als Johannes abermals den Erlöser persönlich bezeichnete, der Entschluß in ihnen reifte demselbigen nachzufolgen. Und wahrlich, m. g. Fr., wir dürfen uns nicht darüber | wundern, sondern es muß uns natürlich erscheinen, wenn Johannes und sein Freund nicht gleich in dem ersten Augenblikk, wo der Täufer ihnen Jesum bezeichnete, und bezeichnete als das Lamm Gottes, welches die Sünde der Welt trägt, auch den Entschluß faßten ihm zu folgen, obgleich Johannes hinzusezte, daß derselbe der Sohn Gottes sei. Nämlich eben dessen, weswegen das Evangelium in seiner ganzen ersten Verkündigung dem einen ein Aergerniß war und dem andern eine Thorheit, findet sich so viel in der menschlichen Seele, daß wir uns nicht wundern dürfen, es auch in den beiden Jüngern des Johannes zu finden. Welch eine herrliche Eigenschaft die sei, welche Johannes der Täufer an Jesu kenntlich machen wollte, indem er ihn das Lamm Gottes nannte, das die Sünde der Welt trägt, das verkennt wol niemand. Welch ein großes Gewicht darauf liege, die Sünde der Welt zu tragen, das muß jedem, der irgend mit der Sünde der Welt in sich und außer sich zu schaffen hat, deutlich genug sein und sich ihm tief genug einprägen! Aber in dieser Eigenschaft den Sohn Gottes zu erkennen, das war demohnerachtet nicht leicht und ist es immer noch nicht; denn etwas so großes als die Umschaffung des Menschen und eine neue Creatur und ihr Zusammenstimmen zum Reiche Gottes, dies zu erwarten von demjenigen, der als das Lamm Gottes die Sünde der Welt trug, da er doch zu gleicher Zeit alle Freiheit und alles Heil für das menschliche Geschlecht hervorbringen mußte, das an sich zu glauben und beides von einem und 23–24.30–31 Vgl. Joh 1,29

24–25 Vgl. Joh 1,34

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demselbigen, das ist dem Menschen nicht leicht; sondern die Fülle des Heils erwartet er von einer auch äußerlich sich zu erkennen gebenden mächtigen Kraft, und das Reich Gottes erwartet er von dem, der gleich bei seinem ersten Erscheinen den Eindrukk macht, daß er geboren sei und in die Welt gekommen, nicht um zu dienen, sondern um zu | herrschen. In demjenigen aber, der lediglich in der Gestalt der Sanftmuth einherging und auf den Täufer, als er ihn zum ersten Mal erblikkte, schon den Eindrukk machte, den er selbst hernach öfter ausgesprochen hat in den Worten, Nehmet auf euch mein Joch, und lernet von mir; denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig; und in dieser vorherrschenden Eigenschaft der Sanftmuth und Demuth im Tragen der Sünde der Welt die Quelle alles Heils und die Kraft Gottes zu erkennen, welche hinreichend sei zur Erlösung der Menschen, das ist nicht leicht. Aber warum nicht, m. g. Fr.? Nur deshalb, weil der Mensch, wie der Herr selbst sagt, auf der einen Seite trozig ist, auf der andern verzagt, auf der einen Seite zu viel, auf der andern zu wenig Vertrauen hat auf das, was er durch die allmächtige Kraft Gottes ist. Denn, lasset uns nur einmal das recht überlegen, Ist das Wort Gottes einmal Fleisch geworden und auf die Erde herabgekommen, um sich den Menschen mitzutheilen, ist die Fülle der Gottheit einmal durch sein Dasein in dem Umfang des menschlichen Geschlechtes niedergelegt, dann ist das Heil und die ganze Fülle desselben schon da, und es bedarf nichts anderes als nur in herzlicher Sanftmuth und Demuth die Sünde der Welt zu tragen, bis sie durch die göttliche Kraft, die schon da ist, überwunden sein wird, es bedarf nichts anderes, als der Gesinnung, das böse immer nur überwinden zu wollen durch gutes, das gute aber allein zu schöpfen aus der unerschöpflichen Fülle, die uns in dem Erlöser geöffnet ist. Wie nun das gute keine andere wesentliche Gestalt hat als die der Liebe, und Gott selbst, wie Johannes sagt, die Liebe ist: so bedarf auch die Fülle der Gottheit, auf Erden herabgestiegen, nichts anderes als das Wesen und Walten der Liebe, und daraus mußte nothwendig | das ewige Heil hervorgehen, und es bedurfte keiner äußern Pracht, keines irdischen Glanzes, keiner weltlichen Herrlichkeit, sondern allein des stillen tiefen Fortwirkens dieser ewigen Liebe, welches sich von dem Erlöser aus immer weiterhin verbreitet durch die seinigen, um das Wort wahr zu machen, daß in ihm und in keinem andern dem menschlichen Geschlecht Heil gegeben ist. Darüber nun kommt der eine früher hinweg, der andere später, daß er irriger Weise wähnt, es gehöre auch etwas anderes dazu als die reine unausgesezte thätige Wirkung der göttlichen Liebe, um von ihr aus das ewige Heil der Menschen zu schaffen. Was nun diese beiden Jünger anlangt, von denen unser Text redet, nachdem sie es am ersten Tage selbst überlegt hatten und auch vielleicht 8–10 Vgl. Mt 11,29 14–15 Vgl. Jer 17,9. Schleiermacher behandelt dieses Prophetenwort in der Regel als Christusrede. 18–19 Vgl. Joh 1,14 25 Vgl. Röm 12,21 28 Vgl. 1Joh 4,8.16 35–36 Vgl. Apg 4,12

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mit ihrem Lehrer und Meister besprochen, als er ihnen nun am folgenden Tage Jesum zeigte und ihnen noch einmal zurief, Sehet, das ist Gottes Lamm: so bedurfte es in dieser Beziehung auch nichts weiter, um den Entschluß in ihnen reif zu machen und zur Ausführung zu bringen, daß sie ihm nachfolgten. Freilich aber, m. g. Fr., sezt eben dies voraus, daß in ihnen selbst wenigstens vorher schon das Bewußtsein wol erwekkt worden war durch die vorbereitende Lehre und Verkündigung des Johannes, daß so der Mensch nicht umkehre und Buße thue, so er nicht seine Freundschaft mit der Sünde aufhebe und von einer innigen Zuneigung erfüllt werde zu dem, der die Sünde der Welt trägt, so könne er kein lebendiges Glied im Reiche Gottes werden. Ohne dies Bewußtsein wäre es nicht möglich gewesen, daß sie auf einen solchen Zuruf Jesu nachgefolgt wären. Das beides muß nothwendig zusammen kommen in der menschlichen Seele, auf der einen Seite die Erkenntniß der Sünde, und daß das menschliche Herz nicht trozig sei zu glauben, wenn es nur darauf ankomme die Sünde zu überwinden, so könne dies jeder selbst, nachdem er sie eingesehen | durch das Licht seines Verstandes, auch ausführen durch die Kraft seines Willens – dieser Troz des Herzens auf der einen Seite muß überwunden sein; dann aber auch auf der andern Seite die Verzagtheit desselben, welche meinen kann, daß noch etwas anderes als das Aufhören jenes Trozes und das wirklich demüthige Anschließen an den, der durch Sanftmuth und Demuth das Reich Gottes begründen wollte, dazu gehöre, um in diesem Reiche Gottes thätig zu sein und an der weitern Verbreitung desselben zu arbeiten. Nachdem sie nun Jesu nachgefolgt waren, so bemerkte er, daß ihr Nachgehen sich auf ihn bezöge, und da erleichterte er es ihnen; er knüpft selbst ein Gespräch mit ihnen an, indem er sie fragt, Was sie denn eigentlich suchten, indem sie ihm nachgingen? Da antworteten sie ihm mit einer neuen Frage, Lehrer, wo bist du zur Herberge? Und der Herr kommt ihnen mit einer neuen Erleichterung zu Hülfe, indem er sie auf das freundlichste einladet mit den Worten, Kommt und sehet es; da kamen sie und sahen es und blieben denselbigen ganzen Tag bei ihm. M. g. Fr. wir können uns wol nicht bergen, das ist die natürlichste Geschichte eines jeden menschlichen Herzens, welches sich von dem Erlöser an- und zu ihm hingezogen fühlt, das ist das freundliche liebreiche Wesen, welches sich auch jezt noch, nachdem er nicht mehr leiblich unter uns wohnt, eben so jedem offenbart und verherrlicht, und eben diese Freundlichkeit, mit der er es den Menschen erleichtert sich zu ihm [zu] wenden, ist ein wesentlicher Theil von der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, die wir an ihm erkennen. Auf alle Weise sucht es auch jezt noch, so wie dies damals jenen beiden Jüngern geschah, der Erlöser leicht zu machen denen, 34–35 Wesen, welches] Wesen ist, welches

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die sich zuerst zu ihm wenden. Dazu ist die ganze Gemeinschaft der Christen eingerichtet, das ist der Segen des göttlichen Wortes, das ist die einladende Freundlichkeit, die wir überall bei denen antreffen, die ihr Heil bei dem | Erlöser schon gefunden haben; und diese erste Regung der Sehnsucht nach demselben in andern menschlichen Herzen zu erkennen, und dieselben einzuladen, das Heil und die Seligkeit da zu suchen, wo ihnen dieselbe zu Theil geworden ist, das ist das erste, was der Christ von dem Erlöser annehmen muß, das ist von dem ersten Anbeginn an das herrlichste und schönste Mittel zur Verbreitung der Seligkeit des Christenthums geworden. Was wir sonst nur zu häufig finden, daß nämlich die Menschen aus dem, was ihnen das liebste und wertheste ist, ein Geheimniß zu machen suchen und es gern verschließen in engere Kreise, davon hat sich in Beziehung auf das Evangelium, so lange es unter den Menschen verkündigt worden ist, immer das Gegentheil gezeigt. Wie es ein allgemeines Gut aller Menschen ist, so kann es auch von keinem, der es auf die rechte Weise auffaßt, anders als so behandelt werden. Der könnte sich nicht rühmen, daß er den Erlöser hätte, der nicht in sich den lebendigen Wunsch hegte, daß ihn alle andern eben so hätten, und, soviel an ihm ist, durch sein Leben und seinen Sinn, durch fromme Zusprache und durch geduldiges und beharrliches Mitwirken es jedem zu erleichtern suchte, welcher zu dem Entschluß gekommen ist Jesu nachzufolgen. Je mehr dabei in dem menschlichen Herzen überwunden werden muß von seinem natürlichen Troz und seiner natürlichen Verzagtheit, desto mehr muß man ihm zu Hülfe kommen, und wer jenes Widerstreben des Herzens kürzer oder länger an sich erfahren hat, der kann nicht anders als, nachdem er selbst von der göttlichen Gnade ergriffen worden ist, das seinige thun, um dieses Widerstreben auch in anderen zu überwinden und es ihnen zu erleichtern, daß sie den aufsuchen, zu dem in ein vertrautes Verhältniß der Seele treten, in welchem er selbst die Ruhe und Zufriedenheit gewonnen hat. So macht der Erlöser selbst allem Bedenken, aller Verzagtheit bei diesen beiden Jüngern ein Ende, indem er sie anredet, was sie bei ihm suchten. Ihre zweite Frage aber, Lehrer, wo | bist du zur Herberge? deutet darauf, einmal, daß sie das schon erkannt hatten, derjenige, welcher gekommen sei als der Sohn Gottes und als das Lamm Gottes der Welt Sünde tragend, dessen hauptsächliches Geschäft könne auch kein anderes sein als daß er beginne mit der Lehre, mit dem Wirken auf die innersten Tiefen der menschlichen Seele in freundlichen und ernsten menschlichen Gesprächen. Bei diesem Namen also, den er damals noch nicht durch die That geführt hatte, redeten sie ihn an. Dann aber deutet ihre Frage auch dahin, daß sie nicht glaubten, was sie von ihm suchten, durch einige flüchtige Worte abmachen zu können, die auch unterweges hätten gesprochen werden können; sondern daß sie ihn selbst fragten nach seinem damaligen Aufent-

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halt, um mit ihm zu gehen und hier ungestört Rede und Gespräch zu wechseln. Was das erste betrifft, m. g. Fr., so muß uns das klar sein, Wenn das Reich Gottes sollte gegründet werden durch den, der da gekommen war um zu suchen und selig zu machen, was verloren war, durch den, der sanftmüthig und demüthig einherging, bestimmt seinem eigenen Bewußtsein nach dazu die Sünde der Welt zu tragen, daß derjenige, der so entblößt war von allen äußerlichen Hülfsmitteln, auf keine andere Weise als durch die Kraft der Rede Zeugniß für das menschliche Gemüth ablegen konnte. Sollte das Reich Gottes kommen nicht mit äußerlichen Geberden, nicht mit weltlicher Macht; wovon konnte es ausgehen als von der Kraft und von der Ueberzeugung des lebendigen Glaubens? Der Glaube aber kommt durch die Predigt, und daher konnte es nichts anderes sein, der Sohn Gottes mußte lehren und predigen, aber vorzüglich von nichts anderem als von sich selbst. Was er sonst gelehrt hat, gehörte dazu, die Menschen zur Erkenntniß der Sünde zu bringen, indem er ihnen die Tiefen des Herzens aufschloß. Alles übrige in | seiner Lehre bezog sich mehr oder weniger unmittelbar auf seine Person; er mußte das Zeugniß ablegen von sich selbst, welches Johannes von ihm abgelegt hat; er mußte sich dabei berufen auf das Zeugniß des Vaters und auf die Kraft, die ein solches hervorbringt. Und diese Bestimmung muß jeder erkennen, der in Christo den Heiland der Menschen erkennt. Auf seiner Lehre, auf dem Worte Gottes, welches er mittheilen konnte durch seine Lehre, darauf ruht der größte Theil seiner Wirksamkeit in der Welt, und indem er nicht mehr unter den Menschen wandelt, so ist es nichts anders als die Kraft des Wortes, die auch jezt noch die Seelen seinem Reiche zuführt, und nur durch die Lehre ergreift er sie zuerst, indem er ihnen aufschließt die Tiefen des göttlichen und menschlichen Wesens, indem er sie führt von dem vergänglichen zum ewigen, indem er ihnen durch die Kraft seiner milden Rede offenbart die Liebe dessen, der ihn gesandt hat. Sie blieben aber, nachdem er sie so zu sich eingeladen hatte und ihnen also Hoffnung gemacht, daß er als Lehrer ihnen genügen werde, sie blieben denselbigen ganzen Tag bei ihm. Es war aber, wie unser Text sagt, um die zehnte Stunde, d. h. es war die Zeit, wo jeder anfing sich von den Geschäften des Tages zurükkzuziehen und die Stille der Häuslichkeit und der vertrauten Kreise zu suchen, um hier den Geist zu sammeln und zu erheben. Diese heilige geweihte und schöne Zeit des Tages brachten sie bei dem Erlöser zu, und da wurden sie inne, daß er ein Lehrer sei von Gott gesandt, indem er sie selbst über sein Verhältniß zu Gott und über den Zwekk seiner Sendung belehrte. 4–5 Vgl. Lk 19,10

12–13 Vgl. Röm 10,17

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Warum, m. g. Fr., hat uns aber Johannes, der selbst dabei war, nichts gesagt von diesem ersten Gespräch, welches der Herr als Lehrer mit seinen ersten Jüngern geführt hat? Gewiß wird er es uns nicht beneidet haben; aber nachdem er die ganze Fülle von Reden des Erlösers in sein innerstes aufgenommen hatte, und angefangen den Entschluß auszuführen in seinem Buche | den Menschen einen Beweis zu liefern, daß Jesus in der That der Christ sei, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde tragen sollte, und der Sohn Gottes, dem der Vater das Reich gegeben hat, nachdem alles, was er tiefes, göttliches und herrliches aus den spätern Reden des Erlösers seinem Buche einverleiben wollte, schon vor seiner Seele schwebte: so muß das dagegen verschwunden sein, was der Herr mit ihnen, den ersten Anfängern im Glauben, in den ersten Stunden ihres Zusammenseins geredet hatte. Denn wenn schon ein Vorurtheil überwunden werden mußte in ihren Seelen, nachdem Johannes der Täufer ihnen Jesum bemerklich gemacht hatte als das Lamm Gottes, der Welt Sünde tragend, damit sie an ihn, den Sohn Gottes, halten möchten: was kann wol das erste gewesen sein, was der Herr that an ihren Seelen, als daß er das vom Johannes angefangene Werk fortsezte, daß er das Widerstreben, welches sie selbst besiegt hatten auf das Zeugniß Johannes, vollkommen überwand, und den Sieg des Glaubens in ihnen vollendete, wie dies auch gesagt wird in den folgenden Worten. Denn als am folgenden Tage Johannes seinen Bruder Andreas sah, sprach er zu ihm, Wir haben den Herrn gefunden. Er war also fest geworden in dem Glauben, daß Jesus der Sohn Gottes sei. Aber wie Johannes in seinen spätern Reden weniger darauf gerichtet war in ein paar einzelnen Seelen die Ueberzeugung davon zu gründen, daß das Reich Gottes auf keinem andern ruhen könne als auf dem, der von Gott in die Welt gesandt war, wie wir in diesen Reden des Herrn eine viel herrlichere Kraft finden als in denen, die der Erlöser damals im Stande war seinen Jüngern mitzutheilen, da er ihren ersten Glauben noch durch die Milch des Evangeliums nähren mußte: so hat Johannes das geringere über dem größeren dahinten gelassen, und wir dürfen auch den Verlust der ersten Rede Christi nicht bedauern; denn | wie viel herrlicher werden wir ihn finden in folgenden Reden, wo das Zeugniß, welches Christus von sich selbst ablegen mußte, uns überall entgegen treten wird, und wo wir ihn sehen werden die verschiedensten Menschen unter den verschiedensten Gestalten auf die göttliche Wahrheit hinweisen, auf deren Grund das Heil des menschlichen Geschlechtes ruht. Wenn aber Johannes am andern Tage sagt, Wir haben den Messias gefunden, so erinnert uns dies an etwas ähnliches, was Johannes später erzählt. Nämlich, daß, als Christus durch Samaria gegangen, und eine samaritische Frau sich mit ihm in ein Gespräch eingelassen, und sie den Glauben, daß er der Sohn Gottes sei, durch das Gespräch in sich erwekkt, und ihn 39–5 Vgl. Joh 4,5–30.39–42

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den übrigen aus derselben Stadt mitgetheilt hatte, daß, als nun die Einwohner der Stadt herbeigerufen, und dieselben so einige Tage mit ihm gewesen waren, daß sie darauf gesprochen haben, Wir glauben nun hinfort nicht mehr um deiner Rede willen, denn wir selbst haben gehört und erkannt, daß dieser ist Christus, der Welt Heiland. So sagen diese nicht mehr, Wir haben den gefunden, den Johannes für den Messias ausgegeben, sondern wir selbst haben den Messias gefunden, wir haben ihn selbst erkannt, es ist unsere innigste Ueberzeugung, wir selbst haben sie in unsern Seelen gegründet. Was sie nun aber weiter gethan haben, nachdem sie denselbigen Tag bei ihm geblieben, das wissen wir nicht, ob sie zu Johannes zurükkgekehrt sein mögen, oder ob mancherlei Verpflichtungen sie in das irdische Leben wieder verflochten haben. Wie könnten wir aber anders voraussezen, als daß sie es gethan; sie werden nicht als undankbare von dem geschieden sein, der ihnen durch sein Zeugniß den von Gott gesandten Erlöser der Welt gezeigt hatte; sie werden es nicht verkannt und ihm zu erkennen gegeben haben, wie Gott ihn zum Werkzeug ausersehen habe, in | ihnen selbst den lebendigen Glauben an den Erlöser und die innige Liebe zu ihm hervorzurufen; wie er derjenige sei, durch welchen sie den erkannt hatten, über dessen Erkenntniß ihnen nichts in der Welt ging. Aber eben so gewiß haben wir Ursache zu glauben, daß sie sich nicht mehr lange werden bei dem Johannes verweilt haben; sondern das Verlangen mit dem Erlöser zu leben jedes andere bald wird überwunden haben. Und daran wird auch Johannes seine Freude gehabt haben; denn er bekannte es selbst, daß er abnehmen müsse, der Herr aber zunehmen, und daß er daran seine größte Freude habe, wenn er den wachsen sähe und zunehmen und feste Wurzel fassen, von dem zu zeugen er gekommen war, daß er das Heil der Menschen sei. Und so geht es auch und soll es auch noch immer gehen unter den Christen. Durch menschliche Rede pflanzt sich das Wort Gottes und die Liebe zu demselbigen von einem zum andern fort, und uns allen ist die Gnade gegeben durch unsere Wirkung auf andere, und vorzüglich durch unsere Wirkung auf das junge Geschlecht, die Veranlassung zu werden, daß die Menschen den Erlöser finden. Aber in dem, was wir ihnen sagen, ist etwas menschliches, von diesem befreien sie sich, und suchen den Erlöser zu gewinnen für sich, aber jeder hat ihn dann auf seine eigene Weise. Es ist nur ein und dasselbe Heil, ein und derselbe Glaube, ein und dieselbe Liebe zu dem Erlöser, die alle Christen mit einander theilen und gemein haben. Aber wie jede Seele ihre eigene Beschaffenheit hat, so gestaltet sich auch in jeder das Heil auf eine eigene Weise, unter jedem Geschlecht der Menschen gewinnt das Evangelium eine andere Gestalt. Dieses und jenes 24–25 Vgl. Joh 3,30

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ändert sich in der Art, wie Christen das christliche Leben zu gestalten suchen, wie sie die Lehre des Christenthums zu entwikkeln streben. Und wie Johannes nicht trauerte, daß seine Jünger, denen er den Weg zum Erlöser gebahnt hatte, | ihn verließen: so soll keiner trauern, wenn das menschliche, was zuerst eine Veranlassung ist das Reich Gottes in der Welt auszubreiten, dabei verschwindet. Jeder, der den Erlöser findet, thut wohl ihn auf seine eigene Weise zu haben, und jeder soll sich darüber um so mehr freuen, je fester das Band ist zwischen dem Erlöser und der einzelnen Seele, je größer die Opfer, die jeder bringen kann um des Evangeliums willen. Und so gehe jeder dahin, vergesse das menschliche, was ihm auf dem Wege menschlicher Mittheilung geworden ist, und halte sich an das göttliche. Davon ist das erste und nothwendigste Ergebniß, wie es in unserem Texte Andreas thut, daß jeder zu denen, die ihm die liebsten sind, sagt, Ich habe den Messias gefunden; aber freilich auf dieselbe freundliche, auf dieselbe sanfte sich selbst hintenansezende Weise, wie Johannes der Täufer that, und nur indem jeder auf diese einige Quelle alle hinzuweisen sucht, die er erreichen, und in deren Seelen er eine Wirkung hervorbringen kann. Darin ward nun dem Andreas eine besondere Gnade, daß er den zum Bruder hatte, von dem es in unserem Texte weiterhin heißt: als Andreas ihn gefunden und ihm die freudige Nachricht von seiner Bekanntschaft mit dem Messias gebracht und ihn darauf zu dem Erlöser selbst geführt habe: da hätte dieser zu ihm gesagt, Du bist Simon, Jonas Sohn; du sollst Kephas heißen. Grade, m. g. Fr., wie Johannes der Täufer nach dem ersten Eindrukk, den Christus auf ihn gemacht, von ihm sagte, Siehe, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt: so hier der Erlöser von Petro nach dem ersten Eindrukk, den er auf ihn machte, Du sollst Kephas heißen. Unerschütterlich und fest erschien er ihm, nicht etwa schon in dem ausgebildeten Glauben des Christen, denn es war erst später als Christus in dieser Verbindung zu ihm sagte, Du bist Petrus, und auf diesen Felsen, nämlich auf die Festigkeit, mit der du bekannt hast, daß ich sei der Sohn des lebendigen Gottes, will | ich meine Gemeine bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen. Hier war es nur die Anlage zur Festigkeit im Glauben, zur Unerschütterlichkeit des Muthes, zur treuen Liebe gegen das Reich Gottes, die der Herr gleich in ihm erkannte, und um derentwillen er ihm den Namen beilegte, den er nachher im treuen Dienste des Herrn so wohl verdient hat. So, m. g. Fr., so ging der erste Anfang des öffentlichen Lebens und des heilsamen Wirkens unseres Erlösers nach seiner Taufe hin, so überkam er durch das Zeugniß des Johannes eine kleine Zahl von Jüngern, die bald überwunden waren eben durch das Gewicht jenes Zeugnisses und ergriffen von dem, was er ihnen geworden war durch das Gespräch eines vertrauten Abends; aber bald mußte auch einer darunter sein, den er als den Felsen 24–25 Joh 1,29

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anderer nennen und begrüßen konnte. Denn die Standhaftigkeit, die unerschütterliche Beharrlichkeit, das unerschrokkene Wesen, das mußte von dem ersten Anfang an, auch als das Reich Christi noch klein war, schon da sein, damit es wachsen und gedeihen könnte. Und wie immer und überall auf diese Beharrlichkeit von Christo seine Gemeine gebaut worden ist, so muß sie auch immer in derselben fortleben, und indem sie sich kräftig entwikkelt in allen Gliedern der christlichen Kirche, werden wir am besten dafür sorgen, daß diese nicht untergehe, sondern fortbestehe. Diese Unerschrokkenheit und Beharrlichkeit kann aber nicht erhalten werden, wenn es nichts giebt, was die Festigkeit der Menschen auf die Probe stellt. Dafür hat der Herr gesorgt und wird ferner sorgen, daß es immer Anfechtungen gebe, worin sich die Standhaftigkeit erproben kann. Daran darf es nicht fehlen, damit die Gemeine Christi zu dem Bewußtsein komme, daß sie in der Tapferkeit des Glaubens, in der Unerschütterlichkeit der Treue, in der Festigkeit ihrer Ueberzeugungen, daß sie darin den Fels habe, auf den er seine Gemeine gründen kann. | Ja, m. g. Fr., daran laßt uns nur festhalten und unter einander dazu wirken, daß einer dem andern beistehe, damit in jedem Falle, wo es irgend noth thut, wo Umstände oder Zeit es mit sich bringen, die Festigkeit und Unerschütterlichkeit des Glaubens, die Treue gegen die Wahrheit und die innere Sicherheit des Gemüthes zum Vorschein komme und von dem Herrn gekrönt werde. Dazu müssen wir uns erbauen, dann thun wir das unsrige um das Reich Gottes festzustellen, und dazu wolle er uns allen die Erkenntniß seines Wortes und die lebendige Erkenntniß der Geschichte des Christenthums, wie es immer darauf bestanden hat und auf diesen Felsen gebaut gewesen ist, dazu wolle er sie uns allen gesegnet sein lassen! Amen.

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Am 20. Juli 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 16,16 Nachschrift; SAr 104, Bl. 74r–83v; Andrae Keine Nachschrift; SN 621/3, Bl. 8r–10r; Crayen Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am achten Sonntage nach Trinitatis 1823 am zwanzigsten Heumonds. |

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Tex t. Lucä XVI, 16. Das Gesetz und die Propheten weissagen bis auf Johannem; und von der Zeit an wird das Reich Gottes durch das Evangelium geprediget, und jedermann dringt mit Gewalt hinein. Nicht undeutlich, m. g. F., sondern ganz bestimmt setzt der Erlöser die Rede der Weissagung und des Evangeliums einander entgegen, indem er spricht, Gesandte und Propheten hätten geweissaget, aber dies erstrecke sich nur bis auf Johannes, von Johannes aber würde das Reich Gottes durch das Evangelium verkündiget. Und da wissen wir nun alle, was geschehen, wo die Weissagung aufhört, fängt das Evangelium an, und wo das Evangelium anfängt, hat die Weissagung ein Ende. Wenn aber doch dieses, m. g. F., eine göttliche Gabe ist und eine Wirkung des göttlichen Geistes, wie sollen wir es reimen mit der Überzeugung, auf welche sich die Reihe unserer gegenwärtigen Betrachtungen gründet, daß erst die Herrlichkeit der Kinder Gottes an’s Licht gebracht ist, wie damit reimen, daß die Weissagung beim | Evangelio aufhört. Lasset uns demnach unsere Aufmerksamkeit darauf richten, daß wir den Gegensatz, welchen unser Erlöser in den Worten unseres Textes zwischen Weissagung und Evangelium aufstellt, richtig verstehen. Es kommt darauf an erstens, daß wir sehen, inwiefern dieses überhaupt wahr ist, daß die Weissagung aufgehört hat als das Evangelium anfing; und zweitens in diesem Sinn, in welchem sie aufgehört hat, gehört dieses Aufhören zu der Herrlichkeit der evangelischen Zeit? Wenn wir nun fragen: Stimmt denn das wirklich mit der Geschichte überein, was der Erlöser uns hier sagt, daß die Weissagung aufgehört habe als das Evangelium anfing? so müssen wir, wenn wir es buchstäblich neh-

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men, es allerdings läugnen; denn in den heiligen Schriften des neuen Bundes wird uns immer noch die Weissagung dargestellt als eine von den Gaben, durch welche sich der heilige Geist in der christlichen Kirche verherrlicht. Als der Apostel Paulus zuletzt nach Jerusalem reiste, wo er sollte überantwortet werden und gefangen genommen, damit er gestellt werde | vor das Gericht, da traf er auf seiner Reise zu Cäsarea vier Töchter des Apostels Philippus, welche weissagten; da trat ihm der Prophet Agabus entgegen, der ihn mit Stricken gürtete und sprach: „So wird diesem Manne geschehen zu Jerusalem, wenn er seine Reise vollendet hat“; und überall begleiteten diesen Apostel solche prophetische Stimmen singend gleichsam im Triumphe. Ja in der heiligen Schrift selbst finden wir ein Buch voll von Gesichten, wie die der alten Propheten, und von geheimnißvollen Nachrichten, von denen wir freilich nicht wissen, ob sie auf die Vergangenheit hindeuten oder auf die Zukunft; wir können nicht deuten, ob der heilige Seher auf nahe oder ferne Gegenstände durch erhaltene Weisheit oder durch Weissagung seinen Blick gerichtet; ich sage, wir verstehen dies nicht bestimmt zu unterscheiden; aber wohl hat ganz dieses Buch das Ansehen der alten Weissagung, und ist als ein heiliges Buch in unsere heiligen Bücher aufgenommen worden. So finden wir ja die Weissagung in dem Evangelio selbst fortgesetzt, und nicht | aufgehoben, und die Geschichte der ersten Jahrhunderte brachte noch manche Beispiele von solchen Weissagungen im Schooß der christlichen Kirche hervor. Als Huß hingeführt wurde um den Tod für die Wahrheit zu leiden; da sagte er voraus, in hundert Jahren werde ein anderer kommen stärker als er, ein anderer, den sollten sie nicht schlachten wie ihn; sondern wie ein herrlicher Schwan werde er einhergehen, und sein ganzes dem Dienste Gottes geweihtes Leben entfalten, mit seinem Schwanengesang werde er eine große Menge an sich locken, und mit mächtigen Fittigen die schlagen, welche ihn hemmen und stören. Dies 4–9 Vgl. Apg 21,8–11 22–28 Der böhmische Kirchenkritiker Jan Hus war 1415 auf dem Konstanzer Konzil zum Ketzer erklärt worden und starb infolgedessen am 6. Juli 1415 den Feuertod. Sein Freund und Mitstreiter Hieronymus von Prag erlitt am 26. Mai 1416 das gleiche Schicksal. Hus hatte sich in einem Brief aus dem Gefängnis in Konstanz als zahme Gans bezeichnet, während Hieronymus von Prag seinen Richtern zugerufen haben soll, sie müssten sich in hundert Jahren vor Gott verantworten. Diese historischen Fakten liegen der Legende zugrunde, dass Hus vor seinem Tod gesagt haben soll, er sei nur eine arme Gans, die man verbrennen könne, aber hundert Jahre nach ihm werde ein Schwan kommen, den man nicht braten könne. Explizit findet sich die Legende erstmals bei Martin Luther, der sich ab 1519 immer wieder selbst mit Hus identifizierte. Er schrieb 1531 in seiner Glosse auf das vermeintliche kaiserliche Edikt: „S. Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem gefengnis ynn behemerland schreib, Sie werden itzt eine gans braten (denn Hus heisst eine gans) Aber ober hundert iahren, werden sie einen schwanen singen horen, Den sollen sie leiden. Da solls auch bey bleiben, ob Gott wil“ (WA 30,3, S. 387) Zu ähnlichen Aussagen Luthers und den Hintergründen seiner Identifizierung mit dem Schwan vgl. Joestel, Die Gans und der Schwan, S. 9–12.

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war eine Weissagung, welche erfüllt wurde. Und sollten wir nun sagen, dies müsse die letzte Weissagung gewesen sein in der christlichen Zeit; woher sollten wir dies bestimmen können; und gewiß ist seit dieser Zeit manches Wort geredet worden mit Bestimmtheit und Wahrheit. So war es mit den Weissagungen des alten Bundes auch. Was meint also der Herr, wenn er sagt, die Propheten hätten geweissagt bis auf Johannem, | von da an aber wird das Reich Gottes durch das Evangelium verkündiget? Denn wenn nun die Weissagung nicht ganz ausgesprochen ist, sondern sich noch immer wieder erneuert, was bleibt übrig als daß wir den hauptsächlichsten Sinn der Worte des Erlösers darin finden, daß von Johannes an das Reich Gottes durch das Evangelium verkündigt worden, und also die Verkündigung des Reiches Gottes nicht mehr abhängt von der Weissagung. Denn so war es in der Zeit des alten Bundes, wo es einer besondern Lehre bedurfte für das Volk, welchem das Wort des Gesetzes unbekannt geworden welches in thörichten Leidenschaften und wildem Wahne im Begriff war sich von dem ihm vorgezeichneten Wege zu entfernen: da erweckte der Herr aus den Propheten seine Lehrer, und sie weissagten, und ihrer Lehre wurde geglaubt um ihrer Weissagung willen, und sie hielten so jenen früheren Bund zusammen, der nachher nicht das Reich Gottes selbst war, sondern nur der Schatten von dem künftigen Glauben. So haben sie durch die lehrende Weissagung und durch die weissagen|de Lehre diesen Bund zusammengehalten unter welchem der Herr alles beschlossen hatte, aber nur unter der Sünde, damit wenn die Zeit des Glaubens käme, der Herr sich aller erbarme. Wenn nun, m. g. F., jene Töchter des Evangelisten Philippus zu Cäsarea weissagten, so laßt uns mit den Worten der Schrift bedenken, daß die Frauen schweigen sollten in der Gemeine, wo das Wort Gottes gelehrt wurde und das Reich Gottes verkündiget. Schwiegen sie also da, und weissagten doch, so war ihre Weissagung nicht verbunden mit der Verbreitung des Reiches Gottes und des Evangeliums, und beides war von einander geschieden. Wenn den alten Propheten geglaubt wurde um ihrer Weissagung willen, und das Volk Gottes schon durch Moses angewiesen war, einem jeden Propheten, welcher wahr geweissagt, zu glauben, wenn ihm selbst und also die Weissagung eine Richtschnur sein sollte für das Handeln der Menschen und als Anweisung Gottes: so sehen wir auch, wie jene Weissagung des Apostels Paulus auf seiner Reise nach Jerusalem | ganz anderer Art war als jene alttestamentlichen; denn auch der einzige, welcher uns mit Namen genannt wird als der, welcher diese Weissagung ausspricht, wird nicht genannt als Lehrer des Evangeliums, und eben so sind alle andern verklungen, wie sie es nicht sein würden, wenn sie im Verhältniß ihrer Weissagung ausgezeichnet gewesen wären als Lehrer des Reiches Gottes. Ja 24–25 Vgl. Apg 21,8–9

25–26 Vgl. 1Kor 14,34

31–32 Vgl. Dtn 18,21–22

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weit entfernt davon war der Apostel Paulus die Weissagung anzusehen als Richtschnur für sein eigenes Handeln; sondern wiewohl ihm geweissagt war, so kehrte er sich nicht an die Weissagung, sondern sie nur ansehend als Richtschnur dessen, was geschehen würde, unterließ er nicht das zu thun, wodurch er sich gebunden fühlte im Geiste, und was sein Gewissen lauter zu ihm redete als die Weissagung. Ja jenes weissagende Buch, jenes Buch der Offenbarung des Johannes in den Schriften des heiligen Bundes, es steht unter denselben, aber auf eine merkwürdige Weise geschieden von den übrigen, und wenn wir gestehen müssen, wie das geschrie|bene Wort Gottes in unsern heiligen Büchern eine Fülle des Segens von Anfang an verbreitet hat über die christliche Kirche: so können wir eben so wenig läugnen, daß eine einseitige Beschäftigung mit diesem Buche der Offenbarung zu mancherlei Krankheiten Veranlassung gegeben hat in der Kirche, daß diejenigen, die die Weissagung gleichstellen wollten der Verkündigung des Reiches Gottes, die den Geist der evangelischen Lehre nicht verstanden, sich an das dunkle Wort der Weissagung eben so sehr mit starker Begierde hingen, als an das vergebende Wort des Evangeliums. Das also, m. g. F., das besonders hat der Erlöser sagen wollen, wenn gleich in die Zukunft hineinzusehen auch in der neutestamentlichen Zeit eben so sehr [wie] die Weissagung eine Wirkung des göttlichen Geistes in der menschlichen Seele sein soll; wie überhaupt immer unzertrennlich ist von ihrem Bestreben [in] der Gegenwart das Hineinschauenwollen in | die Zukunft, ein Ahnden der Zukunft; so sei doch eben die Weissagung, insofern sie vom göttlichen Geiste ausgeht, unabhängig von dem, was der eigentliche Beruf in der Kirche ist, das Wort Christi zu erhalten, ins Gedächtniß zurückzurufen und immer mehr zu verklären, und nur durch dieses ihr eigentliches Amt werde das Reich Gottes verkündiget und gebaut, die Weissagung aber für sich bestehend habe daran keinen Theil. Wenn dieses nun der Sinn sein muß von diesen Worten des Erlösers, so laßt uns zum zweiten Theil unserer Betrachtung gehen, um zu sehen wie das Aufhören der Weissagung zu den Vorzügen des neuen Testaments gehört und die Herrlichkeit des Evangeliums verkündiget. Wir dürfen aber nur, m. g. F., eine Vergleichung anstellen zwischen der Zeit des alten und des neuen Bundes und zwar eine solche, wie sie uns allen zugänglich ist und leicht, um uns davon zu überzeugen. Denn zuerst wissen wir ja alle, daß in der Zeit des Alten Bundes die Wirkung des göttlichen | Geistes auf die menschliche Seele nur etwas Vorübergehendes, Zerstreutes und Einzelnes war. Wenn das Übel recht weit gekommen war, und das Verbrechen gewachsen unter dem Volke Gottes: da sandte der Herr Propheten, welche weissagend lehrten, und so war es auch natürlich, daß ihnen auch mitgegeben werden mußte etwas Außerordentliches zu ihrer Beglaubigung, und daß der Herr dazu die 1 davon] davavon

26 ihr] sein

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Weissagung gewählt hatte, liegt darin, daß diese zu dem Gesetze gehörte, unter welchem wir nicht mehr stehen sollen; denn das Gesetz wirkt durch die Handlung und Strafe, und eben so durch die Verheißung des Lohnes, und also eines in der Zukunft liegenden Gutes. Wenn also die Propheten keine andere Bestimmung hatten als auf die Worte des Gesetzes zurückzugehen, und diese recht einzuschärfen, wenn eben dieses, daß das Gesetz nicht wirkte mit der Kraft, mit der es wirken sollte, daraus zu erklären war, daß die Androhung des Übels eine zu allgemeine und unbestimmte war, | und die Verheißung des Guten zu entfernt lag: wie konnte anders die Kraft des Gesetzes geschärft werden als eben dadurch, daß ein bestimmtes Übel angedroht und ein bestimmtes Gut verheißen wurde, und so war es nichts anderes als das Wesen des Gesetzes selbst, welches sich in der Weissagung wiederholte und erneuerte. Darum sollte auch die Kraft der Lehre mit der Weissagung auf’s innigste verbunden sein, und nach der Wahrheit der Weissagung beurtheilt werden, dem Propheten sollte geglaubt werden was er rieth und anbefahl, um deßwillen, was er weissagte. Wenn in der neutestamentlichen Zeit die Warnungen, welche wir finden in der christlichen Kirche, wenn diese für sich gestanden hätten, nicht verbunden mit dem dunklen Worte der Gesichte: so würden sie dieselbe Kraft gehabt haben, weil sie nicht auf die Stimme des Gesetzes, sondern auf das Evangelium zurückgehen; wenn jenem Diener der göttlichen Wahrheit, dessen ich vorher erwähnt habe, auch nicht die Kraft in der ahndenden Seele gewirkt hätte, die auf ihn kommen sollte, Luthern und seine ganze Zeit | zu weissagen: so hätte dennoch dies an seiner Kraft nichts verloren, so wie es durch das Wissen nichts gewann. Wenn nun eben darauf, daß auf der einen Seite die Wirkung des göttlichen Geistes etwas Vorübergehendes war und etwas Zerstreutes, und auf der andern Seite seine Wirkung in den Propheten zurückging auf das Gesetz, und in der Weissagung, verbunden mit der Lehre, bestand: so müssen wir es natürlich finden, daß diese im neuen Testament aufgehört hat, und eine einzelne Gabe des göttlichen Geistes geworden ist, unabhängig für sich betrachtet von dem großen Beruf des göttlichen Geistes, der alles in sich schließt, das Wort des Herrn zu erhalten und zu verklären. Aber zweitens damit, daß die Wirkung des göttlichen Geistes in der Zeit des alten Bundes etwas Vorübergehendes und Zerstreutes war, hängt etwas viel Wichtigeres und Größeres zusammen, nämlich daß sie damals auch etwas Außerordentliches sein sollte und im Streite mit der Natur; aber in der Zeit des neuen Bundes ist der göttliche Geist in so beständige und stetige Vereinigung eingegangen mit der Seele der Gläubigen, | daß eben deshalb das Wunderbare in seiner Wirkung verschwunden, und sich ganz in die Natur des Menschen vertieft, und also die Gestalt desselben an sich trägt. So m. g. F., so war es allerdings 16 was er] wer

23 seiner] seine

14–16 Vgl. Dtn 18,21–22

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ehedem; es war etwas Wunderbares, wenn das Wort Gottes an einen geschah, es war etwas der menschlichen Natur Ungewohntes und ihr auf gewisse Weise Widerstrebendes, daher wir oft bemerken ein Ringen der menschlichen Natur gegen den Geist Gottes, der sich in derselben offenbaren will, gar oft ein Bestreben, sich vor ihm zu verbergen, seinem Rufe nicht zu folgen. Dadurch wird nun natürlicher Weise zu dem Ungewohnten auch dieses, das den Menschen aus den Banden des Widernatürlichen befreit, [und ihn] auf einen größeren Standpunkt stellt, auf welchem er das Große und Ungewohnte leichter ertragen konnte. Sollte aber der Geist Gottes ausgegossen werden auf alles Fleisch, wie denn die Weissagung des alten Bundes war, so mußte eben deswegen, weil es etwas Gewohntes wurde, das Wunderbare verschwinden; so konnte auch das, daß der Mensch | in diesem Zustande der Begeisterung sich die Zukunft erschloß, nicht mehr ein Kennzeichen sein von der noch bevorstehenden Weissagung, denn die Gesammtheit der Menschen muß gehalten sein von den Banden der Gegenwart, sonst verwirrt sich ihr ganzes Wesen. Um dasjenige nicht nur zu ertragen, sondern auch recht und nach dem Willen Gottes zu gebrauchen, dazu bedarf es einer solchen äußerlichen Hilfe nicht mehr; wie können wir anders als die Herrlichkeit des Evangelii darin sehen, daß alles Wunderbare in der Wirkung des göttlichen Geistes an der menschlichen Seele geschehen ist. Betrachten wir, m. g. F., was geschehen ist seit der Zeit, daß das Reich Gottes durch das Evangelium verkündiget [ward]: so finden wir eine Verherrlichung der menschlichen Natur, welche verglichen mit dem, welches frühere Zeit leisten konnte, allerdings als wunderbar erscheint. Aber was für Wunder sind es? es sind auf der einen Seite nur die Wunder der Liebe, daß der Sohn Gottes, das ewige Wort, Fleisch wurde, lebte, litt und starb, um das größte Werk der Liebe, nämlich die Erlösung zu vollbringen, | was die Liebe Christi also drang und trieb, daß sie aus allem, was die Welt ihr entgegen zu setzen vermochte, gegen die Kraft, mit welcher sie zu kämpfen hatte, nämlich die Mächte der Finsterniß, siegreich hervorging; und so wurde festgesetzt das Wunder der Liebe im Streit gegen das Böse und gegen die Finsterniß, und auf der andern Seite nur eine Kraft der Liebe, den Menschen immer mehr und mehr zum Herrn zu machen, worüber er von Gott bestimmt war und so kam das Wunder der Liebe zu Hilfe dem Wunder des Verstandes; denn seitdem das Evangelium verkündigt wurde, hingen alle diejenigen, welche dieser Verkündigung glaubten, an dem Worte, welches herkommt vom ewigen Worte, in welchem sie schauen die Herrlichkeit des Vaters voller Gnade und Wahrheit, und der Geist dringt in die Tiefen der Gottheit, nicht etwa auf die Kräfte stolz, die in der menschlichen Vernunft liegen; sondern durch die Kenntniß des Sohnes in der Liebe zum Vater; denn Niemand kennt ja 9–11 Vgl. Joel 3,1

37–38 Vgl. Joh 1,14

40–41 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

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den Vater, denn der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren, und umfaßt das Große, daß Gott die Liebe ist. Aber der Geist Gottes mit diesem Wunder der Liebe und des Verstandes, ist nun, seitdem das Reich Gottes durch das Evangelium verkündiget worden ist, eben gebunden an diese Verkündigung des Evangelii unter keiner andern Gestalt, als daß sie sich möchten versöhnen lassen mit Gott, kein | anderes Wunder und Gabe suchend, als eben jenes, daß er geworden ein zusammenhangendes, stilles natürliches Leben, in welchem diejenigen, welche den Geist in sich aufgenommen haben, je mehr er als Licht von oben den Streit mit der Finsterniß im eigenen Herzen überwunden, um desto mehr unterscheiden das eigene Wesen. Er ist es, das fühlen sie, der ihnen im Sohn den Vater offenbart; er ist es, das fühlen sie, der ihnen in den Worten der Schrift das Wort des Erlösers und ihn selbst und mit dem Sohne den Vater offenbart; er ist es, von welchem alles Wahre und Gute und Bleibende in der menschlichen Gesellschaft ausgeht, aber es ist ein ordnungsmäßiges, stilles und ruhiges Leben, in welchem sich die Kräfte dieses Geistes entfalten; es ist das Verlangen, welches die Herzen gegen einander aufschließt, und eben so der Wahrheit mehr Raum giebt und die Macht der Liebe gründet, welche die Menschen zur Verständigung ihrer verschiedenen Gedanken vereinigt. Wie viel herrlicher ist das als alle Kraft der Weissagung, durch welche der Geist Gottes nur in einzelnen Stunden jene | Männer gleichsam bezwang, und eben deswegen, weil das Evangelium sich ganz losreißt vom Gesetz, will es nichts anderes als die Kraft der Liebe, der Liebe, die sich zuerst im Sohne Gottes offenbart, zur Grundstufe haben. So bedarf auch die Verkündigung des Reiches Gottes durch das Evangelium nicht der Weissagung, als Enthüllung der Zukunft, denn das, was das Reich Gottes durch das Evangelium verkündiget, richtet sich an die Gegenwart, an das Seufzen und an den Schmerz der Kreatur, welche sich sehnt nach der herrlichen Offenbarung der Kinder Gottes, an das in der innersten Tiefe der menschlichen Seele wohnende Gefühl von einem bessern Zustande, welchen sie erlangen kann als denjenigen, worin sie im Fleische lebte; diese innere gegenwärtige Tiefe des menschlichen Herzens sucht sie auf, und schließt sich an diese an. Eben dadurch haben wir auch nicht mehr die Richtung auf die Zukunft, sondern je mehr sich das zusammenhängende Leben in der christlichen Kirche gestaltet, um desto mehr sollen wir uns gern und willig fügen in das Wort des Evangeliums, | daß der Vater seiner Macht Zeit und Stunde vorbehalten hat, um desto mehr soll es uns ein Bedürfniß sein in die Zukunft zu sehen; denn was den Genuß der Seligkeit betrifft, die uns gegeben ist: so haben wir 10 mehr] mehr zu 2 Vgl. 1Joh 4,8.16 Apg 1,7

15 es] er 5–6 Vgl. 2Kor 5,20

27–29 Vgl. Röm 8,19

36 Vgl.

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genug daran, denn in jedem Augenblick ist uns offen die unversiegbare Quelle, aus der jeder schöpfen kann, so viel er will, so viel er zu verarbeiten und zu genießen fähig ist. Sehen wir auf das, was uns zu thun obliegt, so bedürfen wir keiner Kenntniß der Zukunft, sondern wie der Apostel, der nur der Stimme seines Gewissens folgte, und nur dasjenige that, wozu er sich gebunden fühlte im Geiste: so auch alle Christen, ob wir wissen, wie viele von unsern Unternehmungen uns gelingen werden oder nicht, darf uns nicht beunruhigen, denn wie könnten wir etwas thun wenn irgend die Stimme des Gewissens dagegen wäre; denn was nicht aus diesem Glauben käme wäre doch immer Sünde. Ja alles was je die Weissagung und der Geist derselben in der Zukunft gesucht haben, wir haben es schon in der Verheißung und im Gebete; denn wenn er spricht, „meine Gemeine soll auch nicht die Pforte der Hölle überwältigen“: so haben wir ja die sichere Bürgschaft, daß wir | nicht werden von der Finsterniß besiegt, und so liegt ja die ganze Zukunft, nach welcher wir nur verlangen können, vor Augen, eben weil er bei uns sein will bis an’s Ende der Tage. Und wenn er zu seinem Vater spricht: „Ich will, daß wo ich bin auch die seien, die du mir gegeben hast“: so zieht er durch die Kraft des Gebets hindurch die Gemeinschaft, die keine Gewalt noch Glanz der Erde zerreißen wird, das ist die Freiheit des Geistes, daß keine Macht der Natur das Band, welches die Gläubigen mit dem Erlöser vereinigt, zerreißen könne. Wie untergeordnet auf dieser Höhe ist alles, wie fühlen wir diese Frucht des Geistes, wie viel größer ist das, als was das alte Testament Ehrfurchtvolles und Großes aufzuweisen hat. So laßt uns denn, m. g. F., dessen uns erfreuen, daß das Reich Gottes uns verkündiget wird durch das Evangelium, durch die fröhliche Bothschaft, die auch nicht reich sein will aus sich, sondern aus der Fülle des Sohnes Gottes und des Geistes, den er gesandt hat, nachdem er verschwunden. Laßt uns festhalten an dem Wunder des Geistes und an der einen Weissagung, daß wir mit ihm und unter einander und alle an seinen Namen gebunden sind durch die Macht der Liebe, ein Band stärker als daß es jemals menschliche Gewalt zerreißen könne. Und daran laßt uns genug haben, und diese Gaben immer mehr befestigen zum Preise dessen, von dem sie kommen. Amen.

6 viele] viel

17 seien] sein

12–13 Vgl. Mt 16,18

28 des] der

16 Vgl. Mt 28,20

17–18 Joh 17,24

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Vor dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Gott laß uns, von dir erkohren, / Christi wahre Jünger sein, / Die aus seinem Geist gebohren, / Sich nur seinem Dienste weihn! / Wirk dazu in unsern Herzen / Wahrer Buße sel’ge Schmerzen; / Mach uns durch den Glauben neu, / Seine Frucht sei Lieb’ und Treu. // [2.] Mach uns in der Hofnung sehnlich, / In der Sanftmuth Jesu gleich; / Ihn in Herzensdemuth ähnlich, / Und im Beten andachtreich; / In Geduld unüberwindlich, / In der Gottesfurcht recht kindlich, / Bild’ uns als sein Eigenthum, / Ganz zu seinem Preis und Ruhm. // [3.] Rett’ uns aus dem Weltgetümmel, / Bring’ uns unsrer Ruhe nah! / Unser Herz sei schon im Himmel, / Denn auch unser Schaz ist da. / Laß sich unsern Sinn gewöhnen, / Sich nach jener Welt zu sehnen, / Denn dein auserwählt Geschlecht / Hat des Himmels Bürgerrecht. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meine Freude etc. [1.] Wort aus Gottes Munde, / Wort vom Friedensbunde, / Evangelium! / Da wir tief gefallen, / Ließ dich Gott erschallen / Uns zu neuem Ruhm! / Gottes Kraft, / Die Glauben schafft, / Gute Botschaft, du, zum Leben / Uns von Gott gegeben! // [2.] Was dein Wohlgefallen, / Großer Gott, uns allen / Längst bestimmet hat; / Was erst schwache Schatten / Vorgebildet hatten, / Das vollführt dein Rath. / Daß dein Eid / Dich nicht gereut, / Zeigst du nun; in Jesu Namen / Wird er Ja und Amen. // [3.] Alles ist vollendet; / Gott hat den gesendet, / Der verheißen war. / Nachdem er sein Leben / Für uns hingegeben, / Stellt sein Geist sich dar! / Fort und fort / Läßt der das Wort / Durch die Jünger weit verbreiten, / Die zu Jesu leiten. // [4.] Für die hart Bedrohten / Welche frohe Boten! / Wie erwünscht ihr Mund! / Wie so hold sie mahnen / Zu des Königs Fahnen! / Welch ein theurer Bund! / Gottes Huld / Tilgt unsre Schuld; / Wer mit Christo sich vereinigt, / Wird von ihm gereinigt. // [5.] Hierauf will ich bauen, / Christo mich vertrauen, / Und in ihm mich freun! / Ihm nur will ich leben, / Ihm mich ganz ergeben, / Ewig treu ihm sein: / So werd ich / Dereinst durch dich, / Meinen Heiland, selig sterben, / Und den Himmel erben. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ach Gott und Herr etc. [1.] Mich zu erneun, / Mich dir zu weihn, / Ist meines Heils Geschäfte. / Durch meine Müh / Vermag ichs nie, / Dein Wort giebt mir die Kräfte. // [2.] Herr unser Hort, / Laß uns dies Wort! / Du hast es uns gegeben, / Es sei mein Theil / Und bringe Heil, / Und Kraft zum ewgen Leben. //

Am 27. Juli 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

9. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,43–51 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 100–111; Andrae Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SN 608/2, Bl. 1r–2v; Saunier Nachschrift; SAr 55, Bl. 36r–41r; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

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Am 9. Sonntage nach Trinitatis 1823. Tex t. Joh. 1, 43–51. Des andern Tages wollte Jesus wieder in Galiläam ziehen, und findet Philippum, und spricht zu ihm, Folge mir nach. Philippus aber war von Bethsaida, aus der Stadt Andreas und Petrus. Philippus findet Nathanael und spricht zu ihm, Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesez, und die Propheten geschrieben haben, Jesum, Josephs Sohn von Nazareth. Und Nathanael sprach zu ihm, Was kann von Nazareth gutes kommen? Philippus spricht zu ihm, Komm und siehe es. Jesus sahe Nathanael zu sich kommen, und spricht von ihm, Siehe, ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. Nathanael spricht zu ihm, Woher kennest du mich? Jesus antwortete und sprach zu ihm, Ehe denn dir Philippus rief, da du unter dem Feigenbaum warst, sahe ich dich. Nathanael antwortete und spricht zu ihm, Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel. Jesus antwortete und sprach zu ihm, Du glaubst, weil ich | dir gesagt habe, daß ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum; du wirst noch größeres denn das sehen. Und spricht zu ihm, Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und herabfahren auf des Menschen Sohn. Von drei Jüngern des Herrn, m. a. Fr., hat uns Johannes vorher erzählt, wie sie zur Gemeinschaft des Herrn gelangt wären; zwei unmittelbar aufgefor21–2 Vgl. Joh 1,35–37.40–42

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dert durch das Zeugniß Johannes des Täufers, und der dritte zu Christus gebracht durch seinen Bruder. Hier wird von zwei andern erzählt, von Philippus und Nathanael, von denen der erste bestimmt unter der Zahl der Zwölfe aufgefunden wird, von dem andern aber ungewiß ist, ob er zu derselben gehört habe oder nicht. Vom Philippus erzählt Johannes, daß ihn der Herr selbst zu sich gerufen habe, indem er ihm begegnet sei, und zu ihm gesagt habe, Komm und folge mir nach. Dieses erscheint uns nun wol auf den ersten Anblikk als ein besonderer Vorzug, dessen sich Philippus zu erfreuen gehabt, daß der Herr ihn besonders einlud, und so mag es uns um so mehr wundern, daß wir nicht auch etwas besonderes und ausgezeichnetes von seinem Geschäft in dem Reiche des Herrn und von dem Dienst, zu dem er ihn berief, in den Büchern der heiligen Schrift wahrnehmen; denn wenn die Apostel mehreres von einem Philippus erzählen, daß er unter den Samaritern das Reich Gottes ausgebreitet habe, so scheint dies nicht einer von den Zwölfen gewesen zu sein, sondern ein anderer des Namens. Allein worin besteht denn auch der Vorzug, dessen sich Philippus zu erfreuen gehabt? Es bleibt doch auch in Bezug auf die übrigen der Spruch wahr, Nicht ihr habt mich erwählet, sondern ich euch; ob bei dem | einen er mehr that ihn zu seiner Gemeinschaft zu ziehen, ob andere auf andere Weise hinzugezogen wurden, dies macht einen bedeutenden Unterschied nicht aus; es bleibt derselbige Wille des Herrn, der sich diejenigen auserwählt hat, die zuerst den Menschenkindern Hülfe leisten sollten, der sie zu seinen Werkzeugen ausgerüstet hat, seinen Namen bekannt und seine heilige Liebe allen zugänglich zu machen. Wir sehen auch, daß der Herr hiebei auf eine ganz natürliche Weise verfuhr. So wie er diejenigen nicht von sich wies, die sich durch das Zeugniß des Johannes gedrungen fühlten seine Bekanntschaft zu machen, eben so sehen wir auch hier ihn fortgehen an dem natürlichen Faden der menschlichen Entwikklung. Philippus war aus der Stadt des Andreas und Petrus, also auch gewiß dort, wo sie sich in der Fremde befanden, mit ihnen in der Nähe des Johannes, und so ist nicht zu bezweifeln, daß der Herr in dem Philippus auch einen bekannten Freund herzurief und ihn den übrigen zugesellte. Finden wir nun noch jezt, m. g. Fr., einen ähnlichen Unterschied unter den Menschen, wenn wir darauf achten, wie sie der Herr auf verschiedene Weise zu sich ladet? Allerdings wohl. Es scheint bei dem einen sich alles dem Laufe seiner innern Entwikklung oder den vom Herrn geordneten Verhältnissen seines Lebens anzuschließen; bei dem andern scheinen wie bei Philippus ganz besondere Fügungen im Leben, ganz besondere Aufforderungen, gleichsam ein von oben her wie durch eine unmittelbare Veranstal13–15 Vgl. Apg 8,5–8

18–19 Vgl. Joh 15,16

26–27 Vgl. Joh 1,38–39

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tung des Herrn eintretendes Rufen Statt zu finden, um seine Seele zu ihm zu führen und von dem bloß irdischen Leben abzulenken. Geht es bei einem auf eine scheinbar natürliche Weise her, so erscheint bei einem andern die Willkühr der göttlichen Gnade. Aber wir dürfen bei dieser Untersuchung nicht mehr als billig stehen bleiben und etwa ganz besondern Werth darauf legen, denn wir sehen nicht, daß diese Verschiedenheit irgend einen bedeutenden Unterschied hervorbrachte in dem | Umgange des Herrn mit seinen Jüngern; alle zwölf waren dem Herrn gleich werth, ungeachtet der eine so der andere so zu ihm gelangt war. Darum mögen wir uns von diesem äußern vielmehr abwenden und auf das innere unsere Aufmerksamkeit richten; denn darauf kommt es doch nur an, daß wir sagen können mit Philippus, Wir haben den gefunden, von dem Moses und die Propheten geschrieben, den gefunden, der so lange verheißen ist; wie wir ihn gefunden haben, das ist doch nur Leitung der göttlichen Gnade, das ist doch nur immer seine Wahl und keines andern. Wenn aber nun diese Ueberzeugung in dem Menschen fest geworden ist, daß er in Jesu von Nazareth den gefunden habe, von dem Moses und die Propheten geschrieben: dann entsteht auch natürlicher Weise das Verlangen, wie der gute Mensch das beste und herrlichste nicht für sich allein haben will, diese Ruhe und diesen Frieden der Seele, die er in ihm gewonnen hat, auch andern mitzutheilen; und so sehen wir bei Philippus, wie richtig der Herr gethan hat ihn zu sich zu rufen. Da sein Glaube fest geworden war, daß Jesus der sei, von dem Moses und die Propheten gezeuget, so läßt er es sich sogleich angelegen sein, einen von denen, die ihm lieb sein mußten, zum Herrn zu weisen. Denn so geht Philippus, als er den Nathanael trifft, der aus derselben Gegend sein mußte, der ihm wol auch befreundet gewesen ist, zu ihm und sagt, wie er den Herrn in Jesu, Josephs Sohn von Nazareth, gefunden. Nathanael aber hatte ein Bedenken und spricht, Was kann von Nazareth gutes kommen? Wir finden ein ähnliches Bedenken auch späterhin entgegengestellt denjenigen, die Jesum als den verheißenen Messias verkündigten; denn bald sprach man, Wir wissen ja, von wo dieser ist, wenn aber Christus kommen wird, wird es niemand wissen; bald sprach man wieder, Ist | dieser nicht aus Galiläa? aus Galiläa stehet kein Prophet auf. Wenn aber Nathanael hier spricht, Was kann aus Nazareth gutes kommen? so muß dieses sein Bedenken noch eine andere Bedeutung gehabt haben. Nämlich es war Nazareth ein unbedeutender Ort, von dem man nichts großes erwarten konnte. So sehen wir also, daß der Herr den Menschen von allem äußeren, das ihn zu einem Glauben führen könnte, der doch nicht Stich halten würde, eben weil er auf etwas äußerem beruhte, abzulokken weiß. Christus 40 er] es 32–34 Vgl. Joh 7,27.52

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war nun wirklich in Bethlehem geboren, in der Stadt Davids, aber weil er sehr bald von dort weggekommen war und in Galiläa erzogen: so war dies nicht recht bekannt, und der Herr machte es keinem bekannt und legt also keinen besondern Werth darauf; diejenigen, welche an solchen äußerlichen Kennzeichen hafteten, fanden nun Bedenken zu glauben, und darin müssen wir nur die göttliche Gerechtigkeit erkennen, weil dies doch nur ein unvollkommner Glaube gewesen wäre, der am äußerlichen haftete. Nathanael ging davon aus, daß wenn der Herr etwas großes und ausgezeichnetes wolle geschehen lassen auf Erden: so sehe man auch die Vorbereitung dazu und finde solche besondere Werkzeuge ausgehen aus solchen menschlichen Verhältnissen, in welchen schon der Grund zur Erleuchtung des Geistes hätte gelegt werden können. Wie sehr das eine einseitige Ansicht ist, und wie viele Beispiele es auch vom Gegentheil giebt, davon zeugt die Geschichte auf mannigfaltige Weise. Wo es die menschliche Berechnung am wenigsten erwartet, aus dem tiefen Dunkel und aus der unbedeutenden Menge wählt sich der Herr seine Werkzeuge. Nur für den gewöhnlichen Gang der Dinge mag jene Regel gelten, daß, wie Gott ja auch ein Gott der Ordnung ist, die Entwikklung des innern nur im Zusammentreffen mit den Umständen von außen dazu führe, dem Menschen zu manchem außergewöhnlichen zu verhelfen un|ter seinen Brüdern; für das außerordentliche aber gilt auch nur das außerordentliche, und darum war es auch der Sache nicht angemessen, daß Nathanael sagte, Was kann aus Nazareth gutes kommen? Wie entgegnet ihm aber Philippus? Komm und siehe es; und darin erkennen wir recht, wie sehr die Seele, wenn sie schon fest geworden im Glauben, rein an ihrem Gegenstande hängt und nicht an etwas äußerlichem. Damit hatte Philippus seine Rede angefangen, daß er sagte, Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesez und die Propheten geschrieben haben, und dann bezeugt er zu diesem seinen Glauben, daß in jenen alten Büchern von einem künftigen Reiche Gottes geredet war, noch dies, daß jene Verheißung erfüllt sei in Jesu von Nazareth. Als aber Nathanael sein Bedenken aufstellt, da konnte er nicht anders als ihn auf die innere Gemeinschaft zurükkweisen, die ihm schon geworden war, Komm und siehe es. Und anders, m. g. Fr., können und sollen auch wir es nicht machen, wenn in uns das Verlangen entsteht das Heil andern mitzutheilen; auf nichts anderes sollen wir uns berufen als auf unsere Erfahrung, auf unsere Seele, die durch den Glauben froh geworden ist. Wie Johannes in Bezug auf das fleischgewordene Wort sagt, Wir sahen in ihm die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater: so ruft Philippus, Komm und sieh, und du wirst 39–40 Vgl. Joh 1,14

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sehen, daß er derjenige ist, der vom Himmel herab den Menschen gegeben ist, komm und sieh es. Nicht nur, m. g. Fr., gegen die Zweifel, die aus den äußerlichen Verhältnissen und aus dem geschichtlichen Laufe der Dinge hergenommen sind, giebt es keine andere Antwort, als, Komm und sieh; sondern auch auf das Verlangen, daß sie auf dem bloßen Wege des Verstandes zu der rechten Einsicht des | Heils kommen zu können meinen, giebt es keine andere Antwort, als daß es Jesus sei, durch den die göttlichen Verheißungen erfüllt sind, keine andere Einladung als diese, Komm und siehe. Der Glaube kann keinen andern Grund haben, auf welchem er mit Festigkeit ruht, als die Erfahrung; er kommt nur in so fern aus der Predigt – denn das Wort des Philippus war ja auch eine Predigt – als dieselbe die Aufmerksamkeit und Hoffnung eines Herzens, welches sein Bedürfniß fühlt, auf seinen wahren Gegenstand hinweisen mag; bewirken aber kann die Predigt selber nichts, sondern der Herr selbst muß die Kraft geben, und so ist es auch jezt nichts anderes was den Glauben bewirkt, als das ganze Bild des Lebens unseres Herrn, wie es vor uns steht in der heiligen Schrift, und alles, was er durch seinen Geist schon hervorgebracht hat in den Herzen derer, welche von diesem Glauben schon durchdrungen und ergriffen sind. Aber daraus, m. g. Fr., geht freilich hervor, daß uns in dieser Beziehung noch etwas größeres und anderes obliegt als jenen ersten Jüngern des Herrn; sie hatten nichts anderes zu thun als zu sagen, Wir haben den Messias gefunden, und die hungernden und dürstenden herbei zu rufen, das übrige aber konnten sie dem Herrn selbst überlassen; jezt aber, da der Herr nicht mehr da ist, kann der Glaube nur entstehen, wenn in dem Menschen sich die Ueberzeugung entwikkelt, daß alles, was in der Schrift vom Herrn gesagt, ein wahrhaftiges Zeugniß ist von ihm, und die Verheißung erfüllt ist in ihm, so daß wir mit Philippus sprechen können, Wir haben den gefunden, von welchem Moses im Gesez und die Propheten geschrieben haben. O können wir dies sagen, so sind wir auch eingegangen in das Reich des Herrn. Haben auch wir dann erkannt die Kraft des Sohnes, die ausgegangen ist unter die Men|schen; ist es so, daß nicht mehr der bloße Buchstabe zu uns spricht, sondern daß das Wort lebendig geworden ist in unserm Herzen: o dann werden auch wir ganz ergriffen werden von seiner Kraft; und wenn diese neue Schöpfung aufgegangen ist in uns, unser innerstes nach außen hinausdringt: so werden auch wir nichts anderes sprechen, als, Kommt und sehet. Aber der Herr verschmäht auch nicht sich noch auf eine eigenthümliche Weise zum Nathanael zu wenden, wiewol nicht um ihn zu gewinnen, indem er zu ihm spricht, als er ihn zu sich kommen sieht, Siehe ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist. Hiebei, m. g. Fr., fällt uns wol sogleich ein, wenn es wahr ist und das tiefste Wesen unseres Glaubens ausmacht, daß erst durch die Verbindung

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mit dem Erlöser alles wahrhaft große und schöne in unserer Seele gewekkt wird, erst dadurch ans Licht gebracht wird, was vorher dunkel und getrübt ist: wie konnte dann wol der Herr vom Nathanael, der doch noch nicht gläubig war, sagen, Ein rechter Israelit, in welchem kein Falsch ist; denn darin drükkt sich doch die innerste Reinheit seiner Seele aus; und wenn wir freilich sagen müssen, daß es ein großes Lob ist, so sehen wir doch zugleich, wie dieses ohne Falschsein bei Nathanael noch alle die Vorurtheile zuließ, die noch erst zu überwinden waren, und wie demohnerachtet der Geist Gottes in seiner Seele noch zu thun hatte, wenn gleich gesagt wird, Ein rechter Israelit. Wenn wir aber, m. g. Fr., den Menschen betrachten, wie er von Natur ist, so finden wir eine große Abstufung. Das tiefste Verderben zeigt sich in der Falschheit des Menschen, wenn er sich der Lüge hingiebt und andere zu täuschen sucht, und dagegen zeigt sich freilich das edle und göttliche in der menschlichen Natur um so mehr in jedem, je mehr er von Natur frei ist von der Theilnahme an der Lüge, je mehr er geworden ist | grade und einfach ohne Rükksicht zu nehmen auf Vortheil oder Nachtheil, auf Lob oder Tadel, auf Ruhm oder Schande. Und wir müssen gestehen, wie die menschliche Seele einfältig von Gott geschaffen ist und sich auch so darstellen soll, so macht das vor allem sie würdig Theil zu haben am Rathschluß der göttlichen Gnade, und offenbart sich darin am meisten in derselbigen, auch beim natürlichen Menschen, das Ebenbild Gottes, wenn wir sie antreffen ohne Falsch. Ist der Mensch ohne Falsch, so kann er sich auch dem nicht entziehen, wenn wir ihn aufmerksam darauf machen, wie er der Gnade bedürftig sei; und es ist desto leichter den Erlöser da zu suchen, wo man ihm sagt, daß er zu finden sei. Und gewiß, so wie dieses das schönste und edelste ist, welches sich in dem natürlichen Menschen zeigt: so müssen wir sagen, es ist die Gnade des Herrn, daß der Mensch sich der Wahrheit wieder hingiebt; denn nur wer die Wahrheit schauen mag, der vermag auch dem Sohn Gottes ins Antliz zu schauen, und wer der Wahrheit Angesicht recht schauen will, der vermag auch mit durstigem Auge in das Reich Gottes zu schauen, um nicht zu bleiben wie er ist, sondern so zu werden, wie das Reich Gottes ihm zeigt, daß er sein soll. Als nun Nathanael, grade wie es der Mensch ohne Falsch machen würde, den Herrn fragt, Woher weißt du, daß ich ein solcher bin, woher kennst du mich? Da sagte ihm der Herr etwas, das die andern, die zugegen waren, nicht verstanden und auch nicht verstehen sollten, aber die Ueberzeugung gab es dem Nathanael, daß er sprach, Rabbi, du bist wahrhaftig Gottes Sohn. Was es auch gewesen sein mag, es muß von der Art gewesen sein, daß eben deswegen, weil es der Herr wußte und ihn daran erinnern konnte, ihm selbst zuerst die Herrlichkeit des ein|gebornen Sohnes vom Vater in

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diesem Jesu von Nazareth entgegenstrahlte. So, m. g. Fr., sagt Johannes auch anderwärts, der Herr habe nicht nöthig gehabt, daß man ihm sage, was in einem Menschen sei, sondern er habe immer gewußt, welchen er sich vertrauen dürfe. Und billig müssen wir dieses zu seinen Vorzügen rechnen, daß ihm das menschliche Gemüth offen und klar vor Augen lag, daß er von dem äußern einen schlechthin richtigen Schluß machte auf das innere, und jedes geringe Zeichen ihm hinreichte den verborgensten Zustand der Seele zu erfahren. Der Herr läßt sich das auch gefallen und widerstrebt ihm nicht, daß dieses ein rechtes Zeichen sei, woran er ihn habe erkennen können, und wir können nicht anders als sagen, daß dieser eigenthümliche Vorzug des Erlösers, wie ja seine Worte nichts anderes waren als ein Ausdrukk seiner Herrlichkeit, auch übergegangen sei auf das Wort, das von ihm zeugt; und so gestehen wir auch, daß das Wort Gottes Mark und Gebein scheide und in das innerste der Seele dringe. Darin verkündigt es seine Macht, daß es uns zugleich alles unvollkommene und verkehrte aufdekkt; dies ist seine göttliche Kraft, die wir alle fühlen müssen, je mehr sich das Bild des Erlösers in uns gestalten soll. Der Herr aber sagt zu Nathanael, Deswegen glaubst du nun, und nicht mit Unrecht; du sollst aber noch größeres sehen, nämlich größeres als diese Verbindung der lebendigsten Erkenntniß, in welcher der Erlöser stand mit der ganzen Menschheit, die er mit sich verbinden sollte; und indem er so mancherlei Abstufungen sezt in dem, was der Sohn offenbaren sollte von der Herrlichkeit des Vaters, bezeichnet er dieses größere, wovon er redet, mit diesen Worten, Wahrlich ich sage euch, von nun an werdet ihr den Himmel offen sehn und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen auf des Menschen Sohn. | Diese Worte konnten die anwesenden, die der Schrift kundig waren, erinnern an ein Gesicht, welches Jakob im Traume sahe, nämlich die Himmelsleiter, wodurch der Herr ihm bezeichnen wollte, daß der Ort wo er liege ein heiliger sei, und ihm die tröstliche Verheißung gab, daß eben diesen heiligen Boden er allem seinen Saamen geben wolle. Und so giebt der Erlöser nun zu erkennen, daß diese Verheißung jezt erfüllt sei, weil eben in diesem heiligen Lande er als derjenige geboren sei, der alle in solche Vereinigung mit dem Himmel führen sollte. Dieses sollten sie nun immer mehr und mehr erblikken in ihm, immer mehr zum Himmel hingeführt werden und so die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen sehen auf des Menschen Sohn. Und das sagt der Herr, indem er sein öffentliches Leben unter den Menschen anfängt, da er erst ein so kleines Häuflein von fünf Seelen um sich gesammelt hat, wie sie waren. So hatte er eben das Vertrauen, daß sie erkennen sollten in ihm die Verbindung des göttlichen mit dem menschlichen, des irdischen mit dem himmlischen, von diesem Tage an sollte ihnen 2–4 Vgl. Joh 2,25

13–14 Vgl. Hebr 4,12

27–30 Vgl. Gen 28,12–13

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dieses Licht aufgehen und sie so befestiget werden in der Gemeinschaft mit ihm. Und eben dieses, m. g. Fr., soll auch für uns alle der innigste Ausdrukk der tiefsten und seligsten Erfahrung sein; durch den Erlöser allein besteht das Band zwischen Himmel und Erde. Je mehr wir uns ihm hingeben, je mehr wir auf sein Wort und Werk achten, desto mehr werden wir dies erkennen; und eben darin liegt die Kraft des Glaubens, daß wir in diese Verbindung des irdischen mit dem himmlischen auch selbst mit hineingezogen werden und eben so gewiß daran Theil nehmen, als er uns erwählet; das ist die Herrlichkeit der Kinder Gottes, welche durch den Erlöser offenbar werden sollte. Denn was kann es herrlicheres geben, als wenn wir, hineingezogen in die | Verbindung des göttlichen mit dem menschlichen, ihm gleich sind und ihn schauen, wie er ist, ihn immer inniger erkennen lernen auf diese unmittelbare Weise als den eingebornen Sohn vom Vater in Ewigkeit, und auf diese Weise von einer Stufe zur andern geführt werden in den Reichthum seiner Gnade als solche, die durch den Glauben aus dem Tode zum Leben hindurchgedrungen sind. Amen.

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Am 27. Juli 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr St. Nikolai-Kirche zu Berlin Lk 16,1–9 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 104, Bl. 84r–95v; Andrae Keine Keine Vertretung für Ribbeck (Tageskalender)

Predigt am neunten Sonntage nach Trinitatis 1823 am sieben und zwanzigsten Heumonds, gehalten in der Nikolai-Kirche. (Lieder. 780; 793, 7 und 8 Porsts Ges.) |

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Gebet. Herr, unser Gott, der Du uns die Gabe des Wortes verliehen, und uns auch hier heute versammelt hast, um uns durch dasselbe zu erbauen, laß Du uns immer mehr dadurch also geheiliget werden, daß wir alles, was wir thun, zu Deiner Ehre thun, und indem wir auch bei den irdischen Dingen gedenken, was denjenigen geziemt, die Hausgenossen sind und Bürger mit allen Heiligen, wir noch vielmehr darauf bedacht sind, die geistigen Güter, die Du uns anvertraut hast, Deinem heiligen Willen gemäß so zu gebrauchen, daß auch durch uns Dein Reich auf 0 Schleiermacher vertrat in der Nikolai-Kirche Konrad Gottlieb Ribbeck (geb. 1759 in Stolp; gest. 1826 in Berlin). Ribbeck war nach seinem Theologiestudium in Halle 1779 für eine Tätigkeit als Lehrer des Kadettenkorps nach Stolp zurückgekehrt. Von 1780–1786 war er Prediger in Wilsleben und Winningen bei Halberstadt und von 1786–1805 Pastor an der Heiligengeistkirche zu Magdeburg. Danach wurde er als Propst und Prediger an die Berliner Nikolai- und Marienkirche berufen, wo er bis zu seinem Tod wirkte. 1806 erhielt er den Doktortitel der Theologie. Er stand der königlichen Familie sehr nahe und war 1800 zum Konsistorialrat (später Oberkonsistorialrat) ernannt worden. Besondere Wirkung entfaltete er ab 1814 als Mitglied der Liturgischen Kommission. Vgl. EPMB 2, S. 689; ADB 28, S. 802–804; BBKL 8, Sp. 173–176. 4 Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 780: „Ach, höchster Gott, verleihe mir“ (Melodie von „Was mein Gott will gescheh allzeit“); Nr. 793: „Herr Jesu! Gnadensonne“ (Melodie von „Herr Christ! der ein’ge Gottessohn“) 10–11 Vgl. Eph 2,19

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Erden vermehrt und ausgebreitet werde. Das verleihe uns um Deines Sohnes willen[.] Amen.

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Unser heutiges Evangelium als am neunten Sonntage nach Trinitatis lesen wir beim Evangelisten Lukas, wo es im 16. Kapitel und daselbst im ersten Verse also lautet: Er sprach aber auch zu seinen Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Haushalter; der ward vor ihm berüchtiget, als hätte er ihm seine Güter umgebracht. Und er forderte ihn, und sprach | zu ihm: Wie höre ich das von dir? Thue Rechnung von deinem Haushalten; denn du kannst hinfort nicht mehr Haushalter sein. Der Haushalter sprach bei sich selbst: Was soll ich thun? Mein Herr nimmt das Amt von mir; graben mag ich nicht, so schäme ich mich zu betteln. Ich weiß wohl, was ich thun will, wenn ich nun von dem Amte gesetzt werde, daß sie mich in ihre Häuser nehmen. Und er rief zu sich alle Schuldner seines Herrn, und sprach zu dem ersten: Wie viel bist du meinem Herrn schuldig? Er sprach: Hundert Tonnen Öhls. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Brief, setze dich, und schreibe flugs fünfzig. Darnach sprach er zu dem andern: Du aber, wie viel bist du schuldig? Er sprach: Hundert Malter Weizen. Und er sprach zu ihm: Nimm deinen Brief, und schreibe achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er so klüglich gethan hätte. Denn die Kinder dieser Welt sind klüger, denn die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht. Und ich sage euch auch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewige Hütten. | M. a. F., Dieser evangelische Abschnitt hat so viel Dunkeles an sich, daß er weniger als die meistem übrigen geeignet scheint öfter zur Betrachtung und Erbauung der Christen vorgehalten zu werden, und er führt uns in eine Verwickelung von menschlichen Verhältnissen hinein, wo alles anders ist, als es unter Christen sein sollte, und indem wir von den Fehlern des Einen auf die Fehler des Andern geführt werden: so ist es in dieser Vereinigung so gar schwer die Ermahnung des Erlösers richtig zu verstehen: „Und ich sage euch auch: Macht euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewige Hütten“, da ja sonst die übrigen Worte des Erlösers klar und faßlich zu sein scheinen. Indeß, wenn wir etwas weiter gehen als die Worte unseres Textes, und hören, wenn der Herr sagt: „Ihr könnt nicht zween Herren dienen, nicht Gott und dem Mammon, kein Haushalter kann zween Herren dienen“: so führt uns dies ganz deutlich darauf, daß eben diese ungetheilte Einfältigkeit des Herzens, die nichts anderes will als | Gott dienen, das Mittel sein muß, um unser Leben vor allen solchen Verwirrungen zu bewahren, die hier darge37 Mammon,] Mammon“,

37 dienen“:] dienen:

36–37 Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13

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stellt sind, und wenn wir dann weiter hinzusetzen, „wer im Geringsten nicht treu ist, ist auch nicht im Großen treu; und so ihr in dem Fremden nicht treu seid, wer will euch geben dasjenige, das euer ist?“ so führt uns dieses ja darauf, m. g. F., daß wir hier auf Erden überhaupt in der Fremde sind und das Irdische uns fremd, unser Vaterland aber im Himmel und die himmlischen Güter eigentlich unser Eigenthum. Wenn nun die Fehler und Verirrungen, welche der Herr uns hier darstellt in der Verwaltung des Irdischen, uns hindern können, daß uns das Ewige und Himmlische nicht anvertraut werden könne: so müssen in der Verwaltung des Himmlischen dieselben Fehler sein, welche er uns im Irdischen hier darstellt. So finden wir denn auch in diesen Worten des Herrn einen Gegenstand, würdig unserer Betrachtung, nothwendig von uns allen beherzigt zu werden, wie nämlich gegen alle Verwirrungen des Lebens die ungetheilte Einfalt des Herzens im Dienste Gottes, das einzige Hilfsmittel sei; und wir können dabei in der Erzählung un|seres Textes nicht nur bei dem Irdischen stehen bleiben, das damit unmittelbar berührt wird, sondern auch in der Verwaltung des Geistigen und Ewigen die ähnlichen Fehler vorhalten, vor denen uns diese christliche Einfalt des Herzens behüten könne. So sei denn dieses der Gegenstand, worauf wir jetzt mit einander unsere christliche Aufmerksamkeit richten wollen. Es fällt aber die Geschichte unseres Textes, den wir aus diesem Gesichtspunkte betrachten, gleichsam von selbst in zwei Hälften; die eine ist, wie der Haushalter vor seinem Herrn übel berüchtigt wird, und dieser ihm das Amt nimmt; die zweite ist die, wie dieser, um sich selbst gegen die ungewisse Zukunft zu schützen, den Schuldnern seines Herrn einen Theil der Schuld erläßt, und sie diesen Erlaß annehmen. Auf diese wollen wir mit Rücksicht auf die folgenden Worte unseres Erlösers, die ich schon erinnert habe, unsere Aufmerksamkeit richten. | [I.] Wenn aber der Erlöser alle diejenigen, die dieses Gleichniß hörten, als Haushalter ansieht, und in dieser Beziehung zu ihnen sagt: sie könnten nicht zween Herren dienen Gott und dem Mammon, sondern dem Einen oder dem Andern: so denken wir dabei an ein Wort des Apostels, der uns eben diese ungetheilte Einfalt des Herzens im Dienste Gottes im ganzen Umfange darstellt, indem er nämlich sagt, von einem Haushalter wird nichts weiter gefordert als nur, daß er treu erfunden werde. Zu dieser Treue aber eines jeden, mit demjenigen, das ihm sein Herr anvertraut hat, gehört das nicht, sondern wäre viel mehr ein fremdes Geschäft, in das er sich einmischte, daß ein solcher einen fremden Knecht richtet. Davon finden wir nun in den Gleichnißworten des Erlösers ein warnendes Beispiel; er sagt nämlich, der Haushalter ward vor seinem Herrn übel berüchtigt, als hätte er ihm seine Güter umgebracht. Der Herr läßt es in seiner Erzählung unentschieden, ob 1–3 Vgl. Lk 16,10.12

30–32 Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13

34–35 Vgl. 1Kor 4,2

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es wahr ist oder nicht, und so muß wohl das, | was die Andern gegen seinen Herrn vorbrachten unentschieden gewesen sein, und so thun die Übrigen eben nichts anders, als daß sie einen fremden Knecht richten; wenn aber dieses Unrecht ist, so war auch das Unrecht, das der Herr that, indem er jenes unbefugte Gerücht bestätigte, und zu seinem Haushalter sagt: Wie höre ich dieses von dir? Du kannst nun, da ich es bloß gehört habe, nicht mehr Haushalter sein, und nun fordert er ihn nachher erst, als er dieses Wort zu ihm gesprochen, auf, Rechnung zu halten, damit sein Amt könne einem Andern übergeben werden. Daß wir so einen fremden Knecht nicht richten sollen, wie er in dem Berufe, den ihm der Herr anvertrauet hat, handelt, wie er dasjenige, was unter seinen Händen liegt, verwaltet, dagegen warnt die heilige Schrift uns oft auf das aller ernsthafteste, und der Herr drückt das ganz allgemein aus, indem er sagt: „Richtet nicht, damit auch ihr nicht gerichtet werdet.“ Zwar könnte man hier fragen, wie denn, sollen wir schweigen zu allem Unrecht, welches wir in der Welt sehen, wenn wirklich Einzelne in der menschlichen Gesellschaft, wie diejenigen, die große | Abtheilungen derselben regieren, also die Gesellschaft selbst Vertrauen hegt zu einem oder dem andern, [wenn] diejenigen nicht bewähren, die Vollmacht, die ihnen gegeben ist, wenn diejenigen mit öffentlichem Gute schalten und ein Missbrauch treiben, wie, sollen wir dazu schweigen? sollen wir, auf dieses Wort des Erlösers gestützt, diejenigen rechtfertigen, die, um es sich selbst bequem zu machen, sich Weitläufigkeiten zu überheben, sich gar gerne vorspiegeln, als ob dieses oder jenes sie nichts angehe, und sollen wir auf diesem Wege so ungestört das Böse schalten und walten lassen? Das freilich nicht, m. g. F., aber wir dürfen dabei nicht dieses Wort vergessen, daß die Liebe nicht richtet und keinem etwas Böses nachredet, und müssen das Eine mit dem Andern zu verbinden suchen, um beide Worte des Herrn zu erfüllen. Je mehr nun die irdischen Angelegenheiten der Menschen so eingerichtet und geordnet sind, daß diejenigen, die ohnehin niemand richten kann, weil sie ein unabhängiges Ganze übersehen können, frei sind von der Verantwortung, sonst aber | jeder in dem irdischen Leben einen über sich hat, der darauf angewiesen ist, sein Betragen zu beobachten und alles Unrecht zu rügen; je mehr sie so eingerichtet sind, um so mehr kann jeder sich überheben, den fremden Knecht zu richten und ihm etwas nachsagen, das, wenn es wahr wäre, schon diejenigen müßten gerügt haben, denen es obliegt. Aber freilich giebt es ein großes Gebiet der menschlichen Angelegenheiten, die so nicht geordnet werden können; wo aber die Freiheit der Menschen herrscht, – und sie muß ja ihr bestimmtes Gebiet haben, je größer, je besser überall: – da bedarf es, daß jeder für 18 diejenigen] diejenige

30 kann] könne

13–14 Mt 7,1; Lk 6,37

26 Vgl. 1Kor 13,5

33 beobachten] beachten

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Recht und Pflicht achten müsse, dem Unrecht zu wehren, aber ist es geschehen, dann auch überall auf dem Wege und nach der Art der Liebe. In Beziehung auf dieses Gebiet unserer Angelegenheiten sagt der Herr: Wenn dein Bruder sündiget, so gehe zu ihm und halte es ihm vor unter vier Augen, und wenn du ihn da nicht überzeugen kannst und zur Erkenntniß des Unrechts führen: so nimm noch zwei oder drei Zeugen zu dir, auf daß er so zur Erkenntniß seines Unrechts komme, und nur erst, wenn auch das nicht hilft, halte ihn | für einen Heiden und Zöllner, das heißt, ohne sein Unrecht in die Welt zu bringen, da du doch nicht dafür stehen kannst, wie es in seinem Innern aussieht: so enthalte dich aller Gemeinschaft mit ihm, weil du die Überzeugung in dir trägst, daß sie dir schädlich sein könne, und so mußt du auch alle überzeugen, daß da ein Unrecht walte, wo sich auf diese Weise die christliche Liebe zurückzieht. Wenn wir so, m. g. F., in den irdischen Dingen der Wahrheit und dem Rechte die Ehre geben, ohne daß wir es uns anmaßen, einen vor der Welt übel zu berüchtigen, dessen Verhältnisse und Absichten wir nicht übersehen können: so haben wir dann gewiß das Uns’rige gethan, um zu verhindern, daß einer so handele wie unser Hausherr in dem Gleichniß handelt, nämlich bloß deswegen, weil sein Diener übel berüchtiget wurde, ohne seine Vertheidigung zu hören, ohne ihn ordnungsmäßig zu richten, ihn aus seiner Thätigkeit ganz heraussetzt, und es ihm unmöglich macht, die Kräfte, die er hatte, und die Erfahrungen, die er sich erworben, zu seinem Wohl weislich zu benutzen. Denn wenn dieses nicht wäre, und wenn nicht in dem Menschen von Natur die Neigung so stark wäre, gar zu leicht Gehör zu geben, wo einer übel berüchtiget | wird: so dürften wir vielleicht mit weniger Behutsamkeit und Vorsicht handeln in dieser Beziehung. Da aber dieses ist, so müssen wir desto mehr darauf denken, um mit unserer Treue im Dienst der menschlichen Gesellschaft uns einfältig auf dasjenige [zu] beschränken, was uns anvertraut ist, unsere Urtheile über die Menschen, wo wir nicht berufen sind, ihnen eine Kraft zu geben, die sie wirksam machen im Leben, auch in den Grenzen des Vertrauens zu halten, und keine Veranlassung zu geben, zu einer Ungerechtigkeit, die wir nicht mehr verhüten können, nachdem wir selbst den Anfang damit gemacht haben, und nicht eine verderbliche Neigung leichtsinnig hervorlocken aus dem Innersten des Gemüths. Aber freilich dadurch, daß Andere seinen Diener übel bei ihm berüchtigt hatten, wird der reiche Mann nicht vertheidigt und entschuldigt, weil er ihm seine Wirksamkeit entzog um ihn zu einem verächtlichen Mitgliede der menschlichen Gesellschaft zu machen; denn auch dieses gehet über die Treue hinaus, welche wir dem Ganzen schuldig sind; grade in dem Maaße als einer selbst so viel von den 17 einer] keiner

22 weislich] weißlich

3–8 Vgl. Mt 18,15–17

30 sie wirksam machen] es wirksam mache

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gemeinsamen Kräften und dem Gute der Erde besitzt, grade in dem Maaße, als es hier der Fall war, | als ihm die Aufsicht über Andere anvertraut war, gehört auch das zu seinem Beruf, dafür zu sorgen, daß jede Kraft, die da ist, für den gemeinsamen Beruf gebraucht werde für diejenigen, die hilfreich sein sollen und können. Einen größeren Gegenstand kann es wohl nicht geben für die einfältige Treue des Herzens, die Gott nur dienen will, auch in den irdischen Verhältnissen, keinen größeren und würdigern Gegenstand giebt es für sie als eben die Wirksamkeit der Menschen selbst; wo wir diese willkührlich beschränken, da entziehen wir etwas dem Dienste des Ganzen, dem wir alle unsere Kräfte schuldig sind; vielmehr können wir nur so viel leisten als es an uns ist, den Wirkungskreis zu erhalten, in welchem er mit allen Kräften, die Gott ihm verliehen hat, der Gesellschaft nützlich sein kann. Allein, m. g. F., wenn das schon so wichtig ist in Bezug auf die irdischen Güter, wie viel mehr noch in Bezug auf die geistigen und ewigen, und finden wir es da nicht auch noch zu oft, daß es die Einen darin versehen, die Andern übel zu berüchtigen, und die | Andern darin, daß sie nur zu leicht auf das nachtheilige und absprechende Urtheil hören. Wir alle sind Haushalter im Reiche Gottes über Gottes Geheimnisse, uns allen sind die geistigen Kräfte seines Geistes anvertraut, die aber geheim und verborgen sind denen, die noch nicht eingeweiht sind als Mitglieder seines Reiches; wir alle sind eingeweiht in das Geheimniß des Reiches Gottes, und jeder hat das Amt, es zu verbreiten, und wo er kann dem Herzen der Menschen näher zu bringen, und in Werk und That die Richtschnur desselben auszumitteln; und überall in der christlichen Gemeinschaft finden wir auch, wo sie nicht ganz erstorben ist, eine rege Theilname für die Verwaltung dieser geistigen Güter, jeder geht gern um zu schöpfen, wo ihm gleichsam aus einer neuen Quelle dargeboten wird, freilich nichts anderes, denn anderes begehrt er auch nichts als das reine Wasser des Lebens, und jeder sucht, daß in dem Menschen die Tiefe des göttlichen Wortes Raum gewinne, und es ihm gelingen möge, die Herzen der Menschen dadurch zu dem zu führen, dem sie gehören. Das ist unser gemeinsames Geschäft; aber es zeigt sich auch in diesem und muß sich zeigen die Verschiedenheit der | menschlichen Natur, und wie der Geist bei der Ausgießung über die Jünger des Herrn [jedem] einzelnen eine besondere Sprache verlieh, in welcher er redete: so ist auch der Geist Gottes, der dem Menschen und durch den Menschen das Reich Gottes verklären soll, auf verschiedene Weise beschäftigt in uns; daher entstehn die Verschiedenheiten in dem Ausdruck der christlichen Wahrheit, sowohl was den Glauben als was das Leben betrifft, und da ist es die Pflicht eines jeden, der mit einfältigem Herzen Gott dienen will, daß er treu sei in dem Berufe mit dem Seinigen, niemals sich überhebe, sondern wisse, daß wir dies köstliche Kleinod tragen in zerbrechlicher irdischer 17–18 Vgl. 1Kor 4,1

33–35 Vgl. Apg 2,4

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Schaale, wissen, daß jeder von sich selbst sagen müsse, nicht daß ich es errungen habe, sondern ich strebe ihm nach, und also den Glauben betrachtet nach einem höhern Grade der Erleuchtung, aber mit demjenigen, was ihm geworden auch wuchere, wie es der [Herr] seinen Knechten geboten hat. Darauf aber, daß jeder auf der einen Seite immer mehr Licht und Kraft im Reiche Gottes gewinne, auf der andern Seite aber mit dem Errungenen wuchere zum Dienst des Reiches Gottes, darauf müssen wir uns be|schränken, und, wo wir Verschiedenheiten sehen, wissen, daß doch alle demselben Herrn dienen wollen. Diese müssen wir auszugleichen suchen im Leben. Wer aber das nicht thut, und diejenigen, denen Gott etwas anderes offenbart hat als ihnen, bei ihren Mitchristen übel zu berüchtigen sucht, der verletzt auf eine unverantwortliche Weise jene Pflichten im Dienste Gottes, und sie mögen sich wohl prüfen, ob das wahr an ihnen ist, was der Herr sagt, wer nicht mit einem solchen ungetheilten Herzen Gott dient, der will auch noch etwas Anderem dienen, und es ist immer noch etwas Irdisches bei dem Dienste Gottes; denn was ist es denn anders als eine krankhafte Eigenliebe, was anders als ein selbstsüchtiges rechthaberisches Wesen, was anders als ein thörichter Hochmuth, was den Einen treibt, den Andern übel zu berüchtigen bei seinen Mitchristen, welchen Gebrauch er mache von den himmlischen Gütern, die ihm anvertraut sind; denn so unser Bruder irrt, so gebührt es uns, ihn zur bessern Erkenntniß zu bringen, was aber nur auf dem einen Wege geschehen kann, daß wir mit ihm auf gemeinschaftlichem Wege die Wahrheit suchen in Liebe, wohl glaubend, daß, wie wir an ihm das Tadelnswerthe | bemerkten, auch er mit derselben Leichtigkeit Ähnliches wahrnehmen werde an uns. Wollen wir nun nichts anderes, als daß der reine Glanz des göttlichen Wortes übrig bleibe; dann werden wir auch nichts anderes begehren, als so mit unsern Brüdern gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen in Liebe, und sie nicht übel berüchtigen bei Andern; denn thun wir das, ach! dann regen wir in vielen Herzen ein Verderben auf, das sonst schlummerte, dann kann es nicht fehlen, daß viele von denen, die ein Werkzeug Gottes hätten sein können, um von einer Stufe zur andern die Wahrheit zu verklären und in das richtige Geleise des Lebens zurückzuführen, eben so handeln wie dieser reiche Mann mit seinem Haushalter, und ihnen sagen, wir können sie nicht mehr gebrauchen als Haushalter. Und so wird dann der feste Verein, welcher unter denen Statt finden sollte, welche gemeinschaftlich die Geheimnisse Gottes zu verwalten haben, auf lieblose Weise zerstört und zerrissen, und diejenigen außer Thätigkeit gesetzt, welche doch dem Reiche Gottes nach ihrer Weise und ihren Kräften hätten dienen können. Darum, so einer treu sein will, so sei er treu | 27 begehren] begehen 1–2 Vgl. Phil 3,12

31 um] nun

37 lieblose] leblose

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mit demjenigen, das ihm anvertraut ist, suche aber nicht weder selbst einen fremden Knecht zu richten, noch Andere zu einem unrechtmäßigen und voreiligen Gericht zu bewegen.

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II. Die zweite Hälfte aber unserer Erzählung sagt uns, daß, nachdem auf diese Weise der Haushalter um sein Amt gekommen war, er nun anfing, ungerecht zu sein, wenn er es auch vorher noch nicht gewesen war; denn er fordert nun die Schuldner seines Herrn, und erließ ihnen, dem Einen einen solchen, dem Andern einen solchen Theil seiner Schuld, auf daß sie dankbar gegen ihn würden, und er sich sicherte vor Mangel und Noth, die ihm die Zukunft nun bringen mußte; die Andern aber, die thaten also und nahmen den Erlaß der Schuld an von demjenigen, der keinesweges dazu befugt war, und so ward aus einer Ungerechtigkeit ein ganzer Haufe von Ungerechtigkeit. Wenn wir, m. g. F., auch in Beziehung auf das, was zum menschlichen Leben gehört, auch Haushalter Gottes sein wollen, und treu ihm allein dienen, und nach diesem Ruhme eben streben, daß wir treu erfunden werden: so gehört dazu auch dieses, daß wir | mit nichts anderem in den Geschäften Gottes wirksam sind als mit demjenigen, was er uns anvertraut hat, und damit ist alles gut; denn nur gute Gaben kommen von dem Vater des Lichtes: Und wenn nun unsere Aufgabe auch darin besteht, daß wir sollen das Böse überwinden durch das Gute, so finden wir uns auch da im Dienste Gottes. Dazu gehört natürlich, daß wir uns nicht lassen von einer Härte und Ungerechtigkeit selbst verleiten zur Ungerechtigkeit, sondern wir sollen wissen, sind wir wirklich Haushalter, daß wir nichts haben, womit wir thätig sein können als das Rechte und Wahre; mit dem Ungerechten aber und mit der Lüge sollen wir nicht glauben, daß wir eben Nützliches können ausrichten, auch nicht in den irdischen Dingen. So wir aber etwas thun und uns reizen lassen von der Ungerechtigkeit, selbst ungerecht zu werden, so wird es auch nicht fehlen, wie der Herr erzählt, daß es solche giebt, die sich das gern gefallen lassen, weil sie meinen, sie könnten sich wohl jedes Theils der Schuld entledigen. Wenn es aber unrecht ist, wenn ein fremder Knecht richtet, so ist es eben so unrecht, ihn zu verleiten auf der einen Seite, auf der andern Seite aber, wo wir selbst Knechte und Schuldner sind, in eine solche | Verleitung einzugehen. Wie oft aber kommt uns dieses Verhältniß vor in den irdischen Verhältnissen des menschlichen Geschlechts; wie glauben wir da leicht uns berechtigt, hat ein Anderer einmal die Regel des Rechts verletzt, so auch unserer Seits [sie verletzen zu dürfen]; wie viele Verletzungen des Gesetzes, wie viele Verletzungen der Billigkeit werden auf solche Weise 38 viele Verletzungen der] viel Verletzung der 20–21 Vgl. Röm 12,21

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entschuldigt, und wie leicht findet nicht bei der selbstsüchtigen Neigung des Herzens solche Verleitung Gehör. Darum, m. g. F., wird auch keiner feststehen in Bezug auf die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, in diesen irdischen Verhältnissen der Menschen, welcher in dem Falle ist, in welchem dieser Haushalter war, welcher sein Amt verlor, sich dieses gestehen zu müssen: graben mag ich nicht, und schäme mich zu betteln, und sich lieber zur Ungerechtigkeit verleiten läßt, als sich in einen andern Zustand versetzt zu sehen, und in geringeren Verhältnissen fortbestehen zu wollen, als vorher. Sehen wir uns als Diener Gottes an und als seine Haushalter, so kann uns das freilich nie einkommen; wer uns etwas anvertraut hat, hat auch das Recht, es uns wieder zu nehmen | und einem Andern anzuvertrauen, und wir, die wir keine größere Glückseligkeit kennen, als nur für ihn zu arbeiten, wir sollen gerne das Geringe thun, wenn wir das Größere nicht mehr vermögen; und wer so gefaßt ist im wirklich christlichen Sinn auf den Wechsel des menschlichen Lebens, wird im Stande sein den Reizungen zur Ungerechtigkeit zu widerstehen, die sich oft sehr häufen. Aber, m. g. F., noch weit wichtiger ist es uns, eben dieses zu vermeiden in Bezug auf die geistigen Güter; wenn wir diese verfälschen um uns andere Menschen günstig zu machen, wie der Haushalter hier die Schuldbriefe verfälscht: wie weit sind wir dann entfernt von der Treue im Dienste Gottes. Und dennoch, m. g. F., wie gewöhnlich ist diese Erscheinung, oder wäre es etwas Seltenes, daß wir darin eingehen, wenn Menschen um uns her ihre Pflichten leichter denken als unser Gewissen es sagt, und wenn sie dieses oder jenes zu ihrer Entschuldigung anführen darüber, daß wir von der schlichten Bahn des Rechts und des Wahren abgewichen sind; [wenn sie] viele Entschuldigungen zeigen, [und] ihre Pflichten niedriger anschlagen; ist es selten, daß wir darin eingehen, und, was wider | die Tiefe des Herzens spricht, vor ihnen verbergen, um sie nicht aus der scheinbaren aber gefährlichen Ruhe des Gemüths aufzuschrecken? Können wir aber dieses, so sind wir nicht mehr davon entfernt, die Wahrheit selbst zu verfälschen um unangenehme Empfindungen zu vermeiden, welche sonst in Andern könnten aufgeregt werden, um der Stimme unseres eigenen Gewissens Gewalt anzuthun, und ihnen ein Theil ihrer Verpflichtung aus den Augen zu rücken. O, wie viel Verfälschung dieser Art erfahren wir nicht! aber das kommt nicht aus einem einfältigen Herzen, welches in einfältiger Treue Gott allein dienen will, das da weiß, daß es keine heiligere Verpflichtung habe als die Wahrheit, und daß wir keinem unserer Brüder etwas Größeres schuldig sind, daß dieses das größte Pfund ist, das der Herr uns anvertraut hat, und daß wir mit nichts anderem so rein wirksam sein können für unsern Dienst, als eben mit der reinen und strengen Wahrheit. Locken wir aber so die Menschen 14 christlichen] christlichem ufzuschrecken.

19 verfälscht:] verfälscht,:

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von dem Pfade der Einfalt ab, geben wir selbst ihnen solche Mittel an die Hand, daß sie ihre Gedanken entschuldigen, wo sie sich verklagen sollten: | wie bringen wir da nicht die Herzen in Versuchung, wo wir sie vor der Versuchung bewahren sollten. Wer aber solches thut, der prüfe nur sich selbst, und er wird erfahren, daß wo der Mensch Furcht oder Gunst liebt, er selbst auch von anderen will leicht beurtheilt werden, auf daß es ihm selbst zu Gute komme. Aber wehe denen, deren Maaß zu kurz gefunden wird, deren Gewicht zu leicht; denn sie sind es, welche wollen, daß ihnen selbst das zu Gute kommen solle, daß man einen zu kurzen Maaßstab anlegt auf das, was wir Gott und dem Rechte schuldig sind. So, m. g. F., hat uns der Herr bewahrt mit den ernsten Worten; halten wir uns an dieses, daß wir nicht wollen Gott dienen, und auch sonst einen andern Dienst dabei treiben; halten wir uns daran, daß, wenn wir nicht treu sind im Irdischen, wir viel weniger treu sind im Geistigen und Ewigen, und sehen wir im Spiegel seines Wortes wie jedes Unrecht sich oft auf unbegreifliche Weise vervielfältigt in der Welt, die ganze Schuld aber beruht auf dem, der es begonnen hat: so werden wir hier eine Warnung finden in | diesen Worten für unser ganzes Leben, und darnach trachten von einem Tage zum andern einfältige Haushalter zu sein, wohl wissend, daß uns kein größerer Ruhm werden kann als derjenige, treu zu brauchen und zu verwalten, was Gott uns gegeben hat, mit demjenigen aber zu verbinden als sein Werkzeug, den Geist, der alles schaffen und hervorbringen kann; überall, wo das Wort des Herrn verkündiget wird, das Reich Gottes zu bauen, den alten Menschen zu tödten, den niedern Geist zu beleben zur Gerechtigkeit und Heiligkeit. So mögen wir denn in unserem Dienste Gottes auch mit demjenigen Streben nach Heiligkeit und Gerechtigkeit ihm zur Hand gehen, damit wir erfunden werden als treue Haushalter, die bestehen können, wenn der Herr kommt, sie zur Rechenschaft zu ziehen. Amen.

6 anderen] ihm

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10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 10,19–20 Nachschrift; SAr 104, Bl. 96r–107v; Andrae Keine Nachschrift; SN 607/3, Bl. 1r–4v; Saunier Nachschrift; SAr 62, Bl. 39r–42v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zehnten Sonntage nach Trinitatis 1823 am dritten Ernte-Monds. | Tex t. Lukas X, 19 und 20. Sehet, ich habe euch Macht gegeben, zu treten auf Schlangen und Scorpionen, und über alle Gewalt des Feindes; und nichts wird euch beschädigen. Doch darinnen freuet euch nicht, daß euch die Geister unterthan sind; freuet euch aber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind. Unser Erlöser, m. a. Fr., sprach diese Worte zu denen unter seinen Jüngern, welche er, wie der Evangelist erzählt, vor sich hersandte, um die Bothschaft von dem Reiche Gottes den Menschen zu bringen, und welche nun, als sie zu ihm zurückkehrten, und Rechenschaft ablegten von ihrem Erfolge mit ganz besonderer Freude dessen erwähnten, daß ihnen auch die bösen Geister unterthan gewesen wären in seinem Namen, auf welche Äußerung er sie dann mit den Worten unseres Textes bescheidet. Es war dies allerdings, wie er es auch selbst zugiebt, ein großes Vorrecht, welches er ihnen ertheilte, und dessen sie sich als Gläubige erfreuen konnten, daß ihnen auch die Geister unterthan waren in seinem Namen. Ja selbst seine Apostel machten bisweilen, damit sie sich nicht dessen, | was sie von oben empfangen hatte, überheben möchten, sie machten bisweilen die Erfahrung, daß ihnen die Geister nicht unterthan waren, und sie dieselben nicht zu bändigen und auszutreiben vermochten. Aber so groß auch dieses Vorrecht war und diese Gewalt, so sagt doch der Erlöser seinen Jüngern, sie sollten sich darüber nicht freuen, sondern darüber, daß ihre Namen im Himmel angeschrieben wären. Gewiß war dabei nicht seine Meinung, daß jenes ihnen 9–14 Vgl. Lk 10,1.17

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als etwas ganz Gleichgiltiges erscheinen sollte, und sie darin nicht auch seine Macht und Herrlichkeit anerkennen und preisen [sollten]; sondern nur das Geringere sollte ihnen alles von dieser Art sein im Vergleich mit dem, daß ihre Namen im Himmel angeschrieben waren. Jenes aber, m. g. Fr., ist eben unter den Christen selbst etwas Gleichgiltiges, was die Einen haben und was den Andern fehlt; das andere aber, daß ihre Namen im Himmel angeschrieben sind, deß können und sollen sich alle Gläubigen erfreuen; es ist ihr gemeinsames Erbtheil, und darin kein Unterschied zwischen dem Einen und dem Andern. Was wir also aus diesen Worten mit einander erwägen wollen, m. g. Fr., ist dies, | daß wir hier erblicken eine Ungleichheit, welche Einigen große Vorzüge gewährt, auf der andern Seite eine Gleichheit unter allen, die desselben Namens theilhaftig geworden sind, und daß der Erlöser uns ermuntert, uns diese allemal über jene gehen zu lassen. Das laßt uns denn jetzt nach Anleitung seiner Worte zu unserer Erbauung in christlicher Aufmerksamkeit mit einander erwägen. I. Die Ungleichheit, m. g. Fr., deren der Erlöser erwähnt, besteht noch immer fort, und war nicht etwa nur ein Eigenthum der damaligen Zeit. Das Wunderbare daran, was freilich auch der Erlöser in seinen Worten besonders heraushebt, worüber sich auch seine Jünger vorzüglich freuten, das hat freilich aufgehört, allein das ist nur in Übereinstimmung mit der ganzen Entwicklung der göttlichen Offenbarung in der christlichen Kirche; das Wunderbare hat sich überall zurückgezogen, und die göttliche Gnade und die göttliche Offenbarung ist gleichsam in den Kreis der Natur hineingetreten. Denn was nur irgend darin liegt, und dadurch erreicht werden kann, daß die Jünger des Herrn, wie | er sagt, auf Schlangen und Scorpionen treten und nicht beschädiget werden sollten, das ist auch immer das Erbtheil der christlichen Kirche. Daß der Herr in ihr außerordentliche Kräfte erweckt, welche das, was die Christen wahrhaft beschädigen könnte, was der Kirche des Herrn zu Verderben gereichen könnte, wenn die Zeit kommt, die er dazu ausersehen, vertreiben und unterdrücken, daß alle dunkle und verderbliche Geister weichen müssen früher oder später vor der Kraft der Wahrheit in dem göttlichen Wort, und daß dazu der Herr seine Diener ausrüstet, die Einen mit vielen, die Andern mit wenigen von solchen ausgezeichneten Gaben; das ist die allgemeine Erfahrung, das ist das Wesentliche in der ganzen Geschichte der christlichen Kirche, wir erfreuen uns dessen in allen den herrlichen Thaten der Vergangenheit, wir wissen, daß es auch gegenwärtig an diesen Gaben des Geistes in der christlichen Kirche nicht fehlt, und leben der festen Zuversicht, daß keine Zukunft kommen werde, in welcher diese Macht ganz gewichen sei aus der Gemeinschaft der Gläubi19 daran] davan

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gen. | Denn so lange noch der Streit des Lichtes und der Finsterniß dauert, so lange die Jünger des Herrn es noch zu thun haben in ihrem Kampfe auf dieser Welt nicht mit Fleisch und Blut, sondern mit den gewaltigen Mächten der Finsterniß: so muß er so gewiß, als er seine Gemeine erhalten wissen will, dafür sorgen, daß ihnen insgesammt die Geister unterthan sind, und daß sie alles, was ihnen in ihrem Beruf obliegt, mit Muth und Kraft verrichten können, ohne daß sie irgend etwas beschädige. Das hindert nicht, daß nicht die Einen durch Entbehrungen und Leiden, ja durch ihren Tod den Herrn preisen, wenn nur Manche auf eine wunderbare Weise gerettet werden aus allen den Gefahren, die ihnen im Kampfe gegen die Mächte der Finsterniß bevorstehen, irgendwo muß immer, je größer die Gefahr ist desto ausgezeichneter die Spuren der göttlichen Hilfe und Vorsehung an sich tragend, auch die Hilfe sein, die aus der Gefahr errettet, und immer sehen wir dasjenige sich erneuern, wovon die Jünger des Herrn in den Worten unseres | Textes ein so freudiges Bekenntniß ablegen. Und gewiß, wenn wir diese Ungleichheit, obwohl in einer natürlichen Gestalt fortbestehend, betrachten: so müssen wir es einsehen, sie ist bei weitem die edelste, die unter den Menschenkindern anzutreffen ist. Ungleichheiten gestalten sich überall unter ihnen, wo eine große Menge derselben zu einem großen Ganzen vereinigt ist; es sind in der Vereinigung der Menschen, die ihr äußeres Bestehen zum Zweck hat, die Ungleichheiten in den Gütern dieser Welt und in der Macht und Herrschaft über Andere; es sind Unterschiede, welche gegründet werden auf Vorzüge, die sich diejenigen nicht selbst erworben haben, welche sich ihrer erfreuen; es sind die Ungleichheiten auch in den Gaben des Verstandes und des Geistes, die sich am meisten in der Beherrschung der irdischen und weltlichen Dinge offenbaren, und die freilich dem, in welchem sie sich finden, einen gegründeten Anspruch geben auf eine ausgezeichnete Weise vor Andern hervorzutreten. Aber eben weil alle diese sich nur beziehen auf das äußerliche Bestehen der Menschen, so sind sie auch uns nur das Geringere. | Aber solche Vorzüge, deren Gegenstand eigentlich dies ist, sich mit einer ungewöhnlichen Kraft den Eingang in die menschlichen Herzen zu öffnen, sei es nun um diejenigen, die mit ihrem Wissen und Willen dem verderblichen Dienst der Finsterniß leben, mit der Kraft des Lichtes niederzuschmettern, sei es um mit der sanften Stimme der Liebe diejenigen, welche unstät und verirrt auf Erden wandeln, einzuladen da, wo sie Freude und Ruhe finden können und ihre Seelen erquicken und zufriedenstellen, sei es um diejenigen, die dieses himmlische Gut schon kennen, zur Vertheidigung und Verbreitung desselben zu sammeln, und der großen Menge einen Vereinigungspunkt darzubieten, an welchen sie sich gläubig und vertrauensvoll anschließen können: das, m. g. Fr., das sind die Gaben des Geistes, von denen zunächst unter uns die Rede ist, und die offenbar viel herrlicher sind als jene. Sie ruhen freilich auf Gaben der Natur, die der Herr nach seiner Weisheit und nach seinem Wohlgefallen einem

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jeden austheilt nach dem Maaße, wie er will, aber eine Macht, von dem Erlöser dem Menschen gegeben, | werden sie dann erst, wenn, wie ein wilder Stamm erst dadurch veredelt wird, daß man ihm ein Auge von edler Art einpflanzt, welches dann alle Säfte des Ganzen an sich zieht, und sie zu edlen Früchten umschafft, eben so auch auf die von Gott begabte Natur der Geist herabgegossen wird, der erst die Gaben der Natur zu Gaben des Geistes erhöht, daß sie nicht ungewiß zwischen dem Guten und dem Bösen schwanken, sondern eine Macht werden, die dem Herrn dient im Kampfe des Guten gegen das Böse. Und gewiß einen edleren Unterschied als dieser ist, werden wir nicht aufweisen können unter den Menschenkindern. Denn auf allen solchen ausgezeichneten und herrlichen Gestalten, mögen sie uns nun in der Gegenwart erscheinen oder in der Vergangenheit, ruht das Auge unseres Geistes mit Wohlgefallen, so daß wir ihnen bald mit Liebe entgegeneilen, bald uns mit Ehrfurcht, soviel es die Gleichheit der Menschen zuläßt, vor ihnen niederwerfen, und im Vergleich mit dem Einen, der für uns alle das ewige und unerreich|bare Urbild der Vollkommenheit ist, auch sie uns zu Vorbildern und Leitsternen des Lebens erwählen. Aber alle diese, deren sich auf eine solche Weise die Gnade des Herrn wohl bedienen kann, und die es zu seinem Preise gestehen müssen, daß er ihnen eine große Macht in das Innere des Gemüthes gelegt hat, zu allen denen spricht er das Wort: Freuet euch nicht über das, was ihr thut, sondern darüber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind. Was nun dieses, welches für uns alle gleich und uns allen dasselbige ist, eigentlich sei, das sei nun der zweite Theil unserer Betrachtung. II. Es bedarf aber wohl dies, m. g. Fr., eine gewisse Erörterung, was der Herr darunter versteht, daß unsere Namen im Himmel geschrieben sind. Wie überall, wo eine gute menschliche Ordnung ist, diejenigen, welche zu irgend einer Gemeinschaft gehören, auch unter einander bekannt sein müssen oder es wenigstens leicht werden können, und man wissen muß, wer zu derselben gehört und wer nicht: so wird unter diesem | Bilde auch dargestellt das himmlische Reich Gottes, welches unser Herr gestiftet hat. Wir sind Gottes Hausgenossen und Bürger mit allen Heiligen; als solche sind wir Gott bekannt, und sollen uns auch untereinander bekannt werden können. Daher nun der Ausdruck der Schrift von einem Buche des Lebens, in welchem die Namen der Gläubigen verzeichnet sind, gleichsam eine Liste oder ein Verzeichniß von denen, die Bürger sind im Reiche Gottes und seine Hausgenossen. Daß wir also dieses sind, daß wir diese Würde an uns tragen, das ist es, m. g. Fr., was der Erlöser ausdrückt, indem er sagt: „Freuet euch darüber, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind.“ Dies aber, m. g. Fr., 33.37–38 Vgl. Eph 2,19

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ist für uns alle gleich und dasselbe, und ist in dieser Beziehung kein Unterschied zwischen dem Einen oder dem Andern. Durch Eine Erlösung hat der Herr alle diejenigen vollendet, die da geheiliget werden, Ein und dasselbe Werk ist es des göttlichen Geistes, daß der Mensch von neuem geboren werde, und es geschieht, wenn gleich dem Äußern, Zeitlichen | nach, auf tausend verschiedenen Wegen, in allen Eins und dasselbige. Mag der alte Mensch gewesen sein, wie er wolle, mißgestalteter, verderbter in dem Einen, minder hervortretend das tiefe verborgene Verderben in dem Andern, mag er noch so verschieden sein hie und dort, sein Tod ist überall derselbige, das Untergehen desselben und die Kraft der neuen Schöpfung aus dem Geist ist in allem dasselbige; und eben so auch der neue Mensch, der da aufersteht mit Christo zu einem neuen göttlichen Leben, das alte hinter sich lassend, ist in allem der nämliche. Denn wenn gleich die Verschiedenheit der Naturen zurückbleibt auch nach der neuen Geburt, wenn gleich schneller bei dem Einen und langsamer bei dem Andern das Wachsthum des neuen Menschen fortschreitet: dasjenige, worauf es wesentlich ankommt, der Unterschied zwischen diesem und dem Alten, der Unterschied, ob der Name des Menschen im Himmel geschrieben ist, oder ob nicht, ist in allem dasselbige, und das innerliche Bewußtsein, welches wir alle darüber haben müssen, | daß wir nämlich uns nicht selbst befreit haben, sondern befreit worden sind von jeglicher Art des Wandels nach väterlicher Weise durch Ein und dasselbige künstliche, unvergängliche und ewige Gut, über alles Gold und Silber der Erde erhaben, dieses innerliche Bewußtsein ist in uns allen Eins und dasselbige. Und dies, m. g. Fr., daß wir es wissen und fühlen, und zum Preise des Herrn bekennen, wie schön auch in irgend einem unter uns der alte Mensch mag geschmückt gewesen sein, wie verborgen auch der Schade, von welchem er ergriffen war, wir konnten selbst uns nicht aus jenem Zustande in den, der allein den göttlichen Absichten mit der menschlichen Seele angemessen ist, erheben, es ist Gottes Gnade allein und das Verdienst des Erlösers allein. Und darum also in dem Verderben, aus welchem wir uns selbst nicht erretten konnten, in der Befreiung, die wir der göttlichen Gnade verdanken, in dem Geiste, den wir empfangen haben, und der in uns allen ruft: Abba, lieber Vater, in der Vereinigung, zu welcher wir gelangt sind mit dem Erlöser, daß wir nicht uns selbst leben, sondern er in uns, und wir in ihm, und daß wir durch ihn Eins sind mit dem Vater, | in allen diesen seligen Vorrechten derer, deren Namen im Himmel geschrieben sind, sind wir uns alle gleich; diejenigen, die noch der Milch des Evangeliums bedürfen, und diejenigen, denen starke Speise kann gereicht werden; diejenigen, welche noch bedürfen, daß sie gelehrt werden, und ihnen das Auge des Geistes immer mehr und mehr geöffnet, und diejenigen, von denen schon das große Wort gilt, daß sie selbst von Gott gelehrt 32–33 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6

41–1 Vgl. Joh 6,45 (mit Bezug auf Jes 54,13)

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sind. Alle diese Unterschiede, sie verschwinden als etwas Geringfügiges gegen das, worin wir uns alle gleich sind.

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III. Und nachdem wir auf diese Weise, m. g. F., die Ungleichheit und die Gleichheit neben einander gestellt haben, so wird es uns ein Leichtes sein, den Worten des Herrn unsern ganzen Beifall zu geben, daß wir nicht über jene, sondern über diese uns zu freuen haben, und daß wir diese für etwas viel Größeres und Herrlicheres halten müssen als jene: Wenn es vergönnt ist, m. g. F., Kleines mit Großem zu vergleichen, und dieses durch jenes zu erläutern: so mahnt mich der heutige Tag, der für uns alle noch eine | besondere Bedeutung hat, an ein Bild, welches ja wohl hieher gehört. Indem wir alle heute mit Preis und Dank gegen Gott das Geburtsfest unseres Königs feiern, so giebt es auch in dieser Beziehung eine Ungleichheit unter uns und eine Gleichheit. Einige mögen sich zu erfreuen haben besonderer Vorzüge, die sie ihm verdanken, besonderer Güter, die er ihnen anvertraut, und Mittheilungen seiner Macht, die er ihnen gegeben hat, aber wenn sie dieses höher achten als das, was uns allen gemeinsam ist und gleich, nämlich die Freude, einem solchen bürgerlichen Verein anzugehören als der uns’rige ist, die Freude einen König, wie den unsrigen an der Spitze desselben zu sehen, wenn sie jenes über dieses setzen wollten: so würden wir alle darin übereinstimmen, daß ihre Vaterlandsliebe und ihr Eifer nicht rein sei, sondern von etwas Selbstsüchtigem getrübt. Wenn sie aber alles jenes vergessen können in reiner Liebe zu dem Ganzen, dem wir angehören, und zu dem einen, der der Mittelpunkt desselben ist: dann sprechen wir ihrer Liebe zum Ganzen und zu dem Beherrscher desselben den höchsten Preis der Reinheit | und der Lauterkeit zu. Eben so, m. g. F., ist es auch in dem Reiche Gottes, von dessen Ungleichheit und Gleichheit jetzt die Rede ist. Wenn wir bei der Ungleichheit stehen bleiben, und vergleichen das Maaß von geistiger Macht und Kraft, das der Herr Einigen verliehen hat vor Andern: so bleiben wir mit unsern Gedanken in dem Kreise der menschlichen Dinge stehen, und es kann nicht fehlen, daß sich darin mehr oder weniger Selbstsüchtiges einmischt. Wenn die Vergleichung, die wir zwischen uns und Andern anstellen, so ausfällt, daß wir im Vergleich mit ihnen uns freuen als solche, die besonders begabt sind und ausgerüstet von dem Herrn: zu leicht entsteht dann, und es ist kaum zu vermeiden, wenn wir uns nicht dadurch reinigen, daß wir zu der Betrachtung der Gleichheit und zur Freude an ihr zurückkehren; zu leicht ist dann, daß wir uns nicht dessen, was der Herr uns verliehen hat, überheben sollten, daß wir nicht, was das Werk ist seines Geistes, und uns zugekommen durch seinen Entschluß, doch ansehen sollten als das uns’rige; kaum werden wir das Gefühl, daß wir damit zu 12–13 Friedrich Wilhelm III. von Preußen wurde am 3. August 1823 53 Jahre alt.

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schalten haben als einem uns anvertrauten Gute, welches | nicht uns gehört, sondern dem Herrn, und wofür wir ihm Rechenschaft schuldig sind, kaum werden wir dieses Gefühl rein erhalten können, wenn nicht unser ganzes Streben aufgeht in jener reinen Liebe des Christen, in jener reinen Liebe der Brüder unter einander, welche darauf ruht, daß sie alle gleich sind. Nur wenn wir darauf ruhen, und fest gegründet sind in dieser Liebe, dann werden wir alles, was der Herr uns gegeben hat, als das unsrige ansehen können, indem wir uns in kein anderes Verhältniß setzen, als daß wir mit dem uns anvertrauten Gute in dem Weinberge des Herrn beschäftigt sind, und jeden Augenblick im Stande sein können ihm und dem Ganzen, dem wir angehören, Rechenschaft zu geben von dem, was er uns aufgetragen hat. Vergleichen wir uns aber mit andern, die in der Macht, womit der Herr sie ausrüstet, in der Gewalt des Geistes, die er ihnen verliehen hat, weit über uns stehen: so wird es nur zu leicht eine selbstsüchtige Niedergeschlagenheit sein, die sich unserer bemächtigt, indem wir uns geringer erscheinen als sie, so werden wir in Gefahr gerathen unzufrieden zu sein mit der Stellung, die der Herr uns angewiesen hat in seinem Reiche. Reinigen wir uns aber davon, indem | wir zu der Gleichheit der Christen zurückkehren, o so können wir dem großen Gefühle Raum geben, daß alles, was sich im Reiche Gottes Großes und Herrliches findet, unser Eigenthum ist, daß es für uns da ist in dem Maaße, als wir desselben bedürfen, und daß es eine gnädige Liebeserweisung Gottes ist in dem Maaße, womit er sich uns verherrlicht, und womit er andere unserer Brüder ausrüstet. Wenn wir aber, m. g. Fr., weiter überlegen, daß wir alles Menschliche und Irdische nur auf Gott, der über alles waltet, beziehen sollen, daß nur das die richtige Betrachtung aller menschlichen und irdischen Dinge ist, die in sich selbst die Verherrlichung des Höchsten sucht, wenn wir darauf sehen, und also feststellen, daß uns und andern auch das das Größte und Wichtigste sein muß, worin die Verherrlichung Gottes am klarsten hervortritt: wie könnten wir dann noch zweifeln, daß wir uns mehr freuen über das, worin wir alle einander gleich sind, als über das, worin wir uns der eine von dem andern unterscheiden. Nämlich alle jene Gaben, alle jene ausgezeichneten und vorzüglichen Kräfte, sie ruhen auf der ursprünglichen, ungleichen Vertheilung der Gaben der Natur. | Aber eben in dieser ursprünglichen, ungleichen Vertheilung verbirgt sich uns Gott der Herr am meisten, das ist der Sitz seiner unbegreiflichen Wege und seiner uns unerforschlichen Fügungen, das ist es, in Beziehung worauf wir immer unsere Hand an den Mund legen müssen, und schweigen und bekennen, daß, wenn wir darüber urtheilen wollen, wir Unrecht thun, weil es zu groß ist für uns, und wir es nicht verstehen. Immer freilich ist uns nicht gleich deutlich, daß die Gaben des Geistes in der christlichen Gemeinschaft auf den Gaben der Natur ruhen, nicht selten 18 davon] daran

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sind die Beispiele, daß einzelne Menschen, so lange sie noch den Weg des Fleisches wandeln, und dem Irdischen und Vergänglichen dienen, gar nichts Ausgezeichnetes in sich entwickeln, kommt aber die Stunde, die der Herr seiner Macht ausersehen hat, wird der alte Mensch in ihnen getödtet, und senkt sich der Geist Gottes in sie herab: so entfalten sich oft plötzlich in dem Herzen die ausgezeichnetsten Gaben und Kräfte. Aber doch werden wir sagen, dieser Unterschied ist nicht in demjenigen gegründet, wodurch wir uns alle unter einander gleich sind, und kein Zeugniß | davon, sondern geheimnißvoll bleibt es uns; aber immer werden wir sagen müssen, dasjenige, was so den einzelnen Menschen von andern unterscheidet, hat verborgen in ihm geschlummert, aber der Keim dazu hat schon in seiner Natur gelegen, und es gehört also in das Gebiet der menschlichen Dinge, aber nicht in das, welches wir in einem besondern und ausschließlichen Sinne das Gebiet der göttlichen Gnade nennen. Aber eben in dem großen Werke der Erlösung und der Wiedergeburt, da verherrlicht sich Gott der Herr auf eine ausgezeichnete Weise; denn das ruht nicht auf den Gaben der Natur, denn es war nur dadurch möglich, daß der Sohn Gottes in die Welt kam, und das ewige Wort Fleisch ward; und in diesen beiden hat sich dann das ewige Wesen so verherrlicht, und keine andere seiner Mittheilungen und Offenbarungen kann jener gleich gestellt werden. Daran also mahnt uns jedes Gefühl unserer Seele in demjenigen, worin wir alle gleich sind. Wir können nicht fühlen, daß unsere Namen im Himmel geschrieben sind, ohne zu fühlen, daß wir Gott nur angenehm sind | in seinem Sohne, wir können uns des Geistes nicht erfreuen, der in unserem Herzen ruft: Abba, lieber Vater, ohne zu fühlen, daß wir nur durch ihn, in welchem wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes schauen, die Macht bekommen haben, Kinder Gottes zu werden, welchen es ziemt und ansteht, ihn Vater zu nennen. Was uns also so unmittelbar die größte Verherrlichung Gottes vor Augen stellt, und uns auf sie allein zurückführt: das muß auch das größte sein und dasjenige, was unser Herz mit der reinsten Freude erfüllt. Aber es kommt dazu noch eins, das ist nämlich dies, daß alle ausgezeichneten Gaben, womit Gott den Menschen schmückt und zu seinem Dienste ausrüstet, eben deswegen, weil sie mehr oder weniger offenbar oder verborgen auf der irdischen Natur des Menschen mitruhen, auch dem Wechsel des Irdischen unterworfen sind. Das, m. g. Fr., vermögen wir nicht zu leugnen, die höchste Schönheit des Geistes verblüht und verlischt, die herrlichsten Kräfte, womit Gott die einzelne Seele ausgerüstet hat, sie vermindern sich | und verzehren sich in sich selbst, und nehmen ab, wenn die Jahre kommen, von wel6 ausgezeichnetsten] ausgezeichmesten

27 welchen] welchem

17–18 Vgl. Joh 1,14 24–25 Vgl. Röm 8,15; Gal 4,6 38–1 Vgl. PredSal 12,1

25–27 Vgl. Joh 1,12.14

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chen wir sagen werden, daß sie uns nicht gefallen, der Wechsel des Irdischen zeigt sich an ihnen nicht nur auf dieser höhern Stufe des menschlichen Alters, sondern auch, so lange wir noch in dem vollen Besitz unserer Kräfte und ihrer Äußerungen sind, auf mannigfaltige Weise, so daß jeder, auch derjenige, der am meisten mit ihnen gesegnet ist, gestehen muß, daß er nicht Herr über sie ist, und sie besitzt, sondern sie ihn, daß er sich oft gehemmt fühlt in den Äußerungen derselben ohne zu wissen wodurch. Aber dasjenige, was sich immer gleich bleibt, was in jedem Augenblick dasselbe hervorrufen kann, und uns in jedem Augenblick die Versicherung giebt, daß unser Vaterland im Himmel ist: das ist jenes Bewußtsein, daß unsere Namen im Himmel geschrieben sind. Was wir irgend gethan haben mögen in einem besondern Kreise, für welchen uns Gott ausgerüstet hat, wir haben es nur gethan, wie jene Jünger, in dem Dienste des Herrn, um, von ihm ausgesendet, zu ver|kündigen die Bothschaft von seinem Reiche, vor seinen Füßen müssen wir den Dienst wieder niederlegen, den er uns angewiesen hat, und indem wir uns vor ihm darstellen, welch ein anderes Gefühl kann uns durchdringen, als daß er es ist, in dem unsere Namen im Himmel angeschrieben sind. Fühlen wir die menschliche Gebrechlichkeit, und erkennen die Spuren des durch die göttliche Gnade noch nicht ganz untergegangenen menschlichen Verderbens: was haben wir zu thun, als daß wir dem süßen Rufe folgen, aufs neue hinzugehen, und zu schöpfen aus dem Quell des lebendigen Wassers, der in das ewige Leben fließt, auf daß, wenn wir gedurstet haben, wir nicht wieder dursten. Und so führt uns auch dieser Wechsel zwischen dem Herrlichen im menschlichen Dasein, und zwischen dem, was uns mahnt an den Zustand der Sünde, beides auf [das] Eine zurück, welches überall dasselbe ist. Wenn es nun wahr ist, m. g. Fr., was der Herr sagt, daß das menschliche Herz ein trotziges uns verzagtes Wesen ist von Natur: wie wird beides natürlicher Weise hervorgelockt durch alles dasjenige, was auch in dem geistigen Leben des Menschen die | Spuren dieses Wechsels und dieses Gegensatzes an sich trägt. Der Trotz aber wird gedämpft und gedemüthiget, die Verzagtheit wird aufgehoben, und die Furcht verschwindet in dem Einen Gefühl, daß wir Eins sind mit dem, der vom Himmel herabgekommen ist. Je mehr wir uns in ihn, was für uns alle das Gleiche ist, versenken, desto mehr wird auch die Gleichheit in unserm Wesen hergestellt werden, desto weniger werden wir dem Wechsel unterworfen sein, der auch in der schönsten Seite des menschlichen Daseins immer wieder erweckt wird; und je mehr wir uns dem Erlöser hingeben, desto mehr fühlen wir, daß unser Vaterland im Himmel ist, und daß, 1 der] des

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21–23 Vgl. Joh 4,14 27–28 Vgl. Jer 17,9. Schleiermacher behandelt dieses Prophetenwort in der Regel als Christusrede.

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so wir nur Glauben und Liebe haben zu dem, der uns zum Heil gegeben ist, wir hier schon hindurchgedrungen sind zum ewigen Leben, welches wir dadurch haben und festhalten, daß wir es wissen, daß durch ihn und in ihm unsere Namen angeschrieben sind im Himmel. Amen.

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[Liederblatt vom 3. August 1823:] Am 10. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Entreiß dich deinen Schranken / Mein Geist und fleuch hinauf! / Ihr heiligen Gedanken, / Schwingt euch zur Gottheit auf! / Denn er, der höchste Geist, / Will auch schon hier auf Erden / Von uns verherrlicht werden, / Wie ihn der Himmel preist. // [2.] Kein Sinn kann ihn erreichen, / Kein endlicher Verstand, / Wer darf sich ihm vergleichen, / Wer hat ihn ganz erkannt! / Nichts giebt von ihm ein Bild! / Und schaut ihr auch entzücket / Die Welt, die er geschmücket: / Er bleibt euch doch verhüllt. // [3.] Drum preist als euren Meister, / Der euch zu sich erhebt, / Den Vater aller Geister, / Durch den ihr denkt und lebt, / Ihr seid durch seinen Ruf! / Er hat in sich das Leben; / Kommt laßt uns den erheben, / Der uns zu Geistern schuf. // [4.] Im Geiste bet’ ihn, Seele, / Und in der Wahrheit an! / Liebst du des Herrn Befehle, / Wie selig bist du dann. / Er hat Unsterblichkeit, / Und Seligkeit und Leben; / Das alles wird er geben / Dem, der sich ganz ihm weiht. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Freund zerschmilzt etc. [1.] Wie herrlich ist’s ein Schäflein Christi werden, / Und in der Huld des treusten Hirten stehn! / Kein höhrer Stand ist auf der ganzen Erden, / Als ihm in Lieb und Treue nachzugehn. / Was alle Welt nicht geben kann, / Das trifft ein wahrer Christ bei seinem Hirten an. // [2.] Hier findet er die angenehmsten Auen, / Hier wird ein ewig frischer Quell entdeckt, / Kein Auge kann die Gnade überschauen, / Die hier der Christ in reicher Menge schmeckt, / Ihm wird ein Leben mitgetheilt, / Das voll Befriedigung ihm nie vorübereilt. // [3.] Wie kann er einst so ruhig sterben, / Wenn er im Schooß des treusten Hirten liegt! / Er darf sich nicht vor Höll und Tod entfärben, / Weil Höll und Tod sein Hirte schon besiegt. / Fällt ihm des Leibes Hüll’ auch ein, / So wird die Seele doch kein Raub des Todes sein. // [4.] So bleibt der Christ in seines Hirten Händen, / Und wenn aus Zorn der ganze Abgrund schnaubt. / Ihn kann der Wolf dem Hirten nicht entwenden, / An dessen Allmacht ja sein Jünger glaubt. / Er kommt nicht um in Ewigkeit, / Und wird im Todesthal von Furcht und Fall befreit. // [5.] Wer leben will und gute Tage sehen, / Der eile hin zu dieses Hirten Stab; / Hier wird er stets auf süßer Weide gehen, / Da ihm die Welt nur eitle Freuden gab. / Hier wird nichts Gutes je vermißt, / Weil ja der Hirt ein Herr der Schäze Gottes ist. // [6.] Und hat er hier den

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Vorschmack nur der Freuden: / So folget bald die schöne Ewigkeit. / Da wird der treue Hirt die Seinen weiden / Mit hoher Wonne der Unsterblichkeit; / Da siehet man erst klar und frei, / Wie selig auserwählt ein Schäflein Christi sei. // Nach der Predigt. – Mel. Lobt Gott ihr Christen etc. [1.] Gott deiner Güte freue sich / Der König allezeit! / Sein Aug sehe stets auf dich, / Sein Herz sei dir geweiht. // [2.] Wenn er voll frommen Sinns begehrt, / Gott, ähnlich dir zu sein: / So müss’ er, in dein Bild verklärt, / Sein Volk, wie du, erfreun. // [3.] Um seinen Thron steh immerdar / Recht und Gerechtigkeit, / Und du beschüz’ ihn in Gefahr, / Wend’ ab, wenn Uebles dräut! // [4.] Sein werd in jedem Flehn zu dir / Mit Lieb und Dank gedacht, / Erhör’ es, Gott! so preisen wir / Gesegnet deine Macht. //

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Am 12. Oktober 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 18,1–4 Nachschrift; SAr 104, Bl. 108r–124r; Andrae Keine Nachschrift; SN 621/2, Bl. 4v–7v; Crayen Vertretung für Marheineke (Berliner Intelligenz-Blatt) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1823 am zwölften Weinmonds. |

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Tex t. Matth. XVIII, 1–4. Da traten die Jünger zu Jesu und sprachen: Wer ist der Größeste im Himmelreich? Jesus rief ein Kind zu sich, und stellte es mitten unter sie, und sprach: Wahrlich ich sage euch, es sei denn, daß ihr euch umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer sich nun selbst erniedriget, wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich. M. a. F., Als der Erlöser bei einer früheren Gelegenheit sagte, Johannes der Täufer sei der Größte unter den Dienern Gottes im alten Bunde, aber der Kleinste im Himmelreich sei größer denn er: da führte er seine Jünger selbst darauf, einen Unterschied anzunehmen unter denen, welche Glieder seines Reiches wären, und lehrte sie, daß, unbeschadet der natürlichen Gleichheit aller Menschen, | auch in dem Reiche Gottes ein Unterschied sei des Größeren und des Geringeren. Wie natürlich, daß sie ihn auch fragten: wer denn der Größte sei, und wie derjenige beschaffen sein müsse, der der Größte sein könne im Himmelreich. Die Antwort, die der Erlöser ihnen giebt in den verlesenen Worten, m. g. F. ergreift unstreitig ein jedes Gefühl auf das innigste und tiefste, es erfüllt uns mit einem rührenden Bewußtsein von der großen Verschiedenheit in der Art, wie der Herr das Große und das Kleine mißt in dem Umfange seines Reiches, und dagegen, wie es in menschlichen 0 Schleiermacher vertrat an der Dreifaltigkeitskirche seinen lutherischen Kollegen Philipp Konrad Marheineke (vgl. Einleitung, Punkt I.1.). Die beiden Pastoren waren seit der Gemeindeunion 1822 einander gleichgestellt und betreuten die Gemeinde zusammen zu gleichen Teilen. 10–12 Vgl. Mt 11,11; Lk 7,28

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Dingen gemessen wird; jeder fühlt sich auch von der Wahrheit dieser Rede durchdrungen. Aber auf der andern Seite gehört sie unleugbar auch zu den Worten des Erlösers, von welchen es uns schwer wird, uns eine genaue Rechenschaft zu geben, und ihren ganzen Inhalt mit unseren Gedanken zu erschöpfen. Denn das Kind ist doch immer ein unvollkommnes Wesen, und die | Schrift lehrt uns selbst, daß, wenn wir erstarken im Glauben, wir das Kindische von uns thun sollen und hinanreifen zur Ähnlichkeit mit dem vollkommnen Alter der Mannheit Khristi. Wie sollen wir uns also berathen, wenn wir die Worte des Erlösers auf uns anwenden, und nach dem kindlichen Sinne und Geist des Christen streben, daß wir nicht das Unvollkommne, was von uns gethan werden soll, mit aufnehmen? Wie können wir gewiß sein, wenn wir diese Regel des Herrn befolgen, daß wir alles erreichen, wozu die ausgebildeten Kräfte des Menschen gehören um in seinem Reiche wirksam zu sein? Daher, m. g. F., verdient dieses Wort des Herrn wohl eine genaue Achtsamkeit und ein tiefes Nachdenken, nicht als ob ich glaubte dasselbe in der kurzen Betrachtung einer solchen Stunde zu erschöpfen; aber doch laßt uns einen Anfang damit machen, darüber nachzudenken, wie dieser Maaßstab der Größe in dem | Reiche Gottes zu verstehen sei. Laßt uns dabei zuerst sehen auf den eigentlichen Sinn der Ähnlichkeit, die der Herr hier ausspricht, und dann uns jene Frage zu beantworten suchen: inwiefern dies geeignet sei, die Vollkommenheit und Größe in dem Reiche Gottes darzustellen. I. Die große Verschiedenheit, m. g. F., welche wir unter den Menschenkindern bemerken, entwickelt sich allerdings erst allmälig; erst wenn alle Kräfte des Geistes sich ausgebildet haben und zu ihrer Reife gelangt sind, wenn die äußern Verhältnisse sich festgestellt haben, und der Mensch seine eigene Stelle einnimmt, dann zeigt sich erst der volle Unterschied des Guten und des Schlechten, des Liebenswürdigen und des Verwerflichen, des Göttlichen und des Unwürdigen. Aber doch bemerken wir Unterschiede, und leider alle diese Unter|schiede auch in den Jahren der Kindheit schon, und wenn der Herr hier ein Kind mitten unter seine Jünger stellt, und ihnen sagt: „so ihr nicht umkehret, und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Wer sich aber erniedriget wie dies Kind, der ist der Größeste im Himmelreich“: so hat er gewiß ein gutes und liebenswürdiges Kind dargestellt, und nur ein solches gemeint. Wenn wir ihn also recht verstehen wollen, so müssen wir uns fragen: worin besteht denn nun die Vollkommenheit des kindlichen Lebens? Was ist darin das Gute und Liebenswürdige? Ich glaube wir können es kurz zusammenfassen, wenn wir auf der einen Seite sehen auf das Verhältniß, in welchem ein Kind zu den übrigen 6–8 Vgl. Eph 4,13–14

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Menschen steht, und dann auf dasjenige, was in seinem Innern ist und vorgeht. Betrachten wir nun das Erste, so glaube ich, daß wir sagen müssen: wenn ein Kind in seinem Verhältniß gegen die | Erwachsenen sich empfänglich zeigt und gehorsam, so haben wir in den Beiden alles, was wir von ihm wünschen können, und schöpfen daraus freudige und schöne Hoffnungen für die Zukunft. Empfänglich muß es sein, wenn es allmälig die ganze Fülle dessen, was das menschliche Leben ihm darbietet, so weit es nach dem Maaße seiner Kräfte im Stande ist, dasselbe zu verarbeiten, in sich aufnehmen soll; gehorsam muß es sein, wenn es sich allmälig hineinfügen soll in die allgemeinen Gesetze göttlicher und menschlicher Ordnung, wenn es vor den Verirrungen bewahrt bleiben soll, die ihm seine Unkunde und seine Schwachheit bereiten müssen, wenn es tief in sich aufnehmen soll den Unterschied zwischen dem Guten, Hohen und Himmlischen, und zwischen dem, was es hinter sich zu lassen bestimmt ist. Wo alles dies fehlt, da ist eine bedauernswürdige Unvollkommenheit; wo aber darüber hinausgegangen wird, da sind die natürlichen Grenzen des kindlichen Alters überschritten. Wenn | ein Kind, statt empfänglich zu sein, statt die Einwirkungen derer, an die es gewiesen ist, in sich aufzunehmen, statt auf diese Weise seine Kräfte zu üben und sich an menschliche Gesetze als an die Vorbilder zu halten, nach denen es sein Thun einzurichten hat, wenn es statt dessen schon mit eigener Freiheit das Gesetz seines Lebens hervorbringen will: so halten wir dies für eine zu frühe Reife, wovon wir nicht wissen, ob sie zum Guten führen wird oder zum Verderblichen. Und in dem Maaße als wir das Kind von den Foderungen entbinden, die wir überhaupt an das kindliche Alter richten, in dem Maaße als wir zulassen, daß es seinen eigenen Weg gehe, so gestehen wir ihm zu das eigene Urtheil, welches der Unterschied ist zwischen dem Erwachsenen und dem Kinde. Will und kann es über sich schalten und bestimmen nach eigener Willkühr, und sich mit Freiheit bewegen und sein Leben ordnen: so hat es sich entweder willkürlich über die Grenzen der Kindheit hinausgesetzt, oder wir | fühlen selbst, und fragen uns, was ist das Erfreuliche in den Erscheinungen eines kindlichen Gemüths? So müssen wir sagen, wenn wir ein Kind heiter finden und genügsam, so schöpfen wir daraus die Zuversicht, daß in seinem Gemüthe alles in Ordnung sei, daß seine innere Entwicklung ohne Störung fortschreite, daß keiner von den Feinden der menschlichen Glückseligkeit, nichts von demjenigen, was das reine Verhältniß zu Gott und andern Menschen stören kann, in seiner Seele aufgegangen ist. Wenn ein Kind nicht heiter ist, so glauben wir zuerst und mit Recht, daß es krank sei, und der natürliche Zustand und Zusammenhang seines Lebens gestört sei. Finden wir aber, daß die Quelle eines solchen Mangels an Heiterkeit in dem Gemüthe selbst ist, daß es schon einen Theil nimmt an der Sorge, die nur den Erwachsenen 27 Erwachsenen] Erwachsenem

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ziemt, daß es Abwechslungen von Frohsinn und Mißmuth unterworfen ist, die sich auf die Betrachtung seiner selbst und | seines Verhältnisses zu Andern gründet: so finden wir darin eine Krankheit der Seele, und eine Verkrüppelung und Aufhebung des natürlichen Zustandes. Und wenn, was natürlich mit diesem Mangel an Heiterkeit zusammenhängt, ein Kind nicht genügsam ist mit dem, was ihm gewährt werden kann, wenn es anfängt sich vergleichend umzusehen und darauf zu achten, wo einer mehr habe als ihm selbst beschieden ist: so bedauern wir, daß die reine Quelle kindlicher Freude und Zufriedenheit schon verloren ist. Sehet, m. g. F., das ist die Weise kindlicher Güte und Liebenswürdigkeit, und wenn wir nicht leugnen können Empfänglichkeit und Gehorsam gründen sich auf die Liebe und ohne aus dieser hervorzugehen sind beide nicht von rechter Art, und Heiterkeit und Genügsamkeit gründen sich in dem Vertrauen, womit der Mensch das Gefühl seiner Abhängigkeit hinnimmt und in sich selbst verarbeitet: so müssen wir gestehen, dies beides sind die Quellen | aller menschlichen Vollkommenheit und besonders derjenigen, deren wir uns im Reiche Gottes zu erfreuen haben; denn in diesem kann nichts anders als nur aus Liebe und Vertrauen hervorgehen. Müssen wir also nicht sagen, der Herr habe Recht gehabt zu seinen Jüngern zu sagen: „wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Denn wer durch den Erlöser der Welt wirklich will erlöst werden, der muß sich selbst verleugnen, und empfänglich werden für ihn. Wir sollen nicht aus unserer eigenen Kraft in dem Reiche Gottes etwas schaffen, wir sollen nichts anderes sein und werden wollen, als was uns von ihm kommt, und was wir durch ihn sein können. Und in dem Gehorsam gegen sein Wort und gegen seinen Willen, darin, daß wir seinen Fußtapfen nachgehen sollen, sollen wir alles finden, was uns in dieser Welt ziert und unser und durch uns Anderer Heil gründen kann. Hat aber einer in der Gemeinschaft mit dem Erlöser und | mit dem himmlischen Vater durch ihn nur den ersten Anfang der Seligkeit gefunden, wie müssen wir nicht gestehen, daß Heiterkeit und Genügsamkeit die natürliche Stimmung eines jeden solchen nothwendig sein muß. Was kann die Heiterkeit dessen jemals trüben, der in der That und Wahrheit sagen kann: ich habe das Kleinod gefunden, nach welchem ich lange gesucht, welches eine Perle ist, von der der Herr sagt, daß um sie zu haben der lieber soll alles hingeben können, womit er sonst geschmückt ist. Und wenn er weiß, daß dem, an welchem er hängt und zu dem er sich fühlt in dem Verhältnisse eines Mitgliedes zum Hause, alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, daß wie in ihm die Macht, so auch auf ihm die Verantwortung ruht, wie sollte der nicht genügsam 17 anders] Anderes 33–36 Vgl. Mt 13,45–46

36–38 Vgl. Mt 28,18

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sein mit dem, was ihm in der Verwaltung des himmlischen Reiches anvertraut und zuertheilt ist. Ja, m. g. F., wenn wir uns dies be|wahren, die kindliche Empfänglichkeit und den kindlichen Gehorsam, der kein knechtischer ist aus Furcht, sondern das reine Mark der Liebe, und wenn wir auf der andern Seite uns dies bewahren Heiterkeit und Genügsamkeit in Beziehung nicht nur auf die äußern Fügungen des Lebens, sondern auch auf das Walten des göttlichen Geistes in unserer Seele: dann sind wir in der That im Himmelreiche, und haben das, wodurch wir in demselben können festgehalten werden. Aber ob nun auch das, so nothwendig und unentbehrlich es ist, das Größte sei und Alles, ob der, welcher umkehrt und sich erniedrigt und wird wie ein Kind, auch der Größte sei im Himmelreich, das ist nun freilich die zweite Frage, die uns zu beantworten übrig bleibt. II. Wir werden aber den Sinn des Erlösers auch hier verstehen und seine Rede gewiß wahr finden, wenn wir darauf achten einmal, ob denn etwa | in diesem kindlichen Sinn und Geist, den er uns empfiehlt, etwas liegt, was wir jemals von uns thun müssen, und was den größeren Fortschritten der christlichen Heiligung widersprechen kann, und wenn wir uns zweitens fragen, ob wenn wir uns das höchste Ziel des frommen Bestrebens in diesem Leben in seiner ganzen Klarheit denken, irgend etwas darin enthalten sein kann, was über diesen kindlichen Sinn hinausgeht. Müssen wir uns beide Fragen verneinen, dann werden wir auch hier der himmlischen Weisheit des Erlösers die Ehre geben. Was nun das Erste betrifft, sollte wohl in diesem kindlichen Sinn etwas sein, was wir von uns thun müssen, wenn wir auf eine höhere Stufe khristlicher Entwicklung und zu einem höheren Grade der Gottseligkeit gelangen? Der Apostel Paulus sagt freilich auch in Beziehung auf seinen Lebenslauf in Hinsicht der göttlichen Dinge: | „Als ich ein Kind war, da dachte ich wie ein Kind, und gebehrdete mich wie ein Kind, als ich aber ein Mann ward, da that ich das Kindische von mir ab.“ Er sagt tadelnd zu den Christen: wie lange wollt ihr denn Kinder sein, daß man euch nichts anderes vorsetzen kann als die Milch des Evangeliums, seid ihr noch nicht so reif geworden, daß ihr die starke Speise genießen könnt? Aber, m. g. F., das ist die Natur aller bildlichen Ausdrücke, daß sie bald so, bald anders gewendet werden können. Betrachten wir es aber genauer, so werden wir finden, daß, was der Apostel gesagt hat, mit dem, was der Erlöser gesagt hat, in keinem Widerspruch steht. Wir lernen allerdings erst allmälig alle große und heilige Wahrheiten uns aneignen; es giebt vieles in seiner Lehre und in seinem Tone, was der Mensch in dem ersten Anfange seines geistigen Lebens nicht in sich aufnehmen und verarbeiten kann, vieles in seinen | Foderungen, was der Mensch da noch nicht zu leisten im 27–29 1Kor 13,11

30–32 Vgl. Hebr 5,12–13

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Stande ist. Aber eben deswegen, m. g. F., sollen wir uns die Empfänglichkeit des Kindes erhalten, damit wir von dem Geringeren zu dem Größeren fortschreiten können, und so nicht, wie es der natürliche Mensch in dem höheren Alter des Lebens pflegt, in unseren Gewohnheiten erstarken; sondern empfänglich bleiben für jede Einwirkung des göttlichen Geistes auf unser Gemüth, den Verstand offen behalten für jede neue Wahrheit, die uns mitgetheilt wird, und aufmerksam sein auf jeden Wink, der uns in dem großen Gebiet des geistigen Lebens begegnet. Wenn wir uns diese kindliche Empfänglichkeit erhalten, dann kann es nicht geschehen, daß unser geistiges Leben dem irdischen gleich sei, welches sich bis auf einen gewissen Punkt entwickelt, dann still steht, und aus Mangel an Bewegung zurückgeht. Nur durch immerwährendes Festhalten an dieser kindlichen Em|pfänglichkeit können wir von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern im Reiche Gottes gelangen. Was aber den Gehorsam betrifft, m. g. F., so ist wohl nicht erst nöthig ein Wort darüber zu sagen, daß dieser auch in dem Zustande der größten Vollkommenheit von uns nicht kann entbehrt werden. Wenn schon in menschlichen Dingen der Unterschied zwischen dem Gehorchen und dem Gebieten, je mehr das Glück der Menschen gesichert sein soll, um desto mehr so vertheilt sein muß, daß keiner ganz von den Befehlen ausgeschlossen sei, wenn er seine Bestimmung erreichen soll, auf der andern Seite aber auch jeder einen haben muß, dem er gehorche: so noch vielmehr wissen wir es von dem Reiche Gottes, daß wir uns in demselben keiner Freiheit rühmen können, wenn wir nicht von dem rechten Wege abweichen wollen. Unendlich ist der Ruf der göttlichen Liebe, der uns treibt | von einer Stufe der Gottseligkeit zur andern aufzusteigen, unendlich ist das, was der Mensch entwickelt, wenn er diesem Rufe folgt, aber anders nicht als auf diesen Ruf des Gehorsams. Können und sollen wir jemahls aufhören den Fußtapfen Christi zu folgen? können und sollen wir jemahls uns losmachen von der Folgsamkeit gegen sein heiliges Wort? Nein, m. g. F., darüber hinaus können wir nur zurückgehen und nur in den Irrgängen menschlicher Willkühr uns immer weiter entfernen von dem Ziele, dem wir nachstreben sollen. Daß aber, m. g. F., jeder Wachsthum im Guten uns immer nur einen Zuwachs bereiten muß in der Heiterkeit der christlichen Liebe, und daß ohnerachtet jedes solchen Zuwachses uns immer Noth thun wird die kindliche Genügsamkeit, das sollten wir doch auch wohl finden. Denn der Herr vertheilt | seine Gaben, wie er will, und giebt dem Einen dieses, dem Andern jenes, und aus jener liebreichen väterlichen Vertheilung entsteht der schöne Einklang der Geister in seinem Reiche, indem jeder nicht nur als ein Bedürftiger, sondern auch als ein Gebender erscheint, indem jeder von dem Andern empfängt, was ihm selbst fehlt, und jeder wiederum Andern mittheilt von dem, was ihm der Herr verliehen, und was dem 19 den] dem

27 Gehorsams] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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Andern gebricht. Denn wir können nicht alles haben und alles umfassen in dem Gebiete der göttlichen Gnade, und jeder muß, wie weit er auch fortschreite in dem, was Gott wohlgefällig ist, jeder muß sich genügen lassen mit dem ihm beschiedenen Theil, und statt mißgünstig zu sein gegen Andere um des willen, was ihm versagt ist, überall mit Liebe umherschauen, wo er es finde unter seinen Brüdern, sich herzlich freuen, wenn er in Andern die Gaben sieht, die ihm fehlen, und die schöne Hoffnung hegen, daß das Ganze doch nichts entbehre | und daß auch er daran Theil nehmen werde in dem Maaße, als die brüderliche Liebe ihn beseelt. Daß aber, m. g. F., je mehr wir uns in der kindlichen Gesinnung vervollkommnen, um desto sicherer und ungestörter die kindliche Heiterkeit des Gemüths in uns wohnen muß, und daß wir nie nöthig haben dies von uns zu thun: das bedarf keiner großen Erörterung. Denn was ist diese Heiterkeit anders als die Frucht unserer Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen und unsere Beruhigung bei allem, was demselben gemäß ist. Wie wir nicht aufhören können Gott zu vertrauen, wie wir wissen, daß zu allem, was wir wünschen können, Gott der Vater Zeit und Stunde seiner Macht vorbehalten hat: so können wir nicht aufhören in jener Heiterkeit kindliche Ruhe zu leben, die uns der Erlöser empfiehlt, und den Christen von dem unterschiedet, der | mehr oder weniger Gott aus den Augen verlierend sich auch in menschlichen Dingen einen eigenen Weg vorzeichnen will. Sehen wir aber auf das höchste Ziel khristlicher Tüchtigkeit und Gottseligkeit und fragen uns: giebt es denn doch nicht etwas, was größer ist und höher als das, was in diesem kindlichen Sinne liegt? was ist denn, m. g. F., dieses Ziel? Gewiß auf der einen Seite unsere Ähnlichkeit mit dem Erlöser, auf der andern Seite aber kein anderes als die treuste Arbeit in seinem Weinberge, das unausgesetzte und unser eigenes Gefühl so viel als möglich befriedigende Mitwirken zur Erfüllung seines heilsamen Zweckes mit dem menschlichen Geschlecht. Der Erlöser nun, m. g. F., ist freilich hier in einer gewissen Hinsicht uns entgegen. Wenn wir nun sollen eine beständige Empfänglichkeit bewahren, so sollen wir eben empfänglich bleiben für ihn und für das, was von ihm ausgeht. Wenn wir niemals aufhören sollen gehorsam zu sein, so sollen wir gehorsam sein seinem Worte und seinen For|derungen. Aber wie wir zu ihm, so verhielt er sich auch in der Vollkommenheit seines männlichen Alters auch auf dem Gipfel seines menschlichen Lebens und in der Fülle seiner Kraft gegen seinen himmlischen Vater. Wenn also das Wort wahr ist: „wer mich siehet, der siehet auch den Vater“: so ist eben unsere Empfänglichkeit für ihn und unser Gehorsam gegen sein Wort ganz dasselbe, wie seine Empfänglichkeit für seinen Vater und sein Gehorsam gegen denselben. Aber wie redet er 27 zur] zu 36–37 Joh 14,9

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von sich selbst, in dieser Beziehung? Er spricht: Der Sohn will nichts von sich selbst, sondern nur, was er von dem Vater gehört, was er bei dem Vater gesehen hat, das thut er. Und so stellt er uns dar seine ganze Wirksamkeit auf Erden, die ganze Fülle der Gottheit, die aus seinem menschlichen [Wesen] hervorstrahlte als die Frucht seiner Empfänglichkeit für seinen Vater im Himmel. Und eben so rühmt er ja von sich, daß er nur gekommen sei | um den Willen seines Vaters im Himmel zu erfüllen, und legt die Rechenschaft ab, daß er alles gethan habe, was ihm sein Vater geboten und den Menschen Alles offenbart, was ihm der Vater mitgegeben habe. Er selbst also führt sein ganzes menschliches Dasein und Wirken zurück auf diese Empfänglichkeit auf das Göttliche und auf den Gehorsam gegen den Vater im Himmel. Wie können wir also zu einer größern und reinern Ähnlichkeit mit dem Erlöser gelangen als indem wir auf diesem Pfade des Kindlichen bleiben, indem wir Empfänglichkeit und Gehorsam für das Höchste halten, was der Mensch in diesem Leben leisten kann. Wie aber der Erlöser zufrieden war und genügsam, nicht nur mit dem äußern Loose, sondern auch mit dem heiligen Willen Gottes in Beziehung auf die Langsamkeit der Fortschritte seines Reiches, so lange er selbst noch auf Erden unter den Menschen wandelte: davon giebt uns jedes Wort, aus der Fülle seines Herzens geredet, ein Zeug|niß, das spricht sein Bild, wie wir es aus den Zügen, die uns seine Jünger hinterlassen haben[,] in unserer Seele gestalten mögen, auf das lebendigste aus. Und wie er heiter war unter allen Umständen des Lebens und diese Heiterkeit seiner Seele unter Schmerzen und Leiden und selbst im Angesichte des Todes nicht verlor, mit diesem Gefühl erfüllt uns jede Betrachtung seines Lebens und seines Leidens. So wir also auf diesem Wege bleiben, und uns immer mehr gestalten in den reinen und kindlichen Sinn, um desto vollkommner wird auch unsere Ähnlichkeit mit dem Erlöser sein. Sehen wir aber auf die Arbeit, die einem jeden aufgetragen ist in dem Weinberge des Herrn: o, m. g. F., auch die wird immer am besten vor sich gehen, wenn jeder sich begnügen läßt an dem, was der Herr ihm anvertraut hatte, wenn keiner in eine fremde Arbeit hineingreift, wenn | wir uns im Vertrauen auf Gott mitten unter allen Schickungen, die uns das irdische Leben bringt, die Heiterkeit der Seele bewahren, die den Kindern eigen ist, und alle düstere Sorge und allen Unmuth, den das Kind nicht kennt aus unserer Seele vertreiben. Wer wird aber der treueste, der fleißigste, der emsigste Diener Gottes sein? Der gewiß, dessen Seele von keiner Wolke des Unmuths verdunkelt wird, der sich eine ruhige Heiterkeit bewahrt unter allen Wechseln des Lebens, bei jedem Gefühl äußern Widerstandes, bei jedem Bewußtsein eigener Unvollkommenheit. Wenn in andern Gebieten des menschlichen Thuns allerdings der einen größeren Werth [hat], der aus dem Schatze seines eigenen Gemüths dies und jenes hervorbringt, und neue 1–3 Vgl. Joh 5,19

6–7 Vgl. Joh 6,38

8–9 Vgl. Joh 17,4.6–7

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Erzeugnisse des menschlichen Geistes an das Licht des gemeinsamen Lebens fördert, wenn da nicht der | der Größte ist, der am meisten zu gehorchen hat und am wenigsten zu befehlen, sondern der, an dessen Willen sich eine große Menge von menschlichen Kräften anschließt, und der Gehorsam nicht nur fordern, sondern auch mit der Kraft seines Geistes hervorbringen kann: so müssen wir gestehen im Reiche Gottes, im Himmelreiche, da soll alles, was gut ist, nur das Bild und die Überschrift des Erlösers tragen, keiner soll etwas Eigenes und Neues darin bauen und fördern können, jeder soll sich aber auch, wenn er den Herrn wahrhaft lieben will, die Empfänglichkeit bewahren für alles Würdige und Schöne, und alle die Werke Gottes, die in unendlicher Fülle vor ihm ausgebreitet sind, mit aufmerksamen Augen betrachten, und die Spuren der göttlichen Hand, die das menschliche Geschlecht leitet, zu entdecken suchen, damit er auf diese Weise in einem vorzüglichen | Sinne allen alles werde. Je mehr sich diese Empfänglichkeit beschränkt, desto beschränkter muß auch unsere Thätigkeit im Reiche Gottes sein, je mehr wir sie uns erhalten, je vollkommner sie sich entwickelt, desto ungestörter werden wir, wie der Herr es von uns fordert, ihm dienen können, desto mehr werden wir im Stande sein in allen Seelen, die der Herr uns anvertraut hat, etwas Gutes zu wirken, und auf irgend eine Weise seine Stelle zu vertreten suchen. Und im Reiche Gottes gilt kein eigener Wille, es gilt nur Ein Wille, dem alle dienen sollen, und der wird am meisten ausrichten, der seinen eigenen Willen verleugnet, und ihn dem Willen des Herrn unterwirft, der wird am meisten Muth haben das auszurichten, was der Geist Gottes in seiner Seele angeregt hat, der die vollkommenste Überzeugung davon hat, daß es nicht sein eigen Werk und sein eigen Gemächt ist, | sondern die Wirkung und die Forderung dessen, der über alles zu gebieten hat, und der eben der Herr ist über alle, die an ihn glauben. – Wenn also, m. g. F., auf der einen Seite diese Forderung des Erlösers uns zurückruft den ersten Zustand der Menschen, als sie noch in paradisischer Unschuld lebten, und wir diesen den kindlichen Sinn, den der Erlöser fordert, nicht absprechen können: so müssen wir doch gestehen, was er uns gegeben hat und worauf er uns hinweist ist etwas unendlich Größeres als jenes. Denn die Kindlichkeit der ersten Menschen, die hing zugleich damit zusammen, daß sie den Beruf, zu welchem Gott sie in die Welt gesetzt hatte, als er sagte, sie sollten Herren sein über alles, was auf Erden lebt und von ihm hervorgebracht ist, noch nicht erfüllten, sondern ihr Leben ein bloß genießendes Leben war. Der Anfang aber der Sünde und der Anfang ihrer Herrschaft über die | Welt und der Erfüllung dieses ihres herrlichen Berufes war auch Eins und dasselbige. Und seitdem sehen wir überall außer dem Reiche des 18 werden] werder 35–36 Vgl. Gen 1,28

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Erlösers auf Erden diesen Kampf zwischen dem Bestreben des Menschen die Welt zu beherrschen und zu ändern, und zwischen der Sehnsucht nach dem Zustande kindlicher Heiterkeit und Unbefangenheit, der unwiederbringlich verloren ist. Der Erlöser aber hat nicht nur wiedergebracht, was ohne ihn immer verloren gewesen wäre, sondern auch vereinigt, was von ihm getrennt war und ohne ihn immer hätte getrennt bleiben müssen. Und wenn wir uns das höchste Bild menschlicher Vollkommenheit zeichnen, so müssen wir sagen, es wird darin bestehen, wenn ein Mensch, betrachtet in seinen äußern und irdischen Beziehungen, der Empfänglichkeit die Selbstthätigkeit hinzufügt, dem Gehorsam das Gebietende und Herrschende, wenn | er den Wechsel zwischen Heiterkeit und Unmuth, der in dieser Welt und in dem Leben des Menschen in Beziehung auf die äußern und irdischen Verhältnisse nie ganz weicht, auch auf dem geistigen Gebiet zu beherrschen weiß, wenn er es versteht der Sorge ihr Recht widerfahren zu lassen, und über den Augenblick hinaus in die Zukunft zu schweifen, aber doch auch sich zu fassen weiß, wo nicht in Heiterkeit und Vertrauen, doch in Festigkeit und Gleichgiltigkeit, wenn seine Hoffnungen nicht erfüllt werden, und wenn er seine Rechnung falsch gemacht hat, wenn er, weit entfernt von einer Genügsamkeit, die ja immer nur Mangel an lebendiger Kraft verrathen würde, immer weiter schaut, und immer mehr erfassen will, damit was Gott ihm gegeben hat, immer wirksam sei zur Erreichung seiner irdischen Bestimmung; | aber als Kinder Gottes angesehen, und wenn er in das Innerste seines Gemüths hineinschaut, da doch seine ganze Selbstthätigkeit aus nichts anderem hervorgeht als aus reiner und ungetrübter Empfänglichkeit für das Göttliche, da, indem er die Menschen beherrscht und mit der Kraft seines Geistes und seines Willens zusammenhält, da, indem er sich bewußt ist, daß er gehorsam ist dem göttlichen Willen, dem zu gehorchen seine Glückseligkeit ausmacht, da, indem sein innerstes Leben von der Sorge und dem Unmuth nicht erreicht wird, sondern in seiner Gemeinschaft mit Gott und seinem Erlöser, die Heiterkeit nie aus seiner Seele weicht, und wenn er den Wegen Gottes nachdenkt in stiller Betrachtung, dann sein Streben sich verliert in die eine große Empfindung, daß Gott allein über Zeit und Stunde gebietet, daß er allein jeder | menschlichen Kraft das Ziel gesetzt hat, über welches sie nicht hinaus kann, und ihm da jedes Gelingen und jedes Mißlingen gleich lieb ist, weil beides beherrscht ist von derselben ewigen Weisheit, und er Gott eben so dankt und eben so zufrieden ist mit dem, was er nicht vollführen kann, als mit dem was er durch die göttliche Gnade gewirkt hat. So, m. g. F., ist nicht nur das wahr: wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so könnt ihr nicht in das Himmelreich kommen, sondern das ist auch wahr: wer sich selbst erniedrigt, wer allem entsagt, was nur der 9 seinen] seinem

21–22 Bestimmung;] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

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Wahn der Menschen vorspiegeln kann, wer von jeder Höhe herabsteigt, auf welche die göttliche Wahrheit und Weisheit ihn nicht gestellt hat, und mit dem kindlichen Sinne einheimisch geworden ist in dem Spielraum des kindlichen Lebens, der ist der Größte im Himmelreich, weil er der treueste und | lebendigste und wirksamste Diener Gottes ist, weil er am meisten in der reinen Ähnlichkeit mit dem Erlöser sich findet, der auch nichts anderes begehrte als aus der Fülle seines Vaters zu schöpfen, und dem Willen desselben gehorsam zu sein. Das ist die verborgene Weisheit der Kinder Gottes und die vollkommene Seligkeit, deren wir in diesem Leben fähig sind; sie kann aus nichts anderem hervorgehen, als wenn wir uns immer mehr befestigen und immer mehr erstarken in diesem kindlichen Sinne. Das ruft uns die himmlische Weisheit zu, mögen wir ihr alle unser Ohr leihen immerdar. Amen.

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Am 20. Sonntage nach Trinitatis 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Frohlockend dank’ ich Vater dir / Am Tage deiner Ehre; / Denn deinen Geist giebst du auch mir, / Daß er mich Weisheit lehre, / Durch die erleuchtet ich nun dich / Und Jesum deinen Sohn und mich / Zu meinem Heil erkenne. // [2.] Die Welt ist Gottes Heiligthum, / Durch seinen Sohn entsündigt; / Und allen Armen wird sein Ruhm, / Sein heilig Wort verkündigt; / Wo Christentempel sind, erschallt / Mit seligmachender Gewalt / Des Evangeliums Stimme. // [3.] Wem Weisheit fehlt, wem Licht gebricht, / Der komme her und höre, / Und seine Seele werde licht / Durch seines Gottes Lehre. / Wer in der Sünde Sklaverei / Sich elend fühlt, der werde frei / Durch Jesu Christi Gnade. // [4.] O heilig sei die Stätte mir, / Wohin, o Gott, die Frommen / Mit Dank und Lust und Lehrbegier / Dich anzubeten kommen. / Da fühl ich durch der Gläub’gen Dank / Und ihren heiligen Gesang / Zum Himmel mich erhoben. // [5.] Da seh’ ich meines Glaubens Preis / An deinem Throne prangen, / Und ringe nun mit Ernst und Fleiß / Das Kleinod zu erlangen. / Da stärkt mich deines Wortes Kraft / Zur Treu in meiner Pilgrimschaft / Zum Wandel hier im Himmel. // (Hollstein. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Herbei mein Herz zu Jesu Lehre, / Die dich zum Leben führen kann! / Sieh zu, daß ja dich nichts bethöre, / Und locke von der rechten Bahn. / Die Welt ist voll Betrügereien, / Und du liebst selbst die Schmeicheleien, / Nur allzusüß gehn sie dir ein! / O fliehe solcher Thorheit Pfade, / Und fleh’ um Christi freie Gnade, / Willst du auf ewig glücklich sein. // [2.] Was ist die Ehr? ein eitles Wesen, / Das Gott gern seines Ruhms beraubt, / Ein Kleinod, dem

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nur auserlesen, / Der nicht an höh’re Schäze glaubt. / Wem eitle Lüfte günstig wehen, / Wird doch den Klippen nicht entgehen; / Der Hochmuth ist der Seele Tod! / Um diesen glücklich zu vermeiden / Sollst du gern Schmach und Kreuz erleiden; / Das bringt die Seele nicht in Noth. // [3.] So alles, was die Welt gewähret / Und was sie uns als Schäze weist, / Womit sie ihre Kinder nähret / Und sie dabei glückselig preist. / Such’ nur den Grund recht aufzudecken, / Das Nicht’ge kann sich nicht verstecken, / Der falsche Schein wird offenbar. / Ein Herz, das wahre Weisheit liebet / Und Christi Dienste sich ergiebet, / Wird solches Blendwerk bald gewahr. // [4.] Wohlan denn, die wir Christen heißen / Nach dem, der selbst die Weisheit ist; / Wir wollen uns mit Ernst befleißen, / Daß wir entfliehn der Thorheit List! / Wer mag deß Seligkeit beschreiben, / Der sich den Geist zu Gott läßt treiben, / Und nicht an eitlen Dingen klebt? / Drum laßt uns Christi Joch erwählen, / Den Schaz wird uns die Welt nicht stehlen, / Die nur nach hohen Dingen strebt. // [5.] Wer wahre Tugend willig übet, / Die Gottes Geist gewirket hat; / Wer seinen Heiland herzlich liebet, / Und dies beweiset mit der That: / Den kann man klug und selig nennen, / Wenn’s auch die Wenigsten erkennen; / Er steckt das höchste Ziel sich vor. / Was könnten wir wol bessers haben? / Woran kann sonst das Herz sich laben? / Die Weisheit ruft, leih ihr dein Ohr. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Mir nach, spricht Christus etc. Herr was ich bin, das bin ich nur / Durch deine freie Gnade. / Drum bleiben meine rechte Spur / Der Demuth stille Pfade. / Verleihe sie zum Schmucke mir, / Denn nur durch sie gefall ich dir. //

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Am 19. Oktober 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

21. Sonntag nach Trinitatis, früh 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,1–11 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 112–127; Andrae (Titelblatt der Vorlage in SAr 104, Bl. 124v) Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 138r–139r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 41r–47v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.) Liederangabe (nur in SAr 104)

Am 21. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Tex t. Joh. 2, 1–11. Und am dritten Tage ward eine Hochzeit zu Kana in Galiläa; und die Mutter Jesu war da. Jesus aber und seine Jünger wurden auch auf die Hochzeit geladen. Und da es am Wein gebrach, spricht die Mutter Jesu zu ihm, Sie haben nicht Wein. Jesus spricht zu ihr, Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Meine Stunde ist noch nicht gekommen. Seine Mutter spricht zu den Dienern, Was er euch sagt, das thut. Es waren aber allda sechs steinerne Wasserkrüge gesezt, nach der Weise der jüdischen Reinigung; und gingen je in einen zwei oder drei Maaß. Jesus spricht zu ihnen, Füllet die Wasserkrüge mit Wasser. Und sie fülleten sie bis oben an. Und er spricht zu ihnen, Schöpfet nun, und bringt es dem Speisemeister. Und sie brachten es. Als aber der Speisemeister kostete den Wein, der Wasser gewesen war, und wußte nicht, von wannen er kam, die Diener aber wußten es, die das Wasser geschöpft hatten – ruft der Speisemeister den | Bräutigam und spricht zu ihm, Jedermann giebt zum ersten guten Wein, und wenn sie trunken geworden sind, alsdann den geringeren; du hast den guten Wein bisher behalten. 0 SAr 104, Bl. 124v: „Lied. 341; 348, 6 und 7“. Geistliche und Liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 341: „Liebe! die du mich zum Bilde“ (Melodie von „Auf! Ihr Christen, Jesu Glieder“); Nr. 348: „O Jesu! Jesu! Gottes Sohn“ (Melodie von „Wie schön leucht’t uns der Morgenstern“)

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Das ist das erste Zeichen, das Jesus that, geschehen zu Kana in Galiläa, und offenbarte seine Herrlichkeit. Und seine Jünger glaubten an ihn.

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M. a. Fr. Wie uns Johannes manches erzählt, wovon die andern Evangelisten schweigen, so hat er auch diese Begebenheit gewissermaßen aus der Vergessenheit wieder hervorgerufen. Sie gehört in die erste Zeit des öffentlichen Lebens Christi, wo noch nicht einmal das ganze Häuflein seiner Jünger, die ihn beständig begleiteten, beisammen war; darum konnte sie gar leicht durch so viele spätere wunderbare Begebenheiten gleichsam verdrängt werden, so daß sie in Vergessenheit gerathen wäre, wenn Johannes sie nicht aufgezeichnet hätte. Er aber erzählt sie uns mit einer gewissen besondern Liebe und dem Verhältniß der Sache nach auch mit größerer Ausführlichkeit, und eben deswegen muß es für uns wichtig sein, sie so genau als wir können – denn vieles bleibt uns immer in den wunderbaren Thaten des Erlösers verborgen und unerklärlich – in ihrem rechten Zusammenhange zu verstehen. Es ist aber schon aus einer Ursache etwas großes und wichtiges, daß uns Johannes diese Geschichte erzählt, weil sie uns so deutlich zeigt, wie wenig diejenigen den Sinn des Erlösers treffen, welche vornehm thun und scheu in Beziehung auf die geselligen Freuden und Vergnügungen ihrer Brüder und sich denselben entziehen, um dadurch gleichsam zu einer größern Heiligkeit ihres Lebens zu gelangen. Davon wußte der Herr nichts, vielmehr gleich im Anfange seines öffentlichen und mit seinen Jüngern gemeinsamen Lebens wollte er ihnen durch die That zeigen, daß er nicht sei nach der Weise Johannes des Täufers, der nicht aß und trank, sondern sich von der Gesellschaft | der Menschen in die Wüste zurükkzog. Ja was noch mehr ist, wenn wir den ganzen Zusammenhang der Geschichte bedenken; wenn wir erwägen, wie Christus der Herr noch ganz kurz zuvor in einer andern Gegend verweilte, wohin er gegangen war um vom Johannes die Taufe zu empfangen, wie er hier, was uns der Evangelist ganz deutlich und bestimmt in dem ersten Capitel erzählt, mehrere seiner Jünger um sich her versammelte und dann drei Tage darauf schon in Galiläa auf dieser Hochzeit war, aber auch hier nach beendigter Feier nicht länger verweilte, sondern nur wenige Tage daselbst zubrachte und nicht lange nachher, wie uns Johannes ebenfalls in den auf unseren Text folgenden Worten erzählt, mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seinen Jüngern zu Kapernaum war und dann gleich wieder zurükkging nach Jerusalem auf das hohe Fest seines Volkes: so gewinnt es das Ansehen, als ob dies mit ein Beweggrund gewesen wäre, diesem Feste bei Verwandten und Freunden beizuwohnen und ein früher darüber gegebenes Wort zu lösen. Wie nun eine solche 27–29 Vgl. Joh 1,28–29

29–31 Vgl. Joh 1,38–41

33–37 Vgl. Joh 2,12–13

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Festlichkeit überall unter den Menschen aus zwei verschiedenen Seiten besteht, das eine ist Gebet und Segen und Theilnahme der frommen Gemeinschaft an einem so wichtigen und heiligen Bündniß, wo es geschlossen wird, das andere aber ist die gesellige Fröhlichkeit, die sich daran anschließt: so hat nun der Erlöser nicht nur das heilige Bündniß ehren wollen dadurch, daß er bei dem ersten Theile der Festlichkeit zugegen gewesen, sondern er ist auch unter den Gästen der Hochzeit und nimmt an dem Mahle und an der geselligen Fröhlichkeit Theil. Laßt uns, m. a. Fr., hieran gleich eine andere Betrachtung knüpfen. Was war es für ein Augenblikk gewesen, an welchen uns Johannes unmittelbar vorher erinnert, und den wir früher zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben? Nachdem der Erlöser vom Johannes getauft war, und dieser seine Jünger | auf ihn hingewiesen hatte mit den Worten, Siehe das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt, zween aber unter ihnen, durch sein Zeugniß bewogen, dem Herrn nachgingen und in ihm den Messias erkannten, auf den Johannes hinwies, und diese wieder ihren nächsten Verwandten und Freunden die freudige Entdekkung machten, daß sie den Messias gefunden, und dieselben mit dem Herrn in eine nähere Verbindung brachten: da richtete er ihre Aufmerksamkeit auf das Himmelreich, welches er stiften wollte; da leitete er ihre Gedanken von dem einzelnen ausgezeichneten, was auf sie gewirkt hatte, zu dem himmlischen und ewigen; da redete er in dem Gefühl seines göttlichen Berufs zu ihnen von seiner Gemeinschaft mit dem ewigen, indem er sprach, Von nun an werdet ihr den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn. Was für selige Stunden waren das, die das erste herzliche Bündniß knüpften zwischen ihm und denen, welche die treuen Gefährten seines Thuns und seines Leidens sein sollten und wollten bis an das Ende der Tage! Welche gemeinsame Begeisterung, welches andächtige erhebende Aufschauen zum Himmel, welches die ganze Seele tief durchdringende Bewußtsein von ihrer Gemeinschaft mit Gott, die in ihnen geknüpft war durch den, in welchem sie schauten die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater! – Und unmittelbar auf diese herrlichen Augenblikke die Zerstreuung einer gemeinschaftlichen Reise, und unmittelbar auf diese die Theilnahme an einem fröhlichen geselligen Feste! – Sehet hieraus, m. g. Fr., wie weit der Erlöser uns ähnlich geworden ist in allen Verhältnissen des menschlichen Lebens. Wenn uns einmal solche ausgezeichnete und im geistigen Sinne des Wortes reiche und beseligende Augenblikke zu Theil geworden sind, sei es nun bei der gemeinsamen Feier unserer christlichen Feste, sei es bei außerordentlichen Bewegungen unseres innern, sei es bei sonst ausgezeichneten Veranlassungen in unseren Verhältnissen zu den Menschen; wenn unsere Seele | dann hinaufgezogen ist von dem irdischen 11–19 Vgl. oben 29. Juni 1823 früh über Joh 1,29–34 sowie 13. Juli 1823 früh über Joh 1,35–42 23–25 Joh 1,51 31–32 Vgl. Joh 1,14

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zu dem ewigen, wie der Herr die Blikke seiner Jünger von dem vergänglichen auf das himmlische richtete; wenn wir dann wie sie damals in jenen heiligen Augenblikken, als der Erlöser vor ihnen verklärt ward auf dem Berge, und sie seine Herrlichkeit auf eine eigenthümliche Weise schauten, wenn wir dann mit ihnen sprechen, Hier laßt uns Hütten bauen: das ist die Aehnlichkeit unseres Lebens mit dem Herrn, die sich aber auch durch alle unsere irdischen Verhältnisse in dem Maaße fortsezt, als wir ihm angehören. Denn so ist nun das menschliche Leben, es knüpft unmittelbar das geringste an an das größte, das äußerlichste an das innerlichste, und diesem Wechsel ist der Erlöser eben so unterworfen gewesen wie wir, und er fügte sich in denselben mit Ruhe und Freudigkeit auch da, wo es nicht etwas großes und bedeutendes war, was ihm bei der stillen Betrachtung der menschlichen Seelen und aus dem gemeinsamen Zusammenleben in den größeren und kleineren Kreisen der Menschen entgegentrat. Und darum, m. g. Fr., sollen wir uns denn auch in diesen Wechsel fügen und über diese Verkettung in dem menschlichen Leben nicht murren noch unzufrieden sein. Aber es soll freilich dieser Wechsel keine Verschiedenheit in unserem Gemüthszustande hervorbringen, sondern leicht das eine in das andere übergehen. Und wer wollte wol glauben, daß nun auf jener Reise zu dem heiligen Feste der geistige Verkehr des Erlösers mit seinen Jüngern ganz wäre unterbrochen und gestört gewesen, daß er und sie etwa ganz wären aufgegangen in dem äußern Leben. Vielmehr sehen wir aus der Erzählung des Johannes selbst, wie genau er und die andern unter den Jüngern des Herrn, die zu dem fröhlichen Feste mitgeladen und anwesend waren, in dem mit dem Erlöser angeknüpften Verhältniß blieben, wie genau sie auf alles Acht gaben, was er sagte und that, wie das ihrem innern eingegraben blieb, und wie sich auch davon der gesegnetste Eindrukk in ihnen festsezte, so daß | nach vielen Jahren Johannes diese Geschichte uns mit einer solchen Lebendigkeit und Klarheit erzählen konnte. Wenn wir Christen bei einander sind, m. g. Fr., dann soll es immer auch mitten unter der äußern Fröhlichkeit die Spuren eines geistigen Lebens geben, das höhere und himmlische, welches in unserer Natur liegt, soll sich auch darin fortsezen können, und eben so sollen wir über diesem Wechsel stehen, daß wir uns über ihn nicht beklagen oder über ihn murren. Jeder große und ausgezeichnete Augenblikk der Erhebung unserer Seele ist nichts vorübergehendes und vergängliches; sondern er ist ein Schaz, den wir bewahren können mit gutem Willen unser ganzes Leben hindurch, und wovon sich auch der Segen von Zeit zu Zeit immer wieder zu erkennen giebt. Wenn wir in den geselligen Kreisen der Menschen weilen, so sind wir nicht da um den sinnlichen Genuß zu theilen oder zu vermehren, sondern 3–5 Vgl. Mt 17,1–4; Mk 9,2–5; Lk 9,28–33

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das ist das rechte Verhältniß des Christen in diesem Sinne, wovon uns diese Erzählung ein lebhaftes Beispiel giebt, daß alles sinnliche in der Heiterkeit und Unschuld des Lebens sich auf das leichteste mit dem geistigen soll verbinden, daß nichts, was das äußere Leben der Menschen und ihre geselligen Verhältnisse mit sich bringen, ausgeschlossen und ausgeleert sein soll von dem himmlischen, sondern einen höheren geistigen Gehalt gewinnen. Und wahrlich, m. g. Fr., wenn wir bedenken, wie von den spätern Wundern unseres Herrn die meisten die Abzwekkung hatten einzelne Leiden und Widerwärtigkeiten des menschlichen Lebens aufzuheben, und wenn wir auf der andern Seite bedenken, wie einem fröhlichen Herzen das Erhalten und Nähren der Freude in denjenigen Zeitpunkten des Lebens, die der Ruhe und der Erheiterung gewidmet sind, je größer der geistige Gehalt darin ist, um so mehr ein Verwahrungsmittel ist gegen die Widerwärtigkeiten dieses irdischen Lebens: so werden wir das ganze Verhalten des Erlösers bei diesem Feste nicht nur, sondern auch bei ähnlichen Veranlassungen, welche ihm von den Menschen gege|ben wurden, und was er bei dieser besonders that, in die genaueste Uebereinstimmung bringen mit demjenigen, was er sonst in seinem Leben unter den Menschen that, und mit der göttlichen Kraft, die ihm ursprünglich einwohnte, und die ihn in keinem Verhältnisse jemals verließ. Wenn wir aber weiter lesen, wie Maria, die Mutter Jesu, als es an Wein gebrach, sprach, Sie haben nicht Wein, und Jesus ihr antwortete, Weib was habe ich mit dir zu schaffen, meine Stunde ist noch nicht gekommen, seine Mutter aber doch zu den Dienern spricht, Was er euch sagt, das thut: so finden wir darin zweierlei, was uns befremden kann, wovon aber eine genaue Rechenschaft zu geben wir nicht im Stande sind. Das eine ist die Art, wie der Erlöser mit seiner Mutter redet, die allerdings etwas befremdend hartes an sich hat, indem er sagt, Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? Die Rede des Herrn in der Ursprache ist sehr kurz, und vielleicht hätte sie Luther auch eben so gut so übersezen können, Weib, was geht es dich und mich an? was haben wir beide damit zu schaffen, daß es an Wein gebricht? wodurch denn die scheinbare Härte sich bedeutend vermindert. Aber es bleibt noch eine andere Schwierigkeit. Indem nämlich der Erlöser dies sagt, wie er es auch gemeint haben mag, so war es eine ablehnende Antwort, und es geht daraus hervor, daß er in diesem Augenblikk noch nicht Willens gewesen ist das zu thun, was die Mutter wünschte, oder daß er es ihr wenigstens nicht hat sagen wollen. Soll er sich nun nachher dazu entschlossen haben und erst später den Befehl an die Diener gegeben, wodurch dem Mangel, den seine Mutter bemerklich gemacht hatte, abgeholfen werden konnte? Eine solche Unentschlossenheit, ein solches Schwanken können wir uns in ihm nicht denken, der Gegenstand sei noch so gering. |

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Das zweite, was uns befremdet, ist dies, daß ohnerachtet dieser ablehnenden Antwort des Herrn seine Mutter dennoch zu den Dienern spricht, Was er euch sagt, das thut, als ob sie auf der einen Seite schon davon überzeugt war, daß, wenn er auch anfangs zweifelte, er hernach doch das thun würde, was sie wünschte und erwartete, und als ob sie auf der andern Seite schon eine Erfahrung davon gemacht hatte, daß er solche wunderbare Wirkungen hervorbrächte, da doch Johannes am Ende dieser Erzählung sagt, Das ist das erste Zeichen, welches Jesus that. Wie gesagt, über beides wissen wir uns keine genaue Rechenschaft zu geben. Ob die Mutter Jesu irgend eine wunderbare Hülfe von ihm erwartet hat und grade die, welche er leistete, oder ob sie glaubte, irgendwie würde er Rath zu schaffen wissen für das Bedürfniß der Gesellschaft: das wissen wir nicht. Die ausdrükklichen Worte des Apostels machen es unwahrscheinlich, daß Christus vorher schon Wunder gethan hat, wenigstens nicht in Galiläa, und anderwärts hatte seine Mutter ihn nicht gesehen und mit ihm gelebt. Was aber die ablehnende Antwort betrifft und seine nachherige Bequemung dazu, so hängt dies zunächst zusammen mit einem andern Umstande, auf den wir unsere Aufmerksamkeit richten müssen. Die Mutter Jesu spricht zu ihm, Es gebricht am Wein. Der Speisemeister hernach, als er den Wein kostete, der Wasser gewesen war, ruft sich den Bräutigam und macht ihm gleichsam Vorwürfe darüber, daß er auf eine entgegengesezte Weise handle, als es sonst zu geschehen pflege. Andere, sagt er, geben zuerst den guten Wein, und erst später, wenn die Gäste trunken geworden sind, den geringeren, du aber hast den besten aufbewahrt bis hieher. So sehen wir, es war schon das festliche Mahl mehr in seiner lezten als in seiner ersten Hälfte, es war kein eigentlicher Mangel, welchen nothwendig gewesen wäre zu befriedigen, das Bedürfniß war mehr das eines gewissen Anstandes, daß es an | demjenigen gebrach, was die Gäste noch wünschten. Wie leicht aber bei solchen festlichen Zusammenkünften von einzelnen oder mehreren das rechte Maaß des Genusses überschritten wird, wobei der Wohlstand und die ungetrübte Empfindung des Menschen nicht bestehen kann, das wissen wir wol, und der Erlöser gewiß wird es sich nicht verstattet haben einer Unmäßigkeit Vorschub zu leisten auf irgend eine Weise, die er selbst tadeln und verwerfen mußte. Er nahm gern Theil an den fröhlichen Zusammenkünften der Menschen, aber gewiß auch so, daß er dabei für alle ein untrügliches Muster des rechten Maaßes war, gewiß auch so, daß überall seine Mißbilligung jene Ueberschreitung des rechten Maaßes wird getroffen haben, und daß er sie auch denen wird bemerklich gemacht haben, die im Stande waren sie zu verstehen; daß er aber jemals auch nur auf die entfernteste Weise sollte Gelegenheit gegeben haben zu einer Ueberschreitung des rechten und schikklichen Maaßes in diesen Dingen, das dürfen wir nicht glauben. Indem also der Erlöser von seiner Mutter

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aufgefordert ward dem Bedürfniß, welches entstanden war, abzuhelfen, so müssen wir es natürlich finden, daß er vorher einen Blikk auf den Zustand der Gesellschaft warf, ob derselbe auch von der Art sei, daß er sich in der Folge keinen Vorwurf würde zu machen nöthig haben über das, was er thun wollte, und ob er also die Bitte seiner Mutter erfüllen könnte und nicht einer Neigung Vorschub leisten würde, die er selbst für verwerflich erklären mußte; und erst als er hierüber ein sicheres Gefühl erhalten hatte, da that er, was er that. Hier, m. g. Fr., finden wir auf der einen Seite die Reinheit des Erlösers in ihrer ganzen Vollkommenheit, auf der andern sehen wir, wie er nicht nur Theil genommen hat an den geselligen Vergnügungen der Menschen, sondern wie er sich auch ganz in die in der Gesellschaft herrschenden Vorstellungen vom schikklichen und in das wohlanständige Gefühl gefügt hat. Wenn wir nun fragen: was wäre denn eigentlich für ein Uebel | daraus entstanden, wenn der Erlöser die Bitte seiner Mutter nicht erfüllt hätte? so werden wir nichts wesentliches anzuführen haben, sondern nur dies, daß der Bräutigam und diejenigen, welche mit ihm das Mahl ausgerichtet hatten, ein gewisses Gefühl der Beschämung darüber gehabt hätten, daß sie nicht hinreichend gesorgt hatten für die Wünsche und die Bedürfnisse derer, die zu dem Feste geladen waren. Auch dafür hatte der Erlöser ein Gefühl, sofern etwas wahres darin war, und dies wurde für ihn eine Veranlassung mit seinen ausgezeichneten Kräften auch da hülfreich zu sein, wo in der That das Bedürfniß nichts größeres, nichts wesentliches war. Wenn wir nun in der That ihn hierin nicht nachahmen können, so doch in der Ansicht, aus welcher er handelte. Wir sehen, er sezt sich nicht demjenigen entgegen und verlangt von andern, daß sie sich darüber erheben sollen, was in der menschlichen Gesellschaft, der sie angehörten, gebräuchlich und schikklich war; er geht in alle Empfindungen derer, mit denen er dort zusammen kam, ein und theilt sie, wie er alles menschliche mit uns getheilt hat, und er widmet ihnen eine solche Aufmerksamkeit, daß er alles, was in seinen ausgezeichneten Kräften lag, dazu beitrug, um hier alles ungelegene und störende zu entfernen. Alle menschlichen Begriffe und Gefühle dieser Art sind aber keinesweges etwas auf einem ewigen Grunde feststehendes, sondern sie sind in sich selbst wandelbar; ja wir können noch weiter gehen und sagen, es ist überall darin das falsche mit dem wahren, das eingebildete mit dem richtigen vermischt. Schonen aber sollen wir alles, was von dieser Art einen Einfluß auf das menschliche Gemüth haben kann, und auch dasjenige, was aus dergleichen falschem und eingebildetem in den Vorstellungen und Gefühlen der Menschen entsteht, sollen wir uns zu Herzen gehen lassen und es mit liebevollen Händen schonen, und überall wo wir können bereit sein den unangenehmen Empfindungen vorzubeugen, die in unseren Brüdern entstehen können, jedem | Mangel, der sie treffen kann, abzuhelfen und alles störende aus dem Wege zu räumen, was

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wir von ihnen zu entfernen vermögen. Dann werden wir dem Erlöser auch in dieser Beziehung so ähnlich sein, wie wir können, und nur indem wir die Sache von dieser Seite fassen haben wir seinen ganzen Sinn in dem, was er hier that, verstanden. Aber nun laßt uns noch auf das sehen, womit der Apostel seine Erzählung schließt, indem er sagt, Das ist das erste Zeichen, welches Jesus that, und offenbarte seine Herrlichkeit, und seine Jünger glaubten an ihn. Was, m. g. Fr., was für eine Herrlichkeit hat er denn hier offenbart, und wem hat er sie offenbart? Wer wußte eigentlich, was der Herr gethan hatte? Wie Johannes uns nichts erzählt von einem allgemeinen Eindrukk, den diese Begebenheit auf alle anwesende gemacht hat, so haben wir auch nicht Ursach an einen solchen zu glauben, und wir können uns leicht erklären, warum ein solcher nicht hat Statt finden können. Den Verlauf der Sache wußte niemand, auch nicht die Mutter Jesu, weil sie ihn bei dieser That nicht begleitet hatte, sondern nur die Diener, denen Christus befohlen hatte, die Wasserkrüge mit Wasser anzufüllen und sie hernach zu dem Speisemeister zu bringen, die konnten den Verlauf der Sache wissen. Aber wie beschäftigt waren diese in dem Augenblikk mit ihren Pflichten bei dem festlichen Mahle, und wie wenig waren sie es, die das geschehene den anwesenden Gästen hätten können bekannt machen. Der Speisemeister wußte es nicht, der Bräutigam auch nicht, und vielleicht unter den übrigen Jüngern des Herrn war keiner so aufmerksam gewesen auf alles, was er that, und auf jeden seiner Schritte als Johannes, der uns diese Begebenheit erzählt. So wurde in dem Augenblikk die Herrlichkeit des Herrn nicht offenbar, sondern erst später. Wenn man sich nämlich in der Folge die Sache überlegte, wo doch der Wein mag hergekommen sein, | und wenn man die Diener fragte, wie es mit der Sache eigentlich zugegangen sei, so kann sich die Erzählung weiter verbreitet haben; aber da war der rechte Augenblikk, wo diese That des Erlösers einen recht tiefen Eindrukk hätte hervorbringen können in den Gemüthern der anwesenden und ihre Aufmerksamkeit besonders auf ihn richten, der war vorüber, und es wird nur das Gefühl des unerklärlichen übrig geblieben sein bei denen, die später aus dieser Quelle den Verlauf der Sache erfahren haben. Wir sehen also gleich, bei dem Anfang seiner wunderbaren Thaten hatte der Erlöser keinesweges die Absicht, daß sie vor die Augen vieler Menschen sollten gezogen werden, sondern wie sie immer aus einem Mitgefühl bei ihm hervorgingen, so hat er auch damit nichts anderes bezwekkt, als was er dadurch leisten wollte, unbekümmert wie viel oder wie wenig sie unter den Menschen bekannt werden möchten, ja oft absichtlich verhütend, damit nicht unter der großen Menge von Menschen ein Aufsehen entstände. Fragen wir aber, was für eine Herrlichkeit offenbarte sich denn für diejenigen darin, welche von dieser wunderbaren That des Erlösers Kunde erhiel-

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ten? – Da müssen wir gestehen, m. g. Fr., in dem Wunder giebt es keinen Unterschied des großen und kleinen; sind einmal die Grenzen der uns bekannten Natur überschritten, so haben wir auch das Maaß für die Beurtheilung verloren, kein größeres Wunder giebt es und kein geringeres, sondern es ist alles eins und dasselbe, was über die Grenzen der natürlichen Ordnung hinausgeht. Wie man es für nothwendig hielt, daß derjenige, der etwas seltenes und ausgezeichnetes bewirken wollte, eben diese Grenzen der natürlichen Ordnung müsse überschreiten können: das ist aus den Geschichten des alten Bundes bekannt von den meisten, die der Herr zu seinen besondern Rüstzeugen gebraucht hatte; ja es war eine allgemeine Regel, daß, wer als ein Prophet auftrat, sich durch solche | Ueberschreitung der natürlichen Geseze als ein solches Rüstzeug Gottes bewähren müsse. Und so war es die Herrlichkeit eines Propheten, die den Jüngern offenbar werden konnte in dem, was der Herr that, nicht aber das göttliche seiner Natur. Denn wenn wir das wunderbare nicht begreifen können, so können wir auch nicht begreifen, was dazu gehört, um ein Wunder hervorzubringen. Wie wir nun Wunder aus den Zeiten der alten Propheten kennen, von denen wir doch wissen, in ihnen war doch nicht das göttliche, welches in dem Erlöser wohnte: so können wir auch nicht glauben, daß es die Absicht des Johannes bei diesen Worten gewesen sei zu behaupten, daß er aus dieser und aus andern wunderbaren Thaten des Erlösers das göttliche in seiner Natur erkannt habe. Nein, die Herrlichkeit des Herrn strahlte den Jüngern nicht entgegen aus seinen einzelnen Wundern, sondern aus seinem ganzen untheilbaren Dasein, aus dem unmittelbaren Eindrukk, den jenes auf sie machte, und der am herrlichsten durch die Worte des Lebens ihnen gegeben wurde, welche er redete. Und diese Herrlichkeit hatten sie gefunden, als sie freudig zu einander sagten, Wir haben den Messias gefunden. Denn daß der der Sohn Gottes wäre, bestimmt das ganze menschliche Geschlecht zu erlösen, das war der Glaube aller derer, die mit rechtem Eifer und mit rechter Innigkeit des Herzens an dieser Hoffnung hingen. Also an dem, was der Herr hier that, konnte ihnen das nicht offenbar werden, daß er der Sohn Gottes sei. Und wenn Johannes hinzufügt, Und seine Jünger glaubten an ihn, so war das nicht das erste Entstehen des Glaubens in ihnen, sondern eben in der Kraft des vollen Glaubens, daß er, wie auch Johannes der Täufer ihn bezeichnet hatte, das Lamm Gottes sei, welches der Welt Sünde trägt, daß er derjenige sei, der nach ihm kommen werde, obwohl er vor ihm gewesen sei, stärker als er, und dem er nicht werth sei seine Schuhriemen aufzulösen, nur aus | diesem Glauben waren sie seine Jünger geworden, und nur indem sie ihn erkannten für den, durch welchen alle Hoffnungen der Menschen erfüllt werden sollten, konnten sie zu einander sprechen, Wir haben den Messias gefunden. Das Wunder also war nicht 27–28.41 Joh 1,41

34–36 Vgl. Joh 1,29

36–38 Vgl. Joh 1,15.27

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der Grund ihres Glaubens, weder dieses noch irgend ein anderes, welches der Herr später verrichtet hat. Merkwürdig aber ist es, daß Johannes auch dies auf die Jünger beschränkt und uns nicht sagt: diejenigen, welche hier sämmtlich versammelt waren und sahen, daß der Erlöser auf eine wunderbare Weise dem Bedürfniß der Gäste abgeholfen hatte, und die, welche es später erfuhren, glaubten an ihn, sondern seine Jünger. Konnten sie hiedurch befestigt werden in dem Glauben, daß er der Sohn Gottes sei? Denn anders als für eine Befestigung des Glaubens können wir doch das nicht halten, was Johannes hier unter dem Glauben meint. Oder meint er einen andern Glauben, der zu jenem früheren noch hinzugekommen sei? Schwerlich dürfen wir dies sondern und den leztern als einen besondern hinstellen; denn es läßt sich nicht der eine von dem andern trennen. Jeder Glaube an den Erlöser hängt daran, daß er eben dies, der Sohn Gottes, der Gründer des menschlichen Heils ist; und was die Jünger von den ausgezeichneten Kräften des Herrn bemerkten, und wenn sie in ihm die Fülle der Gottheit, den eingebornen Sohn des Vaters erkannten, das mußte alles zu der Befestigung desselben Glaubens dienen. Aber wie es ein ganz menschliches Verhältniß war, worin sie ihn hier handeln sahen, so müssen wir auch auf dieses eben die Worte des Apostels beziehen, wenn er sagt, Und seine Jünger glaubten an ihn. Erkannten sie hier zuerst die wunderbare Kraft, welche in seine menschliche Natur gelegt war durch ihre Verbindung mit dem höchsten Wesen: so sahen sie zu gleicher Zeit die Art, wie der Erlöser sie gebrauchte, und bekamen ein sicheres Gefühl davon und einen festen Glauben daran, | wie er überall, wo sich die Gelegenheit dazu fand, auf dieselbe Weise zum Besten der Menschen, zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse, zur Stillung irdischer Noth und irdischer Leiden wirksam war; sie sahen hier im kleinsten und im leiblichen das Bild des größten und des geistigen, und es wurde ihnen klar im kleinen die ganze Kraft des Erlösers die Menschen zu erlösen, die Menschen aus der Gewalt der Sünde zu befreien, es wurde ihnen klar die Art, wie er sich einzelner annahm und mit seiner göttlichen Kraft von demjenigen befreite, was die Noth des Lebens auf sie gelegt hatte. Beides erschien ihnen als dasselbe und war eine Wirkung derselben Kraft, eine Wirkung der einen göttlichen Gnade und ein Zeugniß davon, daß Gott sich durch den Erlöser dem menschlichen Geschlecht bekannt machen könne und offenbaren. Aber freilich innerlich sowol durch sein ganzes Leben, wie er hier den Grund dazu gelegt hat, zuerst in dem engen Kreise seiner Jünger, die an ihn glaubten, und dann in den weitern menschlichen Verhältnissen durch die Offenbarung aus den Tiefen seines göttlichen Gemüths, die er ihnen aufschloß, indem er zu ihnen sagte, Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn; und auf der an40–41 Joh 1,51

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dern Seite auch äußerlich durch die Hülfsleistungen, wodurch er sich den Menschen freundlich und gefällig erwies: durch beides sollte seine Wirksamkeit auf Erden den Menschen immer herrlicher offenbar werden, immer größer die Kraft derer, die an ihn glauben, immer inniger die Anhänglichkeit an ihn, immer klarer das Bewußtsein, welches die Jünger des Herrn, von dem Geiste des Erlösers getrieben, uns aufbewahrt haben von seinem Leben. Und das ist der Segen, der darauf ruht. Was wir darin finden von jener innern und äußern Offenbarung, es bleibt für die verborgen, die auf dem Wege nicht sind Jünger des Herrn zu werden, und für die, welche daran zweifeln, daß der Herr | Wunder gethan hat. Aber wie damals in den Dienern, die nur von einer flüchtigen Bewunderung ergriffen waren, der Segen der himmlischen Offenbarung Gottes durch seinen Sohn nicht entstehen konnte: so auch jezt. Aber alle, die seine Jünger sind oder auf dem Wege es zu werden, die werden durch jede genaue Betrachtung in seinen Worten sowol als in seinen Thaten ihn erkennen, wo sie auch nur eine leise Spur von ihm aufbewahrt finden. Und das möge uns allen denn zum Heile unserer Seelen gereichen, und der Herr sich uns allen in unseren Gemüthern immer mehr verherrlichen als denjenigen, in dem wir erblikken die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater. Amen.

19–20 Vgl. Joh 1,14

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Am 26. Oktober 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 18,7 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 268–281 (A) Drucktext Schleiermachers, in: Zwey Predigten, 1824, S. 3–16 (B) Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 366–377; 21844, S. 416–427 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 299–308 b. Nachschrift; SAr 104, Bl. 125r–135v; Andrae Texteditionen: Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Drucktext Schleiermachers 268

Die Lehre des Erlösers vom Aergerniß. Text.

Matth. 18, 7.

M. a. F. Wenn wir uns, wie wir in einer Reihe von Betrachtungen gethan, dessen aus dem Grunde unseres Herzens mit einander erfreuen, daß der Erlöser nicht nur Alles wiedergebracht hat, was die Sünde in dem menschlichen Geschlechte verdorben hatte, sondern daß, wie der zweite Adam herrlicher ist, als der erste, so auch das, wozu die Kinder Gottes durch ihn erhoben werden, etwas weit Vortrefflicheres ist, als Alles, was aus dem ursprünglichen Zustande des Menschen hätte hervorgehen können: so giebt es wohl nichts, was uns bei dieser Betrachtung mehr in der Demuth erhalten kann, als das eben gelesene Wort des Herrn. Ja wir mögen sagen, es wirft einen Schleier über die Herrlichkeit der Kinder Gottes in dieser Welt, durch welchen sie bisweilen kaum durchscheinen kann. Denn wenn der Herr von Aergerniß redet, so thut er das immer in Beziehung auf das Reich Gottes, welches er zu stiften gekommen war, wie sich denn auch Aergerniß nicht anders denken läßt, als in dem Gegeneinandertreten des Guten und Bösen, des Wahren und Verkehrten, des Himmlischen und

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Irdischen, und das heißt in diesem Reiche Gottes. Denn wo dies noch nicht ist, da ist auch noch kein vollkommen Gutes und Wahres, noch kein wahrhaft Himmlisches, das dem Irdischen entgegentreten kann; | sondern Alles ist selbst in das Irdische, und somit in das Böse und Verkehrte mit verflochten. So laßt uns denn diese Lehre des Herrn vom Aergerniß, wie sie uns aus den Worten unseres Textes hervorgeht, mit einander erwägen, sowohl um uns darüber zu trösten auf der einen Seite, als auch den rechten Weg darin und die richtige Ansicht darüber zu finden auf der andern. Es ist aber zweierlei, was der Herr in den Worten unseres Textes von dem Aergerniß sagt, einmal die Nothwendigkeit desselben, und dann das Wehe desselben. Dies Beides also laßt uns jetzt mit einander betrachten. I. Zuerst sagt der Herr: „Es muß ja Aergerniß kommen,“ und stellt dies also dar als eine Nothwendigkeit und als etwas Unvermeidliches. Wenn wir uns nun den Umfang dieser Nothwendigkeit vergegenwärtigen wollen, so dürfen wir nur an jenes andere Wort des Herrn denken. Am Ende der Welt aber wird der Herr seine Engel aussenden, und sie werden sammeln aus seinem Reiche alles Aergerniß und Alle, die da Unrecht thun1, um sie hinaus zu werfen. Hier sagt er uns also ganz deutlich, erst wenn die irdische Laufbahn seines Reiches werde zu Ende gebracht seyn, dann erst würden mit einander, wie denn Beides zu einander gehört, das Aergerniß und diejenigen, die Unrecht thun, aus demselben hinausgethan werden. Bis dahin also gilt das Wort, welches der Herr gesagt: „Es muß ja Aergerniß kommen“. Wir werden dies leicht in seiner ganzen Wahrheit erkennen, wenn wir uns fragen, woher denn das Aergerniß kommt. Zuerst und am Unmittelbarsten, m. g. F., kommt es aus der Sünde. Nicht zwar so, als ob wir von allem Bösen ohne Unterschied sagen könnten, daß es ein Aergerniß sey, denn das wird es nur, indem es eine bestimmte Wirkung auf Andere hervorbringt. Ist unser Herz befestigt gegen alles Verkehrte und Böse, so kann in uns nichts Anderes daraus entstehen, als ein inniges Bedauern und ein eifriges Bestreben, dem Bösen abzuhelfen, und die Seele, in welcher es wohnt, dem | Guten zugänglich zu machen. Kann auf der andern Seite das Böse auf die Kinder des Lichtes etwa deßhalb gar nicht wirken, weil es ganz von ihnen abgesondert ist: so können wir auch nicht sagen, daß es ein Aergerniß sey; denn es ist dann Keiner, dem es Aergerniß geben kann. Die Kinder der Finsterniß nämlich verstehen sich unter einander darüber; und 1

Matth. 12, 41.

17–20 denken. Am ... werfen.] B: denken, „Am ... werfen.“

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wenn gleich dem Einen diese, dem Andern jene Gestalt der Sünde besonders vertraut ist, so entschuldigen und rechtfertigen sie doch Jeder das Verfahren des Anderen. Aber so lange das Böse sich findet in der noch nicht ganz vollendeten Gemeine des Herrn, so gereicht es ihren Mitgliedern zum Aergerniß; denn sie werden aufgereitzt und fürchten Gefahr. Und wenn die Bösen sich gegen das Reich Gottes wenden, sey es nun mit eingestandener Absicht, um es zu stören, oder unabsichtlich, indem sie suchen, sich in dasselbe einzuschleichen, und diejenigen, zu denen das Wort des Herrn schon hindurchgedrungen ist, sich ähnlich zu machen, so entsteht in der Gemeine Aergerniß; denn die Einzelnen werden versucht und irre gemacht. Wenn der Unglaube mit den ausgesuchtesten Klügeleien des menschlichen Verstandes sich zweifelnden Gemüthern nahet, und ihnen die Lehren der Wahrheit verdächtig zu machen sucht, den Unterschied zwischen dem ewig Wahren und dem vergänglichen Schein, einen Unterschied, den sie in einem gewissen Grade deutlich erkennen, aber noch weit lebhafter und inniger fühlen, auszugleichen und unscheinbar zu machen sucht, dann gereicht er zum Aergerniß. Wenn die Lust mit allen Reitzen der Anmuth und Schönheit angethan, und unter dem Vorwande einer nichts weniger als die allgemeine Ruhe der Menschen störenden Befriedigung unschuldiger und natürlicher menschlicher Neigungen hervortritt; wenn ihre Diener es sich zum eigenen Geschäft machen, durch mancherlei Erfahrungen und Zeugnisse darzuthun, wie viel besser sich derjenige befinde, der, geschieht es nur mit Verstand und Klugheit, auch wohl alle seine Begierden in der Welt zu befriedigen sucht, ohne sich ängstigen zu lassen durch die Vorspiegelungen des Gewissens, welche nur die Frucht alter Gewöhnungen | und menschlicher Anordnungen seyen, nicht aber etwas Ursprüngliches in der menschlichen Seele: dann entsteht Aergerniß. Und, m. g. F., muß denn nicht Alles dieses kommen, schon deßhalb, weil die ganze Herrlichkeit des Evangeliums unmöglich könnte offenbar werden, wenn es nicht käme? Denn ist das nicht die große Verheißung, die dem Herrn gegeben ist: daß alle seine Feinde sollen zum Schemel seiner Füße gelegt werden, – so muß ja auch jede Gestalt des geistigen Todes zu ihrer Zeit hervortreten, und sich immer wieder zum Kampfe stellen gegen das Reich des Lichtes und der Wahrheit, um endlich ganz von demselben besiegt zu werden. Denn erst, wenn sie Alle besiegt sind, dann ist der Tod, als der letzte oder vielmehr einzige Feind des Herrn, welcher der Fürst des Lebens ist, wahrhaft überwunden. So lange es also noch 32 nicht] fehlt in B

33 ist:] B: ist,

33–34 Vgl. 1Kor 15,25

34 werden, – so] B: werden, so

37–39 Vgl. 1Kor 15,26

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eine Gestalt des Bösen giebt, die sich, daß ich so sage, groß und geltend machen kann, und den Kampf gegen das Wahre und das Rechte auf eine neue Weise versuchen: so lange muß auch noch das Aergerniß wirklich kommen, und wir würden keinen Gewinn daran haben, wenn es uns erspart würde. Denn so lange die Lockungen und Zuflüsterungen des Bösen auch nur noch einiges Gehör finden, und also Versuchung und Aergerniß entstehen kann: so lange ist auch die Kraft des göttlichen Wortes nicht fest gegründet, und der göttliche Geist noch nicht zu seiner vollen Herrschaft gelangt. Damit wir also diesem Ziele der Vollkommenheit, wiewohl es hier nur für einzelne Seelen vielleicht, für das ganze Reich Gottes aber gewiß nicht erreichbar ist, wenigstens immer näher kommen, muß das Aergerniß, welches daher entsteht, daß das Böse sucht, wie es das Gute überwinde, sich nothwendig immer wieder erneuern. Aber, m. g. F., diese Art des Aergernisses ist nicht die einzige, es kommt auch Aergerniß aus dem Guten selbst. Was bedürfen wir weiter, um uns hiervon zu überzeugen, als nur zurückzugehen auf die Entstehung des Reiches Christi auf Erden. Kaum war der Herr auf der Erde erschienen, so sagte schon der Geist von ihm vorher: er werde Vielen in Israel zwar zum Auferstehen gereichen, Vielen aber auch zum Falle; und so wahr | ist dies geworden, daß sein ganzes Leben hindurch Viele von denen, die Gott dienten, aber mit Unverstand, ein Aergerniß an ihm genommen haben; ja ganz kurz vor seinem Ende sagte er noch sogar zu seinen Jüngern: „In dieser Nacht werdet ihr euch Alle an mir ärgern!“ – Was bedürfen wir weiter, als an den Apostel Paulus zu denken, welcher von sich selbst sagt: „Wenn ich, wie man euch hat überreden wollen – so spricht er nämlich zu den Galatern in seinem Briefe1 – das Gesetz predigen würde und die Beschneidung: so wäre das Aergerniß des Kreutzes aufgehoben,“ und damit erklärt er also, daß es keinesweges aufgehoben sey, vielmehr er selbst mit seiner Predigt dieses Aergerniß immer auf’s Neue hervorbringe. Ja er muß der Meinung gewesen seyn, daß es noch lange nicht aufgehoben werden dürfe; so lange nämlich nicht, als es noch Eiferer geben würde für das Gesetz Mosis. Und immer spricht er so von der Lehre vom Kreutze, daß sie den Griechen, als welche zu Narren geworden, da sie sich weise zu seyn dünkten, eine Thorheit sey, den Juden aber, als welchen noch immer die Decke Mosis vor ihrem Angesicht hinge, denen sey sie ein Aergerniß. Und, was uns näher liegt, 1

Gal. 5, 11.

19–21 Vgl. Lk 2,34 24–25 Mt 26,31; Mk 14,27 1Kor 1,23; 2Kor 3,13–14

34–38 Vgl. Röm 1,22;

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wenn wir an jene Zeit der Sichtung und Reinigung christlicher Lehre und christlichen Lebens gedenken, welcher unsere evangelische Kirche ihr Daseyn verdankt: wie gereichte nicht auch damals gar Vielen eben das heller hervorbrechende Licht des Evangeliums zum Aergerniß! Alle diejenigen, welche zu tief verstrickt waren in die Mißbräuche und in die Irrthümer einer langen Reihe von Jahrhunderten, um sich davon loszureißen, wurden dadurch aufgereitzt und verwirrt, daß das, woran sie hingen, als Mißbrauch und Irrthum dargestellt wurde; und wenn Vielen durch die Bemühungen der Kirchenverbesserer die Einsicht in das Wesen des göttlichen Heils aufgeschlossen wurde: so gereichten sie Andern nur zum desto tieferen Falle. So kommt also auch aus dem Guten Aergerniß, und wie es von Anbeginn gewesen ist in der Kirche des Herrn, m. g. F., so bleibt es auch. | Immer bleibt in denen, welche den Namen Christi bekennen und zum Reiche Gottes gehören, die Einsicht in die Wahrheiten des Heils durch mancherlei Menschliches getrübt und mit Irrthümern und Mißverständnissen vermischt. Aber diese beziehen sich doch auf die theure und beseligende Wahrheit, und nicht Alle vermögen, sie davon zu scheiden; sondern wenn sie aufgedeckt werden, so suchen sie das Mangelhafte, Schwache, Unvollkommene in Schutz zu nehmen, aus Furcht, ihren ganzen Besitz zu verlieren, und so nehmen sie an dem reineren Ausdrucke und der einfacheren Gestalt der Wahrheit Anstoß und Aergerniß, und verwickeln sich durch hartnäckigen Streit immer tiefer in dasjenige, was sie hindert an dem vollen Genusse der göttlichen Gnade. Ueberall fast stehen die Christen zum Theil noch in irgend einer Beziehung auf der Stufe des gesetzlichen Lebens; überall fast giebt es noch irgend eine Furcht, die von der Liebe nicht ganz ausgetrieben ist, und so wird die volle Freiheit der Kinder Gottes noch nicht genossen. Weil sie nun aber glauben, die Furcht gehöre zu der Furcht, mit welcher sie ihre Seligkeit schaffen wollen, und ihr gesetzliches Wesen sey nur der Ausdruck ihrer Liebe zu Gott und ihrer Abneigung von dem Vergänglichen: so scheuen sie sich, wenn ihnen die freie Gnade Gottes noch reiner verkündigt und die Freiheit der Kinder Gottes in hellerem Lichte gezeigt wird, und setzen sich nur fester in dem Knechtischen, was sie leider noch in sich tragen. So ist es, und so wird es seyn; immer muß sich der Kampf erneuern, nur unter der Gestalt, die jeder Zeit die angemessenste ist, und anders kann nicht Alles überwunden werden, was sich den Fortschritten des Evangeliums und dem inneren Wachsthume der Kirche Christi in den Weg stellt, als durch den Kampf, der das Aergerniß hervorbringt. 29–30 Vgl. Phil 2,12

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II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch zweitens betrachten das Wehe, welches der Herr über das Aergerniß ausspricht. Er thut dies aber auf eine zwiefache Weise, indem er zuerst sagt: „Wehe aber der Welt um des Aergernisses willen,“ und das, m. g. F., das ist für uns das Tröstliche dabei; dann aber sagt er auch: „Wehe dem Menschen, durch welchen das | Aergerniß kommt, und dies ist dasjenige, was uns Alle zu einer beständig erneuerten und geschärften Wachsamkeit über uns selbst auffordert. Wenn der Herr sagt: Wehe der Welt um des Aergernisses willen, so ist uns dies unstreitig tröstlich. Denn überall ist ja in seinen und seiner Jünger Reden die Welt entgegengesetzt dem Reiche Gottes. Wenn er also sagt: Wehe der Welt um des Aergernisses willen, so können wir daraus abnehmen: daß dem Reiche Gottes kein Wehe aus dem Aergerniß entspringt. Und dies, m. g. F., liegt allerdings schon klar genug in dem, was wir nur eben über die Nothwendigkeit des Aergernisses gesagt haben. Denn diese entstand ja eben daher, daß das Reich Gottes sich immer vollkommener erbauen soll, daß die Gemeine des Herrn immer mehr ohne Tadel vor ihm soll dargestellt werden, und das Licht, in welchem sie dasteht, immer reiner und immer ungetrübter glänzen soll. Darum kann nun dem Reiche Gottes aus allem Aergerniß nichts Anderes hervorgehen, als daß es sich immer mehr reiniget von allen Schlacken, wie durch Feuer, und sich immer herrlicher gestaltet. Wo das Aergerniß aus dem Bösen kommt, da vereinigen die Kinder des Lichtes ihre Kräfte, um das Böse zu überwinden durch das Gute, und je dringender sich ihnen die Gefahr vor Augen stellt, desto eifriger und emsiger thun sie sich zusammen, um durch Wort und That den Schein zu zerstören, die Wahrheit an’s Licht zu bringen, und so den Kampf glücklich zu bestehen. Je mehr das Böse sich unter dem Scheine des Lichtes, und das Verkehrte unter dem Scheine der Wahrheit, an sie heranwagt, desto tiefer lernen sie selbst eindringen in den ewigen Unterschied zwischen beiden, und je tiefer sie darin stehen, um desto geläuterter wird ihr ganzer Sinn, um desto aufgeklärter ihr Verstand an dem Evangelium. Also dem Reiche Gottes kommt aus solchem Aergerniß kein Wehe, sondern nur der Welt. Die Welt ist es, m. g. F., welche das Aergerniß hervorbringt, das aus dem Bösen kommt, und wenn sie in diesem Kampfe nicht überwunden wird, so daß sie zugleich aufhört, das Aergerniß zu geben, und Welt zu seyn, | feindselig dem Reiche Gottes: was kann daraus Anderes entstehen, als daß sie sich nur noch mehr verstockt in ihrer Feindschaft gegen den Geist und gegen das Werk Gottes auf Erden, und so oft sie einmal überwunden wird, immer wieder neue Waffen aufsucht, wie das Reich Gottes zu bestreiten sey, bis endlich eben in seiner Hart30 heranwagt] B: hervorwagt

32 stehen] B: sehen

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näckigkeit das Herz sich auch dem Irdischen und Verkehrten immer mehr hingiebt. Darum sagt der Erlöser: Wehe der Welt um des Aergernisses halber! Aber eben so, m. g. F., ist es auch nur die Welt, welche Aergerniß an dem Guten nimmt, und über die das Wehe aus diesem Aergerniß kömmt. Das kann vielleicht Manchem unter uns zuerst eine harte oder übermüthige Rede erscheinen. Wir wissen, es giebt unter unsern Brüdern im christlichen Glauben ziemlich viel schwache und ängstliche Gemüther, von gleichsam blöden Augen, die immer noch das volle Licht der Wahrheit nicht vertragen, wie wir sie uns auch vorher schon vergegenwärtiget haben. Wenn nun diese Aergerniß nehmen, so oft die Wahrheit des Evangeliums auf dieselbe Weise, wie es von Anfang an gewesen ist, im Streite gegen alles dasjenige hervortritt, was die evangelische Freiheit hemmen kann, zu welcher der Herr uns berufen hat durch die Wahrheit; wenn diese so am Guten Aergerniß nehmen: so gehören sie in so fern und deßwegen in demselben Sinne zur Welt, in welchem die Schrift die Welt den Kindern Gottes entgegensetzt. Wollen wir ihnen aber, indem wir dies sagen, ihr Anrecht daran, daß auch sie erlöst sind durch den, dessen Namen sie bekennen, absprechen? Das sey ferne von uns! aber demohnerachtet werden wir gestehen müssen, was sie unfähig macht, in das volle Licht der Wahrheit hineinzuschauen, was sie unfähig macht, die Freiheit zu ertragen oder sich anzueignen, die unter den Kindern Gottes seyn soll, das sey nicht das Erlöste in ihrem Wesen, sondern dasjenige, was noch der Welt angehört. Es giebt, um dies zu verstehen, kein tröstlicheres Wort der Schrift, als das, welches der Apostel Johannes sagt: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus.“ Wo nun keine | Freude ist an der Freiheit, da ist offenbar noch Furcht, und so ist es demnach mit allem knechtischen oder gesetzlichen Wesen. Diejenigen aber, welche der Herr seine Freunde nennt, von denen sagt er, daß sie nicht Knechte sind. Alles knechtische Wesen also in dem Menschen gehört nicht zu dem Freunde Christi in ihm, sondern ist die Welt in ihm[,] dasjenige, was noch fern ist von der Freundschaft mit dem Erlöser, und der reinen Liebe zu ihm und zu seinem Vater. Denn so wie wir noch außerhalb der Freiheit, die der Geist Gottes in uns schafft, und außer dem Gehorsam des Glaubens, der mit dieser Freiheit dasselbige ist, irgend ein Verdienst oder einen Ruhm vor Gott in irgend einem äußerlichen Werke und Wesen suchen: so setzen wir uns offenbar in eine äußerliche Beziehung zu Gott, und wie könnte 2–3 Wehe ... halber!] B: „Wehe ... halber!“ 26–27 1Joh 4,18

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das wohl geschehen, sofern wir schon dazu gelangt wären, ihn als den Vater mit dem Erlöser in uns wohnen zu haben? Was aber in uns noch eine Scheu haben kann vor solcher unmittelbaren und inneren Verbindung mit dem höchsten Wesen, das ist nicht der Mensch Gottes in uns, sondern die Welt in uns. – Wenn wir die einfachen Wahrheiten unserer christlichen Heilsordnung uns durchaus mit allerlei Zusätzen verbrämen müssen, um sie uns lieber und zugänglicher zu machen, oder, nicht zufrieden mit dem Geiste und Leben darin, noch eines fleischlichen Buchstabens bedürfen, der doch keine Stütze ist: so kann das nur daher kommen, daß wir noch nicht recht eingelebt sind in der Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit, und was sich in uns gegen diese sträubet, das ist Welt. Wenn also nichts mehr von dieser in uns wäre: so müßte überall die reinste und tiefste Wahrheit uns auch am Meisten erquicken, und an nichts würden wir uns mehr freuen, als wenn die Freiheit der Kinder Gottes überall um uns her, wie in uns selbst, in voller Schönheit erblühte, weil wir dann auf nichts einen Werth legen würden, als auf das reine Walten des göttlichen Geistes, und nichts mit solcher Sicherheit erkennen und unterscheiden, als dieses. Giebt es also so Viele, denen diese Verkündigung zum Aergerniß gereicht, so kommt das daher, weil auch noch in ihnen die Welt | ist, weil ihre Seele, so sehr sie auch glauben mögen, vielleicht mehr als Andere, und besonders als diejenigen, an deren Meinungen und Handlungen sie ein Aergerniß nehmen, ganz dem Evangelio zugeneigt, und ein ungetheiltes Eigenthum des Herrn zu seyn, der sie befreit hat, doch noch nicht von Allem los ist, was den Geist bindet und beschränkt. Was können wir aber auch in dieser Beziehung wohl Tröstlicheres sagen, als eben dies: Wehe der Welt um des Aergernisses willen! Ja Wehe über Alles, was noch Welt ist in den Kindern Gottes; über jede Schwäche, die ihrer Freiheit unwürdig ist, über jeden Wahn, der sie noch heftet an Menschenwort und äußerliche Geberden, womit das Reich Gottes nicht kommt, und worin sich der reine Sinn des Evangeliums nicht ausspricht, über alles dieses soll immer mehr Wehe kommen durch das Aergerniß. Anders nicht, als durch innere und äußere Kämpfe, können diejenigen, die noch so getheilt sind und so verdunkelt, an das volle Licht hervortreten, und zu dem vollen Genuß der Güter gelangen, die ihnen durch den Erlöser erworben sind. Was in Jedem noch Welt ist, darüber muß Wehe kommen, er muß sich durch den Streit durcharbeiten, und in demselben ohne Schonung mannigfaltig verletzt werden, er muß den Schmerz fühlen, ohne den wir uns von nichts Altem trennen können, wie unvollkommen es auch sey, – bis die Zeit kommt, wo er durch die göttliche Gnade die Welt 21 Seele] B: Seelen

25 ist] B: sind

29 ist,] B: ist;

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ganz von sich abstreift, und ganz in dem reinen und freien Reiche Gottes lebt. Aber, m. g. F., das Zweite, wenn der Erlöser sagt: Wehe dem Menschen, durch welchen Aergerniß kommt, das, wir können es nicht leugnen, betrübt uns in mehr als einer Hinsicht. Zwar wenn wir uns nur im Allgemeinen die Welt denken als den Inbegriff aller derer, die sich jetzt noch dem Reiche Gottes entgegenstellen, so verschwindet uns dabei der Einzelne, und wir lassen uns dieses Wehe leichter gefallen. Aber wenn uns nun aus dieser Menge heraus im Leben der Einzelne erscheint, der doch immer unser Bruder ist, und wir sehen, wie er Aergerniß angerichtet hat durch die Kraft, oder Kunst, und Geschicklichkeit, | womit er der Sache des Bösen und Verkehrten gegen das Gute dienstbar geworden ist, und er also in der That ein solcher ist, durch welchen Aergerniß kommt: sollen wir das Wehe über ihn ausrufen? Das sey ferne von uns, m. F.! wenigstens, daß wir es jemals anders thun sollten, als wir schon eben zugegeben haben. Von keinem unserer Brüder sollen oder dürfen wir voraussetzen, er sey Ein- für Allemal dazu bestimmt, an den Wohlthaten des Evangeliums überall gar keinen Theil zu erhalten; vielmehr müssen wir es glauben und auch immer so handeln, als sey in dem Innersten eines Jeden doch etwas, was schon nicht mehr der Welt, sondern dem Reiche Gottes angehöret, wie verdunkelt es auch sey; denn das ist es ja, woran sich bei uns Allen die Erweisungen der göttlichen Gnade angeknüpft haben, und worauf allein die Möglichkeit, diese aufzunehmen, beruht. Ohne Unterschied, ob durch Einen schon Aergerniß gekommen ist, oder nicht – denn das macht den Werth des Menschen nicht aus, weder im Guten, noch im Bösen, was er gethan und zur Vollendung gebracht hat, sondern die innere Quelle seiner Handlungen ist es, die ihn gut oder schlecht macht – ohne Unterschied also, ob durch Einen schon Aergerniß gekommen ist, oder nicht, und ob viel oder wenig, müssen wir glauben, es sey dasjenige in ihm, wodurch auch er fähig ist, Theil zu nehmen an der Gnade Gottes in Christo. Dieses an das Licht zu ziehen, und ihm zu seinem Rechte zu verhelfen: das soll der Gegenstand unserer vereinigten und emsigen Bestrebungen seyn, und jedes Aergerniß, durch wen es immer gekommen sey, soll uns aufmerksam machen auf seines Urhebers innere Beschaffenheit. Und so wie wir diese Hoffnung in unserer Seele gefaßt haben, und den Endzweck, Alles, was in unserem Bruder Welt ist, vernichten zu helfen: so können wir getrost das Wehe ausrufen über den, durch welchen 9–10 der Einzelne] B: Einer 32 zu] A+B: zu zu

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Aergerniß kommt. Denn freilich, der muß gequält und gepeinigt werden, er muß die Schmerzen der Vernichtung fühlen, ja er muß selbst untergehen; denn es ist nur der alte Mensch, der sterben muß, damit der neue desto herrlicher auferstehe. Wie nun der Erlöser, den ja | das Gefühl nie verließ, daß er gekommen sey, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, das Wehe über den, durch welchen Aergerniß kommt, nicht anders ausgesprochen haben kann, als eben mit diesem Gefühle, daß auch eines Solchen Seele, wenn gleich nur wie durch Feuer, noch soll gereinigt werden, und gerettet in das Reich der Wahrheit: so können auch wir in demselben Sinne glauben und nach diesem Glauben handeln, daß über den alten Menschen, durch welchen das Aergerniß kommt, immer Wehe hereinbricht, wenn nur dadurch der neue Mensch zum Leben und zur Kraft gedeiht. Was nun aber, m. g. F., das Aergerniß betrifft, welches durch das Gute kommt, so pflegt man freilich gewöhnlich zu sagen, ein solches werde eigentlich nicht gegeben, sondern nur genommen, das Aergerniß komme eigentlich weder durch das Gute, noch durch den, welcher Gutes und Wahres in reiner und voller Kraft durch Wort und That verkündigt, sondern durch den, der dasselbe nicht annehmen will. Wieviel aber auch daran wahr sey in einem gewissen Sinne: so müssen wir doch wohl gestehen, daß wenn wir uns selbst fragen, ob, wo irgend aus Veranlassung unserer auf eine solche Weise Aergerniß durch das Gute kommt, wir dabei ganz unschuldig sind, wir schwerlich jemals im Stande seyn werden, die Frage mit gutem Muthe zu bejahen. Ja, unser Erlöser war der Fels des Aergernisses und des Anstoßes; aber nur deßwegen, weil die Bauleute den verwerfen wollten, den der Herr selbst zum Eckstein gesetzt hatte. Er freilich war als solcher unschuldig an allem Aergerniß, welches an ihm genommen wurde; aber weßwegen, m. g. F.? Weil, wie der Evangelist in Anwendung einer Stelle des Propheten von ihm sagt, weil man sein Geschrei nicht hörte auf den Gassen, weil er immer sanftmüthig und demüthig war, und, von einer herzlichen Milde, immer bereit das geknickte Rohr wieder zusammen zu binden, und das erloschene Docht wieder anzuhauchen; deßwegen war er unschuldig an allem Aergerniß, das an ihm und durch ihn genommen wurde. Wer aber könnte das so von sich rühmen, wie wir es Alle von ihm rühmen? wer wollte | von sich sagen, er habe niemals das Aergerniß hervorgerufen und unterhalten, indem er diejenigen gering schätzte und betrübte, die das volle und reine Licht der Wahrheit noch nicht ertragen konnten? Und das, m. g. F., bleibt dann immer unsere Schuld. Wenn wir durch stachliche Reden, durch Aeußerungen eines übermüthigen Selbstgefühls, oder wie sonst 5–6 Vgl. Lk 19,10 Jes 42,2)

25–27 Vgl. 1Petr 2,7–8

29–33 Vgl. Mt 12,19–20 (Zitat aus

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durch irgend eine Lieblosigkeit, sey es auch nur zum Theil, die Ursache sind, daß unseren Brüdern bange wird, und sie eingeschüchtert werden, dem reinen Lichte des Evangeliums und der vollen Freiheit der Kinder Gottes nicht zu vertrauen; wenn wir ihnen die schwere Aufgabe, den letzten Streit mit sich zu bestehen, um zu der vollen Freiheit hindurchzudringen, nicht gern erleichtern durch dieselbe Milde und Liebe, die uns an dem Erlöser so tief bewegt: so sind wir immer in einem gewissen Sinn und Maß diejenigen, durch welche das Aergerniß kommt. Und auch insofern werden wir sagen müssen: Wehe denen, durch welche es kommt. Denn sobald uns in unserem innersten Gefühle klar wird, was wir verschuldet haben, müssen wir einen Schmerz davon tragen, der unsere Seele tief verwundet; und nur das kann uns trösten, wenn wir ohne Rücksicht auch diese letzten Erscheinungen des alten Menschen dem Verderben preis geben. Wenn aber die, welche das Aergerniß an uns genommen haben, uns in diesem Schmerze sehen, der ja natürlich die Wirkung hat, daß wir nun zu einer vollen und reinen Erweisung der brüderlichen Liebe zurückkehren, gern uns selbst demüthigen, und nicht verbergen wollen, worin wir gefehlt haben: dann müssen auch sie ihrerseits das Aergerniß von sich thun, welches sie genommen haben; sonst sind sie es von nun an, und nicht mehr wir, von denen das Aergerniß ausgeht. Ja, m. g. F., je mehr unser gemeinsames Leben wahrhaft des christlichen Namens werth ist, je mehr uns überall der Geist der Milde und der Liebe regiert, je mehr wir, wie der Apostel zu seinen Gemeinen, so zu einander sprechen: „Haltet ihr aber etwas anders als wir, so wird Gott euch offenbaren, was das Rechte und Wahre ist,“ vergessen wir nie der so ernst | ausgesprochenen Lehre, daß wir Andere nicht richten, und auch die, welche uns geistig am Unbedeutendsten erscheinen, nicht gering schätzen sollen, bleiben aber dabei Jeder seiner Ueberzeugung treu, und wissen dem, was sich uns als göttliche Wahrheit aufdringt, auch die Ehre zu geben, ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit: dann wird in dem ganzen Umfange der christlichen Kirche das Reich Gottes sich immer mehr bauen ohne Aergerniß, und immer weniger Arbeit übrig bleiben für die Engel Gottes, die am Ende der Tage das Aergerniß hinaus thun sollen aus seinem Reiche. Wer aber diesen Sinn in sich nicht trägt, und sich ihn nicht will einimpfen lassen, durch welchen alles Aergerniß vermindert und aufgehoben wird, ja über den freilich müssen wir ein großes Wehe 29 erscheinen,] A: erscheinen, Andere 25–26 Vgl. Phil 3,15

27–32 Vgl. Röm 14,1–6

34–36 Vgl. Mt 13,41–42

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Über Mt 18,7

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ausrufen, bis endlich auch er zu der Erkenntniß kommen wird, daß es nicht der Geist des Herrn ist, der ihn treibt und getrieben hat; denn dessen Wesen ist kein anderes, als Liebe und Friede, und Freundlichkeit und Geduld. Nur indem wir so die Gerechtigkeit suchen und den Frieden und die Freude in dem heiligen Geiste, können wir dem Herrn dienen mit allen unsern Kräften, und sein Reich fördern, ohne daß durch uns Aergerniß kommt. Und diese Gnade wolle er denn immer mehr uns Allen verleihen aus seiner Fülle. Amen. Schl.

b. Nachschrift 10

Predigt am zwei und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1823 am sechs und zwanzigsten Weinmonds. | Tex t. Matth. XVIII, 7. Wehe der Welt der Ärgerniß halber! Es muß ja Ärgerniß kommen; doch wehe dem Menschen, durch welchen Ärgerniß kommt.

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M. a. F. Wenn wir uns dessen aus dem Grunde unseres Herzens mit einander erfreuen, daß der Erlöser nicht nur alles wiedergebracht hat, was die Sünde in dem menschlichen Geschlecht verdorben, sondern daß, wie der zweite Adam herrlicher ist als der erste, so auch das, wozu die Kinder Gottes durch ihn erhoben werden, etwas weit Vortrefflicheres ist als der ursprüngliche Zustand des Menschen gewesen sein kann: so giebt es wohl nichts, was uns bei dieser Betrachtung mehr in der Demuth erhalten kann als dieses Wort des Herrn, ja wir mögen sagen, es wirft einen Schatten über die Herrlichkeit der Kinder Gottes in dieser Welt, durch welchen sie bisweilen kaum durchblicken können. Denn wenn der Herr von Ärgerniß redet, so thut er das immer in Beziehung auf das Reich Gottes, welches er zu stiften gekommen war; auch | läßt sich Ärgerniß nicht anders denken, als in dem Gegeneinandertreten des Guten und des Bösen, des Wahren und des Verkehrten, des Himmlischen und des Irdischen. So laßt uns denn diese Lehre des Herrn vom Ärgerniß, wie sie uns aus den Worten unseres Textes hervorgeht, mit einander erwägen sowohl um uns darüber zu trösten auf der einen Seite 1 kommen wird] B: komme 11 sechs] sieben 3–4 Vgl. Gal 5,22

23 welchen] welche 4–5 Vgl. Röm 14,17

24 können] kann

29 vom] von

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als auch den rechten Weg darin und die richtige Ansicht darüber zu finden auf der andern. Es ist aber zweierlei, was der Herr in den Worten unseres Textes von der Ärgerniß sagt, einmal die Nothwendigkeit derselben, und dann das Wehe derselben. Dies beides also laßt uns jetzt mit einander erwägen.

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I. Zuerst sagt der Herr: „Es muß ja Ärgerniß kommen“, und stellt dies also dar als eine Nothwendigkeit und als etwas Unvermeidliches; und wenn wir uns den Umfang dieser Nothwendigkeit vergegenwärtigen wollen, so dürfen wir nur an ein anderes Wort des Herrn denken, als er nämlich sagt: „Am Ende der Welt aber, da wird der Herr seine Engel aussenden, und sie | werden sammeln aus seinem Reiche alle Ärgerniß, und alle, die da sündigen, und werden sie hinausthun aus demselben.“ So sagt er uns also ganz deutlich, eben wenn die irdische Laufbahn seines Reiches werde zu Ende gebracht sein, dann werden mit einander, wie denn beides zu einander gehört, das Ärgerniß und diejenigen, die Unrecht thun, aus demselben hinausgethan werden; bis dahin also gilt das Wort, welches der Herr gesagt hat: „Es muß ja Ärgerniß kommen.“ Wir werden das leicht in seiner ganzen Wahrheit erkennen, wenn wir uns fragen, woher denn das Ärgerniß kommt. Zuerst und am unmittelbarsten, m. g. F., kommt es aus der Sünde. Nicht zwar so als ob wir von allem Bösen ohne Unterschied sagen könnten, daß es ein Ärgerniß sei, denn das wird es nur, indem es eine bestimmte Wirkung auf Andere hervorbringt. Wenn unser Herz befestigt ist gegen alles Verkehrte und Böse, dann kann nichts anders mehr als ein inniges Bedauern und das Bestreben ihm abzuhelfen, und die Seele, in welcher das Böse wohnt, dem Guten zugänglich | zu machen, die Folge davon sein. Wenn das Böse auf der andern Seite auf diejenigen, welche Kinder des Lichtes sind, gar nicht wirken kann, weil es ganz von ihnen abgesondert ist: so können wir auch nicht sagen, daß es ein Ärgerniß sei, weil dann keiner da ist, dem es Ärgerniß geben kann. Denn die Kinder der Finsterniß verstehen sich einander darüber, und wenngleich dem Einen diese, dem Andern jene Gestalt der Sünde besonders vertraut ist: so entschuldigen und rechtfertigen sie doch jeder das Verfahren des Andern. Aber so lange es in der Gemeine des Herrn ist, so gereicht ihnen das Böse zum Ärgerniß; und wenn die Bösen sich gegen das Reich Gottes wenden, sei es nun absichtlich oder unabsichtlich, indem sie suchen sich in dasselbe einzuschleichen, und diejenigen, zu denen das Wort des Herrn schon hindurchgedrungen ist, sich ähnlich zu machen, so entsteht das Ärgerniß. Wenn der Unglaube mit den ausgesuchtesten Klügeleien des menschlichen Verstandes sich zweifelnden 4 Wehe] Wesen

24 kann] kann es

10–13 Vgl. Mt 13,41–42

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Gemüthern nahet, und ihnen die Lehren der Wahrheit verdächtig zu machen sucht, den Unterschied, den sie in einem gewissen Grade erkennen, aber noch viel deutlicher und bestimmter fühlen zwischen | dem Himmlischen und dem Irdischen ihnen auszugleichen und unscheinbar zu machen sucht: dann gereichen sie zum Ärgerniß[.] Wenn die Sünde mit allen Reizen des Angenehmen angethan, und mit dem Scheine einer nichts weniger als den allgemeinen Frieden der Menschen störenden Befriedigung aller menschlichen Neigungen hervortritt, wenn diejenigen, welche ihr dienen, es sich zum eigenen Geschäft machen durch die Erfahrung sowohl als durch ihr Zeugniß darzuthun, wie viel besser sich derjenige befinde, der, geschehe es mit Verstand oder mit Klugheit, alle seine Begierden in der Welt zu befriedigen sucht, ohne sich ängstigen zu lassen durch die Vorspiegelungen des Gewissens, welche nur die Frucht alter Gewöhnungen und menschlicher Anordnungen seien, aber nichts Natürliches in der menschlichen Seele, dann entsteht Ärgerniß. Aber, m. g. F., muß denn dies nicht kommen? könnte wohl die ganze Herrlichkeit des Evangeliums offenbar werden, wenn es nicht käme? ist das nicht die große Verheißung, die dem Herrn gegeben ist, daß ihm seine Feinde sollen zum Schemel seiner Füße gelegt werden? So kann es ja nicht anders sein, jede Gestalt des geistigen Todes muß hervortreten, und sich zum Kampfe | stellen gegen das Reich des Lichtes und der Wahrheit und muß besiegt werden, und erst, wenn sie alle besiegt sind, dann ist der Tod, als der einzige und letzte Feind des Herrn, wahrhaft überwunden. So lange es also noch eine Gestalt des Bösen giebt, die sich geltend machen kann, und den Kampf gegen das Wahre und das Rechte auf eine neue Weise versucht, solange muß auch das Ärgerniß kommen; weil nur eben in solchem Kampfe sich die Macht der Wahrheit befestigt, weil erst dann, wenn es nichts mehr giebt, was die menschliche Seele aufbringen kann gegen das Heil, welches uns in Christo gegeben ist, eben dieses Heil recht fest geworden ist und seine Gewalt vollkommen gegründet hat. Das Ärgerniß also, welches darin liegt, daß das Böse sucht das Gute zu überwinden, dieses Ärgerniß muß nothwendig kommen. Aber, m. g. F., dies ist nicht das einzige, es kommt auch Ärgerniß aus dem Guten selbst. Was bedürfen wir weiter, um uns davon zu überzeugen, als nur zurückzugehen auf die Entstehung des Reiches Christi auf Erden. Kaum war der Herr auf der Erde erschienen, so sagte schon der Geist von ihm vorher: er werde vielen in Israel gereichen zum Falle, und sein ganzes Leben hindurch haben | die Menschen ein Ärgerniß an ihm genommen; ja 12 ängstigen] änstigen 35 Kaum] Kaunn 18 Vgl. 1Kor 15,25

15 entsteht] entstehen

21–23 Vgl. 1Kor 15,26

30 Ärgerniß] Ärgerniß,

36 Vgl. Lk 2,34

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ganz kurz vor seinem Ende sagte er noch sogar zu seinen Jüngern: „in dieser Nacht werdet ihr euch alle an mir ärgern.“ Was bedürfen wir weiter als an den Apostel Paulus zu denken, welcher von sich selbst sagt: „wenn ich, wie man euch hat überreden wollen – so spricht er nämlich zu den Galatern in seinem Briefe – würde das Gesetz predigen und die Beschneidung, so wäre das Ärgerniß des Kreuzes aufgehoben“, und so erklärt er also, daß er selbst mit seiner Predigt das Ärgerniß hervorbringe, und stellt dies so dar, als ob es ja noch lange nicht aufgehoben werden dürfe; und immer spricht er so von der Lehre vom Kreuze, daß sie den Griechen eine Thorheit sei, die noch in der Verkehrtheit ihres Sinnes dahin gingen, und denen noch nicht aufgeschlossen war, die Aussicht in ein Höheres und Ewiges, den Juden aber, denen sei [sie] ein Ärgerniß. Und was uns näher liegt, wenn wir jener Zeit gedenken der Reinigung und Verbesserung der Kirche, welcher wir unseren dermaligen Zustand verdanken, wie wurde nicht gar vielen eben das heller hervorbrechende Licht des Evangeliums zum Ärgerniß! Alle diejenigen, welche tief verstrickt waren in die Mißbräuche und in die | Irrthümer einer langen Reihe von Jahrhunderten, nahmen daran ein Ärgerniß, und wenn vielen dadurch die Einsicht in das Wesen des göttlichen Heils aufgeschlossen wurde, so gereichte es Andern nur zum tiefern Fall. So kommt also auch aus dem Guten Ärgerniß, und wie es von Anbeginn gewesen ist in der christlichen Kirche, m. g. F., so bleibt es auch. Immer noch giebt es Irrthümer zu bekämpfen, immer noch ist der Genuß aller Wohlthaten des Evangeliums nicht vollkommen, immer noch ist die Einsicht in die Wahrheiten des Heils nicht rein und klar und allen Seelen ungetrübt, und so giebt es also immer Streit, und aus diesem Streite entsteht Ärgerniß, wenn die Menschen, ohnerachtet sie zu dem Reiche Gottes gehören und den Namen Christi bekennen, der Stimme der Wahrheit nicht Gehör geben wollen. So wie sie nur suchen das Alte, das Schwache, das Mangelhafte zu vertheidigen, gegen das hellere Licht und gegen die frohe Stimme, welche die Freiheit der Kinder Gottes verkündigt: so gereicht ihnen jenes zum Ärgerniß, und sie verwickeln sich immer tiefer in dasjenige, was sie hindert an dem vollen Genuß der göttlichen Gnade. | Überall, wo die Menschen in irgend einem Grade noch auf der Stufe des gesetzlichen Lebens stehen, da nehmen sie ein Ärgerniß an der reinen Verkündigung der freien Gnade Gottes. Überall, wo noch die Furcht ist, welche die Menschen in Knechtschaft zurück hält, da nehmen sie ein Ärgerniß an der Freiheit der Kinder Gottes. So ist es und so muß es sein, und immer muß sich der Kampf 2 bedürfen] dürfen 30 ihnen] ihm

5 seinem] seinen

1–2 Mt 26,31; Mk 14,27

7 stellt] stelt

3–6 Vgl. Gal 5,11

27 Wahrheit] Warheit

9–12 Vgl. 1Kor 1,23

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erneuern unter der Gestalt, die jederzeit die angemessenste ist, und anders kann nicht überwunden werden alles was sich den Fortschritten des Evangeliums und dem Wachsthume und der Verbreitung der christlichen Kirche in den Weg stellt, als durch den Kampf, der das Ärgerniß hervorbringt. 5

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II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch zweitens betrachten das Wehe, welches der Herr über das Ärgerniß spricht. Er thut dies aber auf eine zwiefache Weise: indem er zuerst sagt: Wehe aber der Welt, um des Ärgernisses willen, und das m. g. F., das ist für uns das Tröstliche dabei; dann aber sagt er auch: Wehe dem Menschen durch welchen Ärgerniß kommt, und das ist dasjenige, was uns alle zu einer beständig erneuerten und geschärften Wachsam|keit über uns selbst auffordert. Wenn der Herr sagt: Wehe der Welt um des Ärgernisses willen, so ist es das Tröstliche, denn überall ist ja in seinen und seiner Jünger Reden die Welt entgegengesetzt dem Reiche Gottes. Wenn er also sagt: Wehe der Welt um des Ärgernisses willen, so können wir daraus abnehmen, daß in dem Reiche Gottes keine Wehe aus dem Ärgerniß entsteht. Und wahrlich, m. g. F., das liegt schon ganz klar in dem, was wir vorher über die Nothwendigkeit des Ärgernisses gesagt haben. Denn sie lag ja eben darin, daß das Reich Gottes sich immer vollkommener erbauen muß, daß die Gemeine des Herrn immer mehr ohne Tadel vor ihm soll dargestellt werden, und daß das Licht, in welchem sie dasteht, immer reiner und immer ungetrübter glänzen muß. Dem Reiche Gottes kann aus allem Ärgerniß nichts Anderes hervorgehen als daß es sich immer mehr reinigt von allen Schlacken wie durch Feuer, und sich immer herrlicher erbaut. Wo das Ärgerniß aus dem Bösen kommt, da vereinigen die Kinder des Lichtes ihre Kräfte, um das Böse zu überwinden, und je dringender sich ihnen die Gefahr | vor Augen stellt, desto eifriger und emsiger sind sie, um durch Lehre und Wort, und Wachen und Arbeiten den Kampf glücklich zu bestehen. Je mehr das Böse sich unter dem Scheine des Lichtes, und das Verkehrte unter dem Scheine der Wahrheit an sie heranwagt, desto tiefer lernen sie selbst eindringen in den ewigen Unterschied zwischen beiden, und ihn immer mehr festhalten, desto geläuterter wird ihr ganzer Sinn, desto aufgeklärter ihr Verstand in dem Evangelio. Denn dem Reiche Gottes kommt aus allem Ärgerniß kein Wehe, sondern nur der Welt. Die Welt ist es, m. g. F., welche das Ärgerniß hervorbringt, das aus dem Bösen kommt, und wenn sie in diesem Kampfe nicht überwunden wird, so daß sie aufhört, das Ärgerniß zu geben, was kann daraus entstehen, als daß sie nur noch verstockter wird in ihrer Feindschaft gegen den Geist und gegen das Werk Gottes auf Erden, daß sie einmal überwunden, immer wieder neue Waffen aufsucht, um das Reich Gottes zu bestreiten, und daß eben in seiner Hart6 Wehe] Wehen

32 wird ihr] wird iher

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näckigkeit das Herz sich auch immer mehr dem Irdischen und Verkehrten hingiebt. Darum sagt der Erlöser: Wehe der Welt um des Ärgernisses willen. Aber eben so m. g. F., ist sie es auch, die Ärgerniß an dem Guten nimmt. Das kann freilich manchen unter uns hart | erscheinen. Wir wissen, es giebt unter den Christen eine große Menge von schwachen und ängstlichen Gemüthern, von gleichsam blöden Augen, die immer noch das volle Licht der Wahrheit nicht vertragen. Wenn nun diese Ärgerniß nehmen, so oft die Wahrheit des Evangeliums auf dieselbe Weise, wie es von Anfang an geschehen ist im Streite gegen alles dasjenige hervortritt, was die Freiheit hemmen kann, zu welcher der Herr uns berufen hat durch die Wahrheit, wenn diese daran Ärgerniß nehmen, gehören sie deswegen zu der Welt, so wie die Schrift die Welt den Kindern Gottes entgegensetzt? Wollen wir ihnen ihr Anrecht daran, daß sie erlöst sind durch den, dessen Namen sie bekennen, absprechen? das sei ferne von uns! aber demohnerachtet werden wir das gestehen müssen, was sie unfähig macht in das volle Licht der Wahrheit hineinzuschauen, was sie unfähig macht, die Freiheit zu ertragen oder sich anzueignen, die unter den Kindern Gottes sein soll; das ist doch nicht das Erlöste in ihrem Wesen, das ist dasjenige, was noch der Welt angehört. Es giebt um dies zu verstehen, kein köstlicheres Wort der Schrift, als das, welches der Apostel Johannes sagt: „Furcht ist nicht in der Liebe, die völlige Liebe treibet | die Furcht aus.“ Wo aber keine Freude ist an der Freiheit, da ist Furcht da ist knechtisches, das ist gesetzliches Wesen. Diejenigen aber, welche der Herr seine Freunde nennt, von denen sagt er, daß sie nicht Knechte sind. Alles knechtische Wesen also in den Menschen ist die Welt in ihm, ist dasjenige, was noch fern ist von der reinen Liebe zu ihm und zu seinem Vater. Denn so wie wir noch suchen außerhalb der Freiheit, die der Geist Gottes in uns schafft und außerhalb des Gehorsams des Glaubens, den dieser hervorbringt, irgend ein Verdienst oder einen Ruhm in irgend einem gesetzlichen Werke und irgend einem äußerlichen Wesen: so liegt dabei das zum Grunde, daß in der Seele noch eine gewisse Scheu ist vor der unmittelbaren Verbindung mit dem höchsten Wesen; vor dem mit dem Erlöser den Vater in sich wohnen haben. Denn wenn wir uns mit irgend so etwas umgeben, so trennen wir uns eben dadurch von Gott und stellen etwas zwischen ihn und uns. Wollen wir ihm ganz angehören, und mit ihm verbunden sein, so geschieht dies nur wenn der Geist Gottes rein in uns wohnt, und wir [auf ] nichts anderes einen Werth legen, als auf das Walten des göttlichen Geistes in unserem Herzen, aus welchem mit dem treuen und kindlichen Gehorsam | gegen alles dasjenige, wodurch das Reich Gottes in uns und um uns her befestigt wird, zu gleicher Zeit die 12 entgegensetzt?] entgegensetzt.? 20–21 1Joh 4,18

21 aber] über

23–24 Vgl. Joh 15,15

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reine und volle Freiheit der Kinder Gottes erblüht. Giebt es also so viele, denen diese Verkündigung zum Ärgerniß gereicht, so kommt das daher, weil auch noch in ihnen die Welt ist, weil ihre ganze Seele, so sehr sie auch davon überzeugt sein mögen, und vielleicht glauben, daß dies [nicht] wahrer ist von ihnen als von denen, an denen sie ein Ärgerniß nehmen: so ist doch ihre ganze Seele noch nicht dem Evangelio zugeneigt, und ein reines und ungetrübtes Eigenthum des Herrn. Was können wir aber auch in dieser Beziehung wohl tröstlicheres sagen als eben dies: Wehe der Welt um des Ärgernisses willen. Ja Wehe über alles, was noch Welt ist in den Kindern Gottes, über jede Schwäche, die unwürdig ist der Freiheit der Kinder Gottes, über alles, worin sich der reine Sinn des Evangeliums noch nicht ausspricht, darüber soll immer mehr Wehe kommen durch das Ärgerniß. Anders nicht als durch harte Kämpfe kann der Mensch, der sich in diesem Falle befindet, zu dem vollen Lichte und zu dem vollen Genuß der Güter gelangen, die ihm durch den Erlöser erworben sind. | Was in ihm Welt ist, darüber muß Wehe kommen, er muß den Schmerz empfinden, den ihm dieses Wehe verursacht, er muß den Streit führen, und in demselben immer tiefer verletzt werden, bis die Zeit kommt, wo er durch die göttliche Gnade die Welt ganz von sich abstreift, und ganz in dem reinen und freien Reiche Gottes lebt. Aber, m. g. F. das zweite, wenn der Erlöser sagt: Wehe dem Menschen, durch welchen Ärgerniß kommt, das, wir können es nicht leugnen, das betrübt uns in mehr als einer Hinsicht. Schon wenn wir uns die Welt denken, als den Inbegriff aller derer, die sich jetzt noch dem Reiche Gottes entgegenstellen, so verschwindet uns dabei der Einzelne, und wir lassen uns dieses Wehe leichter gefallen. Aber wenn wir des Einzelnen gedenken, der doch immer unser Bruder ist, und wir sehen, wie er nun Ärgerniß angerichtet hat durch die Kraft, und die Kunst, und die Geschicklichkeit, wodurch er der Sache des Bösen und Verkehrten freilich dienstbar war, und er ist also in der That ein solcher, durch welchen Ärgerniß kommt, sollen wir das Wehe über ihn ausrufen? Nicht anders doch, m. g. F., als so wie wir es auch vorher zugaben. Von keinem unserer Brüder sollen oder dürfen | wir glauben, er sei dazu bestimmt, an den Wohlthaten des Evangeliums keinen Theil zu nehmen, vielmehr müssen wir es glauben und auch immer so handeln als wenn in seinem Innersten doch etwas ist, was auch nicht mehr der Welt, sondern dem Reiche Gottes angehört, wie verdunkelt es auch sei, denn das ist es ja, woran sich die Erweisungen der göttlichen Gnade anknüpfen. Ohne Unterschied ob durch einen schon Ärgerniß gekommen ist oder nicht – denn das macht den Werth des Menschen nicht aus weder im Guten noch im Bösen, was er gethan und zur Vollendung gebracht hat, sondern die 3 ihre] ihr 5 an denen] an anderen 17 führen] Kj fühlen entgegenstellten 26 des] das 40 gebracht] gethan

24–25 entgegenstellen]

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innere Quelle ist es, die ihn gut oder böse macht – ohne Unterschied also, ob durch einen schon Ärgerniß gekommen ist oder nicht, und ob viel oder wenig, müssen wir glauben, es ist etwas in ihm, wodurch auch er fähig ist Theil zu nehmen an der Gnade Gottes in Christo. Das soll an das Licht gezogen werden, und das soll der Gegenstand unserer vereinigten und emsigen Bestrebungen sein, daß uns das Ärgerniß, welches durch einen gekommen ist, aufmerksam mache auf seine innere Beschaffenheit. Und so wie wir diese Hoffnung in unserer Seele gefaßt haben und den Endzweck alles, | was in unserem Bruder die Welt ist, vernichten zu helfen: so können wir getrost das Wehe rufen über den, durch welchen Ärgerniß kommt. Denn freilich der muß gequält und gepeinigt werden, er muß die Schmerzen der Vernichtung fühlen, ja er muß selbst untergehen, der alte Mensch muß sterben, damit der neue desto herrlicher auferstehe. Wie nun der Erlöser[, den] das Gefühl nie verließ, daß er gekommen sei, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, das Wehe über den, durch welchen Ärgerniß kommt nicht anders ausgesprochen haben kann als eben mit diesem Gefühl, daß auch seine Seele, wenn gleich durch Feuer noch soll gereinigt werden und gerettet in das Reich der Wahrheit: so können auch wir in demselben Sinne glauben und handeln, daß über den alten Menschen, durch welchen das Ärgerniß kommt immer Wehe hereinbricht, wenn nur dadurch der neue Mensch zum Leben und zur Kraft gedeiht. Aber m. g. F., wenn wir nun bedenken, wie das Ärgerniß auch durch das Gute kommt, und freilich sagen müssen, ein solches wird eigentlich nicht gegeben, sondern es wird nur genommen, das Ärgerniß kommt nicht | durch den, der die Wahrheit in ihrer reinen und vollen Kraft in Wort und That verkündigt, sondern durch den, der das nicht annehmen will: so müssen wir doch wohl gestehen, wenn wir uns selbst fragen: sind wir dabei, wenn nun irgend auf eine solche Weise Ärgerniß durch das Gute kommt, sind wir dabei ganz unschuldig? und wer würde das wohl bejahen können. Ja der Herr war der Fels des Ärgernisses und des Anstoßes, aber nur deswegen, weil die Bauleute den verworfen hatten und verwerfen wollten, den der Herr selbst zum Eckstein gesetzt hatte. Er war unschuldig an allem Ärgerniß, welches an ihm genommen wurde, aber weswegen m. g. F.? Weil, wie der Evangelist in Anwendung einer Stelle des Propheten von ihm sagt, weil man sein Geschrei nicht hörete auf den Gassen, weil er immer sanftmüthig und demüthig war und von einer herzlichen Milde, immer bereit das geknickte Rohr wieder zusammenzubinden, und das erloschene Docht wieder anzuzünden; 12 ja] je reiner

12 muß] nuß

14–15 Vgl. Lk 19,10 aus Jes 42,2)

22 Ärgerniß] Ägerniß

29–32 Vgl. 1Petr 2,7–8

25 Wort] Worte

36 einer]

33–37 Vgl. Mt 12,19–20 (Zitat

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deswegen war er unschuldig an allem Ärgerniß, das an ihm und durch ihn genommen wurde. Wer aber könnte das so von sich rühmen, wie wir es alle von ihm rühmen? wer wollte von sich sagen, er | sei niemals in dem Falle gewesen, diejenigen gering zu schätzen, und zu betrüben, die das volle und reine Licht der Wahrheit nicht vertragen konnten? Und das m. g. F., das bleibt immer unsere Schuld. Haben wir irgend einen Theil daran, daß unsere Brüder bange werden und eingeschüchtert vor dem reinen Licht des Evangeliums und vor der vollen Freiheit der Kinder Gottes, erleichtern wir es ihnen nicht, den letzten Streit mit sich zu bestehen und zu der vollen Freiheit hindurchzudringen durch dieselbe Milde und Liebe, die uns an dem Erlöser so tief bewegt, so sind wir doch in einem gewissen Sinne und Grade diejenigen, durch welche das Ärgerniß kommt, und insofern werden wir auch sagen müssen: Wehe denen, über welche es kommt. Denn sobald es uns klar wird in unserem innersten Gefühl, so werden wir einen Schmerz davon tragen, der unsere Seele tief verwundet. Aber die, welche das Ärgerniß genommen haben, wenn sie uns in diesem Schmerze sehen, der ja natürlich die Wirkung hat, daß wir nun zu einer vollen und reinen Erweisung der brüderlichen Liebe zurückkehren, daß wir gern uns selbst demüthigen und es nicht verbergen wollen, daß wir gefehlt haben, die müssen dann auch selbst das Ärgerniß zurücknehmen, welches sie genommen | haben, sonst sind sie es freilich und nicht wir, von denen das Ärgerniß ausgeht. Ja m. g. F., je mehr unser gemeinsames Leben ein vollkommen christliches ist, je mehr uns überall der Geist der Milde und der Liebe regiert, je mehr wir, wie der Apostel, so zu einander sprechen „Haltet ihr aber etwas anderes als wir, so wird Gott euch offenbaren, was das Rechte und Wahre ist“, folgen wir der Lehre daß wir Andere nicht richten, und Andere nicht gering schätzen, jeder aber seiner Überzeugung folgt, und dem, was ihm göttliche Wahrheit ist, auch die Ehre giebt ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit, dann wird in dem innern Umfange der christlichen Kirche das Reich Gottes sich immer mehr bauen ohne Ärgerniß, und immer weniger werden die Engel Gottes zu thun bekommen, die am Ende der Tage das Ärgerniß hinausthun sollen aus seinem Reiche. Wer aber den Sinn in sich nicht trägt und auch nicht tragen will, durch welchen alles Ärgerniß vermindert und aufgehoben wird, ja über den freilich müssen wir ein großes Wehe ausrufen, aber der muß auch zu der Erkenntniß kommen daß es nicht der Geist des Herrn ist, der ihn treibt; denn dessen Wesen ist kein anderes als Liebe und Friede, und nur indem | wir die Gerechtigkeit suchen und den Frieden und die Freude in dem heiligen Geiste können wir 2 rühmen,] rühmen?

15 davon] daran

24–26 Vgl. Phil 3,15 38 Vgl. Röm 14,17

26–29 Vgl. Röm 14,1–6

31–32 Vgl. Mt 13,41–42

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Am 26. Oktober 1823 vormittags

dem Herrn dienen mit allen unseren Kräften, und sein Reich fördern ohne daß durch uns Ärgerniß kommt. Und diese Gnade wolle er denn immer mehr uns allen verleihen aus seiner Fülle. Amen.

[Liederblatt vom 26. Oktober 1823:] Am 22. Sonntage nach Trinitatis 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der Höh etc. [1.] O Vater, laß vor deinem Thron / Geheiligt mich erscheinen, / Und lehre mich durch deinen Sohn / Mein Herz mit dir vereinen. / Was mir dein gnäd’ges Wort verheißt, / Gewähre mir dein guter Geist / Mit allen deinen Frommen. // [2.] Wenn hier der Wahrheit Lehren mir / Den Weg zum Himmel zeigen, / Dann laß die Seel’ empor zu dir / In stiller Andacht steigen! / Erleuchte mich, und gieb Verstand, / Daß mir Dein Name recht bekannt, / Und ich recht weise werde! // [3.] Gieb daß des Wortes Geist und Kraft / Mein ganzes Herz durchdringe, / Daß ich mit Fleiß gewissenhaft / Und treu dein Recht vollbringe! / Auch mache mir bis auf den Grund / Des Herzens Tiefen alle kund, / Daß ich nie heucheln möge! // [4.] So wird dein Tag, o Vater, mir / Ein Tag des Heiles werden! / So seh’ ich und empfind’ in dir / Den Himmel schon auf Erden; / So werd’ ich nach der Prüfungszeit / Zur Ruh in deine Seligkeit, / In deinen Himmel kommen. // (Holst. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Straf mich nicht etc. [1.] Mache dich mein Geist bereit, / Wache, fleh’ und bete, / Daß dir nicht die böse Zeit / Plözlich nahe trete. / Unverhofft / Ist schon oft / Ueber viele Frommen / Die Versuchung kommen. // [2.] Säume nicht, nein wache auf / Von dem Sündenschlafe, / Sonst ereilt in schnellem Lauf / Dich Gericht und Strafe. / Sieh es droht / Dir den Tod, / Laß dich nicht von Sünden / Uebermannet finden. // [3.] Wache, daß dich nicht der Welt / List und Trug bezwinge, / Oder wenn sie sich verstellt / Dich in Schaden bringe! / Wach und fleh, / Daß dich nie / Falscher Brüder Lügen / Um dein Heil betrügen. // [4.] Wache, hab auf dich wohl Acht / Trau nicht deinem Herzen! / Leicht kann, wer es nicht bewacht, / Gottes Huld verscherzen. / Ach es ist / Voller List, / Weiß sich selbst zu schmeicheln, / Frommen Schein zu heucheln. // [5.] Aber bet auch stets dabei, / Bete bei dem Wachen! / Denn der Herr nur kann dich frei / Von der Trägheit machen. / Seine Kraft / Wirkt und schafft, / Daß du wakker bleibest, / Und sein Wort recht treibest. // [6.] Glaube nur, in seinem Sohn / Wird er dich erhören, / Und dir deines Glaubens Lohn / Auf dein Flehn gewähren. / Er verheißt, / Seinen Geist, / Mit ihm Kraft und Leben / Auf dein Flehn zu geben. // [7.] Drum so laßt uns immerdar, / Wachen, flehn und beten, / Und, vermehrt sich die Gefahr, / Brünst’ger vor ihn treten! / Denn die Zeit / Ist nicht weit, / Da von allem Bösen / Gott uns wird erlösen. //

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Nach der Predigt. – Mel. Auf Triumph, es kommt etc. [1.] Freue dich mit Herz und Munde, / Du erkauftes auserwähltes / Theur erlöstes Israel! / Er bleibt treu dem heilgen Bunde, / Sendet Hülfe seinem Volke, / Und errettet unsre Seel. // [2.] Wie erklinget, wie ertönet / In dem Himmel auf der Erden, / Unsers großen Königs Ruhm. / Alle, die sein Reich verhöhnet, / Sind zerstreut vor seiner Rechten, / Zion bleibt sein Eigenthum. //

Am 2. November 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

23. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,12–17 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 128–141; Andrae Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 139r–140r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 47v–52v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am 23. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Tex t. Joh. 2, 12–17. Darnach zog er hinab gen Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger, und blieben nicht lange daselbst. Und der Juden Ostern war nahe, und Jesus zog hinauf gen Jerusalem, und fand im Tempel sizen die da Ochsen, Schaafe und Tauben feil hatten, und die Wechsler. Und er machte eine Geißel aus Strikken und trieb sie alle zum Tempel hinaus, sammt den Schaafen und Ochsen, und verschüttete den Wechslern das Geld, und stieß die Tische um; und sprach zu denen, die die Tauben feil hatten, Traget das von dannen, und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus. Seine Jünger aber gedachten daran, daß geschrieben stehet, Der Eifer um dein Haus hat mich verzehret.

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Das erste, m. g. Fr., was wir uns gelesen haben, gehört zu dem häuslichen und Familienleben des Erlösers, wovon wir wohl gern mehr wissen möchten, als uns erzählt ist. Nachdem er auf | der Hochzeit zu Kana gewesen, heißt es nun weiter, so ging er hinab gen Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger. Das war der Ort, wo er hernach einen nicht unbedeutenden Theil des Jahres zubrachte, wo mehrere von denen wohnten, die Johannes zuerst als seine Jünger zu ihm gewiesen hatte; dahin ging er mit seiner Mutter und mit seinen Brüdern. 12 daß] das 16 Vgl. Joh 2,1–11

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Hier sehen wir nun die Mutter und die Brüder des Herrn in einer Verbindung mit ihm und mit seinen Jüngern, welche in der Folge der Zeit wieder muß zerstört worden sein, weil wir da lesen, daß seine Brüder nicht an ihn glaubten, und daß seine Mutter, bis er sie am Ende seines Lebens dem Johannes empfahl, mehr mit seinen Brüdern gelebt hat als mit ihm und mit seinen Jüngern. Wie nun das zusammenhängt, wissen wir nicht, aber wir haben Ursache zu vermuthen, daß sich hier wiederholt habe, was sich in menschlichen Dingen so oft findet. Als der Erlöser nämlich zuerst auftrat, wie es zu dieser Zeit geschah, in welche die Erzählung unseres Textes fällt, da hielten sich auch seine Brüder zu ihm. Als aber der erste Reiz der Neuheit vergangen war, und sie gleich sahen, daß er von ihnen weniger Gebrauch machte, weil er es eben nicht konnte, zur Förderung seines Reiches, als von seinen Jüngern, die ihm zwar die Natur nicht gegeben hatte, die aber durch die Kraft des Geistes waren von ihm angezogen worden: da sonderten sie sich wieder von ihm ab, und es scheint, daß sie bisweilen gewünscht haben, er möchte lieber anderswo als in ihrer Nähe sein Wesen treiben und lehren. Es wird uns also erzählt, daß er daselbst nicht lange geblieben ist, und wenn wir die Worte lesen, wie sie in dem Zusammenhange lauten, so klingt es, als wollte er sich nur den | Ort in Augenschein nehmen, den er sich zu seinem Aufenthalte gewählt hatte; ob er damals schon in Kapernaum gelehrt hat, das wissen wir nicht. Aber als das Fest der Ostern nahe war, ging er hinauf gen Jerusalem, und wir erkennen daraus, daß er damals schon in der Hauptstadt des Landes, wo ein großer Theil des Volks jährlich zusammenkam um das Osterfest zu feiern, gelehrt und das Reich Gottes verkündigt, und daß er eben dies für etwas wesentliches und wichtiges in seinem Beruf gehalten hat. In den Tempel des Herrn war er zuerst gekommen als ein Knabe, nicht um zu lehren, sondern um zu lernen, und er war gewiß seitdem nach der Sitte aller frommen Juden erst mit seinen Eltern, hernach auch ohne sie hingegangen auf dasselbe Fest. Daß er aber nun hinging nicht wieder um zu lernen, auch nicht bloß um zu beten und an dem Feste Theil zu nehmen, sondern auch um zu lehren, das sagt uns Johannes zwar nicht in den Worten, die wir gelesen haben, aber wir sehen es aus demjenigen, was unmittelbar darauf folgt. Denn Nikodemus, der bei Nachtzeit zu ihm kommt, fängt an ihn auf diese Weise zu begrüßen, indem er sagt, Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen. Hätte also Christus damals noch nicht zu Jerusalem gelehrt, und zwar nicht nur in den Schulen, sondern auch in dem Tempel und seinen Umgebungen, so hätte Nikodemus das nicht zu ihm gesagt. Und eben dies, daß der Herr damals in dem Tempel pflegte zu lehren, das giebt uns den rechten Aufschluß über das, was den Hauptinhalt unsrer heutigen Textesworte ausmacht, nämlich 3–4 Vgl. Joh 7,5 14–16 Vgl. Joh 7,3

4–6 Vgl. Mt 12,46–50; Mk 3,31–35; Lk 8,19–21; Joh 19,27 26–27 Vgl. Lk 2,46 35 Joh 3,2

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wie er die Wechsler und diejenigen, welche Ochsen, Schaafe und Tauben feil hatten, aus dem Tempel, wo sie saßen, hinaustrieb. Was der Herr hier sagt zu denen, welche Tauben feil hatten, Traget das von dannen, und machet nicht meines | Vaters Haus zu einem Kaufhaus, das erinnert uns an die Worte, die er bei einer ähnlichen Gelegenheit späterhin sagte, Meines Vaters Haus ist ein Bethaus. Und so war es denn wol allerdings. Die Bewohner Jerusalems, und in der festlichen Zeit auch wol andere, welche hieher gekommen waren um zu beten, die gingen täglich wohl zweimal in den Tempel hinauf, um dort das Morgen- und Abendgebet zu verrichten. Aber, m. g. Fr., sollte nicht der Erlöser auch damals schon das gewußt haben und dessen inne gewesen sein, was er späterhin sagt in seinem Gespräch mit der Samariterin, Es werde die Zeit kommen, wo man weder auf dem Berge, wo die Samariter anbeteten, noch zu Jerusalem in dem Heiligthum des Herrn seine Andacht verrichten werde; sondern die wahrhaftigen Anbeter würden den Vater auf eine geistige Weise anbeten, und der Vater wolle auch solche Anbeter haben, die ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten? Das Gebet, m. g. Fr., das wissen wir wohl, ist an keinen bestimmten Ort gebunden, wir können und sollen es überall verrichten; und ist die Seele in der rechten Stimmung sich zu Gott zu erheben, so kann auch keine äußere Umgebung ihr darin hinderlich sein. Hätte der Herr nur beten wollen, so hätten wol alle, welche Ochsen feil hatten, sammt den Wechslern und denen, die Schaafe und Tauben verkauften, da sein können, und sie würden ihn nicht gestört haben. Ja wir mögen noch mehr sagen in dieser Hinsicht, daß eben gar oft, wenn die Seele nicht mit andern Dingen beschäftigt ist, grade das Treiben und das Getümmel der Menschen am ersten sie dazu stimmen kann, sich im Gebet zu Gott zu erheben. Denn wo mehr, als wo die Menschen in großen Haufen beisammen sind, kommen wir zu dem rechten Gefühl ihrer geistigen Bedürfnisse und zu dem Bewußtsein, wie wenig der einzelne thun kann, | um diese Bedürfnisse zu befriedigen; sondern wie wir da fast alles müssen guten Wünschen und aufrichtigen Gebeten an den Herrn anheimstellen. Wo nun die Menschen in großer Menge versammelt sind nicht in irgend einer andern Absicht, sondern um die andächtige Stimmung ihres Herzens zu offenbaren und sich im Gebete zu Gott zu erheben: ei da ist das eine Freude zu vernehmen, daß auch diejenigen, die an denselben Ort gekommen sind, vielleicht nicht grade in der rechten und reinsten Stimmung, die man wünscht, doch zu Gott erhoben werden durch andere. Sind sie versammelt um irdischer Dinge willen, so werden sie dadurch nur um so mehr ein Gegenstand unseres Mitgefühls, und es muß jeder, dem das Heil seiner Brüder am Herzen liegt, von dem irdischen und vergänglichen 6 Vgl. Mt 21,13; Mk 11,17; Lk 19,46

15–18 Vgl. Joh 4,23

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hinauf gezogen werden zum himmlischen und ewigen; und darum ist das zahlreiche Zusammensein der Menschen für uns alle eine Aufforderung zum Gebet, wie wir sie sonst nicht immer finden. Daher würden gewiß alle diejenigen, welche dort Ochsen, Schaafe und Tauben feil hatten und irdischen Gewinn trieben, den Herrn nicht haben stören können in seinem Gebet zu seinem himmlischen Vater. Aber das war es eben, daß er in den Tempel gekommen war um zu lehren; und dazu bedurfte es einer Stille und einer Ruhe, wozu die Umgebungen dieses heiligen Ortes am angemessensten waren, indem sie einen jeden gleichsam einluden zur Erhebung des Gemüthes zu Gott. Und daher denn sehen wir, daß, als der Erlöser sich das Gefühl nicht bergen konnte, das Heiligthum mit seinen ehrwürdigen Umgebungen sei durch diejenigen, welche irdisches Wesen daselbst trieben, mehr einem Markt ähnlich als einem Tempel: so ward er erfüllt von heiligem Unwillen und trieb in dem frommen Eifer seines Herzens alle hinaus, die das Heiligthum schändeten, so daß selbst seinen Jüngern das Wort der Schrift dabei einfiel, Der Eifer um dein Haus hat mich verzehret. | Und somit, m. g. Fr., sehen wir denn auch, was für einen Eifer um das Haus seines Vaters der Herr selbst geheiligt hat, indem er dies that. Nachdem der Tempel, in welchem er damals war, zerstört worden, und das Opferwesen in demselben sein Ende erreicht hatte, und die christliche Kirche eben dadurch auch in Beziehung auf diejenigen, die von dem jüdischen Volke abstammten, frei geworden war von aller Gemeinschaft mit diesem äußern Gottesdienst: da sollte man denken, hätte jede Veranlassung aufgehört, daß seines Vaters Haus, welches nun schöner und herrlicher da stand, hätte können ein Kaufhaus werden. Und so lange die christliche Kirche noch einherging still und demüthigen Schmukkes, mehr verfolgt von den Mächten der Erde als unterstüzt, unscheinbar in jeder Hinsicht: da war auch die Betrachtung und die Lehre und die geistige Erhebung der Gemüther im Gebet alles, was in diesem neuen geistigen Tempel geschah. Es kam aber hernach leider eine Zeit, wo die christliche Kirche auch ein Kaufhaus wurde, wo in derselben gehandelt ward um weltliches Gut, um weltliche Ehre und weltliche Macht, ja wo auch dasjenige, was am meisten seiner Natur nach soll und kann ein Gegenstand des gemeinsamen stillen und öffentlichen Gebetes sein, nämlich daß der Herr nicht möge mit uns ins Gericht gehen, und daß er uns um Christi willen möge die Sünde vergeben, daß auch dies ein Gegenstand des Kaufes und des Verkaufes ward. Da geschah es, daß ein eben so lautes und öffentliches Gepränge, wie das war und wol noch größer, was zu den Zeiten des jüdischen Volks in den Tempel des Herrn hineingezogen war und den Mangel der wahren innern Frömmigkeit ersezen sollte, daß ein solches äußeres Gepränge die ruhige und stille Andacht der Lehre und des Gebetes und des Gesanges verdrängte. Was that aber da der Herr? Als es zu arg geworden war, daß es schien, als könne es nicht

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mehr ärger werden, da drehte er wieder eine Geißel zusammen, das waren Luther und Zwingli und alle, die mit ihnen an dem großen | Werke der Reinigung des kirchlichen Lebens und der christlichen Lehre arbeiteten, und die trieben aus seinem geistigen Tempel wieder alle diejenigen, so viel sie reichen konnten, die das Haus des Gebetes und der Lehre zu einem Kaufhaus gemacht hatten. Und so, m. g. Fr., sollen wir hoffen zu dem Herrn, daß, wie er nie aufhört seine Kirche zu beschüzen und zu leiten, er es immer so halten werde, und immer wieder solche Bewegungen, wie die war, von der unser Text redet, in derselben werde entstehen lassen, wenn es noth thut, damit eben das Gebet und die Lehre aus dem göttlichen Worte nicht verdrängt werde aus dem Hause des Herrn. Aber, m. g. Fr., was uns nun hier auch auffallend sein muß, das ist die Ungleichheit, mit welcher der Herr gegen diejenigen verfährt, die sich auf eine solche Weise in den Tempel gedrängt hatten und irdisches Wesen darin trieben. Wie säuberlich und sanft geht er nicht mit denen um, welche die Tauben feil hatten? Zu denen spricht er ganz gelassen und huldreich, Traget das von dannen, und machet nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus. Diejenigen aber, welche Ochsen und Schaafe feil hatten, die trieb er mit der Geißel heraus, und den Wechslern zumal stieß er die Tische um, und verschüttete ihnen das Geld. Wenn er nun eine Geißel verfertigte und diejenigen, welche den Tempel des Herrn verunehrten, hinaustrieb sammt dem störrischen und unvernünftigen Vieh, so müssen wir sagen, die Eigenthümer der Ochsen und Schaafe werden schon durch das Gedränge sich herausgeholfen haben und wieder zu ihrem Eigenthum gekommen sein und weiter keinen Schaden erlitten haben als nur, daß ihnen an diesem Orte die Gelegenheit abgeschnitten war mit dem ihrigen zu handeln. Wenn er aber den Wechslern die Tische umgestoßen hat und ihnen das Geld verschüttet: so werden sie wol nicht wieder dazu gekommen sein in dem Gedränge und in der Verwirrung, die nothwendig daraus ent|stehen mußte. Waren denn die einen mehr Schuld als die andern? war bei den einen weniger dasselbe, als bei den andern, daß sie zu ihrem äußern Gewerbe und zu ihrem äußern Vortheil die Gelegenheit davon hernahmen, daß sie in dem Tempel des Herrn irdische Dinge trieben, und zwar auf eine solche Weise, daß der Herr in seiner stillen Andacht dadurch gestört ward? Es scheint uns freilich im allgemeinen dasselbe zu sein, und das Betragen der einen eben so tadelnswerth als das der andern, und gewiß ist auch nicht die Meinung des Erlösers, daß wir das Geschäft und das Gewerbe der einen deshalb sollen für schlechter halten und für niedriger, weil er nicht mit allen auf die gleiche Weise verfahren ist. Aber eben recht auf diese Ungleichheit in dem Betragen des Herrn gegen diejenigen, welche den Tempel durch irdisches Treiben entehrten, scheint es, haben die Jünger das Wort der Schrift gedeutet, welches ihnen dabei einfiel, Der Eifer um dein

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Haus hat mich verzehret. Denn das ist die Natur des Eifers, daß er in solchen Fällen nicht genau unterscheidet zwischen dem einen und dem andern, wie dies immer und überall die ruhige Ueberlegung unterscheidet, und es kann eben dies rein menschlich sein ohne daß irgend eine Spur der Sünde sich hineinmischte. Denn das können wir nicht glauben, daß des Herrn Eifer jemals sei in leidenschaftlichen Zorn übergegangen, daß der reine Eindrukk, den alles menschliche auf ihn machte, jemals könne verloren gegangen sein in dem lebendigen Eifer für die Sache seines himmlischen Vaters. Sondern wenn der Herr hier die einen so und die andern anders behandelt, so müssen wir uns diese Verschiedenheit daraus erklären, daß die einen mehr Ansprüche gemacht haben als die andern, daß die einen sich mehr zu widersezen gesucht haben als die andern, so daß er nicht anders konnte als ihnen zeigen, wie wenig Recht sie hätten in einem solchen Falle, wo sie die Ruhe der heiligen Stätte störten, seinem Eifer für die gute Sache zu widerstehen, und daß er sich nicht scheute, ihnen einen namhaf|ten Schaden zuzufügen, indem er that, was seines Amtes war, und wozu er sich berufen fühlte bei einer solchen Verwirrung des frommen Gefühls. Und anders kann es nicht sein; der Eifer kann sich nicht gleich betragen, wenn die Umstände verschieden sind, nur der Zorn ist es, der nicht thut, was recht ist vor Gott. Es giebt aber einen reinen Eifer, der dem einen scheut Wehe zu thun, welches er dem andern bereitet, der den einen härter behandelt und den andern gelinder, welches aber daher kommt, weil er da kräftiger auftreten und schärfer widerstreben muß, wo er den größeren Widerspruch gegen die Wahrheit entweder sieht oder allem Anschein nach zu erwarten hat. So werden wir gewiß dem Erlöser überall Recht geben; so sehen wir, daß wir uns hüten müssen zu zeitig darüber abzusprechen, was eben in dem rechten Eifer um das Haus Gottes geschieht, und wie der Herr mit den einen gelinder verfuhr mit den andern härter; so giebt es auch Fälle für uns, wo es noth thut, daß wir das Gefühl der Menschen strenger angreifen, und wiederum solche, wo wir mit einer leisen Berührung davon kommen; so giebt es einen, der gelinder behandelt von seinem verkehrten Wege umlenkt, und einen andern, der strenger behandelt sein muß; und eben so wird einen und denselben bei der einen Gelegenheit dieses, bei der andern jenes Verfahren zum Zwekke führen. Ist es nur immer derselbe Fall, wie bei dem Erlöser, daß es nichts ist als der reine Eifer um das Haus des Herrn, was den Menschen treibt seinen Brüdern Wehe zu thun, wo sie von dem rechten Wege gewichen sind: so wird ihn auch Gott schüzen, daß auch er thut, was eben so recht ist, als was der Erlöser that. Noch weit mehr aber fragen wir, m. g. Fr., hat der Erlöser sich denn wirklich nicht, als er das that, was uns in den Worten unseres Textes erzählt wird, etwas herausgenommen, | was seines Amts und seines Berufs nicht 19–20 Vgl. Jak 1,20

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war? Gab es keinen, dem da obgelegen hätte darüber zu wachen, daß der Tempel des Herrn rein gehalten werde von allem, was nicht dahin gehörte? Gab es nicht solche, die eben so gut dasselbe Bedürfniß hatten, welches der Erlöser hatte? Denn wie er lehren wollte in dem Tempel und in den Hallen und Höfen, die den Tempel umgaben: so gab es andere, die eben daselbst zu lehren pflegten. Wenn es also eine Obrigkeit des Tempels gab, warum ließ er denn nicht die Sache und sprach zu sich selbst: du bist nicht dazu berufen diejenigen hinauszutreiben, welche hier thun, was sich nicht gebührt; sondern das ist die Sache derer, denen die Sorge und die Aufsicht über die äußere Ruhe und Ordnung in dem Heiligthume deines Volks obliegt. Wenn es andere gab, die dasselbe Bedürfniß hatten, welches er fühlte, warum dachte er nicht bei sich selbst, Ei, wenn die es nicht thun, so brauchst du es ja auch nicht und dich in Gefahr begeben. So war der Erlöser nicht. Sondern ohnerachtet die andern dergleichen nicht thaten, die dasselbe Bedürfniß hatten, so kehrte er sich doch daran nicht, sondern weil es ihm nahe lag, so griff er zu; und ohnerachtet diejenigen, welche die Aufsicht über den Tempel und über die Ruhe in demselben hatten, die Ordnung nicht hielten und das Auge zudrükkten gegen alles, was gegen das fromme Gefühl und gegen die Ordnung in dem Heiligthum des Herrn geschah: so hinderte ihn das nicht, sondern eben deshalb that er es, weil die es nicht thaten, denen es oblag. Hätte er sich dadurch eine Macht angemaßt, die er nicht hatte, und die ihm nicht gebührte? Hätte er z. B. nicht selbst gethan, was er that, sondern etwa die Diener oder die Wache des Tempels, der er nicht gebieten konnte, dazu aufgefordert, daß sie es thun sollte, dann hätte er sich etwas angemaßt, was einem andern gebührte und nicht ihm. Aber das müssen wir doch wol einsehen, m. g. Fr., daß es die Geißel nicht war, die das ausrichtete, was der Erlö|ser hier that – denn was hätte er doch wol mit der armseligen Geißel thun können gegen die große Menge der Menschen, die ihn umgab? – sondern es war die geistige Gewalt, die er ausübte, wovon jene nur ein Zeichen war und ein Ausdrukk. Seine geistige Gewalt aber soll jeder haben und auch gebrauchen in allem, was ihn recht dünkt, und überall wo er glaubt, daß er zur Aufrechthaltung des rechten und des guten etwas thun kann. Grade dies, m. g. Fr., daß wir in vielen Fällen nicht so handeln, wie der Erlöser hier gehandelt hat, ist die Ursache von vielen Uebeln in der christlichen Kirche und in allen menschlichen Dingen. Daß immer der eine die Verrichtung guter und gottgefälliger Werke auf den andern schiebt, und keiner ein frisches und frohes Bewußtsein der Kraft, die Gott der Herr ihm gegeben, in sich trägt und alles thut, was er thun kann, um das wahre und gute zu fördern und das böse und verkehrte zu hindern: das ist es, weshalb so viele Unordnungen sich täglich erneuern in den kleineren und größeren Verbindungen der Menschen; das ist die Feigheit, welche denen, die Bürger sind im Reiche Gottes und ihr Recht in demselben haben, nicht ansteht.

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Und wir müssen sagen, daß wenn dies von Anfang an gewesen wäre, so würde die christliche Kirche nicht zu Stande gekommen sein. Nur auf der freien Ausübung jeder geistigen Gewalt in der kleinen Anzahl derer, die sich der Geist Gottes zu seinen Werkzeugen ausgewählt hat, nur darauf beruht, wie früher die Gründung, so noch immer das Fortbestehen der christlichen Kirche. Das Bewußtsein sollen wir aber von uns haben, daß wir Werkzeuge des göttlichen Geistes sind, und der soll uns alle frei machen, und so wie wir fürchten, es möge dem Hause Gottes irgendwie Unrecht geschehen, uns auch darin kräftigen, daß wir alle unsere Kräfte dagegen wenden, und auf diese Weise thun, was Recht ist vor Gott, und wozu wir berufen sind. Hätte aber der Erlöser, so wie nicht selten die erlösten das Werk auf einen andern schieben wollen, eben so gedacht in Beziehung auf seinen | Beruf, so würde er das Werk, welches ihm der Vater aufgetragen hatte, nicht haben vollbringen können; und jeder, der es daran fehlen läßt, trägt einen Theil der Schuld, wenn es dem Hause Gottes nicht so geht, wie es ihm gehen soll, und daß alle Mißbräuche, die sich in demselben von Zeit zu Zeit wieder erneuern, so nachtheilige Folgen nach sich ziehen. Wir wissen alle, m. g. Fr., daß die andern Evangelisten eine ganz ähnliche Begebenheit wie diese erzählen; aber kurz vor dem Leiden des Herrn. Daß aber Johannes sich nicht irrt, indem er sie hier erzählt, das sehen wir aus den folgenden Worten. Denn indem er sagt, als der Herr alle zum Tempel hinausgetrieben hatte, die Unfug in demselben trieben, da dachten die Jünger daran, daß geschrieben stehet, Der Eifer um dein Haus hat mich verzehret: so konnte er sich ja nicht so irren, daß er dasjenige, was in den Anfang des Lebens Christi gehörte, verwechselt hätte mit einer ähnlichen Begebenheit aus der spätem Zeit. Also am Anfang hat es der Herr gethan und am Ende wieder, und ob nicht oft in der Zwischenzeit, wissen wir nicht. Also geholfen hat es für den Augenblikk; denn dieselben Krämer, welche Ochsen und Schaafe feil hatten, und die er mit der Geißel heraustrieb, und die Wechsler, denen er das Geld verschüttete, mußten für diesmal wenigstens aufhören in dem Tempel des Herrn dergleichen Geschäfte zu treiben. Aber lange hat es gewiß nicht geholfen; denn, wenn der Herr zum Feste wiederkam, so fand er gewiß alles wieder eben so, wie er es hier sah. Aber dennoch hat er nicht unterlassen das zu thun, wozu ihn der Eifer um das Haus des Herrn trieb. Und auch darin, m. g. Fr., soll ihm jeder gute Christ folgen. Denn was heißt es doch, wenn wir sagen, wie viel Mühe wir uns auch geben nach unseren Kräften allen Mißbräuchen und allem bösen, was sich in das Haus des Herrn einschleicht, | entgegenzutreten, was ist doch einer gegen viele? Der Herr war auch nur einer gegen viele, und jeder von seinen Jüngern, der irgendwo das Reich Gottes verkündigte, war auch einer gegen viele, 18–19 Vgl. Mt 21,12–13; Mk 11,15–17; Lk 19,43–46

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aber er ließ dennoch das Werk nicht, welches der Herr ihm aufgetragen hatte; und als der Herr diese aus dem Tempel trieb, da wußte er auch, daß sie wiederkommen würden. Aber vergeblich war es nicht, wenn es auch nur half für den einen Tag, die Menschen zu belehren in Beziehung auf ihr Wohl, ihnen einen Eindrukk zu geben von der Kraft und Hoheit des Erlösers. So, m. g. Fr., wollen wir auch nicht ermüden, und so wenig wir einer auf den andern sehen wollen, sondern aufrichtig das thun, was der Geist Gottes von uns verlangt: so auch wollen wir nicht aufhören dem Erlöser nachzufolgen ohne darauf Rükksicht zu nehmen, ob wir viel oder wenig ausrichten werden. Etwas wird es helfen, denn nichts ist vergeblich, was in der Kraft des göttlichen Geistes geschieht, und nichts kann vergeblich sein, was der reinen Wahrheit nach im Namen Christi geschieht, und wozu uns der Eifer für das Haus des Herrn treibt. Wollten wir glauben große Dinge auszurichten und etwas für die Ewigkeit zu stiften, so würden wir falsche Rechnung machen und uns mehr zutrauen, als unseren Kräften gemäß ist. Wollen wir aber dasselbe, weil es wenig ist, was wir auszurichten hoffen dürfen, unterlassen, so bleiben wir immer der faule Knecht, den der Herr einen Schalksknecht nennt, und denken und halten zu gering von uns und von der göttlichen Ordnung in der Welt; denn nur aus kleinem kann das große zusammengesezt sein, nur dadurch, daß jeder das seine thut, kann das Reich Gottes erhalten werden. Und so laßt uns denn dazu uns alle vereinigen und bitten, daß der Geist Gottes uns erleuchten möge, damit jeder an dem Orte, wo er steht, den Herrn verkläre in dem reinen und leben|digen Eifer für seine Sache. Laßt uns gegen alles, was dem rechten und wahren hinderlich sein will, entschlossen auftreten und alle unsere Kräfte dazu benuzen, damit das Haus Gottes rein vor ihm erscheine. Wie der Erlöser nun ein richtiges Gefühl hatte von seiner Kraft und von dem, was er ausrichtete gegen die, welche das Haus Gottes zu einem Kaufhause machten – denn wenn nicht für den Augenblikk wenigstens sie ihm gehorcht hätten und den Tempel verlassen, so hätte er Unrecht gethan, indem er sie hinaustrieb – so wird, wenn es nichts anderes ist als der reine Eifer für das Haus Gottes, der Herr auch uns die rechte Einsicht geben, daß wir alles thun zur rechten Stunde und nicht zur falschen, damit wir nicht in einem verkehrten Eifer thun, was nicht recht ist vor Gott, und damit wir nicht das richtige in der Stunde, wo es noth thut, versäumen. So laßt uns immer handeln, damit wir im Stande sein mögen, Gott Rechenschaft zu geben von dem, was er uns anvertraut hat. Amen.

17–18 Vgl. Mt 25,26

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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 9,35–38 Nachschrift; SAr 104, Bl. 136r–151v; Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 134r–134v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am vier und zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1823. |

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Tex t. Matth. IX, 35–38. Und Jesus ging umher in alle Städte und Märkte, lehrete in ihren Schulen und predigte das Evangelium von dem Reiche und heilete allerlei Seuche und allerlei Krankheit im Volk. Und da er das Volk sahe, jammerte ihn dasselbige, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schaafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber Wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende.

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M. a. F., Was uns hier erzählt wird von der Empfindung des Erlösers so oft er in großer Menge das Volk um sich her sah, das gilt nicht die leibliche Noth, von welcher er so viele unter ihnen befreite, indem er umherging zu heilen in dem Volke allerlei Krankheit und allerlei Seuche; sondern es gilt den geistigen Zustand desselben, auf welchen sich seine | Verkündigung des Reiches und sein Lehren in ihren Schulen und auf ihren Märkten bezog. Und wenn er seine Jünger ermuntert, sie sollten den Herrn der Ernte bitten, daß er Arbeiter in seine Ernte sende: so geht das auf die Fortsetzung desselben Werks, welches er lehrend und verkündigend unter seinem Volke begann. Wie es nun, m. a. F., unser aller zwiefache Beruf und selige Bestimmung ist, auf der einen Seite selbst zu genießen die Früchte des Werkes, welches der Erlöser auf der Erde gestiftet hat, auf der andern Seite aber auch, wodurch sein und seiner Jünger Gebet erfüllt ist, Theil zu nehmen an der Arbeit in der Ernte des Herrn: so laßt uns mit einander den Sinn dieser Worte, welche uns die Empfindung und das Bestreben des Erlösers ausdrükken, näher erwägen, indem wir zuerst darauf sehen, wie er den Zustand 25 darauf] daruf

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der Menschen, zu welchen ihn sein Vater gesandt hatte, beschreibt; und dann zweitens auf das Verhältniß, welches ein Gegenstand seines Gebetes wird zwischen dem Werke, welches ausgeführt werden soll, und denen, die daran | arbeiten. I. Der Evangelist drückt in seiner Erzählung das Gefühl des Erlösers über den Zustand seines Volkes so aus: „Es jammerte ihn desselbigen, denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schaafe, die keinen Hirten haben.“ Das kann uns, m. g. F. wohl Wunder nehmen, wenn wir denken an Alles, wodurch sich Gott der Herr schon an diesem Volke verherrlicht hatte. Ohnerachtet der Sünde, die in die Welt gedrungen war, hatte er sich nicht unbezeugt gelassen, mancherlei göttliche Stimmen waren zu den Menschen erschollen, er hatte sich von Zeit zu Zeit Seelen erwählt, aus welchen heraus er redete, und durch welche das Wort des Herrn an die übrigen Menschen geschah. Wenn also in der menschlichen Seele ein Bestreben ist, sich des höchsten Wesens bewußt zu sein, und in der Verbindung mit demselben seine Seligkeit zu finden: so scheint es nicht als ob man sagen könnte, daß vorzüglich das Volk des Herrn in dieser Hinsicht sei verschmachtet | gewesen. Was einzeln zu verschiedenen Zeiten Gott geredet hatte zu den Vätern und durch die Propheten, das war gesammelt in heiligen Schriften, welche der Gegenstand einer wiederholten Betrachtung und einer innigen Verehrung waren, und durch dieselben geleitet konnte sich das Volk mit seinem Herzen zu Gott seinem Schöpfer und Herrn erheben. Und wenn in der menschlichen Brust der Unterschied zwischen Recht und Unrecht, zwischen Gutem und Bösem lebt, und eine Scheidewand macht zwischen dem finstern und dunkeln, sinnlichen und irdischen Triebe, und zwischen dem höhern Bestreben, welches das Werk der Liebe in dem Menschen ist: so war dieses Gefühl in dem Herzen der Menschen niemals ganz erstorben gewesen. Vorzüglich aber fand das Volk des Herrn eben in jenen göttlichen Stimmen schon zu der Zeit seiner ältesten Väter die Gebote eines gottgefälligen Lebens aufgezeichnet. Später waren sie gesammelt worden in dem Gesetz, wonach das Volk geleitet war, und welches sich durch die göttliche | Fügung unter allen den Gerichten, die dasselbe getroffen hatten, immer zu erhalten gewußt hatte. Wo es also darauf ankommt, daß der Mensch wissen soll, was er zu thun hat und was zu lassen: so waren sie an ein festes prophetisches Wort gewiesen, und wir können nicht sagen, wie es scheint, daß ihre Seelen hätten verschmachten müssen. Eben so können wir nicht sagen, daß sie wären zerstreut gewesen. Sie waren zurückgekehrt aus der Zerstreuung, in welche sie das Gericht Gottes verwiesen hatte; ihr Tempel 13 welchen] welchem

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war herrlicher als je wieder aufgebaut, ihre heiligen Schriften waren seit jener Zeit, wo das Volk zugenommen hatte an mancherlei menschlichen Einsichten und menschlichen Geschicklichkeiten, mehr in den Händen desselben als vorher, und nie wurde aufgehört in den Schulen des Volks über das Wort des Herrn zu reden, und es dem Herzen der Menschen einzuschärfen; und um den Tempel versammelten | sich jährlich zu dem großen Feste ihres Volks nicht nur die, welche in dem Lande wohnten, sondern auch die umher zerstreut waren unter andern Völkern, und dadurch fühlten sie sich auf das innigste unter einander verbunden, und in dem Maaße als sie unter sich vereint waren, sonderten sie sich von denen, welche nicht durch ein so starkes und heiliges Band zusammengehalten wurden, und das Gefühl, daß sie das Volk des Herrn sein, hatte sie noch niemals verlassen. Wie sagt denn nun der Erlöser, daß sie verschmachtet wären und zerstreut? wie jammerte ihn das Volk eben deswegen weil er es so fand, und in seinem Herzen kein anderes Gefühl über sie erwachen konnte als eben dieses? Ja, m. g. F., wenn der Mensch von Gott bestimmt gewesen wäre auf derjenigen Stufe des geistigen Lebens zu bleiben, und sich in ihr immer mehr auszubilden, auf welcher er stand vor der Ankunft des Erlösers, wenn wir auch die hineingedrungene | Sünde hinwegdenken, so möchte der Erlöser Unrecht gehabt haben, daß ihn sein Volk jammerte über sein Verschmachten und über seine Zerstreuung. Denn das dürfen wir wohl glauben, was die Sünde verdorben hatte, das konnte wieder gut gemacht werden durch die Stimme göttlicher Offenbarung. Wenn der Mensch freilich, sobald er sich der Sünde bewußt ward, Gott fürchtete und sich vor ihm verbarg, wo er ihn wandeln hörte, und wo der Gedanke an denselben in seiner Seele erwachte, so nun tönten ihm eben diese tröstlichen Stimmen von allen Seiten, daß der Herr, ohnerachtet der Tod über die Sünde gekommen sei, daß er dem die Schuld vergebe, der sie bereue; und eben deshalb waren Sühn- und Schuldopfer aller Art besonders auch unter dem Volke des Herrn begründet. Aber auch der Zustand des ersten Menschen vor der Sünde wird uns nicht anders beschrieben als daß Gott der Herr in seiner Nähe wandelte, sich ihm verkündigte und mit ihm redete. Aber weiter dürfen wir nicht gehen, was wir auch unter diesem Ausdruck | verstehen mögen, als daß doch immer Gott außer dem Menschen ging; weil er aber dazu nicht bestimmt war auf dieser Stufe zu bleiben, so wäre immer eine Sehnsucht und ein Verlangen in ihm gewesen, welches sich nur auf eine ferne Zukunft hinrichten kann. Das war denn auch der wesentliche und Hauptinhalt aller Stimmen göttlicher Offenbarungen gewesen; nicht wiesen sie den Menschen allein zurück auf den Zustand, in welchem er gewesen sein würde ohne die Sünde, sie trugen alle das Gepräge der Verheißung, sie lockten seine Sehnsucht und seine Begierde 6 versammelten] versammelten sie Satzteil.

26 ihm] ihn

34 ging;] Hier fehlt offenbar ein

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in die Ferne, etwas sollte ihm noch werden, was er noch nicht gehabt und genossen hatte, das Äußere ein Inneres, die äußere Nähe Gottes ein Wohnen Gottes in dem Herzen des Menschen: Das war die unbekannte, die unbegriffene, die von den Wenigsten verstandene Sehnsucht, die aber doch unauslöschlich war und blieb, und die der am besten kannte, welcher | bestimmt war, sie zu befriedigen. Und eben so alle Sühnungen, welche verordnet waren für die Vergehungen der Menschen, sie brachten nur eine unvollkommne Beruhigung hervor, und immer tönte es wieder mitten unter den heiligen Gebräuchen, mitten unter ihrer Pracht und unter ihren Segnungen, daß der Böcke und der Kälber Blut nicht vermöge die Sünde zu tilgen, sondern nur das Gedächtniß derselben zu entfernen. Und so fand denn der Mensch in allen vorgeschriebenen Opfern und Gebräuchen, in allen stillen und lauten, einsamen und öffentlichen Gebeten um die göttliche Vergebung, in der langen gemeinsamen Feier des jährlichen großen Versöhnungstages, doch den Frieden mit sich selbst nicht wieder; und weil eben alles, was ihm gegeben war, in dem alten Bunde des Herrn mit seinem Volke ihn doch nicht in sich selbst beruhigen konnte: so schmachtete er eben und war zerstreut. Und wenngleich | das Volk aus der Zerstreuung unter den Heiden wiedergekehrt war, und sich wieder gesammelt hatte in dem Tempel des Herrn und in seinem Gesetz: so können wir doch nicht leugnen, es ist das Zeugniß, welches die ganze Geschichte des Volks seit seiner Rückkehr aus der Verweisung verbürgt, unterbrochen zwar durch herrliche Zeichen, in welchen sich eben mitten unter wilden Verfolgungen die Frömmigkeit und die Anhänglichkeit an den Gott und an das Gesetz der Väter offenbarte in einer Schaar von Märtyrern, die den Tod starben, weil sie sich nicht wollten gleichstellen den abgöttischen Völkern um sie her, ohnerachtet von so herrlichen Unterscheidungen unterbrochen, zeugt doch, sage ich, die Geschichte überall, daß doch nach seiner Rückkehr das Volk nicht aufhörte zu weinen und zu klagen, wie es in der Verweisung geweint und geklagt hatte. Denn es konnte sich das nicht verbergen, daß der alte Glanz und die alte Herrlichkeit des Volkes ver|schwunden sei; die Pracht seines Tempels und der ruhige Besitz seiner heiligen Gebräuche konnten es darüber nicht täuschen, nie fand es die alte Pracht und die alte Herrlichkeit wieder, und in dem Bewußtsein, daß das alte Band lose geworden sei, daß dasjenige nicht mehr erreicht wurde durch das Zusammenhalten des Volks, dessen es sich vorher erfreut hatte, fühlte es sich zerstreut, und über seinen damaligen Zustand unter der Herrschaft eines fremden Volks, wo es nun nicht mehr galt, daß der Israelit des Fremdlings in seinen Thoren wahrnahm mit schützender Obhut und mit herablassender Liebe; sondern selbst gedemüthigt war und unter die Knechtschaft der Fremden 13 Gebeten] Geboten 22 verbürgt] verbirgt Hier fehlt offenbar mindestens ein Wort.

33 konnten] konnte

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gethan, über diesen Zustand herrschten die verschiedensten Ansichten unter dem Volke; und indem es sich nun mit seiner Sehnsucht nach dem Worte der Verheißung hinwandte, und wie wir es finden in den Büchern unseres neuen | Testaments auf mancherlei Weise bezeugt, mit gespannter Erwartung dessen harrte, der da kommen sollte: so waren wieder über diesen, über das Werk, welches er zu vollbringen bestimmt sei, über die Art und Weise, wie er es vollbringen werde, eben so ihre Ansichten, ihre Wünsche und ihre Hoffnungen getheilt; und so war es denn, wenngleich äußerlich wieder gesammelt, innerlich zerstreut eben sowohl als es verschmachtete. Aber wenn der Herr nun sein Volk ansah, so sah er es nicht nur an für sich, sondern er sah es auch in seinem Verhältnisse zu den übrigen Völkern der Erde. Denn wenngleich für seine Person nur zu seinem Volke gesandt, war er doch und wußte, daß er es war, die Gabe Gottes an das ganze Menschengeschlecht. Jammerte ihn nun seines Volkes Verschmachten und Zerstreuung, wie viel mehr noch, wenn er an die andern Menschenkinder dachte. Freilich auch denen hatte sich Gott nicht unbezeugt gelassen, | wie die Schrift sagt, und sie hatten seiner wahrnehmen können in seinen Werken, und was Wahrheit war in den Gefühlen ihres Herzens, die aber freilich vermischt waren mit mancherlei verderblichem Wahn, indem sich die Erkenntniß des wahren Gottes verwandelt hatte in eine Menge der abendtheuerlichsten Irrthümer; was aber Wahrheit in ihrem Innern war, das war eben dieselbe Sehnsucht des Menschen nach dem höchsten Wesen, dasselbe Bedürfniß, welches sich bald stärker bald schwächer regte, aber immer noch nicht zu seiner Befriedigung gekommen war. Und wenn nun auf der einen Seite die Verfinsterung ihres Verstandes, indem die weise sein Wollenden, wie der Apostel sagt, zu Thoren geworden waren, [und eben so auf der anderen Seite] auch die Verkehrtheit des Herzens immer mehr widerstreitende und sich gegenseitig immer mehr entschuldigende und verklagende Gedanken in ihrem Verstande hervorbrachte: so war demohnerachtet in ihnen ein | Bedürfniß, daß das Herz irgendwie fest werde, und ein Verlangen nach Wahrheit und nach Gewißheit über das, was das Wesentliche in der Bestimmung des Menschen auf der Erde ausmacht. Darum seitdem das Volk des Herrn zerstreut gewesen war weit umher hatten sich an dieses angeschlossen Tausende aus andern Völkern, wenngleich von dem Volke des Herrn verachtet als Sünder und als Abgöttische, um sich zu nähren von den Brosamen, die von dieser Reichen Tische fielen. Schmachteten also jene selbst in ihrem Besitz, wie viel mehr waren diese verschmachtet. Und alle, die irgendwie genannt werden können als schon 5 wieder] wieden

19 verderblichem] verderblichen

17–21 Vgl. Röm 1,19–23

25–26 Vgl. 1Kor 1,20

28 gegenseitig] gegenseitige 27–29 Vgl. Röm 2,15

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zu einem höhern Bewußtsein von dem Wesen der menschlichen Natur gelangt, alle, die irgend einen bedeutenden Anfang gemacht hatten, auch um den irdischen Beruf der Menschen zu erfüllen: sie waren damals alle, wenngleich unter einander gesammelt, dennoch zerstreut, fast alle unter die Hand eines mächtigen Volkes gethan, welches selbst schon anfing sich zu | überleben. Denn das ist das immer wiederkehrende Sinnbild, wenn die Bestrebungen der Menschen, sich auf eine irdische Weise zu verbinden, das natürliche Maaß überschreiten, daß sie bauen an einem Thurme, den sie nicht vollenden können, daß der Herr ihre Sprache und ihre Bestrebungen verwirrt, daß, indem sie sich enger verbinden wollen, sie sich weiter zerstreuen. Und so stellte sich dem Herrn dar das ganze menschliche Geschlecht als verschmachtet und zerstreut, und ihn jammerte dies. Daß ihn dies jammerte, das war der menschliche Ausdruck der ewigen Liebe, welche die Erscheinung des Herrn auf der Erde bewirkte. Denjenigen, der gekommen war um die Menschen auf eine höhere Stufe des Daseins zu erheben, der gekommen war um ihnen den Gott in das Herz zu geben, den sie weniger mit dem Herzen als nur mit den Lippen außer sich verehrt und gesucht | hatten: den mußte es jammern sie so zu finden, verschmachtend in Beziehung auf ihr wesentlichstes und tiefstes Bedürfniß. Denjenigen, der gekommen war sie zu sammeln, daß sie würden Eine Heerde unter Einem Hirten, der gekommen war einen Bund unter ihnen zu stiften in Beziehung auf ihre ewigen Güter und auf ihr ewiges unsterbliches Sein, den mußte es jammern sie so zerstreut zu finden, daß grade jeder in Beziehung auf dieses innerste Bedürfniß des Herzens seinen eigenen Weg ging, und jeder in der Irre. II. Wenn wir nun, m. g. F., nachdem wir die Empfindung des Erlösers als er sein Volk ansah, den Worten des Evangelisten gemäß auseinandergesetzt haben, zu demjenigen übergehen, was der Ausdruck seines Wunsches ist: „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte senden möge“: so müssen wir, m. g. F., hiebei zuerst dies festhalten, daß er so nicht hätte reden können, | wenn nicht die feste Überzeugung in ihm gewesen wäre, die Zeit der Ernte sei da. In diese Überzeugung haben wir uns versetzt bei dem, was wir vorher mit einander gesungen haben; diese Überzeugung, daß die Zeit der Ernte da sei, war der Glaube des Erlösers an sich selbst, wenn es erlaubt ist dieses menschliche Wort von ihm zu gebrauchen, es war die feste Überzeugung von dem Zwecke, zu welchem er in die Welt gesandt sei, und das große und lebendige Gefühl von der Kraft, welche in der ihm einwohnenden Fülle der Gottheit lag, dieses Werk zu vollenden. 8–11 Vgl. Gen 11,1–9

19–21 Vgl. Joh 10,16

39 Vgl. Kol 2,9

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Ihn jammerte, wenn er das Volk vor sich sah, und es erblickte noch getrennt von ihm und ohne Zusammenhang mit dem, der allein es sammeln und erquicken konnte. Sah er aber auf sich selbst zurück, so wurde er erfüllt von dem freudigen Gefühl die Zeit der Ernte sei nun da, und der Herr werde einsammeln in seine Scheunen. Aber dieses Gefühl von sich selbst, | dieses Bewußtsein seiner göttlichen Kraft, es hinderte doch nicht, daß er in den Wunsch ausbrach: „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter sende in seine Ernte.“ Denn wie in ihm das Wort Fleisch geworden war, und die Fülle der Gottheit Knechtsgestalt angenommen hatte, und er gekommen war in menschlichen Gebehrden zu suchen und selig zu machen das Verlorene: so konnte auch nicht anders als nach den Gesetzen der menschlichen Natur und auf menschliche Weise sein Werk vollbracht werden. Anfangen konnte es immer nur durch sein Dasein und durch seine eigene Thätigkeit, einen andern Grund konnte niemand legen zu dem Heil der Menschen als den, welchen Gott gelegt hatte, nämlich Jesum Christum. Daß die Menschen in ihm erkannten die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, das allein konnte die Schmachtenden befriedigen, das allein konnte die Zerstreuten sammeln. Aber er selbst war nur gesandt für die Tage seines Fleisches zu | den Kindern vom Hause Israel, und auch unter denen konnte seine Predigt in den Schulen, seine Verkündigung von dem Reiche nicht alle Ohren erreichen, geschweige denn alle Herzen mild machen, und ihre Verhärtung auflösen. Darum bedurfte das Werk der Ernte der Arbeiter; und wenn er sich nun sahe seinem Volke gegenüber und die kleine Anzahl von treuen Jüngern, die aber selbst noch immer bereitet werden mußten von ihm, als die einzige Hilfe, die er hatte in der Ernte des Herrn: dann mußte der Wunsch aus seinem Herzen hervorbrechen, „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter sende in seine Ernte.“ Damals also, m. g. F., war das [das] unmittelbare Gefühl des Erlösers und der natürliche Wunsch seines menschlichen Herzens. Wie wenig waren die, welche ihm anhingen, vertraut mit der Aufgabe, die ihr Beruf auf Erden sein sollte. | Und wenngleich der Herr wußte die schwachen Werkzeuge, die noch einmal die Prüfung zu bestehen hatten, zerstreut zu werden, wenn der Hirt geschlagen würde, die würden erfüllt werden mit einer Kraft aus der Höhe, von der sie selbst vorher keine Ahndung gehabt hatten, daß sie in ihren schwachgläubigen Seelen wohnen könnte, wenn er das gleich wußte: das Mißverhältniß war zu augenscheinlich zwischen dem, was erreicht werden sollte, und zwischen den Mitteln, die dazu vorhanden waren. Fragen wir nun, was war von Anfang an die Art 16 ihm] ihn

20 von] vor

21 mild] milld

8.15–16 Vgl. Joh 1,14 9–10 Vgl. Lk 19,10 Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7)

13–15 Vgl. 1Kor 3,11

32 Vgl.

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und Weise, wie dieser Wunsch des Herrn in Erfüllung ging? so müssen wir sagen: es mehrte sich allmälig das kleine Häuflein, von denen, die gläubig geworden waren an den Namen des Herrn, wurden die kräftigsten ausgerüstet zu seinem Dienst, und sie wurden Arbeiter in dem großen Berge, dessen Segnungen sie kaum angefangen hatten selbst | zu genießen, und der Geist des Herrn war mächtig in den Schwachen, und kräftig waren sie erhoben durch das Bewußtsein ihrer Verbindung mit demjenigen, dem alle Gewalt gegeben sei im Himmel und auf Erden. Und so ist es geschehen, daß der Wunsch des Herrn in Erfüllung gegangen ist, immer mehr sind der Arbeiter geworden, und immer neue Felder haben sich gezeigt, um die Ernte des Herrn in denselben zu verrichten. Und nun steht die christliche Kirche da als der Tempel Gottes, der nicht auf eine irdische und leibliche, sondern auf eine geistige Weise, aber eben deswegen auch ohne daß irgend eine Grenze dabei gedacht werden könnte als die des menschlichen Geschlechtes selbst, alle sammelt, die vorher zerstreut waren[,] zu einer gläubigen, hoffenden und liebenden Heerde unter dem einen Haupt; sie | steht da als der heilige Tempel, in welchem die unversiegliche Quelle entspringt und eingefaßt ist, die jeden Durst der menschlichen Seele lischt, so daß keiner, der zu ihr nahen kann, mehr klagen darf, daß er verschmachte, daß keiner mehr durstig zu bleiben braucht; sondern nur hinzugehen um zu trinken, so oft er dessen begehrt, um sich in dem seligen Gefühl zu stärken, daß er mit dem Sohn den Vater hat, daß mit ihm auch der Vater gekommen ist, Wohnung zu machen in seinem Herzen, und daß der Geist des Herrn nun Alles dasjenige hervorbringt, was als Folgsamkeit gegen ein äußerliches Gesetz immer nur ein unvollständiges Stückwerk giebt, nicht fähig die reine göttliche Stimme in dem Herzen des Menschen zur Ruhe zu bringen, jetzt aber als die Frucht des Glaubens, der allein den Menschen gerecht machen kann vor Gott, | ihm auch das Zeugniß giebt, daß er zu den Kindern Gottes gehört, und in die selige Gemeinschaft mit Gott aufgenommen ist, und wie der Mensch das Werk des Herrn auf Erden fördern und seinem Ziele näher bringen soll. Sehen wir aber, m. th. F., nun genauer auf die Zeit, in welcher wir selbst leben, und fragen uns: wie steht es denn nun? müssen, dürfen wir auch noch den Wunsch des Erlösers theilen? und ist sein Wort auch noch an uns gerichtet: „Bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende, bittet ihn, denn die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige“? oder leben wir selbst schon in der vollen Befriedigung aller Güter? ist das große Werk des Herrn seinem Ziele so nahe, daß wir nicht mehr unterscheiden können die Ernte selbst und die Arbeiter in der Ernte, und daß die Ernte selbst schon vollendet zu sein scheint durch die Arbeiter des Herrn? | Wir können uns die Antwort auf diese Frage leicht 7–8 Vgl. Mt 28,18

22 Vgl. 1Joh 2,23

22–23 Vgl. Joh 14,23

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geben, richten wir unsern Blick nach außen oder richten wir ihn nach innen. Wie viele Geschlechter der Menschen sind noch übrig, zu denen die beseligende Stimme des Evangeliums noch nicht gedrungen ist; und die Christen, die am meisten in der Nähe solcher leben, welche noch nicht gesammelt sind unter den Namen, in welchem allein Heil für die Menschen zu finden ist, ach wir dürfen es wohl beklagend sagen, grade diese sind am meisten der Sorge um das Irdische hingegeben. Sehen wir auf den Zustand derer, die um uns her noch tief in dem Schatten des Todes sitzen, auf nichts mehr bedacht als auf den irdischen Vortheil, den sie am besten von dieser Verbindung zu ziehen wissen; und wenn wir bedenken, wie unfruchtbar in solchen Gegenden, wo die Christen vermischt mit Unchristen und mit Juden | leben, bis jetzt noch das Dasein der Christen sich zeigt: wie könnten wir anders als fortfahren auch uns das Wort des Herrn anzueignen; und je mehr wir uns selbst der Segnungen des Christenthums erfreuen, um desto mehr immer wieder den Herrn der Ernte zu bitten, daß er Arbeiter senden möge in seine Ernte. Ganz zwar ist das Bestreben das Evangelium zu verbreiten unter denen, die sich seiner Segnungen noch nicht erfreuen, ganz ist es nimmer erloschen. Je mehr es lange Zeit hindurch nur noch Einzelne gewesen sind, die von demselben entzündet wurden, desto mehr sind sie, wir dürfen es nicht leugnen, selbst von dem größeren Theile der Christen für Thoren gehalten worden, welche in der Ferne suchten, da sie doch in der Nähe genug zu thun hatten. Je mehr sich aber solche Gemüther hervorthun, um desto mehr ist | auch das Auge Aller gerichtet auf die großen Felder, welche reif sind zur Ernte. Denn reif ist Alles, seitdem der erschienen ist, dem die Ernte anvertraut und gegeben war, aber für diese immer noch keine Arbeiter waren. – Wie aber, m. g. F., wie steht es, wenn wir auf das Innere der christlichen Kirche selbst sehen? Je mehr oft das Evangelium sich mit einer bewundernswürdigen Schnelligkeit ausgebreitet hat, so daß auf einmal ganze Völker von ihrem Fürsten an bis zu dem niedrigsten der Diener herab unter das Kreuz des Herrn gesammelt sind, und seinen Namen bekannt haben, um desto natürlicher mußte es sein, daß nicht alle auf gleiche Weise von der Kraft desselben durchdrungen waren, daß unter den Christen es gar viele gab, von welchen man mehr nur dem Namen als der That nach sagen konnte, daß sie es wären, viele, in denen das Bedürfniß noch gar nicht recht aufgegan|gen war, dessen Befriedigung ihnen dargeboten wurde, viele, die noch keinen Sinn hatten für die Eine große Heerde, zu welcher sie sollten versammelt werden. Und je mehr dies fast von allen jetzigen christlichen Völkern gilt, daß auf solche Weise das Evangelium zu ihnen gebracht worden ist, worin wir auch die unerforschliche Weisheit Gottes erkennen und verehren müssen, desto mehr müssen wir sagen ist auch immer in der christlichen Kirche selbst nicht nur zu befriedigen das Schmachtende, denn zu schmachten braucht keiner, den da durstet, nicht nur zu sammeln die Zerstreuten, denn das Panier ist für jeden aufgerichtet,

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der nur fühlt, daß er sich verirrt hat; aber nur wenn diejenigen, unter denen der Name des Herrn bekannt wird, noch nicht durchdrungen sind von dem Bedürfniß, um welches allein es sich lohnen konnte, daß der Sohn Gottes herab kam vom Himmel auf die Erde, wenn | sie sich berufen dabei, daß sie auf eine irdische Weise gesammelt sind, und in der Vereinigung ihrer Kräfte einen Trost finden und eine Sicherheit für das Gefühl ihrer Schwäche, so lange sie nicht Glieder sind an dem geistigen Leibe des Herrn: dazu, m. g. F., dazu bedarf es immer noch auch unter uns der Arbeiter, die der Herr in seine Ernte sendet. Nicht aber so, m. g. F., als ob dies nur allein diejenigen wären, welche den Dienst an dem göttlichen Worte unter den Christen versehen. Weit entfernt bin ich eben diesen herab setzen zu wollen, vielmehr ist es eine Einrichtung, die sich als ein großer und reicher Segen Gottes bewährt hat überall in der christlichen Kirche, daß, so wie der Herr selbst einige zu Aposteln und Evangelisten gesetzt hat, so auch immer noch unter den Christen einige gesetzt werden zu Lehrern und Ältesten in den Gemeinen der Christen. Aber sie allein sind nicht die | Arbeiter in der Ernte des Herrn, sondern alle sollen es sein. Jeder, wo er eine Seele findet, der es noch Noth thut, daß das Bedürfniß des Heils in ihr aufgeregt werde, jeder wo er sieht die falsche Zufriedenheit des Herzens in dem Besitz irdischer oder wenigstens unreiner geistiger Güter, jeder wo er solche sieht, die den Namen des Herrn zwar bekennen, aber doch noch nicht in derjenigen innigen Verbindung des Herzens mit ihm stehen, die das wahre Ziel des Glaubens ist, jeder wo er solche sieht, die noch zerstreut sind durch die Dinge dieser Welt, die ihres eigenen Weges gehen, und in menschlichen Betrachtungen und Überlegungen das Wort des Herrn noch nicht in der Tiefe ihres Herzens so ergriffen haben, daß es sie allein regiert und beseelt, jeder ist berufen in der Ernte des Herrn zu arbeiten an solchen Seelen. Und je inniger | diese Gemeinschaft der Christen ist, m. a. F., je mehr jeder sich selbst da, wo ihn der Herr hingestellt hat, berufen fühlt nicht nur zu genießen, was ihm der Herr gegeben hat, sondern auch nach seinen Kräften zu wirken um die Seligkeit des Glaubens und der Liebe, die ein Wiederschein der Liebe des Erlösers ist, auch in andern Seelen zu pflegen, desto mehr dürfen wir sagen, daß der Wunsch des Herrn in Erfüllung geht. Sollen wir nun sagen, auch so sei es noch immer wahr, daß die Ernte groß ist und der Arbeiter wenige? Müssen wir es sagen, so laßt es uns sagen nicht ohne eine innige und tiefe Beschämung. Ja wir werden es wohl gestehen müssen, daß wir alle so manches ungethan lassen, was wir thun könnten in der Ernte des Herrn, und wenngleich jeder sich selbst sagen muß, daß auch hier jeder dafür sorgen muß seine Grenzen nicht zu überschreiten, und, wie der Apostel Paulus es auch sagt, nicht zu greifen in | eine fremde Arbeit: so soll doch diese christliche Weisheit nie eine Beschönigung werden unchristli41–1 unchristlicher] um christlicher

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cher Trägheit und Gleichgiltigkeit. O jeder der es will, dem wird es sein Herz gewiß sagen, wo er im Stande ist irgend etwas für die Ernte des Herrn zu thun. Keinem wird es fehlen in seiner nächsten Nähe und unter denen, die nach der menschlichen Ordnung an ihn besonders gewiesen sind, keinem wird es fehlen in seinen nächsten geselligen Verhältnissen etwas zu thun, damit die Ernte des Herrn reicher werde, dem Worte des Herrn Eingang zu verschaffen in die Herzen, das Band der Liebe um sie fester zu schließen, die Kraft des Glaubens durch den eigenen Glauben ihnen einzuflößen, und so die Stadt Gottes, in welcher wir leben, zu seinem Preise immer mehr zu verherrlichen, bis die Zeit kommt, wo die Gemeine des Herrn vor ihn gestellt werden kann ohne Flecken und ohne Tadel. Amen.

[Liederblatt vom 9. November 1823:] Am 24. Sonntage nach Trinitatis 1823. 15

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Vor dem Gebet. – Mel. Eine feste Burg etc. [1.] Auf ihrem Felsengrunde steht / Die Kirche Jesu Christi, / Ob Erd und Himmel untergeht, / Besteht die Kirche Christi. / Gottes ewger Sohn / Schützt von seinem Thron / Sie, die ihm vertraut; / Sie steht von ihm erbaut, / Wie ein Gebirg’ im Meere. // [2.] Was können Spötter, die ihr drohn / Zu Schanden sie zu machen, / Die thörigt wähnen, daß sie schon / Vergeht, wenn sie nur lachen? / Ihre Pfeile sind / Spreu, verweht vom Wind. / Ruhig sehn wir zu, / Sie selbst vergehn im Nu; / Die Kirche Christi bleibet. // [3.] Was können jene Feinde mehr, / Die selbst ihr Schooß ernähret? / Der falschen Christen arges Heer / Durch Sünden Füll’ entehret? / Der Untreue Lohn, / Wartet ihrer schon. / Die Kirche Christi nicht, / Doch sie wird das Gericht / An jenem Tage treffen. // [4.] Drum gutes Muths, wir traun auf Gott, / Ihn preise Harf’ und Psalter. / Er selbst, Jehova Zebaoth, / Ist seines Baus Erhalter. / Groß ist seine Huld; / Hier trägt er Geduld, / Herrlich wird er dort, / Denn Wahrheit ist sein Wort, / Uns segnen und erhöhen. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Fest steht zu Gottes Ruhme / Des ewgen Bundes selge Stadt, / Die ihm zum Heiligthume / Des Menschen Sohn geweihet hat. / Erfüllt von hoher Klarheit, / Freut sie sich ihres Herrn; / Er wohnt mit seiner Wahrheit / In ihren Tempeln gern. / Die wie von Meereswogen / Ward sie bestürmt von Krieg, / Doch ihre Feinde zogen / Vorüber ohne Sieg. // [2.] Auf Felsengrund erbauet, / Ist sie zu Gottes Stadt erhöht, / Die ihm allein vertrauet, / Und ewig durch sein Wort besteht. / Von ihren Bergen flammet / Umher der Wahrheit Licht; / Und wer es schaut, verdammet / Den Wahn, den es durchbricht. / So werden Viel’ entrissen / Der Nacht, und glauben gern; / Sie rein’gen ihr Gewissen, / Und dienen dann dem Herrn. // [3.] Die Krone der Belohnung /

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Gewinnt der Bürger dieser Stadt, / Der hier sich seine Wohnung / Erbaut und treu gestritten hat. / Errettet vom Verderben, / Eilt er in selger Ruh / Und freudig selbst im Sterben / Dem Vaterlande zu. / Dann wird er zu den Frommen, / Die schon des Lohns sich freun, / Vom Vater aufgenommen, / Vollkommen selig sein. // [4.] Frohlocke, Kirche, singe, / Erhebe deines Königs Ruhm! / Breit aus sein Reich, und bringe / Die Sünder all’ ins Heiligthum, / Daß sie erneuert werden, / Von Gottes Licht erhellt, / Ihn lieben, und auf Erden / Gern thun, was ihm gefällt; / Bis endlich alle Scheuern / Voll Garben sind, und wir / Das Erndte-Fest zu feiern / Vereinigt All’ in dir. // (Hollstein. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun kommt der Heiden etc. [1.] Triumphire Gottes Stadt, / Die sein Sohn erbauet hat, / Kirche Jesu, freue dich! / Der im Himmel schützet dich. // [2.] Ja der Herr der Herrlichkeit / Machet deine Grenzen weit, / Und allmächtig beugt der Held / In sein selig Joch die Welt. //

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Am 16. November 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

25. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,18–25 Gedruckte Nachschrift; SW II/8, 1837, S. 142–154; Andrae Wiederabdrucke: Keine Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 135r–136r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 53r–58v; Saunier, in: Schirmer Besonderheiten: Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Am 25. Sonntage nach Trinitatis 1823.

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Tex t. Joh. 2, 18–25. Da antworteten nun die Juden und sprachen zu ihm, Was zeigest du uns für ein Zeichen, daß du solches thun mögest? Jesus antwortete und sprach zu ihnen, Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten. Da sprachen die Juden, Dieser Tempel ist in sechs und vierzig Jahren erbaut, und du willst ihn in dreien Tagen aufrichten? Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. Da er nun auferstanden war von den todten, gedachten seine Jünger daran, daß er dies gesagt hatte, und glaubten der Schrift und der Rede, die Jesus gesagt hatte. Als er aber zu Jerusalem war in den Ostern auf dem Feste, glaubten viele an seinen Namen, da sie die Zeichen sahen, die er that. Aber Jesus vertraute sich ihnen nicht, denn er kannte sie alle und bedurfte nicht, daß jemand Zeugniß gäbe von einem Menschen; denn er wußte wohl, was im Menschen war. | Dieser Abschnitt, m. g. Fr., zerfällt uns von selbst in zwei ganz verschiedene Theile. Der erste hat es noch zu thun mit der Erzählung von demjenigen, was der Erlöser in dem Tempel gethan hatte um diejenigen auszutreiben, die da kauften und verkauften; der andere ist eine allgemeine Nachricht von dem Eindrukk, den die Anwesenheit des Erlösers in Jerusalem hervorbrachte, als er sich wegen des Festes der Ostern da aufhielt und lehrte. 13 alle und] alle. Und

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Was nun das erste betrifft, so erzählt uns Johannes zuerst, die Juden hätten Jesum, nachdem er das gethan, worüber wir neulich mit einander geredet haben, gefragt, woher er denn dies habe thun können, und von ihm ein Zeichen gefordert, damit sie glauben könnten, daß er auch das Recht habe das zu thun, was er gethan. Wenn Johannes sagt, Die Juden: so versteht er darunter gewöhnlich die angesehenen unter dem Volke, die Hohenpriester und ältesten, so wie die Schriftgelehrten, und was jenen und diesen zunächst anhing. Und so hat er gewiß auch hier, indem er sagt, Die Juden, vorzüglich diejenigen im Sinne, denen es wol obgelegen hätte die Ordnung in dem Tempel zu erhalten, welche der Herr selbst sich genöthigt gesehen hatte wieder herzustellen. Denn diejenigen, mit denen er unmittelbar zu thun hatte, die hatten ihm gehorcht; das geht aus der ganzen Art, wie die Sache erzählt wird, hervor. Aber nun kamen die, denen die Aufsicht über den Tempel anvertraut war, und fragten ihn, mit welchem Recht er sich in dasjenige, was ihnen obgelegen hätte, gemischt habe, und forderten von ihm ein Zeichen zur Bestätigung der Gewalt, die er ausgeübt hatte. So wird uns oft erzählt in unseren Evangelien, daß die, welche den Erlöser hörten, ein Zeichen von ihm verlangten, damit sie an ihn glauben möchten; und so viele wir auch sonst in | den Lebensbeschreibungen des Erlösers von solchen Thaten finden, die sie mit diesem Worte bezeichnen, so wird uns doch nicht einmal erzählt, daß er ein solches Zeichen gegeben habe deswegen, weil sie es von ihm forderten, und dann, wann sie es forderten; sondern das war immer nur ein Verhältniß des Glaubens und der Liebe zwischen dem bedürftigen und zwischen ihm, der das Bedürfniß befriedigen konnte. Nun aber hier diejenigen, denen die Aufsicht über den Tempel gegeben war, den Herrn fragten, aus welcher Macht er das thue: so war auch dies für ihn eine Gelegenheit sich ihnen darzustellen, und er durfte es nun benuzen, ihnen gleich die Hauptsache und das wesentliche dessen zu sagen, was über sein Verhältniß zu ihnen und über sein Recht und seine Macht unter dem Volke zu sagen war. Es hängt damit so zusammen. Der Erlöser sagt auf die Frage, Was zeigst du uns für ein Zeichen, daß du solches thun mögest? zur Antwort, Brechet diesen Tempel, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten. Daß er dies nicht verstanden habe von dem Tempel, den er eben damals gereinigt hatte von Käufern und Verkäufern, das wissen wir wohl; diejenigen aber, welche ihn gefragt hatten, vermochten seinen Worten keine andere Deutung zu geben, und darum fragen sie bloß verwundert, Sechs und vierzig Jahre hat es gewährt, ehe das heilige Gebäude ist aufgerichtet worden durch alle Kräfte und durch alle Anstrengungen des ganzen Volks, und du willst es, wenn es zerstört wäre, in drei Tagen wieder aufrichten? Aber ohnerachtet sie die Rede des Herrn nicht verstanden hatten, so drangen sie doch nicht 2 Vgl. oben 2. November 1823 früh über Joh 2,12–17 (Tempelreinigung)

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weiter in ihn und forderten keine weitere Rechenschaft von ihm, weshalb er das thun würde, was er in jenen Worten aussprach. Sie machten es also dem Wesen nach eben so wie die, mit denen er es unmittelbar zu thun hatte, sie wichen seiner Gewalt und erkannten stillschweigend sein Recht an. | Er aber hatte ihnen gesagt worauf es eigentlich ankomme, daß er begriffen sei in dem Bau eines andern Tempels, und er redete, wie Johannes sich ausdrükkt, von dem Tempel seines Leibes. Wir wissen es, das ist der Tempel seines Leibes, die Gemeine, welche er zum Gottesreiche sammeln wollte, und die in der Schrift so oft der Leib des Herrn genannt wird. In Erbauung dieses seines Leibes, seines geistigen Tempels, in welchem Gott nicht soll durch äußerliche Geberden, sondern wie es ihm wohlgefällig ist, im Geist und in der Wahrheit angebetet werden, in der Erbauung dieses Tempels war er begriffen, und alles was er gethan hatte in Beziehung auf den äußern Tempel, das hatte eben darin seinen Grund, daß er von Gott gesandt war ein neues geistiges Gebäude aufzuführen. Durch die Kraft des Wortes mußte er diesen geistigen Tempel errichten, und darum mußte er es verkündigen unter dem Volke, damit einem jeden, welcher fähig wäre in der That und Wahrheit an ihn zu glauben, auch Gelegenheit gegeben wäre das göttliche Wort von ihm zu vernehmen, und ihn zu erkennen als einen Lehrer von Gott gesandt. Wenn nun dieses Recht und diese Gewalt ihm streitig gemacht werden sollte, wie denn eben die Vorsteher des Volks, so lange der Herr öffentlich lehrte, dies beständig gethan: so war wol seiner ganzen Art und Weise, der unerschütterlichen Wahrheit und Offenheit, mit welcher er immer und überall zu Werke ging, gemäß, dieses Beispiel in dem ersten Anfang seines öffentlichen Lebens und seiner öffentlichen Wirksamkeit zu geben, indem er ihnen sagte, worauf es eigentlich ankomme, und was troz ihres Widerstandes geschehen würde. Nämlich er forderte sie gleichsam auf: versuchet es nur durch euern Widerstand und euern Unglauben und durch alles, was die Kraft desselben gegen mich thun mag, diesen Tempel, in dessen Bau ich begriffen bin, zu zerstören, es wird nicht länger dauern | als eine kurze Frist (die man gewöhnlich durch einen solchen Zeitraum von dreien Tagen zu bezeichnen pflegte), so werde ich ihn wieder aufrichten. Das sagte er nur um ihnen zu verstehen zu geben, einmal, daß ja alle äußern Einrichtungen des Gesezes, wie der Verfasser des Briefes an die Hebräer sagt, nur der Schatten der zukünftigen Güter seien, daß dazu nur das innere, das geistige, die ewigen Güter selbst und das ewige Leben, welches der Herr denen giebt, die wahrhaft an ihn glauben, daß dies der Grundstein und der Ekkstein dieses Tempels sei, den er aufzurichten suche, 11–13 Vgl. Joh 4,23

35–36 Vgl. Hebr 10,1

37–38 Vgl. Joh 3,36; 6,40.47

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und dann, daß keine menschliche Kraft, die sich ihm entgegenstellt, im Stande sein werde, auf eine dauerhafte Weise das große Werk des Herrn zu zerstören. Johannes nun sagt, Als der Herr auferstanden war von den todten, da gedachten seine Jünger dessen, was er gesagt hatte, und glaubten seiner Rede. Was sie für eine besondere Ursache hatten dieser Worte zu gedenken, nachdem der Herr von den todten auferstanden war: das geht aus dem ganzen Zusammenhang ihrer damaligen Gemüthsverfassung hervor, so wie aus dem, was der Herr in Beziehung auf sein nahes Ende zu ihnen geredet hatte. Als er nämlich seinem Leiden entgegenging, da sagte er zu seinen Jüngern, Sie werden den Hirten schlagen, und die Schaafe der Heerde werden sich zerstreuen; ihr werdet euch an mir ärgern, und ihr werdet euch zerstreuen ein jeglicher in das seine. Das war die Gefahr, die dem geistigen Tempel, den er zu bauen gekommen war, bevorstand, als er selbst auf eine leibliche Weise von ihnen genommen ward; und so war es gewiß ihre herrschende Stimmung, daß sie unter einander dachten und zu einander sagten, Wir haben gehofft, er solle Israel erlösen. Da er aber | gestorben war und an das Kreuz geschlagen, so waren sie in ihrem Glauben irre geworden; aber es währte nicht lange, als der Herr von den todten erstanden war, so wurden sie in ihrem Glauben so fest; daß sie vor dem ganzen Volk wollten Zeugen sein seiner Auferstehung; und nun war der Tempel fest gebaut, den der geistige Leib des Herrn bildet, und keine menschliche Gewalt, weder die leiblichen Kräfte noch die der Klugheit und der Weisheit dieser Welt, hat ihn für die künftige Zeit zerstören können. Da hatten sie Ursache seiner Reden zu gedenken, wie nahe es gewesen wäre daß der Tempel des Herrn wirklich wäre gebrochen worden, weniger durch die Gewalt seiner Feinde als durch das Schwanken ihres eigenen Gemüths und durch den Unglauben, der noch in ihrer Seele gewesen war. Daß der Herr, indem er dies sagte, diejenigen, zu denen er redete, nicht unmittelbar wollte grade auf seine Auferstehung verweisen, das kann uns wol allen sehr deutlich werden, wenn wir bedenken, daß er ihnen dann etwas gesagt hätte, was sie nicht im Stande gewesen wären zu verstehen, ja was auch nicht einmal die Zukunft ihnen auf eben solche Weise würde eröffnet haben wie seinen Jüngern, indem sie doch keine unmittelbare Erfahrung machten von seiner Auferstehung. Daß er aber, wie Johannes in den lezten Worten, die wir mit einander gelesen haben, sagt, er habe nicht bedurft, daß jemand Zeugniß gäbe von einem Menschen, indem er wohl wußte, was in dem Menschen war, daß er am besten wußte, wie leicht 20 fest,] fest; 11–12 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (nach Sach 13,7) 17 Lk 24,21

12–13 Vgl. Joh 16,32

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damals und während der ganzen Zeit seines Lebens noch der Glaube, den er schon bei seinen Jüngern bewirkt hatte, daß er derjenige sei, auf welchem die Hoffnung des Volks ruhe, der Sohn des lebendigen Gottes, erschüttert werden könnte, und daß er damals schon an die Gefahr gedacht hat, die ihm bei der Erfüllung seines göttlichen Berufs gedroht hat von seinen Fein|den, und zwar von dem ersten Anfang ihres Gegenwirkens gegen sein Bestreben, bis sie es dahin gebracht hatten, ihm seine Thätigkeit abzuschneiden, und ihn aus ihrer Mitte zu verstoßen, das dürfen wir wol glauben. Laßt uns aber ehe wir weiter gehen, m. g. Fr., hievon noch eine besondere Anwendung machen. Noch immer ist der Herr in dem Bau dieses großen geistigen Tempels begriffen; er erweitert sich immer mehr, und erhebt sich immer höher durch die Kraft des göttlichen Wortes nach außen und nach innen. Aber damit dieser Tempel bestehe, und in demselben der Name des Herrn und seines und unseres himmlischen Vaters verherrlicht werde: dazu muß auch der äußere Tempel, die ganze äußere Erscheinung der Kirche Christi auf Erden immer mehr gereinigt werden. Und da giebt es denn in dem gemeinsamen Leben sowol als in der einzelnen Seele immer manches, was der Herr aus demselben Grunde vertreiben muß, aus welchem er die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel trieb, nämlich alles dasjenige muß herausgetrieben werden, was das göttliche Werk und das ganze Geschäft des Erlösers durch die Kraft seines Wortes in der einzelnen Seele oder in dem gemeinsamen Leben stören kann. Wenn das nun auch nicht immer leise und sanft abgeht, wie bei der Reinigung, von welcher die vorhergehenden Worte reden, und mancherlei Gewalt dabei muß angewendet werden: so hat jeder einzelne in sich und eben so die große öffentliche Gemeinschaft der Menschen etwas, was bereit ist dem Erlöser, der eben die einzelne Seele und das gemeinsame Leben reinigen will, die vorwizige und mißtrauische Frage aufzuwerfen, welche hier die Vorsteher des Tempels an ihn thun, Was ist es denn für ein Zeichen, welches du uns zeigest, daß du solches thun mögest? jeder hat etwas auf der einen Seite, was er gern noch beschüzen möchte und hegen von demjenigen, was da muß aus der Seele herausgetrieben werden; auf der andern Seite aber auch manches, worüber er sich vor sich selbst schämt | daß er es nicht selbst schon herausgetrieben hat, wie auch die Vorsteher des Tempels sich schämen mußten, daß sie diejenigen nicht in Schranken gehalten hatten, welche öffentlich verkauften; und aus beidem, aus dem einen wie aus dem andern, entstehen Zweifel und Fragen, ob es auch nothwendig, ob es auch recht sei, daß das aus der Seele und aus dem gemeinsamen Leben herausgetrieben werde. Der Herr aber giebt kein anderes Zeichen als immer nur dieselbe Antwort, Brechet diesen Tempel, und in drei Tagen will ich ihn wieder aufrichten; und je mehr wir uns bei der begnügen, je geneigter wir sind uns diese Antwort gefallen 24–25 Vgl. Joh 2,13–17

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zu lassen, um ihm mit vollem Herzen zu vertrauen, desto besser steht es um uns. Eine andere Antwort hat er nicht. Wir wissen es aus seinem ganzen Leben, wie sehr er den Menschen alles, was ihr irdisches Dasein erfreuen konnte, nicht nur von Herzen gönnte, sondern es auch theilen mochte mit ihnen; wie wenig er in demjenigen, was in der äußern Ordnung der Dinge gegründet war, änderte, insofern es seinem großen Werke nicht entgegen war. Wenn er also spricht zu allen zweifelnden Fragen dieser Art: es ist nun einmal nicht anders, die Gemeinschaft, die ich gekommen bin aufzurichten zwischen Gott und dem menschlichen Geschlecht, und an der ich euch möchte Theil nehmen lassen, sie wird und muß bestehen, und alles Zweifeln und Klügeln in Beziehung auf mein Wort und auf das, was ich thue für das heilige Werk, welches mir der Vater aufgetragen hat, wird doch den Bau weder ändern noch zerstören, in welchem ich begriffen bin: so mögen wir dies wol zu Herzen nehmen. Wenn wir denn wissen, daß wir, wo er die Seelen der einzelnen und das gemeinsame Leben reinigen will, es doch nicht weiter bringen werden als zu solchen vorübergehenden zweifelnden Fragen, und je mehr wir uns beruhigen bei dem Gedanken, daß so gewiß sein Reich bestehen wird, und keine Macht es zerstören kann, so gewiß auch alles dasjenige aus demselben vertrieben werden wird, was der Kraft des guten und | gottgefälligen entgegentritt und den schönen Bund des Glaubens und der Liebe, den er geknüpft hat, gefährden will, desto ungestörter wird er sein Werk in uns fördern, und desto herrlicher wird sich der Tempel, an dem wir alle zu bauen berufen sind, erhalten. Das zweite aber, was wir gelesen haben, ist das allgemeine, daß nämlich Johannes erzählt, während der Herr zu Jerusalem gewesen auf dem Fest, hätten viele an ihn geglaubt, da sie die Zeichen sahen, die er that, der Herr aber hätte sich ihnen nicht vertraut, sondern sie alle erkannt. Da also macht Johannes einen Unterschied zwischen denen, die an den Namen des Herrn glaubten, und bezeichnet uns darunter auch solche, denen sich der Herr doch nicht vertraute, und wir wissen es aus seinen folgenden Erzählungen, wie gar manche von denen, die an den Namen des Herrn glaubten, doch wieder hinter sich gingen und seine Sache verließen, weil ihnen die Rede, die er führte, zu hart war. Das waren solche, die an ihn glaubten, aber denen er sich nicht vertraute. Was aber hat es mit diesem sich vertrauen zu sagen? hatte der Herr ein Geheimniß, welches er nur denen mittheilte, die zu seinen vertrauten gehörten? sprach er einiges öffentlich vor allem Volk, einiges aber nur vor denen, deren Zahl dann immer nur klein gewesen sein könnte, denen er sich auf eine besondere Weise vertraute? Wir wissen nichts von einem solchen Geheimniß; denn das tiefste und verborgenste seiner Lehre, wie wir aus den folgenden Berichten unseres Evangelisten sehen werden, hat er eben so oft geredet vor der großen Schaar des ganzen Volks als in dem 31–33 Vgl. Joh 6,60.66

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engsten Kreise seiner Jünger. Was heißt es denn also, er habe sich vielen nicht vertraut, die an seinen Namen glaubten? | Wenn wir dies verstehen wollen, so müssen wir von denen, die an den Herrn glaubten um der Zeichen willen, die er that, wegsehen auf diejenigen hin, in welchen der rechte Glaube an ihn erwacht war. Einen solchen Glauben haben wir schon gesehen in der Erzählung des Evangelisten selbst, wo er seinen und der andern Jünger Glauben an den Herrn darstellt. Sie glaubten an ihn ohne ein Zeichen, sondern nachdem Johannes sie auf ihn hingewiesen hatte als auf denjenigen, auf welchen seine Verkündigung sich bezog: so erkannten sie, daß er das Ziel aller Hoffnungen des Volks und die Seele des ganzen menschlichen Geschlechts sei, und wurden voll der Ueberzeugung, die sich in den Worten aussprach, Wir haben den Messias gefunden. Und was sagte er da zu ihnen als solchen, denen er sich besonders vertraute? Wahrlich, ich sage euch, von nun an wird es geschehen, daß ihr werdet den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf- und herabfahren auf des Menschen Sohn. Ein anderes Geheimniß giebt es nicht zwischen dem Erlöser und denen, die wahrhaft an ihn glauben; aber alle diejenigen, deren Glaube nur auf äußere Zeichen gerichtet ist und darauf ruht, haben keinen Theil an jenem Geheimniß. Ein anderes Geheimniß giebt es nicht als dies, daß er vom Vater in die Welt gesandt sei, daß er nichts von sich selbst thue, sondern nur was er von dem Vater gesehen hat, und daß er nichts anderes rede, als was er von dem Vater gehört hat, und daß er gesandt sei um die Seelen der Menschen frei zu machen. Laut verkündigte er das, aber freilich es ward nur denen klar, die den rechten Glauben an ihn wenigstens als den ersten Anfang des innern Lebens in ihr Herz aufgenommen hatten; denen nur konnte er sich vertrauen, denen konnte das offenkundige Geheimniß klar und begreiflich werden, daß durch ihn die Verbin|dung zwischen dem Himmel und der Erde gestiftet sei, die nur erfuhren in sich selbst das göttliche seiner Reden, die himmlische Weisheit seiner Lehre und die Herrlichkeit seines ganzen Wesens. Und so konnte er sich nur denen vertrauen, welche auf diese innerliche Weise deshalb, weil die Bedürfnisse ihres Herzens durch ihn befriedigt wurden, an ihn glaubten. Und, m. g. Fr., dieser Unterschied besteht noch immer; noch immer giebt es solche, von denen man nicht anders sagen kann als daß sie nur in einem äußern Sinne an seinen Namen glauben, weil sie nur auf die Zeichen sehen, die der Erlöser gethan hat; und es gehen auch nicht alle von dieser Art hinter sich, sondern sie bleiben in diesem Glauben; und indem sie ihn haben, so ist er ihnen doch das liebste in ihrem Leben und noch das tiefste in ihrer Seele. Aber doch giebt es viele von diesen, von denen man sagen 8–10 Vgl. Joh 1,29–37 8,28.38; 12,50; 14,10

12–13 Joh 1,41

14–16 Joh 1,51

20–22 Vgl. Joh 5,19;

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muß, der Herr vertraut sich ihnen nicht. Nicht als ob er nicht wollte, sondern es liegt in der Natur der Sache, daß der Herr nur in so fern dem Menschen seine Herrlichkeit offenbaren kann, als dieser ihm sein innerstes Gemüth geöffnet hat. Je mehr dies der Fall ist, je mehr der Mensch dem Erlöser die unumschränkte Herrschaft über seine Seele eingeräumt hat, je mehr alle seine Gedanken auf den einen Punkt gerichtet sind, daß nur diejenigen den Herrn schauen, die nichts äußeres bei ihm suchen, sondern das innerste und höchste Leben des Geistes: desto mehr kann das hervorgehen in ihm, was von Anfang an der Erfolg gewesen ist der Wirksamkeit des Erlösers in den Herzen des Menschen, nämlich die innigste Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater durch ihn. Er verschweigt es nicht, sondern jeder kann es sehen, was von Anfang an durch sein Dasein in der christlichen Kirche gewirkt worden ist und an denen, die zu seinen vertrauten gehören; aber wahrnehmen kann es nur der, welcher an den Herrn glaubt nicht um der Zeichen willen, die er thut, sondern von dem innersten Bedürfniß seines Herzens getrieben. Und ein solches Verhältniß des Vertrauens | zwischen dem Erlöser und der menschlichen Seele kann nur gestiftet werden durch innere Erfahrung. Nur diejenigen also, die recht viel davon wollen und dabei wissen, daß sie es durch sich selbst nicht haben, nur die, welche sich nicht bei dem begnügen, was mit dem Glauben an die geschichtlichen Zeichen des Erlösers schon zusammenhängt, sondern die ihn beim Wort halten, daß ihnen dies werden soll den Himmel offen zu sehen und die Engel Gottes hinauf- und herabsteigen auf des Menschen Sohn, und die sich an das Leben halten, welches er denen geben wird, die in der That und Wahrheit nach dem ewigen Leben suchen, von welchem er sagt, daß die es schon haben, welche auf die rechte Weise an ihn glauben, die ihn so beim Worte halten und alles von ihm nehmen, was er ihnen geben will und kann, Gnade um Gnade aus seiner unendlichen Fülle: denen offenbart er dann seine Herrlichkeit als die des eingebornen Sohnes vom Vater, mit denen knüpft er das geistige Band des Vertrauens, denen giebt er die Seligkeit in dem Bewußtsein ihrer Gemeinschaft mit Gott, und die haben in dem Glauben an ihn das ewige Leben. Aber wenn der Evangelist sagt, Der Herr wußte schon von selbst und ohne irgend ein menschliches Zeugniß, was in dem Menschen ist: so geht das nicht nur darauf, daß eben deswegen auch er nur denen, die ihm von ganzem Herzen vertrauen, nur denen, bei denen der Glaube an ihn das innerste Bedürfniß des Gemüths ist, die Herrlichkeit des Herrn ganz offenbart, sondern auch darauf, daß wir alle und jeder einzelne für sich nur bei 36 ganzem] ganzen 22–23 Vgl. Joh 1,51 Joh 1,14

25–26 Vgl. Joh 5,24

27–28 Vgl. Joh 1,16

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ihm recht erfahren können, was in uns und an uns ist. Nur aus dem rechten Verhältniß, in welchem wir uns gegen den Erlöser befinden, nur aus dem fleißigen Hineinschauen in sein Bild, welches uns in der Schrift und in den Erfahrungen unseres eigenen Herzens vor Augen liegt, indem wir die ewige Liebe, mit welcher er das ganze Geschlecht der Menschen umfaßt, und eben so die ewige Wahrheit in ihm finden, womit | er jedes Herz durchdringt, nur dadurch gelangen wir zu der rechten Erkenntniß unser selbst. Und wenn wir, m. g. Fr., Ursache haben uns dessen zu erfreuen, daß wir nicht an ihn glauben um der Zeichen willen, sondern daß das Verhältniß des innigen Vertrauens zwischen uns und ihm fest geworden ist, so laßt uns auch das Wort nicht übergehen, sondern es noch mitnehmen zu unserer Belehrung und Erwekkung, welches uns der Evangelist in diesem lezten Abschnitt seiner Erzählung giebt, und nur von dem Erlöser die rechte Selbsterkenntniß nehmen, die in der That und Wahrheit dem Menschen in dem Streit der sich selbst verklagenden und sich selbst entschuldigenden und rechtfertigenden Gedanken nur dann werden kann, wenn er oft und fleißig in den Spiegel des göttlichen Wortes hineinschaut, nicht um darin diese oder jene einzelne Vorschrift, dieses oder jenes einzelne Gebot des guten und des bösen, dessen was das Reich Gottes fördert, und dessen was demselben widerstreitet, sondern um darin das Bild dessen, der die Quelle aller Wahrheit und also auch der wesentlichsten Wahrheit, der Selbsterkenntniß ist, um dieses immer reiner aufzufinden und immer fester in unser Herz zu verschließen. Je mehr wir so von ihm erfahren, was in uns ist, je mehr wir so von ihm haben und erfahren, desto mehr werden wir von ihm nehmen und empfangen; und so wird der Glaube an ihn immer tiefer gegründet werden in dem innersten unserer Seele, und immer mehr der Herr sich uns vertrauen können. Und so wolle er sich denn mit uns allen immer enger verbinden, und immer tiefer das Verhältniß des Glaubens an ihn und der innigen Liebe zu ihm in unseren Seelen begründen! Amen.

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Am 23. November 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

26. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 6,39–40 a. Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 253–267 (A) Drucktext Schleiermachers; in: Zwey Predigten, 1824, S. 17–31 (B) Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 353–365; 21844, S. 403–415 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 288–298 b. Nachschrift; SAr 104, Bl. 152r–172v; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 136r–136v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Drucktext Schleiermachers 253

Am Todtenfest. Trost und Freude in Bezug auf unsere Entschlafenen. Text.

Johannes 6, 39. 40.

M. a. F. Seit jenen denkwürdigen Jahren, in denen so Viele der Unsrigen bei der glorreichen Vertheidigung des gemeinsamen Vaterlandes ihren Tod fanden, besteht unter uns die Einrichtung, daß wir unser kirchliches Jahr damit beschließen, derer besonders zu gedenken, welche in dem Laufe desselben aus unserer Mitte sind abgerufen worden. Nicht, als ob wir zurückkehren wollten zu jener, ursprünglich gewiß aus reiner frommer Liebe entstandenen, Vorstellung, welcher eben deßhalb auch Wahres zum Grunde liegt, die aber nur in Wahn und Mißbrauch ausgeartet war, als ob wir nämlich unseren Entschlafenen noch könnten eine hülfreiche Hand leisten jenseit des Grabes, als ob Fürbitte und Opfer ihnen könnten zur Milderung und Verbesserung ihres Zustandes gedeihlich seyn; sondern deßwegen feiern wir diesen 4–8 Vgl. Sachapparat zum 29. Dezember 1822; S. 518, Z. 8–9

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Gedenktag, damit, wie zu allgemeiner Erbauung auch damals auf so herrliche Weise geschah, und wie es dem Verbande der Christen so sehr geziemt, der Schmerz, den die Einzelnen empfinden über den Verlust, welchen der Herr einen Jeden in seinem nächsten Kreise hat erleiden lassen, ein Allen gemeinsamer werde, und damit wir uns dabei unter einander trösten und aufrichten mit den herrlichen Verheißungen der Schrift. | Diese finden wir nun in den eben verlesenen Worten des Erlösers. Es giebt unter seinen Reden über diesen Gegenstand mehrere, bei denen man zweifelhaft seyn kann, ob er von der leiblichen Auferstehung redet, oder von dem Erwachen aus dem geistigen Tode zu dem neuen von ihm ausgehenden geistigen Leben. Diese uns von Johannes aufbewahrten Worte aber sind in dieser Hinsicht vollkommen klar, da der Herr Beides deutlich unterscheidet und besonders aufführt, zuerst das ewige Leben, welches diejenigen schon haben, welche den Sohn sehen, und an ihn glauben, und dann das Auferwecktwerden am jüngsten Tage, wovon er auch vorher schon geredet und welches er ihnen als etwas Zukünftiges verheißt. So laßt uns denn diese Worte des Erlösers näher in Betrachtung ziehen, und uns durch sie unter einander erwecken, nicht nur zum Troste, sondern auch zu einer recht christlichen Freude an unsern Entschlafenen. Wir finden aber hier zwei Verheißungen, und, wie der Herr sich selbst ausdrückt, zwei Willensmeinungen seines Vaters im Himmel, die er uns hier eröffnet; die eine schließt den Grund in sich zu einer allgemeinen Freude an allen unsern Entschlafenen ohne Unterschied, die zweite zu einer besonderen noch höheren Freude an einem von ihm besonderes bezeichneten Theile derselben. Darauf laßt uns miteinander unsere christliche Aufmerksamkeit teilnehmend richten. Nur freilich ehe wir unsere Betrachtung wirklich beginnen, müssen wir uns zuvor darüber verständigen, daß es wirklich Zweierlei ist, was der Herr in den verlesenen Worten sagt, zuerst: „das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere von Allem, das er mir gegeben hat; sondern daß ich es auferwecke am jüngsten Tage“; und dann unmittelbar darauf: ,,das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn siehet, und glaubet an ihn, habe das ewige Leben.“ Daß nun der Sendende, von dem er zuletzt redet, derselbige ist, den er vorher den Vater nennt, der ihn gesandt habe, das versteht sich gewiß von selbst. Wenn er aber hinzufügt: „daß, wer den Sohn siehet, und glau|bet an ihn, habe das ewige 1 allgemeiner Erbauung] A: allgemeinerErbauung 17 Vgl. Joh 5,21.24–29

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Am 23. November 1823 vormittags

Leben, und er werde ihn auferwecken am jüngsten Tage“: so wäre wohl schwerlich einzusehen, warum der Herr sich so unmittelbar sollte wiederholt haben, wenn er nicht etwas Anderes verstände unter dem Ausdruck: „Wer den Sohn siehet und glaubet an ihn“, als unter dem: „Alles, was mir der Vater gegeben hat“, und eben so etwas Anderes unter dem: „daß dieser habe das ewige Leben“, als unter jenem: „daß ich nichts verliere von dem, was mir der Vater gegeben hat.“ Der Erlöser also, m. g. F., unterscheidet diejenigen Seelen, welche, indem sie an ihn glauben, in dem höchsten und engsten Sinne des Wortes, sich ihm selbst gegeben haben, von denjenigen, welche erst der Vater ihm gegeben hat; und eben darum meine ich, was er zuerst sagt, das giebt uns die Aufforderung zu einer allgemeinen Freude in Beziehung auf alle unsere Entschlafenen; was er aber hernach sagt, zu einer besonderen Freude an denjenigen, welche in dem lebendigen Glauben an ihn gelebt, und nach seiner Verheißung hier schon das ewige Leben genossen haben.

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I. Was nun das Erste betrifft, so ist es ja gewiß unser gemeinsamer Glaube: daß alle diejenigen, welche durch das heilige Wasserbad der Taufe in die Gemeine der Christen aufgenommen worden, auch gleichsam von dem Vater selbst dem Sohne gegeben sind. Und ganz vorzüglich sage ich das auch von unsern Kindern, welche wir, nach der uralten Sitte der christlichen Kirche, schon in ihren ersten Lebenstagen auf diese Weise in die Gemeine der Christen aufnehmen. Dem Herrn weihen wir sie in diesem heiligen Sakrament zum Eigenthum, in christlichem Gebet und Flehen, und betrachten sie schon von diesem Augenblicke an als die Seinigen. Fragen wir nun, in welchem Sinne aber giebt doch der Vater dem Sohne alle diejenigen, die so, wenn wir auch sagen wollten, nur in die äußere Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen sind; so ist uns wohl daran kein Zweifel, er giebt sie ihm, damit er sein Werk an ihnen beginne und immer weiter fördere, er giebt sie | ihm zu der Bearbeitung des göttlichen Geistes, welchen uns eben der Sohn von dem Vater erbeten, und den der Vater ausgegossen hat, auf daß er den Sohn in seiner Gemeine verkläre. Und daran zweifeln wir auch nicht in Hinsicht unserer Kinder; sondern eben deßwegen, weil die väterliche und mütterliche, die freundschaftliche und geschwisterliche Liebe, von der sie umgeben sind, und die unausgesetzt auf sie einwirkt, eine christliche Liebe ist, glauben wir, daß gleich vom Anfange ihres Lebens auch die Bearbeitung des Geistes für das in Christo uns gewordene Heil an ihnen beginnt. Alle 5–6 Anderes] A: Andederes

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diese also sind es, die der Vater dem Sohne gegeben hat, und von ihnen Allen erklärt er uns nun hier zu unserm Troste und zu unserer Erquickung: es sey der Wille des Vaters, der ihn gesandt hat, daß er nichts verliere von alle dem, was der Vater ihm gegeben hat. „Nichts verliere“ also offenbar in Beziehung auf denselben Zweck, zu welchem sein Vater sie ihm gegeben hat. Das ist also der Wille des Höchsten, welcher, so sagt uns der Herr, zuerst in diesen Worten kund macht, daß von allen den Seelen, welche der Vater ihm einmal gegeben hat, um sie seines Heiles theilhaftig zu machen, er aus dieser Bearbeitung des göttlichen Geistes keine verlieren solle. Und indem er nun hinzufügt: „sondern daß ich sie auferwecke am jüngsten Tage,“ so will er dadurch ausdrücklich sagen, daß er auch durch den Tod keine von ihnen aus diesem Zusammenhange, in welchen sie Gott einmal mit ihm und seinem Erlösungswerke gesetzt hat, verlieren, und daß er sie am jüngsten Tage auferwecken werde. Also auch wozu anders auferwecken, als um das begonnene Werk des Heils an ihnen weiter zu fördern, und zu der seligen Vollendung zu bringen, die er das Haben des ewigen Lebens nennt. M. a. F., von Allen, welche in dem Laufe eines Jahres dieses irdische Leben verlassen, sind ein großer Theil, ja wohl die ganze Hälfte, nach der Ordnung Gottes, welche in dem menschlichen Geschlechte hier auf Erden besteht, solche junge Seelen, in denen, weil ihr Geist seine gehörige Entwickelung noch nicht erhalten hat, der Glaube an den Erlöser auch noch | nicht hat lebendig werden können. Ehe das Auge des Geistes ihnen so weit eröffnet worden ist, daß sie haben in ihm schauen können die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, schließen sie das leibliche Auge schon wieder für das irdische Licht und das irdische Leben. Der Herr aber giebt uns die Verheißung, das geistige Auge, welches bestimmt ist, ihn zu erblicken, bleibe nicht auf immer geschlossen; das Herz, welches bestimmt ist, ihm in Glauben und Liebe entgegen zu schlagen, dieses geistige Herz bleibe nicht auf immer erstarrt, sondern der Wille des Vaters sey, daß auch durch diese große Einrichtung der Natur, menschlichen Kräften unüberwindlich, und nach welcher der Herr einem Jeden im Einzelnen, und so auch dem Geschlechte der Menschen im Großen, seine Tage gezählt hat, keine von den ihm gegebenen Seelen solle verloren gehen, noch er sein wohlerworbenes Recht an sie verlieren. M. g. F., wenn wir einen neuen Ankömmling in diesem irdischen Leben, unserer Liebe und unserer Pflicht besonders anvertraut, willkommen heißen: was 29 erblicken,] B: erblicken 37 Recht an sie] im Sinne von: Recht an ihnen 25–27 Vgl. Joh 1,14

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meinen dann die Entzückungen unseres Herzens? was rührt uns so tief und wunderbar? Was anders als dieses, daß da eine Seele ist, in der wir den göttlichen Keim sollen entwickeln helfen, der noch in ihr schlummert, die wir sollen auf der einen Seite, so viel wir können, vor den Verirrungen des Lebens bewahren, die auch für sie zu besorgen sind, auf der andern Seite aber vorzüglich dafür sorgen, daß sie so zeitig als möglich Den erkennen und finden lerne, durch welchen sie allein jenes ewige Leben besitzen kann, zu welchem sie bestimmt ist. Darauf ist von Anbeginn unsere Liebe gerichtet, und von Freude und Dankbarkeit werden wir in dem Maße bewegt, als wir bemerken können, daß dieses Werk gedeiht und gefördert wird, von Sorge und Schmerz hingegen, wenn es stockt oder zurück zu schreiten scheint. Wenn nun ein großer Theil dieser jungen Seelen noch in dem ersten Anfange des Lebens, wo Eltern und Pfleger dem Anscheine nach wenig mehr haben leisten können, als nur das leibliche und irdische Leben schützen und entwickeln, und den ersten Keim der Liebe, in welchem das Sinn|liche noch sehr mit dem Geistigen gemischt, und dieses noch Jenem untergeordnet erscheint, diesen doch als das Beste in ihnen zu pflegen und zu bewahren, in der Hoffnung, daß ein noch erfreulicheres Leben bei der allmähligen Entwickelung des geistigen in ihnen aufgehen werde; wenn ein großer Theil von ihnen, sage ich, noch ehe diese schöne Hoffnung anfangen konnte, in Erfüllung zu gehen, aus dem Gebiete unserer Sorge hinweggerückt, und den Bemühungen unserer Liebe entrissen wird: o welch ein Trost, daß der Herr sagt: er solle nach dem Willen seines Vaters nichts verlieren von alle dem, was dieser ihm gegeben hat; auch das Kleinste also nicht, auch das nicht, was noch nicht einmal angefangen hat und noch nicht anfangen konnte, die Bahn seines Heils zu betreten. Aber, m. F., auch nicht an Allen, welchen das Leben länger bewahrt wird, gehen jene schönen Hoffnungen in Erfüllung. Auch noch mitten in der Fülle des Lebens und der Kraft zeigen sich Viele unter uns so, daß wir nicht recht wissen, ob wir wohl das Wort des Herrn auf sie anwenden dürfen: daß wer an ihn glaubt, das ewige Leben schon hat; ja gar Manche durchwandeln den größten Theil ihrer irdischen Laufbahn so, daß sie zwar allerdings, weil sie der äußern Gemeinschaft der Christen angehören, auch der Bearbeitung ihrer Seelen durch das göttliche Wort und den göttlichen Geist, so wie durch den Einfluß christlichen Lebens und christlicher Sitte, nicht ganz entgehen können, – aber indem sie sich dies Alles wenig aneignen, und uns wenig oder gar keine Früchte davon zu Gesicht kommen, so daß ihr Bekenntniß des Erlösers, wenn sie ihn noch irgendwie bekennen, uns als etwas gar Aeußerliches erscheint, weil wir, um nichts Schlimmeres zu sagen, so wenig von seinem Sinn, so wenig Spuren einer lebhaften

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Beschäftigung mit ihm wahrnehmen. Wenn also auch solche, denen es nicht an Zeit gefehlt hat, und denen die Quelle des Heils nicht verschlossen gewesen ist, die aber doch des ewigen Lebens nicht sind theilhaftig geworden, aus diesem Zeitlichen abgefordert werden? – Ja, m. g. F., auch auf diese sollen und dürfen wir das Wort des Herrn | anwenden, welches wir eben betrachtet haben. Auch sie hat der Vater dem Erlöser gegeben, dessen Namen über sie ist angerufen worden, und zu dessen Eigenthume sie geweiht sind; auch sie kann er also und soll er nicht verlieren, weil der Vater sie ihm gegeben hat. Und wahrlich, m. g. F., wenn wir es näher erwägen, werden wir eine gewisse Aehnlichkeit nicht verkennen können zwischen diesen und denen, die schon beim ersten Anfang des Lebens wieder von dieser Erde abgefordert werden; und wenn wir uns diese recht vorhalten, so werden wir die Anwendbarkeit jener Verheißung auch auf solche unserer Brüder nicht bezweifeln können. Wir unterscheiden in dem Menschen an Leib und Seele eine große Mannichfaltigkeit von Kräften und von Vermögen, die Jeder in verschiedenem Maße, aber doch Jeder alle besitzt. Jede derselben hat ihre eigene Geschichte und ihre eigene Entwickelung; in jeder unterscheiden wir das erste Erwachen, gleichsam das kindliche Alter, und dann die Zeit des Wachsthums und der Blüthe, sowie die Zeit, wo sie ihre Früchte bringen soll in dem ganzen Zusammenhange des menschlichen Lebens. Wie diese Kräfte sich nur nach einander entwickeln, so beruhet eben darin der Unterschied, den Gott nach seiner unerforschlichen Weisheit unter die Menschen gesetzt hat, daß in dem Einen die Entwickelung dieser verschiedenen Kräfte rasch auf einander folgt, in dem Anderen die eine hinter der andern zurückbleibt, ja in Jedem wohl manche nie zu ihrer vollen Entwickelung gelangt. Die größte Gabe aber unter allen diesen ist eben jene, an welche allein sich unmittelbar das Heil, welches uns in dem Erlöser gegeben ist, anknüpfen kann, jenes, wenn es einmal erwacht und zum Bewußtseyn gekommen ist, nie wieder ganz zu unterdrückende Selbstgefühl der menschlichen Seele, daß sie zu etwas Höherem bestimmt ist, was sie aber für sich allein und ohne die Hülfe, die uns Gott in dem Erlöser gereicht hat, nicht erreichen kann. Wenn dieses sich zuerst regt und erwacht, zeigt es sich als eine Sehnsucht nach etwas[,] über das gewöhnliche Tichten und die gewöhnlichen Befriedigungen der Men|schen erhaben. Mit dieser Sehnsucht kann die Seele vielleicht noch lange umherschweifen, ehe sie Befriedigung bei Dem findet, der ihr so lange schon nahe gewe37 erhaben] B: Erhabenes

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sen, aber den sie oft erst später erkennt. Sehen wir nun so viele Menschen alle Kräfte des Geistes entwickeln, ihre Blüthe tragen und ihre Früchte, aber diese eine will noch nicht weder zur Blüthe, noch zur Frucht gedeihen: was können wir anders sagen, als: in diesem Sinne sind sie noch Kinder. Sie sind in der Bewußtlosigkeit, in welcher sie in dem ersten Anfange ihres Lebens in Beziehung auf alle ihre verschiedenen Kräfte und auf alle Theile ihrer Bestimmung waren, sich aber hernach herausgearbeitet haben, und zur Besinnung gekommen sind, in derselben Bewußtlosigkeit sind sie in dieser einen Beziehung geblieben, und das irdische Leben hat nicht vermocht, diesen höchsten und edelsten Keim in ihnen zu entfalten. Kinder sind sie also geblieben in dieser höheren Selbsterkenntniß, welche alle Menschen als bußfertige Sünder zu den Füßen des göttlichen Sohnes hinführt, und dies verursacht, daß, wenn sie ihn sehen, sie auch an ihn glauben; Kinder sind sie geblieben in dieser Erkenntniß ihrer selbst und in diesem Streben nach demjenigen, was Gott auch ihnen zum Ziele gesetzt hat, und wie allerlei Unarten immer daraus entstehen, wenn Einer in irgend einer Hinsicht über die Gebühr lange Kind bleibt und unentwickelt, so ist es auch ihnen ergangen, und als solche Kinder verlassen sie nun dieses irdische Leben. Darum, auch sie wird der Herr nicht verlieren, denn der Vater hat sie ihm gegeben, und das ist der Wille dessen, der ihn gesandt hat, daß er nichts verliere von alle dem, was er ihm gegeben hat; auch sie wird er auferwecken am jüngsten Tage, um das Werk, welches hier nicht weiter fortgeschritten ist, nach dem göttlichen Rathschlusse über jede einzelne Seele, und nach Maßgabe dessen, was an sie gebracht werden und in ihr selbst mitwirken muß, dort wieder aufzunehmen und weiter fortzusetzen. Darum wollen wir uns, m. g. F., mit diesem Worte trösten; und wenn wir auf diese Verschiedenheit zwischen denen, welche den Namen der Christen führen, als auf die größte, welche es unter uns geben kann, nicht | ohne ein inniges Mitgefühl und einen teilnehmenden Schmerz hinsehen, so soll dieser Schmerz sich verlieren, indem wir auf die Macht vertrauen, welche der Vater dem Sohne gegeben hat. Denn daran dürfen wir nicht zweifeln, daß das wahr sey, was er als den Willen des Vaters, der ihn gesandt hat, so bestimmt ausspricht; und am Wenigsten mögen wir ja wohl, wir, die wir ein Herz voll Verlangen und voll Glauben an ihn in uns tragen, am Wenigsten mögen wir dann zweifeln, wenn er die theuerste Hoffnung, die irgendwie in allen Geschlechtern der 1–2 so viele Menschen alle Kräfte des Geistes entwickeln] B: in so vielen Menschen alle Kräfte des Geistes sich entwickeln 3 eine] fehlt in A

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Menschen erwacht ist, und sich fortgepflanzt hat, als einen besondern Theil dessen, wozu der Vater ihn gesandt hat, so aneignet, daß er uns versichert, eben deßwegen werde er Alle die, welche ihm der Vater gegeben hat, auferwecken am jüngsten Tage, weil er nichts verlieren soll von dem, was er ihm gegeben hat. Und weil der Herr mit dem menschlichen Geschlechte, zu dessen Heil er gesandt ist, auf eine so unzertrennliche Weise zusammenhängt, nicht nur in diesem irdischen Leben, sondern für den ganzen Umfang der Bestimmung der vernünftigen, unsterblichen Seele, so dürfen wir das Eine, auch wo es uns betrübt, nicht ohne das Andere betrachten; und wenn uns die menschliche Schwachheit und Rohheit, Gebrechlichkeit und Unbildsamkeit, auf der einen Seite niederbeugt, so ermuthigt uns auf der andern Seite die Macht dessen, der der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist, so wie die göttliche Verheißung, daß, was ihm der Vater einmal gegeben hat, er nicht verlieren soll, bis es sich selbst ihm ganz und vollkommen giebt, und in diesem vollkommenen Hingeben das ewige Leben findet. Wenn uns nun aber dieses Wort des Herrn beruhigt, m. g. F., so wollen wir uns auch daran genügen lassen, und nicht weiter forschen nach dem, was uns nicht nöthig ist zu wissen zu unserm Trost und unserer Beruhigung. Wenn die Jünger des Herrn neugierige Fragen an ihn richteten, neugierig eben deßhalb nur, weil sie außer dem Bezirke ihres Berufs und ihrer Thätigkeit lagen: so pflegte er nur, wie wir wissen, zu ihnen zu sagen: das gebühret euch nicht zu wissen, das hat der Vater | ihm allein vorbehalten. Das mögen wir auch auf uns anwenden, und uns gesagt seyn lassen. Wenn uns gelüstet nach einer genauen Erkenntniß, sey es nun überhaupt von dem, was zwischen dem Entschlafen für diese Welt und dem Auferwecktwerden am jüngsten Tage liegt, oder insbesondere von dem Unterschied zwischen der Art und Weise, wie der Herr diejenigen, die er nur deßhalb nicht verlieren darf und kann, weil der Vater sie ihm Alle gegeben hat, dem Ziele ihrer Bestimmung näher bringen werde, und der Art, wie diejenigen, welche sich ihm selbst schon gegeben haben, nach seinem Gebote und nach seiner Verheißung mit ihm seyn werden immerdar; wenn wir nach einer deutlichen Erkenntniß von diesem Unterschiede streben, so wollen auch wir uns sagen: Art und Weise hat der Vater ihm selbst, seiner Macht und seiner Weisheit allein, vorbehalten. II. Darum aber bleibt es eine vorzügliche Tröstung, die uns der Herr giebt, ja wir dürfen sagen, eine besondere Freude, zu der er uns be13 Vgl. Hebr 12,2

24–25 Vgl. Apg 1,7

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rechtiget in der zweiten Verheißung, welche er hier ausspricht, indem er sagt: das ist der Wille dessen, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn siehet und glaubet an ihn, habe das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage. Daß nun das ewige Leben hier als das gegenwärtige unterschieden wird von der Auferweckung am jüngsten Tage, als einem noch bevorstehenden, darauf habe ich vorher schon aufmerksam gemacht. Doch wahrlich, daß der Erlöser uns das ewige Leben nicht etwa nur verheißen, sondern auch wirklich gegeben hat, und daß er also auch in den Worten unseres Textes die Seinigen in dieser Hinsicht nicht nur auf die Zukunft nach dem Tode hat vertrösten wollen, sondern den wirklichen und gegenwärtigen Besitz angedeutet hat, wie er dasselbe sehr bald darauf1 noch einmal wiederholt, den sie ihm hier schon verdanken sollen: das braucht allen denen nicht erst bewiesen zu | werden, die Ihn und an Ihm die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erkannt und an ihn geglaubt haben. Ja wir dürfen es sagen, wie der Erlöser schon auf dieser Erde ein ewiges Leben führte, vermöge der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, und weil der Vater ihn nicht allein ließ: so führen auch alle die ein ewiges Leben, die mit ihm eins geworden sind, wie er es mit dem Vater ist, und in deren Herzen er eingekehrt ist, um mit dem Vater Wohnung darin zu machen. Denn diese werden nicht mehr von etwas Vergänglichem und Sinnlichem getrieben, sondern es ist eine unvergängliche Kraft, die eine sich immer gleichbleibende Liebe, von welcher Alles ausgeht, und welche ihr ganzes Leben leitet, ihre ganze Seele erfüllt, und Alles in derselben ihrer ewigen Ordnung unterwirft. Und wie es dem ewigen Leben Gottes ohne Nachtheil geschieht, daß seine ewigen Rathschlüsse auf zeitliche Art in Erfüllung gehen, und die von ihm erschaffene Welt sich in der Zeit bewegt: so schadet es auch unserm ewigen Leben nicht, daß, was aus dem Innern hervorgeht, Gedanken und Handlungen, zeitlich sind und vorübergehen, und wir für die Zeit auch Zeitliches schaffen und wirken. Ja auch, wenn uns durch Gottes Gnade bei zunehmender Heiligung der Glaube immer stärker wird im Ertragen und Ueberwinden, und die Liebe sich

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Vers 47

5 Auferweckung] A: Aufforderung wir] A: uud wir 34 Vers] Vers,

30–31 Handlungen,] A: Handlungen

14–15 Vgl. Joh 1,14 17–18 Vgl. Kol 2,9 20 Vgl. Joh 17,21 20–21 Vgl. Joh 14,23

18 Vgl. Joh 8,29; 16,32

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immer reiner zeigt in duldender Nachsicht und in inniger Anfassung und Unterstützung Anderer: so gemahnt uns auch das nicht eigentlich als eine neue Gabe oder eine Veränderung im innern Menschen, sondern es ist immer dasselbe Innere, was nur kräftiger heraustritt und sich offenbart. Und, damit wir auch das nicht verschweigen, selbst wenn wir noch Anfechtungen von der Sünde erleiden, und Nachwirkungen fühlen von den tadelnswerthen Gewohnheiten des früheren Lebens, – wenn nur die Betrübniß, welche zur Seligkeit führt, uns frei darstellt von aller Freude an dem Verderblichen, wenn nur der inwendige Mensch das Wohlgefallen unverrückt festhält an dem Gesetze Gottes: so bleibet auch dabei unser Inneres aufgenommen in die Gemeinschaft des ewigen Lebens. Ja, besinnen wir uns recht, wie sich dieses innerliche | reine Leben zu dem äußerlichen zeitlichen verhält: so finden wir noch mehr Gewährleistung dafür, daß wirklich das Zeitliche vergangen ist, und ein neues Geschöpf an’s Licht getreten. Denn sehen wir auf die Vergangenheit, so finden wir, daß die ganze Zeit, mag sie nun lang oder kurz gewesen seyn, ehe wir in diesen lebendigen Zusammenhang mit dem Erlöser und seinem Werke aufgenommen waren, uns seitdem immer mehr in den Hintergrund zurücktritt und als ein Fremdes erscheint. Sehen wir aber auf die Gegenwart und die Zukunft, so wird Alles, was uns von außen bewegt, wie sehr es sonst der Gegenstand unserer Sorge und Theilnahme war, uns immer mehr gleichgültig, weil wir wissen, daß in Allem, im Leid wie in der Freude, in bösen wie in guten Tagen, das ewige Leben, an welchem wir jetzt allein hängen, sich immer gleich gut und kräftig wird offenbaren können. Ist nun dem Ewigen allein unsere Liebe und Aufmerksamkeit zugewendet, sind wir immer des Einen und sich überall Gleichen voll, und unterwirft dieses seiner Ordnung alles Andere: so ist auch unser Leben kein zeitliches mehr, sondern das ewige. Wenn nun unsere Lieben abgerufen werden im Genuß dieses ewigen Lebens: was könnte uns wohl ihretwegen beunruhigen oder betrüben, so wir doch wissen, daß der Herr sie auferwecken wird am jüngsten Tage? Denn anders kann er sie doch nicht erwecken und seinem Vater darstellen, als sie sind, also im Besitze des ewigen Lebens! Gnade um Gnade haben sie schon empfangen aus seiner Fülle, und was ihre ist, kann Niemand von ihnen nehmen. Zur Freiheit der Kinder Gottes sind sie schon hindurchgedrungen durch den, der allein uns Alle recht frei machen kann, und die muß ihnen bewahrt bleiben. 23 in Allem,] A: in Allem 8 Vgl. 2Kor 7,10

35 Vgl. Joh 1,16

37–38 Vgl. Joh 8,36

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Wenn also gleich geschrieben steht: daß uns noch nicht erschienen ist, was wir seyn werden, – so wissen wir doch, daß ihnen und uns nichts wesentlich Neues gegeben werden kann. Es ist gewiß dieselbe Seligkeit des Glaubens und der Liebe, dieselbe geistige Gegenwart des Erlösers in der Seele, die etwas weit Höheres und Herrlicheres ist, als irgend ein leibliches Zusammenseyn mit ihm | gewesen seyn kann, dieselbe lebendige Erkenntniß des Sohnes und des Vaters in dem Sohne; denn diese Liebe und diese Erkenntniß, weil sie kein vergängliches menschliches Stückwerk sind, müssen ewig bleiben. Wissen wir nun dieses, und wir haben das feste Vertrauen, daß der Zusammenhang, in welchem wir mit unseren so Entschlafenen durch den Erlöser stehen, der in ihnen, wie in uns, und für sie, wie für uns, die Quelle desselbigen ewigen Lebens ist, ungestört derselbe bleibt: was sollte uns wohl hindern, über alle die Entschlafenen, die uns, so lange sie hier auf Erden wandelten, erquickt und uns vorgeleuchtet haben, ganz die reine Freude zu empfinden, zu welcher der Herr uns durch sein Wort erwekken will? oder was für eine Kunde über sie sollte uns wohl noch fehlen? Wahrlich ich wüßte nicht, in welcher Hinsicht wir in Bezug auf sie nöthig haben sollten, uns mit den Worten, daß der Vater Zeit und Stunde, oder Art und Weise vorbehalten habe, zur Genügsamkeit einzuladen. Das Wesen der himmlischen Güter haben wir mit ihnen gemein in demselben Glauben und derselben Liebe; das edelste Kleinod unserer Entschlafenen ist uns nicht fremd oder unbekannt, sondern wir besitzen es, wie sie. Wie aber der Schauplatz seyn mag, auf welchem sie dieses ewige Leben fortführen, ob und wann es nach unserer zeitlichen Weise beginnen, ob und was sie zeitlich und äußerlich bewegen und auffordern wird, ob wir davon viel oder wenig wissen, kann uns eben so gleichgültig seyn, als dasselbe uns in Bezug auf uns selbst auch hier schon gleich gilt, ob es so ist, oder so. Darum, m. g. Fr., kann es über diese unter unsern Brüdern, wenn sie nach dem Rathschlusse Gottes von uns genommen sind, eigentlich keinen Schmerz geben und keine Thräne. Wir folgen ihnen nach, und ihr Andenken bleibet im Segen. Wir folgen ihnen nach mit heitern Blicken des Glaubens und der Liebe, freudig dankbar, daß der Herr sie das Ewige hier schon hat finden lassen; ihr Andenken bleibet im Segen unter uns, weil es uns immer wieder zurückführt auf dasjenige, was | ihr höchstes Gut schon in diesem Leben gewesen ist, und ihnen auch genügen wird in jenem. Aber, m. Gel., über kurz oder lang werden auch wir unter diejenigen gehören, derer man im Stillen gedenken wird, wenn dieser Tag 1–2 Vgl. 1Joh 3,2

19–20 Vgl. Apg 1,7

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wiederkehrt. Wenn denn doch die Ruhe und die Freude soviel größer ist, womit wir derer gedenken, deren Glauben wir erkannt haben, und aus deren zeitlichem Leben uns das ewige entgegengeleuchtet hat: möchten wir dann doch der zärtlichen Liebe derer, unter welchen und für welche wir leben, keinen Zweifel darüber zurücklassen, ob auch wir das ewige Leben schon gefunden und besessen haben, keine Besorgniß, ob wir noch etwa unbewußte Kinder geblieben sind, in denen das Höchste des menschlichen Daseyns noch nicht entwickelt war, oder kränkliche Kinder, die auch der lauteren Milch des Evangeliums keinen Geschmack abgewinnen, noch sie zur ersten Nahrung des geistigen Lebens verwenden konnten! Möchte unser ganzes Leben darauf berechnet seyn, Allen, die uns angehören, von der Freude an dem ewigen Leben, die Jeder empfinden muß, wo er es erblickt, einen reinen und vollkommenen Genuß zu geben! Dadurch allein können nicht nur wir selbst uns, so lange wir hier auf Erden wallen, über allen Wechsel des Irdischen erheben und in der Seligkeit fest gegründet bleiben; sondern dieses allein kann auch, wenn wir von hinnen gehen, diejenigen, welche wir zurücklassen, vollkommen trösten über uns, und ihnen allen irdischen Schmerz ersparen. Allein nicht nur an uns selbst wollen wir redlich das Unsrige thun, sondern auch an denen, unter welche uns Gott gesetzt hat, arbeiten, damit Alle, die noch nicht zum vollen Bewußtseyn ihrer selbst und ihrer höchsten Bestimmung gekommen sind, zu der Erkenntniß gelangen, welche sie natürlich dazu bringen muß, auch den Erlöser zu finden und anzuerkennen. Denn daß Alle, welche ihm schon vom Vater gegeben sind, nun auch sich selbst ihm hingeben in wahrem lebendigem Glauben, und so dieser Unterschied immer mehr verschwinde in dem Umfange der Christenheit, vielmehr Alle, welche unter uns entschlafen in einem solchen Lebensalter, in welchem | der Glaube an den Erlöser schon konnte in der Seele hervorgerufen werden, auch das ewige Leben, das dieser gewährt, schon mögen genossen haben, damit wir Allen gleich getröstet und erfreut nachsehen können, – dieses zu bewirken, m. gel. Fr., ist das seligste und herrlichste Werk der christlichen Liebe. Amen. Ja heiliger, barmherziger Gott und Vater! wir ehren in tiefer Demuth deine unerforschliche Weisheit, welche Jedem die Tage seines Lebens gezählt und geordnet hat. Und wenn, bevor sie abge6 haben,] B: haben;

24 dazu] B: dahin

7 unbewußte] A: unbewußt

26 lebendigem] A+B: lebendigen

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laufen sind, der Eine dem gemeinschaftlichen Ziele unserer Bestimmung näher gekommen ist, und der Andere minder: so vertrauen wir dir doch in kindlicher Zuversicht Alle an, welche du von diesem Schauplatze abrufst, und glauben fest, daß du, der du deinem Sohn alle Gewalt gegeben hast im Himmel und auf Erden, auch dafür zu sorgen weißt, daß er nichts verliere von Allem, was du ihm gegeben hast, wie denn keiner deiner ewigen und seligen Rathschlüsse unerfüllt bleiben kann. Ja, du wirst durch ihn und um seinetwillen Alle zur Seligkeit führen, wie wir wissen, daß du deinen Sohn in die Welt gesandt hast, nicht daß er die Welt richte, sondern daß er sie selig mache. Uns Allen aber, die wir noch auf Erden wallen, gewähre du einen immer reichern Genuß des ewigen Lebens in der Uebereinstimmung mit dem, den du geliebt hast, und in dem du auch uns liebest. Laß uns Leid und Schmerz, wie Freude und Ruhe, dazu gedeihen, daß dieses Leben in uns erstarke, und die Kraft gewinne, durch welche es uns den Tod und die Schrecken des Todes überwindet. (Folgen die gewöhnlichen Fürbitten.) Amen.

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Schl.

b. Nachschrift 152r

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Predigt am Todtenfeste am sechs und zwangzigsten Sonntage nach Trinitatis 1823. | Tex t. Johannes VI, 39 und 40. Das ist aber der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere von allem, das er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwecke am jüngsten Tage. Das ist aber der Wille deß, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn siehet, und glaubet an ihn, habe das ewige Leben, und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage. M. a. F., Seit den denkwürdigen Jahren, wo so Viele unserer Angehörigen zum Besten des gemeinsamen Vaterlandes sich hingaben, besteht unter 12 reichern] B: reicheren

19 Schl.] fehlt in B

5 Vgl. Mt 28,18 9–11 Vgl. Joh 3,17 ber 1822; S. 518, Z. 8–9

29–3 Vgl. Sachapparat zum 29. Dezem-

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uns die Einrichtung, daß wir allemal unser kirchliches Jahr damit beschließen, derer besonders zu gedenken, welche in dem Laufe desselben aus unserer Mitte sind abgerufen worden. Nicht als ob wir | zurückkehren wollten zu jener ursprünglich gewiß aus reiner und wahrer Liebe entstandenen Vorstellung, und in welcher so viel Wahres enthalten ist, die aber doch nachdem so häufig ist gemißbraucht worden, als ob wir nämlich unseren Entschlafenen noch könnten eine hilfreiche Hand leisten jenseit des Grabes, als ob Fürbitte und Opfer ihnen könnten etwas Gedeihliches sein; sondern deswegen, damit immer mehr, wie es damals in einem so hohen Grade Statt fand, der Schmerz, den wir einzeln empfinden über den Verlust, welchen der Herr einen jeden hat erleiden lassen in seinem nächsten Kreise, ein gemeinsamer werde, und damit wir uns dann unter einander trösten und aufrichten mit der herrlichen Verheißung der Schrift. Diese finden wir nun in den eben verlesenen Worten | des Erlösers. Es giebt unter seinen Reden über diesen Gegenstand mehrere, bei denen man zweifelhaft sein kann, ob er von der leiblichen Auferstehung oder von der geistigen Erwekkung zu dem geistigen Leben rede; die Worte aber, welche Johannes uns hier aufbewahrt hat, sind in dieser Hinsicht vollkommen klar, da der Herr beides unterscheidet, das ewige Leben, welches diejenigen erfahren haben, die den Sohn gesehen haben und an ihn glauben, und das Auferwecktwerden am jüngsten Tage, welches er als etwas Zukünftiges verheißt. So laßt uns denn diese Worte des Erlösers näher in Betrachtung ziehen, und uns gegenseitig erwecken zum Trost und zu einer recht christlichen Freude an unsern Entschlafenen. Es sind aber zwei Verheißungen, und wie der Herr | sich selbst ausdrückt zwei Willensmeinungen seines Vaters im Himmel, die er uns hier eröffnet, die eine schließt den Grund in sich zu einer allgemeinen Freude an alle unsere Entschlafenen ohne Unterschied, die zweite zu einer besondern noch höheren Freude an einen bestimmten Theil derselben. Darauf laßt uns mit einander unsere christliche Aufmerksamkeit theilnehmend richten. Daß es wirklich zweierlei ist, was der Herr in den verlesenen Worten sagt, zuerst: „das ist der Wille des Vaters, der mich gesandt hat, daß ich nichts verliere von allem, das er mir gegeben hat, sondern daß ich es auferwecke am jüngsten Tage“; und dann unmittelbar darauf: „das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, | daß, wer den Sohn siehet, und glaubt an ihn, habe das ewige Leben“: darüber müssen wir uns freilich erst verständigen. Daß nun dieser, von dem er zuletzt redet, derselbige ist, den er vorher den Vater nennt, der ihn gesandt habe, das versteht sich gewiß von selbst. Wenn er aber hinzufügt: „daß, wer den Sohn siehet und glaubet an ihn, habe das ewige Leben, und er werde ihn auferwecken am jüngsten Tage“: so wäre wohl schwerlich einzusehen, warum der Herr sich eben so sollte unmittelbar wiederholt haben, wenn er nicht etwas anderes verstände unter dem Ausdruck: „wer den Sohn siehet und glaubet an ihn“, als unter dem: „alles was mir der Vater gegeben hat“, und etwas anderes unter

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dem: „daß | dieser habe das ewige Leben“, als unter jenem: „daß ich nichts verliere von dem, was mir der Vater gegeben hat.“ Der Erlöser also, m. g. F., unterscheidet diejenigen Seelen, welche, indem sie an ihn glauben, in dem höchsten und engsten Sinne des Worts sich ihm selbst gegeben haben, und diejenigen, welche der Vater ihm gegeben hat; und eben darum meine ich, was er zuerst sagt, das giebt uns die Aufforderung zu einer allgemeinen Freude in Beziehung auf alle unsere Entschlafenen, was er aber hernach sagt zu einer besondern Freude an denjenigen, welche in dem lebendigen Glauben an ihn gelebt und nach seiner Verheißung hier schon das ewige Leben gehabt haben. | I. Was nun das Erste betrifft, so ist es ja gewiß unser gemeinsamer Glaube, daß alle diejenigen, welche durch das heilige Wasserbad der Taufe in die Gemeine der Christen aufgenommen werden, gleichsam von dem Vater selbst dem Sohne gegeben sind. Diesem weihen wir sie in diesem heiligen Sakrament zum Eigenthum, und sehen sie in christlichem Gebet und Flehen schon von diesem Augenblick an als die Seinigen an. Fragen wir nun, in welchem Sinne aber giebt denn nun der Vater dem Sohne alle diejenigen, die so, wenn wir auch sagen wollten nur in die äußere Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden? so ist uns wohl daran kein Zweifel, er giebt sie ihm, damit er sein Werk an ihnen beginne und immer wei|ter fördere, er giebt sie ihm zu der Bearbeitung des göttlichen Geistes, welchen uns eben der Sohn vom Vater erbeten, und der Vater seiner Gemeine gegeben hat, auf daß er den Sohn in derselben verkläre. Und wenn wir, wie es eine uralte Sitte in der christlichen Kirche ist, schon unsere Kinder auf diese Weise in die Gemeine der Gläubigen aufnehmen, so zweifeln wir nicht daran, daß eben deswegen, weil die väterliche und mütterliche, die freundschaftliche und die geschwisterliche Liebe, von der sie umgeben sind, eine christliche Liebe ist, auch schon von dem Anfang ihres Lebens an die Bearbeitung für das in Christo uns gewordene Heil an ihnen beginnt. Alle diese also sind es, die der Vater dem Sohne gegeben hat, und er erklärt uns nun | hier zu unserem Troste und zu unserer Erquickung, es sei der Wille des Vaters, der ihn gesandt hat, daß er nichts verliere von alle dem, was der Vater ihm gegeben hat, nichts verliere also offenbar in Beziehung auf denselben Zweck, zu welchem sein Vater sie ihm gegeben hat. Es ist also der Wille des Höchsten, so sagt uns der Herr selbst, daß von allen den Seelen, welche er einmal dem Sohn gegeben hat, daß er sie seines Heils theilhaftig mache, er aus dieser Bearbeitung des göttlichen Geistes keine verlieren soll. Und indem er nun hinzufügt: „sondern daß ich es auferwecke am jüngsten Tage“, so will er dadurch ausdrücklich sagen, daß er auch durch den Tod keine von denselben aus diesem Zusammenhange, | in welchen sie Gott einmal mit ihm gesetzt hat, verlieren, und daß er sie am jüngsten Tage

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auferwecken werde. Also wozu anders, als um das begonnene Werk des Heils an ihnen weiter zu fördern, und zu der seligen Vollendung zu bringen, die er das Haben des ewigen Lebens nennt. M. a. F., von allen, welche in dem Laufe eines Jahres dieses irdische Leben verlassen, sind ein großer Theil, ja wohl die ganze Hälfte, nach der Ordnung Gottes, welche in dem menschlichen Geschlechte hier auf Erden besteht, solche junge Seelen, in welchen, weil ihr Geist seine gehörige Entwickelung noch nicht erhalten hat, der Glaube an den Erlöser auch noch nicht hat lebendig werden können. Ehe das Auge des Geistes ihnen | so weit eröffnet worden ist, daß sie haben können in ihm schauen die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater, schließen sie das leibliche Auge schon wieder für das irdische Licht und das irdische Leben. Der Herr aber sagt, das geistige Auge, welches bestimmt ist ihn zu erblicken, das werde nicht auf immer geschlossen; das Herz, welches bestimmt ist ihm in Glauben und Liebe entgegen zu schlagen, dieses geistige Herz bleibe nicht auf immer starr; sondern der Wille des Vaters sei, daß auch durch diese große Einrichtung der Natur menschlichen Kräften unüberwindlich, und nach welcher der Herr einem jeden im Einzelnen, und so auch dem Geschlecht der Menschen im Großen, seine Tage gezählt hat, keine von den | ihm gegebenen Seelen [solle] verloren gehen, und er nicht das wohlerworbene Recht an sie verlieren. Was, m. g. F., was bewegt unser Herz wohl mehr, wenn wir einen neuen Ankömmling in diesem irdischen Leben, unserer Liebe und unserer Pflicht besonders anvertraut, willkommen heißen, was bewegt uns mehr als eben dies, daß es eine Seele ist, die wir sollen dazu geleiten, daß sie, vor den Verirrungen des Lebens möglichst bewahret, so zeitig als möglich den erkennen und finden lerne, durch welchen sie allein das ewige Leben besitzen kann, zu welchem sie bestimmt ist. Darauf ist von Anbeginn unsere Sorge gerichtet, und von Freude und von Schmerz werden wir in dem Maaße bewegt, als wir bemerken, daß unsere Mühe | und unsere Sorge in diesem Stücke gelingt, oder daß das Werk zurück zu schreiten scheint. Wenn nun ein großer Theil noch in dem ersten Anfang des Lebens, wo wir dem Anschein nach wenig mehr haben leisten können, als nur das leibliche und irdische Leben bewahren, und den ersten Keim der Liebe, in welchem das Sinnliche noch sehr mit dem Geistigen gemischt, und dieses scheinbar jenem untergeordnet ist, diesen zu pflegen und zu bewahren, und zu einem erfreulichen Leben in seiner allmäligen Entwickelung gedeihen zu lassen, wenn ein großer Theil, sage ich, nachdem wir kaum noch dieses an ihm haben leisten können, unserer Sorge entrissen wird: o welch’ ein Trost, daß der Herr sagt, er solle nach dem Willen seines Vaters | nichts verlieren von alle dem, was er ihm 14 in] im

20 Recht an sie] im Sinne von: Recht an ihnen

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gegeben hat; auch das Kleinste also nicht, auch das nicht, was noch nicht einmal angefangen hat und hat anfangen können die Bahn des Heils zu betreten. Aber wie, m. g. F., wenn mitten in der Fülle des Lebens und der Kraft so viele unter uns wandeln, von welchen wir nicht wissen, ob wir das Wort des Herrn auf sie anwenden dürfen: „daß wer an ihn glaubt, das ewige Leben schon hat“, wenn so viele noch unter uns wandeln, die zwar allerdings, weil sie der äußern Gemeinschaft der Christen angehören, auch der Bearbeitung ihrer Seelen nicht entgehen können, aber in denen dieselbe wenige oder gar keine Früchte zu bringen scheint, so daß der Zusammenhang, in wel|chem sie mit dem Erlöser stehen, uns mehr als ein äußerlicher erscheint, als daß wir das innere Wesen davon wahrnehmen. Wenn auch solche also, in welchen wir zur Freude unseres Herzens, zur Beruhigung unserer Liebe das ewige Leben, von welchem der Herr redet, nicht haben wahrnehmen können, aus diesem Zeitlichen abgefordert werden: ja, m. g. F., auch auf diese sollen und dürfen wir das Wort des Herrn anwenden, welches er hier gesagt hat; auch sie hat der Vater ihm gegeben, denn sie sind zu seinem Eigenthum geweiht worden, auch sie kann er also und soll nicht verlieren, weil der Vater sie ihm gegeben hat. Und wahrlich, m. g. F., wenn wir es näher erwägen, wird uns auch der Unterschied zwischen ihnen und jenen, die in dem ersten Anfang des Lebens | schon von dieser Erde abgefordert werden, dieser Unterschied er wird immer geringer erscheinen. Wir unterscheiden in dem Menschen an Leib und Seele eine große Mannigfaltigkeit von Kräften und von Vermögen, die in einem jeden in einem verschiedenen Maaße, wiewohl alle in jedem vorhanden sind. Jede derselben hat ihre eigene Geschichte und ihre eigene Entwickelung, in jeder unterscheiden wir das erste Erwachen, gleichsam das kindliche Alter, und dann die Zeit des Wachsthums und der Blüthe, [sowie] die Zeit wo sie ihre Früchte bringen soll in dem ganzen Zusammenhang des menschlichen Lebens. Wie sie sich nach einander entwickeln, so beruht eben darin der Unterschied, den Gott nach seiner unerforschlichen Weisheit unter den Menschen gesetzt hat, daß in dem Einen | die Entwickelung dieser verschiedenen Kräfte rasch auf einander folgt, in dem Andern die eine hinter der andern zurückbleibt, ja nie zu ihrer vollen Entwickelung gelangt. Die größte aber unter allen diesen ist eben jene, an welche sich unmittelbar das Heil, welches uns in dem Erlöser gegeben ist, anknüpfen soll; es ist das zarte und innige Gefühl der menschlichen Seele von sich selbst, daß sie zu etwas Hohem bestimmt ist, was sie aber für sich allein und ohne die Hilfe, die uns Gott in dem Erlöser gereicht hat, sich nicht verschaffen kann. Wenn diese sich regt und erwacht, dann zeigt sie sich als eine Sehnsucht nach etwas Höherem als alles Irdische ist, mit welcher er vielleicht noch lange umherschweift, bis er ihre | Befriedigung bei dem findet, der ihm so lange schon nahe gewesen, aber den er immer noch nicht erkannt hatte. Sehen wir nun so viele Menschen alle Kräfte des Geistes entwickeln, ihre Blüthe tragen und

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ihre Früchte, aber diese [Seele] will noch nicht weder zur Blüthe noch zur Frucht gedeihen, was können wir anders sagen, als in diesem Sinne sind sie noch Kinder. Sind sie noch in der Bewußtlosigkeit, in welcher sie in dem ersten Anfang ihres Lebens in Beziehung auf alle ihre verschiedenen Kräfte und auf alle Theile ihrer Bestimmung waren, so sind sie in dieser Beziehung geblieben, und das irdische Leben hat nicht vermocht diesen höchsten und edelsten Keim in ihnen zu entfalten. Kinder sind sie also geblieben in die|ser höhern Selbsterkenntniß, welche alle Menschen als bußfertige Sünder zu den Füßen des göttlichen Sohnes hinführt, und dies verursacht, daß, wenn sie ihn sehen, sie auch an ihn glauben; Kinder sind sie geblieben in dieser Erkenntniß ihrer selbst und in diesem Streben nach demjenigen, was Gott auch ihnen zum Ziel gesetzt hat, und als solche Kinder verlassen sie nun dieses irdische Leben. Ja auch sie wird der Herr nicht verlieren, denn der Vater hat sie ihm gegeben, und das ist der Wille dessen, der ihn gesandt hat, daß er nichts verliere von dem, was er ihm gegeben hat; auch sie wird er auferwecken am jüngsten Tage, um dort das Werk fortzusetzen, welches hier | nicht weiter fortschreiten sollte und konnte nach dem göttlichen Rathschluß über jede einzelne Seele, und nach dem, was in derselben selbst mitwirken sollte und konnte, und nicht mitgewirkt hat. Darum wollen wir uns mit diesem Worte trösten, und wenn wir auf diese Verschiedenheit unter denen, welche den Namen der Christen führen als auf die größte, welche es unter uns geben kann, hinsehen mit einem innigen Mitgefühl und mit einem mehr theilnehmenden Schmerz: so soll dieser Schmerz sich verlieren, indem wir auf die Macht sehen, welche der Vater dem Sohne gegeben hat. Daran dürfen wir nicht zweifeln, daß das wahr sei, was er als den Willen des Vaters, der ihn gesandt hat, so bestimmt ausspricht, und am wenigsten | mögen wir ja wohl, wir die wir ein Herz voll Verlangen und voll Glauben an ihn in uns tragen, am wenigsten mögen wir dann zweifeln, wenn er die theuerste Hoffnung, die in allen Geschlechtern der Menschen auf die eine oder die andere Weise erwacht ist, und sich fortgepflanzt hat, wenn er sich diese als einen besondern Theil dessen, wozu der Vater ihn gesandt hat, so aneignet, daß er uns versichert, eben deswegen werde er alle die, welche ihm der Vater gegeben hat, auferwecken am jüngsten Tage, weil er nichts verlieren soll von dem, was er ihm gegeben hat. So mögen wir uns trösten, und weil der Herr und das menschliche Geschlecht, zu dessen Heil er gesandt ist, auf eine solche unzertrenn|liche Weise zusammenhängen nicht nur in diesem Leben, sondern für den ganzen Umfang der Bestimmung der vernünftigen unsterblichen Seele, so mögen wir denn das Eine auch nicht ohne das Andere betrachten; und wenn uns die menschliche Schwachheit und Gebrechlichkeit und Unbiegsamkeit und Unbildsamkeit auf der einen Seite niederbeugt, so ermuthigt uns auf der an36–37 zusammenhängen] zusammenhängt

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dern Seite die Macht dessen, der der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist, so wie die göttliche Verheißung, daß, was ihm der Vater einmal gegeben hat, er nicht verlieren soll, bis es sich selbst ihm ganz und vollkommen giebt, und in diesem vollkommenen Hingeben das ewige Leben findet. Aber freilich, m. g. F., müssen wir uns auch dabei genügen lassen, was der Herr sagt, und wie er so oft | zu seinen Jüngern gesagt hat, wenn sie neugierige Fragen an ihn richteten, neugierig eben deshalb nur, weil sie außer dem Bezirk ihres Berufs und ihrer Thätigkeit lagen, wie er so oft zu ihnen gesagt hat, Zeit und Stunde habe der Vater seiner Macht vorbehalten: so mögen wir das auch auf uns anwenden, und uns gesagt sein lassen, wenn wir nach einer genauern Erkenntniß streben von dem, was zwischen dem Entschlafen in dieser Welt und zwischen dem Auferwecktwerden am jüngsten Tage liegt, und von dem Unterschiede in der Art und Weise, wie der Herr diejenigen, die er nur deshalb nicht verlieren darf und kann, weil der Vater sie ihm alle gegeben hat, dem Ziele ihrer Bestim|mung näher bringen werde, und in der Art, wie diejenigen, welche sich ihm selbst schon gegeben haben, nach seinem Gebot und nach seiner Verheißung mit ihm sein werden alle Wege. Wenn wir nach einer deutlichen Erkenntniß von diesem Unterschiede streben, so wollen auch wir uns auch sagen: Art und Weise hat der Vater ihm selbst seiner Macht und seiner Weisheit allein vorbehalten. II. Und darum ist es eine besondere und vorzügliche Freude, zu welcher uns der Herr berechtigt in der zweiten Verheißung, die er hier ausspricht, indem er sagt: „das ist aber der Wille dessen, der mich gesandt hat, daß, wer den Sohn siehet, und glaubet an ihn, habe das ewige Leben, | und ich werde ihn auferwecken am jüngsten Tage.“ Das hatte er in demselben Zusammenhang der Rede, aus welcher die verlesenen Worte genommen sind, noch einmal wiederholt, indem er im sieben und vierzigsten Verse desselben Kapitels sagt: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch, wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben.“ Und indem er in den Worten unseres Textes beides von einander unterscheidet, erstens ist der Wille Gottes das, daß, wer den Sohn siehet, und glaubt an ihn, habe das ewige Leben; und zweitens, daß der Sohn ihn auferwecken werde am jüngsten Tage: so können wir auch daran gar nicht zweifeln, daß er eben jenes Erstere nicht ausgesprochen hat als eine künftige Verheißung, und | daß die Worte: „wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben“, nicht etwa nur bedeuten sollen, der hat eine volle und größere Gewißheit des ewigen Lebens; sondern daß der wirkliche 12 Entschlafen in ] Entschlafenen 1–2 Vgl. Hebr 12,2

9 Vgl. Apg 1,7

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Besitz der Gegenwart von ihm dadurch hat sollen angedeutet werden. Doch, m. g. F. es ist wohl nicht nöthig das Erstere zu erweisen denjenigen, die dieses Wort auf sich anwenden können. Denn wenn der Mensch in dem lebendigen Glauben den Erlöser gefunden hat, und der Glaube an ihn und die Liebe zu ihm Eins geworden sind: so ist eben auch diese Liebe eine ewige, und Sinnliches und Zeitliches ist nicht in ihr; und weil diese Liebe zu dem Erlöser es ist, welche das ganze Leben leitet, welche uns in allen Stücken desselben bewegt, welche die innerste Kraft ist, von der alles ausgeht: | so ist also auch das ganze Leben, von dieser Liebe zu dem Erlöser und von dem lebendigen Glauben an ihn geleitet, in sich selbst ein ewiges. Ja wenn wir das wissen, daß die ganze Vergangenheit, mag sie lang oder kurz sein, die ganze Zeit unseres Lebens, wo wir in diesem lebendigen Zusammenhang mit dem Erlöser noch nicht gestanden haben, uns von dem Augenblick an verschwindet, wo wir im Glauben an ihn seiner gewiß und theilhaftig geworden sind: so haben wir darin die Gewährleistung, daß das Zeitliche vorüber ist und das Ewige angefangen hat; und weil das Zeitliche allein wechselt, und darin das Eine das Andere vertreibt, der Glaube aber und die Liebe zu dem Erlöser über allen Wechsel hinaus sind, Eins und dasselbe immer Gleiche, was die | Seele erfüllt, und alle Kräfte derselben regiert und sich der Ordnung unterwirft, so ist auch deswegen das Leben kein zeitliches mehr, sondern das ewige. Das zeitliche geht an uns vorüber, aber es ist erschienen, in welchem wir das ewige erblicken. Zeitlich sind alle unsere selbst vorübergehende Gedanken und Handlungen, aber sie werden nur zeitlich, indem sie von innen nach außen gehen, und in das zeitliche Gewebe der Dinge eingreifen, das Innere aber ist das Ewige und Unvergängliche. Die nun den Sohn nicht nur sehen, sondern in ihm auch die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater sehen, und an ihn glauben, und in diesem Glauben das ewige Leben haben, von denen sagt er, daß er sie auferwecken werde am jüngsten Tage, offenbar, wie | es dieser ganze Zusammenhang fordert, als solche, die dieses Leben schon in sich haben, und nicht weiter nöthig haben, es erst zu empfangen als solche, denen etwas wesentlich Neues nicht mehr gegeben werden kann. Zur Freiheit der Kinder Gottes, zum ewigen Leben derselben sind schon hier auf Erden diejenigen hindurchgedrungen, welche an Jesum Christum, als den Sohn des lebendigen Gottes, glauben. Was ihnen werden kann, wenn er sie auferwecken wird am jüngsten Tage, das ist freilich noch nicht erschienen, aber wir wissen, wenn es erscheinen wird, es kann nichts anderes sein als nur immer derselbe lebendige Zusammenhang des Glaubens und der Liebe, dieselbe geistige Gegenwart des Erlösers in der Seele, welche höher ist und viel herrlicher als irgend ein leibliches Zusam|mensein mit ihm sein würde; nichts anderes als dieselbe Erkenntniß seiner als des Ebenbildes des himmli27 Vgl. Joh 1,14

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schen Vaters: nur daß wir das wohl in uns fühlen, daß der Glaube und die Liebe und die Erkenntniß, welche, weil sie kein vergängliches menschliches Stückwerk ist, mit diesen beiden ewig bleibet, daß diese immer noch in uns wachsen können und zunehmen. Das, m. g. F., das ist nun die Freude, zu welcher der Herr uns erwecken will in Beziehung auf diejenigen unter unseren Entschlafenen, von welchen wir das sichere Gefühl haben, daß sie uns vorgeleuchtet haben im lebendigen Glauben, so lange sie auf Erden unter uns wandelten. Sind wir zu demselben ewigen Leben mit ihnen gelangt, so bleibt auch derselbe Zusammenhang, in welchem wir mit ihnen durch den Erlöser stehen, welcher | die Quelle dieses ewigen Lebens ist in ihnen wie in uns, und für sie und für uns, so bleibt auch dieser Zusammenhang ungestört. Aber wenn wir auch in Beziehung auf sie etwas Näheres wissen möchten von dem, was ihnen geworden ist und was ihnen noch bevorsteht: so dürfen wir uns nicht auf eine solche Genügsamkeit verweisen lassen, wie in Beziehung auf jene. Denn es ist hier nichts Fremdes und Unbekanntes in uns, das Wesen der ewigen Güter haben wir schon hier eben in diesem lebendigen Glauben und in dieser seligen Liebe; dasselbe ist auch das Kleinod derer, die entschlafen sind, derer, die als Gläubige von dem Sohn auferweckt werden am jüngsten Tage. Haben wir nun das Wesen mit ihnen gemein, so kann es uns gleichgiltig sein von dem Übrigen viel | oder wenig zu wissen. Es ist dasselbe ewige Leben, was wir führen und was sie, es ist dieselbe Liebe, die sie mit sich hinübergenommen haben, es ist derselbe Glaube, in welchem sie wieder werden dargestellt werden, wenn der Sohn sie wird auferwecken am jüngsten Tage. Über diese nun, m. g. F., soll es auch eigentlich keinen Schmerz geben und keine Thränen, wenn sie nach dem Rathschlusse Gottes von uns genommen sind. Wir folgen ihnen nach, und ihr Andenken bleibt hier im Segen. Wir folgen ihnen nach mit den Blicken des Glaubens und der Liebe, weil wir wissen, sie haben dasselbe gehabt, was auch wir als ein Ewiges gefunden haben und als dasjenige, was uns auf ewig genügen soll. Und ihr Andenken bleibt hier im Segen unter uns, weil es uns immer wieder zurückführt auf das, was ja ihr höch-| stes Kleinod gewesen ist in diesem Leben, und wovon wir wissen, daß es ihnen auch genügen wird in jenem. Aber, m. g. F., über kurz oder lang werden wir auch unter diejenigen gehören, derer man gedenken wird, wenn dieser Tag wiederkehrt. O daß wir denen, unter welchen und für welche wir leben, keinen Zweifel darüber zurücklassen möchten, ob wir auch im Glauben an den Einen das ewige Leben schon gehabt und gefunden haben! O daß wir der zärtlichen Liebe keine Besorgniß darüber zurücklassen mögen, ob wir Kinder geblieben sind in Beziehung auf diesen höchsten Theil unseres geistigen Daseins, bewußtlose Kinder, die auch die Milch des Evangeliums noch nicht unterscheiden und zu der ersten Nahrung des 34 derer] deren

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geistigen | Lebens genießen konnten; sondern daß unser ganzes Leben nur darauf berechnet sein möge die Freude an dem ewigen Leben, die jeder empfinden muß, der sie in irgend einem aufgehen sieht, vollkommen und lebendig zu machen. Es giebt nur Eins und dasselbige, was uns, so lange wir hier auf Erden wandeln, über alle Wechsel des Irdischen erhebt, was uns in der Seligkeit fest gegründet erhält, die wir schon hier schmecken können, und was diejenigen, welche wir zurücklassen, trösten muß über uns, und ihnen allen irdischen Schmerz ersparen, das Eine, wenn wir in der That durch den Glauben und durch die Liebe den Erlöser haben, und uns der Gemeinschaft mit ihm erfreuen. Wie viel getrösteter, mit wie viel größerer Erbauung wir an diejenigen unter unseren Entschlafenen zurückden|ken können, deren Glauben wir erkannt haben, und deren Glauben uns hier vorgeleuchtet hat: das wissen und fühlen wir alle. O so laßt uns denn nicht nur an uns selbst, sondern auch denen, die unter uns leben, redlich alles Unserige thun, damit die noch nicht zum Bewußtsein Gekommenen dazu gelangen. Laßt uns alles, was wir können beitragen, damit jeder zu der Erkenntniß seiner selbst und seiner höchsten Bestimmung gelange, die ihn natürlich dahin bringen muß, den Erlöser zu finden und anzuerkennen, und derjenige, der diesem schon vom Vater gegeben ist, nun sich selbst ihm hingebe im lebendigen Glauben, damit auch dieser Unterschied in Christo verschwinde, und alle, die unter uns entschlafen, wenn sie zu der Reife des Lebens gelangt sind, wo der Glaube an un|sern Erlöser wirklich hervorgerufen werden kann, auch das ewige Leben, welches uns die Bürgschaft der Unsterblichkeit giebt, hier schon genießen mögen, und sich desselben erfreuen, damit wir auch ganz getröstet auf sie mögen hinsehen können, wenn sie von uns abgefordert werden. Das, m. g. F., das ist das seligste Werk der christlichen Liebe, dafür zu wirken, daß alle die von dem Vater dem Erlöser gegeben sind, sich ihm auch selbst geben, und seiner ganz froh werden, und das Wort auf sich anwenden können, daß er sie seine Freunde nennt, weil sie wissen, was er thut; und daß der, der ihn gesandt hat, ihr Freund ist, und daß sie im Glauben und in der Liebe das ewige Leben genießen. Amen. |

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Heiliger, barmherziger Gott und Vater, dessen unerforschliche Weisheit wir in tiefer Demuth verehren, der Du einem jedem die Tage seines Lebens gezählt und es vorher gewußt und angeordnet hast, wie weit er während dieses irdischen Lebens dem Ziele seiner Bestimmung nahe kommen soll, Dir vertrauen wir diejenigen an, welche Du aus diesem zeitlichen Leben hinweggenommen hast, und wir glauben, daß Du, der Du Deinem Sohne alle Gewalt gegeben hast im Himmel und auf Erden, auch dafür sorgest, daß er nichts verliere von dem, was Du ihm gege-

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29–30 Vgl. Joh 15,15

39 Vgl. Mt 28,18

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ben hast, weil keiner Deiner ewigen und seligen Rathschlüsse unerfüllt bleiben kann. Ja Du wirst sie alle führen zu | dem seligen Leben um seinetwillen, damit wir Menschenkinder es wissen mögen, daß Du Deinen Sohn in die Welt gesandt hast. O führe Du uns alle, so lange wir hier auf Erden wallen, zu einem immer reicheren Genuß des ewigen Lebens, welches wir im Glauben an ihn schon haben können. Dazu laß Du uns alles gereichen, was Du uns in diesem Leben zuführst, und durch Schmerz und Leid, durch Freude und Zufriedenheit dieses ewige Leben in uns sich nähren und zunehmen an lebendiger Kraft und Stärke, die auch den Tod sowie die Schrecken des Todes besiegt. Dazu laß Du unter uns die Verkündigung Deines Wortes in der christlichen Kirche immer mehr gesegnet sein. Schaffe ihr aber auch Pfleger und Versorger | an allen denen, welchen Du Macht und Gewalt gegeben hast auf Erden. Laß Deine Gnade und Barmherzigkeit vorzüglich groß sein über unserem theuern Könige und über dem ganzen königlichen Hause. Verleihe dem Könige zu seiner Regierung den Beistand Deines Geistes, damit er den Beruf, den Du ihm auferlegt hast, Deinem Willen gemäß erfülle. Umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen, was recht und wohlgefällig ist vor Dir. Erhalte seine Unterthanen treu und gehorsam in dem ganzen Umfange seines Reiches, damit wir unter seinem Schutz und Schirm wachsen mögen in christlicher Vollkommenheit, und des heiligen | Namens, den wir führen, immer würdiger werden. Segne Du dazu, gütiger Gott, auch die treue Thätigkeit eines jeden unter uns in dem Kreise, in welchen Du ihn gesetzt hast. Stärke und tröste alle diejenigen, die unter den Widerwärtigkeiten des Lebens und im Angesichte des Todes ihre Zuflucht bei Dir allein suchen; und indem Deine Gnade sich in den Schwachen verherrlicht, so laß uns alles dienen zur Befestigung des Glaubens, daß denen, die Dich lieben, auch alle Dinge zum Besten gereichen. Ja, Herr, erhalte Du uns alle bei dem Einen, was Noth ist, damit wir im Leben und im Tode den preisen, | den Du uns gemacht hast zur Gerechtigkeit und zur Heiligung, und der unsterbliches Leben an das Licht gebracht hat. Amen.

11 christlichen] christlicher 29–30 Vgl. Röm 8,28

31–32 Vgl. 1Kor 1,30

32–33 Vgl. 2Tim 1,10

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[Liederblatt vom 23. November 1823:] Am Todtenfest 1823.

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Vor dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne etc. [1.] Die Christen gehn in dieser Welt / Durch mannigfachen Jammer, / Bis auf dem Weg zum Himmelszelt / Sie ruhn in stiller Kammer; / Nach wohlvollbrachtem Lauf / Nimmt Gott die Seele auf! / Das Weizenkorn sä’t Gottes Hand / Auf Hofnung in sein heil’ges Land. // [2.] Die ihr schon aufgebrochen seid / Aus eurer Brüder Mitten, / Wir freun uns eurer Seligkeit, / Und folgen euren Schritten. / Der nun befreite Geist / Ist himmelwärts gereist; / Die Hülle findet ihre Ruh / Im Grab’, und Liebe deckt sie zu. // [3.] Sie bleibt, bis ihre Stunde schlägt, / In heiliger Verwahrung, / Bis sich das neue Leben regt, / Am Tag der Offenbarung. / Und dann, welch selig Loos / In Jesu Arm und Schooß! / Die Liebe führ’ uns gleiche Bahn, / So tief hinab, so hoch hinan. // Nach dem Gebet. – Mel. Ich hab’ mein’ Sach’ etc. [1.] Dein sind wir Gott in Ewigkeit, / In deiner Hand steht unsre Zeit, / Du hast der ganzen Menschenschaar / Ihr Todesjahr / Bestimmt, als keine Zeit noch war. // [2.] Wenn nun zu der gesetzten Frist / Auch unser Stündlein kommen ist: / So hilf uns in der letzten Noth, / Herr unser Gott, / Bescheer uns einen sanften Tod. // [3.] Wenn uns der Krankheit Leiden drückt, / So sei das Herz zu dir entzückt, / Daß es auch in der Schmerzen Wuth / Mit starkem Muth / In deiner weisen Fügung ruht. // [4.] Gieb Hofnung zu der ewgen Ruh, / In unsern Herzen wirke du / Geist Gottes, daß wir glaubend traun, / Und ohne Graun / Hin in die Nacht des Todes schaun. // [5.] Hilf unsrer Schwachheit, Geist des Herrn, / Zeig uns den Himmel dann von fern, / Laß uns, wenn wir zum Vater flehn, / Getröstet sehn, / Wie der uns liebt, zu dem wir gehn. // [6.] Nimm nach vollbrachtem Lebenslauf / In deine selge Ruh uns auf! / Verwirf, wenn unser Auge bricht, / Verwirf uns nicht, / O Herr, von deinem Angesicht. // [7.] Nein, Gnad’ ergehe dann für Recht! / Denn von dem menschlichen Geschlecht / Ist auch der heiligste nicht rein? / Wer kann je dein, / Gott, ohne deine Gnade sein. // (Klopstock.) Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf, ruft etc. Selig sind die Himmels-Erben, / Die Todten, die im Herren sterben, / Zur Auferstehung eingeweiht. / Nach den letzten Augenblicken / Des Todesschlummers folgt Entzücken, / Folgt Wonne der Unsterblichkeit. / In Frieden ruhen sie, / Los von der Erde Müh! / Hilf o Jesu; vor Gottes Thron, / Zu dir o Sohn / Begleiten ihre Werke sie. //

Am 30. November 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,1–6 Nachschrift; SAr 85, Bl. 1r–18v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/8, 1837, S. 155–167 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 140v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 58v–63v; Saunier, in: Schirmer Vakanzpredigt für Herzberg (OGD; Einleitung, Punkt I.1.) Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Frühpredigt am ersten Adventsonntage 1823 am dreißigsten Windmonds. | Tex t. Johannes III, 1–6. Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern, mit Namen Nikodemus, ein Oberster unter den Juden; der kam zu Jesu bei der Nacht, und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete, und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich ich sage dir: Es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen, und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, | ich sage dir, es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist. Diesen Nikodemus, m. a. F., welcher hier bezeichnet wird als ein Pharisäer und einer von den Obersten unter den Juden, das heißt also wahrscheinlich, als ein Mitglied des Hohenraths, kennen wir nur aus den Erzählungen des Johannes. Er erwähnt seiner noch einmal am Ende seines Evangeliums, wo

[Zu Z. 1–2 von Schleiermachers Hand] Johannes 20–7 Vgl. Joh 19,38–40

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er auch kommt in den Geschäften des Erlösers, und zwar auch in der Nacht, wo Johannes sich auf diese Erzählung wieder bezieht. Als nämlich Joseph von | Arimathia sich von Pilatus den Leichnahm des Herrn erbeten, und er ihn herabgenommen hatte vom Kreuz, so steht da: es kam aber auch Nikodemus, der vormals bei der Nacht zu Jesu gekommen war, und brachte Myrrhen und Aloen unter einander, um den Leichnam des Herrn damit zu salben, und nach der Weise der Juden gegen die Verwesung zu schüzen. Dazwischen aber erwähnt er seiner noch einmal, daß er sich nämlich in dem Hohenrath den Beschlüssen desselben gegen den Herrn widersezt, und sie gefragt habe, ob es denn ihre Weise sei und ob Recht, daß einer verdammt werde, ohne daß man ihn gehört habe. Wir sehen also, es ist nicht nur eine Sache der Neugier gewesen, daß er hier zu dem Erlöser kam, sondern er ist in einer beständigen | Anhänglichkeit an denselben geblieben. In welchem Sinne er aber ein wahrer Jünger des Herrn geworden, und wie nahe [er] mit den übrigen verbunden gewesen sei, darüber wissen wir nichts zu sagen; daß ihn aber die Menschenfurcht nicht davon abgehalten habe, das geht aus jenen beiden Erzählungen des Johannes deutlich genug hervor; und so haben wir gar keine Ursache zu glauben, daß es Furcht gewesen sei, die ihn diesmal bewogen zu einer so ungewöhnlichen Zeit zu Jesu zu kommen. Wir können dies um so weniger glauben, da unter diesen Umständen und zu dieser Zeit, wo der Herr zum erstenmal öffentlich in dem Tempel aufgetreten war um zu lehren und das Himmelreich zu ver|kündigen, wo also noch keine allgemeine Stimme sich über ihn ausgesprochen hatte, und die, welche sich in eine nähere Verbindung mit ihm einließen, noch nicht die allgemeine Meinung gegen sich hatten, unter diesen Umständen war keiner genöthigt aus Besorgniß die ungewöhnliche Stunde des späten Abends zu wählen, um sich über die heiligsten Gegenstände mit ihm zu unterreden. Sondern deshalb hat Nikodemus diese Stunde gewählt, um desto ungestörter und allein mit ihm zu reden, und sich dasjenige über das Reich Gottes, worauf es vorzüglich ankam, von ihm sagen zu lassen. Diese Absicht giebt sich auch zu erkennen in dem ersten Eingange des Gespräches, indem er sagt: „wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott | gekommen, denn niemand kann die Zeichen thun, die du thust, es sei denn Gott mit ihm.“ Auch er war also, wie so viele Andere unter den Zeitgenossen des Herrn, durch seine Zeichen und Wunder zuerst auf ihn nicht nur aufmerksam gemacht worden, sondern erkannte ihn auch dadurch als einen Lehrer, der von Gott gekommen ist. Diesen Glauben, m. g. F., können wir bei ihm nicht so vollkommen finden, als den Glauben des Johannes und der andern ersten Jünger des Herrn, 4 kam] Ergänzung aus SW II/8, S. 156 8–11 Vgl. Joh 7,50–51

39–1 Vgl. Mt 4,18–22; Mk 1,16–20

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von deren Erwählung uns unsere Evangelien berichtet haben. Denn sie glaubten, daß er ein Lehrer von Gott gekommen, daß er der von allen Propheten Verheißene sei, nicht wegen der Zeichen und Wunder, die er that, | denn sie hatten noch keins von ihm gesehen; sondern auf der einen Seite wegen des Zeugnisses, welches Johannes von ihm ablegte, auf der andern aber wegen des unmittelbaren Eindruks, den er selbst auf sie machte, und den uns Johannes auf eine eben so große als erfreuliche Weise gleich am Anfange seines Evangeliums beschrieben hat, indem er sagt: „wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.“ Darum waren auch jene augenbliklich und von Anfang an der Person des Erlösers näher, und ein fester und inniger Bund zwischen beiden war sogleich abgeschlossen. Nikodemus aber blieb wenigstens für den Anfang noch in einer | größeren Entfernung von dem Herrn, und wie fest und beharrlich sein Glaube an ihn geworden, und was er durch denselben ausgerichtet in dem Werke des Herrn, davon wird uns nichts erzählt. Wenn aber Nikodemus sagt: „Meister, wir wissen, daß du bist ein Lehrer von Gott gekommen“, so müssen wir ihm dies freilich, wenn wir auf seine ganze Lage sehen, als etwas Hohes anrechnen, und als eine Selbstverleugnung, die uns beweist, daß sein Glaube, wenn er gleich vielfältig sich nur auf Zeichen und Wunder selbst richtete, doch aus dem Innersten seines Herzens herauskam. Denn für einen, der selbst gelehrt war wie er, und nach der damaligen Weise in den angesehensten Schulen der Schriftgelehrten gelernt | hatte, und auf eine solche Weise ausgezeichnet, daß er unter die Obersten des Volks gehörte, für den war es keine kleine Sache einen Andern, von dem er nicht wußte, welchen Lebensweg er gegangen sei, der bisher völlig unbekannt geblieben war, nun aber auf einmal auftrat um seine Lehre durch Zeichen und Wunder zu bestätigen, einen solchen gleich für einen Lehrer von Gott gekommen zu erkennen, und sich ihm gegenüber zu stellen, nicht etwa um Rechenschaft von seiner Lehre zu fordern, sondern um von ihm zu lernen. Und eben dies war es auch, was den Erlöser bewog, sich sogleich mit ihm einzulassen, und ihm dasjenige mitzutheilen, worauf es bei seiner ganzen Lehre zum Heil der Menschen vorzüglich | ankam. In welcher Hinsicht aber Nikodemus sagt: „wir wissen“, das müssen wir auch dahin gestellt sein lassen. Daß er sollte gekommen sein in einem Auftrage von dem Hohenrath des Volkes selbst, um sich nach der Lehre Khristi zu erkundigen, das ist nicht wahrscheinlich; denn dann würde es auf eine andere Weise geschehen sein. Es ist aber eine gewöhnliche Art der damaligen Zeit, daß auch von Einem geredet wird und Einer von sich selbst redet in der mehreren Zahl. Aber wohl mag es sein, daß 28 zu erkennen] Ergänzung aus SW II/8, S. 158 8–10 Joh 1,14

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auch mehrere unter den Schriftgelehrten und Obersten des Volks eben so wie Nikodemus aufmerksam geworden waren auf den Herrn, und er nicht für sich allein, sondern für sie alle in dieser späten Zeit | hinging, um sich von ihm belehren zu lassen. Jesus aber antwortete, und sprach: „Wahrlich, wahrlich ich sage dir es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde, kann er das Reich Gottes nicht sehen.“ Das war gleich das Wesentlichste in der Lehre des Herrn, worauf er den Nikodemus hinwies, und schon, daß er ihm hier dies gleich sagt und sein Gespräch damit beginnt, daraus werden wir uns ganz deutlich überzeugen, daß es das Wesentlichste gewesen ist. Denn wenn einer mit einem solchen Eifer kommt in einer späten Stunde, die in der Regel kein langes und ausführliches Gespräch zuläßt: so war es natürlich und den Umständen gemäß, daß der Erlöser ohne weitere Umschweife gleich zur Sache ging, | und ihn auf den Punkt hinwies, durch dessen Beleuchtung sie darüber gleich konnten aufs Reine kommen, wie viel der Herr fordere, und wie weit Nikodemus im Stande wäre, seine Lehre anzunehmen. Die andern Evangelisten sagen, daß von da an, wo der Herr öffentlich auftrat, und die Einsamkeit, in der er bis dahin gelebt hatte, verließ, um den großen Beruf zu erfüllen, zu welchem ihn sein Vater gesandt hatte: da habe er auch angefangen das Reich Gottes zu verkündigen, und zu sagen: „Thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbei gekommen.“ Solcher Art muß also auch gewesen sein, was er damals in den Tagen des Festes in Jerusalem gelehrt hat, und diese | Lehre konnte dem Nikodemus ihrem Wesen und ihrer gewöhnlichen Form nach nicht unbekannt sein, weil eben so auch Johannes der Täufer gelehrt hatte. Was aber der Herr sagte: wer das Reich Gottes sehen will, der muß von neuem geboren werden, also gleichsam die Aufforderung und die Ermahnung: Gehe ein in die neue Geburt, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen: das war etwas Stärkeres und Kräftigeres als was Johannes der Täufer gesagt hatte in den Worten, mit denen uns die andern Evangelisten die erste Verkündigung des Herrn beschreiben. Denn freilich Buße thun, das heißt, sich leid sein lassen, was einem vorher erfreulich gewesen ist, das heißt in dem Sinne der alten | Sprache, seinen innersten Sinn und seine innerste Meinung über etwas ändern; und also war das auch eine Aufforderung zu einer großen und bedeutenden Veränderung. Aber freilich, von neuem geboren werden, also das bisherige Leben gänzlich abbrechen und ein neues beginnen, das will noch mehr sagen als jenes. Weil nun der Herr den Nikodemus gleich wollte auf den Hauptpunkt seiner Rede hinführen, so trug er ihm nun dasselbe, was der Gegenstand seiner bisherigen Verkündigung war, auf eine geschärftere Weise vor. Wenn Nikodemus dem Herrn antwortet, wie wir gelesen haben, 2 er nicht] er aß nicht 16–20 Vgl. Mt 4,12–17; Mk 1,14–15

24 Vgl. Mt 3,1–2

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„wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist, kann er auch | wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?“ so dürfen wir ja das nicht so nehmen, als ob er die Meinung des Erlösers gänzlich mißverstanden hätte, und dabei an eine neue leibliche Geburt gedacht habe; vielmehr fährt er fort in der ursprünglich doch bildlichen Redensart – wenn gleich die tiefste und vollkommenste Wahrheit in ihr liegt, bildlich ist sie doch – in welcher der Erlöser geredet hatte, und gab ihm seine Einwendung zu erkennen, indem er sagen will: wie soll auf diese Weise das Reich Gottes zu Stande kommen, wenn diejenigen, welche es sehen sollen, ihr ganzes Leben ablegen und ein völlig neues annehmen sollen? denn dazu ist der Mensch nicht fähig, wenn | er alt ist, und er ist zu sehr gewöhnt an die Lebensweise, welche er von Jugend auf geführt, er ist zu tief verflochten in das ganze Gewebe seiner Empfindungen, alle seine Vorstellungen und alle seine Handlungsweisen haben eine zu große Gewalt über ihn bekommen, als daß er sie abstreifen könnte, und er ist nicht mehr so beweglich in seinem Innern, wie die rasche Jugend, daß man eine solche Umwandlung von ihm verlangen könnte. Für alle, also will er sagen, die schon einen bedeutenden Theil ihrer irdischen Tage hinter sich haben, die sich schon auf der Höhe des Lebens befinden, wie ich, oder wohl gar über dieselbe hinaus sind, für die scheint es unmöglich, | daß sie ein neues Leben beginnen. Mit Kindern aber in ihrer frühesten Jugend kann nicht das Reich Gottes beginnen, weil diese nicht ein selbstständiges Leben führen, und keinen besondern Kreis der menschlichen Gesellschaft bilden, ohne daß sie geleitet werden von denen, die in Erfahrung und Weisheit schon tüchtiger und vollkommner sind als sie. Das ist die Einwendung, die Nikodemus macht, und wodurch er also gleichsam sagen will, in die Forderung des Johannes und in die Art, wie der Erlöser sonst seine Forderung an die Menschen gestellt habe, darin wolle er sich finden, Buße zu thun sei ihm leicht und seinen Sinn zu ändern, und eine bessere Überzeugung anzunehmen – | denn in einer solchen theilweisen Veränderung ist der Mensch immer begriffen, und kann und darf nie damit aufhören – aber wenn die Forderung an ihn gestellt werde ein ganz neues Leben anzufangen, so könne er sich nicht zutrauen, daß er der noch werde zu genügen wissen. Der Erlöser aber läßt nicht ab, und giebt nichts nach, sondern antwortet ihm, wie wir lesen: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und dem Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.“ Er ändert hier nur seinen Ausdruk, indem er vorher gesagt hatte, „es sei denn, daß jemand von neuem geboren werde“, so sagt er hier, „es sei denn daß jemand geboren werde aus dem Was|ser und Geist“. Der Ausdruk „aus dem Wasser“, der erinnert uns allerdings auf eine sehr bezeichnende 15 nicht] Ergänzung aus SW II/8, S. 161

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Weise an die Taufe des Johannes, und, wie es der Evangelist noch in demselben Kapitel weiter unten erzählt, an die Taufe, die Jesus durch seine Jünger verrichten ließ. Indem er aber sagt: „es sei denn, daß jemand geboren werde aus dem Wasser und Geist“, so dürfen wir das freilich nicht so verstehen, als wolle er die Taufe des Johannes, die nur der Taufe seiner Jünger ähnlich war, für die neue Geburt gehalten wissen; sondern weil eben diese etwas war, was dem Nikodemus schon bekannt war und geläufig, wie er sich denn auch gewiß viel ausführlicher und vollständiger in seiner Antwort an den Herrn | ausgedrükt hat – denn doch wohl nur im Auszuge giebt uns Johannes hier das Gespräch zwischen dem Erlöser und dem Nikodemus [wieder] – und wie sich denn Nikodemus wahrscheinlich schon auf die Taufe und auf die Predigt des Johannes bezogen hatte: so fügt nun der Herr in seiner Rede zu dem Wasser noch den Geist hinzu, und sagt: das Wasser allein und die Annahme der Taufe des Johannes verbunden mit dem Bekenntniß, daß jeder der so getauft werde, auch Buße thun müsse in dem Bewußtsein, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, das sei nicht genug, sondern es müsse dazu noch hinzukommen der Geist „es sei denn daß jemand von neuem | geboren werde“, nicht allein durch das Wasser, sondern durch das Wasser und durch den Geist, und mehr aus dem Geist von neuem geboren, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Darin also spricht der Erlöser den bestimmten Unterschied aus zwischen dem, was auch durch die Taufe des Johannes, in sofern sie nicht ein bloßer Gebrauch war, sondern in sofern dadurch etwas dargestellt wurde, was in dem Innern des Menschen selbst vorging, bewirkt werden könne, den Unterschied zwischen diesem auf der einen Seite, und zwischen demjenigen auf der andern, was er selbst verlangte, daß, wenn sich der Mensch auch bereit erkläre zum Buße thun, und zur | Änderung seines Sinnes, so sei das nicht die neue Geburt, durch welche allein er in das Reich Gottes kommen könne, sie werde ihm auch nicht durch die Taufe verliehen, sondern er müsse geboren werden aus dem Geist, eine ganz neue Kraft müsse ihm eingepflanzt werden, ein ganz neues Leben müsse ihm aufgehen, in dessen Besiz er im Stande sei zu thun, was er vorher nicht vermocht habe, ein neuer Geist müsse über ihn kommen, durch dessen Kraft er auf eine Stufe des Daseins erhoben werde, die er vorher nicht gekannt habe, ohne das könne er nicht in das Reich Gottes kommen. Und das erklärt nun der Herr in den lezten Worten, die wir mit einander gelesen haben, noch so: „Was vom Fleisch geboren wird, das | ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.“ Indem er nun diese Worte in Verbindung bringt mit den bisherigen; so liegt darin folgendes: Geist muß einer sein, sonst kann er das Reich 5 des Johannes, der nur die Taufe] Ergänzung aus SW II/8, S. 162 1–3 Vgl. Joh 3,22

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Gottes nicht sehen und demselben nicht angehören. Das erinnert uns zuerst, m. g. F., an das andere Wort des Herrn, welches er auch in einem Gespräch begriffen und zwar mit einer samaritischen Frau, zu ihr sprach, als er nämlich gesagt hatte, Gott selbst sei ein Geist, und die ihn anbeten wollen, die müßten ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten, es werde, sagt er da zu ihr, eine solche Zeit kommen, wo die wahrhaftigen Anbeter den Vater anbeten würden im Geist und in der | Wahrheit; und solche Anbeter wolle der Vater auch schon jezt haben. Damit erklärte er damals seinen Vorsaz und seine Bestimmung, ein solches Reich des Geistes und der geistigen Anbetung Gottes zu stiften; und hier sagt er eben so: wer nicht Geist geworden, wie Gott Geist [ist], der kann in das Reich Gottes nicht gehören. Nun aber sezt er eben auf der einen Seite dem Geiste das Fleisch entgegen, und auf der andern sagt er: nur was vom Geist geboren ist, das sei Geist, das heißt also, um in diesem Sinne Geist zu sein, müsse der Mensch erst ein neues Leben und zwar vom Geiste angefangen haben; so lange er das nicht habe, so sei er nichts anderes als vom Fleisch geboren auch Fleisch, und | Fleisch kann das Reich Gottes nicht ererben, wie die Schrift an einem andern Orte sagt. In Beziehung nun auf das Vorige will der Herr damit sagen: alles, was auf dem bisherigen Wege, auf welchem das Volk des Herrn gegangen war, erreicht werden konnte und wirklich erreicht war, alle Meisterschaft in der Schrift und in dem Gesez, alle Kenntniß der Sazungen der Väter und aller treuer und rechter Gebrauch derselben; ja auch die bessere Einsicht, die Johannes zuerst wieder erwekt hatte durch seine scharfe strafende und anmahnende Predigt, daß die Mitglieder des Volkes Israel, nicht als solche oder wegen ihrer Abstammung von Abraham ein Recht hätten, in | das Reich Gottes einzugehen, und seiner Wohlthaten theilhaftig zu werden; sondern daß sie nun Buße thun müßten, und daß alles dasjenige falsch und verkehrt sei, was für wahre Verehrung Gottes sei gehalten worden, und die Erkenntniß, die sie von dem höchsten Wesen und von seinem Willen gehabt hätten, und der Eifer, mit welchem sie sich bemüht hätten, die Gebote des Herrn zu erfüllen, und alles, was hiedurch erreicht werden könnte, das sei noch immer nicht die wahre Kraft des Reiches Gottes, das sei vom Fleisch geboren und Fleisch, der Geist müsse erst gegeben werden und ausgegossen in die menschliche Seele, damit sie ein neues Leben aus dem | Geiste beginnen können; nur in diesem neuen Leben bestehe das Reich Gottes, und nur der aus dem Geist Geborene könne in dasselbe eingehen. Aufs deutlichste also erklärt hier der Erlöser, daß der Mensch nur durch den Geist Gottes geboren werde für das Leben, 16 lange er das nicht habe, so] Ergänzung aus SW II/8, S. 164 2–8 Vgl. Joh 4,23–24

17–18 Vgl. 1Kor 15,50

23–27 Vgl. Mt 3,7–9; Lk 3,7–8

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wodurch er in der That dem Reiche Gottes angehört, oder wie er sich anderwärts auch ausdrükt, für das ewige Leben. Wenn er aber eben in dieser Beziehung an einem andern Orte sagt: „wer an den Sohn Gottes glaubt, der hat das ewige Leben“, hier aber gleichsam sagt: wer aus dem Geist geboren, und dadurch Geist geworden ist, der hat Theil an dem Reiche Gottes, und daher auch das ewige Leben: so wissen wir | wohl, m. g. F., daß dies nicht zweierlei ist, sondern Eins und dasselbige. Denn das kann seine Meinung nicht gewesen sein, daß diese Geburt aus dem Geist auf einem andern Wege kommen könne als durch ihn, daß dies eine Veränderung sei, die der Mensch mit sich selbst vornehmen könne, oder die ihm kommen könne durch Andere, die aber selbst noch vom Fleisch geboren und Fleisch wären. Denn wenn er in der Folge seines Gespräches mit dem Nikodemus sagt: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren wären, sondern das ewige Leben haben“: so sagt er ja da ganz deutlich, daß eben dieses ewige Leben, | welches ganz dasselbige ist mit dem Ausdruk: „das Reich Gottes sehen“, nur denen gegeben werde, die an den Sohn Gottes glauben würden, also muß er auch dies meinen, daß die Mittheilung des Geistes, das Geboren werden aus dem Geist, das Selbstgeistsein, von nichts anderem ausgehen könne, als von dem Glauben an den Sohn Gottes. Ueberlegen wir nun alles dies, so müssen wir sagen, des Herrn Meinung ist die, daß Alles, was vor seiner Erscheinung die Menschen waren und sein konnten, das Edelste und Schönste in der menschlichen Natur nicht ausgeschlossen, verglichen mit dem, was er den Menschen gebracht hat, nur Fleisch sei im Vergleich mit dem Geist, und also, daß | das Reich Gottes und das Leben aus dem Geist nicht entstehen könne aus jenem. Wie weit es sich auch ausbreite, wie sehr es sich auch verherrliche, wie bereitwillig der Mensch es auch in sich selbst aufnehmen, und Andern mittheilen möge, so könne doch das ewige Leben und das Reich Gottes daraus nicht hervorgehen, sondern aus dem, was er gekommen sei den Menschen zu bringen. Aus dem Glauben komme der Geist und werde über die Menschen ausgegossen; sie müßten eben dieses Geistige und Herrliche, was sich bisher in der menschlichen Natur nirgends gefunden habe, das Göttliche in derselben müßten sie erst in ihm sehen und erkennen; so sie es in ihm sähen und | erkenneten, so würde der Geist über sie ausgegossen als der gemeinsame Geist, der das Fleisch regiert, und der das neue Leben und das Reich Gottes hervorbringt. So hat denn freilich der Herr in diesen wenigen so tiefen und kräftigen Worten den ganzen Kern seiner Lehre von sich selbst und von dem Heil, welches er dem menschlichen Geschlecht zu bringen gekommen war, ausgesprochen. Und dabei, m. g. F., wird es auch immer bleiben. Das Wesen aller Lehre des Herrn und aller Gemeinschaft mit ihm wird immer 3–4 Joh 3,36

13–15 Joh 3,16

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dasselbe bedeuten, und das Anerkenntniß, daß Niemand ohne die neue Geburt aus dem Geist in das Reich Gottes eingehen könne, | wird immer der Grund bleiben unserer Theilnahme an den Segnungen, die uns der Herr gebracht hat. Lassen wir davon ab, zu wissen und zu fühlen, der Mensch verglichen mit dem, was er ohne die Erscheinung des Herrn gewesen wäre, müsse von einer neuen Kraft, die aber von ihm allein ausgeht, erfüllt werden, lassen wir davon ab, so sezen wir den Erlöser herab zu anderen ausgezeichneten Lehrern und zu andern würdigen menschlichen Vorbildern; aber die göttliche Kraft, die in der neuen unendlichen Gottesfülle liegt, welche in dem Erlöser wohnt, und in welcher allein wir das ewige Leben finden, die übersehen wir, und machen uns unfähig, | indem wir sie nicht erkennen, der Wohlthaten derselben theilhaftig zu werden. Aber, m. g. F., wir werden durch den Geist Gottes, der aus dem Worte Gottes redet, und der einmal in der khristlichen Kirche verbreitet ist und in ihr wirkt, wir werden durch denselben auch immer wieder zu der richtigen Selbsterkenntniß gebracht, daß Alles, was ohne den Erlöser in uns sein würde, Fleisch ist vom Fleisch geboren, und immer wieder hingewiesen auf die Eine Quelle, aus der wir das ewige Leben schöpfen können. Zu dieser also laßt uns immer wieder hingehen, und sind wir einmal aus dem Geist geboren, die Kraft des Geistes aufs neue von dem nehmen, in wel|chem die Fülle der Gottheit wohnt, und in welchem wir mit allen, die an seinen Namen glauben, die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater geschaut haben. Amen.

9–10.20 Vgl. Kol 2,9

21–22 Vgl. Joh 1,14

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Am 7. Dezember 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,19 Nachschrift; SAr 85, Bl. 19r–34r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 6r–17v; Andrae Nachschrift; SN 621/6, Bl. 16r–17v; Crayen Nachschrift; SAr 52, Bl. 150r–150v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiten Adventsonntage 1823. | Tex t. 1. Johannes IV, 19. Lasset uns ihn lieben; denn er hat uns erst geliebet. 5

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M. a. F. Mit dieser schönen und fröhlichen Adventszeit, worin wir uns bereiten das Fest der Erscheinung unseres Herrn würdig und freudig zu begehen, beginnen wir immer zugleich ein neues kirchliches Jahr; der Kreis unserer gemeinsamen Betrachtungen fängt bei seinem Ursprung wieder an, der Herr wird uns aufs neue dargestellt in seiner Geburt und Kindheit, in seinem Leiden und Sterben, in seiner verklärenden Auferstehung und Himmelfahrt und in der Fülle von geistigen Segnungen, womit er, als er sich | zur Rechten seines Vaters erhob, alle die Seinigen begeistert und angehaucht hat. So erscheint er also gleichsam aufs neue vor uns in allem, was in der ganzen Entwiklung seines Daseins Denkwürdiges und Heilbringendes ist, und es entsteht uns ja natürlich die Frage, wenn er uns so gleichsam wieder aufs neue erscheint, wie haben wir ihn unter uns aufzunehmen? Darauf, m. g. F., finden wir die Antwort in den verlesenen Worten: Laßt uns ihn lieben; denn er hat uns erst geliebt. Diese Worte gehen in dem Zusammenhang der Rede des Apostels allerdings unmittelbar auf Gott, unsern und unseres Herrn Jesu Khristi himmlischen Vater; aber gewiß dem Sinne des Apostels gemäß und ganz nach seinem Herzen wenden | wir sie auch auf unsern Erlöser an. Denn es ist derselbe Apostel des Herrn, der in demselben Briefe sagt: „daran ist erschienen die Liebe Gottes gegen uns, daß er seinen eingebornen Sohn gesandt hat in die Welt“, es ist derselbe Apostel, welcher uns sagt: wer da glaubt, daß Jesus der Khrist sei, der ist aus Gott geboren, und wer den liebt, 21–23 1Joh 4,9

23–1 1Joh 5,1

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der ihn geboren hat, der liebt auch den, der aus ihm geboren ist. So weiset er uns also selbst darauf, daß unsere Liebe zu Gott und unsere Liebe zu Khristo ganz eins und dasselbige ist. Wir lieben ihn als den lebendigsten und einzigsten Beweis, der uns zur Gegenliebe auffordert zu der Liebe Gottes, wir lieben ihn als den, der auf eine einzige | Weise aus Gott geboren ist. So laßt uns also die Frage, die ich vorhin aufgeworfen habe, uns auch nach den Worten unseres Textes so beantworten: erscheint der Erlöser aufs neue unter uns, so laßt uns auch ihn aufs neue mit Liebe aufnehmen. Diese Liebe aber sei zuerst eine dankbare, dann eine verlangende, endlich aber auch eine hoffnungsreiche und vertrauende Liebe. I. Laßt uns zuerst den Erlöser, wenn er aufs neue unter uns erscheint, aufnehmen mit der dankbaren Liebe unseres Herzens. Keine Liebe, m. g. F., ist ohne Erinnerung, das sehen wir überall. Je mehr uns irgend eins von unseren äußern Lebensverhältnissen werth ist, desto | lieber und öfter erinnern wir uns daran, wie es sich zuerst geknüpft hat, wie dies oder jenes zusammenkommen mußte, um mancherlei Hindernisse zu überwältigen, wie nicht selten aus den scheinbar kleinsten Zufälligkeiten sich dasjenige gebildet hat, was uns im Leben das Liebste ist. Je mehr uns an demjenigen liegt, was sich in unserer eigenen Seele vorfindet von Gaben, mit denen Gott uns ausgerüstet hat, desto genauer tragen wir auch die Geschichte davon in unserem Herzen, wissen es uns und Andern deutlich zu machen, wie sie jenes geworden sind. Und so geht es auch mit unserer Liebe zu Andern, je wichtiger die Stelle ist die sie in unserem | Herzen einnehmen, desto mehr gehen wir immer wieder zurük auf den reichen Schaz von Erinnerungen, den unser Verhältniß zu ihnen darbietet. So muß auch unsere sich erneuernde Liebe zum Erlöser billig eine dankbare Liebe sein, und wir müssen gern weilen bei dem Schaz von Erinnerungen, den wir aus der vergangenen Zeit in die gegenwärtige hinübernehmen. Wir können aber, m. g. F., das alles zusammenfassen in dem einen Wort des Apostels: Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Khristum. Diese Worte sagt der Apostel Paulus da, wo er sich beklagt über das Gesez in den Gliedern, welches da streite gegen das | Gesez des Geistes. Also über das Gesez, welches in unseren Gliedern wohnt, das ist aber dasselbe, was er an einem andern Ort nennt fleischlich gesinnt sein, und wovon er sagt: fleischlich gesinnt sein sei eine Feindschaft wider Gott, darüber nun hat uns der Erlöser den Sieg gegeben, und hat unsere Feindschaft überwunden und zwar durch nichts anderes als durch die Kraft seiner Liebe, wie eben dies der 30–31 1Kor 15,57

32–33 Vgl. Röm 7,23

35–36 Vgl. Röm 8,7

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Apostel sagt: darin beweiset sich die Liebe Gottes gegen uns, daß er seinen Sohn für uns dahingegeben hat als wir noch Feinde waren. Das ist die allgemeine Geschichte des menschlichen Geschlechts, daß überall der Erlöser durch seine Liebe, | wo sein Name genannt, wo sein Wort verkündigt, wo er als das Haupt des menschlichen Geschlechts verehrt wird, uns den Sieg giebt über die Feindschaft unseres Herzens gegen Gott. Und eben dies, m. g. F., wiederholt sich außerdem in den Erfahrungen unseres eigenen Lebens, und keiner unter uns wird sein, der nicht aus der vergangenen Zeit eine Menge auf der einen Seite demüthigender, auf der andern aber auch erhebender und tröstender Erinnerungen hierüber aufzuweisen hätte. Wie der Herr in seinem Wort und durch die Kraft desselben uns mit den Empfindungen seiner Liebe erfüllt, und wie eben dadurch am meisten die Härtigkeit des menschlichen | Herzens gebeugt und die Feindschaft gegen den heiligen Willen Gottes in der Seele aufgehoben wird, wie wenig wir mit unseren eigenen Entschließungen ausrichten gegen das, was in unserem Herzen Feindseliges ist, das wissen wir wohl alle eben so gut aus der Erfahrung, und erst, wenn wir uns gewöhnt haben zu dem uns zu wenden, der die Kraft diese innere Feindschaft zu besiegen ans Licht gebracht hat, sind wir glüklich gewesen in der Ueberwindung dessen, was dem Willen Gottes in der Seele widerstrebt. Der hat uns den Sieg gegeben, indem er allen denen, die ihn aufnahmen, die Macht gegeben hat Gottes Kinder zu werden. Denn | was wohl mehr, m. g. F., bestärkt die Feindschaft des Herzens gegen Gott als der Mangel an richtiger Einsicht in die Heiligkeit und in die Wohlthätigkeit des göttlichen Willens? So lange es dem Menschen daran fehlt, ist er ein Knecht, der, wie ja immer, nur gezwungen und wider Willen den Willen seines Herrn thut. Aus diesem Zustande der Knechtschaft hat uns der Herr erhoben, indem er uns befreit hat von der Herrschaft der Sünde, wie er selbst zu seinen Jüngern sagt: „Ich sage nun nicht mehr, daß ihr Knechte seid, sondern ihr seid meine Freunde; denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut, euch aber habe ich alles offenbart.“ O laßt uns zurüksehen, m. g. F., in die vergangene Zeit, wie | der Herr in jedem schon abgelaufenen Jahre unseres Lebens sich immer mehr in unseren Seelen verherrlicht hat durch diese Offenbarung dessen, was sein Vater will und thut, wie dadurch die Macht Gottes Kinder zu werden in unseren Seelen größer geworden ist, und Alles sich immer mehr verringert hat, was eine Entfernung ist und ein Hinderniß zwischen Gott und uns. So laßt uns denn die dankbare Erinnerung daran, daß bis jezt immerdar Gott uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Khristum, die laßt uns mit hinübernehmen in die Zukunft, und ihn aufs neue empfangen in dieser dankbaren Erinnerung an den, der uns auch ferner | diesen Sieg erhalten und in dem seligen Leben der Kinder Gottes befestigen wird. 1–2 Vgl. 1Joh 4,9

20–21 Vgl. Joh 1,12

28–29 Vgl. Joh 15,15

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II. Aber zweitens sei auch unsere Liebe, mit welcher wir den Erlöser aufs neue empfangen eine verlangende. Das, m. g. F., das sehen wir als ein Nothwendiges einer jeden Liebe an. Ein gleichsam zufälliges wenn auch freundliches Zusammentreffen der Menschen, wenn sie sich dabei befriedigt fühlen, das nennen wir immer noch keine Liebe, wo diese sein soll, da muß ein eifriges Verlangen in dem Gemüthe sein, eine Sehnsucht nach dem Gegenstande, ein Gefühl, welches nur in seiner Nähe und in dem Zusammensein mit ihm uns die | Glükseligkeit und die Zufriedenheit unserer Seele schaffen kann; in dem Maaße nur lieben wir, als ein solches Verlangen in uns zu finden ist. In diesem Sinne nun, m. g. F., können wir ganz besonders die Worte „Laßt uns ihn lieben, denn er hat uns erst geliebt“, auf unser Verhältniß zu dem Erlöser anwenden. Denn gewiß auch seine Liebe zu uns ist eine solche verlangende Liebe gewesen, und ist es auch noch. Er ist gekommen, wie er selbst sagt, zu suchen und selig zu machen, es hat ihn verlangt das menschliche Geschlecht zu befreien aus der Knechtschaft, in welche es versunken war, es hat ihn verlangt die Fülle der Gottheit, die in ihm wohnt, seinen Brüdern mitzutheilen. So | ist er von Anfang an den Menschen entgegengekommen, und dasselbe, m. g. F., ist ja auch unsere Erfahrung. Wie oft – das Zeugniß werden wir ihm gewiß alle geben müssen – wie oft hat sich auch in der vergangenen Zeit seine Liebe zu uns als eine solche bewiesen, wie oft hat er, daß ich mich so ausdrüke, den ersten Schritt gethan, eben indem er sich uns beständig darthut in seinem Worte sowohl für unsere eigene stille Betrachtung als in unseren gemeinsamen Zusammenkünften, wie oft hat sich durch das, was er uns darbot, und was wir gläubig von ihm annahmen in unserem Herzen die Entfer|nung zwischen ihm und uns vermindert, daß wir uns seines wohlthätigen und heilsamen Einflusses bewußt geworden sind, ehe wir selbst darnach strebten. Aber eben deshalb, m. g. F., soll auch unsere Liebe eine verlangende Liebe sein, nicht gleichgültig sollen wir es bloß erwarten, daß er uns immer wieder aufs neue von selbst entgegen komme, sondern unser Herz soll verlangen nach der Erquikung und nach der Stärkung, von welcher wir wissen, daß er allein sie uns geben kann. Das höchste Verlangen aber des Menschen, m. g. F., das ist auf Gott gerichtet, der ist eigentlich der Gegenstand jener verborgenen Sehnsucht des menschlichen Herzens, die nicht aus dem Irdischen, | sondern aus dem Ewigen und Unvergänglichen stammt. Die Bitte jenes unter den Jüngern des Herrn, da er in die Worte ausbrach „zeige uns den Vater“; die ist es, in welcher sich das höchste und innigste Verlangen der menschlichen Seele offenbart. Gott möchten wir sehen und kennen, ihn möchten wir in uns 16 zu befreien aus der Knechtschaft] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 11r 14–15 Vgl. Lk 19,10

17 Vgl. Kol 2,9

37 Joh 14,8

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wohnen und uns nahe und gegenwärtig haben, das ist es, wonach alle diejenigen streben, deren Tichten und Trachten schon nicht mehr dem Sinnlichen und Vergänglichen, sondern dem Ewigen und Unsichtbaren zugewendet ist. Zeige uns den Vater, das ist das Verlangen, welches wir in der Liebe unseres Herzens an unseren Erlöser richten. Und wie er jenem | Jünger antwortete: Philippe, so lange schon kennest du mich, und jezt noch bittest du zeige uns den Vater? weißt du denn nicht, daß der Vater in mir ist und ich in ihm, und daß wer mich aufgenommen hat und mich kennt, auch den aufgenommen hat und kennt, der mich gesandt hat? Mit dieser Antwort, m. g. F., ist er oft auch uns in der vergangenen Zeit entgegengekommen, und [wir] werden es bezeugen müssen durch unsere Erfahrungen ja nirgends mehr als bei ihm, in seinem Worte und in seinem Werke, in dem großen Werk der Erlösung des menschlichen Geschlechts, wie es in der ganzen Geschichte von der Entwikelung seines Reiches uns vor Augen liegt, wie | wir es sehen in der allgemeinen Leitung der Menschen im Großen und Ganzen, und wie es uns in den Führungen der einzelnen Seelen erscheint: da am meisten sehen wir den Vater, und anders nicht möchten wir dahin gekommen sein das höchste Wesen als unseren Vater zu kennen und zu lieben als eben dadurch, daß er seinen Sohn gesandt hat zum Heil der Welt. Wenn sich nun, m. g. F., ein neuer Abschnitt unseres gemeinsamen khristlichen Lebens vor uns aufthut, wenn wir in das angefangene kirchliche Jahr hineinschauen, wie viel herrliche Gelegenheiten wir haben werden, das Wort des Erlösers unserer Seele nahe zu bringen und ihn in der Erfüllung seines heilsamen Werkes an dem menschlichen Geschlecht | gleichsam in der Nähe zu sehen und dabei zu beobachten, o so werden wir für unser heiligstes Verlangen in unserer Seele „zeige uns den Vater“, auch in diesem nächsten Jahre die Erfüllung von ihm hoffen können. Ja wenn wir das Wort des Herrn vernehmen, und es nicht an unserer Seele vorübergehen lassen, bald vergessend was wir darin gesehen, wie wir darin ihn und dann uns selbst erblikt haben, sondern es bewahren als einen köstlichen Schaz in dem tiefsten Grunde unseres Herzens, so wird sich uns der Vater, der ewige Vater, in seiner himmlischen Liebe immer mehr offenbaren und verherrlichen, und das Verlangen unseres Herzens stillen. Und wenn wir mit einem theil|nehmenden Gemüth dem Werke des Herrn in der Khristenheit zusehen, und uns erfreuen an demjenigen, was in seiner Nähe und in seiner Ferne geschieht, und wie durch das Schöpfen aus dieser Quelle, aus der auch wir unsern Durst nach dem ewigen Leben löschen, immer mehr die Menschen mit der Freude an dem Ewigen erfüllt werden, und immer mehr gewöhnt ihr Herz demjenigen zu geben, der es allein auf eine solche Weise beseligen kann: o wie sollte dann der Vater nicht seine Liebe in unserem 4.26 Joh 14,8

6–7 Vgl. Joh 14,9

7–9 Vgl. Joh 10,38; 13,20; 14,7

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Herzen preisen; und indem wir seine Liebe erkennen, so erkennen wir sein innerstes Wesen: Denn Gott ist die Liebe, wie der Apostel kurz vor den Worten unseres heutigen | Textes sagt. Je mehr nun so, m. g. F., die Liebe, mit der wir den Erlöser empfangen, eine dankbare und verlangende ist, desto mehr wird sie auch, durch die Ahndungen unseres Herzens für die Zukunft und durch unsere Erfahrungen von der Vergangenheit gestärkt, eine hoffnungsreiche und vertrauende Liebe sein. III. Wäre das nicht, o dann, m. g. F., würden wir auch wenig auf die Dauer derselben rechnen können. Denn so ist es mit dem Menschen, hoffnungslos kann er nicht immer, kann er nicht lange bleiben, nur in dem Maaße, als die herzliche Neigung seiner Seele genährt wird durch die Erfahrung, nur in dem | Maaße stärkt sich und erneuert sich seine Liebe. Wenn es darauf ankommt, daß wir vorzüglich unseren Blik in die nächste und unmittelbare Zukunft richten, so kann uns dabei der Gedanke nicht entgehen, wie überhaupt der Mensch immer mit Hoffnungen und Wünschen bald vertrauungsvoll, bald furchtsam in die Zukunft hineinsieht. Und auch wir, m. g. F., wir können uns dessen nicht enthalten. Unser irdisches Leben und unser geistiges Dasein ist nicht getrennt, und es soll durch die Gnade Gottes und durch die Kraft des Erlösers immer mehr Eins werden, aber es ist es noch nicht ganz. Haben wir für das Eine Wünsche und Hoffnungen, so fehlen | sie auch nicht für das Andere. Worin also m. g. F., können wir die großen Hoffnungen unseres Herzens besser ausdrüken als mit den Worten des Apostels: „der uns aber seinen Sohn gegeben und geschenkt hat, wie sollte er uns mit ihm nicht alles andere schenken?“ Ja das ist die vertrauende und lebendige Hoffnung einer jeden Seele, die in der Liebe des Erlösers schon lebt, und in dem Verhältniß zu ihm ihre Seligkeit und ihr Heil gefunden hat, wie uns der Vater ihn gegeben hat, so gewiß wird er uns auch mit ihm alles andere schenken. Aber, m. g. F., auch nur in ihm, nicht ohne ihn. Je mehr wir unser irdisches Leben mit allem, was uns | darin lieb und werth ist von unserem geistigen Leben trennen, um desto mehr begehren und wollen wir etwas ohne ihn, und in so weit sind wir nun zu keiner Hoffnung berechtigt. Wir erfahren es auch an uns selbst und an Andern, wie es darin liegt, daß so oft die Gedanken des Herrn nicht unsere Gedanken sind, und seine Wege uns unerforschlich, weil wir etwas wollen ohne Beziehung auf das Eine, was wir allein sollen, weil wir es wollen auf einem andern Wege als auf dem uns immer inniger mit demjenigen zu verbinden, durch den und in dem Gott uns alles Andere geben wird, und durch welchen allein er sich als unseren 25 schenken?] schenken. 2 1Joh 4,16

24–25 Vgl. Röm 8,32

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gütigen | und liebreichen Vater offenbart. Wenn wir nun, m. g. F., ein Recht haben das zu hoffen, daß auch in diesem Jahre unseres khristlichen Lebens uns Gott vieles schenken wird durch unseren Herrn Jesum Khristum und durch die Kraft seines Wortes und seines Werkes, durch die Vergegenwärtigung seines ganzen Lebens immer mehr khristliche Weisheit und Gottseligkeit und alles dasjenige, was vor Gott wohllautet und was zu einem khristlichen Leben gehört, in unser Herz geben, und dieses immer mehr reinigen: so können wir auch hoffen und sollen gewiß sein, daß er uns mit ihm auch alles andere geben wird. Denn | freilich, m. g. F., nur das, was uns von einigem Werth sein kann, um unserem Herrn die dankbare Liebe, mit welcher wir ihn empfangen, zu beweisen, in der seligen Erfüllung unseres Verlangens zu ihm, uns immer mehr zu stärken, und indem wir an seinem Werke allein arbeiten und es nach dem Maaße unserer Kräfte zu fördern suchen, auch in Andern und in uns den Trost und die Hoffnung der Zuversicht aufs neue zu beleben: das, m. g. F., wird der Herr uns gewiß mit ihm und durch ihn schenken. Sehet da, das sind die Gesinnungen, mit welchen wir den Herrn für dieses neue Jahr unseres gemeinsamen Lebens | gleichsam aufs neue in unserer Mitte empfangen haben. Immer mehr soll auf ihn allein, als auf den Mittelpunkt unseres gemeinsamen Lebens, jedes Verlangen unseres Herzens und so auch die ganze Aufmerksamkeit unseres Geistes gerichtet werden. In seinem Worte und in seinen großen und seligmachenden Thaten wird er sich unter uns aufs neue verklären. Aber wir sind nur in dem Maaße fähig das, was er uns darbietet, in uns aufzunehmen, als eben die rechte verlangende aber auch vertrauungsvolle Liebe zu ihm in unserem Herzen ist. Denn wo es an dem Verlangen fehlt, da werden umsonst die reichsten | Schäze dargeboten; denn auch angenommen können sie nicht genossen werden. Wo es an der Hoffnung, an der Zuversicht fehlt, da wird die Seele bald von diesem bald von jenem abgewendet, und in kleinlichen Besorgnissen verliert sie, was ihr dargeboten wird zu einem reichen und seligen Genuß. Ist aber in uns diese Liebe, die in Khristo gefühlt und befestigt wird, und in welcher wir mit dankbarem Herzen uns überall der Vergangenheit erinnern, und das festhalten, was uns schon durch den Erlöser geworden ist: dann werden wir auch empfänglich bleiben für alles, was er nach seiner milden und barmherzigen Gnade in dem nun begonne|nen Jahre unseres khristlichen Lebens uns zu geben von Herzen gesonnen ist. So laßt uns denn festhalten an ihm, und uns in allen Angelegenheiten unseres Lebens und unseres Herzens zu ihm und zu seinem Worte hinwenden, und von den beseligenden Erfahrungen der bisherigen Zeit unseres Lebens geleitet, immer gern da sein, wo der Herr nach seiner Verheißung unter denen sein 28 an der Hoffnung,] Ergänzung aus SAr 105 40–1 Vgl. Mt 18,20

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und sich in ihnen verklären wird, die in seinem Namen versammelt sind. Dann werden auch in diesem Jahre unseres Lebens alle seine und Gottes gnädige Verheißungen an uns in Erfüllung gehen. Amen. | 34r

Ja barmherziger, gnädiger Gott und Vater, Dir sei für dieses neue Jahr unseres khristlichen Lebens die Gemeine Deines Sohnes empfohlen. Laß Du die Verkündigung Deines Wortes und alle heilige Ordnungen der khristlichen Kirche überall gesegnet sein, damit das Reich Deines Sohnes unter uns sich baue und Alles, was Du in ihm uns gegeben hast, sich auch in einem immer reicheren Maaße bewähre als das einzige Heil, welches dem Geschlechte der Menschen Noth thut. Schaffe aber auch Deiner Kirche pp.

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[Liederblatt vom 7. Dezember 1823:] Am zweiten Advent-Sonntage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. [1.] Ohne dich, was sind wir, Jesu? / Dürftig, jämmerlich und arm, / Ach was sind wir? voller Elend! / Darum Jesu dich erbarm. / Laß dich unsre Noth bewegen, / Die wir dir vor Augen legen. // [2.] Ohne dich, du Helfer Jesu, / Kommt man nicht durch diese Welt, / Weil sie fast auf allen Wegen / Unsern Füßen Neze stellt. / Laß uns alle Stricke meiden, / Daß wir uns von dir nicht scheiden. // [3.] Laß den Geist der Kraft, Herr Jesu, / Geben unserm Geiste Kraft, / Daß wir brünstig dir nachwandeln, / Nach der Liebe Eigenschaft. / Ach Herr mach uns selber tüchtig, / So wird unser Wandel richtig. // [4.] Tritt die Feinde, starker Jesu, / Unter unsern schwachen Fuß! / Du kennst unser Unvermögen; / Gieb uns deines Heils Genuß, / Daß wir deine Kraft verspüren, / Nie den Muth zum Kampf verlieren. // [5.] Dann wird Lob und Dank, Herr Jesu! / Schallen aus des Herzens Grund, / Dann wird alles jubiliren, / Und dir singen Herz und Mund; / So wird überall auf Erden / Jesus hochgelobet werden. // Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc. [1.] Dir Jesu tönt vom Staube / Mein Lied hinauf zum Thron, / In dir erkennt der Glaube / Des ewgen Vaters Sohn. / Du Glanz der Herrlichkeit, / Um unser Heil zu gründen, / Zu retten uns von Sünden, / Erscheinst du in der Zeit. // [2.] Was läßt sich dir vergleichen, / Du unerschaffnes Wort? / Wer kann dein Lob erreichen? / Herr, keiner hier und dort. / Du dem sich demuthsvoll / Der höchste Seraf beuget, / Und tief verhüllt dir schweiget, / Wer preist dich, wie er soll? // [3.] Du kamst, Die Nacht muß schwinden, / Es glänzt ein reines Licht, / In welchem wir empfinden / Der Kinder Recht und Pflicht. / Nun sehn wir hocherfreut, / Wie Gott uns zärtlich liebet, / Im Sohn, den er uns giebet, / Sich uns zum Vater beut. // [4.] Uns Ruh und Trost zu geben, / Zu tilgen unsre Schuld, / Zu Gott uns zu erheben, / Litt’st du, Herr, mit Geduld. /

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Du starbst, doch hielt dich nicht / Der Tod in seinen Banden; / Jetzt, da du auferstanden, / Erschreckt uns kein Gericht. // [5.] Dein ist das Reich der Wahrheit, / Wo sich die Deinen freun, / In immer höhrer Klarheit / Von Sünd’ und Mängeln rein. / O seliger Gewinn! / Dich Heiland innig lieben, / Treu deinen Willen üben, / Das führt zum Himmel hin. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Wir bringen dir ein dankbar Herz, / Und wollen fromm in Freud und Schmerz / Nach deinem Vorbild wandeln. / Verwirf dies unser Opfer nicht, / Und gieb uns deines Geistes Licht, / Wie dirs gefällt zu handeln. / Sei uns freundlich, hilf uns Schwachen, / Daß wir wachen, / Beten, ringen, / Und zu deinem Reiche dringen. //

Am 14. Dezember 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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3. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,7–15 Nachschrift; SAr 85, Bl. 34v–58r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/8, 1837, S. 168–184 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 150v–151r; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 63v–69v; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Frühpredigt am dritten Sonntage des Advent 1823. | Tex t. Johannes III, 7–15. Laß dichs nicht wundern, daß ich dir gesagt habe: Ihr müsset von neuem geboren werden. Der Wind bläset, wo er will, und du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt. Also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist. Nikodemus antwortete und sprach zu ihm: Wie mag solches zugehen? Jesus antwortete und sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißest das nicht? Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: wir reden, das wir wissen, und zeugen, das wir gesehen haben; und ihr nehmt unser Zeugniß nicht an. Glaubet ihr nicht, wenn ich euch von | irdischen Dingen sage; wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde? Und niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel herniedergekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist. Und wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöhet werden; auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Wir wissen aus unserer vorigen Betrachtung, m. a. F., wie Nikodemus sich gewundert, und es gleichsam beklagt hatte, daß auch diejenigen, welche schon nicht mehr in der ersten Jugend und | in der frischen Blüthe des

[Zu Z. 2 von Schleiermachers Hand:] Frühpredigt am 3. Advent 1823 18–6 Vgl. oben 30. November 1823 früh über Joh 3,1–6

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Lebens ständen, um in das Reich Gottes einzugehen, sich dennoch einer gänzlichen Veränderung ihres Sinnes und einer neuen Geburt aus dem Geist unterwerfen sollten. Nachdem der Erlöser ihm nun seine ersten Worte hierüber bestätigt und es ihm noch einmal eingeschärft hatte, daß was vom Fleisch geboren auch nur Fleisch sei, was aber Geist sein solle, auch erst müsse aus dem Geist geboren werden: so fährt er nun fort, wie wir zuerst gelesen haben; „Laß dich’s nicht wundern, daß ich dir gesagt habe, ihr müsset von neuem geboren werden“, und sucht es ihm also erklärlich und begreiflich zu machen, wie es nicht anders | als so sein könne. Wie das aber aus den Worten, die er zur Erklärung sagt, hervorgeht, das ist wohl das Nächste, wonach wir fragen müssen. Der Herr sagt: „Der Wind bläset, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl, aber du weißt nicht, von wannen er kommt, und wohin er fährt; also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist.“ Wenn wir uns dieses Gleichniß des Herrn recht verständlich machen wollen, so können wir wohl nicht anders als so: er hat gemeint, ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist, der sei einem Ort zu vergleichen, wo der Wind bläst, dessen Sausen man wohl höre, aber nicht wisse, woher er kommt, | noch wohin er fährt. Nun ist aber gewiß, wenn wir das Sausen des Windes hören, so wissen wir in sofern recht gut, woher er kommt, und wohin er fährt, als wir eben die Weltgegend, aus welcher er kommt, unterscheiden können von der, wohin er geht. Das also hat der Herr nicht leugnen wollen, sondern er hat es vorausgesezt als etwas Bekanntes. Wenn wir aber den Wind sausen hören hier und dort, so wissen wir nicht, wo er seinen Anfang genommen hat, und wie weit sich diese Bewegung in der Luft erstrekt, und das ist es, was der Erlöser mit diesen Worten hat sagen wollen. Er meint also, wenn der Geist Gottes nach der alten Verheißung | des Herrn: „in jenen Tagen aber will ich meinen Geist ausgießen über alles Fleisch“, sein Werk auf Erden beginnen werde in dem größeren Maaße und in der reicheren Fülle, in welcher es nothwendig ist, wenn das Reich Gottes entstehen soll: so werdet ihr alle wohl merken, daß da etwas Besonderes und Ausgezeichnetes hervorgehe, daß ein neues und herrliches Dasein in den Gemüthern der Menschen sich bilde, und ihr werdet wohl unterscheiden können, daß das nicht vom Fleisch ist, und nicht ein Leben aus dieser Welt, sondern ein geistiges und höheres; aber glaubt nur nicht, daß ihr den Anfang oder das Ende desselben bestimmen könnt, | daß ihr im Stande seid die Schranken zu begreifen, welche die göttliche Allmacht und Weisheit, dieser großen und lebendigen Wirkung gesezt hat. Indem er nun ausdrüklich dazu sagt: der Wind bläst, wo er will, so hat er also auch ganz vorzüglich das im Sinne gehabt, daß der Geist Gottes in seinen Wirkungen sich nicht einschränken werde auf das jüdische Volk, sondern er wehe, wo er wolle, er werde thätig sein in dem ganzen Umfange des menschlichen 27–28 Joel 3,1 (zitiert in Apg 2,17}

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Geschlechts, er werde sich nicht begrenzen lassen durch diese oder jene Unterscheidung der Menschen; sondern werde sein Werk treiben in allen Gemüthern, und kein Volk der Erde werde von den Wir|kungen desselben ausgeschlossen sein. Das war zunächst für den Nikodemus, den der Herr unmittelbar vor sich hatte, eine hinreichende Erklärung darüber, daß ein jeder, um Theil zu haben an dem Reiche Gottes, welches durch die Kraft des göttlichen Geistes unter den Menschen gebaut werden sollte, eben weil es ein ganz neues und bis dahin noch nicht erschienenes Leben an das Licht bringen werde, aus dem Geist müsse geboren werden. Denn indem der Herr sagt: wie der Wind bläst, wo er will, so auch gebe der Geist Gottes in seinem Wirken für das Reich Gottes sich dadurch zu erkennen, daß auch die Heiden fähig seien von dem göttlichen Geist ergriffen zu werden, an der neuen Ge|burt aus dem Geist Theil zu nehmen, und in das Reich Gottes einzugehen: so folgt ja daraus, daß auch die Juden nicht konnten zu demselbigen kommen, vermöge dessen was sie als solche waren, sonst hätten die Heiden nöthig gehabt Juden zu werden; aber als Heiden hätten sie nicht können von dem Geiste Gottes erfüllt werden, und das neue Leben des Glaubens und der Liebe erben. Indem also der Herr den Nikodemus aufmerksam macht auf die unbegrenzte Wirkung des göttlichen Geistes, der sich an keinen Unterschied einzelner Völker, an keiner Abstammung von diesem oder jenem, an keinen darauf beruhenden Vorzug, an keine besondere Denkweise und Sprache | binde, und sich also durch nichts einschränken lasse: so will er ihm zu erkennen geben, wie nichts, was vermöge eines solchen äußerlichen Vorzuges in dem Menschen ist, schon an sich das Wesen des göttlichen Geistes und die Fähigkeit zum Reiche Gottes in sich trage. Aber indem der Herr nun sagt: „also ist ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist“, so liegt darin noch etwas anderes, wovon wir für uns noch eine besondere Anwendung machen können, wenn nämlich der Herr sagt: ein jeglicher, der aus dem Geist geboren ist, der sei eben so, daß man wohl höre und vernehme, was für ein Leben in ihm ist, aber von wannen es kommt und wohin es geht, das wüßten | wir nicht, das heißt also, wie wir es uns vorher deutlich gemacht haben in jedem Einzelnen sei der Anfang der Wirkungen des göttlichen Geistes nicht zu bestimmen, so wenig als das Ende derselben abzusehen sei. Das Leztere ist nun etwas unmittelbar Tröstliches für uns, daß nämlich in dem Gefühl der mannigfaltigen Unvollkommenheiten und Mängel, die wir nicht aufhören an uns zu entdeken, und in dem Bewußtsein des beständigen Streites zwischen dem Geist und dem Fleisch, in welchem man bisweilen noch kaum das Wehen des Geistes hört, indem sich das Fleisch zu laut macht und den Geist so viel als möglich betäubt, wir doch niemals die Hoffnung aufgeben sollen, daß wir es in | allem, was zu dem Reiche Gottes und zu der wahren Gottseligkeit gehört, immer weiter bringen und uns aus der Gewalt des sinnlichen und irdischen

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Lebens und des widerstrebenden Fleisches immer mehr losreißen und immer mehr Kraft gewinnen werden in dem Besiz des höhern geistigen Lebens, zu welchem wir alle wiedergeboren werden können aus dem Geist. Denn so wie der Herr sagt: niemand weiß, wohin er fährt, niemand weiß, wie weit diese Bewegung des göttlichen Geistes in der menschlichen Seele sich erstreke, und zu welchem Ziele sie den Menschen, der von ihr ergriffen ist, hinführen werde: so soll auch für uns nichts zu hoch sein, nichts zu stark, | was wir nicht zu den Früchten des Geistes, die der Apostel Paulus in seinen Briefen wiederholendlich aufzählt, und die der Gegenstand unserer khristlichen Bestrebungen sein sollen, rechnen könnten, nach allem, wie er an einem andern Orte sagt, sollen wir streben, was lieblich ist und was wohl lautet vor Gott und vor den Menschen, und wir sollen wissen, daß der göttliche Geist seinen Bemühungen in unserer Seele keine Schranken seze, und daß wir nicht sagen können dies oder jenes, was aus dem göttlichen Geist hervorgehe und zu dem Reiche Gottes gehöre, sei für uns unerreichbar; das wäre ein Unglaube an die große und ewige Kraft, | die durch den Geist in uns gelegt ist. Aber eben so, m. g. F., ist ein sehr lehrreiches Wort für uns jenes erste: „niemand weiß, von wannen er kommt.“ Wenn wir, m. g. F., das Sausen des Windes draußen hören, so wissen wir, daß er da ist, aber wir bescheiden uns leicht, daß er schon da gewesen ist, ehe wir sein Sausen gehört haben. Dasselbe sollen wir denken in Beziehung auf die Bewegungen des göttlichen Geistes in der menschlichen Seele. Wenn sie laut und vernehmbar sind für jeden aufmerksamen Beobachter des göttlichen Wirkens, wenn der Geist Gottes in seinen Regungen sich zu erkennen giebt, daß wir hier und dort etwas be|merken, was nur aus dem göttlichen Leben zu begreifen ist, welches er in den Gemüthern wirkt: so wissen wir, daß er da ist. Aber wir sollen uns eben so bescheiden, daß er auch vorher schon müsse da gewesen sein, ehe wir sein Dasein vernommen haben auf eine unerkennbare Weise, und daß diesen handgreiflichen Wirkungen desselben schon manches in der menschlichen Seele müsse vorangegangen sein, was dieselben vorbereitet und herbeigeführt hat, und daß von diesen tieferen und innigeren Wirkungen desselben gewiß noch etwas Köstliches in dem menschlichen Gemüthe zurükgeblieben ist. Aber wie pflegen wir doch | leicht darüber herzufahren, und von diesem oder jenem um uns her, weil wir das Sausen des Windes noch nicht hören, abzuurtheilen, um zu sagen, der Geist Gottes sei noch nicht in ihm, und habe sein Werk noch nicht begonnen in seiner Seele. O wie wenig müssen die sich selbst kennen, welche im Stande sind dies von irgend einem ihrer Brüder zu behaupten, der auch das Wort Gottes vernimmt, und in welchem die Kraft des Geistes 3 wiedergeboren] widergeboren 8–9 Vgl. Gal 5,22; Eph 5,9

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eben so gut wirksam sein kann zu seinem Heil. Wissen wir es nicht aus so manchen einzelnen Erfahrungen und aus der allgemeinen Geschichte unseres Lebens, | wie nicht selten still und geheimnißvoll der göttliche Geist in unserer Seele wirkt, ehe etwas davon äußerlich erscheint und wahrgenommen werden kann, wissen wir es nicht, wie oft er uns in der Stille treibt und mahnt dies oder jenes von uns zu thun, was nicht in Übereinstimmung ist mit dem göttlichen Willen, ehe von diesem Treiben und Mahnen des Geistes äußerlich etwas vernommen werden kann. So auch wenn wir vielleicht in diesem oder jenem unter unseren Brüdern das Zeugniß, welches der göttliche Geist in den Werken der Menschen empfängt und ablegt, noch nicht wahrnehmen, und das Sausen des Windes noch nicht hören: wir | dürfen deswegen nicht sagen, daß er nicht da sei, sondern sollen immer hoffen und vertrauen, auf das verborgene Wirken des göttlichen Geistes in jeglicher Seele, die mit in den Umfang des Reiches Gottes eingeschlossen ist, und an welche das Wort des Herrn eben so gut ergeht wie an uns. Nikodemus aber verstand noch nicht, wie denn ein solches in seinem ersten Anfang noch nicht Vernehmbares in seinem ganzen Wachsthum geheimnißvolles und in seinem Ende unbegreifliches Werk des göttlichen Geistes in dem menschlichen Geschlecht solle zu Stande kommen, und fragte daher, wie mag solches zugehen? Da antwortete Jesus und | sprach zu ihm: Bist du ein Meister in Israel und weißt das nicht? Diese Worte enthalten allerdings einen Vorwurf, den der Herr dem Nikodemus macht, daß er ein Meister in Israel sei, und das nicht wisse. Nun war freilich das Meiste in den dem jüdischen Volke von Gott gegebenen Gesezen und Offenbarungen auf dasselbe allein beschränkt, und so sah es sich auch immer an als [das] von Gott auf eine besondere Weise auserwählte Volk. Und darum waren allerdings auch die Meister des Volks diejenigen, welche die Schrift in einem höheren Grade kannten als alle übrigen, und bei denen sich jeder im Falle der Verlegenheit Raths erholen | konnte, sie waren wohl zu entschuldigen, wenn ihr ganzes Tichten und Trachten am meisten auf dasjenige gerichtet war, wodurch sich ihr Volk von allen übrigen Völkern unterschied, und wenn sie vorzüglich suchten das Bewußtsein dieser besondern Erwählung, daß sie einen Bund mit Gott hätten, und daß Gott der Herr ihnen seine Offenbarungen anvertraut habe, überall in dem Volke lebendig zu erhalten. Aber freilich hätten sie es wohl wissen und auch ihre Aufmerksamkeit darauf richten sollen, daß es Verheißungen in dem alten Bunde gäbe, die sich weit über die Grenzen des jüdischen Volkes hinaus erstrekten, und daß in demselben ein Heil verheißen | sei, welches über die ganze Welt ausgehen und ein Licht der Heiden werden sollte. Das war ihnen nun freilich nicht unbekannt, aber sie begnügten sich größtentheils damit, zu denken, der Herr werde eine Zeit der Gnade kommen lassen, wo auch die Heiden sich zu ihm wenden würden; aber ganz auf dieselbe Weise, wie sie gewohnt waren Gott anzubeten, die Verehrung des Höchsten, welche unter ihnen

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bestand, würden dann auch jene theilen, und sich mit ihnen beugen unter das Joch des Gesezes, und sammeln zu derselben Verehrung Gottes nach der Weise der Väter. Nun aber hätten sie wissen sollen, wie wenig dieses Gesez | und die darauf ruhende Art und Weise, den Höchsten zu verehren, dazu geeignet war, daß alle Menschen ohne Unterschied sich dazu bequemen könnten, dasselbe anzunehmen und zu befolgen, und wie bei aller Vortrefflichkeit desselben doch so vieles darin war, was nur in die engen Grenzen eines einzelnen Volkes eingeschlossen bleiben müsse. Wer also ein Ausgezeichneter war unter dem Volke, wie denn die Meister in Israel dazugehörten, dem konnte der Herr mit Recht dies zum Vorwurf machen. Hätten sie das erkannt, wie sie es konnten, hätten sie im Herzen das Verlangen gehabt, es möge sich dasjenige bald offenbaren, was die Quelle | des Heils für alle Menschen sei, hätten sie sich mit inniger Sehnsucht zu dem Bewußtsein erhoben, die göttliche Barmherzigkeit werde doch endlich einmal die Schranken, durch welche nicht nur ihre Wirkungen gehemmt, sondern auch ein Theil der Menschen von dem andern gesondert würde, und keiner recht froh werden könnte ihrer beseligenden Kraft, die werde sie endlich durchbrechen, um sich mit ihrer Milde über das ganze menschliche Geschlecht zu verbreiten; dann wären sie fähiger gewesen, den Herrn auf eine würdige Weise zu empfangen, und würden das Volk zu ihm hingeführt haben, und nicht, wie sie es thaten, von | ihm ab. Aber, m. g. F., so ist es, und auch noch nachher haben wir zu verschiedenen Zeiten dasselbe erfahren, daß auch diejenigen, die wir den Meistern in Israel vergleichen können, doch nur zu lange bei denjenigen stehen blieben, was nur das Eigenthum und das Gut einer bestimmten Zeit oder eines kleinen Theiles der khristlichen Kirche sein konnte, und daß sie eben so, wie damals Nikodemus in dem Gespräche mit dem Herrn und wie alle, die mit ihm Meister in Israel waren, nicht im Stande gewesen sind, sich über diesen engen Gesichtskreis zu erheben, und das Werk der göttlichen Gnade in seinem | großen und ganzen Umfange zu erfassen, und daß sie eben deswegen die Gläubigen dadurch irre geleitet haben, daß sie einen zu großen Werth legten auf dasjenige, was nur einer bestimmten Zeit und einem gewissen Theile der Khristen eigen sein kann, dagegen aber das Allgemeine und Größere versäumten, worauf das Heil des Ganzen ruht. Darum vorzüglich in dieser Hinsicht soll zu jeder Zeit die khristliche Kirche in allen ihren Gliedern sich selbst prüfen, ob in Beziehung auf das, was zu jenen allgemeinen und durch keine Schranken der Völker und der Zeiten unterbrochenen und gehemmten Wirkungen des göttlichen Geistes | gehört, alle diejenigen, welche Meister in Israel sein wollen, auch erkennen was Noth thut, ob ihr ganzes Bestreben und all ihr Tichten darauf gerichtet ist, den göttlichen Geist, wo er sich in 17 könnte] könnte,

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den Menschen regt und sie zum Tempel Gottes heiligt, in seinen leisesten Wirkungen wahrzunehmen, und ihn noch eher zu belauschen, und die Menschen darauf hinzuweisen, als die ganze Welt sein Sausen vernimmt, und ob sie mit allem Ernst danach trachten, immer mehr frei zu werden von jeglichem Wahn der Beschränkung, als ob der Geist Gottes an diese oder jene äußerliche Art der Verehrung des Höchsten gebunden sei, und als ob sein Werk in der menschlichen Natur untergehen werde, wenn das zerfällt, worin sich seine | Kraft in einer gewissen Zeit und unter einem gewissen Theil des menschlichen Geschlechts offenbart. Darum fährt der Herr fort: „Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, wir reden, das wir [wissen, und zeugen, das wir] gesehen haben, und ihr nahmt unser Zeugniß nicht an.“ Was, m. g. F., der Herr öfter in seinen Reden an das jüdische Volk wiederholt, und was er schon hier in dem ersten Anfang seiner öffentlichen Wirksamkeit zu dem Nikodemus sagt, das ist das Verhältniß, in welchem er, so lange er lebte und lehrte, zu dem Volk, dem er angehörte, und unter welchem er eben lebte und lehrte, gestanden hat. Im Ganzen konnte er immer zu demselben sagen; ich rede, was ich weiß, ich offenbare den Menschen alles, was der | Vater im Himmel mir gegeben hat, wie er auch in seinem lezten Gebet vor seinem himmlischen Vater sich selbst dieses Zeugniß giebt, aber ihr rechnet mein Zeugniß nicht an. Vorzüglich aber war es das Zeugniß von der Allgemeinheit der göttlichen Gnade, davon, daß Gott Anbeter haben wolle im Geist und in der Wahrheit, und nicht Anbeter im Gesez, davon, daß eine Zeit kommen werde, wo die wahre Verehrung Gottes und die lebendige Gemeinschaft mit Gott nicht an irgend einen Ort und an ein einzelnes Volk gebunden sein sollte, und was damit zusammenhängt, daß das Reich Gottes nicht mit äußerlichen Gebehrden komme, | sondern daß es innerlich in den menschlichen Seelen aufgehen müsse, das war es, was er am lautesten zeugte, weil er den Vater in sich wohnen hatte und ununterbrochen bei sich, das war es, was er beständig redete, aber auch zugleich das Zeugniß, welches die Menschen nicht annahmen. Wenn wir auf die ganze äußerliche Gestalt der khristlichen Kirche merken, so müssen wir auch jezt noch dasselbe sehen. Ja es wird durch das Wort Gottes und durch diejenigen, welche dasselbe in seinem eigentlichen Verstande erklären immer noch dieses Zeugniß abgelegt von der Innerlichkeit des Lebens mit Gott, und eben deshalb von der Unvergänglichkeit | desselben, es wird immer noch dies Zeugniß abgelegt von der Freiheit der Kinder Gottes, daß ihr Leben durch nichts Äußerliches beschränkt und an kein menschliches Gesez gebunden sein soll. Aber der größte Theil der Menschen auch unter denen, die das Wort Gottes vernehmen und es aufrichtig mit demselben meinen, hängt sich an dieses oder jenes Einzelne, und sezt in irgend ein 17–19 Vgl. Joh 17,4–8

21–25 Vgl. Joh 4,21.23

26 Vgl. Lk 17,20

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äußerliches Thun und in irgend einen Buchstaben der Lehre den höchsten Werth, und deswegen dringen so Viele von ihnen nicht hindurch zur rechten Freiheit der Kinder Gottes. Darum müssen wir es zum Gegenstande unseres Gebetes vor Gott machen, daß dieses | höchste und tiefste Zeugniß, welches der Erlöser vor den Menschen abgelegt hat, und welches so klar aus seinen eigenen Worten hervorgeht, doch immer mehr möge angenommen und verstanden werden. Aber was der Herr weiter sagt: glaubet ihr nicht, wenn ich euch von irdischen Dingen sage, wie würdet ihr glauben, wenn ich euch von himmlischen Dingen sagen würde, diese Worte nehmen uns billig Wunder. Denn wie sollen wir dies verstehen? Es scheint als ob er voraus seze, er habe bis jezt nur noch von irdischen Dingen geredet, aber es gebe noch andere himmlische Dinge, die er nicht wage zu sagen, weil da sie nicht die irdischen glaubten, sie die himmlischen um so | viel weniger glauben würden. Aber was er vorher behauptet hatte von dem Leben aus Gott, von der neuen Geburt aus dem Geist, ohne welche niemand in das Reich Gottes eingehen könne, von dem unbegreiflichen Anfang und Ende des geistigen Daseins, dessen Schöpfung durch ihn selbst vollbracht werden sollte, wer möchte sagen, daß dies etwas Irdisches gewesen sei, oder – denn so werden freilich diese Worte auch oft gebraucht und einander entgegengesezt, daß das Geringfügige und Unbedeutende das Irdische heißt, das Große und Wichtige aber das Himmlische – wie könnte man behaupten wollen, daß die Lehre von der Wiedergeburt aus dem Geist etwas | Unbedeutendes sei und etwas Menschliches, da grade sie der Angel ist, um den sich das ganze Khristenthum dreht. Aber freilich, m. g. F., der Erlöser hatte ja immer den ganzen Zusammenhang der Erzeugung und Erregung des neuen Lebens noch nicht auseinander gesezt, sondern nur die äußern Verhältnisse davon, daß es einen Unterschied gebe zwischen dem, was aus dem Fleisch geboren Fleisch sei, und zwischen dem, was aus dem Geist geboren Geist sei, und diese äußern Verhältnisse in Beziehung auf die Erscheinung der neuen Geburt hatte er dargestellt. Insofern also mochte er sagen, daß er Irdisches geredet habe, weil er nur von der äußerlichen Seite die großen und | heiligen Dinge behandelt hatte, und selbst noch zweifelte, ob nun Nikodemus ihn verstehen werde, da er im Begriff war ihm das Innerste und Tiefste davon aufzudeken. Er fährt aber also fort: „Niemand fährt gen Himmel, denn der vom Himmel hernieder gekommen ist, nämlich des Menschen Sohn, der im Himmel ist.“ Diese Worte werden wir nur recht verstehen, wenn wir an ein Wort in dem alten Bunde denken, wo nämlich in jenem Buche, in welchem nach Wiederholung alles Wesentlichen aus den vorhandenen göttlichen Geboten Moses dem jüdischen Volke einzuschärfen sucht, daß das Wort Gottes ihnen nicht verborgen und fern, sondern nahe sei, da fügt er hinzu: „ihr dürft nicht sagen, | daß es im 14–16 Vgl. Joh 3,5 Dtn 30,11–14

16–18 Vgl. Joh 3,8

27–29 Vgl. Joh 3,6

37–4 Vgl.

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Himmel sei, denn wer wird wohl in den Himmel hinauf fahren und es uns holen, auch dürft ihr nicht sagen, es sei über dem Meere, denn wer wird über das Meer fahren und es uns holen, daß wir es hören, sondern es ist nahe bei euch, in eurem Munde und in eurem Herzen.“ Das meint aber eben der Herr, das gelte nur von dem Worte des alten Bundes, von dem, welches der Herr zu dem jüdischen Volk besonders geredet und demselben geboten habe; aber was er in seiner gegenwärtigen Rede als etwas Himmlisches angedeutet habe, das sei auch wahrhaft ein Himmlisches, das sei bisher noch nicht in einem menschlichen Munde und einem mensch|lichen Herzen vorhanden gewesen, noch in irgend einer Offenbarung ausgesprochen; und weil es eben vom Himmel komme müsse, so wäre auch keiner unter den Menschenkindern, der hinauffahren könne um es herab zu holen sondern der allein, der vom Himmel herabgekommen ist, des Menschen Sohn, der im Himmel ist, der sei bestimmt es den Menschen zu bringen, und eben weil er oben gewesen und es von dem himmlischen Vater gehört, auch fähig es ihnen zu offenbaren. Wenn aber der Herr von sich selbst sagt: „Des Menschen Sohn sei vom Himmel herniedergekommen“, und dann hinzufügt, „Der im Himmel ist“, so ist auch dies auf den ersten Anblik | unverständlich, aber ich glaube doch näher betrachtet, werden wir es wohl verstehen. Nämlich können wir wohl jemals sagen, daß der Herr während seines Lebens auf Erden nicht im Himmel gewesen sei? Denken wir uns doch die rechte Seligkeit seiner Nachfolger für uns darin, daß wir den Himmel auf Erden haben, und hat er doch selbst gesagt, daß wer diese Seligkeit fühlt und an ihn glaubt, der habe das ewige Leben. Das ewige Leben aber haben, und an den Sohn Gottes glauben, das ist eins und dasselbige. Und so sagt er von sich selbst, daß er ausgegangen sei vom Vater, und den Vater immer in sich wohnen habe. Aber in der Nähe Gottes sein, Gott überall gegenwärtig haben | und im Himmel sein, das ist wiederum eins und dasselbige. Was meint also wohl der Herr, wenn er dieses im Himmelsein entgegenstellt dem vom Himmel herabgekommen sein. Für sich betrachtet war der Herr immer im Himmel, er war aber vom Himmel herabgekommen nur in sofern, als er sich den Menschen offenbarte. So sagt er also, das Wort des Lebens, von welchem alle Bewegungen des göttlichen Geistes ausgehen, kann keiner in den Himmel hinauf fahrend herabholen, es würde den Menschen ewig verborgen bleiben, wenn nicht des Menschen Sohn, der Sohn Gottes selbst, der im Himmel ist, es vom Himmel herab den Menschen brächte, wenn der sich nicht den Menschen aufthäte | und mittheilte, um ihnen das Wort des Lebens zu geben, welches nur in seinem Herzen und in seinem Leben ursprünglich und ihm unmittelbar gegenwärtig und nahe ist. 26–27 Vgl. Joh 16,28.32

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Und nun fährt er fort den ersten Anfang dieser himmlischen Offenbarung dem Nikodemus mitzutheilen in den lezten Worten, die wir gelesen haben, „wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren wären, sondern das ewige Leben haben“. Moses, der erhöhete auf einen besondern göttlichen Befehl die eherne Schlange, wie wir wissen, damit die, welche von den giftigen Schlangen gebissen waren, indem sie auf jene eherne Schlan|ge hinschauten, von ihrem Uebel geheilt würden. So, sagt der Herr, muß auch des Menschen Sohn erhöht werden, das heißt, allgemein den Menschen dargestellt zu einem heilsamen Zeichen, auf daß, so wie damals alle, die von dem Biß der giftigen Schlangen verlezt waren, ohne Unterschied, indem sie auf die von Moses ihnen vorgehaltene Schlange schauten, gesund wurden, so auch, wenn sie auf den für alle Menschen zum Zeichen aufgestellten Menschensohn schauen, sie nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Auch hier also wiederholt der Herr absichtlich die von ihm schon angedeutete Lehre von der Allgemeinheit der göttlichen Gnade im Khristenthum, indem er | sagt: alle die an ihn glauben, alle die von ihm ergriffen werden, das heißt also, das ganze menschliche Geschlecht ohne Unterschied, so sie an ihn glauben sollen sie nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. So gewiß ist es, daß der Herr das Gefühl von der Allgemeinheit seiner Erlösung in sich gehabt hat, daß er nicht geglaubt hat, er sei nur bestimmt für das Volk, unter welchem er geboren war und lebte, wenn gleich er sagt, er sei nur gesandt zu den verlorenen Schaafen aus dem Hause Israel. Sehr gut können wir uns diese beiden entgegengesezten Worte mit einander ausgleichen. Seine persönliche Wirksamkeit sollte sich nur so weit erstreken, denn die mußte | menschlicher Art sein, und in dieser Hinsicht war er durch seine Geburt und durch alle seine äußern Verhältnisse dahin gewiesen, sein ganzes Leben und Wesen, welches sich nur auf einen kleinen Kreis beschränken konnte, in dem Gebiete seines Vaterlandes und seiner Stammesgenossen zu führen. Aber wenn er würde erhöht werden zu einem allgemeinen Zeichen für alle Menschen, wenn das überall würde verkündigt werden, daß Gott die Welt richten werde in einem Manne, in welchem er es beschlossen habe, und daß er die Zeiten der Unwissenheit übersehen wolle, nun aber einem jeden gebiete Buße zu thun: dann würde jene Beschränkung fallen, und alle, die an ihn glauben, würden nicht verloren gehen, | sondern das ewige Leben haben. Wie er aber anderwärts sagt, so lange das Weizenkorn noch über 7–8 Schlangen gebissen waren, indem sie auf jene eherne] Ergänzung aus SW II/8, S. 181 5–8 Vgl. Num 21,8–9 2 Vgl. Joh 12,24

23–24 Vgl. Mt 15,24

32–35 Vgl. Apg 17,30–31

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der Erde ist und nicht erstorben, so bleibt es allein, soll es aber Frucht bringen, so muß es in die Erde fallen und ersterben: so dürfen wir auch nicht leugnen, wenn gleich die Worte, daß des Menschen Sohn muß erhöht werden, in der Ähnlichkeit mit dem Bilde, welches der Herr hier aufstellt, auf nichts anderes unmittelbar gehen können als auf die allgemeine Verkündigung Khristi, auf das Zeichen, welches Gott dem menschlichen Geschlecht gegeben hat, so hat er dabei doch auch an seinen Tod gedacht, in welchem noch eine besondere Ähnlichkeit mit seinem Erhöhtsein liegt, und er hat es gewußt nach der | ihm von Gott gegebenen Erkenntniß, daß das allgemeine Heil des menschlichen Geschlechts hervorgehen müsse aus seinem Tode, daß nur, wenn er würde ans Kreuz erhöht sein, er zum Zeichen dargestellt werden könne dem menschlichen Geschlecht, und daß so die Verheißung würde erfüllt werden, daß alle, die an ihn glaubten nicht würden verloren gehen, sondern das ewige Leben haben. Und das also hat der Herr gesagt als das Erste unter den himmlischen Dingen, von welchen er fürchtete, daß sie schwer zu begreifen wären für den, mit dem er redete, als das Erste, woraus jene neue Geburt aus dem Geist begriffen werden kann; und in der Verbindung, worin er beides sezt, liegt eben dasselbige, daß | wir den göttlichen Geist nur erhalten aus dem Glauben, daß es einen andern Weg und eine andere Quelle des Heils nicht giebt, als nur in sofern wir alle den Anfang kennen der neuen Geburt aus dem Geist, in sofern wir alle dem nachgehen können, von welchem alle Bewegungen des göttlichen Geistes ausgehen. In ihm war er ohne Maaß, in ihm war die Fülle der Gottheit leibhaftig. Wenn wir uns an ihn wenden und auf ihn unser Verlangen richten, dann, wie er seine Jünger einst leiblich anhauchte, erfüllt er uns mit seinem Geist, und giebt uns seinen Frieden, und so entsteht der Glaube aus dem Geist. Denn anders nicht als so geschieht es. Wir alle haben den | Geist und theilen ihn, aber er ist so gebunden an den Glauben, daß wir nicht anders zur Theilnahme an demselben gelangen können, als durch den Glauben, und daß es kein anderes Heil giebt, als welches daher fließt aus dem Glauben an Khristum, und kein anderer Name den Menschen gegeben ist, worin sie selig werden sollen, als der Name des Erlösers. Und was Gott so verbunden hat, das kann der Mensch nie lösen. Nie wird der Geist Gottes etwas anderes thun als den verklären, der vom Himmel herab gekommen ist, wo er ewig war, nie wird er etwas anderes thun, als es von dem Seinigen nehmen und ihn verherrlichen. Aus seiner Fülle muß alles kommen, | um den Menschen den Geist zu erweken, der sie mit Gott vereinigt. Aus der laßt uns alle schöpfen für uns und für Andere, damit auch von uns das Wehen des Geistes in dem unendlichen Gebiet seiner Wirksamkeit, so wie

25–26 Vgl. Joh 20,21–22

30–32 Vgl. Apg 4,12

35–36 Vgl. Joh 16,14–15

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das Sausen des Windes immer mehr vernommen werde, und damit auch auf der andern Seite die Menschen um uns her das ewige Leben schöpfen können, für welches sie bestimmt sind. Amen.

Am 21. Dezember 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 12,17–20 a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 22r (unvollendet) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 85, Bl. 58v–74r; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 18r–30v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 151r–151v; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Autograph Schleiermachers Adventspredigt Die milde Regierung Christi.

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M. a. Fr. Es soll gewiß nicht ein leeres Wort sein wenn wir Christum unsern Herrn nennen. Anfänglich in seinem öffentlichen Leben zwar war das eine Bezeugung von Höflichkeit und Achtung, die vielen Andern eben wie ihm zu Theil ward; es war ein Ehrenname, welchen die Ungelehrten dem großen Ausleger der Schrift nicht nur die Jünger und Schüler ihrem Lehrer und Meister gaben. Allein je mehr sich in diesen die Ueberzeugung von der höheren Würde des Erlösers befestigte und entwickelte, und je bestimmter Alle die sich dazu nicht erheben konnten anfingen ihn geringzuschäzen und zu verwerfen um desto mehr ward diese Benennung nun der christlichen Kirche eigenthümlich und um desto höher stieg auch ihre Bedeutung, so daß schon Paulus sagen konnte „Niemand kann Jesum einen Herrn nennen ohne durch den heiligen Geist[“]. Ja jeder der wahrhaft an ihn glaubt soll auch wissen daß Er über uns alle regiert und alle die Seinigen leitet und seinem Wort und Wink soll die Seele mit allem was in ihr ist immer gewärtig sein. [Der Text endet hier.]

1–2 Adventspredigt ... Christi.] am rechten Seitenrand 14–15 1Kor 12,3

15 glaubt] korr. aus glauben

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b. Nachschrift Predigt am vierten Adventsonntage 1823. |

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Matthäi XII, 17–20. Also ward erfüllet, das gesagt ist durch den Propheten Jesaiam, der da spricht: Siehe, das ist mein Knecht, den ich erwählet habe, und mein Liebster, an dem meine Seele Wohlgefallen hat; ich will meinen Geist auf ihn legen, und er soll den Heiden das Gericht verkündigen. Er wird nicht zanken noch schreien, und man wird sein Geschrei nicht hören auf den Gassen; das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen, und das glimmende Tocht wird er nicht auslöschen, bis daß er ausführe das Gericht zum Siege. M. a. F., Wenn wir den Erlöser in seiner Ankunft auf Erden, die wir in dieser Zeit feiern, unsern Herrn nennen, so fühlen wir | wohl, was für eine große und tiefe Bedeutung das hat. Ursprünglich war es eine Bezeichnung freilich, die zuerst die Schüler ihrem Lehrer und Meister, dann aber auch die große Menge des Volks den ausgezeichneten Lehrern und Auslegern der Schrift gab. Aber je mehr sich nun diejenigen, welche ihn aufnahmen, in einem besondern Glauben an ihn vereinigten, und diejenigen, die eines solchen nicht fähig waren, ihn zu schmähen und zu verwerfen anfingen, desto tiefer ward der Sinn, in welchem jene ihn ihren Herrn nannten. Wir würden ihn, m. g. F., bei weitem nicht ganz ergreifen, wenn wir uns dies sagen wollten, daß die Herrschaft des Erlösers eine rein | geistige sei. Denn eine andere als eine solche kann es eigentlich unter den Menschen gar nicht geben und giebt es auch nicht; denn kein Mensch kann den Willen und die Kraft des Andern, so nur der Wille fest genug ist, auf irgend eine andere Weise beherrschen als auf eine geistige. Aber wenn alle Herrschaft geistig ist, so ist doch noch ein großer Unterschied. Wir sehen bisweilen leider eine solche ausgeübt über die Menschen, deren diejenigen sich schämen müssen, an denen sie geübt wird, und diejenigen sich schämen sollten, welche sie üben; wir sehen häufig eine solche, welcher der größte Theil derer, die ihr unterworfen sind, sich nur ungern und mit Wiederstreben fügt, | und es als ein großes Gut erkennen würde dieser Gewalt und Herrschaft überhoben zu sein, und nur wenige giebt es von der Art, deren beide Theile sich freuen und im gleichen Maaße Ursache haben, sich immer zu freuen. Eine solche

[Zu Z. 2 von Schleiermachers Hand am rechten Seitenrand:] Hauptpredigt am 4. Advent 1823. III Adventspredigt. Die Herrlichkeit der Herrschaft Christi in ihrer Milde [Zu Z. 2 von Schleiermachers Hand:] Text. 26 Unterschied] Hier fehlt offenbar ein Satzteil.

27 ausgeübt] ausüben

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nun ist aber die Herrschaft des Erlösers, und zwar so, daß keine menschliche mit ihr kann darin verglichen werden. Davon legen nun die aus mehreren Stellen jenes alten Propheten zusammengesuchten Worte, die der Evangelist Matthäus, wie wir gelesen, auf den Herrn anwendet, ein ganz besonderes Zeugniß ab. Wir erkennen darin freilich auf der einen Seite die Würde und die Herrlichkeit, die in dieser Herrschaft des Erlösers | als einer ihm von Gott besonders anvertrauten, und dadurch daß er seinen Geist auf ihn gelegt, geheiligten angesehen wird; aber worauf uns doch die Worte unseres Textes ganz vorzüglich und auf eine ganz eigenthümliche Weise führen, das ist, daß wir eben die Hoheit und die Herrlichkeit in der Herrschaft Khristi bewundern sollen in der eigenthümlichen Milde derselben. Und das laßt uns, damit wir uns aus recht vollem Herzen seiner als unseres Herrn erfreuen mögen, näher mit einander erwägen. Wir erkennen aber die Milde dieser seiner Herrschaft besonders an zweierlei, einmal daran, auf welche Weise er sich Geist und Gemüth der Menschen unterwürfig macht; | dann aber auch daran; auf welche Weise er sein Reich auf Erden ordnet und regiert. Und auf dies beides laßt uns jezt mit einander unsere khristliche Aufmerksamkeit richten. I. Wenn ich es in wenige Worte zusammenfassen soll, wie sich die Art und Weise wie der Herr sich die Gemüther der Menschen unterwürfig macht, von jeder andern unterscheidet, so möchte es dadurch sein, wenn wir sagten, er unterwerfe sich uns nicht so, daß er uns dadurch erniedrigt, sondern so, daß er uns dadurch erhebt und zu sich selbst hinaufzieht. Wie fremd, m. a. F., ein solches Verfahren gewöhnlich der Herrschaft ist, welche Menschen über | Menschen ausüben, das bedarf wohl keiner großen Auseinandersezung. Wie sehen wir nicht die meisten Menschen eben in dem Maaße als sie wünschen einen geistigen Einfluß auf andere auszuüben, ihnen alle ihre eigenen Vorzüge, alle Gaben, womit Gott und die Natur sie gesegnet hat und alles, was sie sich selbst durch Mühe und Anstrengung erworben haben, den Menschen auf eine solche Weise einleuchtend zu machen, daß ihr Auge dadurch geblendet wird. Wie suchen sie sie nicht durch diese Darlegung ihrer Vorzüge mit einer Bewunderung zu erfüllen, die mehr und mehr in Erstaunen übergeht, und dadurch den Menschen auf der einen Seite unfähig macht, | sich selbst hierüber zu erheben, und auf der andern desto mehr geneigt ihr ganzes Dasein an das des bewunderten und so sehr über sie erhöhten Wesens anzuknüpfen. Und außerdem wie suchen die Menschen auf andere zu wirken und sie sich zu unterwerfen, indem sie sie loken durch allerlei sinnliche und irdische Hoffnungen, oder schreken durch allerlei Furcht und Besorgniß. Denn auch das, m. g. F., ist doch immer eine geistige Herrschaft; nur in der Seele des Menschen lebt Furcht und Hoff-

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nung, nur von ihr geht die Lust aus, sei es nun, daß sie die Sünde empfängt und gebiert, oder sei es, daß sie dieselbe zum guten führt. Wenn wir nun, m. g. F., fragen, | wie sich denn in den Tagen seines Fleisches und auch seitdem unser Erlöser gezeigt hat in dem Geschäft, sich zum Herrn der Menschen zu machen und ihre Gemüther sich zu unterwerfen, so finden wir davon das ganz Entgegengesezte. Wie hätte er nicht können, er in welchem die Fülle der Gottheit wohnte, in welchem diejenigen, denen das Auge des Geistes geöffnet wurde, je länger je mehr die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater erkannten, wie hätte er die Menschen überall, wo er auftrat, mit Bewunderung erfüllen und in Erstaunen sezen können! Aber nein, der Apostel sagt, er hielt es nicht für einen Raub Gott gleich sein, sondern erniedrigte sich selbst, | und nahm Knechtsgestalt an. In einer bescheidenen und demüthigen Gestalt trat er auf als derjenige, der jeden Schein äußerer Hoheit vermied so sehr, daß er von sich sagen konnte, er habe nicht, wo er sein Haupt hinlege. Und wenn die eigenthümliche Kraft und die Einwohnung der Gottheit, durch welche er sich von allen andern Menschen unterschied, doch ausbrach auf der einen Seite in seinem Wort und in seiner Lehre, wie wenig war doch die Art, wie er diese äußerte, dazu geeignet, als etwas ganz Neues und Unerhörtes sich den Menschen darzustellen, und sie zu bewegen. Nein auch sie trat auf in einer einfältigen Gestalt in Gleichnissen und Sprichwörtern, in kurzen | Reden tiefen Sinnes, worin aber freilich für diejenigen, die schon eine Neigung des Herzens hatten, sich ihm zu unterwerfen, die Geheimnisse seines Verhältnisses zu Gott und zu den Menschen niedergelegt waren, aber immer werden diese höheren Reden immer wieder, daß ich so sage, durch jene gewöhnlichen und gemeinsam verständlichen unterbrochen. Und wenn eben diese seine eigenthümliche Kraft ausbrach in seinen Wunderthaten, wie suchte er sie auch da auf eine solche Weise zusammenzuhalten, daß die Wirkung, welche sie auf die Menschen machte, auf keine solche äußerliche Weise verstärkt wurde. Darum verknüpfte er seine Wunderthaten immer unmittelbar mit solcher Noth | und mit solchem Elend der Menschen, wovon das Auge der Meisten sich am liebsten abwendet, und nirgend verstand er sich dazu, irgend da, wo es am meisten Aufsehen hätte machen und am meisten Erstaunen erregen können, irgend da, wo Menschen von ihm forderten, sie möchten ein Zeichen sehen, um das, was er auch in einfachen und schlichten Worten von sich selbst behauptete, zu beglaubigen, niemals verstand er sich dazu irgend einen solchen und unter solchen Umständen zum Zeugen seiner wunderbaren Kräfte zu machen. Sondern nur indem allmälig, so 6 davon das] so SAr 105, Bl. 21v; Textzeuge: daran, daß 6–7 Vgl. Kol 2,9 Mt 8,20; Lk 9,58

8–9 Vgl. Joh 1,14

11–12 Vgl. Phil 2,6–7

14–15 Vgl.

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wie er als Mensch unter den Menschen erschien, zuerst die menschliche Lehre und die menschliche Weisheit und dann nur allmälig die Tiefe | und das Göttliche derselben sich den Menschen zu erkennen gab, nur so, daß seine Herrlichkeit und seine Herrschaft ihnen nicht eher erschien, als bis ihr Herz schon den Anfang gemacht hatte, sich ihm zu unterwerfen, nur so wollte er seine Gewalt den Menschen beweisen. Aber wie sehr hat er es verschmäht durch Hoffnung oder durch Furcht auf die Menschenkinder zu wirken. Freilich verkündigte er Leiden und Schmerzen, und sagte sie voraus, aber am meisten und mit der größten Gewißheit den Seinigen. Nicht also, daß sie seine Herrschaft ansehen sollten als eine solche, welche sie frei machen könnte oder wollte von den Leiden und Schmerzen der Erde, sondern im Gegentheil weit entfernt so auf sie zu wirken, so suchte | er ihnen nur das, was für sie eben so unvermeidlich sein sollte wie für ihn selbst, so nahe zu bringen und an das Herz zu legen, daß in der Liebe zu ihm und in der freudigen Erfüllung seines Willens sie mit den Trübsalen und Leiden dieser Welt spielen und scherzen könnten. Freilich verkündigte er auch Freude und Lust, einen Frieden, der unter allen Umständen der Welt in dem Herzen des Menschen wohnen soll, eine Freude an Gott, dem uns überall Nahen und Gegenwärtigen und seiner väterlichen Leitung. Aber nicht verkündigte er diese um die Menschen zu sich zu loken, denn sie war nur denen erreichbar, die das Bedürfniß von ihm regiert und geleitet zu werden, sich unter seinen | Schuz und unter seine Obhut zu stellen, schon gefunden hatten. Fragen wir aber, wodurch er denn nun vorzüglich die Menschen sich selbst unterwarf und unter seine Herrschaft beugte? so geschah es eben dadurch, daß weit entfernt sie zu erniedrigen, und sich über sie zu erheben er ihnen nur ihren Zustand darstellte als einen Zustand der Erniedrigung, und sie fühlen ließ, daß sie jezt, so lange sie frei wären von seiner Herrschaft, nichts anderes wären als mühselig und beladen, daß sie jezt in der Trennung von ihm einhergingen unter dem Joche und in dem Zustande der Knechtschaft, und dann sie einlud zu ihm zu kommen, und sich bei ihm zu erquiken unter seiner Herrschaft | die beschwerliche und drükende Last abzuwerfen, und aus dem Zustande der Knechtschaft überzugehen in den der Freiheit. Diese Freiheit verkündigte er ihnen indem er sie einlud, sich unter seine Herrschaft zu begeben, als den stellte er sich ihnen dar, der allein im Stande sei, die unter die Knechtschaft der Sünde und des Todes gebeugten Seelen der Menschen durch sich und durch die Kraft der Wahrheit, die ihm einwohnte, auch wahrhaft frei zu machen. Und wenn sie sich so von ihm frei machen ließen, indem sie sich ihm unterwürfen, so verhieß er ihnen dann, daß sie so wie seine Diener auch seine Brüder sein würden, daß er unter ihnen wohnen würde | alle Tage bis an der Welt Ende, und 8–9 Vgl. Mt 10,16–23; Mk 13,9–13; Lk 21,12–17 40 Vgl. Mt 28,20

30–33 Vgl. Mt 11,28–30

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sie zu Genossen machen aller der Herrlichkeit, die ihm der Vater gegeben, so verkündigte er ihnen, daß sie nun auch seine Diener nicht mehr wären, sondern seine Freunde deswegen, weil sie wüßten, was ihr Herr thut. So, m. g. F., so hat sich der, der allein würdig ist, daß wir ihn unsern Herrn nennen, von Anbeginn an die Gemüther der Menschen unterworfen. Denn auch nachdem er nun den Schauplaz dieser Erde verlassen und es seinen Brüdern und Freunden anheimgestellt hatte, ihn und seinen Namen zu verkündigen, haben auch diese keinen andern als denselben Weg betreten; eben als den Erretter und Befreier der | Welt haben sie ihn verkündigt, in dieser seiner Milde haben sie ihn dargestellt und bezeichnet, so daß auch uns noch mit derselben Lebendigkeit sein Bild vorschwebt, wie seine Zeitgenossen es gesehen haben; und um uns zu der Freiheit der Kinder Gottes hindurch zu bringen, haben sie uns verpflichtet, ihn als unseren Herrn anzuerkennen, und uns ihm mit ganzer Seele und mit allem, was Gott in dieselbe gelegt hat, zu unterwerfen. II. Das Zweite, worin wir die Milde der Herrschaft des Erlösers erkennen, das sind die Geseze, nach welchen er sein Reich auf Erden ordnet und es regiert. Unter diesen will ich nur vorzüglich auf zwei auf|merksam machen, das eine ist das Gesez der strengsten Unpartheilichkeit, das andere ist das Gesez der größten Sparsamkeit und Schonung. Wie sehr, m. g. F., jedes menschliche Regiment, sei es nun groß oder klein, weitläufig oder eingeschränkt, wie sehr ein jedes drükend wird, wenn es dieses Gesez der Unparteilichkeit verlezt, das fühlen wir wohl alle, wenn es sich uns darstellt in der Geschichte der Menschen oder in unserer eigenen Erfahrung. Wenn Vorzüge bewilligt werden, ohne daß ein mit dem gemeinsamen Wohl übereinstimmender und aus demselben hervorgehender Grund dazu wahrgenommen werden kann, wenn in der Aus|theilung desjenigen, was die Frucht der Ordnung und eines gesezmäßigen Zustandes ist, nur eine wilde Willkühr waltet, dann fühlen wir allerdings die Härte und die Unfreundlichkeit der Regierung. Wie weit m. g. F., war davon und ist immer noch der Erlöser entfernt. Als er selbst noch auf Erden wandelte, und es ihm überall nach menschlicher Weise erging, da finden wir auch dies, daß unter der kleinen Gesellschaft, die sich zunächst und beständig um ihn her versammelte, er den Einen und den Andern vorzüglich lieb hatte; aber nirgends sehen wir die mindeste Spur, daß ihn das zu einer jenem Gesez der Unparteilichkeit | widersprechenden Begünstigung verleitet hat. Ja als die Mutter des Jüngers, den er vorzüglich lieb hatte, und seines Bruders ihn anging und ihn bat, er möchte ihre Söhne zu seinen Nächsten machen in seinem Reiche: so wies er dies von sich ab als etwas über seine Herrschaft ganz Hinausgehendes, welches 2–3 Vgl. Joh 15,15

37–2 Vgl. Mt 20,20–23

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er nicht zu bestimmen habe sondern welches durch das unmittelbar göttliche Regiment sich so fügen müsse, wie Gott es ordnen wolle. Und als er diese Welt verlassen hatte, wie wohl er selbst von sich sagt, er sei nur gesandt zu den verlornen Schaafen aus dem Hause Israel, und er selbst auch seine unmittelbare persönliche Wirk|samkeit nur darauf beschränkte, aber als auch die Heiden, nachdem er von der Erde geschieden war, anfingen das göttliche Licht zu erkennen und sich zu [den] Bekennern seines Namens zu wenden: da wurde gleich von dem ersten Anfang an das der Wahlspruch der Seinigen, daß in der Gemeine des Herrn sei weder Jude noch Grieche, daß da kein äußerer Vorzug irgend einen Unterschied hervorbringen könne, sondern nichts gelte und nichts dem Menschen einen Werth gebe als der Glaube, der durch die Liebe thätig ist. Und fragen wir, wie es dennoch immer geht in dem Reiche des Herrn? so werden wir sagen, das ist der einzige Maaßstab nach welchem der Antheil an seiner Gewalt und | an seiner Herrschaft den Seinigen zugemessen wird. Wo wir den Glauben, der durch die Liebe thätig ist, in einem hohen Maaße erbliken, o da unterwerfen wir uns gern um von der Kraft geleitet und gezügelt zu werden, die wir für die allein göttliche erkennen müssen; aber nichts anderes vermag diejenigen, welche dem Herrn wahrhaft dienen, dahin zu bringen, daß sie in seinem Reiche und in Beziehung auf dasselbe irgend einen höher stellen als sich, als nur der Vorzug in der Kraft des Glaubens und der Liebe, den das Zeugniß ihres eigenen Gefühls und ihres eigenen Gewissens ihnen giebt; und so kann auch in seinem Reiche ewig nichts anderes | gelten, als eben dies. Dies aber, m. g. F., ist eben die größte und die reinste Unparteilichkeit. Denn wie der Herr seinen Jüngern das als sein eigenes neues Gebot zurükgelassen hat, daß sie sich unter einander lieben sollen mit der Liebe, womit er sie geliebt hat, so ist eben diese auch die einzige Quelle des wahren geistigen Wohls der Menschen. In wem nun diese am meisten strömt, der soll auch geistiger Weise herrschen und leiten, weil der eben die Menschen, wenn sie sich von ihm ergreifen und beseelen lassen, am meisten zu ihrem wahren Wohl und zu der Herrschaft Khristi hinführt, von welcher alles Andere, dem wir wollten | einen solchen Werth beilegen, uns und Andere nur mehr abführt. Das zweite aber ist das Gesez der größten Schonung und Sparsamkeit, welche der Herr in seinem Reiche beobachtet. Wie wenig es, m. g. F., wie wohl sie die große Weisheit desselben erkennen, den Menschen in menschlichen Dingen gelingt, dieses große Gesez immer zu beobachten, das erfahren wir oft genug. Wie oft ist es nicht anders möglich, als daß das Kleine aufgeopfert wird um des Großen willen, wie oft müssen viele und zahlreiche Opfer gebracht werden um einen großen bedeutenden Zwek zu erreichen, wie oft muß zerstört werden und wird 3–4 Vgl. Mt 15,24 Joh 13,34; 15,12

9–10 Vgl. Gal 3,28

10–12 Vgl. Gal 5,6

25–27 Vgl.

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zerstört in der | Hoffnung, daß etwas Anderes und Besseres werde gebaut werden. So, m. g. F., geht es nicht in dem Reiche des Erlösers, da wird auch das Kleinste nicht aufgeopfert; er ist, wie er sich selbst darstellt, derjenige, der unabläßig bedacht umhergeht nicht nur um die Aufsicht zu führen über die, welche in seinem Weinberge arbeiten, sondern auch um zu finden, die darin arbeiten möchten; aber er verschmäht auch den nicht, der noch so spät daselbst ankommt um diese selige und gewinnreiche Arbeit zu übernehmen, nichts wird weggeworfen, und nichts hintangesezt, noch weniger weiß er in seinem Reiche etwas davon, den Theil dem ganzen oder das Kleine | dem Großen aufzuopfern, sondern was einmal in die heiligen Grenzen desselben aufgenommen ist, das ist auch gleich sehr mit allem Andern der Gegenstand seiner Sorge und seiner Liebe, und von Anbeginn an hat er ja das zur Regel gemacht, daß auch das Kleinste und Geringste in seinem Reiche nicht solle übersehen und verlezt werden, und daß, wer dem Kleinsten und Geringsten einen, um welches Zwekes willen es auch sei, Schaden zufügt an seiner Seele, der werde es nicht verantworten können vor dem, der nicht nach einem solchen Gesez regiert, sondern nach einem ganz andern. Und wie sehr er darauf bedacht gewesen ist, auch das Geringe nicht | zu verschmähen, auch das, was in dem gewöhnlichen Gange des menschlichen Lebens Menschen größtentheils aufgeben als unnüz oder hoffnungslos, auch dem noch immer seine Treue und seine Sorge zu widmen, wie rührend stellt das der Evangelist dar in jenen Worten des Propheten: „er wird das glimmende Tocht nicht auslöschen, und das zerstoßene Rohr nicht zerbrechen.“ Und so, m. g. F., sehen wir, wie wir des heiligen und göttlichen Gesezes wegen, nach welchem der Herr sein Reich regiert, sicher sein können, gewiß nie verschmäht, nie hintangesezt, nie aufgeopfert zu werden, sobald wir uns nur wollen in seine Gewalt begeben, und an dasselbe Gebot | uns halten. Wer zu seinem Eigenthum gehört, den soll niemand jemals aus seinen Händen reißen. Und wenn er uns dafür einsteht, wie viel weniger kann es je sein Wille sein auch das Geringste zu vernachlässigen, wie viel weniger ist es möglich, daß er an solche Geseze gebunden sein könnte, wie die Menschen nicht selten, daß er das Eine aufgeben müßte und aufopfern um des Andern willen. Wie sollten wir nicht, m. g. F., in diesen Betrachtungen das göttliche der Macht und der Liebe des Erlösers, wie beide in ihm Eins und dasselbige sind, erkennen, wie sollten wir nicht dem ewigen Vater danken, der uns in ihm einen solchen | Herrn gegeben, und das Heil des ganzen menschlichen Geschlechts daran geknüpft hat, daß es sich immer vollständiger der Herrschaft dieses einen Herrn unterwerfe. So seien denn ihm aufs Neue, indem wir ihn aufs neue unter uns bewillkommen, die Gelübde der Unterwerfung und des Gehorsams aus dem tiefsten Grunde unseres Herzens dargebracht, und mögen wir das immer mehr in reinem, festem 3–8 Vgl. Mt 20,1–7

14–18 Vgl. Mt 18,6; Mk 9,42; Lk 17,2

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und lebendigem Glauben fühlen, daß, je mehr wir uns seiner Herrschaft unterwerfen und fügen, nicht nur wir selbst immer mehr erhoben und befreit werden von allem, was des göttlichen Ursprungs der menschlichen Seele unwür|dig ist, sondern auch gewiß immer mehr beitragen zu dem allgemeinen Wohl seines Reiches, und durch dasselbe selbst gefördert werden in der Kraft und in dem Genusse des ewigen Lebens. Denn darin allein besteht sein höchster Preis, daß er Alles zu Einem macht, zusammenstimmend zu Einem Zweke, beseelt durch Einen Geist und Eins in der Freude an dem Herrn und in der Liebe zu seinem himmlischen Vater, welche die Quelle ist aller Seligkeit. Amen.

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[Liederblatt vom 21. Dezember 1823:] Am vierten Advent-Sonntage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Dein Mittler kömmt, auf! blöde Seele, / Die des Gesezes Donner schreckt, / Die trauert, daß so schwere Fehle / Dich, die Gott rein erschuf, befleckt. / Der Fluch erlischt, die Bande springen, / Es lösen sich die festen Schlingen, / Die den befangnen Geist beklemmt. / Nun kannst du Heil und Freiheit hoffen, / Gott ist versöhnt, sein Himmel offen, / Dein gnadenreicher Mittler kömmt. // [2.] Dein Lehrer kömmt! Laß deine Ohren / Auf seinen Mund gerichtet sein. / Er zeigt den Weg, den du verloren; / Er flößt dir Licht und Wahrheit ein. / Was tief in Schatten war gestellet, / Hat dein Profet dir aufgehellet, / Und die Gewalt der Nacht gehemmt. / Er macht dir kund des Vaters Willen, / Und giebt dir Kraft, ihn zu erfüllen, / Dein Weisheitreicher Lehrer kömmt. // [3.] Dein König kömmt, doch ohne Prangen, / An Armuth nur zeigt er sich reich. / Auf! deinen Fürsten zu empfangen, / Der dir an Schwachheit wurde gleich. / Komm, lege dich zu dessen Füßen, / Der so dich wird zu schüzen wissen, / Daß dich kein Angststrom überschwemmt. / Komm, schwöre hier zu seinen Fahnen, / So ziemt es treuen Unterthanen, / Dein längst ersehnter König kömmt. // [4.] Dein Alles kömmt, dich zu ergözen, / Dein höchstes Gut ist vor der Thür, / Wer dieses Gut recht weiß zu schäzen, / Vertauschet gern die Welt dafür. / Ergreif es denn mit Glaubenshänden, / Da dich, mein Geist, von allen Enden / Der Gnaden Fülle überströmt. / Eröffne deines Herzens Thüren, / Ihn in sein Eigenthum zu führen; / Dein unvergänglich Alles kömmt. // Nach dem Gebet. – Mel. Vater unser im etc. [1.] Macht hoch das Thor, die Pforten weit, / Er kommt, der Herr der Herrlichkeit, / Der Himmel ist sein Königreich, / Und alle Welt dient ihm zugleich: / Er ists, der Heil und Leben bringt, / Dem laut die Schaar der Frommen singt! // [2.] Er ist gerecht, wie keiner mehr, / Sanftmüthigkeit geht vor

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ihm her, / Sein Scepter ist Barmherzigkeit / Und seine Kron’ ist Heiligkeit; / Er wendet alle unsre Noth, / Und macht uns frei von Sünd’ und Tod. // [3.] O wohl dem Land’, und wohl der Stadt, / Die diesen König bei sich hat! / Wohl allen Herzen insgemein, / Da dieser König ziehet ein; / Ein unvergänglich Freudenlicht / Strahlt aus von seinem Angesicht. // [4.] Macht hoch das Thor, die Pforten weit, / Ihn zu empfangen seid bereit, / Und öfnet eure Herzen gern / Dem Ehrenkönig, eurem Herrn. / So kommt er freundlich auch zu euch, / Und mit ihm Glück und Heil zugleich. // [5.] Ja komm mein Heiland auch zu mir, / Geöffnet ist des Herzens Thür, / Ach zeuch mit deiner Gnade ein, / Erfüll uns ganz mit ihrem Schein, / Dein Geist regier’ uns allezeit, / Und führ’ uns einst zur Seligkeit. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Frohlockt ihr Mitgenossen, / Der Erde und der Sterblichkeit, / Uns ist nun aufgeschlossen / Der Eingang zu der Herrlichkeit. / Auf unsre Erd’ hernieder / Kam Gottes einger Sohn, / Nun hebt er seine Brüder / Empor zu Gottes Thron. / Er ward das Heil der Sünder / Und der Verlornen Hort! / Nun sind sie Gottes Kinder / Und Gottes Erben dort. //

Am 25. Dezember 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Frühpredigt am ersten Weihnachtstage 1823. |

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1. Weihnachtstag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,16–18 Nachschrift; SAr 85, Bl. 74v–90r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/8, 1837, S. 185–196 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SN 621/5, Bl. 13v–15v; Crayen Nachschrift; SAr 55, Bl. 69v–74r; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Gebet. Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und den Menschen ein Wohlgefallen. Tex t. Johannes III, 16–18. Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde. Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. |

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M. a. F., Wir können das heutige Fest nicht würdiger feiern als eben mit diesen Worten, in welchen unser Erlöser ein so herrliches Zeugniß von sich selber ablegt. Denn wenn wir freilich gewohnt ja durch das heutige Fest selbst darauf angewiesen sind, in diesen Tagen ihn uns ganz vorzüglich zu vergegenwärtigen in der Gestalt des neugeborenen Menschenkindes, in

[Zu Z. 2 von Schleiermachers Hand:] Frühpredigt am 1. Weihnachtstag 1823. 3–4 Lk 2,14

17–1 Vgl. Kol 2,9

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welchem zwar die Fülle der Gottheit schon wohnte, aber noch unsichtbar und verborgen, und aus welcher sich erst alles dasjenige für die menschliche Erscheinung entwikeln sollte, wodurch er bestimmt ward das auszurichten, was er hier von sich sagt: so würde doch eben jede Feier seiner ersten Erschei|nung auf Erden nur etwas ganz Unvollkommnes und Unzulängliches sein, wenn wir nicht, indem wir seiner ersten Ankunft in der Welt gedenken, gleich den großen Zwek seiner Sendung vor Augen hätten. Und wie er diesen nun selbst demjenigen darstellt, der gekommen war um ihn zu hören als einen Lehrer von Gott gesandt, das laßt uns nun nach Anleitung unseres Textes näher mit einander betrachten. Das Erste aber, was der Erlöser hier von sich selbst sagt, das ist dies, daß er uns erschienen sei als ein Liebeszeichen Gottes, und zwar – denn das liegt ja ganz deutlich in den Worten: „also“, das heißt, so sehr hat Gott die Welt geliebt – als | das größte, welches der Schöpfer und Vater des menschlichen Geschlechts demselben geben konnte. Was, m. g. F., ist wohl dem empfänglichen und nicht ganz von dem richtigen Wege abgekommenen menschlichen Gemüth ein Zeichen der göttlichen Liebe? Ganz vorzüglich, m. g. F., denken wir gewiß alle in diesem Augenblik und in diesen Tagen an die Kinder, die Gott uns gegeben hat, und unter uns aufwachsen läßt, mit denen wir auf eine ganz vorzügliche Weise dieses schöne und herrliche Fest zu begehen gewohnt sind. Ja sie sind uns alle, jedes ohne Ausnahme ein Zeichen der göttlichen Liebe, ein Zeichen davon, daß Gott noch immer mit seinem beseelenden und erneuernden Geiste | über dem menschlichen Geschlechte waltet, daß indem er noch immer die vernünftige Seele unter uns aufs neue entstehen läßt, sein liebevoller Zwek mit dem menschlichen Geschlecht noch immer länger soll bestehen. Und wenn schon nicht alle im gleichen Maaße zu der Erfüllung dieses Zwekes beitragen, so wissen wir ja, es ist der Lauf der Natur und die Ordnung des Lebens, daß unter der großen Menge immer Einige sind, durch welche sich Gott auf eine besondere Weise verkündigt und verherrlicht. Wie der Verfasser des Briefes an die Hebräer den Herrn auf diese Weise vergleicht mit den Propheten, durch welche Gott früher geredet | habe zu den Vätern, so dürfen wir ihn auch vergleichen mit allen denen, in welchen Gott irgend eine besondere Wohlthat irgend einem, wenn auch noch so kleinen Theile des menschlichen Geschlechts erweiset. Jeder solcher Einzelner ist ein vorzügliches und besonderes Liebeszeichen Gottes. Aber wie weit ist über alle erhaben der Herr, dessen Ankunft unter dem menschlichen Geschlecht wir jezt feiern! So weit wie er als der eingeborne Sohn Gottes in welchem wir die ausgezeichnetste Wohlthat Gottes erkennen, erhaben ist über die, welche nur dadurch, daß sie an ihm hängen und 21 ein Zeichen der göttlichen Liebe,] Ergänzung aus SW II/8, S. 186 8–9 Vgl. Joh 3,1–2

30–32 Vgl. Hebr 1,1–2

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mit ihm verbunden sind, die Macht erhalten haben, Gottes Kinder | zu sein, so weit als die Wohlthat, die er gekommen ist dem menschlichen Geschlecht zu erweisen, erhaben ist über alles, was irgend ein Anderer seinen Brüdern auf der Welt leisten kann, was, wenn es etwas recht Großes und Bedeutendes ist, grade nur ein kleiner Theil sein kann und sein muß von seinem eigenen Werke unter den Menschen. Und wenn wir m. g. F., dieses Fest der Ankunft des Herrn feiern in diesen Tagen, nicht etwa aus einer besondern Kunde daß es grade diese Zeit des Jahres gewesen ist, wo der Herr auf Erden erschien, sondern vielleicht auf eine natürlichere Weise deswegen, weil es diese Zeit ist, wo auch die erwärmende und belebende Sonne, nachdem sie | sich immer schneller von uns entfernt hatte, wieder zurükkehrt in unsere Nähe und nun immer höher an dem Himmel hinauf steigt, um eine günstigere und fröhlichere Zeit zu bringen: so auch ist der Herr durch seine Ankunft das höchste Sinnbild der göttlichen Gnade, die sich zwar niemals unbezeugt gelassen hat an dem menschlichen Geschlechte, aber doch vor den Augen des sterblichen Menschen selbst sich immer mehr verloren, weil alle frühere Liebeszeichen, die Gott den Menschen gegeben, allmälig ihre Wirkung verloren und nun eben da, wie wir sagen dürfen, die Gottverlassenheit der Menschen ihre Entfernung von ihm, ihre Unwissenheit über ihn den höchsten | Gipfel erreicht hatte, der Herr erschien um Leben und Licht, Wonne des Glaubens und der Liebe, Bekanntschaft mit Gott, ja Einwohnung Gottes in den Menschen durch seinen Geist wiederzubringen. Worauf wir sehen mögen auf das Natürliche oder auf das Geistige, in die Vergangenheit oder in die Gegenwart, ja auch in die Zukunft hinein, er bleibt das höchste Zeichen der göttlichen Liebe, und ein größeres konnte Gott den Menschen nicht geben, als daß er seinen eingebornen Sohn gesandt hat. Er hat ihn aber gesandt, wie der Herr selbst in den Worten unseres Textes weiter sagt, als den Gegenstand des Glaubens, er hat ihn gesandt, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht | [verloren] werden, sondern das ewige Leben haben. Was es sei, m. g. F., mit dieser großen geheimnisvollen und doch auf der andern Seite wieder so offenbaren Kraft des Glaubens, und zwar eben des Glaubens der menschlichen Seele an den Herrn als ihren Erlöser: das wissen freilich nur die, denen man es nicht zu sagen braucht, die auf die rechte Weise in den Tiefen ihres Gemüths voll Scham und Dankbarkeit dieses und jedes andere Fest des Herrn begehen; und es denen deutlich zu machen, welche eben diese Kraft des Glaubens in sich selbst noch nicht fühlen, das vermögen wir wohl nicht. Der Herr aber hat selbst in den kurz vorhergehenden Wor|ten, die er zum Nikodemus sagt, uns eine Andeutung davon gegeben, an welcher wir eben diese Kraft des Glaubens fest halten und uns lebendig vergegenwärtigen können, wenn er nämlich sagt: „wie Moses in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des 42–1 Joh 3,14

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Menschen Sohn erhöht werden.“ Das war auch eine Kraft des Glaubens, daß diejenigen, welche von den giftigen Schlangen gebissen waren, aufsehen mußten an die vor ihnen erhöhte Schlange, um dadurch geheilt zu werden von dem, was ihnen sonst den Tod würde gebracht haben. Eben dieses Hinaufsehen und das durch das Hinaufsehen Geheilt werden, das m. g. F., ist ein herrliches Sinnbild – besser und umfassender als irgend eine | andere nur menschliche Weisheit es hätte ausdrüken können – von der Kraft des Glaubens. Was, m. g. F., können wir wohl anders als nur hinaufsehen zu dem Erlöser, denn er bleibt immer auf eine unerreichbare Weise über uns erhaben. Wenn er gleich uns würdigt uns seine Brüder zu nennen, wenn wir das gleich erkennen und annehmen mit dankbaren Herzen, so müssen wir doch gestehen, wir können uns nicht als gleich neben ihn stellen. Die Kinder Gottes und der eingeborne Sohn Gottes, sie sind einander nicht gleich, und können es nicht sein. Und was dürfen wir wohl anders als nur eben auf das Bewußtsein zu|rükgehen von dem, was unser aller Dasein ohne Ausnahme vergiftet hat, auf das Bewußtsein der Sünde, um zu fühlen, daß wir an den, der von keiner Sünde wußte, immer nur hinaufsehen können? Aber wenn nun die Hinaufsehenden geheilt wurden von dem Gifte durch das Hinaufsehen, was können wir uns dabei anders denken als eine geheimnißvolle Kraft, die eben dadurch sich über sie verbreitete, und in sie hineinfloß? So, m. g. F., ist es auch nichts anderes als das Hinaufsehen an den Erlöser, an welches die geheimnißvolle Kraft seiner Erlösung gebunden ist. Wenn wir an ihn hinaufsehen, wie jene Gebissenen in dem Bewußtsein | dessen, was unsere Natur verunreinigt und unser geistiges Leben immer wieder zu tödten droht, weil es das Wort der Verheißung ist, daß wir durch ihn sollen geheilt werden: dann ergießt sich die geheimnißvolle Kraft, die Gott in ihn gelegt hat, in unsere Seele, dann steigt der, an welchen wir hinaufsehen gleichsam zu uns herab, und eben dadurch, daß sich eine geheimnißvolle Kraft von ihm in uns ergießt, daß in der lebendigen Gemeinschaft des Glaubens an ihn wir mit ihm eins werden, und er, wie er es selbst verheißen hat, so mit uns verbunden ist, wie der Vater es mit ihm war, dadurch wird das Werk zu | Stande gebracht, um dessentwillen er gekommen ist. Wie sollten wir aber wohl glauben, daß unter denen, die von jenen Schlangen gebissen waren, auch nur Einer gewesen wäre, der es nicht wenigstens der Mühe werth sollte gehalten haben, den Versuch zu wagen hinaufzuschauen, und wenn es auch nicht mit festem Glauben und mit unumstößlichem Vertrauen gewesen wäre. Ach, m. g. F., wie sollte uns dabei nicht jenes Wort der Schrift einfallen, jenes Wort einer auch hülfsbedürfti21 hineinfloß?] hineinfloß. 2–4 Vgl. Num 21,8–9

25–26 Vgl. Jes 53,5

29–31 Vgl. Joh 17,20–21

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gen Seele, die zu dem Herrn sagte: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“, denn wie könnte es anders sein, da alles in der menschlichen | Seele nur allmälig wächst und zu der rechten Kraft gedeiht, daß auch der Glaube an den Herrn anfangs unvollkommen sein muß und noch nicht zur vollen Stärke in der Seele gekommen, wenn sie zum ersten Mal zu ihm hinaufsieht. Aber sie bedarf auch nur dieses ersten Anfangs, so kommt hinzu, was allen Glauben erst fest stehen macht, die Erfahrung. Diese machen wir nicht eben so und in so kurzer Zeit, wie jene merkten, daß das Gift in dem Körper seine Kraft verlor, sondern wir machen sie durch unser ganzes Leben hindurch, und immer mehr muß sich durch diese Erfahrung der Glaube stärken. Wie groß aber die Heilung | sei, welche der menschlichen Seele durch unsern Herrn widerfährt, das sagt er indem er fort fährt: „auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben“, und so sagt er auch anderwärts mehr als einmal: „wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben“, und so sagt er unmittelbar darauf: „denn der Sohn Gottes ist nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß er die Welt selig mache.“ Ewiges Leben und Seligkeit, das ist es, wozu der Sohn Gottes in die Welt gesandt worden ist, um es den Menschen zu bringen, und zwar zu bringen nicht etwa nur als eine entfernte Hoffnung, | sondern als ein gegenwärtiges Gut. Verloren sein und das ewige Leben haben, das stellt der Erlöser hier einander gegenüber, ohne zu unterscheiden und zu bestimmen, wohin sich der Mensch verliert und verloren hat, der des ewigen Lebens noch nicht theilhaftig ist. Das wissen und fühlen wir auch alle, m. g. F., einfach ist der Weg zum Leben und zur Seligkeit, mannigfaltig sind die Wege des Verderbens. Verlieren kann sich der Mensch in dieses oder jenes, das ewige Leben findet er nur bei Einem und durch Einen. Und wie ohne die Ankunft des Herrn in der Welt die Menschen verloren waren und verloren geblieben | wären, in der Irre gehend jeder seinen eigenen Weg, ach das bezeugen uns tausend Stimmen. Freilich uns sollten sie alle nur entfernt klingen, eben weil wir in dem Genuß und in dem Besiz aller Güter leben, die uns der Herr erworben hat, aber lauschen wir nur recht darauf, so finden wir sie alle in unserem Innern, eben weil wir nicht in einem Augenblik die ganze und vollkommne Heiligung der Seele durch den Glauben erfahren. Das, was die menschliche Natur vergiftet und ihr Verderben bringt, das wächst allmälig, das aufmerksame Auge findet die Spuren davon überall in dem Innern, bald hier bald da will es wieder hervorbrechen, | und die Freudigkeit unseres Herzens trüben, und wir alle ohne Ausnahme durch alles, was uns von dem, an den wir glauben, und den wir lieben, entfernt, verlieren uns in das Verderben. Wer aber den Glauben festhält, wer aus der 30 klingen] so SW II/8, S. 191; Textzeuge: liegen 1–2 Mk 9,24

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Verbindung mit dem, in welchem sich Gott der menschlichen Natur offenbart hat, nicht weicht, der, m. g. F., verliert sich nicht, welche Gefahren ihm auch drohen mögen; sondern er hat das ewige Leben in sich, und weil es das ewige ist, so behält er es auch. Wenn aber nun, m. g. F., dies das Ganze wäre, nämlich die allmälige Heilung der Seele von dem Verderben durch den Glauben an den Herrn, | das allmälige Wachsen des Menschen in der Ähnlichkeit mit ihm, und der sich immer mehr festsezende Besiz der innern menschlichen Seligkeit: das wäre allerdings ein großes Gut, aber doch nicht das Ganze, wozu der Herr erschienen ist. Denn m. g. F., in dem Ausdruk „selig machen“ liegt noch etwas Eigenthümliches und Größeres. Nämlich selig ist auf eine ursprüngliche Weise allein Gott, das höchste Wesen, dem nichts fehlt, das sich selbst genug ist ohne etwas zu bedürfen. So sind wir nicht für uns selbst, nicht in dem Zustande der Heiligung, nicht in dem Zustande des Verschwindens der Sünde, nicht in dem Zustande, in welchem wir zu dem | Erlöser hinaufsehen und die Kraft zur Heiligung von ihm empfangen, sondern wir sind es nur, wenn keine Trennung zwischen uns und ihm besteht, wir sind es nur in der Gemeinschaft mit ihm, die gleich ist seiner Gemeinschaft mit dem Vater, in welcher auch er allein selig war. Denn dem eingebornen Sohne Gottes müssen wir diese eigenthümliche und ursprüngliche Seligkeit auch zuschreiben, und sie ist eben seine Herrlichkeit, die uns aus ihm entgegenstrahlt. Denn nur von dem, der in sich selbst selig ist, vermögen wir Gnade um Gnade zu nehmen, und unausgesezt aus seiner Fülle zu schöpfen. Aber nicht als das eben geborene Menschenkind, welches allmälig zugenommen hat an Alter und Weisheit und | Gnade, ist er der in sich selbst Selige, sondern er ist es vermöge der Fülle der Gottheit, die in ihm wohnte, er ist es vermöge des Einsseins mit seinem Vater, welches er uns als ein Zeichen gegeben hat, daß er von ihm gesandt, und daß in ihm die selig machende Kraft gewesen sei. So sind auch wir nur selig in dem unmittelbaren Einssein mit ihm, welches durch den Glauben in unserem Herzen gewirkt wird, nur dadurch, daß wir seine unmittelbare Gegenwart und seine unmittelbare Kraft in uns fühlen, nur dadurch, daß wir uns des Geistes bewußt sind, den er den Seinigen eingehaucht hat, und von dem wir wissen, daß er durch den Glauben einem jeden gegeben wird | von Gott. Nicht in uns selbst also, sondern in ihm sind wir selig. Aber wozu uns der Glaube an ihn führen soll, das ist auch nichts Geringeres als eben diese Seligkeit. Und nun, m. g. F., als ein solches mit nichts zu vergleichendes Liebeszeichen Gottes, dazu bestimmt durch den Glauben das ewige Leben und die Seligkeit zu bringen, stellt sich der Erlöser dar als das allgemeine Gut aller Menschen. Denn die lezten Worte unseres Textes: „des Menschen Sohn ist nicht gesandt, daß er 22–23 Vgl. Joh 1,16 Joh 17,21

24–25 Vgl. Lk 2,52

26 Vgl. Kol 2,9

27–28 Vgl.

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die Welt richte, sondern daß er die Welt selig mache“, sind gerichtet gegen ein unter dem Volke, in welchem der Erlöser geboren war und lebte sehr allgemein verbreitetes Vorurtheil, daß | nämlich, wenn der Gesalbte Gottes erscheinen werde, er auch zunächst nur ein besonderes Gut des auserwählten Volkes sei, und indem er dieses zu seiner ursprünglichen Herrlichkeit zurükführen werde, werde er ein strenges Gericht ergehen lassen über alle Völker, die jemals feindselig gegen das Volk Gottes aufgetreten sind. Diesen Wahn will der Erlöser in der Seele, des Nikodemus und aller, denen er Bericht erstatten will über den von Gott gesandten Lehrer, vertreiben, indem er sagt: „des Menschen Sohn ist nicht gesandt, daß er die Welt richte, sondern daß er die Welt selig mache.“ Und so will er also als ein solcher angesehen sein, durch welchen niemandem irgend ein Uebel widerfahren | solle, der auch nicht gekommen sei um, indem er die Einen beglüke, heile und selig mache, alle üble Folgen der Sünde über die Andern zu bringen; sondern indem er sagt: wer an ihn glaubt, der hat das ewige Leben, und wird nicht gerichtet, weil er es hat, wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn er glaubt nicht an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes: so sagt er, daß denen, die nicht an ihn glauben, nichts wiederfahre, als was ihnen auch schon wiederfahren sein würde, wenn er nicht erschienen wäre. Das Gericht, es ist nichts anders als dies, das Nicht glauben an den Sohn des lebendigen Gottes. So stellt er uns, m. g. F., die Seligkeit und die Unseligkeit so neben einander, daß beides uns dadurch deutlich | wird, nämlich die Seligkeit, der Besiz des Lichtes und der ganzen Herrlichkeit, die in dem ewigen Leben liegt, dies auf der einen Seite, und die Unseligkeit des Unglaubens, das ganze Wesen der Finsterniß, das in der Unseligkeit liegt, dies auf der andern Seite. Als den größten Unterschied, den es geben kann, erkennen wir den: „selig werden und gerichtet werden“, und als diesen größten Unterschied stellt der Herr hier dar, die an ihn glauben, und die nicht an ihn glauben. Ja, m. g. F., wie könnte es auch anders sein? An den Erlöser glauben, das heißt, an die unmittelbare Vereinigung Gottes mit der menschlichen Natur in seiner Person glauben, wodurch wieder eine Verbindung aller, die an ihn glauben und sich an ihn | halten, mit Gott möglich geworden ist, dies auf der einen Seite, auf der andern Seite aber nicht an ihn glauben, glauben daß es eine solche Verbindung Gottes mit dem menschlichen Geschlecht nicht giebt, daß das ewige Wesen fern bleibt von demselben und sich immer mehr entfernt[:] dies beides stellt uns der Erlöser hier entgegen als den größten Gegensaz. Wer das Eine glaubt, der ist dadurch hindurch gedrungen vom Tode in das ewige Leben. Denn was kann es für ein größeres und herrlicheres Bewußtsein geben, als das einer solchen Vereinigung mit Gott, welche uns eine Seligkeit giebt, die mit nichts anderem zu vergleichen ist. Aber welche Trostlosigkeit von diesem Glauben 32 mit Gott] Ergänzung aus SW II/8, S. 194

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entfernt sein, und wie müssen | wir da nicht sagen: was hülfe es dem Menschen, wenn er Himmel und Erde gewönne, aber er könnte nicht glauben an diese Liebe Gottes gegen die Menschen, der seinen eingebornen Sohn gesandt hat um die Menschen mit sich zu verbinden? M. g. F., was wir jezt mit einander betrachtet haben, um die rechte Weihnachtsfreude in uns lebendig zu machen, das ist das rechte Zeugniß, welches der Sohn Gottes von sich abgelegt hat. Er selbst sagt: wenn sonst ein Mensch Zeugniß von sich ablegt, so nimmt man es nicht an, und mit Recht, weil, wenn der Mensch wahr sein will, es doch immer nur wenig sein kann, wenn er von sich selbst redet. Aber wenn der Sohn Gottes von sich selbst zeugt, so ist es das unvergängliche Eben|bild des Vaters, welches in den Werken der Natur zu uns spricht, und in dem Worte der Schrift und in der unmittelbaren lebendigen Offenbarung durch ihn lebt. Das zeugt überall für ihn, und bestätigt dieses Zeugniß. Und so wie jene Samariter zu der, die ihnen zuerst verkündigte, sie habe den Messias gefunden, sagten, sie glaubten nun nicht mehr um ihres Wortes willen, sondern weil sie selbst gehört und erkannt hätten, daß dieser Khristus der Welt Heiland sei: so auch alle, die an den Herrn glauben, dürfen und müssen sagen, sie glauben nicht mehr um eines Zeugnisses willen, auch nicht um des Zeugnisses willen, welches er selbst abgelegt hat, sondern weil sie selbst erfahren haben. Ja, m. g. F., erfahren müssen | wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, erfahren müssen wir diese Liebe Gottes gegen das menschliche Geschlecht, daß er seinen Sohn in die Welt gesandt hat um die Welt selig zu machen, erfahren müssen wir diese Seligkeit und das ewige Leben selbst, das Gefühl, daß wir nicht verloren werden, und daß nichts uns scheiden könne von der Liebe Gottes, wenn wir bleiben in der Liebe dessen, den er gesandt hat. Amen.

4 verbinden?] verbinden. 14–17 Vgl. Joh 4,42

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Am 25. Dezember 1823 mittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

1. Weihnachtstag, 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,13–14 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 372–375 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 802–804; 21844, S. 839–841 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, 1877, S. 657–659 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Abendmahlsvorbereitung und Beichte

Beichtrede am Weihnachtsfeste gehalten.

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Das jetzige Fest, m. And., erinnert uns an das erste Erscheinen des Erlösers auf der Erde; die heilige Handlung hingegen, um derentwillen wir hier versammelt sind, bringt uns vorzüglich sein Leiden und seinen Tod in’s Gedachtniß. Beides widerstrebt einander nicht, und schwächt einander nicht, wenngleich das Eine so bestimmt zur Freude auffordert, das Andere hingegen nur Wehmuth zu erregen scheint. Denn jede Freude über die Geburt Christi würde doch sehr unvollkommen und keinesweges ihrem Gegenstande ganz angemessen seyn, wenn nicht zugleich das Andenken an seine Vollendung, und an die Art, wie er vollendete, mit darin eingeschlossen wäre. Denken wir nun an den Lobgesang, mit welchem die Engel die Verkündigung seiner Geburt begleiteten: so können wir auch den nicht einmal seinem ganzen Sinne nach auffassen, wenn nicht unser geistiges Auge zugleich nach Bethlehem sieht und nach Golgatha; und müssen denn gestehen: er sey damals erst eine Weissagung gewesen, welche nur in rechte Erfüllung ging, als der Herr wieder von der Erde abgerufen wurde. Denn was ist die Ehre unseres Gottes in der Höhe, welche erst beginnen konnte mit der Erscheinung Christi? Ohnstreitig dieselbe, welche der Erlöser auch meint, wenn er sagt: Ich habe dich verkläret auf Erden, und vollendet das Werk, das du mir gegeben hast, daß ich es thun sollte.1 Aber dieses konnte der Erlöser nicht eher, als | bis er auch sagen konnte: die Worte, 1

Joh. 17, 4. 7. 8.

24 Schleiermachers Bibelstellengabe bezieht sich auf Z. 21–2.

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Über Lk 2,13–14

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die du mir gegeben hast, habe ich ihnen gegeben, und sie wissen, daß Alles, was du mir gegeben hast, sey von dir. Eher wußten sie nicht, daß Gott die Liebe sey, und die völlige Liebe alle Furcht austreibe; eher wußten sie nicht, was es sagen wollte, daß Gott Geist sey, und Anbeter haben wolle im Geiste und in der Wahrheit. Und eher hielt der Erlöser dies Alles nicht für fest und sicher in ihnen begründet, als am Ende seines Lebens, da die Stunde gekommen war, daß der Vater den Sohn verkläre. – Welches ist der Friede auf Erden, der erst verkündigt werden konnte, als auch die Geburt des Heilandes verkündiget ward? Gewiß fällt uns Allen dabei ein, was er selbst auch erst kurz vor seinen Leiden zu den Seinigen sagt: „Meinen Frieden gebe ich euch; nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt, euer Herz erschrecke sich nicht, und fürchte sich nicht“1; und wie er nach seiner Auferstehung sie durch: „Friede sey mit euch“2 begrüßt, als er auch zu ihnen sagen konnte: „Wem ihr die Sünden vergebet, dem sind sie vergeben.“ So werden wir wohl gestehen, der rechte Friede auf Erden, den wir dem Erlöser verdanken, habe erst da seyn können, wo das frohe Gefühl der Vergebung der Sünden auf seinen Namen fest gegründet war, und das konnte erst seyn, nachdem er die Ordnungen fest gestellt hatte, nach denen die Vergebung könne ertheilt und die Menschen in den Bund der Gnade und der Vergebung aufgenommen werden; der rechte Friede ist erst da, wo die Christen unter dem neuen Gesetze der erlösenden Liebe fest verbunden einmüthig bei einander sind. Und auch dazu mußte sein Werk vollendet, mußte der neue Bund der Versöhnung geschlossen und mit allen seinen heiligen Zeichen besiegelt, mußte das Gebet des Herrn um Vergebung für Alle, auch für seine Feinde und Mörder, vor Gott gekommen seyn, mußte sich der Freiheit und Friede bringende Geist des Herrn herabgesenkt haben auf seine Jünger. – Endlich: welches ist das Wohlgefallen unter den Menschen, welches die | Engel verkündigen? Was für ein neuer Gegenstand des Wohlgefallens ist uns denn dargeboten worden, als nur eben Er selbst, zuerst in seiner persönlichen Erscheinung, und dann in der seines geistigen Leibes auf Erden, an dem wir aber auch unser Wohlgefallen nur haben in dem Maße, als er uns das Bild Christi selbst vergegenwärtigte. Auch dieses Wohlgefallen also war nicht gleich vorhanden bei 1 2

Joh. 14, 27. Joh 20, 19. 21.

26 vor Gott] vorGott 21. 23.

27 und Friede] undFriede

3 Vgl. 1Joh 4,8.16.18 4–5 Vgl. Joh 4,24 Joh 20,23 25–26 Vgl. Lk 23,34

36 Joh 20, 19. 21.] Joh 20,

7–8 Vgl. Joh 17,1

14–15 Vgl.

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der Geburt des Erlösers, ausgenommen unter der zarten Gestalt gläubiger, auf weissagende Worte und Zeichen sich stützender Ahnungen in den Wenigen, die eine höhere Kunde von ihm empfangen hatten; in den übrigen Menschen konnte es erst entstehen vom Anfange seines öffentlichen Lebens an. Da erst konnte die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater aus ihm hervorleuchten, und sein ganzes heiliges Bild sich immer tiefer den Gemüthern einprägen, als ein Urbild zugleich, in welchem das göttliche Wesen als in seinem Abglanze erscheint, und als ein heiliges Vorbild, daß wir seinen Fußtapfen nachfolgen sollen; und auch dieses war erst vollendet, als er gehorsam ward bis zum Tode am Kreutze. Wenn wir nun dieser Vollendung des Erlösers vorzüglich gedenken bei seinem heiligen Mahle: so dürfen wir wohl das am Wenigsten vergessen, daß auch wir Glieder sind an jenem geistigen Leibe des Herrn, dessen selige Bestimmung es ist, ihn geistig gegenwärtig zu erhalten auf der Erde. Ja, m. Gel., das ist auch unser Beruf: Gott zu verklären durch seinen Sohn und dessen immer fortgehendes beseligendes Werk an dem menschlichen Geschlechte, und die Anbetung Dessen, der uns mit seinem Sohne Alles geschenkt hat, im Geist und in der Wahrheit darzustellen und zu fördern. Dazu sind wir als diejenigen, die der Erlöser seine Freunde nennt, verpflichtet, daß wir seinen Frieden in uns nicht nur durch nichts Aeußeres stören lassen, sondern ihn auch in unserem ganzen Leben zu offenbaren und durch den Geist der Liebe zu verbreiten suchen, ja daß wir, soviel als möglich Züge aus seinem Bilde in uns selbst vereinigend und unser lebendiges Andenken an ihn auch Andern einflößend, den | Menschen, so viel an uns ist, den einigen würdigen und reinen Gegenstand ihres Wohlgefallens vor Augen mahlen. Dazu wollen wir uns denn in der festlichen Freude dieser Tage bei dem Gedächtnißmahle des Herrn auf’s Neue verbinden, und indem wir Ihm unsere Treue geloben, uns auch gegenseitig alle brüderliche Unterstützung zusichern. Amen. Es folgte das Formular. Schl.

5–6 Vgl. Joh 1,14 17–18 Vgl. Röm 8,32 19–20 Vgl. Joh 15,15 31 Das Formular ist der von Schleiermacher verfassten Agende für die Unierte Dreifaltigkeitskirche zu entnehmen (GStA, HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876, Bl. 98v–103v; abgedruckt in KGA III/3)

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Am 26. Dezember 1823 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 19,9–10 a. Autograph Schleiermachers; SAr 85, Bl. 90v–97r; Slg. Wwe. SM (unvollendete Überarbeitung der unter b. gebotenen Nachschrift) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 85, Bl. 90v–110v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 105, Bl. 31r–46r; Andrae Nachschrift; SAr 51, Bl. 151v–152r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Autograph Schleiermachers

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Predigt am zweiten Weihnachtstage 1823. |

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Daß der Erlöser gekommen ist als Suchender Weihnachtspredigt

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Gebet. Anbetung und Dank Dir, barmherziger Gott, durch welchen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erschiene denen, die da saßen in Finsterniß und im Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Amen. Text. Lucä XIX, 9 und 10. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil wiederfahren, sintemal er auch Abrahams Sohn ist; denn des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, das verloren ist. 2–3 )Hauptpredigt am 2. Weihnachtstage 1823.* 5–8 Vgl. Lk 1,78–79

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M. a. F., diese Worte sprach unser Erlöser, als er auf seinem lezten Wege nach Jerusalem gen Jericho kam, zu einem Zöllner, der hinaus gegangen war, und sich viel | Mühe gab und Anstrengungen machte, um ihn zu sehen, und dem er sich mit diesen Worten darbot als sein Gast. Aber, m. g. F., diese Worte, die der Herr da zu dem Einzelnen sagte, sie leiden auch eine unmittelbare Anwendung auf das ganze menschliche Geschlecht. Wie der Ruf Christi vor ihm hergegangen war und auch an diesen Zöllner gekommen: so war der Erlöser auch den Menschen überhaupt vor seiner Erscheinung angekündigt worden als ein großes Heil das allem Volk widerfahren sei, und als die selige Erfüllung aller Verheißungen Gottes. Wie diesen Mann ein Verlangen überwältigte den großen Lehrer den berühmten Wunderthäter zu sehen: so war auch vor der Ankunft des Herrn nicht nur unter seinem Volk sondern weit umher über das menschliche Geschlecht verbreitet, eine Sehnsucht selten recht verstanden, aber aus einem tiefen Gefühl der Zerrüttung hervorgegangen: nach einem Heil, aber als es erschien, da, wie der Erlöser hier selbst sagt, konnte es nur erscheinen als suchend, was verloren war. Aber so wie dieser Mann mit dem Erlöser doch in keine Verbindung gekommen wäre, sondern sich mit dem flüchtigen Anblikk hätte begnügen müssen, wenn der Erlöser ihn nicht gesucht hätte: eben so hätte auch jene Sehnsucht keine Erfahrung von dem Erlöser bewirkt, wenn er nicht die Menschen gesucht hätte. Und eben dies hebt er | selbst in unserm Text mit einem so besonderen Nachdrukk hervor, die Worte sprechen so deutlich und ausgezeichnet von der eigenthümlichen Weise seines Verfahrens, daß wir nun davon Veranlassung nehmen wollen, uns Christum darzustellen, wie er gekommen ist als ein Suchender. Daß er aber so erscheinen mußte, das hängt zusammen auf der einen Seite mit der eigenthümlichen Art und Weise seines Auftretens auf der Erde, auf der andern Seite aber auch eben so sehr mit dem Zustand derjenigen, um derentwillen er gekommen war. Auf dies beydes also laßt uns jezt mit einander sehen. I. Daß nun der Erlöser seinen Zwek in dieser Welt nur erreichen konnte, indem er kam zu suchen was verloren ist, das hängt | mit der ganzen Art und Weise seiner Erscheinung zu erst zusammen vermöge seines äußeren Zustandes. Er war, so sagt die Schrift, wie ein anderer Mensch, und an Gebehrden als ein Mensch erfunden auf eine solche Weise um ihn gleich von allen andern zu unterscheiden. Nichts 23 so] gestrichen und Streichung wieder aufgehoben 8–10 Vgl. Lk 2,10

36–37 Vgl. Phil 2,7

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ausgezeichnetes, nichts Herrliches, nichts die Augen der Menschen von Anbeginn mit einer unwiderstehlichen Gewalt auf sich ziehendes, nichts dergleichen war in seiner Erscheinung. An einem verfallenen und unbekannten Orte, unter ungünstigen Umständen, übersehen von den meisten gleich bei seinem ersten Erscheinen auf der Welt, und auch von den Wenigen, die Kenntniß von ihm genommen unter dem bunten irdischen Getümmel bald wieder vergessen; so erschien er. Denn wenn uns berichtet wird, wie bald nach seiner Geburt die Hirten vom Felde gekommen seien, um denjenigen | zu suchen, den ihnen die Schaar der Engel verkündigt hatte, wie bald darauf die Weisen des Morgenlandes kamen, um den anzubeten, dessen Stern sie gesehen hatten: so erscheinen uns hier freilich solche, die ihn suchten, aber auch sie waren vorher selbst gesucht worden; jene hatte der Engel begrüßt, diesen hatte der Stern geleuchtet, um ein neues Heil aufzufinden in fernen Gegenden; gesucht waren sie worden, ehe sie selbst suchten. Und auch mit dem nachherigen öffentlichen Leben unseres Herrn hatte es ganz dieselbe Bewandniß, daß er sich durch nichts von den gewöhnlichen Menschenkindern unterschied. Johannes der Täufer freilich war in der Wüste, aß wilden Honig und Heuschreken, und kleidete sich in Felle | von Thieren. So fern war die Wüste nicht von den bewohntesten und volkreichsten Gegenden des Landes, daß nicht das Gerücht von dem sonderbaren Mann in der Wüste, von dem enthaltsamen, der sich dem Herrn geweiht, von dem strengen Redner, der mit seinen Worten die Menschen niederdonnerte, weit umher hätte erschallen sollen. Und da gingen die Menschen hinaus ihn zu suchen; was von dem gewöhnlichen abweicht, sei es nun ganz neu oder verseze es uns in längst vergangene Zeiten zurük, immer lokkt es die Menschen an. Der Erlöser hingegen sollte und wollte sich nicht eben so von den gewöhnlichen Menschen unterscheiden; er aß und trank wie sie, er kleidete sich nach dem gemeinen Gebrauch, er suchte nichts eigenes und besonderes sondern blieb bei der allgemeinen Sitte in allem was die äußere Lebensweise betrift. Aber eben deswegen wurde er nicht gesucht wie Johannes, sondern sehr bald von ihm gesagt: | was kann daher aus Nazaret gutes kommen was kann unter einem so gewöhnlichen Aeußeren Gutes und Göttliches zu suchen sein? So mußte er denn selbst ausgehen und Menschen suchen, wenn er doch auf sie wirken wollte. So hat er auch gleich seine ersten Jünger 8 Geburt] über Erscheinung 8–10 Vgl. Lk 2,15 Joh 1,46

10–12 Vgl. Mt 2,2

18–20 Vgl. Mt 3,4; Mk 1,6

34 Vgl.

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selbst gesucht. Zweie gingen ihm freilich nach auf die Rede des Täufers; sie thaten noch etwas mehr als Zachäus, denn sie redeten ihn an. Aber wenn er sie nicht eingeladen hätte, wären sie wol auch wieder ihres Weges gegangen. Indem er sie nun einlud suchte er sie; und erst hernach suchten sie Andere für ihn, und machten die Menschen aufmerksam auf ihn; so daß er auch von diesen beiden sagen konnte, Ihr habt mich nicht erwählt, sondern ich euch. Freilich wenn er umherging und Wunder that, Kranke heilte, Leidende von ihren Beschwerden befreite, dann war er Helfer des Volks, und ward als solcher gesucht oft mehr als diejenigen, welche nach seiner Lehre durstig waren es wünschten. Aber dieses weßhalb er gesucht wurde war auch nicht sein eigentliches Werk, sondern für die Sache selbst beinahe Zufälliges und nur zu seiner äußeren Ausstattung gehörig. Aber wenn er so gesucht war, und gefunden von der großen Menge der | Menschen, und hatte nun den nächsten Zwekk, weshalb sie ihn gesucht hatten, nach seiner Barmherzigkeit und Milde erfüllt: dann drehte er es um, und suchte nun sie mit seiner sanften und milden Rede, machte sie aufmerksam auf das Joch, welches sie trugen, und selbst nicht genug fühlten, und indem er ihnen seine eigene Freiheit und Seligkeit zeigte, lud er sie ein bei ihm Ruhe zu finden, und sich auch geistig von ihm erquikken zu lassen. Aber nicht nur der äußere Zustand des Erlösers brachte es mit sich, daß er selbst suchen mußte, was er selig machen wollte; sondern dies hängt auch eben so genau mit der Lebensweise zusammen die er führte und | nothwendig führen mußte, wenn er seine Weisheit und die Kraft seiner Rede, wodurch er sich allein der Menschen bemächtigen konnte, bei ihnen geltend machen wollte. Denn, m. g. F., auch in Bezug auf diese hatte der Erlöser das Ansehen nicht für sich, welches ein bestimmter äußerlicher Beruf gewährt; denn durch diesen waren schon von selbst die Menschen darauf gewiesen worden sich an ihn zu wenden. Er gehörte weder zu dem Stande der Priester, die unter seinem Volke die verfassungsmäßigen und angeordneten Mittler waren zwischen Gott und seinem Volke, und an welche dieses gewiesen war in Beziehung auf alle die heiligen Handlungen, wodurch sie das Wohlgefallen des Höchsten wiederzufinden und zu erhalten suchten. Er gehörte auch nicht zu der Schule der Schriftgelehrten, welche im Besiz der Ueberlieferung dessen was ausgezeichnete Lehrer | aus früheren Zeiten geleistet, die Meinung für sich hatten, daß sie der Schrift vollkommen kundig wären, so daß alle von selbst an sie gewiesen 22 brachte] brachten 1–6 Vgl. Joh 1,35–42

26 Rede] folgt )zusammen* 6–7 Joh 15,16

17–21 Vgl. Mt 11,28–30

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waren, die sich aus der Schrift über irgend etwas wollten unterweisen lassen, und daß sie überall bereit sein mußten Zweifel aufzulösen und streitige Fragen zu schlichten. Und daß er auch zu diesen nicht gehörte, war so allgemein bekannt, daß sowohl das Volk überall von ihm sagte: wie redet doch dieser so, der die Schrift nicht gelernt hat, als auch die Schriftgelehrten selbst immer darauf pochten, daß er zu den gemeinen Söhnen der Erde gehöre, und das Wort Gottes nicht verstehe. Er besaß also gar nichts von dem was schon von außenher seine Weisheit den Menschen hätte empfehlen können, und es mußte ihm also daran gelegen sein, sie ihnen selbst zu empfehlen. | Aber seine Weisheit selbst war auch nicht von der Art, wie vorher und nachher bei weitem der größte Theil menschlicher Weisheit sich ausgebildet und gewirkt hat. Die Inhaber bleiben größtentheils streng für sich; in der Stille und Einsamkeit zurükkgezogen forschen sie in den Tiefen der Dinge; so ordnen sie ihre Gedanken, und was sie so gefunden und in sich selbst zusammen gesezt, das fassen sie auf mit Hülfe der Schrift; und der Buchstabe der Schrift stellt sich dann öffentlich einem jeden dar, der solcher Werke genießen, einem jeden, der sich daraus belehren oder zu gleichen Forschungen aufregen will, die Bücher der Weisen suchen nicht, sondern sie wollen selbst gesucht sein. Solcher Art war die Weisheit des Erlösers nicht. Er war nicht die Schrift, sondern das Wort, und wenn wir, m. a. F., die heiligen Schriften | des neuen Bundes ehren als das köstlichste, göttliche Geschenk, so ist es nicht deswegen, weil sie ein so geordnetes und zusammengeseztes Kunstwerk menschlicher Weisheit wären, und ursprünglich zu einem so allgemeinen Zwekk und Gebrauch verfaßt, wie sie denn das auch nicht sind, sondern weil sie der Wiederhall seines lebendigen Wortes sind, weil das, was er selbst geredet hat, darin aufgefaßt und festgehalten ist, und nun auch Gott sei Dank zugänglich bleibt für alle künftigen Geschlechter der Menschen. Also nur als den Wiederhall seines lebendigen Wortes ehren wir sie. Aber wie, m. g. F., war nun dieses beschaffen? Freilich von zweierlei Art. Einmal ging der Herr umher, und lehrte in den Schulen, aber demüthig stand er da und bescheiden | unter den Hörern des göttlichen Wortes, und erst wenn gefragt wurde, ob noch jemand da wäre, der da reden wollte über das gelesene oder sonst etwas in den heiligen Büchern zur Erbauung der Anwesenden, dann bot er sich dar. Es ist aber etwas Eigenthümliches auch in den heiligen Schriften, daß grade von solchen Reden Khristi, 17 Buchstabe] Buchstaben 5 Vgl. Joh 7,15

32–37 Vgl. Lk 4,14–20

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die er ins allgemeine hin in den Schulen seines Volkes gehalten, wenig oder gar nichts uns aufbehalten worden; das Meiste aber seiner Reden, das waren Gespräche mit Wenigen, und durch diese hat er am meisten die Menschen hervorgelokt und überwunden, und sie sich angeeignet.

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b. Nachschrift 90v 91r

Predigt am zweiten Weihnachtstage 1823. | Gebet. Anbetung und Dank Dir, barmherziger Gott, durch welchen uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erschiene denen, die da saßen in Finsterniß und im Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Amen. Tex t. Lucä XIX, 9 und 10. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil wiederfahren, sintemal er auch Abrahams Sohn ist; denn des Menschen Sohn ist gekommen zu suchen und selig zu machen, das verloren ist.

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M. a. F., diese Worte sprach unser Erlöser, als er auf seinem lezten Wege nach Jerusalem gen Jericho kam, zu einem Zöllner, der hinaus gegangen war, und sich viel | Mühe gegeben hatte, um ihn zu sehen, und dem er sich nun darbot als sein Gast. Aber, m. g. F., diese Worte, die der Herr da zu dem Einzelnen sagte, sie leiden auch eine unmittelbare Anwendung auf das ganze menschliche Geschlecht. So wird er angekündigt demselben bei seiner Erscheinung auf der Erde: „Es ist euch ein großes Heil widerfahren“, so wird er angekündigt, als die selige Erfüllung aller Verheißungen Gottes und als das Heil aller Kinder dieser Welt. Gesehnt hatte sich das menschliche Geschlecht lange genug nach einem Heil, welches ihm fehlte, aber als es erschien, da, wie der Erlöser hier selbst sagt, konnte es nur erscheinen als suchend, was verloren war. Und eben dies hebt der | Erlöser selbst auf eine so besondere Weise hervor, und es spricht so deutlich und ausgezeichnet von der eigenthümlichen Weise seines Verfahrens, daß wir nun davon Veranlassung nehmen wollen, uns Khristum darzustellen, wie er gekommen sei als ein Suchender. Daß er aber so erscheinen mußte, das hängt zusammen 1 allgemeine] Ende von Schleiermachers Überarbeitung; vgl. unten S. 1127, Z. 23 19 Gast] so SAr 105, Bl. 31r; Textzeuge: Geist 8–11 Vgl. Lk 1,78–79

22 Vgl. Lk 2,10–11

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auf der einen Seite mit der eigenthümlichen Art und Weise seines Auftretens auf der Erde, auf der andern Seite aber auch eben so sehr mit dem Zustand derjenigen, um derentwillen er gekommen war. Auf dies beides also laßt uns jezt mit einander sehen. 5

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I. Daß der Erlöser seinen Zwek in dieser Welt nur erreichen konnte, indem er kam als ein Suchender des Verlorenen, das hängt | mit der ganzen Art und Weise seiner Erscheinung zu erst zusammen in Beziehung auf seinen äußern Zustand. „Er ward, so sagt die Schrift, wie ein anderer Mensch, und an Gebehrden als ein Mensch erfunden.“ Nichts Ausgezeichnetes, nichts Herrliches, nichts die Augen der Menschen von Anbeginn mit einer unwiederstehlichen Gewalt auf sich Ziehendes, nichts dergleichen war in seiner Erscheinung. An einem verfallenen und unbekannten Orte, unter ungünstigen Umständen, übersehen und fast vergessen bei seinem ersten Erscheinen auf der Welt, unter einem bunten und irdischen Getümmel; so erschien er. Und wenn uns freilich bald nach seiner Erscheinung berichtet wird, wie die Hirten vom Felde gekommen seien, um denjenigen | zu suchen, den ihnen der Engel verkündigt hatte, wie bald darauf die Weisen des Morgenlandes kamen, um den anzubeten, dessen Stern sie gesehen hatten: so erscheinen uns hier freilich solche, die ihn suchten, aber auch sie waren vorher selbst gesucht worden; jene hatte der Engel gesucht, den Andern hatte der Stern geleuchtet, ein neues Heil aufzufinden in fernen Gegenden, gesucht waren sie worden, ehe sie selbst suchten. Wenn wir aber nun das öffentliche Leben unseres Herrn betrachten, so war es ganz auf dieselbe Weise eingerichtet, auch hier unterschied er sich durch nichts von den gewöhnlichen Menschenkindern. Johannes der Täufer war in der Wüste, aß wilden Honig und Heuschreken, und kleidete sich in Felle | von Thieren. So fern war die Wüste nicht von den bewohntesten und volkreichsten Gegenden des Landes, daß nicht das Gerücht von dem sonderbaren Mann in der Wüste, von dem enthaltsamen, der sich dem Herrn geweiht, von dem strengen Redner, der mit seinen Worten die Menschen niederdonnerte, daß das nicht erschallen sollte weit umher. Und da gingen die Menschen hinaus ihn zu suchen. Der Erlöser aber sollte und wollte sich durch nichts unterscheiden von den gewöhnlichen Menschen; er aß und trank wie sie, er kleidete sich nach dem gemeinen Gebrauch, er unterschied sich in nichts von ihnen, was die Sitte und die ganze Lebensweise betrift. Aber eben deswegen ward auch so bald von ihm gesagt: | was kann daher, was kann von einem solchen Gutes und Göttliches kommen? Und so mußte er selbst ausgehen und die Menschen suchen, so mußte er seine ersten Jünger selbst suchen, wie er hernach zu 9–10 Phil 2,7 16–18 Vgl. Lk 2,15 Mk 1,6 37–38 Vgl. Joh 1,46

18–19 Vgl. Mt 2,2

26–27 Vgl. Mt 3,4;

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ihnen sagen konnte, sie hätten ihn nicht erwählt, sondern er sie, und erst hernach suchten sie Andere für ihn, und machten die Menschen aufmerksam auf ihn. Freilich wenn er umherging und Wunder that, Kranke heilte, Leidende von ihren Beschwerden befreite, dann war er Helfer des Volks, und ward gesucht oft mehr als er wünschte. Aber das war auch nicht sein innerstes Werk, sondern nur etwas beinahe Zufälliges und äußerlich damit Verbundenes. Aber wenn er so gesucht war, und gefunden von der großen Menge der | Menschen, und hatte nun den nächsten Zwek, weshalb sie ihn gesucht hatten, nach seiner Barmherzigkeit und Milde erfüllt: dann drehte er es um und dann suchte er sie mit seiner sanften und milden Rede, machte sie aufmerksam auf das Joch, welches sie trugen, und selbst nicht genug fühlten, und indem er ihnen zeigte seine eigene Freiheit und Seligkeit, so lud er sie ein bei ihm Ruhe zu finden, und sich von ihm erquiken zu lassen. Aber nicht nur der äußere Zustand des Erlösers und die Lebensweise, die er angenommen, brachten es mit sich, daß er selbst suchen mußte, was er selig machen wollte; sondern es ist auch so genau verbunden mit der eigenthümlichen Art | und Weise der Weisheit und der Kraft der Rede, wodurch er sich zuerst der Menschen bemächtigte. Denn, m. g. F., für diese hatte der Erlöser auch nicht für sich das Ansehen eines bestimmten äußerlichen Berufs, durch welches schon von selbst die Menschen an ihn sich hätten wenden können. Er gehörte weder zu dem Stamme der Priester, die unter seinem Volke die verfassungsmäßigen und angeordneten Mittler waren zwischen Gott und seinem Volke, und an welche sie gewiesen waren in Beziehung auf alle die heiligen Handlungen, wodurch sie das Wohlgefallen des Höchsten wiederzufinden und zu erhalten suchten. Er gehörte auch nicht zu der Schule der Schriftgelehrten, denen die Ueberlieferung eines Geschlechts auf | das andere das Ansehen einräumte, daß sie der Schrift kundig wären, und an welche alle von selbst gewiesen waren, die sich aus derselben wollten belehren lassen, die überall dastanden, bereit Zweifel aufzulösen und streitige Fragen zu schlichten. Daß er auch zu diesen nicht gehörte, das war so bekannt, daß sowohl das Volk überall von ihm sagte: wie redet doch dieser so, der die Schrift nicht gelernt hat, als auch die Schriftgelehrten selbst immer darauf pochten, daß er zu den gemeinen Söhnen der Erde gehöre, und das Wort des Herrn nicht verstände. So war also nichts, was von außenher seine Weisheit den Menschen empfohlen hätte, und es mußte ihm also selbst daran gelegen sein, sie ihnen zu empfehlen. | Aber sie war auch nicht von der Art, wie vorher und nachher bei weitem 1 hätten] Ergänzung aus SAr 105, S. 33v 1 Vgl. Joh 15,16

10–14 Vgl. Mt 11,28–30

33 Vgl. Joh 7,15

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der größte Theil menschlicher Weisheit sich ausgebildet und gewirkt hat. Die Inhaber derselben[,] streng für sich bleibend in der Stille und Einsamkeit, da forschen sie in den Tiefen der Dinge, da ordnen sie ihre Gedanken, und was sie so gefunden und in sich selbst zusammengesezt, das fassen sie auf in der Schrift, und der Buchstabe der Schrift, der stellt sich hin einem jeden, der ihn genießen, einem jeden, der sich daraus belehren will, ohne zu suchen, sondern er will selbst gesucht sein. Solcher Art war die Weisheit des Erlösers nicht. Er war nicht die Schrift, sondern das Wort, und wenn wir, m. a. F., die heiligen Schriften | des neuen Bundes ehren als das köstlichste, göttliche Geschenk, so ist es nicht deswegen, weil sie ein so geordnetes und zusammengeseztes Werk menschlicher Weisheit wären, ursprünglich auf eine solche allgemeine Weise verfaßt, wie sie denn das auch nicht sind, sondern weil sie der Wiederhall sind seines lebendigen Wortes, weil das, was er selbst geredet hat, darin aufgefaßt und festgehalten ist, Gott sei Dank für alle künftige Geschlechter der Menschen. Also nur als den Wiederhall seines lebendigen Wortes ehren wir sie. Aber wie, m. g. F., war nun dieses beschaffen? Freilich von zweierlei Art. Einmal ging der Herr umher, und lehrte in den Schulen, aber demüthig stand er da und bescheiden | unter den Hörern des göttlichen Wortes, und erst wenn gefragt wurde, ob noch einer da wäre, der da reden wollte über das Gelesene zur Erbauung der Anwesenden, dann bot er sich dar. Es ist aber etwas Eigenthümliches auch in den heiligen Schriften, daß grade von solchen Reden Khristi, die er ins Allgemeine hin in den Schulen seines Volkes gehalten, wenig oder gar nichts uns aufbehalten worden; das Meiste aber seiner Reden, das waren Gespräche mit Wenigen, und durch diese hat er am meisten die Menschen hervorgelokt und überwunden, und sie sich angeeignet. Aber zu diesem Behuf suchte er die Menschen und er suchte alle äußere | Gelegenheiten, die ihm das Leben darbot, benuzend ob irgend einer, der sich zu ihm fügte, von der Art wäre, seine Weisheit zu verstehen, und in die Tiefen derselben einzudringen; die Augenblike benuzte er, wo, sei es in der Freude oder sei es im Schmerze, die Herzen am meisten geöffnet waren, um mit dem durchdringenden Strahl seines Wortes die innersten Tiefen derselben zu beleuchten. So am meisten ist sein Wort gewesen ein scharfes Schwert, das Mark und Gebein theilt, so am meisten ist es eingedrungen in die Seelen, daß sie gestehen mußten: „Herr wo sollten wir hingehen von dir, du allein hast die Worte des Lebens.“ Aber, m. th. F., noch | immer ist es so und nicht anders. Die Weisheit von oben, wie sie zuerst erschienen ist in dem fleischgewordenen Wort, wie sie noch jezt ihr Geschäft fort sezt durch alle Jünger des Herrn ohne Unterschied, sie ist immer von derselben Art, sie 2 sich] sich; 33–34 Vgl. Lk 4,14–20

35–36 Vgl. Hebr 4,12

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kann nicht gesucht sein wollen, denn sonst würde sie schwerlich gefunden, sondern sie muß selbst gehen, und suchen. Welche große Ereignisse in Beziehung auf die Verbreitung des Khristenthums zeigt uns nicht die Geschichte. Ganze Völker auf einmal, das eine auf diese, das andere auf jene Weise, verlassen den gewohnten väterlichen Glauben, und werfen sich nieder an dem Kreuze des Herrn, um seinen Namen zu | bekennen. Oft, das dürfen wir nicht leugnen, geschah das auf eine Weise, die uns noch jezt schmerzt und verwundet, oft war es äußere Gewalt, oft künstliche Ueberredung; aber wir wissen es auch, auf diese Weise ist den Menschen das Heil doch nicht widerfahren, und die große Menge sind Khristen geworden dem Namen nach, die wahre Seligkeit des Khristenthums hat immer nur der kleine Theil erfahren. Denn wenn die Seele wahrhaft Gott und dem unvergänglichen Leben soll gewonnen werden, so will sie einzeln gesucht sein. Wie der Herr mit Einzelnen redete und in kleinen Kreisen, die große Menge aber, wie fleißig sie ihn auch | hörte, bald wieder hinter sich ging, so ist noch immer die göttliche Weisheit des Khristenthums von der Art, daß sie von Auge zu Auge, von Mund zu Mund, in einzelnen Gesprächen, im vertraulichen Leben, im Hinschauen auf das ewige Werk des Herrn im Einzelnen, daß sie so ihre größten und seligsten Wirkungen vollbringt. So machen ja auch wir es unter uns. Unsere Kinder weihen wir dem Herrn, sobald sie das Licht der Welt erbliken, mit ihnen besonders feiern wir seine Geburt. Aber, wie viel sie auch schon von seinem Namen wissen, wie zeitig auch eine größere Ehrfurcht vor ihm sich ihrer Seelen selbst bemächtigt, wir suchen | sie doch noch einzeln und besonders so sehr als möglich in den jugendlichen Herzen zu beleben und zu stärken, die Rinde der Verstoktheit, wo sie wäre, zu durchbrechen, die Tiefe derselben zu erforschen, und wo sie verwundet sind, den Balsam des göttlichen Wortes und die Kraft der göttlichen Liebe hineinzugießen. So ist und bleibt der Herr seiner eigenthümlichen Art und Weise nach immer noch der, der umhergeht, und umhergehen läßt, um zu suchen, was verloren ist. II. Wenn uns aber, m. g. F., dies auf eine ganz vorzügliche Weise das innige Gefühl ist, von der menschlichen Weise und von der göttlichen Liebe unseres Er|lösers: so laßt uns auch zweitens darauf sehen, wie eben dieses Suchen auch auf der andern Seite zusammenhängt mit dem nur zu allgemeinen Zustand derjenigen, die durch ihn sollen selig gemacht werden. Wie bezeichnet doch, m. a. F., der Herr selbst in so vielen seiner Gleichnißreden die Menschen, um derentwillen er gekommen war, und an welche sein Ruf, 13 Leben] Ergänzung aus SAr 105, S. 37r 38–1 Vgl. Lk 10,9

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daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen sei, erklang? Da redet er von einem Mahle, welches ein Reicher und Vornehmer ausgerichtet, und zu welchem eine Menge Gäste wären geladen worden, als aber Tag und Stunde kam, da erschienen sie nicht; der Eine mit dieser, der Andere mit jener Beschäftigung | wußten sie sich zu entschuldigen, und versäumten, was ihnen zugedacht war. So, m. g. F., so war und dürfen wir nicht sagen so ist noch der größte Theil der Menschen, denen das Heil des Erlösers dargeboten wird. Ach verlezte Gefühle, unbefriedigte Wünsche, vereitelte Hoffnungen, davon freilich ist das irdische Leben voll; und wenn den Menschen verkündigt wird, es solle ein neues angehen, es sei eine neue Zeit oder auch vielleicht nur ein vorübergehender Tag großer Freude für sie bereitet, gern nehmen sie den Ruf an, und denken sich von den Mängeln, die sie so oft drüken, los zu kommen. Aber wenn ihnen Zeit gelassen wird, so bedenken | sie, daß doch alles in der Welt noch so leidlich und erträglich fortgeht, sie verwikeln sich in neue Geschäfte, die ihnen zu Gebote stehen, sie unternehmen dies oder jenes, sie fördern das schnöde, menschliche, äußere Wohlbefinden, die äußere Ehre und den äußern Ruhm vor den Menschen, und die Sehnsucht ihres reinsten, geistigen und allein herrlichen Lebens wird wieder verdrängt, und wenn sie erscheinen sollen, so entschuldigen sie sich mit der Nothwendigkeit des irdischen Lebens, mit den Pflichten des irdischen Berufs. O wie nothwendig ist es also für alle, die diese Beschaffenheit auf die eine oder die andere Weise theilten, daß sie gesucht werden! Immer aufs neue müssen sie auf das | Gefühl gewiesen werden von der Dürftigkeit und von der Mangelhaftigkeit ihres Zustandes, keine Gelegenheit darf vorübergelassen werden, wo man sie aufmerksam machen kann auf das, was ihnen fehlt, wo ihnen die Nichtigkeit und die Vergänglichkeit dessen, womit sie sich begnügen, vor Augen gestellt werden kann, wo das Auge frei werden kann von der Deke, die darüber hängt, und wo man versuchen kann ihnen einen Strahl einzuflößen von dem Lichte, welches ihnen schon so lange könnte geleuchtet haben. Das, m. g. F., das ist die traurige Beschaffenheit der Menschen, die damals schon den Erlöser, dem sie alle hätten heilsbegierig entgegen strömen sollen, | nöthigte, einzeln und Einzelne zu suchen, um allmählich ein kleines Häuflein zusammen zu bringen, welche es endlich erkannten und fühlten, daß er das Wort des Lebens sei, welche verlangten mit ihm zu sein, mit ihm zu leben, und durch ihn zur Gemeinschaft mit dem Vater erhoben zu werden, und dies höher achteten als alles, was die gewöhnlichen Gegenstände der menschlichen Bestrebungen sind. Aber freilich alle sind sie nicht so, immer hat es gegeben und giebt noch solche, in denen die innerste Stimme nicht erstorben ist, daß der Mensch für etwas Höheres sei als für den Genuß des irdischen Lebens und für die Geschäftigkeit mit den weltlichen Dingen, immer hat | es gegeben und giebt solche, die, ehe sie noch das Rechte gefunden haben, 1–6 Vgl. Mt 22,1–10; Lk 14,16–24

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doch eben durch jene Stimme vor dem Verkehrten und Unwürdigen gewarnt werden, diese sind nur solche, die da aufschauen nach etwas Besserem. Aber, m. g. F., wenn wir es näher betrachten, so lassen sie es auch gewöhnlich bei diesem Aufschauen bewenden, und können mehr als dies selbst nicht leisten. Der Grund davon ist der, weil sie eben immer am meisten und das mit Recht, mit den allgemeinen Angelegenheiten der Menschen beschäftigt sind, weil obwohl sie nicht die einzelnen und zufälligen Dinge und Verhältnisse, sondern den gemeinsamen Geist, der in der Menge | waltet und sie beseelt, für das Wesentliche und Entscheidende halten, dennoch die innerste Tiefe des Herzens und also auch die eigentliche Quelle der menschlichen Noth nicht erfassen und durchdringen, sondern immer zu denen gehören, von denen der Erlöser sagt: sie glauben, daß das Reich Gottes kommen müsse mit äußerlichen Gebehrden. So harren die Menschen von einer Zeit zu der andern auf neue Entwikelungen der menschlichen Dinge und auf diese oder jene Gestaltung des gemeinsamen Lebens. In dem sanften und milden oder in dem gewaltsamen Hinauswerfen und Zerstören dessen, was sie für hinderlich oder für verkehrt halten, | darin suchen sie das Heil. Aber weil das Reich Gottes mit äußerlichen Gebehrden nicht kommt, so vermögen sie es auch nicht zu finden, und sie würden nicht hineinkommen, wenn es sie nicht immer und immer wieder suchte. So war jener Zöllner, an welchen die Worte des Erlösers in unserem Texte gerichtet waren, hinausgegangen, aber wozu? um ihn zu suchen, gehört hatte er von ihm, ein Bedürfniß mußte seine Seele fühlen, und das hatte ihn hinweggetrieben aus dem Gange seiner Geschäfte. Aber wenn der Erlöser ihn nicht gesucht, und sich ihm gleichsam aufgedrungen hätte, wer weiß, wenn er ihn gesehen, ob er ihm genug würde gefallen haben, | um ihn zu hören. So gingen zuerst zwei Jünger des Johannes, die von ihrem Lehrer gehört hatten der sei das Lamm Gottes, auf den er in seinen Gesprächen hingewiesen habe, sie gingen ihm freilich nach, aber wenn er sie nicht gesucht hätte durch die Lieblichkeit seiner Rede, wenn er sie nicht bei sich fest gehalten hätte den Tag über, wer weiß, ob sie nicht auch wieder zurükgegangen wären, wie die Andern. So kam Nikodemus zu ihm bei der Nacht, und bekannte: ja wir wissen, du bist ein Lehrer von Gott gekommen, denn Niemand kann die Zeichen thun, die du thust; aber was er nun eigentlich an ihm hatte und haben sollte, das wußte er selbst nicht, der Herr aber suchte ihn und spielte, | daß ich so sage, so lange auf den Saiten seiner Seele herum, bis er gefunden hatte, wo er ihn festhalten und ihm deutlich machen konnte, die von ihm unerkannte Wahrheit von der Nothwendigkeit einer neuen Geburt. Und wie oft haben die Menschen ihn nicht gehört, aber seine Rede war wieder verschwunden aus dem Innern ihres Gemüths, und sie waren im Stande, wenn ihnen dieses oder jenes Wort zu hart war, 12–13 Vgl. Lk 17,20 39 Vgl. Joh 3,1–8

27–31 Vgl. Joh 1,35–39

31–32 Vgl. Joh 6,66

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hinter sich zu gehen. Nur die einzeln Gesuchten, die waren es, die dem Herrn anhingen. Und so, m. g. F., so ist der Mensch noch jezt, wenn ihn der Erlöser nicht suchte, keiner würde durch ihn das Heil finden. Wenn sich die Weisen der Erde zu irgend einer Zeit hätten zu|sammen thun können und aussinnen, wie das Wohl des menschlichen Geschlechts zu begründen und wiederherzustellen wäre: o würde je des Menschen Sinn dahin gekommen sein zu sagen, das Wort muß Fleisch werden, der eingeborne Sohn des Vaters muß in die Welt kommen, in ihm müssen wir den Vater selbst erkennen, in ihm müssen wir seine Herrlichkeit schauen? Solche Weisheit wäre in keines Menschen Sinn gekommen, aber eben deshalb, weil sie von selbst nicht hineingekommen wäre, muß nun auch, nachdem der ewige Sohn in der Welt erschienen ist, er selbst umhergehen und suchen. Wie hell auch die Herrlichkeit strahlte, die aus ihm hervor|leuchtete, er mußte sich den Menschen einzeln dazu darbieten, er mußte selbst die Finsterniß durchdringen mit seinem Lichte, sonst wäre sie nimmer gewichen von den blinden Augen. Ja, m. g. F., so tief ist das Verderben des menschlichen Geschlechts, so fern waren die Menschen gekommen von dem Einigen, was ihnen Noth thut, daß sie freilich wohl wußten ohne göttliche Lenkung und Wohlthat wären die Uebel, welche sie drükten, nicht von ihnen zu wenden, und ohne eine höhere Hülfe würden sie es nicht finden, was sie suchten; aber eine solche, wie Gott ihnen wirklich zugedacht hatte, die zu finden sind sie selbst niemals geeignet. Die Quelle des Unglaubens ist in nichts anderem | als darin, daß der Mensch sich mit zu Wenigem begnügt, daß er das Große und Herrliche nicht sucht, und eben deswegen muß er selbst von ihm gesucht sein. Ja was ist alles, was Menschen sich jemals gedacht und geträumt haben, als die höchste Würde des erdenbewohnenden Menschen, was ist alle Erkenntniß Gottes, die sie zu schöpfen gedacht aus der Kenntniß der äußern Natur und des menschlichen Lebens, die sie zu schöpfen gedacht, indem sie in die Tiefe ihres eigenen Geistes eindrangen und darin das Göttliche zu finden meinten, was sind alle Wohlthaten, die sie so gern dem menschlichen Geschlecht erwiesen hätten, wenn sie nur könnten, alle | wohlthätige Anordnungen des äußern Lebens, alle Sicherstellung schon erworbener Güter, alles Fortpflanzen des Erkannten und Gegebenen auf die künftigen Geschlechter, was ist das alles gegen das Seligmachen, welches der leistet, der freilich, aber, um so selig zu machen, diejenigen suchen muß, die sich immer damit begnügen, wenn sie etwas anderes finden. Der Friede, den er giebt, und den die Welt mit aller ihrer Weisheit nicht geben kann, die Gemeinschaft mit Gott, in die er uns einführt, und die nicht eine 9 schauen?] schauen. nenden 7–10 Vgl. Joh 1,14

26 erdenbewohnenden] so SAr 105, S. 42v; Textzeuge: bewoh-

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äußere ist wie die, welche die Menschen allein suchen konnten, sondern eine innere, so daß er der Sohn in uns lebt, und mit ihm der Vater kommt | Wohnung zu machen in unserem Herzen, nicht ein äußeres Gesez Gottes hinstellend im Buchstaben, sondern die Kraft des göttlichen Gebotes durch den Geist lebendig machend in dem Innern des Menschen, das, m. g. F., ist ein Seligmachen, welches auf keinem andern Wege entstehen konnte. Sich selbst verlieren, indem man sich hingiebt dem gemeinsamen Wohl, und seine Thätigkeit widmet den Angelegenheiten der Menschen, eigenen Genuß vergessen, sich freuen können mehr an dem gemeinsamen Wohl als an den vergänglichen Begünstigungen, die wir selbst erfahren, das, m. g. F., das ist das höhere Glük, die höhere Zufriedenheit, an welche das | Suchen des Menschen wohl hinanreicht. Aber in der Person eines Einzelnen die Fülle der Gottheit anschauen, die als unsere eigene ansehen, erkennen und behandeln, seiner göttlichen Vollkommenheit uns erfreuen als unserer eigenen, und wie er als das Heil des ganzen menschlichen Geschlechts auch dem Ganzen angehört, sich durch ihn allein mit dem Ganzen verbinden, und in ihm allein mit dem Ganzen leben, sein seligmachendes Bestreben in sich selbst fühlen, o das, m. g. F., das ist die Seligkeit, an welche die menschliche Weisheit nie gereicht hätte; und um sie zu bringen muß der Herr immer noch suchen das Verlorene; das Verlorene in dem Tichten und Trachten dieser | Welt, das Verlorene in eigener Einbildung und Selbstgefälligkeit, das Verlorene in jenen engen Grenzen in welchen menschliche Kräfte und Hülfsmittel ein vorübergehendes menschliches Wohl bauen können, das muß er suchen und aus der Tiefe des Verderbens es erheben zu der Seligkeit, welche die Menschen fähig macht, daß er sie seine Brüder nennt. O, m. g. Freunde, er sucht, lassen wir uns nur finden. Hat er uns aber gefunden, o so laßt uns auch das theure Wort nicht vergessen: „Suchet so werdet ihr finden.“ Wir, m. g. F., sollen auch suchen, für ihn sollen wir suchen das Verlorene, und nicht loslassen und nachlassen bis | wir finden, für ihn sollen wir suchen, wo und wie wir seine Seligkeit verbreiten können, und nichts soll uns lieber sein als das Verlorene ihm zu suchen, daß wir es heilen und pflegen und beseligen, und schlecht würden wir feiern das Fest seiner Erscheinung, und unvollkommen würde sein die Dankbarkeit, die wir Gott dem Herrn darbringen, wenn wir nicht auf der einen Seite fühlen, wie wir selbst haben müssen von ihm gesucht werden und gefunden, auf der andern Seite uns auch selbst und unser ganzes Leben ihm hingeben, und es als unsern höchsten Beruf ansehen, wenn wir die Menschenkinder erfüllen können mit der Seligkeit, die wir ihm verdanken. | Dazu sei uns das Fest seiner Geburt heilig, dazu präge sich sein Bild immer tiefer unseren Seelen 11 ist das] Ergänzung aus SAr 105, Bl. 43v aus SAr 105, S. 44r 2–3 Vgl. Joh 14,23

16–17 verbinden, ... Ganzen] Ergänzung

27–28 Mt 7,7; Lk 11,9

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ein, dazu bekennen wir ihn als den, der uns von Gott allein gegeben ist zum Heil und zur Seligkeit. Amen.

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Ja Preis und Dank sei Dir, barmherziger Vater, daß Du uns heimgesucht hast in Deinem Sohne, daß uns in ihm wieder erschienen ist Dein verlorenes Ebenbild, der Abglanz Deines Wesens und Deiner Herrlichkeit. Dank Dir, daß Du ihn gesandt hast so mild und wohlthätig, so erbarmend und liebevoll zu suchen das Verlorene. O segne dazu immerdar unter uns sein Wort und die Kraft seiner Gemeinschaft, daß das Häuflein der | an ihn gläubigen Seelen nicht aufhöre in seinem Namen mit ihm und für ihn zu suchen das Verlorene, und daß aus dem unscheinbaren Anfang seines Reiches immer mehr sich erbaue der herrliche Tempel Gottes, in welchem er, der uns gesandte Sohn, als der Anfänger der Gläubigen, als der Herzog der Seligkeit verehrt werde und Du angebetet im Geist und in der Wahrheit. Dazu, gütiger Gott, segne Du die heiligen geheimnißvollen Güter der khristlichen Kirche, und laß sich immer fester schlingen das Band der Liebe und des Glaubens um alle, die den Namen Deines Sohnes bekennen. Wir empfehlen Dir dazu in diesen Tagen allgemeiner Freude die | ganze in freudiger Dankbarkeit vor Dir versammelte Khristenheit. Aber auch unter uns insbesondere und unter unserem Volke laß Dein Reich wachsen und gedeihen. Segne dazu den König, den Kronprinzen und seine Gemahlin und das ganze königliche Haus, und laß es unter uns leuchten mit einem Beispiele khristlicher Gottseligkeit. Verleihe dazu dem Könige in der Regierung seines Volks den Geist der Weisheit und der Erkenntniß, umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, welche bereit sind zu thun was Recht ist vor Dir, und zu fördern das gemeinsame Wohl. Segne die Erziehung der Jugend in der Zucht und Vermahnung zum Herrn, | und einen jeden in dem Kreise seines Berufs und seines stillen Lebens in dem Bestreben, mit Deinem Sohne und für ihn zu suchen, was noch verloren ist, und selig zu machen, was sich noch quält in den Dingen dieser Welt. Nimm Dich nach Deiner Gnade vorzüglich auch derer an, die unter den Wiederwärtigkeiten dieses Lebens ihren Trost bei Dir suchen, und indem Deine Gnade mächtig ist in den Schwachen, so laß uns alle immer fester an dem Glauben halten, daß denen, die Dich lieben gelernt haben in Deinem Sohne, denen, die sich von ihm haben finden lassen, auch alles gereichen muß zur Erhöhung ihrer Seligkeit. Amen.

4–5 Vgl. Hebr 1,3 12–13 Vgl. Hebr 12,2 13 Vgl. Hebr 2,10 13–14 Vgl. Joh 4,23.24 21 Kronprinz Friedrich Wilhelm IV. von Preußen hatte kurz zuvor, am 29. November 1823, Prinzessin Elisabeth Ludovika von Bayern geheiratet. 33 Vgl. 2Kor 12,9

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[Liederblatt vom 26. Dezember 1823:] Am zweiten Weihnachtstage 1823. Vor dem Gebet. – Mel. Lobt Gott ihr etc. [1.] Was in der heilgen Nacht erklang / Von selger Geister Heer, / Das sei auch unser Lobgesang, / Gott in der Höh sei Ehr’. // [2.] Von aller Welt erschalle dir / O Jesu Dank und Lob, / Dich, unsern Retter, preisen wir, / Der uns vom Staub erhob. // [3.] Du sprachst zur Finsterniß, entweich! / Da floh des Irrthums Nacht. / Du hast das lichte Gottesreich / In Herz und Welt gebracht. // [4.] Nun bürgen Sorge selbst und Schmerz / Für unsrer Kindheit Recht; / Zum Vater hebt sich unser Herz, / Wir sind ja sein Geschlecht. // [5.] Dank dir, daß du uns Brüder nennst, / Darauf ruht unser Heil; / Wen du als Bruder anerkennst, / Hat ewig an dir Theil. // Nach dem Gebet. – Mel. O Jesu Christ, dein etc. Bringt frohen Dank und Lobgesang / Dem Herrn, der uns zum Heile ward gebohren! / Sein Licht erhellt die dunkle Welt; / Des Lichtes Kinder gehen nicht verloren. // Chor. Siehe Finsterniß bedecket das Erdreich, und Dunkel die Völker! Aber über dir gehet auf der Herr, und seine Herrlichkeit erscheinet über dir. // Gemeine. [1.] Welch eine Nacht! der Sterne Pracht / Wich vor dem Glanz der frohen Himmelschöre, / Die Erd’ erklang vom Lobgesang, / Der jauchzend rief: Gott in der Höh sei Ehre. // [2.] So tönt es laut! der Vater schaut / Versöhnt herab; auf Erden herrscht sein Friede! / Wem schlägt die Brust nicht jezt voll Lust, / Voll Seligkeit bei diesem Segensliede! // Zwei Stimmen. Er weidet seine Heerde, ein guter Hirte, und sammelt seine Lämmer in seinen Arm. Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen Schooß und suchet auf das verloren war. Kommt her zu ihm, die ihr mühselig seid! Kommt her zu ihm mit Traurigkeit Beladene; denn er verleiht euch Ruh. Nehmt auf euch sein Joch und lernet von ihm; denn er ist sanft und demuthsvoll; dann findet ihr Ruh für euer Herz. // Choral. Gott erfüllt was er verspricht, / Länger säumt die Hülfe nicht. / Freudig, wie zum Sieg ein Held, / Eilt der Sohn in seine Welt. // Eine Stimme. Es waren Hirten beisammen auf dem Felde, die hüteten ihre Heerden bei Nacht. Und siehe der Engel des Herrn trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn umleuchtete sie, und sie furchten sich sehr. Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht, ich verkündige euch Freude, große Freude, die allem Volk widerfahren wird. Denn euch ist heute der Heiland geboren dort in Davids Stadt, der Heiland, der Gesalbte, der Herr. Und alsbald war da bei den Engeln die Menge der himmlischen Heerschaaren, die lobten Gott und sprachen: //

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Chor. Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden und / den Menschen ein Wohlgefallen. // Choral, vom Chor gesungen. So singt auch ihr und dankt dem hier, / Von dessen Ruhm die Himmel wiederhallen, / Und lebt hinfort nach seinem Wort, / Dann ruht auf euch sein gnädig Wohlgefallen. // Gemeine. Auch mein Gesang bringt, Herr, dir Dank, / Denn mir auch bringt dein Sohn des Himmels Segen. / Tod und Gericht erschreckt mich nicht, / Der Zukunft Nacht geh’ ich getrost entgegen. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. O du, durch den ich lebe, / Du öfnetest den Himmel mir! / Nimm hin mein Herz! ich gebe / Den lezten Hauch noch freudig dir. / Anbetung sei auf Erden / Dem Sohn, der ewig war, / Den, unser Heil zu werden, / Ein sterblich Weib gebar. / Hier fließen Freudenthränen, / Ein Zoll der Lieb’ und Treu; / Wir huldigen und schwören, / Und weihn uns dir aufs neu. //

Am 28. Dezember 1823 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Sonntag nach Weihnachten, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,19–21 Nachschrift; SAr 85, Bl. 111r–125v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/8, 1837, S. 197–206 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 105, Bl. 46v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 153v; Gemberg Nachschrift; SAr 55, Bl. 74r–78v; Saunier, in: Schirmer Teil der vom 13. April 1823 bis zum 20. Mai 1827 gehaltenen Homilienreihe zum Johannesevangelium (vgl. Einleitung, Punkt II.3.I.)

Frühpredigt am Sonntage nach Weihnachten 1823. | Tex t. Johannes III, 19–21. Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist; und die Menschen liebten die Finsterniß mehr, denn das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Arges thut, der hasset das Licht, und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden. Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden; denn sie sind in Gott gethan. Diese Worte, m. g. F., stehen in einem genauen Zusammenhange mit denen, welche wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht haben. Da sagte der Erlöser, das sei das | Gericht, wer an ihn glaubt, der werde nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, der sei schon gerichtet um deßwillen, weil er nicht glaubt an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes. In diesen Worten, die wir jezt eben gelesen haben, wird uns nun weiter beschrieben, wie es mit diesem Gericht von Anfang an zugegangen, was damit gemeint sei, wenn hier gesagt wird, das sei das Gericht, daß, als das Licht in die Welt gekommen, die Menschen die Finsterniß mehr liebten als das Licht. Darüber können wir keinen Zweifel haben, daß auch hier der Erlöser von sich selbst redet. Wie er nämlich, m. g. F., bald sich des Menschen Sohn nennt, bald sich für den eingebornen Sohn Gottes aus|giebt, wenn er sagt: wer an den glaubt, der habe das ewige Leben, wer aber nicht glaubt, der sei schon gerichtet, so auch hier hat er gewiß sich selbst ge9–13 Vgl. oben 25. Dezember 1823 früh über Joh 3,16–18

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meint, wenn er sagt: das sei das Gericht, daß als das Licht in die Welt gekommen, die Menschen die Finsterniß mehr liebten als das Licht. Ja diese Worte stimmen selbst genau überein mit denen, die wir am Anfange des Evangeliums in der Einleitung des Johannes selbst gelesen haben, wo er sagt: „in ihm, nämlich in dem Worte, war das Leben und das Leben war das Licht der Menschen, und das Licht scheint in die Finsterniß, aber die Finsterniß hat es nicht begriffen.“ So sagt der Herr hier als das Licht in die | Welt kam, liebten die Menschen die Finsterniß mehr als das Licht, und das Nichtbegreifen des Lichtes, und das die Finsterniß Mehrlieben als das Licht, ist auch hier überall eins und dasselbige. Daß aber die Menschen die Finsterniß mehr liebten als das Licht, das leitet der Herr davon ab, daß ihre Werke böse waren. Nämlich in der Finsterniß kann man nichts unterscheiden, und so ist auch hier die geistige Finsterniß gemeint, in welcher der Mensch noch nichts unterscheidet, das Wahre nicht von dem Falschen, das Gute nicht von dem Bösen, das Reine nicht von dem Unreinen, das Göttliche nicht von dem Verkehrten. Daß eine solche Finsterniß in der Welt gewesen ehe der Erlöser gekom|men, davon haben wir wohl alle mehr oder weniger eine klare Einsicht oder ein lebendiges Gefühl. In diesem Nichtunterscheidenkönnen aber gedeihen diese bösen Werke am besten; denn so wie der Unterschied klar wahrgenommen wird, so regt sich auch in dem Innern des Menschen etwas gegen das Böse und Verkehrte, und es wendet sich in ihm etwas Vortreffliches dem Reinen und Göttlichen zu. Daß also deswegen die Menschen die Finsterniß mehr liebten als das Licht, weil ihre Werke böse sind, und sie darin fortleben wollen ohne ihren Frieden zu stören, das ist auch die allgemeine Erfahrung gewesen. So ist es von | Anfang an gewesen als der Erlöser in die Welt gekommen, und so, m. g. F., sehen wir es auch jezt noch. Wo irgend in der Welt das Licht zuerst in die Finsterniß scheint, auch da verhält es sich so, daß der größere Theil der Menschen die Finsterniß mehr liebt als das Licht, daß sie sich von dem Lichte wegwenden und nicht an dasselbe kommen wollen, weil ihre Werke böse sind. Wenn aber dies von allen Menschen gegolten hätte seit der Zeit des Erlösers und bis auf die gegenwärtige Zeit und so lange sein Name noch kann verbreitet werden und sein Wort verkündigt unter solchen, die noch nicht von ihm gehört haben, so hätte es keinen gegeben, der | an ihn geglaubt hätte, weil alle in der Finsterniß geblieben wären und nicht an das Licht gekommen, und so wäre das Gericht nicht, welches darin besteht, daß Einige glauben, und dann nicht gerichtet werden, Andere nicht glauben, und dann schon gerichtet sind. Daher müssen wir allerdings nach der Meinung des Herrn dies nur von dem größeren Theile der Menschen 14–15 Falschen, das Gute nicht von dem] Ergänzung aus SW II/8, S. 198 5–7 Joh 1,4–5

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verstehen, daß sie die Finsterniß mehr geliebt haben als das Licht, weil ihre Werke böse waren. Eben den Unterschied, den wir auch in dieser Hinsicht nicht selten finden, den äußert der Erlöser in diesen Worten, welche gleich darauf folgen, indem er entgegensezt diejenigen, welche Arges thun, und die, welche die | Wahrheit thun. Von den Ersten sagt er: wer Arges thut, der hasset das Licht und kommt nicht an das Licht, auf daß seine Werke nicht gestraft werden; von den Andern aber sagt er: wer die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott gethan. So sagt er also hier von dem größeren Theile der Menschen, daß sie Arges thun, und wie wir es vorher schon erklärt haben, deswegen nicht an das Licht kommen, damit ihre Werke nicht gestraft werden, damit das, was sie thun und lieben, nicht offenbar werde vor ihren eigenen Augen als das Ungöttliche und Verkehrte, und sie nicht genöthiget werden das Sträfliche dessen, was in ihnen selbst lebt, | in ihrem innersten Herzen zu verwerfen und die Schuldigkeit anzuerkennen, daß sie davon lassen sollen, damit so ihre Werke nicht offenbar werden, und weil sie das in dem tiefsten Grunde ihres Herzens wünschen, darum hassen sie das Licht und kommen nicht an das Licht. Das, m. g. F., ist das gewöhnliche Spiel, welches das menschliche Herz mit sich selbst treibt, sich vor dem Vollkommnen, vor dem Wahren und Richtigen zu scheuen, so lange es noch an dem Unvollkommnen, an dem Falschen und Verkehrten hängt, und das stellt der Erlöser dar als den Grund, weshalb der größte Theil der Menschen vom Anfange seiner Erscheinung an das Licht gehasset | hat, und nicht an das Licht gekommen ist. Aber wie kann er es eigentlich mit jenem Gegensaz und Unterschied meinen, daß vor seiner Erscheinung viele Menschen und wohl die meisten Arges gethan und deshalb das Licht gehasset haben, und nicht an das Licht gekommen sind, es aber schon andere gegeben hat, deren Werke in Gott gethan waren? Denn, m. g. F., wo bliebe denn wohl die Nothwendigkeit der Erlösung durch Khristum und der Erscheinung des eingebornen Sohnes Gottes in der Welt, wenn auch ohne ihn und ehe das Licht in die Finsterniß schien, die Menschen im Stande gewesen wären statt des Argen das Gute zu thun, und statt böser Werke die, welche | in Gott gethan sind? Ich glaube, wir müssen hier darauf achten, daß der Herr nicht denen, die Arges thun, solche entgegengesezt, die das Gute thun, denn das sagt er nicht; sondern ohne einen strengen Gegensaz aufzustellen, sagt er von den Einen, daß sie die Wahrheit thun, und an das Licht kommen; und daß eben deswegen, weil sie Wahrheit thun, und wollen, daß ihre Werke offenbar werden, diese Werke in Gott gethan sind, ohne deswegen zu sagen, daß sie an sich gut und vollkommen wären. Der Wahrheit aber ist eben entgegengesezt das Falsche, die Lüge, also eben das, das Licht hassen, und seine Werke nicht wollen strafen lassen; und der | Gegensaz, den der Herr 28 waren?] waren.

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aufstellt, besteht weniger in dem, was der Mensch wirklich gethan hat, als in der Beziehung desselben auf die Wahrheit. Das müssen wir wohl gestehen, es ist noch ein anderes, wenn wir reden von dem Streit des Fleisches mit dem Geist, und sagen, daß ehe der Geist Gottes in die Welt gekommen und über die menschlichen Seelen ausgegossen, seien auch alle Menschen nicht Geist gewesen, sondern Fleisch; und wenn wir auf der andern Seite reden von der Liebe oder von dem Hasse des Menschen gegen die Wahrheit. Das Erste müssen wir unbedenklich zugeben, und sagen, daß keiner vermocht habe außer | und ehe der Herr erschien, und außer der Gemeinschaft mit ihm, das eigentlich Gute zu thun; aber ein solcher Unterschied muß immer gewesen sein, wie ihn der Herr hier aufstellt, zwischen dem Hasse gegen die Wahrheit, und zwischen dem, die Wahrheit thun. Daß das Böse eben dadurch, wenn der Mensch nicht will, daß seine Werke an das Licht kämen, und von dem Lichte gestraft werden, erst in dem rechten und tiefsten Sinne des Worts das Arge wirkt, das wissen und fühlen wir alle; denn dadurch verstokt er sich selbst, dadurch bekennt er seinen bestimmten Willen, daß er dem Bessern keinen Zugang in sich verstatten will. Wenn der Mensch freilich, | weil es ihm an dem Geiste fehlt, noch fleischlich lebt und handelt, so zeigt er sich dadurch als der göttlichen Hülfe und der göttlichen Rettung aus der Gewalt des Fleisches bedürftig; wenn er aber dabei der Wahrheit nicht ganz abgewendet und verschlossen ist, sondern wenn ihn ein Strahl derselben trifft und sein Gemüth erleuchtet, so zeigt er sich dadurch als ein solcher, der im Stande ist die göttliche Hülfe, die ihm dargeboten wird, auch anzunehmen. Und in dieser Beziehung kann freilich von demjenigen, der bei aller seiner Unvollkommenheit, bei aller seiner Unfähigkeit das Gute zu thun, doch ein Verlangen nach der Wahrheit, eine Liebe | zur Wahrheit hat, so daß er dadurch einen Gewinn hat – denn das ist es, was der Herr sagen will mit den Worten: wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott gethan – so zeigt er dadurch Empfänglichkeit für das Göttliche, und von einem solchen ist möglich, daß ihn ein Schimmer des himmlischen 17 Wenn] so SW II/8, S. 201; Textzeuge: Wo gegen 24–4 Und ... gethan sind.] Dieser Satz ist an mehreren Stellen problematisch. Ein logischer Zusammenhang lässt sich nicht ohne größere Eingriffe rekonstruieren. SW II/8 bietet S. 202 eine in sich stimmige Version, die aber mit einiger Wahrscheinlichkeit mindestens in Teilen auf den Editor Adolf Sydow zurückgeht. Dort heißt es: Und in dieser Beziehung ist freilich von demjenigen, der bei aller seiner Unvollkommenheit, bei aller seiner Unfähigkeit das gute zu thun doch ein Verlangen nach der Wahrheit, eine Liebe zur Wahrheit hat, – denn das ist es, was der Herr sagen will mit den Worten, Wer aber die Wahrheit thut, der kommt an das Licht, daß seine Werke offenbar werden, denn sie sind in Gott gethan – und der dadurch Empfänglichkeit zeigt für das göttliche, von einem solchen ist möglich und zu hoffen, daß ihn ein Schimmer des himmlischen Lichtes treffen und aus der Finsterniß herausreißen werde; in diesem entfernten Sinne kann der Herr von denen, die, als er in die Welt kam, nicht die Finsterniß mehr liebten als das Licht, sagen, daß ihre Werke in Gott gethan sind.

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Lichtes treffen und aus der Finsterniß herausreißen kann, in diesem entfernten Sinne kann der Herr von denen, die, als er in die Welt kam, nicht die Finsterniß mehr liebten als das Licht, sagen, daß ihre Werke in Gott gethan sind. Denn es ist nichts, | m. g. F., was so sehr in der menschlichen Seele, daß ich mich so ausdrüke, die Stelle Gottes vertritt und den Ort gleichsam einnimmt, wo Gott und das lebendige Bewußtsein desselben in der Seele wohnen soll, als die Neigung des Menschen zur Wahrheit. Wer sich dessen, daß ich so sage, bewußt ist, und also gern aufnimmt das Wahre, was ihm von außen dargeboten wird, der ist überzeugt, daß nichts ihm kann dargeboten werden, und wenn auch das Licht die Finsterniß ganz durchdringt, als was in dem Umfange des göttlichen Lichtes liegt. Wo aber diese Stelle schon besezt ist, und Haß und Feindschaft gegen die Wahrheit haben sich | [ihrer] bemächtigt, ja da wird sich die Seele immer vom Lichte abwenden, und die Finsterniß mehr lieben als das Licht. Darum sind die Werke dessen, wie unrein sie auch sein mögen, der aber doch die Wahrheit sucht und sich von ihr leiten läßt, und sich an sie hält, die Werke dessen sind in Gott gethan. M. a. F., Es ist heute der lezte Tag unserer öffentlichen khristlichen Versammlungen in diesem Jahre, und darin findet gewiß jeder eine besondere Veranlassung auch für sich selbst in die Vergangenheit zurükzusehen, und wie wohl wir alle solche sind, zu denen das Licht hindurchgedrungen ist und sie beschienen hat, | und wir sagen können, daß so gewiß wir glauben an den Namen des eingebornen Sohnes Gottes, so gewiß auch wandeln wir in dem Lichte, welches in die Welt gekommen ist und die Finsterniß beschienen und vertrieben hat, so werden wir doch gestehen müssen, daß die Ähnlichkeit mit diesem ursprünglichen Zustande des Menschen, ehe das Licht in die Welt gekommen ist, niemals ganz aus unserer Seele verschwindet, wir werden gestehen müssen, auch unter denen, die in dem Lichte wandeln, giebt es einen Unterschied sowohl verschiedener Zeiten als auch in einer und derselben verschiedener Personen, und wiederum in einer und derselben Person | den Unterschied verschiedener Zeiten, wo der Mensch das Wahre thut und an das Licht kommt, und auch auf der andern Seite sich von dem Lichte wegwendet und nicht gern will, daß seine Werke gestraft werden. Denn wenn wir auch im Allgemeinen eben deswegen, weil uns das ewige Licht von oben beschienen hat, den Unterschied zwischen dem Guten und Bösen, zwischen dem Göttlichen und Verkehrten nicht mehr verhehlen können in unserer Seele, und so aus dem innersten Grunde derselben dem Guten zustimmen und das Böse hassen: so wissen wir doch, daß auch dies nur selten nur in wenigen Menschen und auch in den Wenigen nur in den hellesten und | reinsten Augenbliken ihres Lebens ganz wahr und vollkommen ist. Wenige Menschen giebt es von einer so festen 40 den] Ergänzung aus SW II/8, S. 203

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und reinen Wahrheitsliebe, daß sie jeden Augenblik bereit sind, an das Licht zu kommen, und nichts seligeres wissen, als daß ihre Werke gestraft werden, in sofern sie noch nicht ganz Werke des Geistes wären; wenige Menschen sind so ohne Vorbehalt dem Lichte geöffnet und der Wahrheit hingegeben, daß sie nicht noch in Beziehung auf dieses oder jenes gern in einer gewissen Dunkelheit blieben, wie weit es sich wohl mit den Werken des Lichtes verträgt oder nicht, und da ist noch etwas Arges und | Böses hinter und in dem Gemüthe eine Verwirrung, von der sie nicht lassen wollen, und nicht übergehen in das Gebiet des Lichtes und der Ordnung. Wenn wir nun besonders aufgefordert werden in das vergangene Jahr unseres Lebens zurükzusehen, was ist dasjenige, worauf unsere Aufmerksamkeit besonders ruht, woran hält sich am meisten unser Herz, damit wir die kindliche Dankbarkeit gegen den, von welchem alle gute Gaben kommen, nicht vergessen? Aber alles, was geschieht, geschieht nur zu unserer Zucht und zu unserem Wachsthum in der Gottseligkeit, und also kommt doch alles darauf an, wenn wir der Vergangenheit ge|denken, zu entdeken, wie unsere Werke gethan sind, wie unser Sinn, mit welchem wir sie verrichtet haben, beschaffen ist. Aber dieses Zurüksehen kann uns nur dann Nuzen bringen, wenn wir uns ohne Vorbehalt dem Lichte hingeben. Wenn wir in irgend einer Beziehung das Licht scheuen, so mögen wir gestehen, daß wir die Wahrheit noch nicht thun, und daß wir von vielen unserer Werke, die an sich das Licht nicht zu scheuen brauchen, doch nicht in vollem und reinem Sinne sagen können, daß sie in Gott gethan sind. Wer von dem Lichte, welches in die Welt gekommen ist und die Finsterniß durchdrungen hat, den ganzen reinen | Gewinn ziehen will, der muß vor allen Dingen die Wahrheit thun, der muß auch ganz und ohne Vorbehalt sich dem Lichte hingeben, und ihm die innersten Falten des Herzens öffnen, daß es sie bescheine und erleuchte, damit er alles erkenne, was in ihm noch der Finsterniß angehört und nicht in Gott gethan ist, und über nichts muß er sich mehr freuen, als wenn seine Werke gestraft werden, und wenn er sie gestraft hat ohne Abstimmung seines innern Gefühls, damit so sein Herz noch mehr erleuchtet werde und die Finsterniß, welche niemals die menschliche Seele ganz verläßt, je länger je mehr verschwinde. Und aus der Art wie wir in die Vergangenheit zurüksehen, können wir am | besten wissen, wessen wir uns für die Zukunft zu versichern haben; denn wenn wir unser Auge, nachdem wir in die Vergangenheit geblikt haben, noch von dem Lichte abwenden, was können wir anderes daraus schließen, als daß es noch etwas Finsteres und Dunkles giebt, was noch nicht von dem Lichte erleuchtet ist, etwas wovon wir nicht lassen möchten, wovon wir ahnden, daß, wenn wir damit an das Licht kämen, grade die Werke würden gestraft werden, die wir am 37 anderes] Ergänzung aus SW II/8, S. 205 S. 205

39 wovon wir] Ergänzung aus SW II/8,

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liebsten in der Dunkelheit lassen möchten, und unserem Gefühl und unserem Leben das Geständniß abnöthigt, daß wir davon lassen sollten? Bringen wir nun in die Zukunft diese reine Wahrheitsliebe nicht hinein, sondern | wollen uns, wie es mit diesem oder jenem in uns beschaffen, unmöglich entdeken, wie können wir ein gedeihliches Wachsthum in khristlicher Vollkommenheit bei uns erwarten? Und so müssen wir gestehen, es giebt keine reine Liebe zu dem Erlöser ohne diesen Hinblik ohne Zurükhalt. Denn als was wollen wir ihn lieben, wenn nicht als den, wie er sich selbst ankündigt als das Licht, welches in die Welt gekommen ist, als was wollen wir ihn lieben, wenn nicht als den Reinen und Heiligen, der uns in seiner Erscheinung das ewige und unerreichbare Urbild aller Vollkommenheit aufgestellt, und uns die Macht und die Weisheit | des Höchsten offenbart hat? An ihm also allein mögen wir es erkennen, daß wir nur durch ihn und durch den Beistand seines Geistes zum Lichte kommen können. Wie wollen wir sagen, daß wir ihn lieben, wenn wir noch die Finsterniß lieben? Denn beides kann nicht neben einander stehen, die Liebe zu dem, der selbst das ewige Licht der Menschen ist, und uns das Licht gebracht hat, und die Liebe zur Finsterniß, die durch sein Licht soll überwunden werden. Wie wollen wir sagen, daß wir ihn lieben, wenn wir uns noch fürchten vor dem, was vor unseren Augen immer mehr soll offenbar werden, nämlich wie wir mit ihm in Gemeinschaft stehen? Lieben wir | ihn, so müssen wir uns freuen, daß unsere Werke offenbar werden, und uns nicht scheuen gestraft zu werden von dem innern Gefühl, welches er in uns gelegt hat, so müssen wir uns freuen, daß die Werke, die wir thun, an das Licht gezogen werden, dann wird über die Unvollkommenheit, die immer noch denselben anhängt, der Schleier der göttlichen Liebe geworfen, welche es in dem Menschen immer mehr dahin bringt, daß alle seine Werke in Gott gethan sind. Laßt uns also das mit allem Ernste zu Herzen nehmen, daß es keinen andern Maaßstab giebt unseres Fortschreitens im Guten als die reine Wahrheitsliebe, die mit | allem an das Licht will, und auf jede Weise das Licht und die Wahrheit liebt, die Finsterniß aber haßt, und nicht will verborgen bleiben mit ihren Werken, sondern dieselben offenbar wünscht, damit sie gestraft werden von dem Lichte. Denn was kann es besseres geben als was seiner noch nicht würdig ist von dem strafen zu lassen, der, indem er uns auf diese Weise demüthigt, uns seine Hand reicht, und jede neue Erkenntniß, jeden stärker aufgefaßten Unterschied zwischen dem Guten und dem Bösen uns gedeihen läßt zur wahren Befestigung unseres geistigen Lebens? In dieser Hinsicht laßt red2 sollten?] so SW II/8, S. 205; Textzeuge: wollen. 8–9 Vgl. Joh 12,46

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lich uns selbst prüfen, und mit allen unseren Werken | an das Licht kommen, damit wir wirken können so lange es noch Tag ist, ehe die Nacht kommt, und damit alle unsere Werke in Gott gethan seien. Amen.

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Nachschrift der Predigt vom 26. Mai 1822 vormittags, SAr 106, Bl. 19v; Crayen – Faksimile (77 %).

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Abkürzungen und editorische Zeichen Das Abkürzungsverzeichnis bietet die Auflösung der Zeichen und Abbreviaturen, die von den Autoren oder von der Bandherausgeberin benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Kopftext zu den einzelnen Predigten erfolgt. Nicht verzeichnet werden Abkürzungen, die für Vornamen stehen oder die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen eines Abkürzungspunktes, durch Klein- bzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden. Schließlich sind nicht aufgenommen die in den Quellenangaben der Liederblätter vorkommenden Abkürzungen. | / // [] ] )* P S [!]

Seitenwechsel Zeilenwechsel in Liedern, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Absatzwechsel in Liedern Ergänzung der Bandherausgeberin Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Hinweis auf Anomalie / Aufmerksamkeitszeichen

1Joh 1Kor 1Petr 1Thess / 1. Tessal. 1Tim

Der Der Der Der Der

2Kor 2Petr 2Tim

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Petrus Der zweite Brief des Paulus an Timotheus

a. ABBAW

an / am Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin Abteilung Allgemeine Deutsche Biographie Anmerkung Die Apostelgeschichte Artikel Auflage

Abt. ADB Anm. Apg Art. Aufl.

erste erste erste erste erste

Brief Brief Brief Brief Brief

des des des des des

Johannes Paulus an die Korinther Petrus Paulus an die Thessalonicher Paulus an Timotheus

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BBKL Bd. / Bde. bearb. betr. Bl. / Bll. Brandenburg. bzw.

Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Band / Bände bearbeitet betreffend Blatt / Blätter Brandenburgisch beziehungsweise

C. / Cap. Churfl. comm. in Gal.

Capitulum Churfürstlich Hieronymus, Commentarii in Epistulam Pauli Apostoli ad Galatas

D. / Doct. / Dr. Dep. dgl. d. h. Dtn

Doktor Depositum dergleichen das heißt Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium)

ebd. ed. / edd. ELAB Eph EPMB et al. etc. Evang. evtl. Ew.

ebenda edidit / ediderunt Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin Der Brief des Paulus an die Epheser Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg et alii et cetera Evangelium eventuell Euer

Festmagazin

Magazin von Fest-, Gelegenheits- und anderen Predigten und kleineren Amtsreden Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten folgende

FHDS ff. g. F. / gel. F. Gal geb. Gen Ges. B. ggf. GStA

geliebte Freunde Der Brief des Paulus an die Galater geboren Das erste Buch Mose (Genesis) Gesangbuch gegebenenfalls Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin

H. h. HA Hab Hebr heil.

Heft heilig Hauptabteilung Der Prophet Habakuk Der Brief an die Hebräer heilig

Abkürzungen und editorische Zeichen

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Jac. / Jak Jer Jes Jg. / Jgg. Joh / Johann.

Der Brief des Jakobus Der Prophet Jeremia Der Prophet Jesaja Jahrgang / Jahrgänge Johannes / Das Evangelium nach Johannes

Kap. KGA Königl. Kol

Kapitel Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Königlich Der Brief des Paulus an die Kolosser

LB Lev Lk / Luk.

Liederblatt Das dritte Buch Mose (Leviticus) Das Evangelium nach Lukas

m. a. F. / m. and. F. m. And. m. christl. Fr. m. F. m. g. / m. Gel. m. g. F. / m. g. Fr. m. Th. m. th. F. / m. th. Fr. Matth. / Mattha. Mk Mp. Mt

meine andächtigen Freunde meine Andächtigen meine christlichen Freunde meine Freunde meine geliebten / meine Geliebten meine geliebten Freunde meine Theuren meine theuren Freunde Matthäus / Das Evangelium nach Matthäus Das Evangelium nach Markus Mappe Das Evangelium nach Matthäus

nachm. NB NDB Neuaufl. Nl. Nr. Num

nachmittags nota bene Neue Deutsche Biographie Neuauflage Nachlass Nummer Das vierte Buch Mose (Numeri)

Offb öffentl. o. g. OGD o. J.

Die Offenbarung des Johannes öffentlich oben genannt Ordnung der Gottesdiensttermine der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin ohne Jahr

pp. p. trin. Phil / Philipp. PredSal Pred. Slg. Preuß. Prof. Ps

perge perge post (festum) trinitatis Der Brief des Paulus an die Philipper Der Prediger Salomos (Kohelet) Predigtsammlung Preußisch Professor Der Psalter

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r Rep. Röm Rth.

recto (Vorderseite) Repositum Der Brief des Paulus an die Römer Reichsthaler

S. s. Sach SAr

SnE SnN SnT SnW s. o. sog. Sonnt. Sp. Spr Sr. s. u. Superint. SW

Sankt / Schleiermacher / Seite siehe Der Prophet Sacharja Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher-Archiv, Depositum 42a (mit Angabe der Mappennummer) Schleiermachers Bibliothek Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher Sektion Sonntag im Advent Sammlung Sammlung Witwe Schleiermacher Schleiermacher-Nachlass; Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher (mit Angabe der Archivaliennummer) Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Neujahr Sonntag nach Trinitatis Sonntag nach Weihnachten siehe oben sogenannt Sonntag Spalte Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Seiner siehe unten Superintendent Schleiermacher, Sämmtliche Werke

Thlr. Tit.

Thaler Titulus

u. u. a. u. ä. usw.

und und andere / unter anderem und ähnliches und so weiter

V. v verb. Verf. vermutl. verw.

Vers verso (Rückseite) / Versus / von verbessert Verfasser vermutlich verwitwet

SB SBB Schl. Sekt. SiA Slg. Slg. Wwe SM SN

Abkürzungen und editorische Zeichen Vol. vorm.

Volumen vormittags

Z. z. B.

Zeile zum Beispiel

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Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Texten sowie in den editorischen Beigaben zu den Predigten (Apparaten und Kopftext) sowie in der Einleitung der Bandherausgeberin genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so werden die Gesamtausgaben vorangestellt. Die Titel werden chronologisch angeordnet. 4. Bei denjenigen Werken, die für Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Angabe „SB“ (vgl. Meckenstock, Bibliothek) mit der Listennummer hinzugefügt. 5. Anhangsweise werden die im Band angeführten Archivalien zusammengestellt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik

* * * Aktensammlung über die Entlassung des Prof. D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin zur Berichtigung des öffentl. Urtheils, ed. M. W. L. de Wette, Leipzig 1820 Allgemeine Deutsche Biographie, 56 Bde., Leipzig 1875–1912; Nachdruck 1967–1971 Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1785–1849 Allgemeiner Wohnungsanzeiger für Berlin auf das Jahr 1835 enthaltend die Wohnungsnachweisungen aller öffentlichen Institute und Privat-Unternehmungen, aller Hausbesitzer, Beamteten, Kaufleute, Künstler, Gewerbetreibenden und einen eigenen Hausstand Führenden, in Alphabetischer Ordnung, ed. J. W. Boicke, Berlin 1835

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Verzeichnisse

Allgemeines Kirchenblatt für das evangelische Deutschland. Amtsblatt des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes. Im Auftrag des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses herausgegeben, Stuttgart 1852–1936 An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden [ed. F. D. E. Schleiermacher et al.], Berlin 1820 Bahl, Peter: s. Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin Bauer, Johannes: Schleiermachers Konfirmandenunterricht, Pädagogisches Magazin, H. 388, ed. F. Mann, Langensalza 1909 Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici, Berlin 1800– 1922 Biblia] Codex apocryphus Novi Testamenti [gr./lat./arab.] e libris editis et manuscriptis, maxime Gallicanis, Germanicis et Italicis, collectus, recensitus notisque et prolegomenis illustratus studio J. K. Thilo, Bd. 1 [einziger], Leipzig 1832 [SB 204] Biblia dt.] Biblia, das ist die gantze Heilige Schrifft Alten und Neuen Testaments, nach der Uebersetzung und mit den Vorreden und Randglossen D. Martin Luthers, mit neuen Vorreden, Summarien, weitläuffigen Anmerckungen und geistlichen Abhandlungen, auch Gebeten auf jedes Capitel, wobey zugleich noethige Register und eine Harmonie des Neuen Testaments beygefueget sind, edd. J. C. Klemm (Neues Testament), C. M. Pfaff, Tübingen 1729 [SB 206] Biblia dt.] Das Evangelium der Kindheit Jesu, aus dem Arabischen, Jerusalem 5738 [Hamburg 1789] [SB 238] Biblia gr.] Codex apocryphus Novi Testamenti [gr.], Collectus, Castigatus, Testimoniisque, Censuris et Animadversionibus illustratus, ed. J. A. Fabricius, Hamburg 1703 [SB 267] Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, bisher 32 Bde.: Bd. 1–2 Hamm 1990; Bd. 3–18 Herzberg 1992–2001; Bd. 19ff. Nordhausen 2001ff. Blasius, Dirk: Friedrich Wilhelm IV. 1795–1861. Psychopathologie und Geschichte, Göttingen 1992 Borries, Kurt: Art. Friedrich Wilhelm IV., in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1961, S. 563–566 Caro, Jacob: Art. Beyme, Karl Friedrich von, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 2, Leipzig 1875, S. 601–605 Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers, Bd. 1 [einziger], Berlin 1870 Doering, Sabine: Art. Ribbeck, Konrad Gottlieb, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8, Herzberg 1994, Sp. 173–176 Evangelisches Pfarrerbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation, bearb. v. Otto Fischer, ed. Brandenburgischer Provinzalsynodalverband, Bd. 1–3, Berlin 1941

Literatur

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Friedrich, Martin: Art. Pischon, Friedrich August, Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 7, Herzberg 1994, Sp. 644–646 Gesangbuch] Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt, und mit Königl. Allergnädigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingeführet worden; Nebst Einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1812 Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden, edd. S. C. G. Küster, P. K. Marheineke, F. D. E. Schleiermacher, Berlin 1822 Haussherr, Hans: Art. Beyme, Karl Friedrich v., in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 2, Berlin 1955, S. 208 Hausrath, Adolf: Richard Rothe und seine Freunde, Bd. 1–2, Berlin 1902– 1906 Hieronymus: Commentarii in Epistulam Pauli Apostoli ad Galatas, Opera, Pars I,6, ed. G. Raspanti, Corpus Christianorum, Series Latina LXXVII A, Turnhout 2006 Hünerbein, Kurt: Art. Marheineke, Philipp Conrad, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 16, Berlin 1990, S. 172–174 Jenaische Allgemeine Literaturzeitung, edd. J. W. v. Goethe, Chr. G. Voigt, Jena 1804–1841 Joestel, Volkmar: Die Gans und der Schwan. Eine Allegorie auf Jan Hus und Martin Luther, in: Luther mit dem Schwan – Tod und Verklärung eines großen Mannes. Katalog zur Ausstellung in der Lutherhalle Wittenberg vom 21. Februar bis 10. November 1996 anläßlich des 450. Todestages von Martin Luther, edd. Lutherhalle Wittenberg, G. Seib, Berlin 1996, S. 9–12 Journal für Prediger, edd. K. G. Bretschneider, D. A. Neander, J. S. Vater, Halle 1770–1842 Kirchen-Agenda, Das ist: Gebeth, und andere Formulen, Welche bey denen Evangelisch-Reformirten Gemeinden, in Sr. Königl. Majestät in Preussen Königreich, und andern Landen gebrauchet werden, Samt beygefügten Symbolis, oder Glaubens-Bekänntnissen der alten Christlichen Kirchen, Berlin o. J. Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, Berlin 1821 Kirchen-Gebethe, Welche Von Seiner Königlichen Majestät in Preussen, in allen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen Gemeinen Dero Königreichs und anderen Landen; Und zwar An denen Sonn- und hohen Fest-Tagen vor und nach der Predigt, So dann Bey denen Wochen-

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Verzeichnisse

Predigten, Und In denen Bethstunden und Bußtagen, vorzubethen verordnet seynd, Neuaufl. [= 2. Aufl.], Berlin 1717 Kritische Prediger-Bibliothek, ed. J. F. Röhr, Neustadt a. d. Orla 1820–1851 Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1– 4, Halle 1910 Lisco, Friedrich Gustav: Zur Kirchen-Geschichte Berlins. Ein geschichtlichstatistischer Beitrag, Berlin 1857 Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Festschrift zum Hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889 Lücke, Friedrich: Erinnerungen an Dr. Friedrich Schleiermacher, in: Theologische Studien und Kritiken, Jg. 1834, H. 3, Hamburg 1834, S. 745–813 Luther, Martin: Werke, Kritische Gesamtausgabe, [Schriften], Bd. 1–68, Weimar 1883–1999 Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. J. F. Röhr, F. D. E. Schleiermacher, J. G. J. Schuderoff, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 Martensen, Hans [Lassen]: Aus meinem Leben. Mittheilungen, Abt. 1–3, Karlsruhe / Leipzig 1883–1884 Die Matrikel der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin: 1810–1850, ed. P. Bahl, Bd. 1–3, Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 86, Berlin u. a. 2010 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, 2. Aufl., in: Schleiermacher, KGA I/15, S. 637–912 Meding, Wichmann von: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin / New York 1992 Müsebeck, Ernst: Neue Briefe Schleiermachers und Niebuhrs an Georg Reimer und Schleiermachers an E. M. Arndt, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 22, ed. O. Hinze, Leipzig 1909, S. 216–239 Neue Deutsche Biographie, bisher 24 Bde., Berlin 1953ff. Neue Theologische Annalen, ed. J. F. L. Wachler, Frankfurt a. Main 1798– 1823 [SB 1359: Jg. 1803–1823] Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 2. Aufl. 2002 Ordnung, nach welcher der Gottesdienst von der evangelischen Gemeine in unserer Dreifaltigkeitskirche in dem 1822sten / 1823sten Jahre, geliebt es Gott, gehalten wird [als Jahreseinzelblatt angebunden an Schleiermachers Einzeldrucke] Porst, Johann: s. Gesangbuch

Literatur

1157

Preußischer Gesetz-Codex. Ein authentischer Abdruck der in der Gesetzsammlung für die Königlichen Preußischen Staaten von 1806 bis auf die neueste Zeit enthaltenen Gesetze, Verordnungen, Kabinetsordres, Erlasse u.s.w. In chronologischer Ordnung, mit Rücksicht auf ihre noch jetzige Gültigkeit und praktische Bedeutung, ed. Paul Stoepel, Bd. 1–4 [+ 4 Suppl.], Frankfurt a. d. Oder 1861–1873 Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin / New York 1992 Rezension von: Schleiermacher, Gottesdienstliche Feier bei der am Palmsonntage, den 31. März, vollzogenen Vereinigung der beiden zur Dreifaltigkeitskirche gehörenden Gemeinden, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung Jg. 20 (1823), Bd. 1, Nr. 57, Sp. 455–456 : Neue Theologische Annalen, Bd. 1, Frankfurt a. Main 1822, S. 783–786 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 1–2, in: Journal für Prediger, Bd. 46, Halle 1825, S. 89–99 : Theologisches Literaturblatt, Nr. 21, Darmstadt 1824, Sp. 169–172 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 1–4, in: Theologisches Literaturblatt, Nr. 75, Darmstadt 1826, Sp. 609–616 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 2, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 4 mit Ergänzungsblättern, Halle / Leipzig 1825, Sp. 37–40 Rezension von: Schleiermacher et al., Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden, Bd. 2–4, in: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung Jg. 23 (1827), Bd. 4, Nr. 216, Sp. 285–288 Rezension von: Schleiermacher, Predigt am 17ten November 1822 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, in: Kritische Prediger-Bibliothek, Bd. 4, H. 1, Neustadt a. d. Orla 1823, S. 223– 228 Röhr, Johann Friedrich: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Schenkel, Daniel: Friedrich Schleiermacher. Ein Lebens- und Charakterbild. Zur Erinnerung an den 21. November 1768 für das deutsche Volk bearbeitet, Elberfeld 1868 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834–1864; Abt. 2: Predigten, Bd. 1–4, 2. Aufl., Berlin 1843–1844 : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten [einzige], Bd. 1–5, ed. E. Grosser, Berlin 1873–1877; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : Kritische Gesamtausgabe, edd. H.-J. Birkner, H. Fischer et al., bisher 4 Abteilungen: Abt. 1: 15 Bde. in 18, 1980–2005; Abt. 2: bisher 4 Bde. in 5, 1998ff.: Abt. 5: bisher 9 Bde., 1985ff., Berlin / New York : Zwei unvorgreifliche Gutachten in Sachen des protestantischen Kirchenwesens znächst in Beziehung auf den Preußischen Staat, Berlin 1804

1158

Verzeichnisse

: Der Christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1–2, Berlin 1821–1822 : Predigt am 17ten November 1822 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1823 : Ueber die Worte des Erlösers: Hast Du mich lieb? Joh. 21,16. Predigt am Sonntage Cantate 1823 in der Dreifaltigkeitskirche gehalten, Berlin 1824 : Zwey Predigten, gehalten in der Dreyfaltigkeits-Kirche zu Berlin, Aus dem Magazin von Festpredigten etc. Neue Folge zweyter Band besonders abgedruckt, Magdeburg 1824 : Predigten. Fünfte Sammlung. Christliche Festpredigten, Bd. 1, Berlin 1826 : Predigten. Siebente Sammlung. Christliche Festpredigten, Bd. 2, Berlin 1833 : Predigten. Sammlung 1–7, Reutlingen 1835 [nach der Ausgabe „Sämmtliche Werke“] : Vertraute Briefe über die Lucinde. Mit einer Vorrede von Karl Gutzkow. Hamburg, 1835 : Briefwechsel mit J. Chr. Gaß. Mit einer biographischen Vorrede, ed. W. Gaß, Berlin 1852 : [Briefe] Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, edd. W. Dilthey, L. Jonas, Bd. 1–2, Berlin 1858; 2. Aufl. 1860; Bd. 3–4, 1861–1863; Nachdruck Berlin / New York 1974 : Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden. Einleitende Monographie von W. v. Langsdorff, Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur, ed. G. Leonhardi, Bd. 7, Leipzig 1889 : Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820–1828, ed. J. Bauer, Leipzig 1909 : Briefe Schleiermachers, ed. H. Mulert, Berlin 1923 : Briefe an einen Freund, Weimar [1939] : Schleiermacher-Auswahl, ed. H. Bolli. Mit einem Nachwort von Karl Barth, München und Hamburg 1968. 1980. 1983 : Predigten. Ausgewählt von Hans Urner, Berlin 1969 : Liederblätter. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989 (Privatedition) : [Liederblätter] (Einzelblätter in der Staatsbibliothek zu Berlin, SAr 1) : [Liederblätter] (Sammelband in London, British Library, Signatur: 3436. h. 29) : [Liederblätter] (Sammelband im Michaeliskloster Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Signatur: GBA 1816–1827) : s. An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden : s. Gottesdienstliche Feier : s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten

Literatur

1159

Schuderoff, Johann Georg Jonathan: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Schweizer, Alexander: Schleiermachers Wirksamkeit als Prediger, Halle 1834 Stamm-Kuhlmann, Thomas: König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III. Der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992 Theologische Nachrichten: s. Neue Theologische Annalen Theologische Studien und Kritiken. Eine Zeitschrift über das gesammte Gebiet der Theologie, edd. C. Ullmann, F. W .C. Umbreit, Hamburg 1828– 1860 [SB 1982: Jg. 1] Theologisches Literaturblatt, ed. E. Zimmermann, Darmstadt 1824–1872 Treitschke, Heinrich von: Historische und Politische Aufsätze, Bd. 1–4, Leipzig 1871–1897 Virmond, Wolfgang: Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte und Entstehung des Berliner Gesangbuchs von 1829, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republic, ed. R. D. Richardson, Schleiermacher: Studies-and-Translations Vol. 6, Lewiston / Queenston / Lampeter 1991, S. 275–293. Wagenmann, Julius August: Art. Marheineke, Philipp Conrad, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 20, Leipzig 1884, S. 338–340 : Art. Ribbeck, Konrad Gottlieb, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 28, Leipzig 1889, S. 802–804 Wißmann, Erwin: Religionspädagogik bei Schleiermacher, Gießen 1934

* * * Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin (ABBAW): Nachlass F. D. E. Schleiermacher Nr. 443 Tageskalender 1822/24 Nr. 444 Tageskalender 1823 Nr. 602/1 Predigtnachschrift Andrae Nr. 604/1–2 Predigtnachschriften Andrae Nr. 607/3 Predigtnachschrift Saunier Nr. 608/1–3 Predigtnachschriften Saunier Nr. 612/1 Predigtnachschrift Saunier Nr. 614/2 Predigtnachschrift Saunier Nr. 618/1 Predigtnachschrift Crayen Nr. 619/5 Predigtnachschrift Crayen Nr. 621/1–3.5–7 Predigtnachschriften Crayen Nr. 623 Predigtnachschriften und Briefe Crayen

1160

Verzeichnisse

Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin: Kirchenbücher der Dreifaltigkeitskirche: Traubücher Jgg. 1804–1821 11/179 Traubuch Jg. 1822 11/65 Traubuch Jg. 1823 11/67 Taufbücher Jgg. 1804–1821 Taufbuch Jg. 1822 Taufbuch Jg. 1823

11/178 11/64 11/66

Kirchenbücher der Französisch-Reformierten Friedrichstadt-Gemeinde: Taufbücher Jgg. 1799–1808 14/21 Totenbücher Jgg. 1823–1832 12/54 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin: HA I, Rep. 76, Kultusministerium I, Anhang II, Nr. 55: Prof. Schleiermacher [ehemals versiegeltes Paket] 1813–1823 HA I, Rep. 76, Kultusministerium III, Sekt. 12, Tit. XIX–XX, Nr. 38: Acta betr. die Angelegenheiten der Dreifaltigkeitskirche in Berlin, Bd. 1– 3, 1809–1897 HA I, Rep. 77, Ministerium des Innern, Tit. XXI, Nr. 6: Acta betr. den Professor und Prediger Schleiermacher in Berlin wegen Theilnahme an demagogischen Umtrieben und sträflichen Verbindungen, vom 22. Mai 1820 HA X, Brandenburg, Rep. 40 Evangelisches Konsistorium der Mark Brandenburg, Nr. 876: Die Vereinigung der lutherischen und reformierten Gemeinde der Dreifaltigkeits Kirche HA VI, Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten, Kasten 34, Nr. 103 Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz: Archiv de Gruyter (Depositum 42): Nr. 319 Hauptbuch Reimer IV Schleiermacher-Archiv Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis): Mp. 1 Predigten – Liederblätter – Einsegnung zur Goldenen Hochzeit Mp. 14 Vier Predigtdispositionen 1822–1823 Mp. 38 Jonas A – 17 Predigten (1816–1817) Mp. 40 Jonas D – 8 Predigtauszüge (1817–1818) Mp. 48 Balan G – 1 Predigt (1817) Mp. 51 Maquet – 17 Predigten (1817–1822) Mp. 52 Gemberg A – 185 Predigt-Dispositionen (1818–1824) Mp. 54 Schirmer A – 18 Predigten (1818–1831) und Anhang Mp. 55 Schirmer B: Saunier (Johannes-Homilien, Teil 1) – Predigten 1–34 (1823–1824) sowie Beilage Mp. 56 Schirmer C: Saunier und Schirmer (Johannes-Homilien, Teil 2, Diktat Schirmer der Nachschriften Sauniers bis Nr. 55) – Predigten 36–67 (1825–1826) sowie Beilage

Literatur Mp. 61 Mp. 62 Mp. 83 Mp. 84 Mp. Mp. Mp. Mp.

85 102 103 104

Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp.

105 106 107 108 120 121 139

1161

Woltersdorff D – 23 Predigten (1822) Woltersdorff E – 78 Predigten (1823) Slg. Witwe Schleiermacher J: Andrae 1822 Teil 1 – 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher K: Andrae 1822 Teil 2 – 11 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher L: Andrae 1823 – 7 Predigten Andrae-Bände C – Trinitatis bis Totensonntag 1822 Andrae-Bände D – Advent 1822 bis Pfingsten 1823 Andrae-Bände E – Trinitatis bis Totensonntag 1823 und Einsegnungsrede Andrae-Bände F – Advent 1823 bis Pfingsten 1824 Crayen A – 21 Predigten (1821–1831) sowie Beilage Crayen B (Johannes-Homilien) – 21 Predigten (1825–1827) v. Oppen – 5 Predigten sowie Beilage (1822–1831) 1834–1835 Zwei durch Andrae erstellte Verzeichnisse 1834–1835 Sechs durch Sydow erstellte Verzeichnisse Diverse Editionsmaterialien zur Abt. Predigten in der Ausgabe „Sämmtliche Werke“

Nachlass 481, Predigten

Namen Das Namensregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in der heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen, die nur in Quellenangaben von Liedertexten genannt sind, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen und der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt. Bei Namen, die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen der Bandherausgeberin genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Andrae XXXIII–XLII.XLIV– XLV.L–LI.LXV Agricola 602 Altenstein XI.XVIII.XIX Arndt XVII–XVIII.XIX Balan LI Beyme, Anna Christine von, geb. Frentzell, verw. von Schulze 841 Beyme, Charlotte Ernestine von, geb. Meyer, verw. Schlechtendahl 841 Beyme, Karl Friedrich von 841 Boyen 841 Crayen XL–XLI.XLVI–XLIX de Wette XIV.XVII.XIX Dohna-Schlobitten, Karl Friedrich Ferdinand Alexander Graf zu XXXVI Dohna-Schlobitten, Wilhelm Heinrich Maximilan Graf zu XXXVI Dümmler 752 Elisabeth Ludovika von Bayern 1133 Enslin 87

Frentzell s. Beyme, Anna Christine von Friederike von Mecklenburg-Strelitz 422 Friedrich Wilhelm I. von Preußen XII Friedrich Wilhelm II. von Preußen 416.422 Friedrich Wilhelm III. von Preußen 87.X.XVIII.92.416.422–423. 430.518.841.963 Friedrich Wilhelm IV. von Preußen 87.417.431.1133 Friedrich Wilhelm von Brandenburg 92 Gaß XIII.XVIII.XX.100 Gemberg XLI–XLIII.L.498 Gutzkow XV Hardenberg 417.842 Hecker X.XI Hegel XIX Henhöfer 752 Herz XXXVI.581 Herzberg XII.XIV.284.676.777. 867.1068

1164

Namen

Hieronymus von Prag 932 Hieronymus, Sophronius Eusebius 372 Humboldt 841 Hus 932

Oppen, Elisabeth von XLV Oppen, Heinrich Ferdinand von XLV

Jablonski 92 Jahn XVII Jonas XXXV.XLV.LI

Rautenberg XIII Reimer 416.IX.XVII–XVIII. XXXIV Ribbeck 948 Richter 877 Röhr XIX.XX.XXII

Kamptz XVIII Karl von Mecklenburg-Strelitz 422 Kober XIV König XXXVIII.XLIII–XLIV.L– LI.LIII.LXV Kotzebue XVII Küster 87–88.XI.XVII Leibniz 92 Luise von Mecklenburg-Strelitz 422–423 Luther 93.803.935.985.1018.XV. 932 Meding L Meyer s. Beyme, Charlotte Ernestine Maquet XXXV.LI Martensen XV Marheineke 87–88.XI–XV.XIX. 284.969 Marot XI.XVII Metger 225 Napoleon

XVI.99.102.422–423

Pfaff 92 Pischon 248

Sack XX Sand XVII Saunier XLV–XLVI.LXV Schirmer XXXV.XLV Schlechtendahl s. Beyme, Charlotte Ernestine Schleyermacher XIV Schuderoff XIX.XX.XXII Schulze, von s. Beyme, Anna Christine von Stein 100.841 Stosch 20 Schuckmann XVIII–XIX Sydow XXXV.XXXVII–XXXVIII. XL.XLIV–XLV.XLVII.L–LI.LIII– LV.LXV.71.129.437.1139 Virmond XVI Wette s. de Wette Woltersdorff XL–XLI.XLVI.XLVII. L.105.111.266.290.387.390 Woltersdorff, Ernst Gabriel XLVI Zwingli, Ulrich 1018

Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Das 1. Buch Mose (Genesis) Gen 1,1 1,3 1,6–8 1,6–31 1,27 1,28 1,31 2,7 2,24 2,25 3,1–7 3,15 3,16 9,6 11,1–9 28,12–13

707 707–708.710 708 708 712 243.324.554. 912.977 831 257.336.503. 553.712–713.835 842 387 387 697 506 237 1028 946

Das 3. Buch Mose (Leviticus) Lev 19,2 24,20

388 237

Das 4. Buch Mose (Numeri) Num 12,7 21,8–9

108.748 1095.1111

Das 5. Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 5,16 18,21–22 30,11–14 32,52 34,1–5

226 933.935 1093–1094 748 477

Das Buch Josua Jos 24,15

865

Das Buch Hiob (Ijob) Hiob 1,21

538

Der Psalter Ps 2,11 2,12 8,3 8,5 12,2 19,1–2 19,13 32,3 32,5 33,9 34,13–17 100,1 100,5 104,4 110,1

218 452 343 731.831 389.441 335 139 253–254 253–254 337 226 416 416 667–668 699

1166 118,26 133,1

Verzeichnisse 445 505

Der Prophet Sacharja Sach 13,7

111.300.739.1029. 1038

Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Spr 22,11

416–432.XVIII

Der Prediger Salomos (Kohelet) PredSal 1,14 2,17 7,16 7,29 12,1

183 183 207 824 45.965–966

Der Prophet Jesaja Jes 29,13–14 29,13 40,3 40,4 42,2 42,3 53,1 53,5 53,7 53,10 53,12 54,13 55,8 56,10 64,1

412 307.456.500 501 852 1001.1010 608 447.501 1111 910 699 699.894–895 163.168.962–963 168 376 336–337.469

Der Prophet Jeremia Jer 5,21 17,9 31,33–34

447 230.877.923.966 168

Der Prophet Joel Joel 3,1

66.936.1087

Der Prophet Habakuk Hab 2,4

412

Das Evangelium nach Matthäus Mt 1,18–2,23 2,1–2 2,1–12 2,2 3,1–2 3,1 3,2–3 3,2 3,3 3,4 3,7–9 3,7–10 3,8–9 3,8–10 3,8 3,10 3,11 3,13–14 4,10 4,11 4,12–17 4,17 4,18–20 4,18–22 5,13 5,14–16 5,14 5,16 5,17–18 5,17 5,20–26 5,39 5,45 5,48 6,9–13 6,10 6,12

777 512 3–13 1121.1125 800.901.914.1071 909 396 298.313.467.493. 847.870.905 501 472.909.1121. 1125 1074 909 298.313 872 467 847 23.33.467.493. 572.578 23 291 291 1071 298.313.450.790 911–919 1069–1070 300 850 34–35.340.578. 673 340.578–579.673. 892 297 306.382 235–246 400 352 246 22 790 400

Bibelstellen 6,14–15 6,21 6,22–23 6,24 6,27 6,33 6,34 7,1 7,6 7,7 7,15–20 7,21 7,22–23 7,29 8,20 8,24–27 9,12 9,34 9,35–38 9,37–38 10,5–7 10,7 10,11–14 10,13 10,16–23 10,17–18 10,20 10,21–22 10,24–25 10,29–31 11,2–5 11,2–10 11,3 11,7–8 11,7 11,9 11,11 11,13 11,14 11,16–19 11,23

403 879 268 859.949–950 857 855–866 633–634.856 267.827.951 907 205.223.693.1132 259–270 389.716 397 196 54.474.636.732. 857.1101 788 144 83.592.597 1029–1033 860 383 35 11 42.352 1102 300 78 300 474.645.703.737. 857 586 448.464 464 187 464–477 251.301.599 447.465.489.490– 491 11.388.447.465. 489.778.780.849– 850.873.904.969 447.849 489–490.849 473 36.774

11,27 11,28–29 11,28–30 11,28

11,29 11,30 12,17–20 12,19–20 12,19 12,20 12,24 12,30 12,41 12,46–50 13,12 13,24–30 13,31–32 13,32 13,37–38 13,41–42 13,45–46 13,47–48 15,8 15,14 15,24 15,26 16,1–3 16,2–4 16,13–14 16,15–17 16,16–17 16,16 16,17 16,18

16,24 16,26 17,1–4 18,1–4 18,3

1167 469.503.652.673. 677.735.804.835. 936 232 244.1102.1122. 1126 9–10.74.85.197. 333.397.448.502. 579.622.669.763. 773.792.894.909 923 257 1098–1106 1001.1010 910 55–62.442.608 592.597 376 993 1015 805 381 645 805 918 1002.1004.1011 381.972 381.913 307 596 351.1095.1105 351 300 60 851–852 651 186 338 651 10.107.116.131. 182.291.314.451. 739.784.808.870. 881–882.929.938 577.704 180.206 984 969–979 168

1168 18,6 18,7 18,11 18,15–17 18,19–20 18,20 18,21–22 18,23–35 19,13 19,16–17 20,1–7 20,18–19 20,20–23 20,28 21,8–9 21,9 21,10–11 21,12–13 21,12 21,13 21,15 21,16 22,1–10 22,1–14 22,15–22 22,21 22,37 23,1–33 23,3 23,8–11 23,8 23,10 23,13–33 23,23 23,37 24,2 24,23 24,36 25,14–30 25,21.23 25,26 25,29 25,30 25,31–33

Verzeichnisse 1105 992–1012.49 312 394.952 790 175.446.692. 1083–1084 394 393–403 435 228 760.771.1105 627.641 1103–1104 202.233.312.346. 359.732.763.773 664 444–452.301.673 447 46.1021 304 307.1016 301 343 1129 380–391 298.313 84.420.664 84 303.316 261 736 274 274 599 387 297–299.312–314. 737 306 301.309 307.314.318 395 354.386.661–662. 703.745.885 1022 805 747.749 494

26,31 26,36–46 26,37 26,39 26,41 26,52–54 26,53 26,57–64 26,59–63 26,63–65 26,63–66 26,64 26,65 27,13–14 27,22 27,23 27,24 27,27–31 27,43 27,54 28,2 28,7 28,9–10 28,18–20 28,18

28,19–20 28,19 28,20

111.300.739.995. 1006.1029.1038 56 56–57 56–57.643 56–57.97 72 232.295.311.666 73 73 679 640–652 76.678.682 73 663 679 679 84–85 625 107 84 683 142 111 142–150 68.131.232.253. 295.311.314.376– 377.442.491.523. 642.651.692.803. 871.882.972.1030. 1056.1065 383.779 22.66.788 787–797.66.116. 163.290.338.562. 704.938.1102

Das Evangelium nach Markus Mk 1,3 1,4 1,6 1,7 1,8 1,14–15 1,15 1,16–20 1,18

501 901.909 472.909.1121. 1125 467 33.572 1071 450.790.853.870 1069–1070 578

Bibelstellen 1,22 2,17 3,22 3,31–35 4,30–32 4,31–32 4,32 4,37–41 7,24–30 7,27 7,31–37 7,34 8,27–28 8,31 8,34 8,36 9,2–5 9,24 9,31 9,42 10,13 10,17–18 10,33–34 10,45 11,8–9 11,15–17 11,17 11,25–26 12,13–17 12,17 12,30 12,34 12,38–40 13,2 13,9–13 13,9 13,12–13 13,14 13,21 13,32 14,27 14,32–42 14,38 14,53–61 14,56–61 14,61–64 14,62

196 144 83.592.597 1015 671 645 805 788 337 351 333–343 38 851–852 627 577.704 180.206 984 11.116.1112 627 1105 435 228 627.641 202.233.312.346. 359.732.763.773 664 46.1021 307.1016 403 298.313 84.420.664 84 468 303.316 306 1102 300 300 298 301.309 307.314.318 111.300.739.995. 1006.1029.1038 56 56–57.97 73 73 679 678.682

15,4–5 15,13 15,14 15,16–20 15,39 16,1–14 16,7 16,9–10 16,14–16 16,15–16 16,15

1169 663 85.679 85.679 625 84 682–684 142 111 683 22 66.779

Das Evangelium nach Lukas Lk 1,26–56 1,36 1,39–45 1,56 1,78–79 2,1–52 2,8–9 2,8–14 2,10–11 2,10 2,12 2,13–14 2,14 2,15–18 2,15 2,25–30 2,25–32 2,34 2,40 2,41–42 2,41–50 2,41–52 2,46–47 2,46 2,51–52 2,52 3,2–3 3,3 3,4 3,7–8 3,7–9 3,8–9 3,8 3,9

3 493 493 493 1119.1124 777 509–517 3 509.510.1124 1120 510 498–507.1116– 1118 1108 511 1121.1125 512 901 995.1005 552–563.572 445 556 20–21 302 1015 556 1113 901 467 501 1074 909 872 298.313.467 847

1170 3,15–16 3,16 4,8 4,14–20 4,16–21 4,16–22 4,24 4,25–27 5,31 6,29 6,36–42 6,37–38 6,37 7,11–15 7,16 7,18–20 7,18–22 7,19 7,20 7,22 7,24 7,26 7,28 8,19–21 8,23–25 9,2 9,10 9,18–19 9,23 9,28–33 9,58 9,60 9,62 10,1 10,2 10,6 10,9 10,15 10,17 10,19–20 10,20 10,22

Verzeichnisse 778 23.33.467.493. 572.578 291 1123.1127 448 575 36 511.513 9.123.144 400 889 889–898.914 267.827.951 514 83 448 464 187 187 448 251.301.599 447.465.489–491 11.388.447.465. 489.778.780.849– 850.873.904.969 1015 788 35 575 851–852 577.704 984 54.474.636.732. 857.1101 35 462 958 860 352 1128–1129 36 149–150.593.958 958–967 149–150.593 469.503.652.673. 677.735.804.936

10,27 11,2–4 11,2 11,4 11,9 11,15 11,34 11,39–44 12,20 12,25 12,34 12,49 12,54–56 12,54–59 13,19 13,34 14,16–24 15,7 16,1–9 16,8 16,10 16,12 16,13 16,16 17,2 17,7–9 17,10 17,11–19 17,12–19 17,20 17,20–21 18,1 18,15 18,18–19 18,31–33 19,9–10 19,10

84 22 790 400 205.223.693. 1132 83.592.597 268 303.316 352 857 879 737–738.790 60 300 645.805 297–299.312– 314.737 1129 123 948–957 301 950 950 859.949–950 931–938.447– 448.849 1105 744 743–750.278.537 340 345–368 1092.1130 451 167 435 228 627.641 1119–1133 123.143–144.154. 208.212.233.312. 339–340.383.763. 773–774.792.853. 915.926.1001. 1010.1029.1080

Bibelstellen 19,11–27 19,17 19,20–21 19,21 19,26 19,40 19,41–48 19,42 19,43–46 19,45–46 19,46 20,20–25 20,25 21,6 21,12–13 21,12–17 21,16–17 22,15 22,19 22,31–32 22,32 22,34 22,42 22,54–62 22,67 22,69 22,70–71 22,70 23,21 23,34 23,39–43 23,41 23,42–43 23,42 23,43 23,46 24,4 24,12 24,13–24 24,13–32 24,16 24,17–24 24,21 24,22–23 24,22 24,25–27 24,25

395 379 411 223 174–178.805 343 294–320 737.790 1021 46 307.1016 298.313 84.420.664 306 300 1102 300 445 22 739 12 56 643 56.58 650 76 679 75.107 85.301.679 76.301.399.403. 436.440.628. 1117 56 60 441 61 61.86 83 683 58 112 687 683 694 1038 683 115 694–704 115.683

24,26 24,27 24,32 24,34 24,39 24,46–48 24,47 24,49 24,50–52

1171 115.674 802 702 111 687 779 439 115.119.166.715 142

Das Evangelium nach Johannes Joh 1,1–5 1,1 1,4–5 1,4 1,5 1,6–10 1,6–13 1,10–11 1,12–13 1,12 1,14–18 1,14

1,15 1,16

706–714.LXV 274.335.337 799.801.1137 778 782 799 777–786.LXV 800 800 446.681.699.748. 965.1079 799–808.LXV. 785 106.143.170.194. 241.243.256.274. 294.310.339.384. 388.451.491.496. 514.516–517.643. 672.700.709.711. 713.715.736.755. 778.785.795. 831–832.903.905. 915.923.936.943. 965.983.991. 1029.1042.1047. 1052.1059.1063. 1070.1076.1101. 1118.1131 989 106.143.195.350. 446.693.703. 715–716.794.893. 898.951.1042. 1053.1113

1172 1,19–24 1,19–27 1,19–28 1,23 1,24–27 1,24–28 1,26–27 1,26 1,27 1,28–29 1,29–30 1,29–34 1,29–37 1,29 1,33 1,34 1,35–37 1,35–39 1,35–42 1,37–51 1,38–39 1,38–41 1,40–42 1,40–46 1,41 1,43–51 1,45–46 1,46 1,47 1,51 2,1–11 2,12–13 2,12–17 2,13–17 2,15 2,16 2,17 2,18–25 2,23–24

Verzeichnisse 846–854.LXV. 868.872 778 486–497 467 900 868–876.LXV 906–907 572–579.467 467.803.989 982 33 22–23.900–910. LXV.921.983 779.1041 10.491.914.922. 929.989 33.467.493.869 922 488.778.940–941 1130 921–930.LXV. 847.871.983. 1122 32–38 941 982 940 779 10.338.989.1041 940–947.LXV 494 338.1121.1125 10 983.990.1041– 1042 981–991.LXV. 1014 982 1014–1022.LXVI. 1034 46–48.305.317. 1039 304.317 305 305.317 1035–1043.LXVI 300–301

2,25 3,1–2 3,1–6 3,1–8 3,2 3,5 3,6 3,7–15 3,8 3,14 3,16–18 3,16 3,17 3,18 3,19–21 3,22–30 3,22 3,30 3,31–36 3,36 4,1–2 4,1–10 4,5–30 4,11–19 4,8 4,14 4,20–24 4,21 4,23–24 4,23 4,24 4,25–34 4,29 4,31–34 4,35–42 4,35 4,39–42 4,42 4,43–54 5,1–15

303.351.363.555. 620.753.766.795. 946 1109 1068–1076.LXVI. 1086 1130 1015 787.844.1093 1093 1086–1097.LXVI 596.1093 1110–1111 1108–1115.LXVI. 1136 1075 1055 1136 1136–1143.LXVI LXVI 1073 874.928 LXVI 7.350.362.892. 1037.1075 869 LXVI 927 LXVI 860 791.805.808.966 LXVI 307.318.678. 1092 670.1074 307.318.357.377. 395.678.1016. 1037.1092.1133 395.1117.1133 LXVI 338 860 LXVI 860 927 121.338.1115 LXVI LXVI

5,16–23 5,17 5,19–20 5,19 5,20 5,21 5,24–29 5,24–30 5,24 5,26 5,30 5,31–40 5,32 5,34 5,37 5,39 5,40 5,41–47 5,43 6,1–15 6,15 6,16–26 6,27–35 6,35 6,36–44 6,38 6,39–40 6,40 6,41 6,45–51 6,45 6,46 6,47 6,48 6,51 6,52–60 6,54–56 6,60–63 6,60 6,61–71

Bibelstellen

1173

6,63

395.494.755. 788–789.796 196.1040.1130 163.186.494 515.1127 103.338 LXVI 1015 1015 589–600 LXVI 595–596.1123. 1126 597 592 LXVII 942 591 LXVII 805 591 591 196.593 1069 942 LXVI LXVII 849 LXVII 447.448 256.1041 1052 LXVII 248–258.466.468 793 270.670.895 252.253 748.803 254.256.270.466. 861.866.895.910. 1041.1053 389 LXVII 255 81–86.LXVII 505 LXVII 599

LXVI 791 389.448 256.352.363.976. 1041 162.169.217.232. 501.735.795 1045 1045 LXVI 7.521.549.893. 1042 914 219.256.294.310. 318.352.363 LXVI 34 779 34 693 449 LXVI 449 LXVI 298.313.575 LXVI LXVI 755 LXVI 219.976 1044–1066 7.350.362.892. 1037 755 LXVI 163.962–963 807 1052.7.549.892. 1037.1062.1112 755 755 LXVI 796 788 196.1040 LXV–LXVI

6,66 6,68–69 6,68 6,69 7,1–13 7,3 7,5 7,12–14 7,14–24 7,15 7,16 7,25–26 7,25–36 7,27 7,31 7,37–53 7,37 7,40 7,41 7,46 7,50–51 7,52 8,1–11 8,12–20 8,14 8,20–29 8,26 8,28 8,29 8,30–38 8,31–32 8,31–36 8,32 8,34 8,35 8,36 8,38 8,39–45 8,40 8,46–59 8,46 9,1–7 9,4

1174 9,8–23 9,16 9,24–41 9,32 10,1–11 10,12–21 10,12 10,14 10,16 10,22–33 10,24–25 10,27 10,28–29 10,29 10,30 10,33 10,34–42 10,36 10,38 10,41 11,1–14 11,15–27 11,26 11,28–40 11,41–52 11,53–12,8 11,56 12,9–19 12,12–13 12,20–26 12,24 12,26 12,27–36 12,32 12,36–43 12,44–50 12,46 12,47 12,49 12,50 13,1–11 13,1 13,12–20 13,20 13,21–38 13,23 13,34–35

Verzeichnisse LXVII 591 LXVII 591 LXVII LXVII 752.765 752.765 89.300.1028 LXVII 75.650 670 314 308 162.169.577.781. 806 679 LXVII 107.679 1081 488.851 LXVII LXVII 85 LXVII LXVII LXVII 445 LXVII 664 LXVII 86.114.679.10 95–1096 646 LXVII 435.491.542.646 LXVII LXVII 1142 892 256 1041 LXVII 163 LXVII 1081 LXVIII 706 22.610

13,34 13,35 14,1–6 14,6–7 14,6 14,7–17 14,7 14,8 14,9 14,10 14,13 14,16–17 14,16 14,18–24 14,18 14,20 14,23

14,24 14,25–31 14,26 14,27 14,28 14,30 15,1–7 15,4–5 15,4–6 15,5 15,8–17 15,9 15,12 15,15

15,16

149.181.243.332. 373.379.792.836. 1104 19.71.210.310. 319.584 LXVIII 804 186.207.256.270. 290.367.484.552. 570.673.824 LXVIII 1081 1080–1081 194.228.231.256. 975.1081 232.256.1041 684 824 809–810 LXVIII 163 570 170–171.378.450. 461.502.678.791– 793.805–806.820. 1030.1052.1132 232.447 LXVIII 824 1117.503.549 161–164 739 LXVIII 542.893–894 388 232.781–782 LXVIII 792 22.181.243.373. 379.792.836. 1104 163.169.197.217. 501.570.734–735. 748.793–794.807. 998.1008.1065. 1079.1103.1118 792.796.941.1122. 1126

Bibelstellen 15,17 15,18–16,4 15,20–21 15,20 15,26 16,2 16,4–15 16,6 16,7 16,12–14 16,12 16,13–14 16,13 16,14–15 16,16–23 16,16 16,24–33 16,28 16,32 17,1–8 17,1–26 17,1 17,4–8 17,4 17,5 17,6–7 17,6–8 17,6 17,7–8 17,8–9 17,8 17,9–13 17,11 17,14–19 17,17 17,19 17,20–21 17,20–23 17,21 17,22 17,24–26 17,24 18,1–9

22 LXVIII 857 474.547.645.703. 737 824 506 LXVIII 111.217 163.679.870 809–820.217 33.112.813 834 78.693.824–825 258.647.679.736. 757.769.876.1096 LXVIII 111 LXVIII 1094 1038.1052.1094 LXVIII 59.733 740.1117 1092 1116.504.670.976 645.661.698 976 740 450.501.670 1116–1117 781 450.624.670 LXVIII 781 LXVIII 794 450 140.232.378. 1111 LXVIII 5.1052.1113 332.914 LXVIII 435.938 LXVIII

18,10–14 18,12–13 18,15–27 18,16–18 18,19–20 18,19–24 18,20 18,25–27 18,28–32 18,33–37 18,33–38 18,36 18,37 18,38–19,7 18,38 19,1–3 19,5 19,6–7 19,6 19,8–16 19,11 19,15 19,16–24 19,25–29 19,27 19,30–42 19,30 19,38–40 20,1–18 20,3–7 20,3–8 20,12 20,14–17 20,15 20,19–20 20,19–23 20,19 20,20 20,21–22 20,21–23 20,21 20,23 20,24–31 20,26–29 21,1–14

1175 LXVIII 75 LXVIII 753.766 75 619–628 77–78 753.766 LXVIII 663–674 LXVIII 297–298.761–762. 772–773 76–77.83 LXVIII 76.672 625 674 641 76.85.301.679 LXVIII 76 85.679 LXVIII LXVIII 1015 LXVIII 741 1068 LXVIII 58 683 683 111 683 111–117.730 LXIX 1117.146 690.692 1096 126–127 1117.730–741.792 61.1117 LXIX 149 LXIX

1176 21,1–17 21,15–17 21,15–19 21,15–22 21,15 21,16 21,17–18 21,20–25

Verzeichnisse 917 59 LXIX 683 135 751–775 134–135 LXIX

Die Apostelgeschichte Apg 1,3 1,5 1,6–7 1,7 1,8 1,9–11 2,1–4 2,1–6 2,4 2,11 2,14 2,17 2,23 2,36–37 2,36 2,37 2,38 3,6 4,12 4,13 4,32 5,1–6 5,29 7,2–60 7,55 8,5–8 8,14–17 9,3–7 9,3–9 9,4 9,5

142 869 65 90.307.318.937. 1051.1054.1066 12.439 787 811 146 953 167 146 1087 146 84 647 85.352 146.718 890 338.579.600.673. 923.1096 621 811 811 734 689 647.689 941 718 688 687 760.771 412.687.690.760. 771

10,30–33 10,34–41 10,42 10,44–46 10,44–48 13,1–2 15,1–12 16,6–9 16,6 16,19–24 16,30 17,24–28 17,26 17,27–28 17,28 17,30–31 19,5–6 20,26–27 20,35 21,8–9 21,8–11 21,10–13 21,13 21,27–23,11 22,3–5 22,3 22,5–11 22,6–9 22,7 22,8 22,17–21 22,17 22,18 22,19–20 26,5 26,12–18 26,14 26,15 26,19

123 119–125 121 338 718 145 815 15 11 15 352 210 108 797 288.384 1095 718 370–371 162.890.898 933 932 26 26 25 690 411.760 687 688 760.771 687 688.691 687 691 691 236 687 412.690.760.771 687 690

Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,16 1,17 1,18–20 1,18–22 1,18–23 1,18–25 1,18–32

198.548 441 677.782–783 813 253 500 712

Bibelstellen 1,18–3,2 1,18–3,24 1,18 1,19–20 1,19–23 1,20 1,22 1,24–25 2,14–15 2,15 2,17–23 3,1–2 3,20 3,23

3,28 5,1–2 5,1 5,8 5,10 6,4 6,8 6,19–22 7,18–20 7,23 8,1 8,7 8,15 8,17 8,19 8,21–22 8,26 8,28 8,31 8,32–34 8,32 8,33–34 8,34 11,17–24 10,17 11,32

409 540 336.503.671–672. 679.804 335.711.834 1027 184 995 671 783 285.1027 500 409.500 449.749.806.870 170.229.231.335– 336.455–458.499– 500.546.555.672. 712.748 765 85 520 106.637 637.792 106.339 680 6 617 220.1078 537 860.1078 107.749.962.965 638 937 496 341.436.446.496. 749 40.103.529.531. 538.865.885.1066 231 290 205.357.537.588. 1082.1118 537 749.895 459 42.926 839

11,33–36 11,33 11,36 12,7 12,15 12,21 13,1 13,4 14,1–6 14,4 14,6 14,17 14,23

1177 838 370–371 634 863 571 234.310.403.521. 910.923.955 449 449 1002.1011 148.399.827 109 451–452.1003. 1011 826

Der erste Brief des Paulus an die Korinther 1Kor 1,18 1,20 1,23 1,30 2,1 2,4 2,10–12 2,10 2,11 2,12 2,14 3,7 3,11–15 3,11 4,1 4,2 4,3–4 5,7 9,19–22 9,22 10,1–4 10,7–10 10,11–13 10,12 10,13 10,31 11,23–25

701 1027 546.995.1006 31.199.207.246. 450.677–678.750. 894.908.1066 276 760 832 184.269.502.834 832 68 68 273–274 277 794.1029 953 950 400 908 410.540 200 286 286 284–293 96–97 54.115 617.918 22

1178 11,26 12,3 12,4–5 12,4 12,11 12,31 13,1–13 13,2 13,5 13,7 13,11 13,12 13,13 14,34 15,3–8 15,4–5 15,9 15,17 15,25 15,26 15,41 15,50 15,57

Verzeichnisse 487 715–729.818.1098 541.656 20.612 612 269 602–610 592 951 403 973 255.724 403.542 933 683–693 111 413.690.748 688 994.1005 994.1005 44 1074 1078

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 2Kor 1,20 3,5–6 3,6 3,13–14 3,17 5,5 5,14 5,17 5,20 6,1–10 6,4–10 6,8 7,10 12,2 12,9 13,14

89.832 66.221 65 995 171.471 221 144.734 782 352.364.504.937 49–54 414 590 176.822.1053 688 32.35.79.104.463. 523.728.1333 88

Der Brief des Paulus an die Galater Gal 2,16 2,19 2,20–21 2,20 2,21 3,1 3,2 3,10 3,11 3,13–14 3,13 3,16 3,22 3,23–24 3,23–26 3,23 3,24–26 3,26–28 3,28 4,4–6 4,4 4,5 4,6–7 4,6 5,3 5,6 5,11 5,17 5,18 5,22–23 5,22 6,2 6,9–10 6,9

765 106.410 105–110 795 815 108 41–42 109 412 829–839 109 830 814 449 163 241 168 535–543 1104 166–172 195.296.312 163 748 107.749–750. 834–835.962.965 108 603.1104 995.1006 482 748 171 107.717.1003. 1089 560 583 368.662

Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 1,22–23 2,19 2,21–22 4,12–13 4,13–14 4,13

122 918.948.961 918 159 970 196.229.258.270. 477

Bibelstellen 4,28 4,29–31 4,30 5,9 5,27 5,30 6,7 6,9

757 175 822–828.175–176. 220.717 717.1089 443.744 11 540 540

Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 1,1–5 1,1–11 1,3–11 1,12–18 1,12–20 1,12–25 1,12.13 1,14–18 1,18 1,19–24 1,19.20 1,21–24 1,21–27 1,22–23 1,25–27 1,27–30 1,28–30 2,1–4 2,3–4 2,4 2,5–11 2,6–7 2,7 2,8–9 2,8 2,9–10

LV 15–19.LII– LIII.LV 25 25–31.LII–LIII. LVI LVI 548 LVI LVI 40 40–45.LII–LIII. LVII.65 LVII LVII LVII 281 64–71.LII–LIII. LVII LVII 129–133.LII.LIV. LVIII 87–103.152–160. LII–LIV.LVIII 252 149.193.200.331 192–203.XLV.L. LII–LIV.LVIII– LIX 296.312.1101 556.1120.1125 83 217 224

2,9 2,12–18 2,12–16 2,12 2,12.13 2,13 2,14–16 2,16–18 2,17–18 2,19–24 2,19–30 2,25–30 3,1–3 3,1–11 3,4–9 3,4–11 3,8–9 3,9–11 3,9 3,12–14 3,12 3,13–14 3,13–16 3,13 3,14 3,15 3,17–18 3,17–21 3,18–19 3,19 4,1–4 4,4 4,4.5

1179 376 LX 215–224.LII.LIV. LIX LIX.881.883.996 LIX 66.460.720 272 272–283.LII.LIV. LIX–LX.323 LX LX 322–332.LII– LIV.LX LX 370–379.LII.LXI. 407 LXI 405–415.LII.LXI. 454 548 326 434–443.LII.LIV. LXI.454–455.460 456.459 454–463.L.LII– LIII.LXII.479 154.442.450.476. 492.954 491–492 479–485.LII. LXII 229.354.365.366. 526 495 1002.1011 439 545–551.LII. LXIII.565 436 439 565–571.LII.LIV. LXIII LXIII.281.372. 374–375.582 LXIII

1180 4,5–7 4,6.7 4,7 4,8–9 4,8 4,10–13 4,11–12 4,14–23

Verzeichnisse 581–588.LII.LIV. LXIII–LXIV LXIV 618 611–618.LII. LXIV 655.657.659.757. 770.1089 630–639.LII.LXI V.654.890 414 654–662.LII. LXIV

Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 1,24 2,9

2,12 2,20 3,14

122 83.140.170.198. 202.221.231.347. 359.364.378. 447–448.451.457. 482.503.514.550. 553.562.589.625. 636–637.647–648. 707.778.801.810. 831–832.903. 1028.1052.1076. 1080.1101.1108– 1109.1113 106 106 415.609.728. 816–817

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher 1Thess 1,2–3 3,6 5,19

2Tim 1,10 3,17

274 352

672.1066 460.492.537.737. 745–747.749

Der erste Brief des Petrus 1Petr 1,9 1,16 2,5–7 2,5 2,7–8 2,9 2,21 2,23 2,25 3,8–15 4,10 5,3 5,6–11 5,7

520–521 388 678 918 1001.1010 813 636 228.910 316.340 225–234 195.561 195 877–888 585–586

Der zweite Brief des Petrus 2Petr 3,8 3,13 3,18

586 451 155

Der erste Brief des Johannes 1Joh 1,6–9 1,8–9 2,15 2,23 3,2

213 137–141.254 206 1030 43–44.150.155. 164.169.213.258. 451.461.495.497. 709.713.894.919. 1054

4,8

243.833.923.937. 1117 208.1077.1079 179–190 204–213.243.

518–531 519 177

Der erste Brief des Paulus an Timotheus 1Tim 2,5 6,7

Der zweite Brief des Paulus an Timotheus

4,9 4,13–15 4,16

Bibelstellen

4,18. 4,19 5,1 5,4 5,19

402–403.833.923. 937.1082.1117 130.216.219.395. 998.1008.1117 1077–1084.246 1077–1078 520–521.524 520–521

Der Brief an die Hebräer Hebr 1,1–2 1,1 1,3

1,5 1,7 2,6 2,10 2,14 3,5–6 3,5 4,12 4,15 5,12–13

1109 336 106.170.188.1 94–195.243.388. 451.588.643.652. 736.831.1133 831 667–668 731.832 1133 398 748 748 897.946.1127 398 973

7,26–27 8,2–3 8,2 8,3 8,10–11 9,11–15 9,12 10,1–3 10,1 10,12–13 10,14 11,1–40 12,2 12,14

1181 676–681 677 678 679 823 81 677–678 679 1037 699 680 603 79.84.114.795.10 51.1062.1133 456

Der Brief des Jakobus Jak 1,17 1,20 2,17 2,20 2,26 3,5

469.528.538.720 1019 5.765.775 5 5 72–79.261–262

Die Offenbarung des Johannes Offb 2,4 811