Kritische Gesamtausgabe: Band 6 Predigten 1820-1821 9783110266849, 9783110265484

Friedrich Schleiermacher (1768–1834) had a unique ability to enthrall his contemporaries from the pulpit. This volume of

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Kritische Gesamtausgabe: Band 6 Predigten 1820-1821
 9783110266849, 9783110265484

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Bandherausgeberin
I. Historische Einführung
1. Zu Schleiermachers wissenschaftlichen Arbeiten und seinen Publikationen 1820–1821
2. Unter dem Verdacht der Staatsgefährdung – der bespitzelte Prediger und entlassungsbedrohte Professor
3. Vorbereitung der Gemeindeunion an der Dreifaltigkeitskirche
4. Der innere Aufbau der Jahrgänge 1820 und 1821
A. Die Predigten des Jahres 1820
Tabellarische Übersicht 1820
B. Die Predigten des Jahres 1821
Tabellarische Übersicht 1821
5. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten
II. Editorischer Bericht
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen
A. Allgemeine Regeln
B. Manuskripte Schleiermachers
C. Predigtnachschriften
D. Sachapparat
E. Editorischer Kopftext
F. Liederblätter
2. Druckgestaltung
A. Seitenaufbau
B. Gestaltungsregeln
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen
A. Schleiermacher-Texte
B. Andrae-Nachschriften
C. Dunckel-Nachschriften
D. Gemberg-Nachschriften
E. Schirmer-Nachschriften
F. Woltersdorff-Nachschriften
G. Spezialfälle der Rekonstruktion des Überlieferungsprozesses
Predigten 1820
Am 01.01. vorm. (Neujahrstag)* 1Petr 1,24–25
Am 09.01. vorm. (1. SnE)* Mt 5,4
Am 16.01. nachm. (2. SnE) 1Petr 4,16–19
Am 23.01. vorm. (3. SnE)* Mt 5,5
Am 30.01. nachm. (Septuagesimae) 1Petr 5,1–4
Am 06.02. vorm. (Sexagesimae)* Mt 5,6
Am 20.02. vorm. (Invocavit)* Joh 12,24
Am 27.02. nachm. (Reminiscere) 1Petr 5,7–9
Am 05.03. vorm. (Oculi)* Joh 16,7
Am 12.03. nachm. (Laetare) 1Petr 5,8–9
Am 19.03. vorm. (Judica)* Joh 12,32
Am 31.03. nachm. (Karfreitag) 1Joh 3,5–6
Am 03.04. nachm.° (Ostermontag) Apg 10,40–41
Am 09.04. vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,19–23
Am 16.04. vorm. (Misericordias Domini) Joh 20,24–29
Am 26.04. vorm. (Bußtag)* Lk 2,29–32
Am 30.04. vorm. (Cantate)* 1Kor 15,3–8
Am 07.05. vorm. (Rogate) 1Joh 16,23–30
Am 14.05. vorm.° (Exaudi)* Apg 1,14–22
Am 21.05. nachm. (Pfingstsonntag; Konfirmation) Apg 10,44–48
Am 22.05. vorm. (Pfingstmontag)* Apg 11,1–4.15–18
Am 28.05. vorm. (Trinitatis)* Gal 1,8
Am 04.06. vorm. (1. SnT) Lk 16,19–31
Am 11.06. vorm. (2. SnT)* Apg 4,5–14
Am 18.06. nachm. (3. SnT) Jak 1,9–12
Am 25.06. vorm. (4. SnT)* Apg 4,13–21
Am 02.07. vorm. (5. SnT) Lk 5,1–11
Am 09.07. vorm. (6. SnT)* Apg 6,1–6
Am 16.07. vorm. (7. SnT)* Mk 8,1–9
Am 23.07. vorm. (8. SnT)* Apg 7,51–59
Am 30.07. vorm. (9. SnT)* Apg 8,18–22
Am 06.08. vorm. (10. SnT)* Apg 9,3–6
Am 20.08. vorm. (12. SnT)* Apg 11,19–21
Am 03.09. vorm. (14. SnT)* Apg 11,22–26
Am 10.09. vorm. (15. SnT) Mt 6,24–34
Am 17.09. vorm. (16. SnT)* Apg 11,27–30
Am 01.10. vorm. (18. SnT; Erntedank)* 2Kor 8,14–15
Am 15.10. vorm. (20. SnT)* Apg 13,1–3
Am 22.10. nachm. (21. SnT) Jak 3,1–5
Am 29.10. vorm. (22. SnT)* Apg 15,22–31
Am 12.11. vorm. (24. SnT)* Apg 20,22–25
Am 26.11. vorm. (26. SnT; Totensonntag)* 1Thess 4,13–14.18
Am 23.12.° (Vorbereitung mit Konfirmation) Mt 5,13–16
Am 24.12. vorm. (4. SiA) 1Joh 3,2*
Am 26.12. nachm.° (2. Weihnachtstag) Phil 2,5–7
Am 31.12. nachm. (SnW) 1Thess 5,18
Predigten 1821
Am 01.01. früh (Neujahrstag) Kol 4,2–6
Am 07.01. vorm. (1. SnE)* Mt 2,1–10
Am 21.01. vorm. (3. SnE)* Lk 2,28–35
Am 28.01. früh (4. SnE) Lk 6,6–11
Am 28.01. vorm. (4. SnE) Mt 8,23–27
Am 04.02. vorm. (5. SnE)* Mt 2,16–18
Am 11.02. früh (6. SnE) Lk 17,20–21
Am 11.02. vorm. (6. SnE) Mt 17,1–9
Am 18.02. vorm. (Septuagesimae)* Mt 2,13–15
Am 04.03. vorm. (Estomihi)* Lk 2,41–49
Am 11.03. früh (Invocavit) Lk 23,34
Am 11.03. vorm. (Invocavit) Mt 4,1–11
Am 25.03. früh° (Oculi) Joh 19,26–27
Am 01.04. vorm. (Laetare)* Mt 27,46
Am 08.04. früh° (Judica) Joh 19,28–29
Am 23.04. früh° (Ostermontag) Lk 24,1–12
Am 29.04. vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,22–23
Am 13.05. vorm. (Jubilate)* Lk 24,44–47
Am 20.05. vorm.° (Cantate)* Joh 21,15
Am 27.05. nachm. (Rogate) Joh 21,18
Am 31.05. vorm. (Himmelfahrt)* Mt 28,18–20
Am 03.06. früh (Exaudi) Apg 1,14
Am 09.06. (Vorbereitung und Konfirmation) Joh 17,20–23
Am 11.06. früh° (Pfingstmontag) Gal 3,2–3
Am 11.06. nachm. (Pfingstmontag) Apg 10,42–48
Am 17.06. vorm. (Trinitatis)* 1Kor 12,3–6
Am 24.06. früh (1. SnT) 1Petr 4,17–19
Am 01.07. vorm. (2. SnT)* Mt 4,17
Am 08.07. nachm. (3. SnT) 2Petr 1,3–4
Am 15.07. vorm. (4. SnT)* Mt 5,19
Am 22.07. früh (5. SnT) 2Petr 1,5–7
Am 22.07. vorm. (5. SnT) Lk 5,1–11
Am 29.07. vorm. (6. SnT)* Lk 5,33–35
Am 05.08. früh (7. SnT) 2Petr 1,8–9
Am 05.08. nachm. (7. SnT) Röm 6,29–23
Am 12.08. vorm. (8. SnT)* Mt 10,11–13
Am 19.08. früh (9. SnT) 2Petr 1,10–11
Am 19.08. vorm. (9. SnT) Lk 16,1–9
Am 26.08. vorm. (10. SnT)* Mt 10,17–20
Am 02.09. nachm. (11. SnT) 1Kor 15,9–10
Am 09.09. vorm. (12. SnT)* Mt 10,24–26a
Am 16.09. früh (13. SnT) 2Petr 1,12–15
Am 16.09. vorm. (13. SnT) Lk 10,23–37
Am 23.09. vorm. (14. SnT)* Mt 10,26b–27
Am 14.10. früh (17. SnT) 2Petr 1,16–18
Am 21.10. vorm. (18. SnT)* Mt 10,32–33
Am 28.10. vorm. (19. SnT) Mt 9,1–8
Am 28.10. nachm. (19. SnT) Eph 4,22–28
Am 04.11. vorm. (20. SnT)* Mt 10,38
Am 11.11. früh (21. SnT) 2Petr 1,19–21
Am 18.11. vorm. (22. SnT)* Mt 15,13–14
Am 25.11. früh (23. SnT; Totensonntag) 1Kor 15,55–58
Am 25.11. vorm. (23. SnT; Totensonntag) 1Joh 3,14
Am 02.12. vorm. (1. SiA)* Lk 1,76–79
Am 02.12. nachm. (1. SiA) Röm 8,31–32
Am 09.12. früh (2. SiA) Lk 21,5–15
Am 16.12. vorm. (3. SiA)* Lk 3,3–6
Am 25.12. vorm. (1. Weihnachtstag)* Lk 1,31–32
Am 26.12. früh (2. Weihnachtstag) Lk 2,15–20; Apg 6,8–15; 7,55–59
Am 30.12. vorm. (SnW)* Joh 3,20–21
Verzeichnisse
Editionszeichen und Abkürzungen
Literatur
Namen
Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 6

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Jörg Dierken, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Dritte Abteilung Predigten Band 6

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Predigten 1820⫺1821

Herausgegeben von Elisabeth Blumrich

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026548-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-026684-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039230-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach 앝 Printed on acid-free paper 앪 Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung der Bandherausgeberin . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zu Schleiermachers wissenschaftlichen Arbeiten und seinen Publikationen 1820–1821 . . . . . . . . 2. Unter dem Verdacht der Staatsgefährdung – der bespitzelte Prediger und entlassungsbedrohte Professor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorbereitung der Gemeindeunion an der Dreifaltigkeitskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der innere Aufbau der Jahrgänge 1820 und 1821 A. Die Predigten des Jahres 1820 . . . . . . . . . . . Tabellarische Übersicht 1820 . . . . . . . . . . B. Die Predigten des Jahres 1821 . . . . . . . . . . . Tabellarische Übersicht 1821 . . . . . . . . . . 5. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . F. Liederblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . A. Schleiermacher-Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Andrae-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . C. Dunckel-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . D. Gemberg-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . E. Schirmer-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . . . F. Woltersdorff-Nachschriften . . . . . . . . . . . . . G. Spezialfälle der Rekonstruktion des Überlieferungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX X XIII XVIII XXIX XXXII XXXV XXXVII XXXIX XLIII XXLVI LVI LVI LVII LVIII LXI LXII LXII LXIII LXIII LXIII LXIV LXV LXV LXVI LXXII LXXIII LXXV LXXV LXXVII

VI

Inhaltsverzeichnis

Predigten 1820 Am 01.01. vorm. (Neujahrstag)* 1Petr 1,24–25 . . . . . Am 09.01. vorm. (1. SnE)* Mt 5,4 . . . . . . . . . . . . . Am 16.01. nachm. (2. SnE) 1Petr 4,16–19 . . . . . . . . Am 23.01. vorm. (3. SnE)* Mt 5,5 . . . . . . . . . . . . . Am 30.01. nachm. (Septuagesimae) 1Petr 5,1–4 . . . . . Am 06.02. vorm. (Sexagesimae)* Mt 5,6 . . . . . . . . . Am 20.02. vorm. (Invocavit)* Joh 12,24 . . . . . . . . . Am 27.02. nachm. (Reminiscere) 1Petr 5,7–9 . . . . . . Am 05.03. vorm. (Oculi)* Joh 16,7 . . . . . . . . . . . . . Am 12.03. nachm. (Laetare) 1Petr 5,8–9 . . . . . . . . . Am 19.03. vorm. (Judica)* Joh 12,32 . . . . . . . . . . . Am 31.03. nachm. (Karfreitag) 1Joh 3,5–6 . . . . . . . . Am 03.04. nachm.° (Ostermontag) Apg 10,40–41 . . . Am 09.04. vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,19–23 . . Am 16.04. vorm. (Misericordias Domini) Joh 20,24–29 Am 26.04. vorm. (Bußtag)* Lk 2,29–32 . . . . . . . . . . Am 30.04. vorm. (Cantate)* 1Kor 15,3–8 . . . . . . . . . Am 07.05. vorm. (Rogate) 1Joh 16,23–30 . . . . . . . . Am 14.05. vorm.° (Exaudi)* Apg 1,14–22 . . . . . . . . Am 21.05. nachm. (Pfingstsonntag; Konfirmation) Apg 10,44–48 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 22.05. vorm. (Pfingstmontag)* Apg 11,1–4.15–18 . Am 28.05. vorm. (Trinitatis)* Gal 1,8 . . . . . . . . . . . Am 04.06. vorm. (1. SnT) Lk 16,19–31 . . . . . . . . . . Am 11.06. vorm. (2. SnT)* Apg 4,5–14 . . . . . . . . . . Am 18.06. nachm. (3. SnT) Jak 1,9–12 . . . . . . . . . . Am 25.06. vorm. (4. SnT)* Apg 4,13–21 . . . . . . . . . Am 02.07. vorm. (5. SnT) Lk 5,1–11 . . . . . . . . . . . . Am 09.07. vorm. (6. SnT)* Apg 6,1–6 . . . . . . . . . . . Am 16.07. vorm. (7. SnT)* Mk 8,1–9 . . . . . . . . . . . Am 23.07. vorm. (8. SnT)* Apg 7,51–59 . . . . . . . . . Am 30.07. vorm. (9. SnT)* Apg 8,18–22 . . . . . . . . . Am 06.08. vorm. (10. SnT)* Apg 9,3–6 . . . . . . . . . . Am 20.08. vorm. (12. SnT)* Apg 11,19–21 . . . . . . . . Am 03.09. vorm. (14. SnT)* Apg 11,22–26 . . . . . . . . Am 10.09. vorm. (15. SnT) Mt 6,24–34 . . . . . . . . . . Am 17.09. vorm. (16. SnT)* Apg 11,27–30 . . . . . . . . Am 01.10. vorm. (18. SnT; Erntedank)* 2Kor 8,14–15 Am 15.10. vorm. (20. SnT)* Apg 13,1–3 . . . . . . . . . Am 22.10. nachm. (21. SnT) Jak 3,1–5 . . . . . . . . . . Am 29.10. vorm. (22. SnT)* Apg 15,22–31 . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 14 23 27 36 41 49 58 62 71 73 83 89 93 104 113 124 136 150 162 168 180 191 207 219 222 239 241 253 265 277 289 301 312 325 336 349 361 373 375

Inhaltsverzeichnis

Am 12.11. vorm. (24. SnT)* Apg 20,22–25 . . . . . . . . . Am 26.11. vorm. (26. SnT; Totensonntag)* 1Thess 4,13– 14.18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 23.12.° (Vorbereitung mit Konfirmation) Mt 5,13–16 Am 24.12. vorm. (4. SiA) 1Joh 3,2* . . . . . . . . . . . . . Am 26.12. nachm.° (2. Weihnachtstag) Phil 2,5–7 . . . . Am 31.12. nachm. (SnW) 1Thess 5,18 . . . . . . . . . . . .

VII

388 400 411 412 422 430

Predigten 1821 Am 01.01. früh (Neujahrstag) Kol 4,2–6 . . . . . . . . . . Am 07.01. vorm. (1. SnE)* Mt 2,1–10 . . . . . . . . . . . . Am 21.01. vorm. (3. SnE)* Lk 2,28–35 . . . . . . . . . . . Am 28.01. früh (4. SnE) Lk 6,6–11 . . . . . . . . . . . . . . Am 28.01. vorm. (4. SnE) Mt 8,23–27 . . . . . . . . . . . . Am 04.02. vorm. (5. SnE)* Mt 2,16–18 . . . . . . . . . . . Am 11.02. früh (6. SnE) Lk 17,20–21 . . . . . . . . . . . . Am 11.02. vorm. (6. SnE) Mt 17,1–9 . . . . . . . . . . . . . Am 18.02. vorm. (Septuagesimae)* Mt 2,13–15 . . . . . . Am 04.03. vorm. (Estomihi)* Lk 2,41–49 . . . . . . . . . Am 11.03. früh (Invocavit) Lk 23,34 . . . . . . . . . . . . . Am 11.03. vorm. (Invocavit) Mt 4,1–11 . . . . . . . . . . . Am 25.03. früh° (Oculi) Joh 19,26–27 . . . . . . . . . . . . Am 01.04. vorm. (Laetare)* Mt 27,46 . . . . . . . . . . . . Am 08.04. früh° (Judica) Joh 19,28–29 . . . . . . . . . . . Am 23.04. früh° (Ostermontag) Lk 24,1–12 . . . . . . . . Am 29.04. vorm. (Quasimodogeniti)* Joh 20,22–23 . . . Am 13.05. vorm. (Jubilate)* Lk 24,44–47 . . . . . . . . . Am 20.05. vorm.° (Cantate)* Joh 21,15 . . . . . . . . . . . Am 27.05. nachm. (Rogate) Joh 21,18 . . . . . . . . . . . . Am 31.05. vorm. (Himmelfahrt)* Mt 28,18–20 . . . . . . Am 03.06. früh (Exaudi) Apg 1,14 . . . . . . . . . . . . . . Am 09.06. (Vorbereitung und Konfirmation) Joh 17,20–23 Am 11.06. früh° (Pfingstmontag) Gal 3,2–3 . . . . . . . . Am 11.06. nachm. (Pfingstmontag) Apg 10,42–48 . . . . Am 17.06. vorm. (Trinitatis)* 1Kor 12,3–6 . . . . . . . . . Am 24.06. früh (1. SnT) 1Petr 4,17–19 . . . . . . . . . . . Am 01.07. vorm. (2. SnT)* Mt 4,17 . . . . . . . . . . . . . Am 08.07. nachm. (3. SnT) 2Petr 1,3–4 . . . . . . . . . . . Am 15.07. vorm. (4. SnT)* Mt 5,19 . . . . . . . . . . . . . Am 22.07. früh (5. SnT) 2Petr 1,5–7 . . . . . . . . . . . . . Am 22.07. vorm. (5. SnT) Lk 5,1–11 . . . . . . . . . . . . .

441 449 461 472 475 477 491 496 511 528 546 550 562 570 588 602 609 627 638 650 660 672 681 693 701 702 715 726 737 747 764 772

VIII

Inhaltsverzeichnis

Am 29.07. vorm. (6. SnT)* Lk 5,33–35 . . . . . . . . . . . Am 05.08. früh (7. SnT) 2Petr 1,8–9 . . . . . . . . . . . . . Am 05.08. nachm. (7. SnT) Röm 6,29–23 . . . . . . . . . . Am 12.08. vorm. (8. SnT)* Mt 10,11–13 . . . . . . . . . . Am 19.08. früh (9. SnT) 2Petr 1,10–11 . . . . . . . . . . . Am 19.08. vorm. (9. SnT) Lk 16,1–9 . . . . . . . . . . . . . Am 26.08. vorm. (10. SnT)* Mt 10,17–20 . . . . . . . . . Am 02.09. nachm. (11. SnT) 1Kor 15,9–10 . . . . . . . . . Am 09.09. vorm. (12. SnT)* Mt 10,24–26a . . . . . . . . . Am 16.09. früh (13. SnT) 2Petr 1,12–15 . . . . . . . . . . Am 16.09. vorm. (13. SnT) Lk 10,23–37 . . . . . . . . . . Am 23.09. vorm. (14. SnT)* Mt 10,26b–27 . . . . . . . . Am 14.10. früh (17. SnT) 2Petr 1,16–18 . . . . . . . . . . Am 21.10. vorm. (18. SnT)* Mt 10,32–33 . . . . . . . . . Am 28.10. vorm. (19. SnT) Mt 9,1–8 . . . . . . . . . . . . . Am 28.10. nachm. (19. SnT) Eph 4,22–28 . . . . . . . . . Am 04.11. vorm. (20. SnT)* Mt 10,38 . . . . . . . . . . . . Am 11.11. früh (21. SnT) 2Petr 1,19–21 . . . . . . . . . . Am 18.11. vorm. (22. SnT)* Mt 15,13–14 . . . . . . . . . Am 25.11. früh (23. SnT; Totensonntag) 1Kor 15,55–58 Am 25.11. vorm. (23. SnT; Totensonntag) 1Joh 3,14 . . . Am 02.12. vorm. (1. SiA)* Lk 1,76–79 . . . . . . . . . . . Am 02.12. nachm. (1. SiA) Röm 8,31–32 . . . . . . . . . . Am 09.12. früh (2. SiA) Lk 21,5–15 . . . . . . . . . . . . . Am 16.12. vorm. (3. SiA)* Lk 3,3–6 . . . . . . . . . . . . . Am 25.12. vorm. (1. Weihnachtstag)* Lk 1,31–32 . . . . Am 26.12. früh (2. Weihnachtstag) Lk 2,15–20; Apg 6,8– 15; 7,55–59 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Am 30.12. vorm. (SnW)* Joh 3,20–21 . . . . . . . . . . . .

782 793 798 808 820 827 838 849 857 869 876 885 900 908 920 925 933 943 952 964 971 982 993 1000 1010 1023 1034 1040

Verzeichnisse Editionszeichen Literatur . . . . Namen . . . . . Bibelstellen . .

und ... ... ...

Abkürzungen . .......... .......... ..........

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* Liederblatt im Anhang nach der Predigt ° Dem Predigtdatum gehen Predigten voran, die in die Fünfte oder Siebente Sammlung aufgenommen wurden und in KGA III/2 dokumentiert sind (vgl. unten S. XXXIV–XXXV).

Einleitung der Bandherausgeberin Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers1, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801– 1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten 1790–1808 4. Predigten 1809–1815 5. Predigten 1816–1819 6. Predigten 1820–1821 7. Predigten 1822–1823 8. Predigten 1824 9. Predigten 1825 10. Predigten 1826–1827 11. Predigten 1828–1829 12. Predigten 1830–1831 13. Predigten 1832 14. Predigten 1833–1834 sowie Gesamtregister Der vorliegende Band enthält 106 Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820 und 1821, ergänzt durch 53 dazugehörige Liederblätter2. 1

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Sofern sich aus dem Zusammenhang nicht etwas anderes ergibt, beziehen sich im Folgenden Zitatnachweise und Belegverweise ohne Angabe des Autors auf Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher. Zu Schleiermachers Liederblättern, die er ab 1812 für den jeweiligen Gottesdienst zusammenstellte, und zur gottesdienstlichen Rahmung vgl. KGA III/1, S. XLVIII– XLIX und Bernhard Schmidt: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, SchlA 20, Berlin/New York 2002, wo auch in einer Teiledition des Aktenmaterials Protokolle

X

Einleitung der Bandherausgeberin

Die Editionsgrundlage bilden Drucktexte Schleiermachers selbst sowie überwiegend Predigten, die in Nachschriften fremder Hand überliefert sind.3 Erstmalig veröffentlicht werden 67 dieser Predigten, wobei drei der Nachschriften eine autographe Bearbeitung Schleiermachers aufweisen4. Der Band bietet eine differenzierte Analyse des inneren Aufbaus der Predigtjahrgänge. Ihre Architektonik5 wird erschlossen durch eine Rekonstruktion der Praxis Schleiermachers, in parallelen Predigtreihen das Kirchenjahr aufzufächern.6 So kann als eine von bisher unveröffentlichten Reihen diejenige über die letzten Worte Christi am Kreuz vollständig geboten werden.7

I. Historische Einführung Die Jahre 1820–1821 markieren die Mitte des fünfundzwanzigjährigen Wirkens Schleiermachers in seiner großen Berliner Zeit8, die ihr

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der synodalen Gesangbuchkomission abgedruckt sind; zu Schleiermachers Mitarbeit in den Jahren 1820–1821 vgl. dort S. 559–614; zur Wiederentdeckung der Liederblätter vgl. Wolfgang Virmond: Liederblätter – Ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte und Entstehung des Berliner Gesangbuchs von 1829, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposion on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republic, ed. Ruth Drucilla Richardson, Lewiston/Queenston/Lampeter 1991, Schleiermacher: Studies-and-Translations, Volume 6, S. 275–293. Die edierten Nachschriften werden im Druck in serifenloser Schrift graphisch von den durch Schleiermachers autorisierten Predigten abgehoben. Vgl. unten am 28. Mai 1820 vorm., am 29. April 1821 vorm. und am 24. Juni 1821 früh. Die Predigt vom 29. April 1821 vorm. gibt durch Schleiermachers interlinerare Bearbeitung eines großen Teils der Nachschrift einen Einblick in seine Vorbereitung einer Publikation. Es werden beide Texte geboten. Vgl. Punkt I.4., unten S. XXXII–XLVI, und die dazugehörigen Jahrgangsübersichten. Es werden zehn Predigtreihen nachgewiesen, vgl. dazu Anm. 5. Die Predigten dieser Reihe verteilen sich auf KGA III/2 und den vorliegen Band, vgl. unten S. XL–XLII und die dazugehörige Übersicht. Die frühere Berliner Lebenssituation, in der er, von 1796 bis 1802 als reformierter Prediger an der Charité unverheiratet im Kreis der frühromantischen Freunde lebend, 1799 anonym seine berühmt gewordene Schrift „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ veröffentlichte, war in vielem eine völlig andere; vgl. KGA III/1, S. XXIX–XXXIII, besonders S. XXXIII; die Sozialität jedoch spielte in seiner Lebensführung immer eine zentrale Rolle, unabhängig von der Fülle sonstiger Verpflichtungen, und fand schon früh theoretischen Niederschlag in dem Fragment gebliebenen „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, 1799, KGA I/2, S. 163–184, dazu dort S. LI–LIII, bes. S. LII und den Symposiumsband: Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796–1802, ed. Andreas Arndt, Berlin 2009.

I. Historische Einführung

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Ende fand in einem Trauerzug von vielen Tausend Menschen9, der vor allem dem Prediger galt. Schleiermacher hatte mit seinen Predigten weit über die kirchliche Öffentlichkeit hinaus nicht nur die Berliner Bildungsschichten erreicht, sondern auch viele Menschen ohne höhere Bildung.10 Es waren aber auch Jahre der Restauration, in denen der preußische Professor und Prediger Schleiermacher sich staatlicher Verfolgung, Bespitzelung und Intrigen bis zur drohend über ihm schwebenden Entlassung ausgesetzt sah.11 Der Anfang Fünfzigjährige begegnete dem zwar mit äußerer Ruhe, fühlte sich ausweislich seiner Briefe aber besonders in seiner wissenschaftlich-literarischen und publizierenden Produktivität sehr beeinträchtigt; die Ausübung der Praxis – Kanzel, Katheder und geschäftsmäßige Arbeiten – war jedoch nicht in dieser Weise davon betroffen.12 Es ist im Gegenteil davon auszugehen, dass die beständige Ausübung des Predigtamtes, die stärkende Gemeinschaft der Hörenden mit dem Redenden13, ihn auch durch diese bedrohte Zeit getragen hat. 9

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Die Angaben der Augenzeugen variieren, realistisch dürfte die Spanne zwischen fünftausend und dreißigtausend Menschen sein, vgl. Tobias Kirchhof: Der Tod Schleiermachers. Prozess und Motive, Nachfolge und Gedächtnis. Unter Mitarbeit von Beatrix Kuchta, Leipzig/Berlin 2006, S. 34 Anm. 102. Das Phänomen, dass die Predigten einerseits als intellektuell sehr anspruchsvoll empfunden wurden, andererseits aber auch weniger Gebildete mit Gewinn erreichten, bringen die gegenläufigen Aussagen eines Briefes zum Ausdruck, in dem schon 1809 Schleiermacher seiner Braut auf einen Vorwurf antwortete, den ihm auch die langjährige Freundin Henriette Herz gemacht habe: „Du und die Herz schreibt mir Beide, daß die Predigt aber die Ungebildeten nicht würden verstanden haben. Glaubt Ihr denn, daß die Ungebildeten die anderen Predigten, die gedruckt sind, würden verstehen? Du wirst aber auch fast gar keine Ungebildete in meiner Kirche sehn, sondern immer eine kleine aber erlesene Versammlung. Auf der anderen Seite aber weiß ich auch, daß einige ganz einfache Bürger, die sehr fleißig kommen, mich sehr gut verstehn, und die haben gewiß auch diese verstanden. Bin ich aber erst ordentlich an der Kirche will ich die Nachmittagspredigten ganz eigentlich für die Ungebildeten einrichten.“ (Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 2. Aufl. Berlin 1860, S. 232; vgl. Andreas Reich, Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, SchlA 12, Berlin/New York 1992, S. 72). Reich weist darauf hin, dass die Nachmittagsgottesdienste „hauptsächlich von den Hausangestellten der Bürgerfamilien besucht“ wurden (ebd.). Zu Schleiermachers Predigttätigkeit im Ganzen vgl. KGA III/1, S. XXII–LIV. Näheres vgl. unten Punkt I.2. Vgl. unten S. XVIII–XIX Vgl. den Schluss der Predigt vom 4. März 1821, unten S. 543–544; vgl. dazu das in der Einleitung zur Praktischen Theologie § 268 als Methode des Umlaufs beschriebene reziproke Verhältnis zwischen dem Hervortretenden und der Masse in: Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, 2. Aufl., Berlin 1830, S. 114 (KGA I/6, S. 421).

XII

Einleitung der Bandherausgeberin

Auch familiär waren es die mittleren Jahre zwischen der Verlobung des Neununddreißigjährigen im Sommer 1808 mit der zwanzig Jahre jüngeren Henriette – geborene von Mühlenfels, Witwe seines Freundes Ehrenfried von Willich, die ihre kleinen Kinder Ehrenfried und Henriette mit in die Ehe brachte – und dem Ende seines Lebens im Februar 1834. Nach den Töchtern Elisabeth (*1810), Gertrud (*1812) und Hildegard (*1817) wurde am 12. Februar 1820 als jüngstes Kind der Sohn Nathanael geboren14, den Schleiermacher am Ostersonntag zu Hause abends taufte. Er lebte in dem Bewusstsein, dass er als später Vater „nicht die Aussicht habe, meine Kinder und am wenigsten den kleinen Knaben noch bis zur beginnenden Mündigkeit zu geleiten“15, was durch den frühen Tod des Neunjährigen am 29. Oktober 1829 auf andere Weise wahr wurde. Schleiermacher hielt ihm selbst die Grabrede.16 Seit der Gründung der Berliner Universität 1810, an der er entscheidend beteiligt gewesen war, arbeitete Schleiermacher im Doppelamt: als Professor an der Theologischen Fakultät und seit 1809 als Pastor der reformierten (Personal-) Gemeinde an der simultan genutzten Dreifaltigkeitskirche. Er wurde mit Einführung der von ihm in diesen Jahren betriebenden ersten Gemeindeunion in Preußen 1822 der erste Pfarrer der neuen unierten Gemeinde.17 Die beiden letzten Jahre vor Vollzug der Gemeindeunion, die Jahre 1820–1821, zeigen den homiletischen Praktiker, der die Gemeinde der Hörenden nach umsichtiger Planung durch die Zeiten und das Kirchenjahr geleitete und bildete. So nutzte er als reformierter Prediger, der frei von der Perikopenbindung war, vielfältige Möglichkeiten, eigene kürzere oder längere Predigtreihen für eine Personalgemeinde zu gestalten. Wie sehr Schleiermacher dies praktiziert hat, 14

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Schleiermacher teilte am 14. Februar 1820 seiner Schwägerin mit, dass seine Frau leicht und glücklich einen Knaben geboren habe. Er schrieb dazu: „Ich habe diesmal weniger als sonst einen besonderen Wunsch nach einem Knaben gehabt. Das Gefühl durchdrang mich zu lebhaft, man wisse nicht, was man sich wünsche, zumal in dieser Zeit. Unter den Kindern war aber so beständig vom Brüderchen die Rede gewesen, daß mir bange war, wie sie würden in’s Geleise zu bringen sein, wenn es nun doch ein Mädchen wäre. – Nun es ein Knabe ist, kannst Du denken, wie ich ihn mit Dank und Freude angenommen, und wie mein erstes Gebet zu Gott war um Weisheit von oben, um ihn zu Seiner Ehre zu erziehen. Dazu vereinigt Euch mit mir, Ihr Lieben Alle!“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 372–373). Brief vom 6. Mai 1820, in: Heinrici, Carl Friedrich Georg: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889, S. 363 Die Grabrede hielt Schleiermacher am 1. November 1829. Drei Wochen später, am Totensonntag desselben Jahres, predigte er auch mit besonderem Blick auf seine Familie (beide Predigten vgl. KGA III/11). Vgl. unten Punkt I.3.

I. Historische Einführung

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lässt sich am vorliegenden Band zeigen.18 Sein Auditorium war groß: Die Dreifaltigkeitskirche verfügte über 1125 Sitzplätze, mit Stehplätzen konnten 1600 Personen anwesend sein.19 Im Jahr 1820 waren alle Sitzplätze vermietet.20 Schleiermacher predigte vertretungsweise in anderen Berliner Kirchen21 und nutzte dann auch die Gelegenheit, auf die jeweilige Gemeindesituation Bezug zu nehmen22. Wie unterschiedlich er am selben Tag das Predigtamt in seiner eigenen und in einer anderen Gemeinde wahrnehmen konnte, zeigen unter anderem die beiden Totensonntagspredigten vom 25. November 1821.23 Von seinen frühen Jahren an hat Schleiermacher seine Predigten meditierend konzipiert und in freier Rede sich entfaltend gehalten.24 Seine breitgespannte Wirksamkeit stellt die Predigten nicht nur in einen kirchlichen, sondern auch in einen wissenschaftlich-literarischen und in einen politischen Zusammenhang.

1. Zu Schleiermachers wissenschaftlichen Arbeiten und seinen Publikationen in den Jahren 1820–1821 Schleiermachers wissenschaftliche und literarische Tätigkeiten zeugen von einem reichen Arbeitspensum. An zwei Fakultäten, der theologischen und als Akademiemitglied an der philosophischen, las er in die18 19 20

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Vgl. unten Punkt I.4. Vgl. Reich, Schleiermacher, S. 119 Vgl. ELAB, Dreifaltigkeits-Kirchengemeinde zu Berlin, Nr. 855, Protokollbuch über die Verhandlungen in den Sitzungen des Vorstandskollegiums der Dreifaltigkeitskirche 1811–1823, Protokoll vom 13. Oktober 1820, S. 109–110, hier S. 110; vgl. Reich, Schleiermacher, S. 121. Vgl. unten S. XXXIV Vgl. z.B. den Kommentar des Nachschreibers Gemberg zu der am 2. Juli 1820 über den Fischzug des Petrus Lk 5,1–11 gehaltenen Predigt vor der Domgemeinde, in der laut Gemberg „einige separatistische mystificirende Umtriebe“ herrschten, unten S. 240,18. Vgl. dazu auch unten S. XXVIII Vgl. dazu KGA III/1, S. XXIV–XXVI. Ein lebendiges Bild davon zeichnet seine Freundin Henriette Herz in ihren Erinnerungen: „Hatte er am nächsten Tage zu predigen, so pflegte er sich, und wenn er Gesellschaft hatte im Gesellschaftszimmer, auf etwa eine Viertelstunde an den Ofen zu stellen, und denkend vor sich hinzublicken. Seine näheren Freunde wußten, daß er dann über seine Predigt dachte, und ließen ihn ungestört. In Kurzem war er wieder mitten in der Unterhaltung. Auf irgend einem kleinen Papierstreifchen hatte er sich wohl mit Bleistift einige Notizen gemacht. Dies war jedoch Alles was er von einer Predigt zuvor aufschrieb. Und nach solcher scheinbar flüchtigen Vorbereitung habe ich ihn oft am nächsten Morgen die gedankenreichste und gefühlteste Predigt halten hören.“ (Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen, ed. Joseph Fürst, Berlin 1850, S. 162)

XIV

Einleitung der Bandherausgeberin

sen Jahren in der Regel pro Semester drei fünfstündige Vorlesungen, davon zwei theologische und eine philosophische.25 Im Studienjahr 1819–1820 übte Schleiermacher letztmalig an der Theologischen Fakultät das Amt des Dekans aus. An der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften trug Schleiermacher am 14. Februar 1820 „Ueber den Philosophen Hippon“ und am 10. August 1820 „Ueber die verschiedene Gestaltung der Staatsverteidigung“ vor; als Sekretar der philosophischen Klasse hielt er die Eröffnungsrede der Öffentlichen Sitzung am 24. Januar 1821 zum alljährlichen Gedenken des Geburtstags Friedrichs des Großen (1712–1786).26 Im Druck erschien 1820 die erste für die Grund- und Darlegung seiner philosophischen Ethik wichtige Akademierede „Ueber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffes“ von 1819.27 Seine Publikationen waren neben dem Großprojekt seiner Dogmatik, deren erster Band 1821 erschien28, und der Vierten Sammlung der Predigten hauptsächlich der Arbeit an Neuauflagen auch seiner wichtigen Frühwerke, der Reden und der Monologen, gewidmet. Besonders das Jahr 1821 spiegelt die produktive Zusammenarbeit mit seinem Verlegerfreund Georg Andreas Reimer (1776–1842) wider, als Schleiermacher den inneren Zusammenhang seiner Schriften durch gleichzeitiges Veröffentlichen vor Augen brachte.29 Auch in den Vorreden seiner Predigtpublikationen thematisierte er das Verhältnis von Nachschriften und deren literarischer Bearbei25

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Es handelte sich um folgende Vorlesungen: Theologische Enzyklopädie, Geschichte der griechischen Philosophie, Leben Christi (WS 1819/20); Matthäusevangelium, Christliche Sittenlehre und Geschichte der neuern Philosophie (SS 1820); Johannesevangelium, Dogmatik (erster Teil) und Pädagogik (WS 1820/21); Psychologie, Leidensgeschichte nach allen vier Evangelien und Dogmatik (zweiter Teil; SS 1821); Kurzer Abriß der Kirchen- und Dogmengeschichte und Praktische Theologie (WS 1821/22); die Aufstellung erfolgt nach der Übersicht in: Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis). Nebst einer Liste seiner Vorlesungen, bearbeitet von Andreas Arndt/Wolfgang Virmond, Berlin/New York 1992, SchlA 11, S. 315–317. Üblicherweise fanden die Vorlesungen in der Zeit von 7–10 Uhr statt. Im Sommersemester 1821 begann Schleiermacher mit der ersten Vorlesung bereits um 6 Uhr. Im Wintersemester 1821/22, als er verstärkt am zweiten Band seiner Dogmatik arbeitete, bot er nur die beiden theologischen Vorlesungen an, wobei es sich bei der kirchengeschichtlichen Vorlesung um eine neu konzipierte handelte. Vgl. KGA I/11, S. 343–356; S. 361–377; S. 379–384 Vgl. KGA I/11, S. 313–335 Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1–2, Berlin 1821/1822 (KGA I/7,1–2) Vgl. dazu KGA I/7, 1, S. XXXIII. Vgl. auch Schleiermachers Vorrede zur 3. Aufl. der Reden vom April 1821, in der er den Bezug zur Glaubenslehre erläutert, in: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 3. Aufl., S. XIII–XVII (KGA I/12, S. 10–12).

I. Historische Einführung

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tung durch ihn und damit verbunden das Verhältnis von gehörter und gelesener Predigt und die Problematik der jeweiligen Zeitbezogenheit der Predigten. Im Jahr 1820 erschien als Neujahrsgabe die „Predigt am 1. Adventssonntag 1819“ über Mt 16,13–17.30 In seinem Begleitbrief an Ludwig Gottfried Blanc (1781–1866) vom 17. Januar 1820 empfahl er ihm die Sendung „zur freundlichen Nachsicht“ mit der Begründung, dass es ihm wirklich vorkäme, als ob er, „was gedruckte Predigten betrifft, nicht eben im Fortschreiten wäre, sondern“ seine Predigten „sich je länger je mehr zum bloßen Hören eigneten“31. Ferner realisierte Schleiermacher die schon lang von seinen Hörern erbetene Veröffentlichung seiner „Predigten über den christlichen Hausstand“ aus dem Jahr 1818 als Vierte Sammlung seiner Predigten.32 Es folgte die zweite Auflage der Zweiten Sammlung aus dem Jahr 1808. In der Vorrede vom August 1820 erläuterte Schleiermacher seine Ambivalenz und seine Entscheidung für die Publikation: „Wie nach meiner Ueberzeugung christliche Predigten überall nur für den unmittelbaren Hörer ihren Werth, und die weitere Verbreitung durch den Druck mir etwas unwesentliches, ja nicht selten etwas mißliches zu sein scheint: so war ich besonders wegen dieser Vorträge [...] bedenklich, weil sie sich mehr als gewöhnlich genau auf die Ereignisse einer Zeit beziehen, welche einem großen Theil der christlichen Leser schon ferner steht und gewissermaßen vielleicht fremd geworden ist. Bei näherer Ansicht aber beruhigte ich mich, indem ich fand, daß das meiste auch jezt noch ein Wort zu seiner Zeit gesagt sein würde, und daß es nicht nötig sei die bestimmten Beziehungen und mit ihnen das eigenthümliche Gepräge dieser Vorträge zu verwischen.“33 Im Jahr 1821 erschien die zweite Auflage der Dritten Predigtsammlung von 1814. In seiner Nachschrift vom 18. November 1821 zur Widmung der Erstauflage „An Herrn Prediger Pischon“, dessen Nachschriften die Grundlage für Schleiermachers literarische Bearbeitung bildeten, nahm Schleiermacher erneut das Verhältnis von Zeitbezogenheit und Zeitenthobenheit seiner gedruckten Predigten in den Blick: „Es war mir zu willkommen auch die jezigen Leser an den Umstand zu erinnern, daß alle Predigten dieser Sammlung im Jahr 1812 gehalten sind. Nämlich als ich sie durchlas, bedachte ich – denn wer kann sich des unglüklichen Gedankens an deutelnde Leser erwehren? ich wenig30 31 32

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Vgl. KGA III/5 und dazu dort S. LXI–LXII. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 311 Vgl. KGA III/1. Zu der in der Vorrede vom 13. April 1820 erwähnten Differenz zwischen den gehaltenen Predigten und Schleiermachers Bearbeitung vgl. die Edition der Nachschriften in KGA III/5. Predigten, Zweite Sammlung, 2. Auflage, Berlin 1820, S. VII (KGA III/1, S. 417; vgl. dazu dort S. XCIII–XCIX).

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Einleitung der Bandherausgeberin

stens bin schon zufrieden damit, daß ich auf der Canzel nie an die lauschenden Zuhörer denke – daß manche denken könnten, manches sei heute und gestern gesprochen. Doch verfolgen wollen wir diesen Gedanken nicht weiter; sondern uns der Leser und Hörer freuen, die nichts anders suchen als wahre Erbauung und von Herzen wünschen, daß diese durch Gottes Beistand immer bei uns finden mögen, was sie suchen.“34 Auf Betreiben seines Verlegers brachte er die dritte Auflage der Reden „Ueber die Religion“ zum Druck und erläuterte in der Vorrede vom April 1821, dass es ihm vor allem wegen der Jüngeren lieb sei, dass diese Ausgabe gleichzeitig mit seinem Handbuch der christlichen Glaubenslehre erscheine.35 In seiner erneuten Zueignung an Karl Gustav von Brinckmann (1764–1847) betonte er, dass er auch in seiner „unmittelbaren Wirksamkeit auf die Jugend“ sich „[...] nie ein anderes Ziel vorgesezt als durch Darstellung meiner eignen Denkart auch nur Eigenthümlichkeit zu wekken und zu beleben, und im Streit mit fremden Ansichten und Handlungsweisen nur dem am meisten entgegenzuwirken, was freie geistige Belebung zu hemmen droht. Beide Bestrebungen fandest ja auch Du in diesem Buche vereint, und so ist auch in dieser Beziehung durch dasselbe mein ganzes Lebensbekenntniß ausgesprochen.“36 Die anlässlich der Gedächtnisfeier der Berlinischen Synode für den Berliner Propst Gottfried Ludwig August Hanstein (1761–1821) am 25. März 1821 gehaltene Rede „Einige Worte über homiletische Kritik“37 erschien ebenfalls bei seinem Verleger Reimer. Sie zeigt, wie Schleiermacher die Aufgabe der Würdigung eines Kirchenmannes, dem er auch kritisch gegenüber stand38, gelöst hat: Er beschränkte sich auf die Anerkennung des Verstorbenen in Hinsicht auf dessen Verdienste um die homiletische Unterweisung des Predigernachwuchses und nahm die Gelegenheit wahr, einem synodalen Auditorium „einiges über die Schwierigkeit und den Werth der homiletischen Kritik 34

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Predigten, Dritte Sammlung, 2. Auflage, Berlin 1821, S. VI (KGA III/1, S. 623). Die „lauschenden“ Zuhörer sind wohl als die belauschenden Zuhörer zu verstehen, vgl. den folgenden Abschnitt 2. Vgl. Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, 3. Aufl., Berlin 1821, S. XVII (KGA I/12, S. 1–321, hier S. 12). Vgl. dazu ausführlich KGA I/12, S. XXIII–XXVI. Schleiermacher erhielt die ersten Exemplare am 16. November 1821, vgl. KGA I/12, S. X. Über die Religion, 3. Aufl., S. XI–XII (KGA I/12, S. 8) Einige Worte über homiletische Kritik (Zum Ehrengedächtniß des weiland hochwürdigen G. A. L. Hanstein), Berlin 1821 (KGA I/14, S. 309–324). Nach dem Tod Hansteins beerbte Schleiermacher ihn als einer der Mitherausgeber des dann in neuer Folge erschienenen Magazins von Festpredigten, vgl. unten S. XLVII. Vgl. KGA I/14, S. CII

I. Historische Einführung

XVII

überhaupt in Erinnerung“39 zu bringen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Predigt über den zwölfjährigen Jesus (Lk 2,41–49) „Christus im Tempel; ein Vorbild für uns in unsern christlichen Versammlungen“ vom 4. März 1821, die Schleiermacher eine Woche nach dem Ableben Hansteins gehalten hat. Außerdem bereitete Schleiermacher die dann 1822 erschienene dritte Auflage der Monologen vor, in deren Vorrede er im Dezember 1821 noch einmal die ethische Zielsetzung des Buches erläuterte und eröffnete, dass er seit langem im Sinne gehabt habe, den Monologen auch ein religiöses Äquivalent an die Seite zu stellen, was die Zeit aber bisher nicht gestattet habe.40 Die Predigten des vorliegenden Bandes, gehalten während Schleiermachers intensiver Arbeit an der aus seinen Vorlesungen erwachsenen Dogmatik, bilden ein Seitenstück zu diesem wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Hauptwerk. Hier sei stellvertretend hingewiesen auf die Predigt vom ersten Weihnachtstag 1821 über Lk 1,31–32 – im vorliegenden Band als Nachschrift geboten, die Schleiermacher dann für seine Fünfte Predigtsammlung (1826) bearbeitet hat.41 Sie behandelt das Thema „Daß der Erlöser als der Sohn Gottes geboren ist“ und erweitert das Verständnis der christologischen Ausführungen in der Glaubenslehre. Der während der ersten Arbeiten an seinen Freund Karl Gustav von Brinckmann auf das Jahr 1819 gerichtete Silvesterbrief wirft Schlaglichter auf Schleiermachers Dogmatikprojekt und die religiöstheologischen und politischen Irritationen, die er hervorrief, und dokumentiert seine eigene Positionierung: „Eine Dogmatik, die ich mich endlich überwunden habe zu schreiben, weil ich glaube daß es Noth thut, über deren Ausarbeitung aber das künftige Jahr leicht noch hingehen möchte, wird Dir zeigen daß ich seit den Reden über die Religion noch ganz derselbe bin, und in diesen hast Du ja doch auch den Alten wieder erkannt. Dasselbe geistige Verständniß des Christenthums in derselben Eintracht mit der Speculation und eben so von aller Unterwerfung unter den Buchstaben befreit soll hier, aber in der strengsten Schulgerechtigkeit, auftreten. Sonst ist freilich in unserer deutschen Welt in dieser Hinsicht ein wunderliches Wesen; nachdem 39 40 41

Vgl. KGA I/14, S. 315 Vgl. Monologen, 3. Aufl., Berlin 1821, S. V–VI (KGA I/12, S. 326–327) Schleiermacher veröffentlichte unter dem Haupttitel „Christliche Festpredigten“ den ersten Band 1826 als Fünfte Sammlung, den zweiten Band 1833 als Siebente Sammlung, beide als späte Realisierungen langgeplanter Projekte, für die er Predigten aus früheren Jahren literarisch bearbeitete (vgl. KGA III/1, S. L und die Einleitung in KGA III/2); zu den Predigten aus den Jahren 1820–1821 vgl. die Liste in Anm. 117.

XVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

die Leute sich so lange von der flachen Aufklärung haben gängeln lassen, werden sie nun theils katholisch, theils geben sie sich in die buchstäblichste Orthodoxie hinein, theils werden sie wunderliche Frömmler. [...] Aus mir wissen sie aber immer noch nicht was sie machen sollen, bald bin ich ein Atheist, bald ein Herrnhuter. [...] Meine Stellung sowol in der Synode als in der Akademie bringt mich in mancherlei Berührungen mit der Regierung, und ich stehe in dem vollständigen Ruf, auf das gelindeste gesagt, eines Oppositionsmannes. Daß aber Viele es so weit treiben mich für einen Jakobiner auszuschreien gehört zu den lächerlichsten Mißverständnissen, da ich selbst in der wildesten Revolutionszeit immer ein Monarchist gewesen bin.“42

2. Unter dem Verdacht der Staatsgefährdung – der bespitzelte Prediger und entlassungsbedrohte Professor Die seit der Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue (1761–1819) im März 1819 durch den Theologiestudenten Karl Ludwig Sand (1795–1820) verschärften staatlichen Restriktionen der Karlsbader Beschlüsse trafen auch Schleiermacher, der im Jahr 1813 als Redakteur des Preußischen Korrespondenten eine Allerhöchste Kabinettsordre mit Verweis und Androhung, im Wiederholungsfall seiner Stelle verlustig zu gehen, auf sich gezogen hatte.43 Sie sollten die folgenden Jahre überschatten.44 Im Januar 1820 beschrieb Schleiermacher im Rückblick auf seinen einundfünfzigsten Geburtstag seine Stimmungslage und ihre Aus42

43 44

Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, edd. L. Jonas/W. Dilthey, Berlin 1863, S. 241–242; vgl. Schleiermacher als Mensch. Sein Wirken, Familien- und Freundesbriefe, ed. H. Meißner, Bd. 2, Gotha 1923, S. 290–291. Schleiermacher war am 1. Oktober 1817 zum Präses der Vereinigten Berliner Synode gewählt worden. Vgl. KGA I/14, S. CXLI–CLXXVIII Zum Folgenden vgl. Kurt Nowak: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung; Göttingen 2001, S. 378–385; eine Dokumentation des ministeriellen Handelns bietet Max Lenz: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 2, S. 85–87.172–175 und Bd. 4, S. 406–444, Halle 1910. Eine erste Aufarbeitung der diffizilen Aktenlage leistete Dankfried Reetz: Schleiermacher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002, S. 273–534. Eine ausführliche Darstellung und Interpretation der Quellen findet sich bei Matthias Wolfes: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 2, Berlin 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 85,2, S. 150–236).

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wirkungen auf seine Arbeit: Es „ließ sich freilich das Gewicht dieser Zeit nicht ganz abschütteln [...] Daß es aber die Thätigkeit nicht störe, wage ich von mir nicht zu behaupten [...] Kanzel und Katheder leiden aber keinen merklichen Schaden, aber die Arbeit am Schreibtische geht sehr flau [...] Ich nödle nun schon die ganze Zeit über den acht Predigten vom christlichen Hausstande, die ich doch im Wesentlichen geschrieben vor mir habe, und bin doch noch nicht halb fertig, und meine Dogmatik liegt ganz brach.“45 Auch waren wieder Polizeispitzel darauf angesetzt worden, mit Auszügen aus Schleiermachers Predigten staatsgefährdende Aussagen zu belegen.46 Anlass für neuerliche Untersuchungen gegen Schleiermacher gab das nachträgliche Bekanntwerden eines Solidaritätsschreibens der Theologischen Fakultät an ihren entlassenen Kollegen Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), das Schleiermacher mit unterzeichnet hatte und das de Wette zusammen mit anderen Dokumenten über den Vorgang in den Druck gegeben hatte.47 Ein halbes Jahr vor dem Mord war de Wette Gast der Eltern des Studenten Sand gewesen48 und hatte sich, als er von der Tat erfuhr, bewusst nicht an dessen Vater, den Justizrat Gottfried Christoph Sand (1753–1823), persönlich gewandt, weil er eine Indiskretion befürchtete: „Denn das Briefgeheimnis ist längst schon entweiht worden“49. Statt dessen schrieb er einen seelsorgerlichen Brief an die Mutter Dorothea (1766–1826), in dem er Verständnis für die Motive, nicht aber 45 46

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Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 311 Der Auszug eines solchen Berichts über eine Predigt Schleiermachers vom 17. Oktober 1819 ist überliefert in: Heinrich von Treitschke: Aus der Zeit der Demagogenverfolgung, in: ders., Historische und Politische Aufsätze, Bd. 4, Biographische und Historische Abhandlungen vornehmlich aus der neueren deutschen Geschichte, Leipzig 1897, S. 365–373, hier S. 366–367; vgl. dazu KGA III/5, S. XXVI–XXVII. Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin. Zur Berichtigung des öffentlichen Urtheils von ihm selbst herausgegeben, Leipzig 1820, S. 41–43. Den Vorlauf beschreibt Schleiermacher in einem Brief vom 17. Januar 1820: „Die Regierung hat nun das praevenire gespielt und den Sandschen Brief und das Absetzungsdecret im Oppositionsblatt drucken lassen. Ich hoffe, das soll ihn um so mehr antreiben, nun den ganzen Zusammenhang vor dem Publicum aufzudecken; denn er fing schon an zu zögern und die Sache sehr lahm zu betreiben.“ (Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 312) Vgl. den Dankesbrief de Wettes an den Justizrat Sand vom 17. Oktober 1818 in: GStA PK, I. HA Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 21 Geheime Verbindungen, Spec. Lit. W. Nr. 3: Acta betr. die Untersuchungen gegen den Professor Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in Berlin, wegen des Verdachts der Theilnahme an demagogischen Umtrieben und sträflichen Verbindungen, 9. Juli 1819 – 2. Januar 1846, Bl. 30, vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 358. GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21 Spec. W. Nr. 3, Bl. 31r; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 359

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eine Rechtfertigung des Verbrechens ausdrückte. Dieser Brief war in Abschrift aufgespürt worden50, worauf König Friedrich Wilhelm III. (1770–1840), der den Inhalt des Schreibens als Rechtfertigung des Mordes verstand, die Entlassung de Wettes aus dem „wichtige[n] Amt eines Lehrers der Gottesgelahrtheit und Moral“ anordnete, weil es „Seiner Majestät Gewissen verletzen würde, wenn Allerhöchstdieselben einem Manne, der den Meuchelmord unter Bedingungen und Voraussetzungen für gerechtfertigt hält, den Unterricht der Jugend ferner anvertrauen wollten.“51 Am 16. März 1820 wurde dem König nach Prüfung der Fakultätsakten ein ausführlicher Bericht der Ministerialkommission über das Schreiben der Theologischen Fakultät vom 25. Oktober 1819 vorgelegt.52 In diesem wurden die Mitunterzeichner Johann August Wilhelm Neander (1789–1850) und Konrad Philipp Marheineke (1780–1846) sowie die gesamte Fakultät ausdrücklich in Schutz genommen, Schleiermacher hingegen als handschriftlicher Verfasser und Alleinunterzeichner des Konzepts haftbar gemacht. Der größere Teil des Berichts galt seiner Person: „Er, der Klügesten, und Verschmitztesten Einer, der den Wert der Worte genau kennt und wiegt, und die Kraft des Ausdrucks in seiner Gewalt hat, verfaßte das Concept des in Frage seyenden Schreibens, mit Muße und Bedacht. [...] Schon seit einer Reihe von Jahren, befaßte der Professor Schleiermacher, höchst unberufen dazu, sich mit politischen Zwecken und Verbindungen. Er mißbrauchte, bekanntermaßen, nicht selten die Canzel zu politischen Vorträgen“53. Nicht nur der Konflikt um den Artikel im „Preußischen Korrespondenten“ von 1813 wurde ausführlich dargestellt, sondern auch kritische Äußerungen über den König in einem Brief vom 14. März 1818 an seinen Schwager Ernst Moritz Arndt beigebracht54 sowie die Schilderung eines durch exzessiven Alkoholkonsum gekennzeichneten, politisch verdächtigen Studentenfestes vom 2. Mai 1819, 50 51 52 53 54

Vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 2, S. 69 Aktensammlung de Wette, S. 11 Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21, Spec. W. Nr. 3, Bl. 99r–105v; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 406–414 GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21, Spec. W. Nr. 3, Bl. 103v; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 409–410 „Seine Persönlichkeit wird immer ein ungeheures Hindernis sein die allgemeinen Angelegenheiten vorwärts zu bringen; nie wird sich der Mann in ein frei öffentliches Wesen finden lernen, und wie ihm schon die Universität hier zu viel ist, wie sollte er je eine frei redende Versammlung in seiner Nähe dulden.“ (GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium I, Anh. II, Schuckmann Nr. 55, Bl. 40–41, hier Bl. 41r; vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 270–272, hier S. 271 und Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 410)

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an dem Schleiermacher teilgenommen hatte55. Das Fakultätsschreiben diente als Gelegenheit, Anschuldigungen gegen Schleiermacher zu sammeln, um seine Entfernung aus der Hauptstadt zu erreichen. Allein hätte es zur Begründung nicht ausgereicht, zumal nicht nur die Theologische Fakultät sich mit ihrem Kollegen de Wette solidarisch gezeigt hatte, sondern ebenso der Rektor samt dem Senat der Universität. Auch sie hatten, gestützt auf ein Schreiben de Wettes, sich sofort mit einer Eingabe und der Bitte um eine gerichtliche Untersuchung an den König gewandt, die dieser aber strikt ablehnte56. Am Schluss stellt der Bericht anheim: „Eine, nach den Vorschriften des Allgemeinen Landrecht Th. 2. Tit. 10 § 99 u. f. gegen den Schleiermacher zu verfügende Dienstverabschiedung, mögte jedoch, wegen der besonderen Beschaffenheit der dabey zum Grunde zu legenden Beweismittel bedenklich und schwierig seyn. Zur Verminderung des Uebels, welches der Schleiermacher hier in seinem großen Wirkungskreise unstreitig stiftet, zu seiner Warnung, und – wenn es möglich ist – zu seiner Besserung, erscheint es daher ratsam: daß der Professor Schleiermacher nach seiner Dienstanciennität, und mit Beybehaltung seines Diensteinkommens, in seiner doppelten Amtseigenschaft als Universitätslehrer und Prediger an eine andere Universität, und etwa nach Koenigsberg in Preußen als Professor der Theologie, ohne das Anführen eines besonderen Grundes dieser Translocation versetzet werde.“57 Schleiermacher war über die Vorgänge im Einzelnen nicht in Kenntnis gesetzt, in Briefen spiegelt sich jedoch die empfundene Bedrohung.58 Schon im Januar 1820 hatte er die Möglichkeit seiner Entlassung in Betracht gezogen: „Seine jetzige Muße beneide ich De Wetten manchmal [...] und wer weiß, ob ich nicht noch auf ähnliche Weise zu demselben Gut gelange.“59 Zwei Tage nach dem Bericht der Ministerialkommission an den König beschrieb er am 18. März seine pri55

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Die ausführliche Schilderung der Vorgänge auf dem Pichelsberg entstammte dem konfiszierten Brief eines Studenten und listete die beteiligten Professoren namentlich auf: „[...] um 9 Uhr kamen die drei eingeladenen Professoren Schleiermacher [...] Hegel, de Wette“ (GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21, Lit Sch., Nr. 6, Bl. 39r; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 412). Vgl. Aktensammlung de Wette, S. 12–16 GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21 Spec. W. Nr. 3, Bl. 105; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 414 So endet der Brief von Joachim Christian Gaß (1766–1831) an Schleiermacher vom 12. April 1820 mit der Aufforderung: „Zerreiß aber doch diese Blätter, wie ich auch Deine Briefe alle bei Seite geschafft habe, denn ich bin nicht ohne Furcht, daß es noch übler wird als es schon ist.“ (Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 186) Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 312

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Einleitung der Bandherausgeberin

vaten und beruflichen Sorgen in einem Brief an Immanuel Bekker (1785–1871): „Im Hause ist nicht alles in Ordnung, der kleine Junge, der mit Gottes Hülfe am ersten Ostertag soll getauft werden, scheint seit einigen Tagen seine bisherigen Fortschritte zu hemmen, und wenn er auch nicht krank ist, so verräth doch seine große Unruhe, daß er leidend ist. – Außerdem aber scheint noch ein großes Ungewitter über dem Haupte meiner Wenigkeit zu schweben. Man soll wüthend sein über den Brief der Facultät an De Wette und gar zu gern mir darüber zu Leibe wollen, nur sehe ich nicht, wie man in dieser Angelegenheit mich von den Andern trennen kann. So viel ist gewiß, daß der Staatskanzler seit 14 Tagen sich die Facultäts Akten über diese Sache hat geben lassen, und daß er noch darüber brütet. Auch soll der Regierungsbevollmächtigte mich angeschwärzt haben, als ob ich Umtriebe machte im Senat. Kurz, Gestern wollte die ganze Stadt aus sehr guter Hand wissen, ich sei suspensirt, und es ist leicht möglich, daß ich es heut oder Morgen auch erfahre.“60 Drei Tage später berichtete er seinem Schwager Ernst Moritz Arndt (1769–1860): „Eigentlich [...] wollte ich Dir nicht eher schreiben, bis ich Dir etwas Entscheidendes über mich melden könnte. Nemlich seit länger als 14 Tagen ist wieder die ganze Stadt voll davon, daß ich abgesezt sei oder werden solle.“61 Am 15. April 1820 war die Lage genauso unklar: „Ob das Ungewitter ganz vorüber ist, weiß ich noch nicht auch ist die Atmosphäre so gemischt daß jeden Augenblick neue [Gerüchte] entstehen, und wenn gegenwärtig niemand in seiner Lage sicher ist, so gehöre ich wohl unter die die es am wenigsten sind.“62 Am 6. Mai 1820 antwortete Schleiermacher auf den Vorstoß seines Schülers und befreundeten Kieler Kollegen August Detlev Twesten (1789–1876), der die dänische Regierung um Berufung Schleiermachers an die Theologische Fakultät in Kiel ersucht hatte, dass ihm die Vorstellung nicht unlieb sei, bei einer liberaleren Regierung Schutz zu suchen, schränkte aber ein, dass er nur für den Fall, dass die in Aussicht genommene Kirchenverfassung nicht zu realisieren sei, in Erwägung ziehe, seine „hiesigen Verhältnisse zu verlassen“63. Seine Einschätzung der Lage beschrieb er wie folgt: „Gott sei Dank, es scheint für den Augenblick sowohl diese größere als auch meine eigne persönliche Gefahr vorüber zu sein. Das letzte indeß bedeutet nicht viel, da meine sehr heftigen und intriganten Gegner nicht müde werden, und niemand dafür stehen kann, wie bald 60 61 62 63

Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker 1806–1820. Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, N. F. 11, Berlin 1916, S. 119–121, hier S. 119 Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 2, S. 373 Briefe an einen Freund [Karl Heinrich Sack], ed. H. W. Schmidt, Weimar 1939, S. 19 Heinrici, Twesten, S. 362–363, hier S. 363

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sie wieder eine erwünschte Veranlassung finden. Ich bin überzeugt, daß von meiner Seite die größte Ruhe und Stille, so wie das natürlichste, so auch das einzig zweckmäßige ist, und so wollen wir abwarten was kommt. Meine Frau hat sich auch immer vollkommen ruhig und ohne Furcht gezeigt.“64 Die behördlichen Ermittlungen gegen Schleiermacher zogen sich jedoch hin. Letztlich ging es um Schleiermachers die preußischen Restaurationsbestrebungen unterhöhlende reformerische Wirkungsmacht.65 So wurde sein Eintreten für eine freiere Gesellschaftsordnung, hier in bildungspolitischer Hinsicht, Gegenstand einer vom König am 24. Dezember 1820 geforderten Stellungnahme zum gegenwärtigen Zustand des Schul- und Erziehungswesens: In dem vom Hofprediger und evangelischen Bischof Eylert und anderen66 verfassten Bericht vom 15. Februar 1821 wird Schleiermacher das Einwirken „durch öffentliche Vorträge und Schriften auf die neuen Anordnungen im Schul- und Erziehungswesen“ zur Last gelegt, „indem derselbe seine ausgezeichnete Beredsamkeit, Scharfsinn und Gewandtheit der siegenden Durchführung und Befestigung einer gänzlich unbeschränkten öffentlichen Lehr- und Lernfreiheit in religiöser, wissenschaftlicher und politischer Beziehung, als einer dem Menschen zustehenden heiligen Berechtigung und Verpflichtung“ gewidmet habe; bereits seine „im Jahre 1808. herausgegebene Schrift: über Universitäten in deutschem Sinne, welche die äußere und innere Unabhängigkeit dieser Lehr-Institute von dem Staat und der Kirche als erstes Princip derselben aufstellt“ habe „den Grund zu dem System verderblicher Universitäts-Einrichtungen gelegt [...], die von dem Ministerium seit 1809. bis jetzt in Ausführung gebracht worden sind“67. 64

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Heinrici, Twesten, S. 363–364. Schleiermacher beschrieb im Folgenden die Situation an der Universität: „Unsere Universität nimmt sehr ab, und das gilt natürlich auch von den Theologen, wiewohl nicht in dem großen Maß als eigentlich zu erwarten wäre. Ich habe in meinen theologischen Collegien zwischen 70 und 80 Zuhörer. Der Matthäus macht mir viel zu schaffen und die Geschichte der neueren Philosophie, die ich seit 1812 nicht gelesen, ebenfalls.“ (S. 364) Seit 1815 gehörte Schleiermacher auf Betreiben des Innenministers Kaspar Friedrich von Schuckmann (1755–1834) dem Unterrichtsdepartment nicht mehr an (vgl. KGA I/11, S. XIV). Die Denkschrift verfassten neben Rulemann Friedrich Eylert (1770–1852), der ein Vertrauter des Königs Friedrich Wilhelm III. war, Georg Philipp Ludolph von Bekkedorff (1778–1858), Bernhard Moritz Snethlage (1753–1840) und Christoph Ludwig Friedrich Schultz (1781–1834). GStA PK, X. HA Rep. 192 Nachlaß Wittgenstein, V. 5, Nr. 26: Acta des Herrn Oberkammerherrn Fürsten zu Wittgenstein betr. die Verbesserung des Schul- und Erziehungswesens in Preußen, Bl. 37r–54v, hier Bl. 44r; vgl. Reetz, Schleiermacher, S. 236–237; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 390–401

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Einleitung der Bandherausgeberin

Im September 1821 erfolgte ein neuerlicher Vorstoß des Regierungsrats Gustav Adolf von Tzschoppe (1794–1842) in Form eines Antrags an eine Königliche Ministerialkommission, der unter Bezugnahme auf die bisherigen Beschuldigungen weitergehendes Material politisch unliebsamer Äußerungen auflistete und ausdrücklich die Vernehmung Schleiermachers forderte, wobei an die königlich-ministerielle Androhung des Stellenverlustes im Wiederholungsfall von 1813 erinnert wurde.68 Gegen Ende des Jahres 182169 heißt es in einem vom Direktor des Polizeiministeriums Karl von Kamptz (1769–1849) für den König erstellten Bericht: „Der Professor Schleiermacher wirkt eben so nachtheilig als Prediger wie Professor und in seinen übrigen Verhältnissen. Seine Kanzelvorträge enthalten zum Theil versteckte, aber allen seinen zahlreichen, eingeweiheten Zuhörern hinreichend verständliche Aufforderungen, in den Grundsätzen und Bestrebungen der Demagogen fortzufahren und die dagegen sich erhebenden Kämpfe muthig zu überstehen [...] Sein Einfluss als Professor auf die studirende Jugend ist umso größer und nachtheiliger, als derselbe zugleich mit dem Einfluß von der Kanzel verbunden ist und als er ein erklärter Beschützer der Burschenschaft ist und nicht allein den Festen derselben mehrmals beigewohnt, sondern auch mit den Studenten auf eine für einen öffentlichen Lehrer höchst unwürdige Art sich in einem hohen Grade betrunken und mit den Studenten Bruderschaft gemacht hat.“70 Gut ein Jahr später, im Januar 1823 schließlich, hatte er sich in Polizeiverhören auch hinsichtlich seiner negativen Äußerungen über den König in Briefen an seinen Schwager Ernst Moritz Arndt71 zu 68 69 70

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Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 77, Tit. 21, Lit. Sch. Nr. 6, Bl. 7–8; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 414–416. Zur Datierung vgl. Reetz, Schleiermacher, S. 238, Anm. 57. GStA PK, X. HA Rep. 192, Nachlaß Wittgenstein, V. 5, Nr. 37, Bl. 28v–29r. Ein Beispiel für die als „seinen zahlreichen eingeweiheten Zuhörern hinreichend verständliche[n] Aufforderungen“ interpretierten Aussagen liegt vor in KGA III/5. Dort werden die als verdächtig geltenden Aussagen aus dem Bespitzelungsbericht einer ansonsten nicht bezeugten Predigt vom 17. Oktober 1819 zitiert, vgl. oben Anm. 46, S. XIX. Vgl. oben Anm. 54 und den Brief vom 27. Januar 1819 mit despektierlichen Bezugnahmen auf den Verweis von 1813: „Es thut mir sehr leid lieber Bruder daß ich Dir nicht gleich wieder geschrieben, um Dir anzukündigen daß Dir noch etwas Unangenehmes bevorstände nämlich eine große Allerhöchste Nase. [...] Nun begrüße ich Dich eben hintennach auf das freundlichste als meinen Special Collegen im Besiz der großen Nase. Denn Du weißt doch wol daß auch ich im Jahr 1813 von wegen eines Artikels im Preußischen Correspondenten eine solche bekam [...] Denn es war, sobald ich mich unterstehen würde, mich noch einmal in politische Dinge zu mischen (N.B: als Zeitungs Redacteur) von unfehlbarer Kassation von allen meinen Aemtern die Rede [...] Ich habe aber alles sehr lustig abgeschüttelt, und halte mir die Sache nur noch als einen Schinken in Salz.“ („Acta betr. den

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rechtfertigen.72 Schleiermacher nahm in dieser Vernehmung nicht nur inhaltlich Stellung zu seinen Aussagen, sondern thematisierte auch ihre Infragestellung durch die formale Verletzung des Briefgeheimnisses, indem er Briefäußerungen als Gedanken und damit Augenblicksgeburten von Stimmungen qualifizierte, die nur denjenigen Personen eignen, zwischen denen sie getauscht werden.73

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Professor Schleiermacher 1806/23 (1813–23)“ GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium I, Anhang II Schuckmann, Nr. 55, Bl. 31–32, hier Bl. 31; vgl. Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 291–293, hier S. 291–292; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 353–355, hier S. 353–354) Vgl. GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium I, Anhang II. Schuckmann, Nr. 55, Bl. 55–75r; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 430–435; vgl. auch zum Fortgang KGA III/7, S. XVI–XIX. Seine Rechtfertigung diktierte er direkt ins Protokoll: „[...] Die folgenden Äußerungen würden höchst verbrecherisch seyn wenn sie nicht nur an einen vertrauten Freund gerichtet wären. Im Gespräch wie im vertraulichen Briefwechsel muß es eine Möglichkeit geben auch solche Gedanken und Empfindungen auszudrücken die nur in augenblicklichen Gemüthsstimmungen ihre Entschuldigung finden können. Meiner Überzeugung nach sind solche Äußerungen nur eben so zu betrachten, wie der Gedanke selbst. [...] Anders als dadurch, daß er keine andere Bestimmung hatte als den Gedanken, wie er entstand, dem vertrauten Freunde hinzugeben, und daß er also gar kein anderes Dasein hat als zwischen uns beiden, läßt er sich nicht rechtfertigen. Wie aber für einen jeden Einzelnen selbst vorübergehende, auf eigene Veranlaßungen beruhende Gemüthsstimmungen keinen Einfluß haben auf die Gesinnungen welche ihn leiten und sein Leben beherrschen, und also in mir selbst nichts meinen Pflichten nachtheiliges aus der Stimmung hervorgegangen ist, in welcher dieser Brief entstand, so konnte ich auch von meinem Freunde Arndt versichert seyn, daß er ihn als das bloße Erzeugniß einer augenblicklichen Laune werde zu würdigen wißen. [...] Am besten aber und sichersten können wohl meine Gesinnungen als Unterthan aus meinem ganzen öffentlichen Leben und Wirken entnommen werden auf welches ich mich mit der vollen Zuversicht des guten Gewissens berufen kann.“ (GStA PK, I. HA Rep. 76 Kultusministerium I, Anhang II. Schuckmann, Nr. 55, Bl. 59r–60r; vgl. Lenz, Geschichte, Bd. 4, S. 432) Auszüge aus dem Wortlaut beider Briefe an E. M. Arndt und aus Schleiermachers Einlassungen im Verhör wurden von dem Herausgeber Martin Rade im Publikationsorgan „Christliche Welt“ Nr. 24, 1910, Sp. 970–972, als Vorabdruck aus: Max Lenz: Geschichte der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Halle 1910, veröffentlicht. Ähnlich hatte de Wette (vgl. oben Anm. 47, S. XIX) argumentiert: „Wegen vertraulicher Mittheilungen, so wie wegen Gedanken und Gesinnungen, sind wir nur Gott und unserm Gewissen verantwortlich, und kein irdischer Richter kann sich darüber ein Urtheil anmaßen, ohne das heiligste Recht zu verletzen. Nur die erwiesene Absicht Verbrechen zu begehen oder Andere dazu zu ermuntern, könnte strafbar seyn; dieser Absicht aber wird man mich nicht beschuldigen.“ (Beilage zum Protokoll der Vernehmung, Aktensammlung, S. 9); in seinem Schreiben an die Theologische Fakultät zitierte de Wette zur Anerkennung seiner seelsorgerlichen Intention Martin Luther: „Es ist ein großer Unterschied unter einem heimlichen und öffentlichen Briefe, und wer einen heimlichen Brief wider Wissen und Willen seines Herrn offenbar machet, der verfälschet nicht vier oder fünf Worte darinnen, sondern den ganzen Brief, daß es hinfort nicht mehr derselbe Brief ist, noch heißen kann, weil damit die Gestalt und Art des ganzen Briefs und die Meinung des Schreibers allerdings verkehret und geändert ist“ (Aktensammlung, S. 21–

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Einleitung der Bandherausgeberin

Die Reaktionen auf die de Wettesche Aktensammlung und auf die Stellungnahme der Theologischen Fakultät beschäftigten weiterhin nicht nur die Staatsorgane, sondern auch die Öffentlichkeit, wie Heinrich Heine, der seit März 1821 in Berlin lebte, berichtete.74 Den Vierundzwanzigjährigen beeindruckte der Prediger Schleiermacher über das im engeren Sinne Kirchliche hinaus. Er schrieb mit Distanz und Emphase: „Ich habe unlängst einer seiner Predigten beygewohnt, wo er mit der Kraft eines Luthers sprach, und wo es nicht an verblümten Ausfällen gegen die Liturgie fehlte. Ich muss gestehen, keine sonderlich gottseligen Gefühle werden durch seine Predigten in mir erregt; aber ich finde mich im bessern Sinne dadurch erbaut, erkräftigt, und wie durch Stachelworte aufgegeißelt vom weichen Flaumenbette des schlaffen Indifferentismus. Dieser Mann braucht nur das schwarze Kirchengewand abzuwerfen, und er steht da als Priester der Wahrheit“75 Die besondere persönlich-politische Situation hat sich auf mancherlei Weise in den Predigten niedergeschlagen, dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese in ihren Anspielungen nicht unbedingt Ausdruck bewusst formulierter politischer Botschaften sind, was eine briefliche Äußerung vom 10. Januar 1819 deutlich macht: „Nur in der Geschwindigkeit [...] kann ich Dir [...] ein paar Zeilen schreiben, als Hülle für die einliegende Predigt, die ich dem Küster zu Neujahr

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22; vgl. Martin Luther, Von heimlichen und gestohlenen Briefen, 1529, WA 30, II, S. 30). „Ungemeines Aufsehen erregten die heftigen Ausfälle gegen die hiesige theologische Fakultät in der Anzeige der Schrift: ‚Gegen die De-Wettische Aktensammlung‘ (in der Vossischen Zeitung) und in der Entgegnung auf die Erklärung der Fakultät (ebendas.) [...] Wie man sagt, ist Schleyermacher mit einer Entgegnung beschäftigt, und es wird dem gewaltigen Sprecher leicht werden, seinen Antagonisten nieder zu reden. Daß die theologische Fakultät auf solche Angriffe antworten muß, versteht sich von selbst, und das ganze Publikum sieht mit gespannter Erwartung dieser großen Antwort entgegen.“ (Heinrich Heine, Brief vom 16. März 1822 in: Briefe aus Berlin, Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, ed. M. Windfuhr, Bd. 6, ed. J. Hermand, S. 30, vgl. dazu dort S. 433–434). Ebd. Als Termin der von Heine miterlebten Predigt wird vermutet der 17. Februar 1822 und damit die Predigt über die Tempelreinigung Joh 2,13–17 (KGA III/7), vgl. Heine, Bd. 6, ed. J. Hermand, S. 433. Die „verblümten Ausfälle gegen die Liturgie“ beziehen sich auf die von Friedrich Wilhelm III. zu Weihnachten 1821 veröffentlichte Kirchen-Agende für die Hof- und Domkirche in Berlin, die 1822 den Agendenstreit auslöste, in den Schleiermacher 1824 mit der anonymen Schrift „Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus“, Göttingen 1824, auch literarisch begann einzugreifen. – Heine stand später Schleiermacher sehr kritisch gegenüber: „Schleyermacher mußte gegen die Freyheit protestieren und kristliche Ergebung in den Willen der Obrigkeit empfehlen.“ (Heine, Französische Zustände, Vorrede (1832), Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 12/1, ed. J. R. Derré und C. Giesen, S. 70).

I. Historische Einführung

XXVII

geschenkt. Ich kann nicht sagen, daß ich besonders damit zufrieden wäre, und erst, als ich sie gedrukkt sah, fiel mir ein, daß eigentlich jede Zeile ein Stich auf unsern allergnädigsten Herrn ist: allein ich habe wirklich vorher nicht besonders an ihn gedacht.“76 Wie zuvor wählte Schleiermacher in den folgenden Jahren eine Predigt des Vorjahres zum Druck als Neujahrsgabe aus, der üblicherweise der Predigtplan der Dreifaltigkeitsgemeinde für das neue Jahr beigefügt war77. Im Jahr 1820 erschien der Einzeldruck der Predigt vom 1. Advent 181978 über Mt 16,13–19, und Schleiermacher hatte sich für den Druck mit der Zensur auseinander setzen müssen: „Diese Predigt hat mir übrigens noch eine schmerzhafte Empfindung gemacht, indem ich, als ich sie zur Correctur bekam, zum ersten Mal wieder ein imprimatur erblickte.“79 Für das Jahr 1821 wählte er die am 25. Juni 1820 gehaltene Predigt vom vierten Sonntag nach Trinitatis aus und begründete dies auf der Rückseite des Titelblattes mit der wiederholten Bitte um öffentliche Bekanntmachung.80 Dazu schrieb er in einem Begleitbrief an Blanc: „Es verhält sich damit wirklich so, wie auf der Rückseite des Titelblattes steht, und da ich sie schon lange auf dem Pult liegen hatte, so war es mir nun auch am nächsten, diese zu nehmen, und es ist gar nicht geschehen, um die Leute zu braviren81. [...] Neulich ist aus einer großen Gesellschaft eine junge Dame bei bloßer Nennung meines Namens weggegangen, und in einer andern hat man sich amüsirt, mit dem größten Ernst zu erzählen, ich lebe schlecht mit meiner Frau.“82 Diese Predigt über Apg 4,13–21 gehört in Schleiermachers Trinitatisreihe über die Entstehung und Entwicklung der christlichen Kirche. Sie betrachtet das in den weiteren Zusammenhang gehörige Bibelwort „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“83 als Grundsatz der christlichen Kirche und setzt dann in differenzierter Analyse auseinander, wie „bei demselben der nothwendige und heilsame Gehorsam gegen die Menschen sein volles Recht behält und daher [...] die bürgerliche Gesellschaft und menschliche Ordnung vollkommen ungefährdet läßt.“84 76

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Briefwechsel mit Gaß, S. 166; gemeint ist die Predigt vom 18. Oktober 1818 zum Gedenken an die Völkerschlacht 1815, vgl. KGA III/5; dazu ausführlich dort S. LVIII–LIX. Vgl. KGA III/1, S. LIII und S. 783; vgl. dazu auch KGA III/5, S. LXI Vgl. die Predigt vom 28. November 1819 vorm. (KGA III/5). Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 311 Vgl. die Predigt vom 25. Juni 1820, unten S. 222,5–9 Das heute ungebräuchliche Verb bravieren stammt aus dem Französischen und hat die Bedeutung ‚Trotz bieten‘. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 268; Schleiermacher als Mensch, Bd. 2, S. 320–321 Apg 5,29 Unten S. 224,8–12

XXVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

Die politisch-gesellschaftliche Situation direkt in den Blick nahm Schleiermacher jedoch ein Jahr später am 24. Juni 1821 in der Gedenkpredigt sechs Jahre nach der Schlacht von Waterloo, für die er die Verse 17–19 aus dem 4. Kapitel des 1. Petrusbriefs auswählte und sie damit unter das Thema Gericht stellte. Einen Anlass zum Jubeln sah er nicht, sondern brachte die Stimmungslage vieler Zeitgenossen zum Ausdruck, die auf eine neue gesellschaftliche Ordnung in Preußen nach den Befreiungskriegen gehofft hatten: die Unzufriedenheit darüber „daß überhaupt unsre gemeinsamen Angelegenheiten uns nicht scheinen so bedeutende Fortschritte gemacht zu haben, als wir nach so großen von Gott gesegneten Anstrengungen zu erwarten geneigt waren.“85 Auch diese Predigt war zur Publikation vorgesehen, wie die anfängliche Überarbeitung durch Schleiermacher zeigt. Die Totensonntagspredigt am 25. November 1821 in der Friedrichswerderschen Kirche über 1Joh 3,2–5 stellt den Kampf des Lebens gegen den Tod unter die ethische Betrachtung. Sie setzt in beiden Hauptteilen ein mit ausgeführten Analysen vom Umgang mit aktuellen Todeserfahrungen in zwei europäischen Ländern: mit den oft verlassenen Opfern hochansteckender Krankheiten, hier am Beispiel der Gelbfieberseuche in Barcelona, und den Toten im griechischen Befreiungskampf, dem lange Passagen gewidmet werden. Unter Spezifizierung der paulinischen Aussagen im 13. Kapitel des Römerbriefs beschreibt Schleiermacher die Bedingung, unter denen einer schwachen Obrigkeit nicht mehr zu gehorchen sei: „Ein Theil bricht bewaffnet auf, um sich loszumachen von dem unterdrückenden Sieger, bei dem kein gegebenes Wort gilt, und unter dem es keinen Zustand des Rechtes giebt, sondern nur einer Gewalt, gegen deren Mißbrauch auch der Gehorsam nicht schützt, geleitet und gesegnet von denen, die das göttliche Recht und den Dienst am göttlichen Worte unter dem unterdrückten Volke versehen, und allerdings mit Recht dafür haltend, daß da, wo der höchsten Obrigkeit die Macht fehlt, ihre untergeordneten Diener und Werkzeuge in den Schranken der Ordnung zu halten, auch das Wort nicht mehr gelten kann: ‚seyd unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat‘.“86 Diese Predigt publizierte Schleiermacher 1823 im Festmagazin.87 85 86

87

Unten S. 716,5–8 Unten S. 977,17–27; vgl. damit die Druckpredigt über Röm 13,1–5 vom 15. Januar 1809 „Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit“(KGA III/4, S. 3–15). Zu den Predigtpublikationen im Magazin von Fest- Gelegenheits- und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. J. F. Röhr/F. D. E. Schleiermacher/G. J. Schuderoff, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829, vgl. unten S. LXV–LXVI.

I. Historische Einführung

XXIX

Das Thema Folter wird anthropologisch und christologisch thematisiert in einer Predigt aus der Reihe über die letzten Worte des Erlösers am Kreuz vom 8. April 1821 über das Wort „Mich dürstet“ aus Joh 19,28–29, die Schleiermacher ebenfalls im Festmagazin 1823 veröffentlichte, für das er Predigten mit entweder formaler oder inhaltlicher Besonderheit auswählte88. In dieser Predigt reflektiert Schleiermacher das „kleinste [...] und scheinbar unbedeutendste“89 der letzten Worte Jesu, das merkwürdig „unbefangene Eingeständniß seines Bedürfnisses“90 und zeigt die kleinen Ansatzpunkte auf – denn am tödlichen Ausgang des Geschehens änderte sich ja nichts – unter denen es allein gelingen kann, das Böse mit Gutem zu überwinden. Indem Jesus sich an die Menschlichkeit der Folterer wendet und ihnen damit trotz allem die Möglichkeit zum Guten zutraut, äußert er in seinem Handeln91 ein Bewusstsein, das niemals den Glauben an die „ursprüngliche Gutmüthigkeit der menschlichen Natur“92 verliert, und so in den Menschen das Bewusstsein ihrer ursprünglichen Zusammengehörigkeit, religiös gesprochen: das Bewusstsein, Kinder Gottes zu sein, wieder hervorrufen kann93.

3. Vorbereitung der Gemeindeunion an der Dreifaltigkeitskirche Die lutherisch-reformierte simultan genutzte Dreifaltigkeitskirche war eine besondere Herzensangelegenheit des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. (1699–1740) gewesen und war 1739 eingeweiht worden. Der König hatte an beiden Festgottesdiensten teilgenommen, vormittags an dem reformierten und nachmittags an dem lutheri88 89 90 91

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Vgl. unten S. XLVIII Unten S. 588,3 Unten S. 589,11 Ohne dass im Rahmen dieser Einleitung auf die systematischen Bezüge der Schleiermacherschen Theologie näher eingegangen werden kann, ist an dieser Stelle exemplarisch darauf hinzuweisen, dass nicht ein bloß vorbildhaftes Handeln gemeint ist, sondern die Perspektive dessen, dessen volle Kräftigkeit des Gottesbewusstseins Ausdruck in seinem persönlichen Handeln findet und der die Menschen in die „Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins“ mit aufnimmt, vgl. dazu die christologischsoteriologischen Analysen bei Ulrich Barth: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleiermachers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1883 (Göttinger theologische Arbeiten, Bd. 27), S. 89–101, besonders S. 98, Punkt 5.22111. Unten S. 598,5 Vgl. unten S. 596,3–6

XXX

Einleitung der Bandherausgeberin

schen.94 Er selbst hatte der unter seinem direkten Patronat stehenden Kirche auch den Namen „Dreifaltigkeits-Kirche“ gegeben und ministerielle Vorschläge wie „Wilhelms-“ oder „Friedrichs-Kirche“ abgewehrt.95 Es war dies der Name des alten Berliner Doms gewesen, der ebenfalls der heiligen Dreifaltigkeit geweiht war und der ihn auf dem Weg zu einer reformierten Pfarrkirche verloren zu haben scheint.96 Zur Verwaltung richtete der König ein aus Mitgliedern beider Konfessionen bestehendes Oberkuratorium ein, das 1806 aufgelöst wurde. Am 28. September 1809 wurde ein Kirchenkollegium unter wechselndem Vorsitz der Geistlichen installiert.97 So war es auch dem Patronat geschuldet, dass Schleiermacher als Nachfolger des 1808 verstorbenen reformierten Predigers Karl Friedrich Thiele per Immediatbefehl des Königs Friedrich Wilhelms III. in einem Handbillet bestimmt wurde.98 Schleiermacher hatte die ganze Breite des pfarramtlichen Dienstes zu bewältigen.99 Er stand während seiner Amtszeit unter der Aufsicht mehrerer Superintendenten.100 94

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Der von ihm für den ersten Gottesdienst angeordnete alttestamentliche Predigttext Gen 28,17 war über dem Portal der Nordwand eingemeißelt: „Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anders, denn Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels“, vgl. Siegfried Lommatzsch: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Im Zusammenhange der Berliner Kirchengeschichte dargestellt. Festschrift zum Hundertundfunfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889. Vgl. Lommatzsch, Geschichte, S. 24–25 Vgl. Lommatzsch, Geschichte, S. 23. Beim ‚alten‘ Dom handelt es sich um den Vorvorgängerbau des jetzigen Berliner Doms: Aus der 1345 erstmals erwähnten Dominikanerkirche, ursprünglich zu Ehren St. Pauli gestiftet, wurde 1536 zu Ehren der Maria Magdalena ein Domstift und im Reformationsjahr 1539 eine lutherische Stiftskirche, die durch den Kurfürsten Joachim Friedrich der „hochgelobten Dreifaltigkeit” geweiht und in Kölln die oberste Pfarrkirche wurde. Im Jahr 1614 wurde die Dom- oder Dreifaltigkeitskirche von dem zum reformierten Bekenntnis übergetretenen Kurfürsten Johann Sigismund unter Entlassung des sich der Umwandlung des lutherischen Domstifts entgegenstellenden letzten Dompropstes Simon Gediccus den Angehörigen seines Bekenntnisses zum Gebrauch angewiesen und am Trinitatissonntag, dem 20. Juni, dem reformierten Kultus übergeben. Später wurde diese Kirche durch Friedrich II. zu Gunsten eines Neubaus im Lustgarten abgebrochen. Von 1717 bis zur Einweihung der neuen Domkirche 1750 durch den Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack fanden die Gottesdienste dieser Gemeinde in der französischen Kirche des Werders statt. Im Jahr 1812 wurde eine königliche Kommission zum Neubau eines ,kolossalen‘ Doms einberufen, für den die Wasserbauten im Spreebett hinter der Domkirche dann erst 1848 begannen, vgl. Friedrich Gustav Lisco: Zur KirchenGeschichte Berlins. Ein geschichtlich-statistischer Beitrag, Berlin 1857, S. 26–28. Vgl. Lisco, Kirchengeschichte, S. 71 Vgl. Heinrici, Twesten, S. 204; zum Verfahren vgl. KGA III/1, S. XLI. Den ausführlichen Einblick in die pfarramtliche Tätigkeit gibt Andreas Reich, Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, SchlA 12, Berlin/New York 1992. Vgl. Reich, Schleiermacher, S. 136–144

I. Historische Einführung

XXXI

Seinem altem Anliegen, die lutherische und die reformierte Kirche mögen sich vereinigen, bot sich – nach dem Impuls von 1817 in Preußen mit dem Unionsaufruf des Königs und den gemeinsamen Abendmahlsfeiern101 – im Jahr 1819 durch die freigewordene I. lutherische Pfarrstelle an der Dreifaltigkeitskirche die Möglichkeit zur Vereinigung der beiden rechtlich selbstständigen Dreifaltigkeitsgemeinden.102 Der designierte neue Amtsinhaber, Schleiermachers lutherischer Fakultätskollege Konrad Philipp Marheineke, konnte bereits an den Verhandlungen beider Gemeinden, die unter der Leitung der Superintendenten im April und Mai 1820 stattfanden, teilnehmen; er wurde am 8. Oktober 1820 auf der I. lutherischen Pfarrstelle in der Nachfolge Andreas Jakob Heckers eingeführt.103 Am 13. November 1820 wurden die „Vorschläge zur Vereinigung der beiden protestantischen Gemeinden hiesiger Dreifaltigkeits-Kirche“ schriftlich niedergelegt104, die Verfasserschaft Schleiermachers 101 102 103

104

Vgl. Amtliche Erklärung der Berlinischen Synode über die am 30. Oktober von ihr zu haltende Abendmahlsfeier, KGA I/9, S. LIV–LXIV und S. 173–188 Vgl. dazu KGA III/1, S. XLIV–XLV. Der seit 1791 auf dieser Stelle amtierende Andreas Jakob Hecker war 1819 gestorben. Die Dokumente der Verhandlungen befinden sich im GStA PK, X. HA Rep. 40, Nr. 876; Bl. 46r–47r enthalten als Beilage zu den Unionsvorschlägen den Predigtplan der Früh-, Vormittags- und Nachmittagsgottesdienste für 1821; vgl. KGA III/1, S. 783 – Einen Bericht über die Einführung Marheinekes bietet der Nachschreiber August Gemberg: „Evang. am 19. Sonntag n. Trin. (Doct. Marheineke wurde als Pastor der evang. Gemeine in Dreifalt. K. eingeführt von Superint. Küster, assistiert von Schleiermacher und Herzberg.) (Küster sprach salbungsvolle Worte an die Gemeine, pries als Segen der Kirche, daß ein so gelehrter und rechtschaffener Mann ihrem Dienst geweiht würde, erwähnte des würdigen Hecker, und verwies auf den herrlichen Bund mit dem würdigen Schleierm. und Herzberg, die den Zaun der evang. K. abbrechen wollten. Darauf redet er zu Marheineke, lehrt ihn seine Pflichten nicht, er mahnt bloß auf apost. Kirche, in schlichter Rede die ewige Wahrheit vorzutragen und Gott die Ehre zu geben. Marh. sagt das Ja auf die Frage des K., und er wurde eingeweiht durch Handauflegung der K. S. H., worauf K., dann S., dann H. Segensworte sprachen und K. beschloß.) Marh. predigte über die Perikope Matth 9, v. 1–8, wie Chr. den Gichtbrüchigen heilt, indem er ihm die Sünde vergibt, die das Uebel erzeugt. Dieser Text, meint M., begünstige seinen Gegenstand, er wolle sprechen von der urspr. und wahren Würde des geistlichen Amtes. Die beruhe einmal auf der Macht der Einsetzung von Xto und 2, auf dem Glauben der Christen. Die Macht, die Xtus den Aposteln und mithin allen Dienern der K. gegeben, sei a, die Macht des Geistes zu lösen und zu binden b, die Macht des göttlichen Wortes. Dazu aber bedürfe es des Glaubens der Gemeinen, ohne den sie nicht selig wären: Diesen Glauben wünscht M. seiner neuen Gemeine, damit sie an ihm vertrauungsvoll hänge, dann wäre es ihm Stärkung und Trost, das Amt zu verwalten, in dem er längst zu sterben gewünscht. Das Ganze war mystisch und ein katholischer Geist des Priesternimbus wehte hindurch. Auch ist die Predigt außer allem klaren Zusammenhang mit [dem] Text und bestand in abschweifenden Deklamationen.“ (SAr 52, Bl. 47r–47v) GStA PK, X. HA Rep. 40, Nr. 876, Bl. 40–44; vgl. KGA I/9, S. LXX; vermutlich

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Einleitung der Bandherausgeberin

des auf den 6. Dezember datierten Schreibens „An die Mitglieder beider zur Dreifaltigkeitskirche gehörigen Gemeinden“ ist als wahrscheinlich anzunehmen.105 Es erschien noch 1820 bei seinem Verleger Reimer im Druck, um „unsern lieben Gemeindegliedern alles dasjenige was sie selbst betreffen kann“ mitzuteilen und ihre Zustimmung einzuholen, damit „der ganze Vereinigungsentwurf unserer vorgesezten kirchlichen Behörde zur Genehmigung vorgelegt werden könne.“106 Es folgen dann, ausgehend von den bisher schon vorhandenen Gemeinsamkeiten, Ausführungen über die notwendigen Veränderungen zu Abendmahl, Gottesdienst, Taufen, Religionsunterricht, Kantor und Küster, Kirchengut und das Ansinnen der Parochialpflicht für die Reformierten, die außerhalb der Gemeinde wohnen. Jedem Gemeindeglied wird anheimgestellt, sich mit Fragen oder Bedenken an einen der Herren Superintendenten zu wenden.107 Am Silvestertag des Jahres 1820 konnte Schleiermacher dann in einem Brief vermelden: „Jetzt hat mich lange Zeit sehr ernsthaft die Union unserer beiden Gemeinen beschäftigt, die nun wirklich scheint zu Stande gekommen.“108 Schleiermacher predigte vormittags und nachmittags in der Regel in vierzehntägigem Wechsel. Im Gefolge der gemeindlichen Neuorganisation nach dem Tod Heckers übernahm Schleiermacher mit Beginn des Jahres 1821 statt des Nachmittags- den Frühgottesdiensttermin, was bedeutete, dass er jeden Sonntag um 7 Uhr oder um 9 Uhr in der Dreifaltigkeitskirche predigte.109 Notwendig gewordene Vertretungen führten dazu, dass er im Jahr 1821 häufig Gottesdienste in anderen Kirchen und dann den Nachmittagstermin in der Dreifaltigkeitskirche seltener als geplant übernahm.110

4. Der innere Aufbau der Predigtjahrgänge 1820 und 1821 Die reiche sowohl terminliche als auch textliche Bezeugung der Jahre 1820–1821 dokumentiert, wie sich Schleiermachers Predigttätigkeit

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ist wegen dieser „UnionsConferenz bei[m Superintendenten] Küster“ die Vorlesung über „Pädagogik ausgefallen“ (ABBAW, SN 441, Tageskalender 1820). KGA I/9, S. 203–210; dazu dort S. LXVII. Die 1820 selbstständig erschienene Druckschrift wurde 1846 in die „Sämmtlichen Werke“ (I/5) aufgenommen. KGA I/9, S. 206. KGA I/9, S. 206. Zum weiteren Verlauf vgl. KGA III/1, S. XLIV–XLVII und KGA III/7, S. X–XI. Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 269 Vgl. KGA III/1, S. XLII Vgl. GStA PK, X. HA Rep. 40, Nr. 876, Bl. 46r–47r. Angesichts seiner literarischen Projekte beklagte Schleiermacher brieflich den damit verbundenen Zeitmangel: „Dabei predige ich jezt bei den vielen Lücken und dem großen fast zudringlichen Vertrauen in dieser Hinsicht gar oft zweimal an einem Tage, wodurch mir die Sonn-

I. Historische Einführung

XXXIII

in Planung, Gestaltung und Durchführung auffächerte. Die Jahrgänge sind gleichsam durchkomponiert, wobei Schleiermacher, wenn es erforderlich war, von Planungen abweichen oder sie den unterschiedlichen Intentionen und Notwendigkeiten anpassen konnte, so es die Umstände wie Reisen, aktuelle Anlässe und Festzeiten erforderten111. Die primäre Orientierung erfolgte am Kirchenjahr und seinen Festen. Auch dem Zeitraum zwischen Ostern und Pfingsten widmete Schleiermacher entsprechende Bibeltexte oder Perikopen.112 Sodann liegen Einzelpredigten vor zu königlich verordneten Fest- und Gedenktagen wie Bußtagen, Erntefest, Totenfest und Schlachtengedenktagen. Die größte Anzahl der Predigten jedoch gehört den von Schleiermacher konzipierten zehn Predigtreihen an.113 Für diese Reihen nutzte Schleiermacher nicht nur die festlose Trinitatiszeit sowie den Frühpredigt- oder Nachmittagstermin für Homilien, sondern auch manche kleineren Zwischenräume im Kirchenjahr. Er verteilte seine Planungen entsprechend, so dass die Zuhörenden in der Dreifaltigkeitskirche je nach Gottesdienstzeit in eine kleinere oder größere Textoder Themenreihe mit hineingenommen wurden. Auch außerhalb der Predigtreihen stellte er, sich der Kontinuität eines Auditoriums bewusst, Querbezüge zu vorhergehenden Predigten her: „Es ist noch nicht lange her, meine geliebten Freunde, daß ich eben von dieser Stätte gewarnt habe vor einer Vergleichung unsrer selbst mit Andern, und manche, die hier zugegen sind und sich deßen wohl erinnern, sich vielleicht wundern, daß ich nun ein Wort der Schrift ergreife, um eben zu demjenigen zu ermahnen, wovor ich damals gewarnt habe.“114

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tage auch verloren gehen.“ (Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 27); vgl. dazu die Übersicht unten S. XLIII–XLVI Vgl. KGA III/1, Kalendarium, S. 880–898 1826 weist Schleiermacher in der Vorrede zum ersten Band seiner Festpredigten auf dieses Verfahren rückblickend hin und begründet, warum er diese Predigten nicht im engeren Sinn zu den Festpredigten zählt: „Dagegen scheint es mir eben so natürlich, daß die Vierzig Tage nach Ostern, früher auch eine besonders festliche Zeit, in unserer Kirche nicht mehr auf ähnliche Weise ausgezeichnet werden; und ohnerachtet ich manches Jahr hindurch in dieser Zeit nur über Geschichten aus den Tagen der Auferstehung gepredigt habe, schien es mir doch nicht sachgemäß, solchen Predigten hier einen Plaz anzuweisen.“ (Christliche Festpredigten Bd. 1, Fünfte Sammlung, Berlin 1826, S. 4, vgl. KGA III/2) Vgl. dazu die tabellarischen Übersichten der folgenden Abschnitte A. und B. In der kritischen, unter das Thema Gericht gestellten, Gedenkpredigt an die Schlacht von Waterloo, gehalten über 1Petr 4,17–19 am 24. Juni 1821 früh, unten S. 717,22–26, bezieht sich Schleiermacher zurück auf die Hauptpredigt an Cantate über Joh 21,15, die unter dem Thema „Ueber die Neigung sich mit Andern zu vergleichen“ ebenfalls zur Publikation vorgesehen war; vgl. dazu auch oben S. XXVIII.

XXXIV

Einleitung der Bandherausgeberin

Insgesamt können für jeden Jahrgang fünf Reihen nachgewiesen werden. Predigte Schleiermacher in lutherischer Vertretung oder in anderen Kirchen und deshalb, wie häufig im Jahr 1821, zweimal am Tag, dann legte er an diesen besonderen Terminen vorzugsweise das Evangelium oder die Epistel des jeweiligen Sonn- oder Feiertags aus.115 An Festtagen wählte er für den zusätzlichen Vertretungsgottesdienst in anderen Kirchen einen anderen Predigttext. Der vorliegende Band bildet nicht das vollständige Korpus der in den Jahren 1820–1821 gehaltenen Predigten ab, da zum einen für diesen Zeitraum Termine nachgewiesen werden können, zu denen keine Textzeugen vorliegen116, und weil zum anderen Schleiermacher vierzehn Festpredigten in seine Fünfte und Siebente Sammlung übernommen hat, die in KGA III/2 ediert werden117. Sie sind demzufolge 115 116

117

Vgl. dazu die Jahrgangsübersichten unten S. XXXVII–XXXIX und S. XLIII– XLVI. Es handelt sich um 27 Termine, darunter neun Vorbereitungspredigten und zwei Predigten aus Sondergottesdiensten zur Stadtverordnetenwahl; vgl. dazu das Kalendarium (KGA III/1, S. 880–898) und die folgenden Jahrgangsübersichten. Predigten. Fünfte und Siebente Sammlung (Christliche Festpredigten, Bd. 1–2), Berlin 1826–1833, vgl. KGA III/2. In die Siebente Sammlung nahm Schleiermacher auch Predigten zu den staatlich angeordneten Festtagen: Bußtag, Ernte- und Totenfest auf. Aus den Jahren 1820–1821 fanden Festpredigten folgender Termine Eingang in die beiden Sammlungen: 2. April 1820 vorm. Slg. 7, Nr. 14 „Wie das Bewußtsein des unver(Ostern) gänglichen den Schmerz über das Ende des vergänglichen besiegt“ 11. Mai 1820 vorm. Slg. 5, Nr. 14 „Das Ende der Erscheinung Chri(Himmelfahrt) sti mit dem Anfang derselben zusammengestellt“ 10. Dez. 1820 vorm. Slg. 5, Nr. 2 „Christus, der Befreier von der (Advent) Sünde und dem Gesetz“ 25. Dez. 1820 vorm. Slg. 7, Nr. 4 „Die Veränderung, welche seit der (Weihnachten) Erscheinung des Erlösers auf der Erde begonnen hat“ 18. März 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 8 „Die tröstliche Verheißung Christi (Passion) an seinen Mitgekreuzigten“ 1. April 1821 vorm. Slg. 7, Nr. 10 „Ueber den Gemüthszustand des (Passion) Erlösers in seinen lezten Stunden“ 15. April 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 9 „Der lezte Blikk auf das Leben“ (Passion) 20. April 1821 vorm. Slg. 7, Nr. 13 „Betrachtung der Umstände, wel(Karfreitag) che die lezten Augenblikke des Erlösers begleiteten“ 20. April 1821 nachm. Slg. 5, Nr. 10 „Christi leztes Wort an seinen (Karfreitag) himmlischen Vater“ 22. April 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 12 „Christi Auferstehung ein Bild un(Ostern) seres neuen Lebens“

I. Historische Einführung

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zum Gesamtspektrum der Jahrgänge hinzuzuziehen. Im Inhaltsverzeichnis des vorliegenden Bandes werden die entsprechenden Lücken am Folgetermin graphisch durch einen Circulus gekennzeichnet; in den tabellarischen Jahrgangsübersichten der beiden folgenden Abschnitte A. und B. sind die in die ‚Sammlungen‘ aufgenommenen Predigten, mit zwei Circuli versehen, an den jeweiligen Terminen mit aufgeführt. Zu dreien dieser genannten vierzehn von Schleiermacher literarisch bearbeiteten Predigten können im vorliegenden Band markant abweichende Nachschriften bzw. eine frühere literarische Bearbeitung durch Schleiermacher geboten werden.118 Terminlich bezeugt sind 144 Predigten.119 Zu 117 dieser Termine liegen Textzeugen vor. Abzüglich der vierzehn Festpredigten und zuzüglich der drei dazugehörigen Nachschriften werden im vorliegenden Band 106 Predigten ediert, von denen 46 Predigten im Jahr 1820 und 60 Predigten im Jahr 1821 gehalten wurden. A. Die Predigten des Jahres 1820 Nach der Neujahrspredigt über 1Petr 1,24–25 wählte Schleiermacher für die drei Vormittagspredigten bis zur Passionszeit Verse aus den Seligpreisungen aus und betrachtete diese im Hinblick auf die Bedenken und Zweifel, die sie zunächst erregen.120 Die Nachmittagspredigten führen die möglicherweise am 25. April 1819 begonnene121 Homilienreihe über den ersten Petrusbrief weiter, deren Überlieferung am Sonntag Laetare endet122.

16. Mai 1821 früh

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120 121 122

Slg. 7, Nr. 16 (Bußtag)

„Die Trennung der Gemüther, ein Vorzeichen des göttlichen Gerichts“ 10. Juni 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 15 „Daß die Erhaltung der christli(Pfingsten) chen Kirche auf dieselbe Weise erfolgt, wie ihre erste Begründung“ 17. Juni 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 17 „Wer und was gehört in das Reich (Trinitisfest) Gottes?“ 25. Dez. 1821 vorm. Slg. 5, Nr. 4 „Daß der Erlöser als der Sohn (Weihnachten) Gottes geboren ist“ Vgl. unten die Vormittagspredigten am 1. April 1821 zu Slg. 7, Nr. 10, am 17. Juni 1821 zu Slg. 5, Nr. 17 und am 25. Dez. 1821 zu Slg. 5, Nr. 4. Vgl. KGA III/1, Anhang (Kalendarium der überlieferten Predigttermine Schleiermachers), S. 880–898, dem auch die Angaben zu den Kasualien für diesen Zeitraum zu entnehmen sind. Vgl. unten vormittags am 9. Januar über Mt 5,4; am 23. Januar über Mt 5,5 und am 6. Februar 1820 über Mt 5,6. Vgl. dazu jedoch den Befund in KGA III/5, S. XXVIII. Vgl. unten nachmittags am 16. und 30. Januar, am 27. Februar und am 12. März 1820. Die Predigten vom 2. Januar und vom 13. Februar sind nur durch Tageska-

XXXVI

Einleitung der Bandherausgeberin

In der Passionszeit widmete Schleiermacher die drei Vormittagspredigten „Worten des Erlösers, in denen er selbst seinen Tod, das Nothwendige desselben und seine heiligen Folgen zum Gegenstande seiner Betrachtung und Mittheilung gemacht hat“123. Am Karfreitag predigte er in Verbindung mit 1Joh 3,5–6 über ausgewählte Worte des Erlösers am Kreuz124, die er sämtlich in der Passionszeit des darauffolgenden Jahres (1821) einer ganzen Reihe zu Grunde legte125. Für die Predigttexte von Ostern bis Pfingsten wählte Schleiermacher in diesen Zeitraum gehörende Bibelstellen aus.126 Von der Konfirmation am Nachmittag des Pfingstsonntags liegt nur die Predigt über Apg 10,44–48 vor, nicht aber die Einsegnungsrede. Die Nachmittagsreihe über den Jakobusbrief begann an Jubilate und endete am ersten Advent.127 Von den wahrscheinlich dreizehn Predigten sind nur zwei überliefert, diejenige vom dritten Sonntag nach Trinitatis nur als Fragment. Die zur Publikation vorgesehene Nachschrift der Trinitatispredigt über Gal 1,8 bietet den Beginn der Bearbeitung von Schleiermachers Hand und das Thema „Die Zulänglichkeit der christlichen Offenbarung für alle Zeiten“128. Den zwölf vormittäglichen Hauptpredigten der Trinitatiszeit liegen Texte aus der Apostelgeschichte zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche zu Grunde; sie wurden in einem der von Karl Leopold Adolf Sydow (1800–1882) besorgten Nachlassbände der Predigten in den „Sämmtlichen Werken“ abgedruckt.129 Bis auf diese und drei von Schleiermacher bereits publizierte Predigten130, von denen die Vormittagspredigt vom 4. Sonntag nach Trinitatis am 25. Juni 1820 als Einzeldruck zur Neujahrsgabe 1821 erschien131, werden alle

123

124 125 126 127

128 129

130 131

lender belegt, der Termin vom 26. März nur durch Ankündigung im Berliner Intelligenz-Blatt und in der Ordnung der Gottesdiensttermine an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin; vgl. dazu auch KGA III/1, S. LI und KGA III/5, S. XXVIII. Eingang der Predigt vom 20. Februar 1820 vorm., unten S. 50,6–9, vgl. unten vormittags am 20. Februar über Joh 12,24 sowie am 5. März über Joh 16,7 und am 19. März 1820 über Joh 12,32. Vgl. unten am 30. März 1820 nachm. Vgl. unten S. XL–XLII Vgl. oben S. XXXIII, Anm. 112 Vgl. unten nachmittags am 18. Juni und am 22. Oktober. Nur durch Tageskalender belegt sind der 23. April, der 7. Mai, der 16. und 30. Juli, der 3. und 27. August, der 10. September, der 8. Oktober, der 5. und 19. November und der 3. Dezember 1820. Predigt vom 28. Mai 1820 vorm., unten S. 180,2. Vgl. unten vormittags am 11. und 25. Juni, am 9., 23. und 30. Juli, am 6. und 20. August, am 3. und 17. September, am 15. und 29. Oktober und am 12. November 1821; vgl. Sämmtliche Werke, 2. Abteilung, Bd. 10 (SW II/10), S. 1–192. Vgl. unten vormittags am 7. Mai, am 4. Juni und am 25. Juni 1820. Vgl. dazu oben S. XXVII

I. Historische Einführung

XXXVII

Predigten aus diesem Jahrgang zum ersten Mal veröffentlicht. Von der Vorbereitungspredigt über Mt 5,13–16 und Einsegnung der acht Konfirmanden am 23. Dezember 1820 ist nur ein Bericht überliefert. Tabellarische Übersicht zum Aufbau des Jahrgangs 1820 Kasualientermine (mit Ausnahme der Taufe seines Sohnes Nathanael) sowie Termine, an denen Schleiermacher sich vertreten ließ, sind hier nicht aufgenommen. Termine von Vorbereitungsgottesdiensten werden nur in Verbindung mit einer Konfirmationshandlung aufgeführt. Die in KGA III/2 edierten Festpredigten aus der Fünften und Siebenten Predigtsammlung sind mit °° gekennzeichnet, zur Zuordnung vgl. die Liste in Anm. 117. Predigten ohne Textzeugen sind in eckige Klammern gefasst. Im Zeitraum zwischen Ostern und Pfingsten, den Schleiermacher der Auslegung entsprechender Bibeltexte oder Perikopen widmete, wird der Bibeltext nur in den Fällen angegeben, in denen er von Evangelium oder Epistel abweicht. Alle über den vorliegenden Band hinausgehenden Informationen sind KGA III/2 und dem Kalendarium (KGA III/1, S. 880–898) zu entnehmen. 1820

Vormittag

Nachmittag Neujahr bis zur Passionszeit

01.01.

Neujahrspredigt

02.01. 09.01.

[1. Petrusbrief; Forts.] Seligpreisungen und Bedenken

16.01. 23.01.

1. Petrusbrief Seligpreisungen und Bedenken

30.01. 06.02.

1. Petrusbrief Seligpreisungen und Bedenken

13.02.

[1. Petrusbrief] Passionszeit

20.02.

Jesus über seinen Tod

27.02. 05.03.

1. Petrusbrief Jesus über seinen Tod

12.03. 19.03.

1. Petrusbrief Jesus über seinen Tod

26.03.

[nur Terminzeuge]

31.03.

Karfreitagspredigt

XXXVIII 1820

Einleitung der Bandherausgeberin Vormittag

Nachmittag Ostern bis Pfingsten

02.04.

°°Osterpredigt I

[abends Taufe Nathanael]

03.04.

Osterpredigt II: Epistel

09.04.

Evangelium

16.04.

Anschluss an 9.4.

23.04.

[Jakobusbrief]

26.04.

Bußtagspredigt (lutherische Vertretung)

30.04.

1Kor 15,3–8

07.05.

Evangelium (Nikolaikirche)

11.05.

°°Himmelfahrtspredigt

14.05.

Apg 1,14

[Jakobusbrief]

21.05. 22.05.

Pfingstpredigt I: Konfirmation Pfingstpredigt II Trinitatiszeit

28.05.

Trinitatispredigt

04.06.

Evangelium (Friedrichswerderkirche)

11.06.

Entwicklung der Kirche

18.06.

Jakobusbrief

21.06.

[Stadtverordnetenwahlpredigt]

25.06.

Entwicklung der Kirche

02.07.

Evangelium (Domkirche)

09.07.

Entwicklung der Kirche

16.07.

Evangelium (lutherische Vertretung)

23.07.

Entwicklung der Kirche

30.07.

Entwicklung der Kirche

06.08.

Entwicklung der Kirche

[Jakobusbrief]

[Jakobusbrief]

I. Historische Einführung 1820

Vormittag

Nachmittag

13.08. 20.08.

[Jakobusbrief] Entwicklung der Kirche

27.08.

[Jakobusbrief]

03.09.

Entwicklung der Kirche

10.09.

Evangelium (Jerusalemskirche)

17.09.

Entwicklung der Kirche

01.10.

Erntefestpredigt

08.10. 15.10.

[Jakobusbrief] Jakobusbrief Entwicklung der Kirche

05.11. 12.11.

[Jakobusbrief] Entwicklung der Kirche

19.11. 26.11.

[Jakobusbrief]

Entwicklung der Kirche

22.10. 29.10.

XXXIX

[Jakobusbrief] Totenfestpredigt Advents- und Weihnachtszeit

03.12.

[Jakobusbrief]

10.12.

°°2. Adventspredigt

23.12.

Konfirmation (Bericht); mittags

24.12.

4. Adventspredigt

25.12.

°°Weihnachtspredigt I

26.12.

Weihnachtspredigt II

31.12.

Jahresschlusspredigt

B. Die Predigten des Jahres 1821 Am ersten Januar des Jahres 1821 notierte Schleiermacher in seinem Tageskalender: „Erste Frühpredigt üb Col 4, 1–6“ und fixierte seine Predigtplanungen der ersten Monate des neuen Jahres: „die 5 Hauptpredigten vor der Passionszeit sollen Fortsezungen von Weihnachten sein und die Frühpredigten von Neujahr nach dem Beispiel Christi.“132 Die fünf 132

ABBAW, SN 442, Tageskalender 1821

XL

Einleitung der Bandherausgeberin

Hauptpredigten, die Texte aus dem Zeitraum der Kindheit und Jugend des Erlösers behandeln, finden sich bisher verstreut in verschiedenen Jahrgängen des Festmagazins133; in der letzten Predigt vom 4. März 1821 erwähnt Schleiermacher den Abschluss der Reihe134. Die Predigten der Reihe von Frühpredigten nach Christi Beispiel sind bisher noch nicht veröffentlicht.135 Die Nachmittagspredigt vom 25. Februar 1821 (Sexagesimae) über 2Kor 11,1–2f ist nicht überliefert. In der Passionszeit nutzte Schleiermacher für eine Reihe alle ihm zur Verfügung stehenden Gottesdienstzeiten: früh, vormittags und nachmittags, um an den sechs Sonntagen und am Karfreitag über die sieben letzten Worte Christi am Kreuz zu predigen. Das Gesamtkorpus liegt nun erstmals vollständig vor. Hinweise auf das Vorhandensein einer Reihe fanden sich bisher nur in den Anmerkungen im ersten Band des Magdeburgischen Festmagazins, in das Schleiermacher zwei der Predigten zum Abdruck befördert hat.136 Vier der Predigten (vom 18. März, 1., 15. und 20. April an Reminiscere, Laetare, Palmarum und Karfreitag) hat er in die Fünfte bzw. in die Siebente Sammlung als Passions- bzw. als Karfreitagspredigten aufgenommen. Die Predigt vom 1. April (Laetare), die 1823 im Festmagazin gedruckt wurde, hat Schleiermacher für die Siebente Sammlung 1833 noch einmal überarbeitet. Die erste Predigt vom 11. März 1821 (Invocavit) und die dritte vom 25. März (Oculi) konnten nun aus den Nachschriften ergänzt werden. Die Invocavitpredigt enthält Schleiermachers Hinweis auf die geplante Reihe: Er habe für die nächsten Sonntage beschlossen, die „gemeinsame Erbauung aus den letzten Worten des Heilands am Kreuz 133

134 135

136

Vgl. unten vormittags am 7. Januar über Mt 2,1–10; am 21. Januar über Lk 2,28– 35; am 4. Februar über Mt 2,16–18; am 18. Februar über Mt 2,13–15 und am 4. März 1821 über Lk 2,41–49. Zum Abdruck im Festmagazin vgl. die Angaben jeweils im Predigtkopf. Vgl. unten Predigt vom 4. März 1821 vorm., Anm. 1 Vgl. unten früh am 1. Januar über Kol 4,2–6; am 28. Januar über Lk 6,6–11 und am 11. Februar 1821 über Lk 17,20–21; der 14. Januar über Lk 5,33ff ist nur durch den Tageskalender belegt. Die entsprechende nachträgliche Notiz Schleiermachers findet sich bei der Lücke im Nachschriftenkonvolut im Anschluss an die Predigtnachschrift vom 25. März 1821 (Oculi): „NB: Die zwei folgenden Predigten nach Magdeburg (ich weiß nicht aus wieviel Lagen)“. Im Festmagazin von 1823 wurde beim Druck die Reihenfolge vertauscht. Die Judica-Predigt vom 8. April mit der Anmerkung „Aus derselben Reihe, wie die vorige“ findet sich vor der Laetare-Predigt vom 1. April mit der Anmerkung „Aus einer Reihe von Predigten über die Worte Christi am Kreuz“. Johannes Bauer hatte sich um Rekonstruktion der Reihe bemüht, die fünf gedruckten Predigten identifiziert und andere ausgeschlossen, vgl. J. Bauer: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers. Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 4, Gießen 1808, S. 80.

I. Historische Einführung

XLI

Die Predigtreihe über die letzten Worte Christi am Kreuz Termin/Text

Wort am Kreuz

11.03.1821 früh Invocavit Lk 23,34

‚Vater, vergib ihnen: denn sie wissen nicht, was sie tun‘

18.03.1821 vormittags Reminiscere Lk 23,43

‚Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese sein‘

25.03.1821 früh Oculi Joh 19,26f

‚Siehe, das ist dein Sohn [...] Siehe, das ist deine Mutter‘

01.04.1821 vormittags Laetare Mt 27,46

‚Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen‘

Titel/Thema

KGA III Band 6 (Nachschrift; 1821)

„Die tröstliche Verheißung Christi an seinen Mitgekreuzigten“

Band 2 (Slg. 5, Nr. 8; 1826) Band 6 (Nachschrift; 1821)

„Passionspredigt“

Band 6 (Festmagazin; 1823)

„Ueber den Gemüths- Band 2 zustand des Erlösers (Slg. 7, Nr. 10; in seinen 1833) lezten Stunden“ 08.04.1821 vormittags Judica Joh 19,28f

‚Mich dürstet‘

„Passionspredigt“

Band 6 (Festmagazin; 1823)

15.04.1821 vormittags Palmarum Joh 19,30

‚Es ist vollbracht‘

„Der lezte Blikk auf das Leben“

Band 2 (Slg. 5, Nr. 9; 1826)

20.04.1821 nachmittags Karfreitag Lk 23,46

‚Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände‘

„Christi leztes Wort an seinen himmlischen Vater“

Band 2 (Slg. 5, Nr. 10; 1826)

XLII

Einleitung der Bandherausgeberin

gesprochen zu entnehmen. Indem wir sie uns der Reihe nach vorhalten wollen, lasset uns heute das Erste betrachten.“137 Die Nachschrift der Predigt an Oculi entstammt dem Konvolut des Hauptlieferanten Andrae, das sich in Schleiermachers Besitz befand. Auf die Invocavitpredigt konnte er hingegen nicht zurückgreifen, weil die Nachschrift ihm nicht vorlag.138 Dies ist möglicherweise ein Grund dafür, warum Schleiermacher die Reihe niemals als Ganzes veröffentlicht hat. Die Predigten der Oster- und Pfingstzeit sind wie gewöhnlich entsprechenden Bibeltexten oder der Auslegung der für diese Zeit vorgesehenen Perikopen gewidmet, wobei einige Nachschriften die Spuren von Schleiermachers Bearbeitung zeigen. Die Predigt vom 29. April 1821 (Quasimodogeniti) über Joh 20,22–23 bietet Einblick in die Art und Weise, wie Schleiermacher eine Nachschrift für die Publikation überarbeitete, sie wird sowohl in der von Schleiermacher nicht ganz fertiggestellten bearbeiteten Version als auch in der ihr zu Grunde liegenden Nachschrift geboten. Die Nachschrift der Hauptpredigt vom 20. Mai 1821 (Cantate) über die Frage des Auferstandenen an Petrus: ‚Hast du mich lieber, als mich diese haben?‘ (Joh 21,15) war wohl ebenfalls zur Publikation vorgesehen und trägt von Schleiermachers Hand das Thema „Ueber die Neigung sich mit Andern zu vergleichen“139. Am Vortag vor Pfingsten (Pfingstheiligabend) anlässlich der Konfirmation hielt Schleiermacher die Vorbereitungspredigt über Joh 17,20–23 mit anschließender Einsegnungsrede. Alle diese Predigten werden erstmalig veröffentlicht. Mit der Einordnung des Trinitatisfestes als „gleichsam ein Anhang“ zu Pfingsten und dem Festkreis gibt Schleiermacher am Beginn der Predigt über 1Kor 12,3–6 die Begründung für das Programm der Trinitatiszeit: über „das was wir im Reich Gottes zu tun haben“140, wozu in den zehn Hauptpredigten zur Jüngerschaft die „Anweisungen des Herrn an seine Jünger über ihren großen Beruf“, in deren Nachfolge die Christen stehen, herangezogen werden141. Die Hauptpredigten wurden in einem der von Adolf Sydow besorgten Nachlassbände der Predigten in den „Sämmtlichen Werken“ abgedruckt, außer derjenigen 137 138 139 140

141

Eingang der Predigt am 11. März früh, unten S. 546,4–7 Die Predigt im Konvolut von Woltersdorff wurde erst an die Nachlassherausgeber geliefert, vgl. KGA III/1, S. LX und SAr 121, Bl. 11r. Eingang der Predigt vom 20. Mai 1821 vorm., unten S. 638,22 Eingang der Predigt vom 17. Juni 1821 vorm., Slg. 5, S. 418–420. Die Predigt wurde in literarischer Bearbeitung von Schleiermacher unter dem Thema „Wer und was gehört in das Reich Gottes“ in der Fünften Sammlung als Nr. 17 abgedruckt (vgl. KGA III/2), sie wird im vorliegenden Band als Nachschrift geboten. Vgl. unten vormittags am 1., 15. und 29. Juli, am 12. und 26. August, am 8. und 23. September, am 21. Oktober und am 4. und 18. November 1821

I. Historische Einführung

XLIII

vom 15. Juli 1821, die Schleiermacher bereits unter dem Titel „Der Maßstab, wonach Jesus seine Jünger schätzt“ publiziert hatte.142 Anknüpfend an die Intention dieser Hauptpredigten fand die Reihe der sieben Frühpredigten über den „Beruf der Christen“ anhand des zweiten Petrusbriefes statt143 – der verspätete Beginn dieser Reihe mit einmaligem Ausweichen auf den Nachmittag am dritten Sonntag nach Trinitatis war nötig geworden, weil am 24. Juni das Gedenken der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 abzuhalten war. Auch die Nachschrift dieser Gedenkpredigt wurde anfänglich von Schleiermacher bearbeitet. Die Reihe über den zweiten Petrusbrief wird zum ersten Mal veröffentlicht, ebenso die drei Nachmittagspredigten über die Episteln144, die vier Evangelienpredigten in anderen Kirchen145 und die erste Totensonntagspredigt früh in der Dreifaltigkeitskirche. Gleiches gilt für die Predigten der Advents- und Weihnachtszeit – bis auf diejenige vom dritten Advent, die als Einzeldruck vorliegt, und die des ersten Weihnachtstages, die Schleiermacher in seine Fünfte Predigtsammlung aufnahm; sie wird im vorliegenden Band als Nachschrift geboten146. Die zweite Totensonntagspredigt, die Schleiermacher in der Friedrichswerderschen Kirche vormittags hielt, publizierte er 1823 im Festmagazin.147 Tabellarische Übersicht zum Aufbau des Jahrgangs 1821 1821

Frühpredigt

Vormittag

Nachmittag

Neujahr bis zur Passionszeit 01.01.

Christi Beispiel

07.01. 14.01. 21.01. 142 143 144 145 146 147

Forts. von Weihnachten [Christi Beispiel] Forts. von Weihnachten

Vgl. SW II/10, S. 195–334 Vgl. unten am 8. Juli nachmittags und früh am 22. Juli, am 5. und 19. August, am 16. September, am 14. Oktober und am 11. November 1821 Vgl. unten nachmittags am 5. August, am 2. September und am 28. Oktober 1821 Vgl. unten vormittags am 22. Juli, am 19. August, am 16. September und am 28. Oktober 1821 Vgl. „Daß der Erlöser als der Sohn Gottes geboren ist“ (Slg. 5, Nr. 4, vgl. KGA III/2); vgl. dazu auch oben S. XVII. Vgl. zu ihren Aussagen auch oben S. XXVIII.

XLIV

Einleitung der Bandherausgeberin

1821

Frühpredigt

Vormittag

28.01.

Christi Beispiel

Evangelium (Friedrichswerderkirche)

04.02. 11.02.

Nachmittag

Forts. von Weihnachten Christi Beispiel

18.02.

Evangelium (Domkirche) Forts. von Weihnachten

25.02.

[Chr. Beispiel]

04.03.

Forts. von Weihnachten Passionszeit

11.03.

Letzte Worte

18.03. 25.03.

°°Letzte Worte Letzte Worte

01.04. 08.04.

Evangelium (Luisenkirche)

Letzte Worte/ °°Literarische Bearbeitung Letzte Worte

15.04.

°°Letzte Worte

20.04.

°°Karfreitagspredigt (Domkirche)

°°Letzte Worte

Ostern bis Pfingsten 22.04. 23.04.

°°Osterpredigt I Osterpredigt II

29.04.

Joh 20,22–24

13.05. 16.05.

Lk 24,44–47 °°Bußtagspredigt

20.05.

Joh 21,15

27.05.

Joh 21,18

31.05. 03.06.

Himmelfahrtspredigt Apg 1,14

09.06.

Vorbereitungspredigt mit Einsegnungsrede (mittags)

10.06.

°°Pfingstpredigt I

I. Historische Einführung 1821

Frühpredigt

11.06.

Pfingstpredigt II

Vormittag

XLV Nachmittag Epistel (Gertrudenkirche)

Trinitatiszeit 17.06.

Jüngerschaft/ °°Literarische Bearbeitung

20.06.

[Wahlpredigt]

24.06.

Gedenken Waterloo

01.07.

Jüngerschaft

08.07.

2. Petrusbrief

15.07. 22.07.

Jüngerschaft 2. Petrusbrief

29.07. 05.08.

Jüngerschaft 2. Petrusbrief

12.08. 19.08.

Evangelium (Domkirche) Epistel (luth. Vertretung) Jüngerschaft

2. Petrusbrief

Evangelium (Luisenkirche)

26.08.

Jüngerschaft

02.09.

[Evangelium (Neue Kirche)]

09.09.

Jüngerschaft

16.09.

2. Petrusbrief

23.09. 14.10.

Evangelium (Nikolaikirche) Jüngerschaft

2. Petrusbrief

21.10.

Jüngerschaft

28.10.

Evangelium (Domkirche)

04.11.

Jüngerschaft

11.11. 18.11.

Epistel

2. Petrusbrief Jüngerschaft

Epistel

XLVI

Einleitung der Bandherausgeberin

1821

Frühpredigt

Vormittag

25.11.

Totenfestpredigt (1Kor 15,55–58)

Totenfestpredigt (1Joh 3,14) (Friedrichswerderkirche)

Nachmittag

Advents- und Weihnachtszeit 02.12

09.12.

1. Adventspredigt (Lk 1,76–79) 2. Adventspredigt

16.12.

3. Adventspredigt

25.12.

Weihnachtspredigt I/ °°Literarische Bearbeitung

26.12. 30.12.

1. Adv.-predigt (Röm 8,31–32) (Domkirche)

Weihn.-predigt II Jahresschlusspredigt

5. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten Von Schleiermachers Predigtdrucken aus den Jahren 1820 und 1821 liegen vierzehn Festpredigten in seiner Fünften (1826) und Siebenten (1833) Sammlung, zwei als Einzeldrucke (1821 und 1822) und vierzehn in verschiedenen Bänden des Festmagazins (1823–1825 und 1829) vor.148 Eine Überschneidung gibt es nur bei der Passionspredigt vom 1. April 1821, die Schleiermacher 1823 im Festmagazin publizierte und zehn Jahre später für seine Siebente Sammlung erneut bearbeitet hat. Über die literarische Rezeption der Fünften und Siebenten Sammlung wird in KGA III/2 berichtet.149 148

149

Vgl. dazu die chronologischen Auflistungen der in den Sammlungen publizierten Predigten, oben S. XXXIV–XXXV, Anm. 117 und der im Festmagazin abgedruckten Predigten, unten S. LXV–LXVI, Anm. 185. Einzeln veröffentlicht wurden die Vormittagspredigten vom 25. Juni 1820 und vom 16. Dezember 1821. Die genaueren Nachweise für alle diese Angaben finden sich im Kopftext der jeweiligen Predigten. Zu drei der Predigten, die Schleiermacher in seine Sammlungen übernommen hat, werden im vorliegenden Band Nachschriften geboten. Für Rezensionen ihrer literarischen Bearbeitung vgl. ebenfalls KGA III/2. Es handelt sich um die Vormittagspredigten vom 1. April 1821 (Slg. 7, Nr. 10), 17. Juni 1821 (Slg. 5, Nr. 17) und 25. Dezember 1821 (Slg. 5, Nr. 4).

I. Historische Einführung

XLVII

Rezensionen zu Predigten des vorliegenden Bandes betreffen diejenigen Kanzelreden, die Schleiermacher im „Magazin von Fest-, Gelegenheits- und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“ veröffentlichte. Aus den Jahren 1820 und 1821 publizierte Schleiermacher dort fünf Predigten im ersten Band, vier im zweiten Band, vier im dritten Band und eine im sechsten Band – alle in loser, nicht chronologischer Reihenfolge.150 Besprechungen liegen vor für den ersten (1823), zweiten (1824) und dritten (1825) Band.151 Das Magazin wurde ab 1823 in ‚Neuer Folge‘ von Johann Georg Jonathan Schuderoff, Johann Friedrich Röhr und Schleiermacher her150

151

Folgende Predigten aus den Jahren 1820–1821 wurden im Magazin von Festpredigten abgedruckt (Reihenfolge nach Bänden): 4. März 1821 vorm. Bd. 1, 1823, S. 231–251 „Christus im Tempel; ein Vorbild für uns in unsern christlichen Versammlungen“ 25. Nov. 1821 früh Bd. 1, 1823, S. 252–265 „Am Todtenfeste 1821“ 8. April 1821 früh Bd. 1, 1823, S. 266–282 „Passionspredigt“ 1. April 1821 vorm. Bd. 1, 1823, S. 283–303 „Passionspredigt“ (Von dem Gemüthszustande des Erlösers in seinen letzten Stunden) 7. Mai 1820 vorm. Bd. 1, 1823, S. 304–320 „Ueber die Erhörung des Gebetes im Namen Jesu“ 4. Juni 1820 vorm. Bd. 2, 1824, S. 213–233 „Ueber das Verlangen nach Kenntniß von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben“ 11. Febr. 1821 vorm. Bd. 2, 1824, S. 234–252 „Ueber die Verklärung Christi“ 11. März 1821 vorm. Bd. 2, 1824, S. 282–296 „Die Versuchung Christi in Anwendung auf unsern Zustand betrachtet“ 7. Jan. 1821 vorm. Bd. 2, 1824, S. 314–327 „Die Sehnsucht nach dem Besseren“ 21. Jan. 1821 vorm. Bd. 3, 1825, S. 229–240 „Was unsere Wehmuth erregt bei der Entwickelung der heilsamen Rathschlüsse Gottes“ 4. Febr. 1821 vorm. Bd. 3, 1825, S. 241–256 „Bild des Frevels, welcher die Fortschritte des Christentums aufzuhalten sucht“ 15. Juli 1821 vorm. Bd. 3, 1825, S. 257–276 „Der Maßstab, wonach Christus seine Jünger schätzt“ 8. Juli 1821 nachm. Bd. 3, 1825, S. 277–288 „Ueber unsere Theilnahme an der göttlichen Natur“ 18. Febr. 1821 vorm. Bd. 6, 1829, S. 301–320 „Die erste merkwürdige Rettung des Erlösers“ In den Fällen, in denen der Rezensent auf einzelne Predigten Schleiermachers Bezug nimmt, wird im Zitat zur leichteren Identifizierung zusätzlich der Predigttermin in eckigen Klammern beigefügt. Die Angaben des Rezensenten von Band und Seitenzahl im Festmagazin (z. B. „Th. 2, S. 213–214“) können mit Hilfe der obigen Liste und der Seitenzahlen des Drucks, die als Marginalien der jeweiligen edierten Predigt beigegeben sind, aufgefunden werden.

XLVIII

Einleitung der Bandherausgeberin

ausgegeben, weil nach dem Tod Gottfried August Ludwig Hansteins die Mitherausgeber Rulemann Friedrich Eylert und Johann Heinrich Bernhard Dräseke (1774–1849) von einer weiteren Mitarbeit Abstand genommen hatten. Es diente sowohl als homiletisches Anschauungsbuch für Kandidaten des Predigtamtes und jüngere Prediger als auch zum privaten Gebrauch, so dass dem Magdeburger Verleger Heinrichshofen daran gelegen war, die 1799 von Konrad Gottlieb Ribbeck (1757–1826) begründete Reihe fortzuführen. Schleiermacher war das Vorhaben in zweierlei Hinsicht letztlich willkommen; er beschrieb seinem Freund Gaß die Genese der Trias und seine Intention: „Die Genossenschaft des Magazins ist wol größtentheils durch die Buchhandlung entstanden, und es hat dabei keiner etwas zu vertreten als seine eigne Arbeit. Heinrichshofen trug mir die Redaction an, was ich ablehnte und ihm Schuderoff vorschlug als in solchen Dingen gewandt, und da ich gefragt wurde, ob ich etwas gegen Röhr hätte, wollte ich auch nicht Nein sagen. Es wird so oft gefabelt von einer Kirchentrennung zwischen Supranaturalisten und Rationalisten und überhaupt so viel Absonderung getrieben, dass ich denke, man muss sich auf jede Weise die sich darbietet für das Gegentheil aussprechen. Nebenbei werden doch nun manche Leute meine Predigten lesen, die sie sonst nicht zu sehen bekämen. Da das ganze doch am meisten für angehende Geistliche berechnet ist: so habe ich mir vorgenommen, vorzüglich solche Predigten hineinzugeben die etwas eigenthümliches haben, sei es nun dem Inhalt oder der Form nach [...]“152. Seine theologische Positionierung bringt er bezogen auf die Rezeption seiner Dogmatik durch die Kollegen zum Ausdruck: „Mein College Röhr hat sich nun in seiner Predigerzeitung über meine Dogmatik gemacht, ich habe aber nichts gelernt aus seiner Kritik. Das sophistische Gewäsch in der Hall. Lit.-Zeitung ist von einem Freunde Schuderoff’s, demselben Böhme, der neulich auch gegen Ammon geschrieben hat. So bin ich also ziemlich verkauft zwischen meinen Mitherausgebern, und freue mich nur, dass man doch diesmal nicht sagen kann, Profete rechts, Profete links, das Weltkind in der Mitte.“153 Die Rezensenten der ersten Bände des Magazins widmen sich vorrangig der Bedeutung des Mediums und der neuen Herausgeberkonstellation und gehen seltener auf einzelne Predigten ein. In den Ergänzungsblättern des Rezensionsorgans „Allgemeine Literatur-Zeitung“ 152 153

Brief vom 20. Dezember 1823, in: Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 318 Brief vom 20. Dezember 1823, in: Aus Schleiermacher’s Leben, Bd. 4, S. 318–319; zur Röhrschen Rezension vgl. KGA I/7.1, S. XLIV; zur Rezension Böhmes vgl. dort S. XL–XLI. – Der frei zitierte Vers stammt aus Goethes Gedicht ‚Diner zu Coblenz im Sommer 1774‘; 1815 wurde es mit dem Titel ‚Zwischen Lavater und Basedow‘ gedruckt. – Vgl. zu Schleiermachers Haltung auch unten S. LVI.

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wird im August 1823 der erste Band des Magazins unter der Rubrik ‚Predigerwissenschaften‘ besprochen154. Der Rezensent begrüßt die Wahl der neuen Herausgeber, verzichtet aber auf „eine genauere und eines jeden Einzelnen Vortragsweise charakterisirende Beurtheilung“, da „Röhr’s Freymüthigkeit und gewandte Beredsamkeit, Schleiermachers’s Scharfsinn und höhere Combinationsgabe und Schuderoff’s würdevoller Ernst, verbunden mit vorzüglicher Klarheit im Vortrage schon anderweitig allgemein bekannt“155 seien. Auch die „Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung“ bietet in ihren Ergänzungsblättern 1824 eine Rezension des ersten Bandes des Festmagazins. Darin wird betont, dass der Wechsel der Herausgeberschaft letztlich Kontinuität bedeute, denn die neuen Verantwortlichen beseele bei aller Verschiedenheit „dieselbe Freymüthigkeit, dieselbe Ehrfurcht für das Christenthum, derselbe Eifer für die Wahrheit, für Tugend und Gottesfurcht, dasselbe Streben, erbaulich und zeitgemäß zu predigen, um wahres praktisches Christenthum zu befördern.“156 Zu Schleiermachers Predigten äußert sich der mit „7.4.5.“ zeichnende Rezensent vergleichend: Es „unterscheiden sich diese von den Predigten der beiden ersteren Mitarbeiter durch ihre Länge und durch eine mehr ruhige als lebhafte, mehr philosophische, als populäre Darstellung. Aber auch ihnen fehlt keinesweges der christliche und biblische Charakter, welcher christlichen Predigten eigen seyn soll, und wenn es nicht an Zuhörern fehlt, die in ihrem Nachdenken ausdauernd dem Vf. folgen können: so müssen diese, von der edlen Freymüthigkeit desselben zeugenden Vorträge bleibende und gesegnete Eindrücke zurücklassen.”157 Im Theologischen Literaturblatt zur Allgemeinen Kirchenzeitung werden mit Erscheinen des zweiten Bandes 1824 die beiden ersten Bände des Magazins rezensiert. In der Besprechung wird hervorgehoben, dass der Verleger mit der Wahl der neuen Herausgeber „Einsicht“ und „richtigen Tact“ gezeigt habe. Dies biete die Möglichkeit zum Vergleich dreier verschiedener Denkungsarten, wobei Röhr und Schuderoff sich mehr oder weniger zu den Grundsätzen des Rationalismus bekennten. Man versuche, trotz der Schwierigkeit, die einzelnen Prediger kurz zu charakterisieren, eine Beurteilung: „Die Predigten von Schleiermacher scheinen uns die tiefsten und – wenn wir uns des Ausdruckes bedienen dürfen – die gelehrtesten, weniger zur Er154 155 156 157

Allgemeine Literatur-Zeitung 1823, Bd. 4. Die Ergänzungsblätter enthaltend, Nr. 88, Sp. 703–704 Allgemeine Literatur-Zeitung 1823, Sp. 704 (ohne Hervorhebungen) Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1824, Nr. 35, Ergänzungsblätter, Sp. 275– 278, hier Sp. 276 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1824, Sp. 278

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Einleitung der Bandherausgeberin

bauung, als zum Studium geeignet“158. Der Rezensent sieht davon ab, auf einzelne Aussagen Bezug zu nehmen, um die Gesamtkunstwerke nicht zu zerstören, und empfiehlt statt dessen von jedem Prediger einige ausgewählte „nach Inhalt oder Form ausgezeichnete“ Kanzelreden einer eingehenden Lektüre, so von Schleiermacher: „Christus im Tempel, ein Vorbild für uns in unseren christlichen Versammlungen“ (4. März 1821), „Von dem Gemüthszustande des Erlösers in seinen letzten Augenblicken“ (1. April 1821), „Ueber die Erhörung des Gebetes im Namen Jesu“ (7. Mai 1820), „Ueber das Verlangen nach Kenntniß von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben“ (4. Juni 1820), „Ueber die Verklärung Christi“ (11. Februar 1821 vormittags) und „Die Sehnsucht nach dem Besseren“ (7. Januar 1821).159 Ausführlicher und differenzierter geht der mit „E.“ zeichnende Rezensent 1825 im „Journal für Prediger“ vor, der ebenfalls die beiden ersten Bände des Festmagazins bespricht.160 Auch er knüpft an die Geschichte des Magazins an und attestiert den neuen Herausgebern, „daß der Verstand in ihren Vorträgen die Herrschaft hat, wiewohl er bei Schuderoff besonders mit Kraft und Witz, bei Röhr mit Unbefangenheit und Wärme, bei Schleiermacher mit Witz und Scharfsinn, sie führt; daß sie demnach alle drei keineswegs zu den sogenannten gemüthlichen Predigern unserer Tage gehören, und besonders von dem Mysticismus und schwärmerischen Wesen eines Theils der Zeitgenossenschaft weit entfernt sind, wenn auch Schleiermacher im Ganzen mehr, als die beiden andern, das Dunkel in Gedanken und Ausdruck zu lieben scheint.”161 Ausgehend vom äußeren Umfang, betont der Rezensent: „Und wenn man gleich, nach dem engen Drucke, die Schleiermacherschen öfters zu lang finden mag, so sind sie dies doch wahrlich nicht etwa durch Weitschweifigkeit in Worten, vielmehr durch ihre Gründlichkeit und Ausführlichkeit, wenn man diese auch nicht von einer gewissen Weitschweifigkeit in den Gedanken, wozu jene leicht führen können, freisprechen kann.”162 Schleiermachers Predigten seien „mehrentheils, ihrem ganzen Bau nach, Homilien und das zum Theil selbst da, wo ein bestimmtes Thema abgehandelt wird, wie [in der Predigt vom 4. Juni 1820] Th. 2, S. 213 u. f.: ‚daß wir uns hier ohne nähere Kenntniß von jener Welt und ohne Gemeinschaft mit denen, die uns dorthin vorangegangen sind, behelfen sollen,‘ – 158 159 160 161 162

Theologisches Literaturblatt. Zur Allgemeinen Kirchenzeitung 1824, Nr. 21 (20. August 1824), Sp. 169–172, hier Sp. 170 Theologisches Literaturblatt 1824, Sp. 171 Journal für Prediger, 1825, Bd. 66, Erstes Stück, S. 89–99 Journal für Prediger, 1825, S. 90–91 (ohne Hervorhebungen) Journal für Prediger, 1825, S. 91–92

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was man schon aus dem Thema selbst sieht, das eigentlich zwei ausmacht.“163 Hinsichtlich der „übrigen Einrichtung oder inneren Oekonomie der Vorträge“164 schreibt der Rezensent: „Schleiermacher aber schließt zwar auch gewöhnlich den Eingang unmittelbar an den Text, und an jenen dann das Thema an, und unter den 14 Vorträgen, die in beiden Theilen von ihm vorkommen, finden wir nur 4 Ausnahmen, da er noch einen ganz kurzen Eingang dem Texte voranschickt; aber das Thema wird, da die Vorträge selbst eigentlich Homilien sind, zum Theil weitschweifig und unbestimmt ausgedrückt, zum Theil sehr willkührlich abgetheilt und behandelt. Wer mag [in der Vormittagspredigt vom 25. November 1821] aus den Worten: ‚nur daran wissen wir, ob wir in dem gemeinsamen Kampfe zwischen Leben und Tod gegen unsere dahin gegangenen Brüder die Pflichten der Gemeinschaft erfüllt haben, wenn bis an den letzten Augenblick ihres Lebens in dem ganzen heiligen Umfange des Worts die Liebe thätig gewesen ist,‘ das eigentliche Thema klar erkennen? (Th. 1, S. 253). Oder (Th. 2, S. 255) aus folgenden andern [Worten der Vormittagspredigt vom 11. Februar 1821]: ‚was er zuerst sagt, das giebt uns die Aufforderung zu einer allgemeinen Freude in Beziehung auf alle unsere Entschlafenen; was er aber hernach sagt, zu einer besondern Freude an denjenigen, welche in dem lebendigen Glauben an ihn gelebt, und nach seiner Verheißung hier schon das ewige Leben genossen haben?‘ Welches wäre hier das Thema? – Und wie weitschweifig ist das alles gesagt. – Wie willkührlich aber der Verf. das Thema behandelt, davon giebt jedes ein Beweis. – [In der Predigt vom 4. März 1821] Th.1, S. 232 wird Christus im Tempel als Vorbild für uns in den christlichen Versammlungen dargestellt, und dabei 1) erwogen, daß er überhaupt mit solchem Eifer da verweilte, wo Schriftgelehrte und Pharisäer auf dem Stuhle Mosis saßen, und 2) daß er sich dort auf Fragen und Antworten mit ihnen einließ. – [In der Predigt vom 7. Mai 1820] S. 305 wird über die Erhörung des Gebets im Namen Jesu geredet und es wird zuerst gesehen, an welche Bedingungen der Erlöser seine Verheißung knüpft, und zweitens auch auf den Inhalt dieser Verheißung selbst genauer Acht gegeben. (Der Logik nach musste wenigstens der letzte Theil der erste seyn, da man doch wohl eine Sache eher kennen muss, ehe man die Bedingungen anführt, unter welchen sie Statt findet. Am wichtigsten aber war zuerst der Begriff eines Gebets im Namen Jesu zu erörtern, und dann dessen Erhörlich163 164

Journal für Prediger, 1825, S. 92 (ohne Hervorhebungen). Zu den Stellenangaben der Rezensenten vgl. oben Anm. 151. Ebd.

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keit darzuthun.) – [In der Predigt vom 4. Juni 1829] Th. 2, S. 216 soll gezeigt werden, daß wir uns hier ohne nähere Kenntniß von jener Welt, und ohne Gemeinschaft mit denen, die uns dorthin vorangegangen sind, behelfen sollen; und dabei wird 1) erwogen, daß es außer der im Evang. (vom reichen Manne etc.) erwähnten Ursach noch andere, besser begründete für uns zu jenem Wunsche nicht giebt, und dann 2) daß wir uns in Absicht auf die einzigen, von der in der Erzählung des Erlösers die Rede ist, vollkommen beruhigen können. – [In der Predigt vom 7. Januar 1821] S. 315 wird die Sehnsucht nach dem Bessern zuerst an und für sich, und dann in ihrer Beziehung auf Christum betrachtet. Doch wir gestehen bei diesem allen, daß diese Schleiermacherschen Vorträge die gehaltreichsten unter allen hier vorkommenden sind. Der Verf. wendet hier alle seine bekannte Kunst, die Materien bis aufs Kleinste auszuspinnen, ganz an, und daher findet man Gedanken an kleinen Umständen in den Texten angeknüpft, und diese zu Gedanken und Anwendungen geleitet, die ungemein anziehend und treffend sind. Man lese jeden Vortrag, um sich davon zu überzeugen. Welche Menge der überraschendsten und lehrreichsten Bemerkungen findet man z. B. in der Predigt [vom 4. März 1821] welche Christus als Muster für unsere christlichen Versammlungen darstellt, über das Verhalten Jesu nach den mannichfaltigsten Ansichten desselben! Welchen Reichthum von feinen Wahrnehmungen aus dem menschlichen Herzen und Leben in der Predigt [vom 11. März 1821] über die Versuchung Jesu in Anwendung auf uns! – Es ist in einer jeden ein solches Gedränge von Gedanken, dass jeder dem gewachsene Prediger, der sie studiert, – und das wollen sie seyn – sie mit Interesse weiter für sich benutzen wird. Aber dreierlei ist zu beklagen: einmal, daß die Schreibart des Verfs. nicht nur schwerfällig und schleppend, sondern auch der ganze Ton dieser Vorträge ein trockener, der Ton eines bloßen Raisonnements über ihren Gegenstand ist, was denn freilich auch das Ganze mehr als eine Predigt ist; daß man zu dem anziehendsten und fruchtbarsten Gedanken durch lange Wendungen und wortreiche Texterörterungen geführt wird, die das Gefühl zum voraus erschlaffen; und daß diese Gedanken dann entweder nur kurz hingegeben, nur angedeutet, oder so dunkel und wo nicht oft un-, doch schwerverständlich vorgetragen werden, daß die Mühe des Verfs., die er sich darum giebt, gewiß bei vielen Lesern und bei noch mehrern Hörern verloren sein muß.“165 Die „Allgemeine Literatur-Zeitung“ rezensiert in ihren Ergänzungsblättern 1825 den zweiten Band des Magazins166, der neben der 165 166

Journal für Prediger 1825, S. 92–96 (ohne Hervorhebungen; Absatz beseitigt) Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1825, Bd. 4. Die Ergänzungsblätter dieses Jahrgangs enthaltend, Halle/Leipzig 1825, Nr. 5, Januar 1815, Sp. 37–40

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Fachwelt besonders denjenigen zur Privaterbauung anempfohlen wird, „die an dem mystischen Getändel unsrer Zeit keinen Geschmack finden.“167 Während einzelne Aussagen der beiden anderen Herausgeber in dieser Hinsicht zum Gegenstand ausführlicher Würdigung gemacht werden, wird aus Raumgründen darauf verzichtet, aus den Vorträgen des „scharfsinnigen“ Schleiermacher eine beträchtliche Anzahl von Stellen anzuführen, die „in anderer Art den Leser ins Interesse zu ziehen vermögen“168. Im „Journal für Prediger“ knüpft der mit „E.“ zeichnende Rezensent in seiner Besprechung des dritten Bandes 1825 an seine im Wesentlichen positive Beurteilung der ersten beiden Bände an, nimmt jedoch kritischer einzelne Formulierungen der Prediger in den Blick. Von den Vorträgen Schleiermachers findet nur diejenige vom 21. Januar 1821 über Lk 2,28–35 Erwähnung. Sie dient als Beispiel für die schon früher beanstandete Schwerfälligkeit der Formulierungen: „Gleich die erste Predigt hat das Thema: das Wehmüthige, welches die Entwickelung des göttlichen Heils auf Erden begleitet. Wie sonderbar ausgedrückt und wie unverständlich! Und eben so schwerfällig ist auch der Vortrag. Man höre nur den Anfang: ‚Auch jene Geschichte, schon aus der Kindheit unseres Erlösers, die wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung machten, hatte zugleich bei dem Erfreulichen etwas Wehmüthiges, wie nämlich schon die erste Frage nach dem neugebornen Könige der Juden, in dem die Nachricht von seiner Erscheinung auf Erden Einige erfreute und beglückte und Andern zu unerwarteter Verwunderung gereichte, auch Einem zur Sünde ausschlug.‘(?)“169 Die Kritik des Rezensenten liegt auch begründet in Schleiermachers Verfahren, für das Magazin einzelne Predigten aus dem Zusammenhang ihrer thematischen Reihe herauszulösen170, wodurch den späteren Rezipienten der Bezugsrahmen fehlte: So gehört die Predigt vom 21. Januar 1821 zur Predigtreihe in „Fortsetzung von Weihnachten“ und schließt an die Predigt vom 7. Januar 1821 „Die Sehnsucht nach dem Besseren“ an. Diese aber war bereits 1824 im zweiten Band des Festmagazins abgedruckt worden. Das „Theologische Literaturblatt“ zur Allgemeinen Kirchenzeitung liefert 1826 eine ausführliche Rezension der ersten vier Bände 167 168 169 170

Allgemeine Literatur-Zeitung 1825, Sp. 38 Allgemeine Literatur-Zeitung 1825, Sp. 40 Journal für Prediger 1825, Bd. 67, Zweites Stück, S. 270–272, hier. Sp. 272 (Hervorhebung im Original) Zu Schleiermachers Vorgehensweise vgl. oben S. XLVIII. Die zwölf Predigten aus dem Jahr 1821 verteilen sich unter Absehung der Chronologie auf die Bände 1–3 und 6 (1823–1825 und 1829).

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Einleitung der Bandherausgeberin

des Festmagazins.171 Der mit „P. p.“ zeichnende Rezensent stellt seine Besprechung in einen ausführlich entwickelten theologischen Rahmen, in dem er sein Verständnis der homiletischen Kunst darlegt, nämlich die Verbindung der beiden Elemente des Lehrens in der Gemeinde: der Schrifterklärung und der Schriftanwendung. Die erste führe die Hörer zu Christo hin, in der zweiten führe der Redner „Christum in die Mitte seiner Gemeinde, auf dass sie [...] gestärkt, zum äußeren Leben zurückkehren.“172 Beim Vergleich der drei Prediger hinsichtlich dieses Grundsatzes spreche man „wohl nur das allgemeine Urtheil aus in der Anerkennung, daß Herr D. Schleiermacher ihn am treuesten und gelungensten befolgt hat; wer aber auch zugleich auf seine seit dem Jahre 1799 zuerst und seitdem in mehreren Zwischenräumen herausgegebenen, Predigten zurücksieht, wird finden, wie er sich eben diesem Grundsatze immer mehr genähert und ihn hier auf diese Weise angewendet hat, wobei kaum Etwas zu wünschen übrig bleibt, woraus sich abnehmen läßt, daß dieser ausgezeichnete, das ganze Gebiet der Theologie und der Kirche umfassende Geist ihn auch wohl selbst für den anerkennt, der obenanzustellen und dessen Befolgung keinem Diener am göttlichen Worte zu erlassen ist.“173 Zum Beweis führt der Rezensent neben Predigten Schleiermachers aus anderen Jahren diejenige vom 15. Juli 1821 „über den Maßstab, wonach Jesus seine Jünger schätzt“, vom 8. Juli 1821 „über unsere Theilnahme an der göttlichen Natur, sowie „mehrere Passionspredigten“ vom 1. und 8. April 1821 und die Predigt „am Todtenfeste“ vom 25. November 1821 an. Im Fortgang der Besprechung entwickelt der Rezensent zwei weitere Vergleichspunkte: Christlichkeit und technische Ausführung. Für den ersten Punkt entnimmt er, Schleiermachers Glaubenslehre referierend, die Unterscheidung zwischen der Lehre Christi und der Lehre von Christo, und anschließend die Unterscheidung von Christus als Lehrer und als Erlöser auf, um dann Schleiermachers – die beiden anderen Prediger ergänzende – Einzelposition festzustellen: „In den Schleiermacher’schen Reden nämlich bezieht sich Alles auf die höhere Würde Christi und auf die Kraft seiner versöhnenden Liebe, als von welchen beiden Alles ausgeht und wodurch jeder Gedanke Stellung, Ton und Farbe erhält. Dadurch entsteht ihm ein vester Zusammenhang, in welchem alle Vorträge untereinander stehen, dadurch die überreiche Gedankenfülle, welche eine wiederholte Lesung nothwendig macht, dadurch die stäte Beziehung alles Einzelnen auf das Reich 171 172 173

Theologisches Literaturblatt 1826, Nr. 75 (20. September 1826), Sp. 609–615 Theologisches Literaturblatt 1826, Sp. 611 Theologisches Literaturblatt 1826, Sp. 612 (ohne Hervorhebungen)

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Gottes und auf die geistige Gemeinschaft der Christen untereinander und mit Christo, dadurch endlich neben der großen Ruhe in einigen, die kräftigste Bewegung in anderen, wie in der [Vormittagspredigt vom 11. Februar 1821] über die Verklärung Christi“174. Die beiden anderen Prediger hingegen betonten Christus als den Lehrer, was bei den Festpredigten nicht ganz zu billigen sei. Zum technischen Vergleichsprinzip heißt es, wiederum an Schleiermacher anknüpfend: „Hr. Schleiermacher befolgt auch hierin den nur allein geltenden Grundsatz, daß, wie sich in allen Darstellungen Gehalt und Gestalt gegenseitig bedingen, so auch in jeder Predigt Anordnung und Gedankengang durch die behandelte Schriftstelle und durch den daraus abgeleiteten Hauptgedanken allein richtig bestimmt werden können.“175 Sprachlich wisse sich jeder der drei Prediger mit ausgebildeter Geschicklichkeit zu bewegen. Wer über die häufigen langen Perioden der Sätze Schleiermachers klage, den lässt der Rezensent wissen, dass Schleiermacher frei predige und lediglich die von Hörern nachgeschriebenen Texte für den Druck überarbeite: „Das ist nur seltenen, reichbegabten Geistern beschieden; wir wünschen, die evangelische Kirche hätte deren viele – wahrlich sie bedarf ihrer.“176 Die Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1827 bringt in ihren Ergänzungsblättern unter der Rubrik „Erbauungsschriften“ eine Besprechung des zweiten, dritten und vierten Bandes des Festmagazins.177 Von Schleiermacher heißt es positiv, in seinen „Vorträgen wehet derselbe philosophische, minder populär, jedoch freymüthig sich aussprechende Geist, welcher die Predigten des ersten Bandes auszeichnete.“178 In differenzierter Stellungnahme bemerkt der mit „7.4.5“ zeichnende Rezensent zum dritten Band: „Unter den Schleiermacherschen Predigten sind einige homilienartig ausgearbeitete Vorträge, welche sich durch Berücksichtigung der Erscheinungen und Bedürfnisse der Zeit und durch Benutzung des mehrseitigen Materials des Textes für die Einheit der Darstellung empfehlen, und von tiefer Kenntniß des menschlichen Herzens sowohl, als der Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens, zeugen. Aber manche sind doch zu philosophisch und unverständlich für die Kanzel, auf welcher immer die Mischung vor Augen zu behalten ist, welche unter den Zuhörern stattfindet, gesetzt auch, diese wären in der Mehrzahl ganz gebildet.“179 Als Beispiel wird genannt die Predigt über Lk 16,19–31 vom 4. Juni 1820 174 175 176 177 178 179

Theologisches Literaturblatt 1826, Sp. 613–614 Theologisches Literaturblatt 1826, Sp. 614 Theologisches Literaturblatt 1826, Sp. 614–615 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Nr. 216, November 1827, Sp. 285–288 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1827, Sp. 285 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 1827, Sp. 286 (ohne Hervorhebungen)

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„Ueber das Verlangen nach Kenntniß von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben“. Diese Predigt ist jedoch im zweiten Band abgedruckt, so dass davon auszugehen ist, dass die Kritik sich nicht nur auf den dritten Band bezieht. Nach Erscheinen des dritten Bandes formulierte Schleiermacher in einem Brief an den Grafen Alexander zu Dohna-Schlobitten (1771– 1831) seine Einschätzung der Dreierkonstellation irenischer als zu Beginn der gemeinsamen Herausgeberschaft180: „Unserer Freundin übergebe ich auch für Sie ein Exemplar von dem 3. Bande des Magazins. Ich weiß wol, daß Sie Ihren Ärger daran haben; aber wenn Sie doch meine erbaulichen Productionen nicht ganz verschmähen, so bitte ich zu bedenken, daß ohne diesen Impuls von allen diesen Predigten auch keine einzige würde gedruckt sein. Und so lassen Sie mich immer zwischen diesen beiden Männern stehen, deren Ansichten freilich gar sehr von den meinigen abweichen, die es aber doch in ihrer Art ernst und tüchtig meinen und jezt grade durch ihre Polemik gegen das entgegengesezte Extrem auch eine sehr nüzliche Wirksamkeit ausüben.“181

II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze182 zur Textgestaltung (1.) und zur Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).

1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung für alle Textzeugen werden für Manuskripte spezifiziert und zwar in einem abgestuften Verfahren. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe 180 181

182

Vgl. oben S. XLVIII Brief vom Juni 1825, in: Schleiermachers Briefe an die Grafen Dohna, ed. J. T. Jacobi, S. 81. Die Botin, der Schleiermacher den dritten Band des Festmagazins (1825) mitgab, war Henriette Herz, die auch häufig Abschriften von Schleiermachers Predigten nach Schlobitten sandte oder mitnahm. Im Besitz der gräflichen Familie Dohna befanden sich auch der zweite (1824) und der vierte (1826) Band (vgl. Hildebert Schellhorn, Bücherverzeichniß der Majoratsbibliothek von Schlobitten, Berlin 1858, S. 45). Vgl. KGA III/1, S. IX–XX

II. Editorischer Bericht

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und Predigtverschriftungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege. A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben. b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z. B. für Abkürzungen oder Ordnungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Für Schleiermachers Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand formuliert die Regel B.n. einige Sonderfälle. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C.g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck)

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Einleitung der Bandherausgeberin

oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammengehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Leichte Ersichtlichkeit von einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit von neuen Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft. g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln. B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird gegebenenfalls im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigt-

II. Editorischer Bericht

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überschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im editorischen Kopftext der Predigt, in den Apparaten oder im Abkürzungsverzeichnis. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: PnochS) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: PauchS) oder PnochS) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A.e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine größere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lücken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden, wenn sie zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammengefasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben.

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Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben. j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z. B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge offensichtlich ein bestimmtes Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer. n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der inten-

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dierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt. C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln: a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollständige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt. j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher

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in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt. D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.183 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z. B. „Johannes sagt in seinem Bericht …“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen. E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt – ausgenommen sind die gedruckten ‚Sammlungen‘ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte ‚Entwürfe‘ (vgl. KGA III/3) – wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie gegebenenfalls über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und gegebenenfalls den Namen der Autoren/Tradenten von Nachschriften charakterisiert. 183

Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: Schleiermacher, KGA I/15, S. 637–912

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Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird gegebenenfalls über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten gegebenenfalls über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen. F. Liederblätter Die von Schleiermacher für die Berliner Dreifaltigkeitskirche herausgegebenen Liederblätter, soweit sie den edierten Predigten zugeordnet werden können, werden am Predigtende anhangsweise als Lesetext ohne textkritische Nachweise und ohne Literatur- und Sacherläuterungen mitgeteilt.

2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen von Textzeugen möglichst augenfällig machen. A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals gegebenenfalls mit Fußnoten, gegebenenfalls Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abge-

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Einleitung der Bandherausgeberin

grenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt. B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften fremder Hand graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen eigenhändigen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift (Myriad) mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Textzeugen wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich (|) markiert; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Müssen bei Textzeugenvarianten zu derselben Zeile zwei oder mehr Seitenzahlen notiert werden, so werden sie nach der Position der Markierungsstriche gereiht. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat. c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten ‚Sammlungen‘ und ‚Reihen‘ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht.

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e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.

3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen Die Predigten liegen als von Schleiermacher autorisierte Drucktexte oder als Nachschriften fremder Hand vor, wobei einige der Nachschriften teilweise von Schleiermachers Hand bearbeitet wurden. Gemäß den editorischen Grundsätzen werden zur augenfälligen Unterscheidung die Nachschrifttexte in serifenloser Schrift von der Grundschrift Sabon (Schleiermachertexte: recte; editorische Mitteilungen: kursiv) abgehoben. Allgemeine Informationen zur Überlieferungslage und zu den Nachschreibern und Tradenten finden sich in der Einleitung zur III. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe, wo auch kurze Biogramme gegeben werden.184 A. Schleiermacher-Texte Der vorliegende Band enthält sechzehn von Schleiermacher autorisierte Drucktexte, von denen vierzehn im Festmagazin185 und zwei 184 185

Vgl. KGA III/1, S. LIV–LXXV Aus den Jahren 1820–1821 veröffentlichte Schleiermacher im Festmagazin die folgenden Predigten: 7. Mai 1820 vorm. Bd. 1, 1823, S. 304–320 „Ueber die Erhörung des Gebetes im Namen Jesu“ 4. Juni 1820 vorm. Bd. 2, 1824, S. 213–233 „Ueber das Verlangen nach Kenntniß von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben“ 7. Jan. 1821 vorm Bd. 2, 1824, S. 314–327 „Die Sehnsucht nach dem Besseren“ 21. Jan. 1821 vorm. Bd. 3, 1825, S. 229–240 „Was unsere Wehmuth erregt bei der Entwickelung der heilsamen Rathschlüsse Gottes“

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Einleitung der Bandherausgeberin

als Einzeldrucke186 veröffentlicht wurden. Außerdem bietet er einige von Schleiermachers Hand in unterschiedlichem Umfang interlinear bearbeitete Nachschriften.187 In diesen Fällen wurde – jeweils der Nachschrift voranstehend – der von Schleiermacher bearbeitete Teil als Autograph ediert. Genauere Aufschlüsselung findet sich im Kopftext der jeweiligen Predigt. An folgenden Terminen liegt dem edierten Text eine von Schleiermacher selbst zum Druck gegebene Predigt zu Grunde188: 07.05.1820 04.06.1820 25.06.1820 07.01.1821 21.01.1821 04.02.1821 11.02.1821 18.02.1821

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

04.03.1821 11.03.1821 01.04.1821 08.04.1821 08.07.1821 15.07.1821 25.11.1821 16.12.1821

vorm. vorm. vorm. früh nachm. vorm. vorm. vorm.

B. Andrae-Nachschriften Die Nachschriften Johann Gottfried Andraes189 bilden den Hauptteil der in diesem Band edierten Predigten. Seine Texte finden sich sowohl 4. Febr. 1821 vorm.

186 187 188 189

Bd. 3, 1825, S. 241–256 „Bild des Frevels, welcher die Fortschritte des Christentums aufzuhalten sucht“ 11. Febr. 1821 vorm. Bd. 2, 1824, S. 234–252 „Ueber die Verklärung Christi“ 18. Febr. 1821 vorm. Bd. 6, 1829, S. 301–320 „Die erste merkwürdige Rettung des Erlösers“ 4. März 1821 vorm. Bd. 1, 1823, S. 231–251 „Christus im Tempel; ein Vorbild für uns in unsern christlichen Versammlungen“ 11. März 1821 vorm. Bd. 2, 1824, S. 282–296 „Die Versuchung Christi in Anwendung auf unsern Zustand betrachtet“ 1. April 1821 vorm. Bd. 1, 1823, S. 283–303 „Passionspredigt“ 8. April 1821 früh Bd. 1, 1823, S. 266–282 „Passionspredigt“ 8. Juli 1821 nachm. Bd. 3, 1825, S. 277–288 „Ueber unsere Theilnahme an der göttlichen Natur“ 15. Juli 1821 vorm. Bd. 3, 1825, S. 257–276 „Der Maßstab, wonach Christus seine Jünger schätzt“ 25. Nov. 1821 früh Bd. 1, 1823, S. 252–265 „Am Todtenfeste 1821“ Einzeln veröffentlicht wurden die Vormittagspredigten vom 25. Juni 1820 und vom 16. Dezember 1821. Vgl. unten am 28. Mai 1820 vorm., am 29. April 1821 vorm. und am 24. Juni 1821 früh Als Vorlagen dienten Nachschriften von Andrae, vgl. den folgenden Abschnitt B. Zur Person Andraes vgl. KGA III/1, S. LXIII.

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im Schleiermacher-Nachlass im Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (ABBAW, SN) als auch im Schleiermacher-Archiv (SAr) des Verlages de Gruyter, jetzt Depositum 42a der Staatsbibliothek zu Berlin (SBB). In letzterem sind seine Nachschriften doppelt vorhanden, zum einen lose als Einzelüberlieferung (Mappe 73) bzw. als Konvolut (Mappe 74–81.83–93.95), zum anderen in Bandform (Mappe 100–105). Sie reichen von 1820 bis 1826, jedoch weist eine Liste für die Nachlassherausgeber schon Nachschriften ab 1816 aus.190 Das Andrae-Konvolut ist Teil der Sammlung der Witwe Schleiermachers (Mappe 74–99). Weitere der Andrae-Tradition zugerechnete anonyme Nachschriften finden sich im Fürstlichen Hausarchiv Dohna-Schlobitten (FHDS, Karton 34, Nr. 101–105), das im Geheimen Staatsarchiv in Berlin deponiert ist, sowie im Predigtband des Nachlasses 481 in der Berliner Staatsbibliothek (Nl. 481).191 SBB, SAr 74–81: Die Manuskripte enthalten 61 Predigten aus der Zeit vom 20. Februar 1820 bis zum 9. Dezember 1821 reinschriftlich auf lose ineinandergelegten Doppelblättern, die häufig Datierungsnotizen von Schleiermachers Hand und vom Nachlassherausgeber der Predigten Karl Adolf Sydow tragen. Für die erste Hälfte des Jahres 1821 läßt eine zweimal unterbrochene Lagenzählung, die bis zur Lage 101 reichte (es fehlen die Lagen 6–42 und 47–62), den Rückschluss zu, dass der Bestand urspünglich umfänglicher gewesen sein muss. Von der Vormittagspredigt vom 7. Januar ist nur noch das Titelblatt auf der Rückseite der vorangegangenen Nachschrift der Neujahrspredigt vorhanden; so ist anzunehmen, dass die Predigtnachschrift als Grundlage der Publikation im Festmagazin 1823 diente und auch die weiteren sechs Predigten aus diesem Zeitraum von Schleiermacher auf der Basis dieser Nachschriften im Festmagazin veröffentlicht wurden. Darauf deutet auch die nachträgliche Notiz auf der Neujahrspredigt 1821 von Schleiermachers Hand, „bis Anfang der Passionszeit”, hin, die er wohl bei Sichtung des Nachschriftenkonvoluts vorgenommen hat, denn die erste Lücke fällt in den Zeitraum der Epiphaniaszeit bis zum Sonntag Oculi. Am Ende der Frühpredigt vom 25. März 1821 findet sich eine Notiz, aus der hervorgeht, dass Schleiermacher die beiden folgenden Predigten zum Druck im Magazin von Festpredigten nach Magdeburg geben hat. Die Vormittagspredigt vom 29. April 1821 bietet eine begonnene Überarbeitung durch Schleiermachers Hand, ebenso die Frühpredigt vom 24. Juni 1821. Aus diesem Befund 190 191

Vgl. SAr 120, Bl. 1r–1v Vgl. dazu aber auch unten S. LXXVII–LXXIX

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Einleitung der Bandherausgeberin

geht hervor, dass das Andrae-Konvolut Schleiermacher selbst vorgelegen hat; er hat daraus für seine Predigtpublikationen geschöpft. SBB, SAr 100–101: Die gebundenen Andrae-Nachschriften liegen für die Jahre 1820 bis 1824 als Halbleder-Bände vor, die teilweise gebrochen sind. Mappe 100 umfasst den Zeitraum Trinitatis bis Totensonntag 1820, Mappe 101 den Zeitraum von Trinitatis bis Totensonntag 1821. Adolf Sydow, dessen Datierungsnotizen sich auch hier finden, hat ohne Namensnennung für die Nachlass-Ausgabe der Predigten in den „Sämmtlichen Werken“ auf Nachschriften aus den Andrae-Bänden zurückgegriffen192, was aus dem Vergleich mit den vorhandenen und hier edierten Predigten des Andrae-Konvoluts hervorgeht, aber auch aus Lücken, die sich in den aufgebrochenen Andrae-Bänden finden.193 Dies belegen zudem häufig die Titelblätter der Vorlagen, die im Band verblieben, weil sie sich auf der Rückseite der vorangehenden Predigt befanden. Das auffälligste äußerliche Merkmal der identifizierten AndraeNachschriften ist die Schreibweise des Wortstammes ‚khrist-‘. Die durch Schleiermachers Sichtung und Bearbeitung dokumentierte Nähe des Andrae-Konvoluts, das als Teil der Sammlung der Witwe Schleiermachers an den Nachlassherausgeber Jonas und über ihn an Sydow gekommen ist, hat Vorrang gegenüber den Andrae-Bänden, deren Orthographie im Ganzen der heutigen näher ist, die aber häufiger aufgrund von aberratio oculi die weniger vollständige Nachschrift bieten. Die parallele Überlieferung in den Andrae-Bänden konnte häufig zur Korrektur von Versehen in Anspruch genommen werden. Die gelegentlich auftretende eigentümliche Schreibweise ‚hir‘ wurde durch ‚hier‘ ersetzt. ABBAW, SN 603/1: Diese Signatur tragen die Nachschriften der ersten drei Vormittagspredigten des Jahres 1820 vom 1., 9. und 23. Januar, wobei letztere bereits mit dem Textverlust des Mittelteils ins Archiv Eingang fand und entsprechend foliiert wurde. Die anonymen Nachschriften aus dem Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften lassen sich nach Schreiber, Machart und Gehalt eindeutig dem Tradenten Andrae zuordnen. Auch war der gleiche Korrektor tätig, der im Andrae-Konvolut Lese-, Schreib- und Verständnisfehler berichtigt und z. T. auch Ergänzungen vorgenommen hat. Sie gehören zu einer Gruppe von Predigtnachschriften, die 192 193

Vgl. SW III/10, S. 1–334 Für die umfassende Rekonstruktion der Andrae-Überlieferungsstränge vgl. KGA III/1, S. LXX–LXXI.

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sich ursprünglich in der Majoratsbibliothek von Schlobitten befanden, aber dann als nicht auffindbar galten.194 Der quer dazu stehende Sachverhalt, dass im Verzeichnis der Majoratsbibliothek von den drei Nachschriften jedoch nur die erste der Vormittagspredigten vom 1. Januar 1820 gelistet (Nr. 2155 im Verzeichnis) und unzutreffend mit dem Zusatz „(Nicht ganz vollst.)“ beschrieben wird, könnte dann dahingehend zu verstehen sein, dass alle drei Nachschriften, die jetzt im Archiv unter einer Signatur zusammengefasst sind, bereits in Schlobitten eine Einheit bildeten, so dass irrtümlich der zuoberst liegenden Nachschrift die Unvollständigkeit zugeordnet wurde. Sodann berichtet Schleiermacher im Frühjahr 1820 in einem Brief an den Grafen Alexander zu Dohna, dass er nach Schlobitten habe Predigten schicken wollen, der Abschreiber von „recht guten Nachschriften“ habe jedoch die Seiten des laufenden Jahrgangs durcheinandergebracht, so dass man von vorn anfangen müsse.195 Dies erklärt auch die neu einsetzende Paginierung in der parallelen Andrae-Einzelüberlieferung zur Vormittagspredigt vom 9. Januar 1820 (SAr Mappe 73)196 und das Auffinden von Nachschriften der Andrae-Tradition, die sich außerhalb des Andrae-Konvoluts und der Andrae-Bände erhalten haben, von anderer Hand erstellt wurden und später in den Schleiermacher-Nachlass des Akademiearchivs gelangt sind.197 Folgende stillschweigende Auflösungen von Abbreviaturen wurden vorgenommen: und mit

u. t.

ABBAW, SN 597/2: Ein mögliches Beispiel für die eben erwähnte Sonderüberlieferung ist die anonyme Nachschrift der Vormittagspredigt vom 19. März 1820. Wie die unter SN 603/1 beschriebenen Ma194

195

196 197

Sie trägt die Signatur der Bibliothek (7,3b); vgl. Hildebert Schellhorn, Bücherverzeichniß der Majoratsbibliothek von Schlobitten, Berlin 1858, S. 43; vgl. dazu Bauer, Ungedruckte Predigten, S. 8 und KGA III/1, S. LXXI. Vgl. Schleiermachers Briefe an die Grafen zu Dohna, ed. J. T. Jacobi, Halle 1887, S. 71–75, hier S. 75; der undatierte Brief wird dort dem Zeitraum April bis September 1820 zugeordnet (S. 72), lässt sich aber für April/Anfang Mai 1820 vermuten, da Schleiermacher erwähnt, dass ein Bändchen Predigten (gemeint ist die Vierte Sammlung) im Begriff ist, an den Buchhandel ausgeliefert zu werden (S. 74–75): Die Vorrede der Vierten Predigtsammlung trägt das Datum vom 13. April 1820; erschienen ist die Sammlung vermutlich Anfang Mai 1820 (vgl. KGA III/1, S. 629 und dort S. CVII). Vgl. KGA III/1, S. LXXIV Vgl. KGA III/1, S. LXXI

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Einleitung der Bandherausgeberin

nuskripte stammt sie aus dem Zeitraum, in dem Abschriften in Unordnung geraten waren. Sie ist von anderer Hand erstellt, trägt aber unter der Nr. 2158 die gleiche Signatur (7,3b) im Verzeichnis der Majoratsbibliothek198 wie andere Manuskripte des Akademiearchivs, die vermutlich zum ehemaligen Bestand der Majoratsbibliothek Schlobitten gehörten. Die Leittextentscheidung für dieses Manuskript unbekannter Hand liegt darin begründet, dass sie gegenüber der Alternative Gemberg (SFK 10) inhaltlich ausführlicher ist und zudem stilistisch eher den Duktus der freien Rede wiedergibt. Das Manuskript führt eine Lagenzählung 1–4 (Bl. 1r, 5r, 9r, 13r); die Schreibweise ‚christlich/khristlich‘ differiert blattweise, deutet also auf einen Zusammenhang mit der Andrae-Tradition hin. Die Nachschrift weist häufiger Verwechslungen von Dativ- und Akkusativendungen und gelegentlich die von ‚das‘ und ‚daß‘ auf. Häufig fehlen die Umlautzeichen oder die Trennstriche am Ende einer Zeile, und gelegentlich wurde das zweite Anführungszeichen unten gesetzt. In allen diesen Fällen wurden den editorischen Grundsätzen entsprechend Korrekturen oder Ergänzungen stillschweigend durchgeführt. Folgende stillschweigende Auflösung einer Abbreviatur wurde vorgenommen: und

u.

SBB, Nl. 481(Predigten): Der in Leder gebundene Band mit Rahmenprägung und dem Signet SvS in Gold enthält auf 132 Blättern eine Sammlung von zehn Nachschriften und zweier gedruckter Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1817–1822 mit einer elften Nachschrift als fadengeheftete Einlage (Blatt 123–132). Die einzelnen Nachschriften haben differierende Formate, die teilweise mit Goldschnitt versehen sind, und unterschiedliche, aber mehrfach auftretende Schreiberhände. In den Zeitraum des vorliegenden Bandes fallen die Nachschriften der Vormittagspredigten vom 12. November 1820 und vom 25. Dezember 1821. Letztere wird gemäß der Maßgabe der starken Anlehnung an eine identifizierte Nachschrift der Andrae-Tradition zugeordnet199, jedoch als Leittext gegenüber der parallelen Andrae-Sonderüberlieferung (SAr, Mappe 73) bevorzugt200. Durch die nachträgliche Bindung sind gelegentlich die Buchstaben am

198 199 200

Vgl. Schellhorn, Bücherverzeichniß, S. 43 Vgl. KGA III/1, S. LXIII Zur Differenz vgl. unten II.3.G.

II. Editorischer Bericht

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Ende einer Zeile in den Bund geraten, konnten aber erschlossen werden. Der eingebundene Einzeldruck der Vormittagspredigt vom 25. Juni 1820 bietet auf der letzten Seite in Klammern den Hinweis: „Die sonst gewöhnlich der zur Neujahrsgabe bestimmten Predigt angehängte Tabelle über die Ordnung des Gottesdienstes wird baldigst nachfolgen.“201 FHDS, Karton 34, Nr. 105202: Der Karton enthält unter der Nr. 105 die Abschrift einer Nachschrift der Totensonntagspredigt vom 26. November 1820 vormittags. Die fadengehefteten Doppelblätter mit dem von Graf Alexander zu Dohna beschrifteten Umschlagblatt sind auf den siebzehn Textseiten paginiert, die restlichen drei Seiten sind unbeschrieben. Teilweise finden sich Korrekturen mit schwarzer Tinte, die von Graf Alexander zu Dohna stammen, sowie Unterstreichungen und Einklammerungen mit rotem Buntstift. Die hier vorliegende anonyme Nachschrift wird gemäß der Maßgabe der starken Anlehnung an eine identifizierte Nachschrift der Andrae-Tradition zugeordnet.203 An folgenden Terminen liegen der Edition Nachschriften von Andrae zu Grunde. 01.01.1820 09.01.1820 20.02.1820 09.04.1820 16.04.1820 26.04.1820 30.04.1820 14.05.1820 22.05.1820 28.05.1820 11.06.1820 09.07.1820 16.07.1820

201

202 203

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

23.07.1820 30.07.1820 06.08.1820 20.08.1820 03.09.1820 10.09.1820 17.09.1820 01.10.1820 15.10.1820 29.10.1820 12.11.1820 26.11.1820 24.12.1820

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

SBB-Nl. 481 (Predigten), Bl. 27v. Der Gottesdienstjahresplan der Dreifaltigkeitskirche der Früh-, Vormittags- und Nachmittagsgottesdienste für 1821 liegt handschriftlich vor als Beilage zu den Unionsvorschlägen (GStA PK, X. HA Rep. 40, Nr. 876; Bl. 46r–47r), vgl. KGA III/1, S. 783. Zur Überlieferung der Predigten aus dem Fürstlichen Hausarchiv Dohna-Schlobitten vgl. KGA III/1, S. LXXI–LXXII. Vgl. KGA III/1, S. LXIII. Zum differenzierten Verhältnis der Parallelnachschriften vgl. unten Punkt II.3.G.

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26.12.1820 31.12.1820 01.01.1821 25.03.1821 23.04.1821 29.04.1821 13.05.1821 20.05.1821 27.05.1821 31.05.1821 03.06.1821 09.06.1821 11.06.1821 17.06.1821 24.06.1821 01.07.1821 22.07.1821 22.07.1821 29.07.1821 05.08.1821

Einleitung der Bandherausgeberin

nachm. nachm. früh früh früh vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. früh mittags früh vorm. früh vorm. früh vorm. vorm. nachm.

12.08.1821 19.08.1821 19.08.1821 26.08.1821 02.09.1821 09.09.1821 16.09.1821 16.09.1821 23.09.1821 14.10.1821 21.10.1821 28.10.1821 04.11.1821 11.11.1821 18.11.1821 25.11.1821 02.12.1821 02.12.1821 09.12.1821 25.12.1821

vorm. früh vorm. vorm. nachm. vorm. früh vorm. vorm. früh vorm. nachm. vorm. früh vorm. früh vorm. nachm. früh vorm.

SW II/10: Die von Adolf Sydow in den „Sämmtlichen Werken“ publizierten Predigtnachschriften, die den Textzeugen dieser Edition aus dem Andrae-Konvolut parallel gehen, lassen sich auf die in Bandform vorhandenen Andrae-Nachschriften zurückführen.204 Dieser Sachverhalt läßt sich erschließen durch den direkten Vergleich der Bandnachschriften mit den hier edierten Nachschriften des Andrae-Konvoluts sowie durch teilweise erhaltene Titelblätter auf der Rückseite des letzten Blattes einer Lage vor einer Lücke und die Passgenauigkeit mit den Lücken in den gebrochenen Bänden. C. Dunckel-Nachschriften Die für den vorliegende Band berücksichtigte Nachschrift von Friedrich Wilhelm Dunckel205 ist Teil folgenden Archivbestands: SAr 82: Die Mappe enthält auf 34 Blatt drei Nachschriftmanuskripte von 1821–1828, die Friedrich Wilhelm Dunckel zugerechnet 204 205

SW II/10, vgl. dazu KGA III/1, LXXIII. Zur Person vgl. KGA III/1, S. LXV. Der in Glogau geborene Nachschreiber hatte lange in Berlin studiert. Schleiermacher empfahl ihn später seinem Breslauer Freund Gaß in einem Brief vom 2. Mai 1829 als: „den Candidaten Dunkel der sich um die Stelle in Frankenstein bewerben wird, und dem ich herzlich wünsche, daß er endlich einmal in den Hafen einlaufen möchte.“ (Briefwechsel mit Gaß, S. 210–211, hier S. 210)

II. Editorischer Bericht

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werden und zur Sammlung der Witwe Schleiermacher gehören. Die mit dem Nachnamen gekennzeichnete Nachschrift der Frühpredigt vom 26. Dezember 1821 befand sich ursprünglich im Andrae-Konvolut und zeigt die Nähe zur Andrae-Tradition durch die typische Schreibweise ‚kh‘ statt ‚ch‘ des Wortstammes ‚christ‘. Die ineinander gelegten Doppelblätter sind sauber beschrieben, enthalten aber gegen Ende zunehmend zahlreiche Auslassungen. Als weiterer Hinweis auf Störungen im Anfertigungsprozess findet sich von gleicher Hand auf dem vorletzten Blatt, auf einer vom Fließtext abgesetzten Zeile, die Notiz „Hier fehlen mehrere Seiten“206. Da zu dem Termin kein weiterer Textzeuge vorliegt, wurde diese defekte Nachschrift ediert. Der Schreiber kennzeichnete Textlücken, die er vermutlich in der Vorlage nicht entziffern konnte sowohl durch fünf bis sechs Punkte als auch durch zwei- bis fünfmaliges ‚p.‘ für perge, teilweise mit anschließendem Spatium. Die gepunkteten Lücken und die Spatien wurden gemäß den editorischen Regeln einheitlich durch [ ] wiedergegeben. An einem Termin beruht der edierte Text auf einer Nachschrift von Dunckel: 26.12.1821 früh D. Gemberg-Nachschriften August Friedrich Leopold Gembergs207 Nachschriften aus der Zeit von 1818–1824 liegen in größerer Anzahl als kurze Zusammenfassungen oder seltener als ausführliche Predigtnachschriften vor. Sie befinden sich in den Mappen des Schleiermacher-Archivs (SAr), dem Depositum 42a der Staatsbibliothek zu Berlin. Eine Nachschrift vom 25. März 1820 gehört als selbständiger Autograph zum Bestand der Staatsbibliothek; eine weitere vom 25. Dezember 1822 befindet sich ebenfalls dort als Einlage im Predigtband des Nachlasses 481. Vier Nachschriften aus den Jahren 1819 und 1820, die sich vormals im Archiv der Schleiermacher-Forschungsstelle Kiel (SFK 9–12) befanden, sind dort nur noch in Kopie vorhanden, nachdem die Originale durch Einbruchdiebstahl am 3./4. Oktober 2014 abhanden gekommen sind; für die Edition standen noch die Originale zur Verfügung. – Die Gemberg zugeordneten Nachschriften, die für diesen Band berücksichtigt wurden, sind Teil folgender Archivbestände: 206 207

Bl. 11r; vgl. KGA III/1, S. LVI Zur Person Gembergs vgl. KGA III/1, S. LXV.

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Einleitung der Bandherausgeberin

SBB, SAr 52: Diese Mappe bietet unter dem Titel „Predigtdispositionen“ und der Angabe des Namens in kleinem Format auf 168 ineinander gelegten Einzel- und Doppelblättern fortlaufend 185 knappe Zusammenfassungen des Gedankengangs der Predigten, die zu einem geringen Teil auch von anderen Predigern stammen und nicht immer chronologisch geordnet sind. SBB, SAr 53: Die ausführlicheren Nachschriften haben das gleiche Format und sind auf 78 Blättern in Lagen zum Teil geheftet. SBB, MS. germ. oct. 1395: Die Nachschrift vom 25. März 1820 liegt ebenso in Kleinformat, fadengeheftet auf neun Blättern mit Umschlagblatt und Namenszug in der Gemberg-Handschrift, vor. SFK 9–12: Die chronologisch archivierten Nachschriften weisen das typische Gemberg-Format in Fadenheftung auf, wobei die Nachschriften vom 21. März 1819, 19. März 1820 und 21. Mai 1820 auf dem Titelblatt den Namen Gemberg tragen, die Exemplare vom 21. März 1819 und 19. März 1820 seine Handschrift. Die beiden anderen Nachschriften haben unterschiedliche Hände. Die Nachschrift vom 31. März 1821 hat kein Titelblatt und keinen expliziten Hinweis auf Gemberg, bietet neben dem auffälligen Format die gleiche Hand wie ABBAW, SN 598 (25. Juni 1820), die sich wiederum durch eine Zählungsangabe zur Gemberg-Nachschrift vom 6. August 1820 reihen lässt (SBB, SAr 53). Es handelt sich vermutlich um Abschriften, die auch das für Gemberg typische gelegentliche ‚v‘ für ‚f‘ übernommen haben. Besonders die Dispositionen sind in schwer lesbarer Handschrift verfasst. Für die Gliederung mussten teilweise kleinere Vereinheitlichungen getätigt werden. Folgende stillschweigende Auflösungen von Abbreviaturen wurden vorgenommen (Flexionsformen sind im Regelfall nicht eigens aufgeführt): Apostel Capitel Christi christlich Christo der dieser Evangelium/ Evangelist

Ap./Apst. Cap. Xti. chr. Xto. d. dser Evang.

Evangelium Johannis nicht Schleiermacher über und

Evang. Joh. cht Schl. üb. u.

An folgenden Terminen liegt dem edierten Text eine GembergNachschrift zu Grunde:

II. Editorischer Bericht

05.03.1820 19.03.1820 31.03.1820 21.05.1820 02.07.1820

vorm. vorm. nachm. vorm. vorm.

22.10.1820 23.12.1820 28.01.1821 11.06.1821 28.10.1821

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nachm. mittags vorm. nachm. vorm.

E. Schirmer-Nachschriften Die Karl Friedrich Schirmer208 zugeordneten Nachschriften, die für diesen Band berücksichtigt wurden, sind Teil folgenden Archivbestands: SBB, SAr 54: Diese Mappe enthält auf 187 Blatt achtzehn Predigten aus dem Zeitraum 1818–1831, mehrheitlich in Fadenheftung mit geklebtem Falz. Sie tragen häufig Absatzanweisungen sowie Korrekturen und Unterstreichungen von anderer Hand. Die sekundäre Angabe von Bibelstellen wurde gemäß den editorischen Regeln nicht reproduziert. Die folgende als Leittext der Edition zugrundegelegte Nachschrift bietet gegenüber der Andrae-Parallelnachschrift aus ABBAWSN 603/1 die vollständigere und weniger fehlerhafte Fassung.209 An einem Termin beruht der edierte Text auf einer Nachschrift von Schirmer: 23.01.1820 vorm. F. Woltersdorff-Nachschriften Die der ‚Demoiselle‘ Woltersdorff 210 zugeordneten Nachschriften, die für den folgenden Band berücksichtigt wurden, sind Teil folgender Archivbestände: SBB, SAr 59–60: Mappe 59 enthält auf 109 Blatt 26 Predigten vom 1. Januar 1820 bis zum 31. Dezember 1820. Die Manuskripte liegen auf losen Einzel- und Doppelblättern in unterschiedlichen Formaten, z. T. fadengeheftet, vor. Sie sind in beiden Mappen in einer Haupthandschrift und weiteren Nebenhandschriften erstellt. Teilweise wechseln die Hände innerhalb einer Predigtnachschrift, was auf die Zusammenarbeit in einem Schreiberkreis zurückzuführen ist, in den auch die Parallelnachschriften von Crayen gehören.211 Zur Predigt vom 9. Januar 1820 über Mt 5,4 sind in der Handschrift von Woltersdorff auf Bl. 5r–8r und Bl. 9r–11r zwei Parallel208 209 210 211

Zur Person Schirmers vgl. KGA III/1, S. LXVIII. Zur Schirmer-Nachschrift der Vormittagspredigt vom 26. November 1820 vgl. unten Punkt II.3.G. Zu Woltersdorff vgl. KGA III/1, S. LXIX–LXX. Zur Zusammenarbeit von Woltersdorff und Crayen vgl. KGA III/1, S. LVI– LVII.LXIII–LXV.LXIX–LXX.

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Einleitung der Bandherausgeberin

nachschriften zum edierten Leittext des Nachschreibers Andrae überliefert, die nicht voneinander abhängig sind, aber passagenweise Übereinstimmungen enthalten. Das zweite Exemplar ist in kleinerem Format fadengeheftet und enthält auf Bl.11v ein Gedicht von Novalis: Die Welt wird mir stets ärmer / Stets ärmer mir an Glück! Nur ihn fühl ich stets wärmer / Stets heller ihn im Blick. Arm, fremd, u. ohne Liebe / Von Sorgen nur umstellt, Wenn Eins nicht ewig bliebe: / Was wäre dann die Welt! Doch daß mein Herz ihn kennet / Mit sehnsuchtsvollem Glühn! Ihn einzuschließen brennet, / Das lichtet mir den Sinn. Darum vergaß ich Schmerzen / Und finde sie selbst gut. Weil in verwandten Herzen, / Die Liebe fester ruht. Ich hang an seiner Milde / An seiner Treue fest! Dem schönen hohen Bilde / Das nie die Brust verläßt! In heilger Sehnsucht Streben / Bin ich mit ihm vereint! Die Liebe ist mein Leben / Mein alles ist mein Freund. v: Novalis „Könnt’ ich nur ihn dir zeigen, / den Urquell aller Huld; Du solltest bald wohl schweigen! / Zwängst alles in Geduld; Du hörtest auf zu weinen, / Und würdest wieder froh: Ob dir auch aller Wünsche / Bescheidne Hoffnung floh.“212 Mappe 60 enthält auf 248 Blatt 42 Predigten vom 7. Januar 1821 bis zum 30. Dezember 1821, überwiegend in Fadenheftung. Die Nachschrift vom 30. Dezember 1821 birgt zu Beginn einige unsichere Lesarten, weil ihr erstes Blatt (243rv) als Umschlag diente, so dass das Papier durch Knicke, Risse und Abrisse beschädigt wurde. Der bei Woltersdorff häufige Gebrauch des Doppelpunkts in verschiedener, zum Teil sich überschneidender Funktion (Bezeichnung eines Zitatanfangs, Bezeichnung eines Zitatendes und Bezeichnung eines nicht zu Ende geführten Zitats) wurde beibehalten. Auch die häufige Verwendung des Gedankenstrichs wurde wiedergegeben, da er auch die Funktion haben kann, das Ende des Auszugs aus einer Vorlage zu markieren, was bei Einzelüberlieferungen nicht genauer rekonstruiert werden kann. Ebenso wurden bei uneinheitlichen Schreibweisen eines Wortes wie z. B. ‚irrdisch‘ und ‚irdisch‘ entsprechend den editorischen Grundsätzen keine textkritischen Eingriffe getätigt. Auch die regelmäßig wiederkehrende, für Woltersdorff typische einfache Schreibung von 212

Von der Hand Crayens sind hinzugefügt die Hervorhebungen, die Angabe des Autors und die in Anführungszeichen stehenden Zeilen, die von dem vorstehenden Gedicht deutlich abgesetzt sind.

II. Editorischer Bericht

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Konsonanten, die nicht durch Überstrich verdoppelt werden, wie z. B. bei ‚herlich‘ und ‚hofend‘ wurde beibehalten. Folgende stillschweigende Auflösungen von Abbreviaturen wurden vorgenommen (Flexionsformen sind nicht eigens aufgeführt): Apostel Apst. -lich Brüder Br. Licht L. Christus Chr. Lucasevange- Luc. dürstet d. lium der, die, den d./dr./di. meine m. Durst D. Mensch M./Msch. Epiphanias Epiph. menschlich mensch. Erlöser Er nach n. Erscheinen Ersch. nachmittags nachm. Evangelium Ev. nur nr˘ gekommen gek. perge perge pp. Gemeinde Gem. Predigt Pr. Gerechtigkeit Ger./GerechReich R. tigk./GerechtReminiscere Rem. keit/Gerechtk. Schriftgelehrte Schriftgel. Glaube Gl. Sexagesimae Sexag. Gott G./θ Sonntag S./Sonnt. Herlichkeit Herlichk. Sorge S. Herr Hr. sprach sp. Herzensgrunde Herzensg. Trinitatis Trinit. Jakobusbrief Jak. und d./u. Jesus Jes. Werke W. Jünger J. Wirken Wirk. Leiden L. zuerst zurst An folgenden Terminen liegt dem edierten Text eine WoltersdorffNachschrift zu Grunde: 16.01.1820 30.01.1820 06.02.1820 27.02.1820 12.03.1820 03.04.1820

nachm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm.

18.06.1820 28.01.1821 11.02.1821 11.03.1821 05.08.1821 30.12.1821

nachm. früh früh früh früh früh

G. Spezialfälle der Rekonstruktion des Überlieferungsprozesses Die im vorliegenden Band edierten Jahrgänge enthalten in vielen Fällen zwei bis zu sechs Parallelnachschriften zu einem Termin. Der

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Einleitung der Bandherausgeberin

Überlieferungsprozess dieser Nachschriftentexte ist häufig nicht eindeutig nachzuvollziehen.213 In einigen Fällen musste zur Auswahl des Leittextes die Verhältnisbestimmung der Nachschriften untereinander spezifiziert werden. Haupttradent ist der Nachschreiber Andrae, dessen hohe Valenz dadurch unbestritten ist, dass Schleiermacher für seine späteren Publikationen häufig dessen Nachschriften als Grundlage seiner Überarbeitung benutzt hat; jedoch sind auch seine Überlieferungen nicht frei von korrekturbedürftigen Lesarten, die nur in den Fällen erkannt werden, in denen der Textbestand auch durch andere vertrauenswürdige Parallelzeugen überliefert ist. Die Totensonntagsspredigt vom 26. November 1820 vormittags liegt in sechsfacher Überlieferung vor214: im Andrae-Konvolut, in einem Andrae-Band, in einer anonymen Nachschrift aus dem Fürstlichen Hausarchiv Dohna-Schlobitten, bei Gemberg, bei Maquet und bei Schirmer. Nach kritischem Vergleich der Nachschriften ergibt sich folgendes Bild: Bis auf die Nachschrift Gembergs stammen alle Nachschriften von einem Grundtext ab, der sich in zwei Überlieferungsstränge gabelt: zum einen in Nachschriften, die Elemente der freien Rede und des gottesdienstlichen Bezugs dokumentieren und zum anderen in Nachschriften, die in stilistischer Überarbeitung für das Lesen geeignetere Textfassungen bieten. – Der erste Typ wird repräsentiert durch die Nachschriften des Andrae-Konvoluts und des AndraeBands und der mit ihnen nahezu wörtlich übereinstimmenden und von ihr abhängigen Abschrift Maquets. Sie enthalten den vermutlich von Schleiermacher zusätzlich verlesenen Halbvers 17b, der den Anschluss an die übersprungenen Verse des Predigttextes (1Thess 4,13– 14.18) wahren soll und in der Predigt mehrfach wiederaufgenommen wird. Sodann bieten sie die Anspielung an ein vor der Predigt gesungenes Lied sowie das der Predigt folgende Gebet. – Den zweiten Typ repräsentieren die Nachschrift aus dem Fürstlichen Hausarchiv Dohna-Schlobitten, ediert von Johannes Bauer215, und die Nachschrift von Schirmer. Die Schlobitten-Nachschrift und die SchirmerNachschrift weichen in Satzstellung und Vokabular in einer Vielzahl der Fälle deckungsgleich von Andrae ab, sind jedoch nicht voneinander abhängig. Sie bieten übereinstimmend Lesarten der allen gemeinsamen Vorlage, die die Korrekturbedürftigkeit der Andrae-Nachschrift zeigen. – Die Entscheidung für die Andrae-Nachschrift des Konvoluts als Leittext unter Einschluss der Korrekturen der Parallel213 214 215

Vgl. KGA III/1, S. XVI Vgl. dazu die Angaben im Kopftext der besprochenen Predigt. Vgl. Bauer, Ungedruckte Predigten, S. 9–16

II. Editorischer Bericht

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zeugen liegt begründet in der umfänglichsten Dokumentation der Predigt und ihrem die wörtliche Rede wiedergebenden Charakter. Die Vormittagspredigt vom 1. Weihnachtstag 1821 bietet eine Nachschrift zu einer von Schleiermacher in der Fünften Sammlung literarisch bearbeiteten Version. Neben der kurzen Zusammenfassung des Nachschreibers Gemberg liegen zwei Parallelen vor: Die anonyme Nachschrift aus dem Predigtband des SBB-Nachlasses 481 hat eine gemeinsame Grundlage mit der identifizierten Andrae-Sonderüberlieferung aus SAr Mappe 73216, ohne von ihr abhängig zu sein. Der Nachlass-Nachschrift wurde als Leittext der Edition der Vorzug gegeben, weil sie die vollständigere Fassung bietet und weniger Lesefehler enthält, auch weicht sie im Sprachduktus erheblich ab und gibt durchlaufend in Satzstellung und rhetorischen Einsprengseln die gesprochene Sprache wieder. Die Andrae-Sonderüberlieferung ist dem gegenüber sprachlich geglätteter und enthält mehr Übereinstimmungen mit Schleiermachers Drucktext, was zeigt, dass die Grundlage seiner Publikation die ihr näherstehende Andrae-Nachschrift des Konvoluts war.217 Diese Sonderüberlieferung konnte zu einigen Korrekturen und einer Ergänzung der Nachlass-Nachschrift in Anspruch genommen werden. ***** Mein herzlicher Dank geht an Professor Dr. Dr. Günter Meckenstock, den Projektleiter der von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen geförderten Predigtedition an der Schleiermacher-Forschungsstelle in Kiel. Für engagierte Unterstützung bei den Korrekturund Revisionsarbeiten, für die Recherche zeitgenössischer Rezensionen und das Erstellen der Verzeichnisse danke ich Merten Biehl, Tobias Götze, Judith Ibrügger, Christoph Karn, Christian Müller, Sven Rehbein und Kirsten Reinfeld, sodann den Editoren Kirsten Kunz, Dr. Dirk Schmid und Patrick Weiland für kollegialen Austausch; Dirk Schmid bin ich für wichtige Hinweise dankbar und Rolf Langfeldt, dem Leiter der Fachbibliothek der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, für seinen bibliothekarischen Rat. Für das schnelle Zugänglichmachen neu aufgefundener Handschriften betreffend die Bände 5, 6 und 7 der Predigtabteilung danke ich Dr. Jutta Weber, Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz, und Professor Dr. Andreas Arndt, Leiter der Schleiermacherforschungsstelle an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissen216 217

Vgl. dazu KGA III/1, S. LXXIV Vgl. dazu KGA III/1, S. LXXIV

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Einleitung der Bandherausgeberin

schaften sowie Dr. Simon Gerber und Dr. Wolfgang Virmond für mancherlei kollegiale Amtshilfe. Im Verlag Walter de Gruyter bin ich Dr. Albrecht Döhnert mit Dank verbunden, sodann Florian Ruppenstein, der in kreativer Kooperation mit mir eine editionstechnische Verfahrensweise entwickelte, die zur Beschleunigung des Herstellungsprozesses zwischen den Bandeditoren und der Setzerei führte, und Lena Ebert für die herstellerische Betreuung des vorliegenden Bandes. Mein Gedenken gilt an dieser Stelle Hans-Joachim Birkner, der der jungen Studentin den Zugang zu Schleiermacher richtungweisend erschloss. Lübeck, im Mai 2015

Elisabeth Blumrich

Predigten 1820

Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780–1849), Schleiermachers 1819 aus dem Professorenamt entlassener Fakultätskollege und Freund – Faksimile (41 %). © bpk

Am 1. Januar 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Neujahrstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 1,24–25 Nachschrift; SN 603/1, Bl. 1r–15r; Andrae Nachschrift; SAr 59, Bl. 1r–4v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am NeujahrsTage. 1820. |

1r

Herr lehre uns thun nach deinem Wohlgefallen; dein guter Geist führe uns auf richtiger Bahn. Amen.

2r

Tex t. 1. Petri 1. V. 24, 25. Denn alles Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume. Das Gras ist verdorret und die Blume abgefallen; aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit. Das ist aber das Wort, welches unter euch verkündiget ist. M. g. F., Wenn wir die mannigfaltigen Stimmungen unsers Gemüthes beim Wechsel eines Jahres näher untersuchen, welch einen stärkern Bestandtheil können wir wohl darin finden als eben das Gefühl von der Vergänglichkeit alles Irdischen, welches die Worte unsers Textes aus einem alten Psalme so stark aussprechen: „alles Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des | Grases Blume.“ Ja, wir können nicht anders, m. g. F., oder müssen uns zuerst recht durchdringen lassen von diesem Gefühle der Vergänglichkeit aller irdischen Dinge, und es in seinem ganzen Umfange auffassen. Wie es gilt von dem einzelnen Menschen, davon ist nicht nöthig zu reden. Wie leicht sein Leben vorüberfliegt wie ein Schall in der Luft, wie selbst unter dem günstigsten Wechsel von Sonnenschein und Regen diese Blume doch nie länger dauern kann als die Zeit, die der Herr im Allgemeinen und Einzelnen verordnet hat, wie uns auf diesem Gebiete die Unsicherheit täglich überrascht, und doch nie fest bleibt, daß wir nie genug bedenken, wie vergänglich dieses Leben ist, das hat gewiß jeder unter uns im vergangenen Jahre in seinem Kreise häufig genug erfahren. Aber, m. g. F., was von dem Leben gilt, welches diese Erde trägt, das gilt auch | von ihr selbst; sie selbst ist auch vergänglich, und eine Zeit wird kommen, wo ihre 2–3 Vgl. Ps 143,10 als Kanzelgruß

13–14 Vgl. Ps 103,15

26–1 Vgl. Ps 103,16

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4v

Am 1. Januar 1820 vormittags

Stätte nicht mehr gefunden wird; sie ist auch eine, eine kleine und geringe, soviel wir ahnen können, von jenen allesammt vergänglichen Blüthen der Schöpfung. Doch, m. g. F., diese Vergänglichkeit ist zu groß für uns, dahin reichen wir nur mit einem flüchtigen Gedanken, und müssen bald wieder von dannen zurükkehren. Aber so laßt uns in der Mitte stehen bleiben. Nicht nur der einzelne Mensch, sondern auch ein jedes Volk, ein jedes Geschlecht der Menschen, m. g. F., theilt dieses Loos der Vergänglichkeit. Auch die Völker der Erde sind wie Gras, und alle ihre Herrlichkeit ist wie des Grases Blume. Wie viele hat schon die Vorzeit hervorgehen lassen, deren Stätte nun nicht mehr gefunden wird, und deren Andenken, wie groß ihre Herrlichkeit auch war, nur noch zurükgeblieben ist in wenigen Spuren, von denen wir nicht wissen, wie lange sie noch das Herz der Menschen | und die spätern Geschlechter theilnehmend erfreuen werden. So hat jedes seine Blüthe; ach und die Blüthe verdorrt und fällt ab! Welche die schönste gewesen, so lange es noch wächst und blüht vermögen wir es nicht zu beurtheilen, und mannichfaltig irrt unser Gedanke. Wie oft meint der übermüthige Sinn der Menschen, nun sei die schönste Blüthe des gemeinsamen Lebens und aller Verhältnisse erreicht! Aber der Herr, der allein die Geseze des Daseins kennt, läßt eine andere und noch schönere hervorgehen. Aber eben weil wir es nicht wissen, weil unser Urtheil schwankt bald getäuscht von dem Gefühl der Zufriedenheit, welches uns zu überreden sucht, so Schönes und Herrliches werde nicht wieder kommen, bald von einem unzufriedenem ungenügsamen Sinn, der nicht gebändigt durch die Schranken, die Gott ihm gesezt hat, hinausschweift über seine Ordnung zu Wünschen, die er nicht zu erfüllen beschlossen hat: so, m. g. F., so kommt uns überall, wohin sich unsre | Theilnahme erstrekt, wohin unsre liebenden Arme sich ausdehnen, wohin unsre Wünsche und Gedanken reichen, überall die Vergänglichkeit alles Fleisches entgegen. So durchdrungen, m. g. F., von diesem Gefühl, festhaltend an diesen Punkten, zwischen denen alles beschloßen ist, was unsre Theilnahme erregt, alles was wir mit unsrer Kraft erfüllen sollen, laßt uns fragen: was regt in einer Stunde wie diese das Gefühl der Vergänglichkeit alles Irdischen in unserm Innern auf? was soll es in uns allen anfangen, wie wir hier im Namen Khristi versammelt sind? O, m. g. F., zuerst gewiß das, daß wir schaudernd vor der Vergänglichkeit, die uns überall auf dem Gebiete des Lebens entgegenkommt, dem Vergänglichen zu entfliehen suchen in das Unvergängliche; aber wenn wir dies gefunden haben, daß wir dann auch mit dem Unvergänglichen zurükkehren in das Vergängliche, um es zu heiligen und zu erneuern. I. Ja m. g. F., wer kann das Wort hören: „alles | Fleisch ist wie Gras, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume“, ohne zu fragen: wohin denn soll sich der Mensch retten vor diesem vernichtenden Gefühle? „Des

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Herrn Wort aber bleibt in Ewigkeit“ so antwortet der Apostel, und eine andre Antwort als diese können wir nicht geben; aber wir müssen zugleich, m. g. F., wir müssen von Dankbarkeit durchdrungen hinzusetzen „das ist aber das Wort, welches unter uns verkündiget ist, und nahe ist einem Jeglichen und untrüglich und unmittelbar allein in dem Vergänglichen das Unvergängliche“. Das Wort des Herrn aber bleibt in Ewigkeit, das Wort des Herrn, m. g. F., welches alles Vergängliche geordnet hat, durch welches Alles lebt eben dieses vergängliche Leben, durch welches, wenn Eins vorübergeht eben diesem Worte gemäß, ein Anderes wieder entsteht. Und so ist unser Auge sicher, so sind unsre Gedanken richtig, weil der Wechsel von Schönheit und Verwelken sich immer wieder vor unsern Augen erneuert. Darum, m. g. F., | ist schon, ehe noch der Herr auf Erden erschien, von den Weisesten des menschlichen Geschlechts gesagt worden, wolle der Mensch sich retten vor dem Gefühl des Vergänglichen, wolle er Ruhe und Festigkeit für seine Seele gewinnen, so müße er fliehen vor den vorübergehenden Erscheinungen und trachten nach der Kraft ihrer Geseze; denn in dieser finde der Mensch dann das schaffende, das umwandelnde, das erhaltende Wort des Herrn, und aus dieser rede es zu ihm und laße sich vernehmen. Aber, m. g. F., wenn dies schon geschehen ist, ehe noch das Wort Fleisch geworden ist, und ohnerachtet der Mensch es erkannte das Wort dennoch Fleisch werden mußte, so ist gewiß, daß daran der Mensch doch sein Genüge nicht findet aber deßwegen, weil es wiederum das Vergängliche ist, was er hat, indem er die Geseze erklärt, nach welchen der Ewige die Welt regiert. Halten wir uns bei dem Gefühl dieser vergänglichen Erscheinungen an jenes große Gesez der | Welt, nach welchem aus dem Tode das Leben entsteht, nach welchem aus der erstorbenen Erde das frische Grün wieder lebendig keimt, und die gesunkene Sonne immer wieder emporsteigt am Himmel, wo wir Alles eben in dem Vergänglichen finden; so verlieren wir denn das Wort des Herrn, und das Bestreben nach dem Unvergänglichen sieht sich aufs neue ins Vergängliche verstrikt. Darum, m. g. F., stellt uns der Apostel etwas viel Herrlicheres als jenes vor die Augen. Denn vor den Worten unsers Textes redet er seine Leser so an: „ihr seid wiederum geboren nicht aus vergänglichem, sondern aus unvergänglichem Samen, nämlich aus dem lebendigen Wort Gottes, das da ewiglich bleibet.“ So ist es m. g. F., nicht nur von außen soll uns das Wort des Herrn ansprechen, daß wer Ohren hat zu hören es höre; nein sondern wie wir eben nur in dem Innersten der Dinge, wo es sich uns offenbart, das | Wort des Herrn finden, so soll es auch das Innerste unsers eignen Lebens und Daseins wer11 unsern] unser

26 entsteht] ensteht

19–20 Joh 1,14 Lk 14,35

20 Vgl. Joh 1,10

32–34 Vgl. 1Petr 1,23

36 Mk 4,9.23;

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Am 1. Januar 1820 vormittags

den; aus dem unvergänglichen Worte sollen wir geboren sein auf eine unvergängliche Weise; das unvergängliche Wort soll die Kraft unsers Lebens geworden sein, es soll der Geist geworden sein, der uns regiert, und in uns sollen wir das Unvergängliche tragen, welches wir allem Vergänglichen, das uns überall umgiebt, auch dem, was wir an dem Aeußeren unsers Daseins finden, auf eine kräftige Weise entgegen sezen können. Brauche ich es noch zu sagen, m. g. F., daß der aus unvergänglichem Samen geboren ist, der aus dem Worte des Herrn geboren ist? soll ich euch zeigen, was der Herr uns allen längst zugerufen hat, und was, so wie er es will, unser aller Erfahrung sein soll, so gewiß wir seinen Namen tragen, daß wer an ihn glaubt das ewige Leben schon hat, daß wer von dem Brote des Lebens ißt, welches er giebt, und von dem Quell des lebendigen | Wassers trinkt, welches er zu reichen gekommen ist, nimmer hungern und dursten wird in Ewigkeit, und daß er also die Zeichen des Vergänglichen nicht mehr in sich fühlt? Könnte ich mich nicht auf eure Erfahrung berufen, so könnte ich euch auch dies nicht lehren und beweisen, sondern nur mit dem Herrn sprechen „wer diese Lehre thut, der wird erfahren, daß sie von Gott ist, und nicht von Menschen.” Ja wenn das lebendige Wort Gottes, aus welchem alle Welten hervorgegangen sind, und das in der Person des Erlösers Fleisch geworden ist, der Geist geworden ist, der unser ganzes Leben regiert und heiligt, wenn aus dem immer kräftigen, immer Herrliches erzeugenden Worte Gottes in der menschlichen Seele der Glaube entstanden ist, und durch den Glauben der Geist mit seinen herrlichen Kräften und Gaben: dann ist ein unvergängliches Leben aufgegangen in der menschlichen Seele, dann braucht sie nicht mehr das Vergängliche zu fliehen, sondern ausgerüstet mit den unvergänglichen Kräften des Wortes kann sie zurükschauen auf das Vergängliche, und scheut nicht länger die sonst furchtbare Rede, daß alles Fleisch wie | Gras ist und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume; denn sie hat das was da bleibt in Ewigkeit. O, m. g. F., so sei und bleibe denn das der erste und größte Wunsch, dessen unser Herz voll sei für dieses neue Jahr unsers Lebens, daß das kräftige und unvergängliche Wort Gottes seinen festen und sichern Lauf unter uns behalte, daß keine menschliche Gewalt jemals sich herausnehme es zu hemmen und seinen Dienst zu stören, sondern daß belebend sein Hauch in die menschlichen Seelen dringe daß dazu gesegnet sei diese gesegnete Stätte der gemeinsamen Andacht und Erbauung des Geistes aus dem Worte Gottes, daß dazu gesegnet sei unter uns die Heiligkeit khristlicher Häuser und die Erziehung in denselben für das künftige 6 kräftige] künftige 7–8 1Petr 1,23 10–11 Joh 3,16.36 11 Vgl. Joh 6,51.58 12–13 Vgl. Joh 4,14; 6,35 16–17 Vgl. Joh 7,16–17 19–22 Vgl. Joh 1,14 22–23 Vgl. Gal 3,14

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Geschlecht. So wohne in uns allen das Wort Gottes, damit ein jeder habe das Unvergängliche, wohin er sich retten könne vor dem Vergänglichen.

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II. Wohlan denn, m. g. F., haben wir es in uns | das Wort Gottes, welches fürwahr in Ewigkeit bleibt, ist es nicht nur das was unter uns verkündigt wird, sondern das, aus welchem wir wiedergeboren sind, und das uns immer aufs neue stärkt und belebt, wohlan, so laßt uns mit dem Unvergänglichen zurükkehren zu dem Vergänglichen, und so gestärkt hineinschauen in das wechselreiche Jahr des Lebens, welches uns wieder aufgegangen ist. Zuerst, m. g. F., laßt mich euch zurufen was sich einander die Kinder der Welt zurufen: „laßt uns essen, laßt uns trinken; denn morgen sind wir todt.“ Ja, das sei unser aller Wahlspruch! Aber nicht die vergängliche Speise laßt uns essen, sondern die unvergängliche; nicht den vergänglichen Trank laßt uns trinken, sondern den unvergänglichen; daran laßt uns gedenken was der Herr gesagt hat: „mein Vater wirkt, und ich wirke auch”; laßt uns wirken so lange es Tag ist, ehe die Nacht kommt, da niemand wirken kann; laßt uns essen von dem Brote des Lebens, welches er gebracht hat, laßt uns trinken von dem lebendigen Wasser, dessen Quell nie versiegt: denn morgen sind wir todt oder irgend etwas in uns, dessen vergängliches Dasein wir hätten beleben | können mit den unvergänglichen Kräften des göttlichen Wortes. Ja, m. g. F., daß kein Augenblik unsers Lebens vergehe, in dem nicht durch einen Jeden unter uns das Wort des Herrn, aus welchem er geboren ist, auch wieder verkündigt werde, und in das Reich des vergänglichen Lebens heiligend dringe; daß kein Augenblick unsers Daseins leer sei an den Erweisungen des göttlichen Geistes, der unter uns ausgegossen ist; daß kein menschliches Geschäft, daß kein Zweig des menschlichen Daseins gefunden werde, auf dessen vergängliches Wesen nicht pfropfe jenes unvergängliche, daß man an der Schönheit desselben, wie blühend sie auch sei, und an der Herrlichkeit desselben wie glänzend sie auch sein mag, das Unvergängliche merke damit jeder Theil jeder Wunsch jedes Bedürfniß jeder Moment unsers Daseins das Wort verkündige, aus welchem die Seelen der Menschen wieder geboren werden können zu dem unvergänglichen Leben – das ist unser Beruf; und möchte doch in diesem neu angetretenen Jahre kein Augenblik vergehen, in welchem wir ihn nicht erfüllten. Ja m. g. F., kein Augenblik müße vergehen, im strengsten Sinne des Wortes können wir dies erfüllen; denn es giebt nichts was der | Mensch nicht thun könnte zur Ehre Gottes, es giebt nichts was sich mit seinem großen Beruf 27 pfropfe] pfropfen 11 Vgl. 1Kor 15,32 (Zitat aus Jes 22,13) 15 Vgl. Joh 5,17 16–17 Vgl. Joh 6,35 17–18 Vgl. Joh 4,14

15–16 Vgl. Joh 9,4

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auf Erden nicht vertragen, es giebt nichts, woran das in ihm, was aus dem unvergänglichen Samen des göttlichen Wortes in ihm geboren ist, sich nicht bewähren dürfte, es giebt nichts, wodurch sich dies Wort nicht wieder verklären könnte. O, m. g. F., laßt es uns recht fest ins Auge fassen und festhalten, wie bald das vergeht was uns hier umgiebt. Alle diejenigen, die uns der Herr gegeben hat, mit denen wir leben müßen, auf die wir mit der Kraft unsers Geistes wirken sollen, ach ihr äußeres Dasein es ist ja vergänglich wie das Gras, und ihre Schönheit und Herrlichkeit ist ja wie die Blume des Grases, die, wir wissen nicht, wie bald sie abstirbt. Wo sich in ihnen das Unvergängliche offenbart, o daß wir nur nicht unterlassen es zu beseelen mit dem unvergänglichen Hauche, damit das unvergängliche Wort Gottes sich daran offenbare. Dazu laßt uns jeden Augenblik benuzen, wir wissen es ja nicht, wie bald der lezte kommt. Giebt es irgend ein menschliches Geschäft, dem wir unsre Kräfte widmen können, giebt es irgend eine gemeinsame Angelegenheit, in die wir verflochten sind: jedes menschliche Werk, | auch das herrlichste, es trägt die Vergänglichkeit alles Fleisches an sich. Sei es in seinem schönsten Aufblühen: die Zeit kommt, wo es verwelkt und hinsinkt. O laßt uns keinen Augenblik versäumen, es durch das Unvergängliche zu adeln und zu erheben. Ist das, m. g. F., ist das unser Vorsaz, beseelt uns dazu das Gefühl von der Vergänglichkeit alles Menschlichen auf Erden: o so mögt ihr kommen, ihr Freuden und Schmerzen des kommenden Jahres, die eine höhere Hand uns senden, ihr Wechsel, welche die Ordnung der Zeit herbeiführen wird – in die Zukunft reichen ja unsre Blike nicht – ihr mögt kommen, und ihr werdet uns bereit finden und stark, was der Herr uns gebietet zu thun, bereit seinen Willen zu thun, und sein Werk auf alle Weise und mit allen Kräften zu fördern; und dann wird unter allem Vergänglichen die unvergängliche Kraft seines Wortes in uns und durch uns gegründet und erhalten werden. Aber, m. g. F., bleiben wir bei dieser Betrachtung stehen, wie jedes menschliche Leben und jedes menschliche Werk das Loos der Vergänglichkeit theilt, so können wir uns | den Gedanken auch nicht verbergen, daß eben dies ein beständiger Wechsel ist auf der einen Seite von dem Fortschreiten vom ersten Keime bis zur schönsten Blüthe, und auf der andern wiederum von dem Zurükkehren aus der schönsten Blüthe in den Zustand des Verwelkens und Hinsterbens. Der belebende Hauch freilich des göttlichen Wortes, der soll in uns allen geistiges Leben erzeugen und hervorbringen, und er thut es auch. Aber dennoch bleibt dieses ewige Gesez sich offenbarend in allem Irdischen, und überall finden wir neben dem Aufblühen auch das Verwelken, neben dem Fortschreiten auch das Zurükgehen, und kein Jahr irgend eines menschlichen Lebens wird ganz frei sein von dieser traurigen Erfahrung[.] Glüklich scheinen wir uns, wenn das, was vorwärts geht und in schöner Blüthe steht, das Ueberwiegende ist und das

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Größere, und wenn nur im Einzelnen unsers gemeinsamen Lebens das Zurükgehen und Verwelken uns vor Augen tritt, ob aber viel oder wenig, das ist einerlei. Wie trösten wir uns aber über | dies Zurükgehen und Verwelken in menschlichen Dingen? und wie können wir uns da das Unvergängliche bewahren? M. g. F., kein Mensch vermag die verborgenen Rathschlüsse des Ewigen zu erforschen und aufzudeken; er hat Allem Zeit und Stunde bestimmt, und der Erlöser selbst sagt, wie wir wohl wissen, von sich, Zeit und Stunde sei ihm nicht einmal vergönnt zu wissen, sondern allein seinem Vater im Himmel. So auch hat alles menschliche seine von ihm bestimmte Zeit und Stunde eines gänzlichen und theilweisen Verwelkens und Absterbens; und wie auch jeder Einzelne unter uns streben mag, alles Gute und Schöne in seinem Kreise zu fördern, keiner kann sie hemmen. Was können wir aber? O daß jeder allein nur für sich selbst sich immer möge unschuldig fühlen an dem Verwelken und Absterben dessen, was ihm ist eine Offenbarung des Unvergänglichen und Ewigen gewesen, so lange die ihm von Gott bestimmte Zeit und Stunde währte. Dieser Wunsch, m. g. F., er ist freilich mehr als dies; denn wenn er könnte | in Erfüllung gehen, so wäre das hiermit in Erfüllung gegangen, wovon wir sagen, wir vermöchten es nicht sicher zu stellen. Denn alles Verwelken, alles Vergehen in menschlichen Dingen, geht es nicht aus den Handlungen der Menschen hervor? Je tiefer es in ihr geistiges Dasein eingedrungen ist, um desto mehr ist es das Werk menschlicher That. Wenn also jeder für sein Theil unschuldig wäre daran, daß irgend etwas in menschlichen Dingen sich seinem Ende und Absterben nähert, dann würde nichts vergehen und verwelken, und dann würde je länger je mehr eine unvergängliche Schönheit und ein unsterbliches Leben in menschlichen Dingen aufgehen. Geschieht dies also nicht, so kommt es freilich nur daher, weil nicht alle, die da wirken, das unvergängliche Werk Gottes, das ewige Leben, die zureichende Seligkeit des Geistes in sich wirken, weil nicht alle, die da thätig sind, wiedergeboren sind aus dem unvergänglichen Samen des göttlichen Wortes. Aber, m. g. F., laßt uns diejenigen aus dem Spiele lassen, von denen wir, wenn wir | es gleich nie von Einzelnen behaupten müßten, so doch im Allgemeinen sagen müßen, es giebt Kinder der Finsterniß, Kinder der Vergänglichkeit, in deren Innern das unvergängliche Wort Gottes noch nicht zur lebendigen Kraft geworden ist – laßt uns, sage ich, diese aus dem Spiele laßen, und nur forschend in die Vergangenheit zurükgehen und fragen: wie hat sich unser bisheriges Leben verhalten zu dem Wunsche, den wir alle in unserem Herzen nähren, daß dem Vergänglichen gegenüber das unvergängliche Wort Gottes in uns befestigt 18 wovon] woran 5–6 Vgl. Röm 11,33–34

7–9 Vgl. Mk 13,32

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sein möge? O, m. g. F., wie viel ist gefehlt worden in jedem Augenblik! ach wie oft hat selbst in den aus dem unvergänglichen Samen des göttlichen Wortes wiedergebornen und durch die ewige Kraft des Geistes beseelten Menschen die Finsterniß gesiegt über den Geist! Kein solcher Augenblick, wie sehr er uns auch zur Freude das Gepräge der Vergänglichkeit an sich zu tragen schien, wie schnell er auch untergegangen ist, keiner ist ohne Schuld, keiner ohne Antheil daran, daß immer und überall jenes göttliche Urtheil der Vergänglichkeit an allem Irdischen vollzogen wird. | Denn alles Fleisch ist wie Gras, und wo das Fleisch wirkt, da kann es nichts anders als den Tod und die Verwesung wirken, da kann es nur das Vergängliche ans Licht bringen, und das Unvergängliche verdunkeln. Aber wie viel ist auch ohne daß wir es einen Sieg der Finsterniß über den Geist nennen können, wie viel ist gefehlt worden aus einem irrenden Gewissen! Wie oft gedachten wir es gut zu machen, und haben dagegen das Böse gewirkt! Und wie können wir uns dagegen retten? Ja, m. g. F., das ist gewiß der wichtigste Theil der Frage, die wir uns zu beantworten vorgelegt haben. Aber wo anders kann ich uns hinweisen als zu dem Einen Unvergänglichen, zu dem Worte Gottes, welches ewig bleibt und unter uns verkündigt wird, und aus dem wir allein wiedergeboren sind, die wir mit Recht den Namen Khristi tragen? Freilich, m. g. F., ist gewiß jeder Mensch oft unsicher in seiner Ueberzeugung, und weiß nicht, ob dies oder jenes das Rechte sei. Schlimm genug, m. g. F., je mehr in menschlichen Dingen gelegt ist auf die | Entscheidung, auf die Willkühr eines Einzelnen, eben deßwegen, weil der Mensch so sehr das Gepräge des Vergänglichen und Ungewissen an sich trägt. Lassen wir aber dem unvergänglichen Worte Gottes seinen freien und ungehinderten Lauf unter uns, und, so lange wir noch keine feste Ueberzeugung haben, rufen wir immer aus: „Herr rede, dein Knecht hört“; lebt in uns mächtig das Verlangen, das Wort Gottes zu vernehmen, und aus dem Worte Gottes und seiner Kraft zu holen was wir bedürfen zur tadellosen Führung unsers Lebens, und so den Vater des Lichtes durch das Licht unsers Innern zu verklären: dann wird nirgends ein vergänglicher Augenblick in der Reihe menschlicher Thätigkeit zu finden sein. Nur wenn wir durchdrungen von dem Gefühl der Unsicherheit unsrer Ueberzeugung dennoch in das Gewebe der menschlichen Dinge eingreifen, dann trifft uns die gerechte Strafe des vergänglichen Wesens, wie es auch immer geschehen ist. Nur dann, wenn wir alle eben deßwegen, weil alles Fleisch vergeht wie Gras, und | alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume, die unvergängliche Kraft des göttlichen Wortes in unser Leben zu verpflanzen suchten, damit es sich auf jedem Punkte desselben offenbare; wenn jeder unter uns nur recht fest an 19 allein] allen 27 1Sam 3,9.10

32 zu finden] zu frieden

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den Augenblik hielte, der unmittelbar ihm gegeben ist, daß er ihn mit seiner ganzen Thätigkeit ausfülle; wenn keiner unter uns jemals glaubte, um eines fernen Gutes willen, das erst kommen soll, und wovon er doch nicht weiß, ob es ihm wird zu Theil werden, dasjenige, was nach seinem innern Gefühl recht ist vor Gott und Menschen, aufzuopfern und fahren zu lassen; wenn keiner mit solchen Wünschen sein Gemüth beschäftigte, die mitten aus dem Vergänglichen entsprungen sind; wenn doch jeder bedächte, du weißt nicht, welchen Augenblik du von hinnen gerufen wirst, und hast dann nicht Rechenschaft zu geben von dem, was jenseits deines Lebens liegt, sondern von dem, was in der kurzen Spanne deines zeitlichen Daseins begriffen ist, wie du sie mit deiner Thätigkeit erfüllt, und | was in derselben durch ein gottdienendes Gemüth Schönes und Segensreiches zur Ehre Gottes geworden ist, und darum sollst du nicht mit eitlen Wünschen in die Zukunft schweifen, sondern unmittelbar in der Gegenwart den Willen des Höchsten thun; wenn wir nur hierbei an jenes Wort des Erlösers denken wollten, der denjenigen nachdrücklich verwies, welcher sich nur zum irdischen Behuf Schäze sammelte, und seine Scheunen abbrechen ließ und größere bauen, um die Fülle seiner Güter darin zu sammeln, damit er dann um so sicherer von den Geschäften des Lebens ausruhend seinen Vorrath genießen, und guten Muthes in sinnlichen Genüßen schwelgen könnte, der zu diesem sprach: du Narr, in dieser Nacht wird man deine Seele von dir fordern, und weß wird dann sein, das du bereitet hast? Das Künftige genießest du nicht, aber die Zeit, die du im Sammeln | zugebracht hast, die ist verloren auf immer; wenn wir nur das recht bedenken wollten, daß von Allem, was wir mühsam lediglich um der Zukunft willen wirken, wir nicht wißen, ob wir es dann werden fördern und genießen können, sondern daß es unsere Pflicht ist, nur in dem Augenblik, den uns der Herr gegeben hat, seinen Willen zu thun und aus seinem Worte zu lernen, fest gegründet auf die Kraft, die in demselben ruht, und die keinen Wunsch zuläßt, der das Herz des Menschen unstät treibt von Einem zum Andern, und die lebendige Kraft seines Daseins zusplittert: – o dann würden wir alle unschuldig sein an jedem Rükschritt in menschlichen Dingen, und an jedem Vergehen dessen, wovon wir hofften, es sollte in seiner schönsten Blüthe für uns und unsre Nachkommen aufgehen. O dieser einfache Wunsch, der eben so sehr | aus dem Gefühl der Vergänglichkeit alles Irdischen auf der einen Seite, als aus der Kraft des lebendigen und unvergänglichen Wortes des Ewigen auf der andern Seite hervorgeht, der sei der lezte aber nicht der kleinste Wunsch, den wir für dieses neue Jahr unsers Lebens vor Gott aussprechen. Ja möchte der Herr uns alle erhalten zu seinem Dienst, daß wir immerdar vor Augen haben, was er uns gebietet, ohne daß einer sich möge einmischen in ein fremdes Gebiet, wofür sein Beruf und seine Thätigkeit ihn nicht bestimmt hat. Dann 16–20 Vgl. Lk 12,16–19

21–22 Lk 12,20

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wird es immer mehr Kräfte unter uns geben, die dem Verwelken und Verschwinden des gemeinsamen Lebens Widerstand leisten; dann wird die Zuversicht in uns wachsen, daß das Vergängliche je länger je mehr vom Unvergänglichen wird durchdrungen werden; dann wird | die Zuversicht in uns wachsen auf die Ungewißheit der menschlichen Dinge, daß, wie sehr die herrliche Blüthe derselben uns auch erfreut, wir doch nicht wissen können, ob nicht noch eine schönere, reichere und von Gott gesegnetere uns bevorstehe. So laßt uns, m. g. F., in das neue Jahr unsers Lebens gehen, gleich gesättigt von dem Bewußtsein, daß alles Fleisch wie Gras ist, und alle Herrlichkeit der Menschen wie des Grases Blume, so wie durchdrungen von dem Bewußtsein, daß dieses vergängliche Dasein in sich tragen kann und soll die Kraft des unvergänglichen Lebens aus dem Worte Gottes. Das ist die Ruhe des Weisen, die durch keinen Wechsel der Dinge erschüttert werden mag; das ist der Grund aller Zuversicht und alles Muthes, die alle Schwierigkeiten überwinden; das ist die nie versiegende Quelle eines frohen nicht nur Gott ergebenen sondern in Gott | vergnügten Herzens, welche alle diejenigen in sich tragen können, die den Namen dessen bekennen, der da gekommen ist, daß er die Welt selig mache, daß er die Welt frei mache.

[Liederblatt vom 1. Januar 1820:] Am Neujahrstage 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Salomo etc. [1.] Der du allein beschließt Anfang und Ende, / Die Zeit herführtest aus der Ewigkeit, / Dem alles steht zu stetem Dienst bereit, / Zu deinem Thron, o Höchster, ich mich wende, / Da dieser Tag ein neues Jahr uns bringt, / Und hier im Heiligthum dein Lob erklingt. // [2.] Wir sind, o Herr, von gestern her entstanden, / Und müssen oft, eh wir uns des versehn, / In unsrer Blüthe schon hinuntergehn, / Wir sind wie Gras, das, Morgens noch vorhanden, / Oft eh die Sonne noch von hinnen weicht, / Durch Schnitters Hand sein Ende schon erreicht. // [3.] Flieht so die Zeit; laß mich was zeitlich fliehen! / Rückt näher stets die Ewigkeit herbei; / Gieb daß ich recht dem ewgen nahe sei! / So wollst du Herr zum Himmel mich erziehen, / Und niemals komme das mir aus dem Sinn, / Daß ich hier fremd ein Gast und Pilgrim bin. // [4.] Durch Christum wollest Du mich Herr erneuen, / Das alte laß im alten Jahr vergehn, / Und Heiligkeit im neuen auferstehn! / Laß dich die neue Kreatur 2 dann] denn 17–18 Vgl. Joh 3,16; 8,36

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erfreuen! / Was ich bisher gelebt, das decke zu; / Was ich noch leben soll, regiere du! // (Freilingshausen.) Nach dem Gebet. – Mel. Herr Gott dich loben wir etc. [1.] Herr Gott, dich loben wir! / Herr Gott, wir danken dir! / Allwaltender zu dir empor / Steigt heut ein heilger Jubelchor! / Du hast uns bis hieher gebracht, / Für uns gesorgt für uns gewacht, / Aus deiner Fülle strömtest du / Uns Heil und Segen reichlich zu. / Allmächtig ist der Herr, / Weis’ und gerecht ist er, / Barmherzig unser Gott, / Ein Helfer in der Noth. // [2.] Der Sonne und der Wolken Heer, / Lenkt deine Hand Allmächtiger, / Die Jahre fliehn im schnellen Lauf, / Und kein Erschaffner hält sie auf. / Jahrhunderte sind nichts vor dir, / Denn du bist ewig, Staub sind wir, / Uns alle treibt der Strom der Zeit, / Hinab in’s Meer der Ewigkeit. // [3.] Ob dann, was irdisch ist, verstäubt, / Bewohnt uns doch ein Geist, der bleibt, / Hoch über Erd und Zeit sich hebt, / Und freier wirkend ewig lebt. // [4.] Sieh dieser Geist von dir gestammt, / Dein Werk, dein Bild, von Dank entstammt, / Der Wunder deiner Gnade voll, / Er weiß nicht, wie er danken soll. / Nimm Freudenthränen, nimm Gebet, / Zum Opfer an, das zu dir fleht. // [5.] Noch ruht in ferner Zukunft Schooß / Der Völker Loos, und unser Loos, / Für uns in Dunkel eingehüllt, / Ein tröstend oder schreckend Bild. / Ach Herr wir hoffen auf dein Heil, / Dein Segen werde unser Theil. // [6.] Noch kämpft die Christenheit wohl schwer / Mit ihrer Feinde mächt’gem Heer, / Dem Unglaub’ und dem frechen Sinn; / O Herr, wann dringt sie endlich hin, / Dem Haupte nach durch Kampf und Streit, / Zum Ziele der Vollkommenheit! // [7.] Noch kaum das Schwerdt der Zwietracht ruht, / Noch dampft das Land von Menschenblut; / Barmherziger, des Friedens Heil / Sei dauernd nun der Völker Theil! // [8.] Des Christenglaubens reines Licht. / Es weiche neuem Irrthum nicht! / Es fliehe vor des Kreuzes Macht, / Was bös ist, in die ew’ge Nacht. / Gehorsam dir, fromm und gerecht, / Sei jedes kommende Geschlecht. Amen. // Nach der Predigt. – Mel. Helft mir Gottes etc. Bemüht euch um das Beste, / Den Schaz der ewig bleibt; / Ihr seid allhier nur Gäste, / Die bald der Tod vertreibt. / Entreißt euch aller Noth, / Sucht Christum zu umfangen, / Wünscht allen dies Verlangen, / Wünscht euch der Sünde Tod. //

Am 9. Januar 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,4 Nachschrift; SN 603/1, Bl. 15v–26r; Andrae Nachschrift; SAr 73, Bl. 1r–11r; Andrae Nachschrift; SAr 59, Bl. 5r–8r. Bl. 9r–11v; Woltersdorff Beginn der bis zum 6. Februar 1820 gehaltenen Predigtreihe zu den Seligpreisungen (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am ersten Sonntage nach Epiphania oder am neunten Wintermonds. 1820. | Tex t. Matth. 5. V. 4 Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. M. a. F., Wunderbar und mannichfaltig müßen uns immer diese Worte des Erlösers bewegen, vorzüglich jetzt, wo uns der Anfang eines neuen Lebensabschnittes noch in frischem Gedächtniß ist, weßwegen ich sie auch jetzt zum Gegenstande unsrer Betrachtung gewählt habe. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Hören wir dies, m. g. F., so möchten wir uns ja aussöhnen mit der uns sonst so niederdrükenden Erfahrung, wie viel Leiden den Menschenkindern auf Erden beschieden ist, so möchten wir uns ja aussöhnen mit der Vorstellung, die wir sonst oft zu bestreiten pflegen, um frischen Muth und tröstlichen Glauben im Menschen zu erhalten, als ob diese Erde, dieser Schauplaz unsers ganzen Lebens, ein Thal des Jammers sei. Dann laße der Herr das Leiden kommen und sich immer wieder erneuern, wenn es wahr ist, was der Erlöser sagt: „selig sind die Leid-| tragenden, denn sie sollen getröstet werden“; um so mehr laße er es kommen, weil, wer selbst jemals den bittern Kelch des Leidens getrunken hat, es wohl weiß, daß es Seligeres nichts giebt als in Leiden getröstet werden, daß alles Schwelgen in irdischer Freude und Lust nichts ist, gegen das Gefühl, wenn die Stimme des Trostes die Bangigkeit von der Seele nimmt. Aber, m. g. F., auf der andern Seite mögen wir auch wohl lange zweifeln, wenn wir diese Worte hören. Denn ist es wahr, was der Erlöser verheißt, woher denn so viele, die wir nie auf Erden ruhig sehen unangetastet von dem Leiden, sondern welche die ganze Bitterkeit desselben fühlen! woher

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dies, wenn buchstäblich genommen werden könnte, was der Herr ausspricht: „selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden“? Und so möchten wir uns denn umsehen nach mancherlei Beschränkungen seiner Rede, die uns die reine Freude wieder bekümmern möchten. Endlich aber m. g. F., wenn wir uns umsehen in der Welt, so finden wir auch auf derselben, und wir dürfen wohl sagen, nicht eine geringe Zahl derer, die vom Glüke begünstigt sind; und in | Beziehung auf welche uns der Apostel zuruft: „freuet euch mit den Fröhlichen“. Wenn aber der Herr sagt: „selig sind die Leidtragenden, denn sie sollen getröstet werden“, wo bleibt dann unsre Freude mit den Fröhlichen? sollen wir aufhören sie zu theilen? sollen wir diejenigen, die sich freuen, beklagen, weil der Herr nicht sie sondern die Leidtragenden selig preist, als die da sollen getröstet werden? sollen wir warten mit unseren Empfindungen für sie und mit ihnen, bis die Schimmer der vergänglichen Freude wieder verschwinden, und das Leiden bei ihnen einkehrt, damit wir ihnen dann die Seligkeit zurufen mögen, daß sie sollen getröstet werden? So, m. g. F., verwirren uns auf mannichfaltige Weise diese Worte des Erlösers. Aber ein Wort von ihm geredet ist wahr und unwandelbar, und eben so wenig soll der Mensch, der gläubige Khrist, es beschränkend denken, als ihn jemals ein Zweifel ankommen kann an dem, was sein Herr und Meister geredet hat. Aber freilich, m. g. F., genau und scharf – das hat er verlangt, und hat das Recht es zu verlangen, da seine Worte der Ausdruk dessen sind, was er selbst von seinem Vater genommen hat – genau und scharf sollen | wir sie nehmen, nicht wie wir bisweilen wohl menschliche Rede zu nehmen pflegen. Und dann werden wir wohl fühlen, es ist eben so ein wahres als allgemeines Wort, welches der Erlöser hier ausspricht; und das wird sich uns bestätigen, wenn wir zuerst sehen auf die verschiedenen Quellen, aus welchen das Leiden der Menschen zu entspringen pflegt, und dann daran halten die Verheißung, die der Erlöser an diese Worte knüpft. Dies sei also der Gegenstand unsrer heutigen andächtigen Betrachtung. I. Zuerst, m. g. F., ist es eben dieses vergängliche irdische Leben, dessen zu erinnern wir uns nicht enthalten konnten am Anfang dieses neuen Jahres, welches den Menschen Schmerz zufügt, und sie in Leid und Trauer versezt. Aber der Mensch soll seine Kräfte anstrengen, und die Menschen sollen ihre Kräfte mit einander vereinigen, um diese Quelle des Leidens je länger je mehr zu verstopfen; es soll der Mensch, den Gott zum Herrn der Erde gemacht hat, durch den richtigen Gebrauch der Kräfte, die er ihm beigelegt, die feindseligen irdischen Gewalten dämpfen und bezwingen; und | so sehen wir auch um uns her, m. g. F., eine mannichfaltige Abstufung von solchen; die am meisten Preis gegeben sind aller Noth, welche aus der 8 Röm 12,15

31–33 Vgl. oben 1. Januar 1820 vorm.

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Unvollkommenheit dieses irdischen Lebens entsteht, bis zu denen hinauf, die weil sie eben der Mittelpunkt sind jener natürlichen Vereinigung menschlicher Kräfte, weil ihnen unmittelbar die wirksamste Hülfe zu Gebothe steht, über die meisten dieser Schmerzen, welche die Natur den Menschen bereitet, bis auf diejenigen die Krankheit und Tod den Menschen verursachen, erhaben zu sein scheinen. Aber, m. g. F., jemehr der einzelne Mensch erhöht ist über die meisten seiner Brüder, je mehr er im Mittelpunkt steht dieser vereinigten Kräfte der Menschen, um desto weiter ist auch sein Gesichtskreis gestellt, um desto mehr ist es auch sein Beruf, mit diesen vereinigten Kräften nicht etwa sich, sondern alle diejenigen zu schüzen und zu berathen, die an dieser Vereinigung Theil haben, um desto mehr ist auch, wäre er auch und könnte für seine Person glüklich gefunden werden, ist sein Mitgefühl angeregt, um desto mehr muß er Leidtragen mit denen, die durch die äußere | Natur leiden und die er mit aller Macht und Gewalt, welche ihm verliehen ist, nicht schüzen und befreien kann. So müßen wir also sagen, größer als es scheint auf den ersten Augenblik ist hier die Gleichheit der Menschen von Gott geordnet, und keiner ist, der da sagen könnte, er wäre nicht und könnte nicht sein ein Leidtragender in diesem Sinne und aus dieser Quelle her. Ja, es ist dieses Leiden, welches die Unvollkommenheit der äußern Natur, die leiblichen Dinge dem Menschen verursachen, es ist der Pfahl im Fleisch, den der Herr den Söhnen der Erde ohne Ausnahme mitgegeben hat, damit sie sich nicht überheben. Aber wie an jenen großen Apostel, der darüber klagt, daß der Herr ihm gegeben habe einen solchen Pfahl im Fleisch, durch den er oft gehindert würde an der gesegneten Verkündigung des Evangeliums, wie an ihn die Stimme des Herrn erging, die zu ihm sprach: „das ist dir gegeben, damit du dich nicht überhebest; aber sei getrost und laß dir an meiner Gnade genügen“; | so spricht der Herr in den Worten unsers Textes zu allen, die auf diese Weise leiden: „selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.“ Aber, m. g. F., nur die Leid tragenden, nicht diejenigen also, die mit ihrem ganzen Streben gerichtet auf das irdische Gut und auf die irdische Lust, in Bitterkeit versinken gegen die Beschaffenheit und Anordnung des Lebens, wenn der Herr sie stellt in die Reihe der Leidtragenden, nicht diejenigen, die sich vernichtet fühlen mit dem zugleich, was sie äußerlich verloren haben, weil sie nichts anders besizen als das, was wie es dem Menschen nur äußerlich gegeben ist, auch mit äußerer Gewalt ihm wieder kann genommen werden; sondern nur die welche Leid tragen, d. h. die da trauern über die Hemmung des höhern Lebens, die durch irdischen Schmerz uns und andern wird, welche trauern darüber, daß die Freiheit der Kinder Gottes, die unaufhaltsam den Weg, den der Herr ihr gezeichnet hat, wandeln soll, und mit jedem Schritte näher zu kommen bestimmt ist dem | ungestörten Besiz 21–27.26–27 Vgl. 2Kor 12,7.9

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des Reiches, welches er gestiftet hat, daß diese so oft getrübt erscheint dadurch, daß der Mensch wieder zurüksehen muß, und seine Sorge und Theilnahme den irdischen Dingen zuwenden, die an und für sich nichts sind. Die so Leid tragen und trauern, die will der Herr trösten, wie er seinen Apostel tröstete, mit dem Gefühl „laß dir an meiner Gnade genügen“. Denn was ihmauchdieäußere Natur,wasihmauchdieVergänglichkeit derDingeund der Wechsel der Umstände, was ihm auch die Quelle des Schmerzens und Leidens, die in dieses menschliche Leben gelegt ist, bringen möge: niemals doch kann ihm geraubt werden das Bewußtsein seiner Gnade, niemals kann ihm getrübt werden das Gefühl der seligen Gemeinschaft mit ihm. Denn, m. g. F., nicht zu allen Menschen, sondern nur zu denen hat der Erlöser diese Worte gesprochen, die er unter die Zahl der Seinigen aufgenommen hat. Seine Schüler, seine Jünger waren es, die er mit diesen und andern ähnlichen Worten, welche die Rede unsers Textes enthalten, erfreuet. Und so, m. g. F., müßen wir diesen Theil seiner Verheißung wahr und allgemein finden; allgemein müßen wir ihn finden, weil es keinen unter uns geben soll, der nicht Leid trüge über | die Unvollkommenheit des irdischen Lebens, möge sie sich an ihm selbst oder an seinen Brüdern offenbaren, die er ja lieben soll wie sich selbst; wahr müßen wir ihn finden, weil es keinem Khristen jemals, leidet er durch die Gewalt der äußern Natur, daran fehlen kann, daß er nicht einen fühlenden Blik aufhebe zu demjenigen, der droben ist, und von droben gekommen war, weil es keinem Khristen jemals fehlen kann, daß er nicht mitten unter den Schmerzen des irdischen Lebens die Seligkeit des Himmlischen fühlen könne, die aus der Gemeinschaft mit dem Erlöser entsteht. Denn viel zu fern sind dieser die irdischen Dinge, als daß dadurch das selige Gefühl derselben könnte verdunkelt werden. Denn wenn es auch wahr ist, daß die Schmerzen des Lebens uns oft hindern, dasjenige zu Stande zu bringen, was er uns als Arbeitern in seinem Weinberge aufgetragen hat: o so können wir doch stets den Trost fühlen, er allein hat sich vorbehalten Zeit und Stunde, er allein weiß, wann und was er durch uns ausführt, er selbst ist es, der durch seine weise und heilige Ordnung unsre That hemmt; aber er mißt seine Gnade nicht nach der That, sondern nach dem Willen. So viel auch der Mensch handle, und | was er auch gewirkt habe: das Alles lenkt der Herr zu diesem und jenem Ende. Sollten wir auch die That unvollendet lassen; er ist es, der tröstend zu uns spricht: „laß dir an meiner Gnade genügen“. II. Zweitens m. g. F., kommt uns der Schmerz und das Leiden aus den Handlungen andrer Menschen um uns her; aber, meine Theuern, niemals ohne Schuld. Wo wir auch sehen mögen, daß ein Mensch dem andern Schmerzen verursacht, daß sie sich einander die Freude und den Genuß 5.35–36 2Kor 12,9

29–30 Vgl. Apg 1,7

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des Lebens trüben, wenn an dem keine Schuld ist dem es widerfährt, so liegt die Schuld an dem, von welchem es ausgeht, oder sie ist irgendwo in der Mitte zwischen beiden, daß entweder der Handelnde oder der Leidende verwikelt ist in fremde Schuld. Denn denken wir uns alle menschliche Kräfte in die Gemeinschaft Gottes gestellt; denken wir uns alle menschliche Handlungen auf den großen Zwek des Himmelreichs gerichtet: wie sollte es zugehen, daß einer dem andern könnte Schmerzen verursachen? wie müßte sich nicht | jeder durch das Thun und Dasein des andern gefördert finden in seinem eigenen Wirken und Leben, welches kein anderes ist als das gemeinsame? Aber, m. g. F., wenn auf irgend eine Weise der Mensch, sei es von der Seite seines ungebildeten, seines einseitigen, seines verirrten Verstandes die Wahrheit sich verbirgt, und das Rechte, was er thun soll, nicht sieht, oder daß ein leidenschaftlich bewegtes Gemüth, ehe das Auge des Geistes um sich her geschaut, und sich dann auf dem rechten Punkt fest gestellt hat, daß ein solches zufährt und handelt wiederum auf der andern Seite; wenn jene Kraft, die allein unter den Jüngern des Herrn regieren soll, wenn die Kraft der Liebe in den menschlichen Gemüthern geschwächt wird, und die Selbstsucht und mit derselben – denn ist sie einmal vorhanden, so ist auch jenes ganz dem Zufall anheimgestellt – der Haß im menschlichen Herzen entspringt: dies ist die Schuld, welche die meisten Leiden und Schmerzen über die Menschen bringt. Ja, m. g. F., wenn wir umherschauen, so weit unser Auge reicht, und uns aufsuchen die Bedrängten und Leidtragenden: o wie | bei weitem der größte Theil derselben wird aus denen bestehen, die so durch die Schuld ihrer Brüder leiden! Und der Herr sagt: „selig sind die da Leidtragen; denn sie sollen getröstet werden.“ Aber auch hier, m. g. F., müßen wir es uns recht scharf einprägen: „selig sind, die da Leid tragen“. Wenn aber einer glaubt, wo ein irriger, wo ein einseitiger Gedanke die Verwirrung und das Unheil ins Leben gebracht hat, da könne dem nicht anders abgeholfen werden, als indem man mit allen Kräften den entgegengesezten eben so einseitigen Gedanken hervorhebt, damit beide kämpfend gegen einander aufträten; wenn derjenige, welcher leidet durch leidenschaftliche Bewegung des Menschen, meint, nun sei ihm nicht anders zu helfen, als der Leidenschaft müße wieder die Leidenschaft entgegengesezt werden, damit eine Gewalt die andre und eine Schuld die andre aufhebe, und nur durch den strengsten Kampf mögen die allzu heftig bewegten Gemüther zur Ruhe gelangen; wer meint, wenn Selbstsucht die Menschen beherrscht, daß sie mißbrauchend die von Gott ihnen verliehene Gewalt nicht für den Zwek des Ganzen ihre | Kräfte in Bewegung sezen, sondern nur für sich selbst sorgen, dann sei jeder seiner Pflicht entbunden, das gemeinsame Werk zu fördern, dann müße jeder nur auf sich sehen, für sich dastehen, und seinen Plaz sicher zu stellen streben; wenn der Haß in die Herzen der Menschen sich eingeschlichen und die Liebe sich umgekehrt hat, und derjenige, der als Gegenstand des Hasses leidet, meint, auch er

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könne doch nun nicht anders als feindselig tragen seine Feinde, auch er könne nicht anders als mit eben so gewaltsam bewegtem Gemüth und in eben so gewaltsamen Handlungen gegen sie wirken, und aus allen Kräften ihnen entgegen arbeiten, daß nun auch sie das Werk des Herrn und seinen heiligen Beruf im Stiche laßen; wer da meint, der Haß könne nur wieder durch Haß, die Feindschaft nur wieder durch Feindschaft getilgt werden: – o das sind ja keine Leidtragende, und die alle haben sich das Wort des Erlösers nicht anzueignen, daß sie sollen getröstet werden. Aber wer als Mensch und Khrist die Trübsal leidet und festzuhalten sucht an der Wahrheit, und | nicht abläßt, den, der wer ihn darum bittet mit seinem heiligen Lichte erleuchtet, den anzurufen, daß er ihm das Auge des Geistes nicht trübe werden laße in der allgemeinen Verwirrung; wer mitten unter den leidenschaftlich bewegten Gemüthern die Ruhe, die Stille in seinem Herzen zu erhalten weiß, die keinen Irrthum und Fehler kennt, und die mit treuem Sinn auf den Erlöser sieht, der schon durch den geistigen Blik seines Auges Alles zu beruhigen vermag; wer, weit entfernt von jener beschränkten Ansicht früherer Zeiten: „du sollst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen“, nicht weicht, was ihm auch begegnen möge, von den Worten des Erlösers: „ihr sollt die segnen, die euch fluchen, und denen wohl thun, die euch hassen“; wer so mitten unter den Leiden und Schmerzen, welche die Fehltritte und Verschuldungen der Menschen ihm bringen, an der Wahrheit und Liebe festhält: – o wie sollte der nicht getröstet werden? Leid wird er tragen, m. g. F., nicht an dem Nachtheiligen | was ihm begegnet, aber wohl an dem traurigen Zustand, in den er die Menschen um sich her versunken und verkehrten Irrthümern hingegeben sieht, Leid wird er tragen, aber eben indem er an der Wahrheit und Liebe hält, muß er getröstet werden durch den, der da gesagt hat, daß sein Reich einmal gegründet durch nichts in der Welt könne überwunden werden, muß er getröstet werden durch den, der es ihm in seinem Innern zu fühlen giebt, daß je länger je mehr doch alle Knie sich vor ihm beugen, und den als ihren Herrn erkennen werden, in welchem allein ihnen Heil gegeben ist. Denn je mehr wir so unter den Stürmen des Lebens feststehen in der Wahrheit, die er vom Himmel gebracht, und in der Liebe, die er als ein neues Gebot den Menschen verkündigt hat, desto mehr müssen wir die ewige Kraft, die überschwengliche Gewalt derselben fühlen, und in diesem Gefühl getröstet werden über alle Leiden und Verschuldungen, die uns vorübergehend erscheinen in dem Gebiete wo einmal | seine Wahrheit, seine Weisheit, seine Liebe Wurzel gefaßt hat. Und so wahr, so allgemein ist auch diese Verheißung. Denn wer wollte auftreten und sagen, er wäre nicht ein Leidtragender, der dieses Trostes bedürfte? Wie ausgeschloßen aus der Gesellschaft der Menschen, und wie verhärtet gegen alle Theilnahme müßte 16–19 Vgl. Mt 5,43–44 (Zitat aus Lev 19,18) (zitiert in Röm 14,11) 30 Vgl. Apg 4,12

26–27 Vgl. Mt 16,18 32–33 Vgl. Joh 13,34

29 Jes 45,23

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der sein, den dieses Leiden nicht träfe, welches uns so viele Vergehungen und Verschuldungen in den Seelen der Menschen zeigt.

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III. Aber drittens, m. g. F., entstehen Schmerzen und Leiden dem Menschen auch nicht nur durch fremde, sondern durch seine eigne Schuld. Doch indem wir uns hierüber vereinigen, so laßt uns vor allen Dingen feststehen in dem Gedanken, daß der Erlöser die Worte unsers Textes nur zu den Seinigen geredet hat. Ja außerhalb seines Gebietes da kann es geben bittere Reue, da kann es geben vernichtende Verzweiflung, wenn der Mensch zu sehr den Herrn seinen Gott versucht, und wenn er in der Fülle seiner Sünden gleichsam schwelgend bis auf den lezten Ruf die göttliche Gnade überhören | kann; ja außerhalb seines Gebietes mögen verstokte Gemüther bittre Reue und durchgreifende Verzweiflung empfinden nicht über das, was sie gethan haben, nicht über das, was sie gewesen sind, sondern darüber, wie ihr eignes Verderben auf sie zurükgefallen ist. Aber, m. g. F., sehen wir auf den Kreis, den der Erlöser um sich her gestiftet hat, damit diejenigen, welche ihn bilden, durch ihr Denken und Thun sein Reich auf Erden fördern helfen, nachdem sie in Beziehung auf ihr früheres von ihm geschiedenes Leben das tröstliche und herrliche Wort: „dir sind deine Sünden vergeben“ aus seinem Munde vernommen haben: so möchten wir sagen, genau genommen sollte es gar keine Reue und gar keinen Schmerz über jeden einzelnen Ausbruch des menschlichen Willens gegenüber dem göttlichen geben. Denn der Mensch soll seinen Blik beständig von außen nach innen richten, er soll sich kennen und in dem Spiegel des göttlichen Wortes immer genauer kennen lernen, wer er ist, und in diesem durchdringenden Lichte soll er auch die verborgensten Falten seines Herzens ins Auge fassen, und die | tiefsten Keime des Verderbens erbliken, ohne daß eine schmerzliche Wehmuth darüber sich seiner erst zu bemächtigen brauchte; er soll es wissen, wie weit jedes menschliche Gemüth noch von dem reinen Vorbilde des Erlösers entfernt ist, und wieviel Unvollkommnes noch in demselben vorhanden ist; er soll es wissen, wie der Geist Gottes es ist, der uns allmälig immer mehr über das Unvollkommene erhebt, daß aber, wo noch ein Keim des Verderbens ist, auch Versuchung entstehen kann, und daß in der Stunde der Versuchung oft durch den gefährlichen Zunder der Leidenschaft den Seelen der Menschen der Segen des göttlichen Wortes an seinem Herzen wieder entrissen werden kann. Das soll er wissen, und eben deßwegen weniger erschüttert, weniger beunruhigt werden durch die einzelnen Fehltritte, die hier und da noch aus dem innern Keime des Verderbens hervorgehen; er soll diese Mahnungen nicht unbenuzt vorübergehen laßen, sondern sie sorgfältig beachten, damit | er immer untrüglicher den göttlichen Willen anschaue, und immer mehr wachse in 18–19 Lk 7,48

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der Erkenntniß seiner selbst; er soll auch ohne wirklich zu sündigen eben so tief fühlen, wie sehr jener innere Keim der Sünde ihn noch immer entfernen kann von seinem Ziele. Aber eben dieses m. g. F., eben dieses nähmliche Bewußtsein davon, daß wir zwar von der Herrschaft und dem Gesez der Sünde befreit sind durch den, der uns freigemacht hat, daß aber die Sünde selbst uns nie ganz verläßt, solange wir auf Erden wandeln, dieses nähmliche Gefühl, das ist das wahre Leiden des Khristen, welches er hat an seiner eignen Schuld. Davon also, m. g. F., kann keiner frei sein; und Jeder wie rein sein Leben auch sein möge von äußern Handlungen, die von dem inneren Verderben zeugen, wie getrosten Muthes er auch sein Auge erheben könne gegen seine Mitmenschen und sie fragen, ob sie ihn zeihen könnten eines | äußern Ausbruchs der Sünde, ein Leidtragender in diesem Sinne über seine Schuld soll Jeder sein, der tief in sich selbst geschaut hat. Aber eben so, m. g. F., müßen wir sagen „selig sind die da Leidtragen in diesem Sinne, denn sie sollen getröstet werden“ – selig sind sie eben deßwegen, weil sie sich so nur kennen können, indem sie den kennen, der uns allen ein Vorbild geworden ist durch seine Heiligkeit und Gerechtigkeit; selig sind sie deßwegen, weil sie dieses unauslöschliche Leiden über die Verderblichkeit des sündigen Menschen nur fühlen können durch die Liebe zu dem, der da gekommen ist, daß er alle Sünder selig mache, und dessen Herrlichkeit darin besteht, daß durch seinen Geist die Sünde immer mehr verschwinde von dem Geschlecht der Menschen; selig sind sie deßwegen, weil sie Leidtragen – aber selig auch, daß sie sollen getröstet werden. Und alle, die so Leidtragen, sollen getröstet werden. Darum sagt Johannes: „aus seiner | Fülle nehmen wir Gnade um Gnade“. Ja dies ist das selige Bewußtsein dessen, der nur Leid trägt über die Schuld der Sünde, die in ihm ist. Der allein findet die unendliche Fülle der Gnade dessen, der unser Heil und Leben geworden ist; dem allein gebricht es nie zu speisen aus dem Quell des lebendigen Wassers, der in Khristo fließt; der allein empfängt immer wieder aufs neue aus der Hand seiner Liebe das Brot des Lebens, daß ihn nie hungern möge, und er wird das Leiden zum frohen Bewußtsein der Fülle, die ihm in dem Erlöser erschienen ist, bewahren, und durch dieses Bewußtsein himmlisch getröstet werden. Wer sind nun, m. g. F., die Fröhlichen, mit denen wir uns freuen sollen? Es sind keine andre als die, welche da Leid tragen, und die getröstet werden sollen. Eine andre Freude und Fröhlichkeit als diese kann dem unvollkommenen Menschen auf Erden nicht beschieden sein. Das ist die Freude an dem Herrn. Selig also, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden; und vermöge dieses Trostes und mit demselben freuet euch in dem Herrn alle Wege, und abermal sage ich euch, freuet euch. Amen.

4–5 Vgl. Röm 8,2 40 Vgl. Phil 4,4

24–25 Vgl. Joh 1,16

28–31 Vgl. Joh 4,10.14; 6,35

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[Liederblatt vom 9. Januar 1820:] Am 1sten Sonntage nach Epiphania 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Jesu dem die etc. [1.] Wie thöricht handelt doch ein Herze, / Das außer Jesu Ruhe sucht, / Das sich an tausendfachem Schmerze / Abmattet, und wie auf der Flucht / Nach Rauch und leeren Schatten rennet, / Bald dies bald jenes ihm erwehlt, / Und doch des rechten Guts verfehlt, / Weil es nicht seinen Ursprung kennet. // [2.] Wie kann das sterbliche vergnügen / Die Seele, die unsterblich ist? / Soll das was ewig unterliegen, / Dem welches währt so kurze Frist? / Wie kann was irdisch dich ergözen, / Da für den Himmel du gemacht? / Du der von Gott so hoch geacht’t, / Weißt deinen Werth nicht selbst zu schäzen? // [3.] Dring durch zu Gott, verlaß die Sünden, / Sag ab der Thorheit dieser Welt; / Dein Herz kann Ruhe dann erst finden, / Wenn dir der Himmel nur gefällt. / Dann wird der Sohn, der sich verloren, / Und von dem Vater abgewandt, / Rückkehrend wieder anerkannt, / Und aus dem Geiste neu geboren. // (v. Bonin.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Salomo etc. [1.] Beklommnes Herz! was willst du bange sorgen, / Und willst dich ängstigen bei Tag und Nacht, / Um das was doch nicht steht in deiner Macht? / Oft kommt aus Sturmes Nacht ein schöner Morgen; / Und wer am Abend kläglich trauernd singt, / Des Morgens Gott schon Jubellieder bringt. // [2.] Ermüdet Herz! du mußt dich nicht verlieren; / Gedenke nur des ewgen Vaters Treu; / Der deinen Kummer kennt, der macht dich frei, / Sieh durchs Gewölk im Himmel ihn regieren! / Der alles ihm zum Wohlgefallen schafft, / Des Anblick giebt dir neue Lebenskraft. // [3.] Erniedrigt Herz! schwing deine beiden Flügel, / Des Glaubens und der Hoffnung da hinauf, / Wohin die Sehnsucht richtet ihren Lauf, / Laß frohem Muthe wieder frisch die Zügel! / Bald ziehst du aus das schwarze Traurgewand, / Und trittst in den erhöhten Freudenstand. // [4.] Verstummend Herz! laß durch das Kreuz dich trösten, / Dein Jesus auch verstummte wie ein Lamm, / Doch siegt er sterbend an des Kreuzes Stamm, / Und zieht empor zu sich einst die Erlösten. / Drum weiche nicht von seinem Kreuz zurück, / Du wirst erquickt von manchem Liebesblick. // [5.] O selig Herz! So bist du wohl beglücket, / Denn hast du hier an Jesu Leiden Theil, / So strömt dir dort aus seiner Fülle Heil, / Wenn du gen Himmel wirst zu ihm entrücket, / Der Glauben ists, der überwindet weit, / Die Angst, die uns auf Erden ist bereit. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Hüter wird die Nacht etc. [1.] Sei getrost bei trüben Tagen, / Dulde Plagen, / Armes Herz, verzage nicht! / Gott kann Last in Lust verkehren, / Gott will hören, / Sez’ auf Gott die Zuversicht. // [2.] Gold wird durch die Glut bewähret, / Und verkläret, / Kreuz bewährt des Glaubens Gold; / Gott versuchet seine Lieben / Durch Betrüben, / Gott ist den Bewährten hold. //

Am 16. Januar 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Predigtzeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Epiphanias, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,16–19 Nachschrift; SAr 59, Bl. 12r–13v; Woltersdorff Keine Keine Teil der wohl vom 25. April 1819 bis wahrscheinlich zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Aus der Predigt am 2. S. nach Epiph. 1820. 1. Petr. 4 v. 16–19.

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Der Anfang dieses Textes kann uns im ersten Augenblick unverständlich vorkommen, es kann uns befremdet haben, daß der Apostel redet von einem Gericht das an dem Hause Gottes anfangen soll; denn wie? sagt nicht unser Erlöser selbst: wer da glaubt (und aus solchen die glauben besteht doch das Haus Gottes das ist auch des Apostels Meinung) der wird nicht gerichtet, und wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet: So scheint also der Apostel dem Herrn widersprochen zu haben; denn wenn das Haus Gottes nicht soll gerichtet werden, und die sich außer demselben befinden, sind sie immer darin begriffen, so bedarfs ja nicht daß ein Gericht anfange zu irgend einer Zeit. Allein der Erlöser sagt einmal: ich bin nicht gekommen daß ich die Welt richte: und das andere mal: ich bin gekommen daß ich sie richte: Wie nun der Erlöser sich nicht selbst widersprochen hat, so hat ihm auch der Apostel nicht widersprochen. – Wenn wir fragen was er versteht unter dem Gericht Gottes in dem Hause Gottes, so müssen wir auf den Zusammenhang seiner Rede sehn. Es war vorher die Rede davon, daß die Christen viel zu leiden haben von den Widersachern des Evangeliums, daß sie aber in diesem Leiden sich freuen sollen weil sie eben darin seelig sind. Fragen wir uns nun: was ist es in der Welt, wodurch ein Gericht herbeigeführt wird? so müssen wir sagen; es ist das, daß die welche das Evangelium bekennen und es verbreiten wollen, von den andern gehöhnt und geschmähet werden: Das ist der Kampf des Lichtes gegen die Finsterniß und 6–8 Vgl. Joh 3,18 1Petr 4,12–14

12–13 Joh 12,47

13–14 Vgl. Joh 9,39

17–19 Vgl.

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des Guten gegen das Böse. Diejenigen aber von denen dieser Kampf ausgehet, nemlich die Verblendeten meinen, sie thun nicht nur recht, sondern auch Gott einen Dienst damit daß sie die Christen verfolgen. Daraus aber entsteht ein Gericht, der Erlöser sagt: ich bin zum Gericht auf diese Welt kommen, daß die da sehen – d. h. die zu sehen glauben – nicht sehen, die Blinden aber sehen: Das sagte er da er eben einem Blinden die Augen geöffnet hatte. Der wäre ohne ihn blind und die andern des Glaubens daß sie recht sehen, geblieben. Das also meint der Apostel mit Gericht – diese Entscheidung. – | Der Apostel hält dies Gericht für unvermeidlich weil es Folge des Kampfes welchen das Böse erregt ist. Und damit es den Seegen bringe den es soll nach Gottes Willen, so macht er darauf aufmerksam, indem er fragt, 1. daß da in diesem Gericht der Gerechte kaum bestehen kann, wie es denn mit denen stehen soll die Gottlose und Sünder sind, weil das Gericht nicht beim Hause Gottes stehen bleibt, sondern weiter geht auch über die Ungläubigen, 2. sagt daß eben darum jeder der leidet um Christi willen, seine Seele Gott befehlen soll in guten Werken. 1. sagt er daß das Gericht anfängt in dem Hause Gottes sich aber hernach erstrekt über die Ungläubigen. – Das Gericht ist überall ein Entscheiden, ein klar werden was dunkel und gewiß werden was ungewiß ist. Soll nun das Gericht irgendwo anfangen so ist da etwas Unklares was klar, etwas Ungewisses das gewiß werden soll. Was ist nun dies unter den Gläubigen? dabei denken wir des Worts „wer kann merken wie oft er fehle, Herr verzeihe die verborgnen Fehle!” – Ja das ist die Ungewißheit in der jeder schwebt, daß er nicht weiß in wieweit er frei ist. Das ist überall das Einige daß viele Versuchungen dazu gehören ehe jeder weiß wie nahe er dem Herrn stehe, und in welchem Maaße er von ihm Kraft genommen hat, daß er erfahre, dazu ist das Gericht nütze. – Die Entscheidung welche aus dem Kampf hervorgeht. – Nur durch den Kampf welchen das Licht gegen die Finsterniß führt kann der Gläubige wissen wie fest er steht im Glauben und in der Liebe, und dieses Gewißwerden giebt ihm das Gefühl der Seeligkeit. Das ist es was aus dem Gerichte Gottes hervorgeht in dem Hause Gottes. Wenn aber das Gericht daraus entsteht daß die Verblendeten die Gläubigen verfolgen, welches zuerst Erschütterung und Verwirrung wirkt, so muß natürlich durch dasselbe, weil es die Gläubigen sicherstellt, die Erschütterung und Verwirrung auf diejenigen zurückfallen von denen der Kampf ausging. So erstrekt sich also das Gericht auch über die Sünder. | Und wie die Gläubigen dadurch ihres Glaubens gewiß werden, so werden die Verfolger dessen gewiß, daß sie das was sie meinten den Kleinsten gethan zu haben, dem 23 Fehle] Vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 72 4–7 Vgl. Joh 9,39

22–23 Ps 19,13

38–1 Vgl. Mt 25,40

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Herrn selbst gethan haben. Der Apostel aber sagt, daß die Gerechten kaum erhalten werden im Gerichte. Wie meint er das? – Was heißt der Gerechte wird erhalten? – Die Schrift sagt: der Gerechte lebt seines Glaubens: Er also wird erhalten, wenn ihm der Glaube und die Liebe in denen er nur lebt, erhalten werden, dann gereicht ihm alle Versuchung dazu daß er sich des Lebens recht bewußt werde und er leidet nicht Schaden an seiner Seele, so kann er mit frohem Muthe dem Gericht entgegen gehn, aber dazu muß er recht fest stehn in seinem Glauben sonst kann er nicht erhalten werden. Ja es giebt wol Zeiten daß in den Gerichten Gottes der Gerechte kaum erhalten wird, denn die Verwirrung kann gar leicht dem schwachen menschlichen Blick undurchdringlich scheinen und so im festen Glauben ihn wankend machen und Zweifel in ihm erregen, ihn verleiten, daß er auf Augenblicke in Gleichgültigkeit und im Zweifel versinke. Kommen solche Augenblicke über uns, dann werden wir die Gefahr viel höher anschlagen müssen, als sie ist, wenn wir feststehen im Glauben und in der Liebe. Ja wenn wir festhalten im Glauben: dann nur werden wir errettet und erhalten werden. Darum laßt uns wenn solche Augenblicke über uns kommen wollen uns wenden zu dem Wort des ewigen Lebens, woraus allein der Glaube sich stärken kann, dann wird er aufs neue feststehn. Aber eben mit dem Gefühle daß der Gerechte kaum erhalten wird fragt der Apostel was denn aus dem andern werden soll. Und durch diese Frage mahnt er uns eben daß auf sie unsre Liebe soll gerichtet sein. Wenn der Gerechte schwer, aber doch erhalten wird im Gerichte Gottes wie muß dann sein Mitleid rege sein gegen die auf welche es hernach desto schwerer zurückfällt. Also auch in Beziehung auf sie sollen wir festhalten im Glauben. – Wie sie auch ankämpfen mögen gegen den Glauben, dadurch sollen wir uns nicht verleiten lassen zu gleicher Feindschaft und zum Haß, sondern für den Glauben kämpfend sie dafür zu gewinnen suchen. – Wir die wir soviel Gnade empfangen haben, wie sollten wir nicht von Mitleid erregt werden gegen sie. Sehen sie uns | wanken, so müssen sie ja von dem Glauben den sie nicht hatten immer wieder entfernt werden. Wo wollen sie Trost und Stütze finden! Darum laßt uns in solchen Zeiten festhalten im Glauben und der Liebe, damit es ihnen nicht an Mitteln fehle das Heil ihrer Seelen zu fördern. 2. Eben darum aber daß sie zum Glauben gelangen mögen, und daß wir darin fest stehen, sollen wir Gott unsre Seelen befehlen in guten Werken, ihm dem treuen Schöpfer. Ihm der in uns schafft dies Wollen und Vollbringen, der seine Kraft uns einflößt damit sie in uns Schwachen mächtig sei. – Der Apostel giebt uns zu bedenken daß gute Werke das beste Stärkungsmittel seien unsers Lebens im Glauben. Also nur darum sollen wir 3 Hab 2,4 (zitiert in Röm 1,17 und Gal 3,11) 38 Vgl. 2Kor 12,9

36–37 Phil 2,13

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sie verrichten; und nicht etwa um uns vor Gott als Gerechte darzustellen; denn davon hat kein Apostel irgend etwas geschrieben, daß der Mensch vor Gott gerecht werde durch Werke, und Paulus kann daran gar nicht gedacht haben. Sondern befehlen in guten Werken, heißt seine Seele Gott hingeben damit er durch sie wirke. Immer von neuem und besonders wenn Versuchung droht ihm befehlen damit der Mensch beharret in der Thätigkeit darin er als Diener Gottes begriffen ist. – So gilt das Wort welches fürs gewöhnliche Leben gesagt ist auch besonders für die Zeit des Gerichts: Bete und arbeite!: – Zeiten des Gerichts sind Zeiten wo nichts fest und sicher steht, wo Verwirrung überall eingedrungen ist in den äußeren Verhältnissen, wenn nun der Mensch nichts anders thut als sieht so wie seine Seele verwirrt, sein Glaube müsse untergehn in der allgemeinen Verwirrung wenn er nicht in Wirksamkeit hervortritt. Ueben soll er seine Kraft, treu und fleißig sein in seinem Beruf, nur so kann festgestellt werden was erschüttert ist, – keinen Zweifel sich stören lassen, ob in diesen Zeiten das was er thut und sucht zum guten Ende gereicht. – Das ist das wodurch sich jeder am besten sicher stellt im Glauben und in der Liebe und wodurch den andern geholfen wird. So nur kann der Seegen des Gerichts über die Gläubigen kommen, überläßt er sich aber müßigen Betrachtungen, so kann er des Seegens nicht theilhaftig werden. Aber das ruhige Fortgehen der von Gott gewirkten Thätigkeit die schützt uns vor jeder Gefahr. – So lasset uns diese Rede des Apostels in dieser Zeit auffassen damit sie förderlich werde zur Seeligkeit. Keinem muß es fehlen an guten Werken und keinem fehlen an solchen auf welche er sieht um sich an ihnen emporzurichten. Auf die Verblendeten lasset uns sehen mit Liebe und Mitleid, für uns selbst aber festhalten am Glauben und der Thätigkeit, dann werden wir unsre Seelen ihm befehlen und durch seine Gnade erhalten werden.

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3. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,5 Nachschrift; SAr 54, Bl. 31r–39v; Schirmer Keine Nachschrift; SN 603/1; Bl. 26v–32r; Andrae (Fragment) Nachschrift; SAr 52, Bl. 34v–35r; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 14r–15v; Woltersdorff Teil der vom 9. Januar 1820 bis zum 6. Februar 1820 gehaltenen Predigtreihe zu den Seligpreisungen (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Am dritten Sonntage nach Epiphanias 1820.

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Tex t. Matth. 5,5 Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. 5

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Es geht uns gewiß, m. gel. Fr., mit manchem herrlichen Worte der heiligen Schrift so, daß in dem ersten Augenblicke, wo wir es vernehmen, unser Herz demselben beistimmt und wir von einem Gefühl der Wahrheit desselben durchdrungen werden. Aber bei näherer Betrachtung entwickeln sich uns allerlei Bedenken und Zweifel, die diesen Eindruck wieder schwächen oder aufheben, bis wir durch diese hindurchkommen und dann eine höhere Klarheit finden, als die war, die im ersten Augenblicke uns entgegenkommt. Von der Art scheint auch dies Wort zu sein, welches ich heute zum Grund unserer Betrachtung gelegt habe. Wir können es gewiß nicht hören, ohne die Vorstellung zu bekommen von einem herrlichen Gute, von einem, von dem Erlöser selbst uns vorgezeichnetem, mit dem Innersten seines eigenen Wesens übereinstimmenden Wege, um zu diesem Gute | zu gelangen; aber bei näherer Betrachtung entwickeln sich doch allerlei Zweifel, wie denen eine Seligkeit zukommen könne, von denen der Erlöser hier redet. Und durch diese Zweifel und Bedenklichkeiten uns zu leiten zu der höheren Klarheit, ist die Absicht meines heutigen Vortrages, und so laßt uns zu verstehen suchen, was der Erlöser sagt von der eigenthümlichen Seligkeit der Sanftmüthigen. Es kommt hiebei auf zweierlei an, erstens, daß wir verstehen, was das für eine Seligkeit sei, die er ihnen verheißt und zweitens, wer

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denn die sind, denen sie verheißen wird. Auf die Beantwortung dieser beiden Fragen laßt uns heute unsere Aufmerksamkeit richten.

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1. Wenn wir nämlich hören: selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen, so entsteht wohl natürlich bei näherer Betrachtung die Frage: kann denn der Erlöser uns das als eine Seligkeit anpreisen, das Erdreich zu besitzen? Ja, wenn er sagt: selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Himmelreich besitzen, das ist ein Wort, welches wir | immer von ihm hören wollen. Aber daß er sagt: Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen, er, welcher selbst nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte und von dem wir doch glauben müssen, daß keine Seligkeit ihm könne gefehlt haben, deren der Mensch fähig ist, er, der seine Jünger selbst aufforderte, alles zu verlassen und ihm nachzufolgen, er, der selbst bezeugte, wie schwer es sei, daß ein Reicher könne ins Himmelreich eingehen – er preist es als Seligkeit an, daß die Sanftmüthigen das Erdreich besitzen werden, dies Bedenken wird wohl einem jeden von uns aufsteigen. Aber laßt uns dagegen doch erwägen, was war es doch, das Gott selbst sprach, als er den Menschen in diese Welt einführete? „Wir wollen Menschen machen damit der Mensch Herr sei über alles, was auf Erden lebt und stirbt.“ Zu dieser Herrschaft, zu diesem Besitz also hat Gott die Menschen selbst erschaffen, und der Erlöser wollte gewiß kein Wort seines Vaters verläugnen. Und so mag er Recht haben, wenn der Mensch dazu geschaffen ist, das Erdreich zu besitzen, so ist das seine Bestimmung, und diese zu erfüllen, das | muß ja Seligkeit sein. Aber nicht das nur m. gel. Fr., sondern der Erlöser selbst sagt: „mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden“, und da sehen wir, wie seine eigenen Worte dem nicht entgegengesetzt sind, sondern in der engsten Verbindung damit stehen. Ihm konnte nicht alle Gewalt im Himmel gegeben sein, wenn sie ihm nicht auch auf Erden gegeben war, und er konnte nicht alle Gewalt auf Erden besitzen, wäre ihm nicht alle Gewalt im Himmel vom Vater verliehen worden. Also Gewalt haben auf Erden, das ist das, was ihm selbst gegeben ist von seinem Vater, und wenn er uns einladet, daß wir mit ihm Eines seien, so sollen wir auch theil haben an der Gewalt, die ihm auf Erden gegeben ist, so muß es auch zu unserer Seligkeit gehören, das Erdreich zu besitzen. Und was er so oft seinen Jüngern gesagt hat, was sie bitten würden in seinem Namen, das werde ihnen der Vater im Himmel geben; wenn er sagt: „so ihr Glauben habt, wie ein Senfkorn, so werdet ihr Berge versetzen können“: sind das nicht alles bildliche Ausdrücke von einer Gewalt, die seinen Gläubigen auf Erden gegeben werden soll? So ist dies eine Wort, | 9–10 Mt 8,20; Lk 9,58 12–13 Vgl. Mt 19,21; Mk 2,14; 10,21; Lk 5,27; 9,59; 18,22 13–14 Vgl. Lk 18,24 17–19 Vgl. Gen 1,26 24–25 Mt 28,18 34– 35 Joh 16,23 36–37 Vgl. Mt 17,20

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übereinstimmend mit allem anderen des Erlösers, ein Wort, welches wohl werth ist, daß wir es betrachten. Aber freilich, m. gel. Fr., dann mag unser erstes Gefühl Recht gehabt haben, wenn wir unter diesen Werken das verstehen, was der größeste Theil der Menschen darunter versteht, dann könnte es wohl was die Seligkeit der Christen betrifft, ganz gleichgültig sein, wenn es ihr nicht nachtheilig wäre, das Erdreich zu besitzen. Denn was meinen viele, das Erdreich zu besitzen, werden sie selbst nicht vielmehr von den irdischen Dingen besessen? Denn wer sein Herz hängt an die vergänglichen Dinge dieser Welt, der ist nicht ihr Herr, er besitzt und beherrscht sie nicht, sondern er ist ihnen unterthänig und ihr Knecht, er hangt ab von den Einwirkungen, welche ihre Nähe oder Ferne auf sein Gemüth hat. Und wenn wir äußerlich die Sache betrachten und danach fragen, wer also auf diesem Grund der Erde viel des Besitzthums hat, der hat wohl viel, und wer wenig besitzt, der hat wenig von dieser Seligkeit, welche der Erlöser verheißt? wenn wir dies so abhängig machen wollen von dem äußerlichen Umfang des Besitzes, von dem Gebiet, auf welchem des Menschen Wille etwas gilt: | dann werden wir freilich in Versuchung sein, sagen zu müssen, wenn der Erlöser die Seinigen meint, denen er verheißt des Erdreich zu besitzen, so hat er bis jetzt sein Wort schlecht erfüllt und es sei auch, wie die Dinge sich jetzt verhalten, keine Aussicht, daß wir eine bessere Erfüllung desselben jemals sehen werden. Aber, m. gel. Fr., wenn wir auf der anderen Seite betrachten, wie jeder Mensch seinen Besitz und seine Herrschaft der Dinge der Welt mit gar vielen zu theilen hat; wie derjenige der über die Menschen gebietet, am wenigsten unmittelbar seinen Willen ausführen kann, so daß er auf tausenderlei Weise gebrochen wird und gedeutet und verändert, so daß, wenn wir ihn fragen: ist das Dein Wille gewesen? wir ebenso oft ein demüthigendes Nein aus seinem Munde vernehmen würden, als eine Bekräftigung desselben als seines eigenen – wenn sich uns auf diese Weise dieser Ausdruck immer mehr zu verwirren scheint: so müssen wir an dem Lichte des Erlösers selbst es uns klar zu machen suchen, indem wir untersuchen, was er denn damit gemeint haben kann, indem er sagt: Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. | Wenn wir zurücksehen auf jenes erste Werk an den Menschen und über den Menschen, so finden wir den genauesten Zusammenhang zwischen dem, das Gott der Herr sprach: lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, und dem, das er zu dem Menschen sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch unterthan. Denn wenn Gott allein der Herr ist über alles und alles besitzt, so ist auch das nur die wahre Herrschaft und der wahre Besitz, worin sich das Ebenbild Gottes ausdrückt. Wenn also einer noch so viel von den Dingen dieser Erde unter seine Gewalt bringt, aber zu keiner 35–36 Gen 1,26

37–38 Gen 1,28

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anderen Absicht, als daß er damit den Willen seines Fleisches erfülle, von dem können wir niemals sagen, nach dem Sinne des Erlösers, daß er, indem er das Erdreich besitze, die verheißene Seligkeit schenken werde, denn er wird, indem er auf sein Fleisch hört, nichts, als das Verderben davon ernten; und von dem, der mit seinem Besitz sich zugleich selbst verliert, können wir niemals sagen, er habe ihn wirklich gehabt. Aber derjenige | der mit der Hülfe aller irdischen Dinge und aller Kräfte, welche dem Menschen gegeben sind, nichts anderes will, als das Reich Gottes bauen, der besitzt, so weit ihm dies gelingt, das Erdreich, denn er übt darin aus die Kraft Gottes, der sie nicht anders, als durch den Menschen, der sein Ebenbild ist, und geleitet von dem göttlichen Gesetz, ausüben will. Und so betrachtet, m. gel. Fr. kann uns auch die Frage, welcher Einzelne mehr oder weniger das Erdreich besitzt, mit der von der Seligkeit gar nicht mehr zusammenhangen, denn in dieser Herrschaft, die wir über die Erde ausüben sollen, um sie für das Reich des Himmels zu gestalten, darin steht keiner für sich allein, sondern sie ist ein gemeinsames Werk und ein gemeinsames Gut, an welchem freilich nur diejenigen einen Antheil haben können welche nach den gemeinsamen Gesetzen dieser wahren und allgemeinen Herrschaft der Menschen über die Erde handeln. Wenn wir uns also fragen: giebt es noch einen anderen Besitz, als den diejenigen ausüben, die auf Erden den Weinberg des Herrn bauen, so müssen wir sagen: nein, denn auf jede andere Weise wird das Erdreich mit seinen Schätzen und Kräften nicht besessen, sondern | verloren und ins Verderben gestürzt. An diesem wahren Besitz kann also auch kein anderer Theil nehmen, als der nach dem Willen Christi und in seiner Wahrheit sein Theil der irdischen Güter verwaltet. Aber der, m. gel. Fr., besitzt das Erdreich nicht nur soweit, als das Werk seiner Hände, sein Eigenthum reicht, nein, soweit als sein Wille geschieht, reicht auch seine Herrschaft und sein Besitz. Jeder, der in diesem Sinne das Erdreich besitzt, fühlt seine Herrschaft überall, wo derselbe Wille seines Herrn geschieht, den er zu thun beschäftigt ist, und er fühlt es, daß das Werk herrührt von demselben Geiste, der auch in ihm lebt. So, m. Fr., mögen wir wohl sagen, hat der Erlöser Recht, daß ein höherer Besitz des Erdreichs Seligkeit sei, und besitzen wir es nicht, so können wir auch nicht anders, als unselig sein, so müssen wir immer jenen Fluch fühlen, durch welchen der Herr die Menschen von der Herrschaft über die Erde auszuschließen schien, so müssen wir uns beraubt fühlen des Ebenbilds Gottes und mit diesem Gefühl kann keine Seligkeit bestehen. Und so giebt es keine Seligkeit ohne diesen, von dem Erlöser | gemeinten und seinen Gläubigen verheißenen Besitz der Erde. 2. Aber nun entsteht uns, m. Fr., eine zweite Frage, deren Beantwortung den zweiten Theil unserer heutigen Betrachtung einnehmen soll, näm3–4 Vgl. Gal 6,8

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lich, wenn es so gemeint ist mit dieser Seligkeit, das Erdreich zu besitzen: so muß das auch eine Verheißung sein, welche der Herr allen den Seinigen giebt, und er hätte nicht auf eine einzelne Eigenschaft, sondern auf alles, was zum christlichen Glauben gehört, diese Seligkeit legen sollen. Aber wie spricht er in den Worten unseres Textes? Selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen. Und die Sanftmüthigen, die können uns, wenn wir die Sache genauer betrachten, nicht geeignet scheinen, das Erdreich zu besitzen und diesen Besitz mitzuerfechten, und wenigstens müssen wir es fühlen, daß wir nicht alle auf gleiche Weise sanftmüthig sein können. Die Sanftmuth, m. Fr., ist offenbar, wie wir es gewöhnlich verstehen, eine Gabe der Natur und sie ist es gewiß bei den meisten Menschen, denen wir diese Eigenschaft beizulegen pflegen. Und es giebt solche Menschen, welche wir Ursache haben | in hohem Grade zu lieben und zu achten, welche wir ansehen als wahre und treue Diener unseres Herrn und von denen wir doch sagen müssen, sie sind von Natur so gebildet, daß sie erst bei großer Reife des Alters zu einer Ähnlichkeit mit der natürlichen Sanftmuth anderer gelangen können. Aber wenn wir erst fragen, wie steht es denn mit denen, die man im gemeinen Gebrauche des Lebens sanftmüthig zu nennen gewohnt ist; so müssen wir sagen, daß unter diesem Namen gar viele sich befinden, die, indem sie ihren eigenen Frieden suchen und jedes gewaltsame Aneinanderstoßen mit anderen Menschen vermeiden wollen, ihr Recht und ihre Pflicht, das Erdreich zu besitzen, lieber aufgeben und sich mit ihrer Einsicht und der That nach unterordnen. Und das sollten diejenigen sein, von denen der Erlöser sagt: selig sind die Sanftmüthigen, denn sie werden das Erdreich besitzen? Ja noch mehr. Unser Leben, wenn wir es nämlich ganz seinem heiligen Zwecke zuwenden, das Reich des Erlösers zu bauen, es ist hier auf Erden immer noch der Kampf des Lichtes gegen die Finsterniß, und wir sollen als seine Diener darin kämpfen, daß sein Reich, das Reich des Lichtes und der Wahrheit, immer mehr und mehr unter uns gebaut werde. Aber im Kampfe, können wir uns da desjenigen Gemüthszustandes, den wir sanftmüthig nennen, bewußt werden und sind denn | die Sanftmüthigen es, die überall gern in den Kampf für das Gute hineingehen? und wenn wir das verneinen müssen, wie konnte der Erlöser sagen: selig sind die Sanftmüthigen u. s. w., wenn der Besitz desselben nicht anders erkauft werden kann, als durch den Kampf, in welchem uns das Gefühl der Sanftmuth verschwindet? Aber der Erlöser, der von sich selbst sagt: mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, und von dem wir doch wissen, alle Gewalt, die ihm verliehen war, war nur der Lohn für dasjenige, was er gethan und gelitten hatte, der sagt zugleich: kommt her und lernt von mir denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig. Ist aber das zweierlei in ihm gewesen, ist jenes vergeblich gewesen und hat keine Ge36–37 Mt 28,18

39–40 Vgl. Mt 11,29

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walt ausgeübt auf dieses, oder trat dann das Eine in den Schatten und verschwand aus seiner Seele, wenn das Andere sich thätig und mächtig in ihm erzeigte? Nein, so dürfen wir uns die Seele und das Leben des Erlösers nicht denken, in ihm ist beides auf gleiche Weise und gleich nothwendig und beides aus dieser Fülle der göttlichen Macht hervorgegangen. Wenn er also sanftmüthig war, dem doch alle Gewalt im Himmel und auf Erden gegeben ist, so muß es wohl wahr sein, was er sagt, | denn nur die, welche wie er gesinnt sind, können Theil haben an dem Besitz des Erdreiches. Aber hat der Erlöser jemals seinen Frieden und seine Ruhe nicht aufgeopfert für das, was nothwendig war auf Erden, um seine Gemeinde zu gründen? Hat er je den Streit gescheut mit denen, von welchen er sagt, daß sie verstockten Herzens ihm widerstanden und durch ihre Menschensatzungen das Gebot Gottes aufhoben? Hat er je gezagt in den Kampf zu gehen gegen den Wahn, den Irrthum und Unglauben? Und doch, wenn er von sich sagt: Ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig: so kann er nicht etwas gemeint haben, was ihm im Eifer für das Reich Gottes wieder verschwand aus seinem Gemüthe, was vielleicht nur die leichtere und weniger angestrengten Augenblicke seines geselligen Lebens eingenommen hätte und nicht eingegangen wäre in die Zeit, wo er mit der göttlichen Macht der Wahrheit kämpfend und siegend thätig war in seinem Beruf, dem Reiche seines Vaters Raum zu schaffen in den Herzen der Menschen; denn er war immer ein und derselbige und nicht bald so bald anders gesinnt. Und so laßt uns auch von seiner Sanftmuth lernen, wer die Sanftmüthigen | sind, die er gemeint hat, weil sie allein das Erdreich besitzen sollen. Nur der, m. gel. Fr., ist sanftmüthig – und weit entfernt, daß die Sanftmuth nur eine Gabe der Natur sei, einzelnen verliehen und anderen versagt und unabhängig von der Kraft des göttlichen Geistes in dem Menschen – nur der ist sanftmüthig, zuerst der nie und nirgends sich selbst sucht, sondern überall sich selbst verläugnet. Denn wer sich selbst sucht, wird zornig, wo ihm Widerstand geleistet wird, wer sein Eigenes sucht, wird herrschsüchtig, wo ihm weit Raum gegeben wird für seine Pläne und seine persönlichen Absichten, und die Herrschsucht ist nicht verträglich mit der Sanftmuth. Denn unser Herr, wie er das geknickte Rohr nicht abbrach und das glimmende Tocht nicht auslöschte, so war er auch ein König, der sanftmüthig einzog bei den Seinigen, nicht gekommen, den Seinigen ein schweres Joch aufzulegen, sondern sie zu befreien von der Last des Gesetzes und der Sünde. Wer sich selbst sucht, der wird eigensinnig sein, wenn die Wünsche und Handlungen anderer, welche arbeiten am Weinberge des Herrn, mit seinen Absichten nicht übereinstimmen, der wird sich dem Geiste der Wahrheit verschließen und der Eigensinn verträgt sich nicht mit der Sanftmuth. 11–13 Mt 15,6; Mk 7,9 34–35 Vgl. Mt 21,5

14–15 Mt 11,29

33–34 Mt 12,20 (Zitat aus Jes 42,3)

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Denn unser Herr sagt: der Sohn thut nichts aus | seiner eigenen Willkühr, sondern nur was sein Vater ihm gezeigt, und redet nichts aus sich selber, sondern nur das, was sein Vater ihn gelehrt hat. Wer aber das Seinige sucht, wo ihm nicht viel Raum gegeben ist, der nimmt von der Gewalt seine Zuflucht zur List und wird schadenfroh, wo anderen Übles begegnet, und heimtückisch, wenn der Nachtheil, welcher er ihnen bereitet, ihm Vortheil bringt, und listig, wenn er sie zum Werkzeug seiner selbstsüchtigen Pläne gebrauchen kann. Aber Tücke und Schadenfreude vertragen sich nicht mit der Sanftmuth. Die Sanftmüthigen sind also diejenigen, die immer nicht das Ihre suchen, sondern das, was Gottes ist, also auch nur diejenigen, welchen selbst im Eifer für das Gute und für das Reich der Wahrheit dieser Eifer nie ausartet in ein leidenschaftliches Wesen, welches uns den Zweck unserer Handlungen trübt und ausweiset, daß wir nur Menschliches thun und hoffen; nur diejenigen, welche in ihrer Wirksamkeit auf nichts anderes rechnen, als auf die nur allmählig, aber sicher und untrüglich sich verbreitende Kraft des Guten selbst, die allein verdienen, sanftmüthig genannt zu werden. Denn das Leben der Jünger des Herrn ist freilich ein Kampf gegen alles Böse, aber sie selbst sollen darum mit keiner Art des Bösen sich verbinden gegen andere, denn wo dies geschieht, da geht die Sanftmuth des Geistes verloren. Wo wir aber alles Böse auf gleiche Art lernen von uns halten, da kann das Gleichgewicht des Geistes nie erschüttert werden, und wer auf nichts an|deres rechnet, als nur auf die allmählige Kraft des Guten selbst, dem muß auch, weil er demüthig sein wird und bescheiden, weil er wenig nehmen wird auf den unmittelbaren Erfolg des Guten, weil er niemals meint, selbst etwas zu vermögen zur Verbreitung des bekannten und mit ganzer Seele erfaßten Höheren, sondern alles fasst von dem überall wirksamen göttlichen Geiste, der auch in dem Schwachen thätig ist und seine wohlthätigen Wurzeln auch in den Herzen der Ungläubigen ausbreitet – dem wird auch die selige Sanftmuth des Erlösers niemals aus der Seele verschwinden, denn wenn der Mensch, von aller sinnlichen Gewalt los, allein der Kraft des Geistes folgt, so giebt es eine so kräftige Ebbe und Fluth in seiner Seele nicht, sondern sie bleibt sich immer gleich. Das ist also die Sanftmuth, welche der Erlöser von allen denen fordert, welche Theil nehmen wollen an der Seligkeit, die Erde zu besitzen, und wenn nun die Seinigen Theil haben sollen an der Gewalt, die durch den Erlöser ihnen gegeben ist und also die Seinigen alle das Erdreich besitzen sollen, so sollen sie auch alle diese Bedingung erfüllen. Er preiset also nicht die Sanftmüthigen selig, als einige wenige, von der Natur damit Ausgerüstete und ohne ihr Zuthun so Begünstigte, sondern er fordert es von uns allen, uns der Seligkeit, das Erdreich zu besitzen zu bemächtigen, welche allein den Sanftmüthigen beschieden ist. Und wir müssen es erkennen, | wie das eines und 1–3 Vgl. Joh 5,19–20; 8,28

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dasselbe ist: kommt her zu mir, denn ich bin sanftmüthig und von Herzen demüthig, und wie er ein anderes Mal sagt: mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden, und: wo ich bin, sollen meine Jünger auch sein und Theil haben an meiner Herrlichkeit. Nicht also als Gabe der Natur, sondern als Gabe des göttlichen Geistes sollen wir die Sanftmuth alle besitzen. Der göttliche Geist ist kein gewaltsames, heftiges Brausen, sondern ein mildes, göttliches Wesen in der Seele, und ist sie davon beseelt, so ist sie auch allen heftigen Erschütterungen überhoben, die nur das irdische Treiben, das Hangen am Vergänglichen ihr bringen kann. Und in einem solchen ruhigen, gesetzmäßigem Gange, mit derselben Sehnsucht und demselben sich immer gleichen Verlangen, das Reich Gottes auf Erden zu bauen; in dieser demüthigen Bescheidenheit, daß das ein Werk sei nicht des Augenblickes oder der Einzelnen, sondern das Werk der ganzen laufenden Zeit; in diesem Gefühl muß der Mensch vermögen, dieser Sanftmuth nachzukommen, von der der Herr sagt, daß wir sie von ihm lernen sollen. Das ist das heilige Zeichen denen, die ihm wahrhaft angehören, das ist das Zeichen, woran man prüfen kann, | wie weit der Geist Gottes sein Reich ausgebreitet habe, wenn auch da, wo wir kämpfen für das Gute, wo wir uns sagen müssen, daß der Eifer für das Haus des Herrn uns verzehren möchte, nichts anderes als die Sanftmuth des Herrn zu Tage kommt. So weit wir darin gediehen sind, so weit werden wir auch die Seligkeit bekommen, die der Erlöser in den Worten unseres Textes ausgesprochen hat, und wer so Besitz nimmt von der Erde, ist auch der, welcher den Himmel schon hier findet und Theil nimmt an der Gewalt, die unserem Herrn gegeben ist im Himmel und auf Erden. Amen.

[Liederblatt vom 23. Januar 1820:] Am 3ten Sonntage nach Epiphania 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu meine Freude. [1.] Wort aus Gottes Munde, / Wort vom Friedensbunde, / Evangelium! / Bald da wir gefallen / Ließ dich Gott erschallen; / Du bist unser Ruhm, / Gottes Kraft, / Die Glauben schafft, / Gute Botschaft uns zum Leben / Von Gott selbst gegeben. // [2.] Was dein Wohlgefallen, / Großer Gott, uns Allen / Längst bestimmet hat, / Was erst dunkle Schatten / Vorgebildet hatten, / Das vollführt dein Rath. / Daß dein Eid / Dich nicht gereut / Zeugst du; nun in Jesu Namen / Wird er ja und Amen. // [3.] Alles ist vollendet, / Gott hat den gesendet, / Der verheißen war; / Jesus, der sein Leben / Für uns wollte geben, / 1–2 Mt 11,29

2–3 Mt 28,18

3–4 Vgl. Joh 17,24

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Stellt der Welt sich dar. / Dankt, er hat / Des Höchsten Rath / Ganz vollbracht zu Gottes Ehre. / Welche theure Lehre! // [4.] Da uns Strafen drohten, / Was für theure Boten! / Trostreich ist ihr Mund, / Hold sind ihre Füße, / Ihre Lehren süße, / Welch ein theurer Bund! / Gottes Huld / Tilgt unsre Schuld, / Und wer ihn mit Glauben ehret / Wird von Gott erhöret. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc. [1.] Du Geber guter Gaben, / Gott unser höchstes Gut, / Den wir zum Vater haben, / Der lauter Gutes thut! / Du Quell des wahren Lichts, / Von dir muß deinen Frommen / Was sie bedürfen kommen; / Du giebst, und uns fehlt nichts. // [2.] Laß mein Gebet dich rühren, / Das angefangne Werk / In mir auch zu vollführen / Durch deines Geistes Stärk; / Auf daß ich lauter sei, / Fest in der Wahrheit stehe, / Die grade Straße gehe, / Ohn alle Heuchelei! // [3.] Gieb daß ich Welt und Sünde / Und Satans Macht und List / Durch dich Herr überwinde, / Der du mein Helfer bist. / Gieb daß ich ritterlich / Um jene Krone ringe, / Daß mir der Sieg gelinge / Denn alles kommt durch dich. // [4.] Gieb mir den Geist der Liebe, / Der Sanftmuth und der Huld, / Gieb mir die reinen Triebe / Der Demuth, der Geduld, / Den Geist der mich entzünd, / Auf daß ich kindlich bete, / Den Geist, der mich vertrete, / Daß ich Erhörung find’. // [5.] Gieb daß ich deinen Willen / Von Herzen gerne thu; / Denn dein Gebot erfüllen / Bringt einzig Seelenruh! / Gieb daß mich deine Kraft / Befestige und gründe, / Daß ich das Leben finde, / Das Jesus mir verschafft. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. Wer getreu bleibt bis ans Ende, / Und nicht achtet Schmach und Hohn, / Dem bereiten Gottes Hände / Eine ewge Siegeskron. / Nein, er duldet nicht vergebens, / Gott giebt ihm vom Baum des Lebens, / Und er kommt nicht ins Gericht, / Stirbt den Tod der Seele nicht. //

Am 30. Januar 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Septuagesimae, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 5,1–4 Nachschrift; SAr 59, Bl. 16r–17r; Woltersdorff Keine Keine Teil der wohl vom 25. April 1819 bis wahrscheinlich zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Aus der Predigt am 4. S. nach Epiph. 1820. 1. Petr. 5 v. 1–4. Indem der Apostel sich zum Schluß seines Briefes wendet, will er das Verhältniß nicht unberührt lassen, welches sich gebildet hatte, daraus daß die Ältesten der Gemeinde zu Lehrern und solchen die die äußern Angelegenheiten der Gemeinde besorgten, von einigen Aposteln selbst eingesetzt waren. Er redet davon auf solche Weise daß wir mehrmals erinnert werden an das jezt bestehende Verhältniß der Gemeinde und ihrer aus ihnen hervorgegangnen und von ihnen zu Lehrern und Aufsehern Erwählten. In dieser Rede nun fällt uns zuerst auf, daß er, indem er die Ältesten der Gemeinde anredet sich selbst darstellt als ihren Mitältesten, dadurch erfüllt er das Wort des Herrn – keiner unter euch sei Meister, sondern alle seid Jünger des einigen Meisters, Christus. – So auch der Apostel: er sieht sie an als sich gleich. Aber indem er sagt: ich als euer Mitältester und Zeuge der Leiden die in Christo sind, und theilhaftig der Herlichkeit: so sagt er damit wie diejenigen die zu Lehren bestimmt sind beschaffen sein sollen. Aber wenn wir uns erinnern wie er früher im allgemeinen geredet hat von dem Leiden in Christo, so enthalten diese Worte gar nicht etwas den Lehrern ausschließend Zukommendes, sondern nur die Eigenschaften jedes Gliedes der Gemeinde. Alle sollen Zeugen sein der Leiden in Christo und alle nicht nur hoffen sondern schon theilhaftig sein seiner Herlichkeit. Wohlbedächtig sagt er: Zeugen der Leiden, denn theilzunehmen unmittelbar, kann sich 8 das ... bestehende] dem ... bestehenden 12–13 Vgl. Mt 23,8.10

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keiner geben, den sie nicht persönlich treffen, so wie sich keiner den Leiden trift sich dessen selbst überheben kann. – Aber Zeugen sollen wir alle sein, aber nicht gleichgültige sondern theilnehmende, gewafnet mit demselbigen Sinn, so können wir alle in die Gemeinschaft seiner Leiden aufgenommen werden; denn Leiden fühlen wir so lange noch nicht alle Menschen zur heilgen Gemeinde gehören aber wen sie treffen oder nicht hängt lediglich von der Fügung Gottes ab. Doch wie alle Glieder ein Leib sind in Christo so sind auch alle theilnehmende Zeugen der Leiden, und indem sind wir auch alle theilhaftig der Herlichkeit die offenbart werden soll. Sie soll in ihrer ganzen Fülle offenbart werden, obgleich wir schon hier Theil daran haben, da noch nicht erschienen ist was wir sein werden, wird also sich dann erst offenbaren wenn die Vergänglichkeit der Welt keinen Einfluß mehr auf uns hat. Der Herr aber sagt selbst, daß wer an ihn glaubt schon das ewige Leben habe, dessen Kraft und Bewußtsein ja eben die Herlichkeit Christi ist. – Indem nun der Apostel nichts anders von sich rühmt als was Christus von allen gefordert hat, so ermahnet er die andern dazu indem er sie sich gleich stellt. Und indem einige gestellt werden zu Ältesten so liegt darin nichts anders als daß man meint daß in der göttlichen Gnade dem einen etwas mehr dem andern weniger schon gegeben ist, wie es denn natürlich herfließt aus dem Verhältniß des Zustandes des Anfangs geistigen Lebens in uns, und dem wo wir schon reich sind an Bewußtsein und Erfahrung. Einen größern Unterschied soll es nicht geben. – Wenn nun der Apostel als Mitältester die Ältesten anredet, so will er damit bezeichnen wie wir überhaupt uns alles gemeinsam denken sollen in der Gemeinde, und daß alle auf einem Wege sind und nur einer schnellere der andre langsamere Fortschritte macht. | So sollen nun die welche zu Lehrern und Aufsehern der Gemeinde erwählet sind, auf dem Wege wieder vorschreitend sein, er soll ihnen bekanter sein damit sie Vorbilder sein können. Der Apostel sagt: weidet die Heerde Christi: Freilich soll und kann jedes Glied der Gemeinde des andern Vorbild sein, aber indem er die Ältesten als besonders dazu erwählt ansieht, warnt er sie vor den Fehlern, die in dem was ihr Beruf in der Welt mit sich bringt sich einschleichen können. Wir finden darin manches was zum Vorwurf gereicht denen die der Apostel anredet, denn es zeigt daß jene Fehler damals statt gefunden haben oder wenn es nicht solche gab, daß doch Veranlassung zum Verdacht da gewesen sei und das konnte damals sein, weil der Stand kein besonderer war, sondern diejenigen welche der Gemeinde dienten immer noch einen andern Beruf hatten und 35 das] daß 3–4 1Petr 4,1 7 Vgl. Röm 12,5; 1Kor 6,15; 12,27; Eph 5,30 13–14 Vgl. Joh 5,24

11 Vgl. 1Joh 3,2

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die Zeit welche sie dem Dienst weihten dem frühern und beibehaltnen Beruf entziehn mußten. Darum ermahnt sie der Apostel 1. daß sie sollen willig thun, was sie für die Gemeinde zu thun übernommen. Freilich müssen wir sagen daß das Gegentheil damals sehr selten und nur in ganz einzelnen Fällen statt finden konnte, weil das was sie zu dem Beruf fähig machte mehr Frucht heiliger Begeisterung als langer Vorbereitung war. Jezt ist es anders gestaltet, das Verhältniß der Lehrer und der Gemeinden, wenn wir jezt darüber klagen daß Veranlassung zu dem Verdacht daß nicht willig sondern gezwungen der Dienst gethan werde, und fragen woher kommt es? so müssen wir sagen: weil, da der Stand des Lehrers jezt ein besondrer Beruf ist und vieler Vorbereitung bedarf, diejenigen welche einen Trieb dazu fühlen, den Stand schon in ihrer Jugend pflegen zu erwählen, zu einer Zeit wo es noch nicht entschieden ist ob der Schritt ihrer sich später ausbildenden Eigenthümlichkeit angemessen ist. Daraus kann dann entstehen daß sie manches was in ihrem Stande ihnen obliegt nicht willig thun sondern gezwungen. Wie es nun schon überall und in jedem Beruf der auch nur die äußern Kräfte in Anspruch nimmt sehr betrübend ist, wenn er nicht mit Lust getrieben wird, so ist es betrübender jemehr er sich auf Gegenstände des Geistes bezieht. Jemehr der Beruf selbst die Kräfte des Geistes beschäftigt desto mehr sind zu bedauern, denen er nicht ganz zusagt. Es ist daher schon lange das beständige Bestreben derer, welche die Angelegenheiten der Gemeinden im großen zu leiten haben, solche Einrichtungen zu treffen daß nicht solche welchen es fehlt an der Gesamtheit der zu Lehrern eignenden Eigenschaften gewählt werden, und daß es jedem leicht gemacht werde den Stand zu vertauschen, welchen er früher sich angemessen hielt. – Bei solchen Einrichtungen ist dann nicht zu fürchten daß diejenigen welche in den Beruf eingesetzt sind nicht willig thun werden was ihnen obliegt. Und der Herr wird ihnen ihren heilgen Beruf je länger je mehr werth machen, sie werden es fühlen und einsehen wie viel es sei die Heerde Christi zu führen und daß Christus selbst allein die rechte Thür ist um sie zum Heil einzuführen. –

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2. sagt der Apostel nicht um schändlichen Gewinns willen sondern von Herzensgrunde: Indem er dieses: von Herzensgrunde dem entgegen setzt, erklärt er was er mit dem Ersten meint, sie sollen nemlich nichts anders im Auge haben als das wahre | Heil der Gemeinde. Aus Herzensgrunde dienen sie, wenn sie selbst von Herzensgrunde geheiligt sind. – Es 2 Apostel] Im Manuskript folgt kein Absatz. Im Manuskript folgt kein Absatz. 30–31 Vgl. Joh 10,7–9

10 sagen:] sagen;

31 einzuführen. –]

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wäre aber wol etwas Vortrefliches wenn jezt wie damals dieser Dienst nicht wäre auch ein Gegenstand äußern Vortheils, doch so kanns nicht sein, weil sie jezt ihre ganze Zeit ihm widmen müssen. Wird aber darüber geklagt daß darum der Dienst geschehe, ists wirklich so oder wird diese Klage vermuthet, so ist das immer etwas Störendes. Fragen wir worin hat das Uebel seinen Sitz? So müssen wir sagen in der Gemeinde selbst, denn sie welche ihr dienen, können nur aus ihrem Schoße hervorgehn. Jemehr wir also diese Klage hören, von beiden Seiten so laßt uns nicht untersuchen in wie fern sie gegründet sei, sondern sie nur ansehen als ein Zeichen daß der irdische Sinn noch so vorherschend ist. Die Schuld ist nicht auf einer Seite, sondern es ist gemeinsame Schuld welche diese Klage hervorbringt. Wenn von Herzensgrunde gelehrt und so auch die Lehre aufgenommen wird überall nur dann wird mit dem irdischen Sinn die Klage ganz schwinden. Sind wir Zeugen der Leiden des Herrn und theilhaftig seiner Herlichkeit dann ist er allein unsre Freude. 3. Nicht als die übers Volk herschen: Indem er dies sagte sah er wol einen Keim des Sinnes woraus späterhin hervorging daß die Diener des Christenthums sich in weltliche Angelegenheiten mischen und über das Volk würden zu herschen suchen auf weltliche Weise; aus welcher Verkehrtheit dann die rein evangelische Sitte wieder hervorgegangen ist. Er meinte aber damit nicht das Halten auf Sitte welches aus dem Volke selbst hervorgehen muß. Darum sagt er: seid Vorbilder: und schon in dem Ausdruck: weidet die Heerde Christi und indem er den Erlöser als Erzhirten vorstellt hat er erklärt was Vorbild heiße. Wir unterscheiden oft Lehre und Vorbild aber mit Unrecht; denn woher kommt alle Kraft des Vorbildes als aus dem Worte Christi? – So ist also Wort und That nicht unterschieden, wenn beides von einem Geist beseelt ist. Der Apostel sagt, seid Vorbilder und weiter kann auch der Lehrer nichts, denn alle Lehre ist nur Vorbild in der rechten Sehnsucht nach dem göttlichen Geiste, diese zu wecken und zu leiten vermag der Lehrer, den Geist einzuflößen vermag allein die göttliche Gnade. Um nun Vorbilder sein zu können müssen sie selbst tiefer geschöpft haben aus dem Quell aller Lehre, und auf dem rechten Wege immer vorschreitend sein, damit sie zu leiten vermögen. Aber nur wo in beiden Theilen gleiche Liebe zum göttlichen Worte herscht, kann dieser Saame gesegnet sein, und wenn sich der Seegen nicht so offenbart wie es zu wünschen ist, so können wir wieder nicht anders als sagen, daß es gemeinsame Schuld sei, denn nur wo der Hunger und Durst gemeinsam ist, kann er gemeinsam gestillt werden. – 15 Freude.] Im Manuskript folgt kein Absatz. Manuskript folgt kein Absatz.

19 aus] Aus

38 werden. –] Im

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Nun sagt der Apostel noch: sie werden die Krone empfangen: und das könnte uns klingen als ob er gemeint habe den Lehrern sei eine besondre Krone verheißen, aber so ists nicht und kann nicht so sein, denn wenn die Lehrer wie wir alle des Herrn Diener und Zeugen seiner Leiden sind, und nicht mehr thun können als überhaupt die Glieder der Gemeinde Christi untereinander und für einander, und wenn der Seegen nur auf dem gegenseitigen Verhältniß beruht, wie können sie dann eine besondere Krone erwarten? So laßt uns auch in diesem Verhältniß recht den Sinn des Apostels fassen, und bedenken daß wir berufen sind gemeinschaftlich den Weg des Herrn zu wandeln dann werden wir gemeinschaftlich die Krone empfangen die er verheißen allen die treu sind bis ans Ende.

6–7 dem gegenseitigen] das gegenseitige 10–11 Vgl. Offb 2,10

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Am 6. Februar 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,6 Nachschrift; SAr 59, Bl. 18r–19v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 35r–36v; Gemberg Ende der vom 9. Januar 1820 an gehaltenen Predigtreihe zu den Seligpreisungen (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Aus der Predigt am Sonntage Sexag. 1820. Matth. 5, v. 6. Seelig sind die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit: denn sie sollen satt werden. 5

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Auch dieser Ausruf unsers Erlösers erregt bei näherer Betrachtung, wie sehr er auch anfänglich gewiß jedem einleuchtet, mancherlei Bedenken. Daß der Mensch nicht seelig sein kann wenn er nicht hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit fühlt jeder gleich; denn der ein Feind der Gerechtigkeit ist widerstrebt der göttlichen Ordnung überall und trachtet zu zerstören was durch Gerechtigkeit besteht. Und im Streit mit dem der immer siegen muß, und in immer vergeblichen Bestrebungen Gewalt zu gewinnen gegen die Gerechtigkeit kann er nicht anders als immer von neuem seine Unseeligkeit fühlen. Und derjenige dem die Gerechtigkeit gleichgültig wäre der könnte dann nichts anders sein als der Vergänglichkeit und dem Laster hingegeben. Das Irdische erstrebend ist er abhängig davon und unterworfen dem Zufälligen; und im Gefühl der Abhängigkeit und des Zufalls kann der Mensch nicht seelig sein. Aber auf der andern Seite, wenn wir uns denken den Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit in der menschlichen Seele, der doch hier so wenig Befriedigung zu finden scheint, was sollen wir denn zu der Verheißung sagen: seelig sind – denn sie sollen satt werden. Wie weit scheinen uns in diesem Leben alle treuen Diener der Gerechtigkeit des Herrn welche nach allen Kräften seinen Willen zu erfüllen streben davon entfernt zu sein, daß sie werden gesättigt werden mit Gerechtigkeit, sie scheinen uns vielmehr von einem unauslöschlichen Hunger und Durst bewegt. –

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Ja freilich wenn der Erlöser hier von der Gerechtigkeit redete nach welcher wir trachten, wie sie im gemeinsamen Leben der Mensch sich in reiner Gestalt soll denken, dann möchten wir nicht sagen: seelig – Noch weniger aber wenn wir denken an die Gerechtigkeit welche jedem wiederfahren sollte. Und wenn die Menschen indem die Gerechtigkeit die Richtschnur ihres Lebens ist, auch dürsten nach der Anerkenntniß der Menschen im allgemeinen, wieweit sind diese entfernt davon, daß sie sollten satt werden. – Wenn wir auf der andern Seite an die Gerechtigkeit denken die jeder thun soll und leisten in den Verhältnissen des gemeinsamen Lebens, so erscheint uns diese Verheißung als etwas sehr Leichtes und Sicheres, aber was uns wenig befriedigen kann. Wahr ists daß das Verlangen nach dieser Gerechtigkeit gestillt wird, denn daß der Mensch den hungert und dürstet nach dieser Gerechtigkeit sie auch ausüben kann, wenn er sich auf das beschränkt was für ihn im Kreise der Möglichkeit liegt und von ihm gefordert wird, so ist das das Leichteste und Natürlichste. Sehen wir aber auf die Gerechtigkeit zu welcher der Herr uns berufen hat so ist das, daß wem darnach hungert und dürstet sie auch ausüben kann, auch natürlich, aber es ist nichts geringfügiges, sondern Großes und Herliches hat er uns sagen wollen, damit es uns beruhigen trösten und erfreuen möge; darum wird es eine segensreiche Betrachtung geben. Zweierlei enthält diese Betrachtung. 1. Was der Erlöser eigentlich damit gemeint habe: hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit und wenn wir dieses verstehen dann werden wir betrachten müssen, 2. Wie dann seiner Verheißung gemäß dieser Hunger und Durst immer kann und soll befriedigt werden und wie eben aus der Befriedigung die Seeligkeit entstehen kann. –

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I. Wenn wir uns fragen was der tiefere Sinn sei des Worts: seelig sind die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, so kann uns nicht entgehen daß der Erlöser uns zunächst hat darauf führen wollen, daß das Verlangen nach Gerechtigkeit wie der Hunger und Durst ein sich immer wieder erneuendes Bedürfniß ist, welches immer von neuem Befriedigung bedarf. – Sehen wir auf den Zustand in welchem von Gerechtigkeit die Rede sein kann und soll, so finden wir daß es ein zwiefacher ist. – Jemehr alle menschlichen Verhältnisse lange bestehn und wohl befestigt sind, jedem sein Kreis indem er sich zu bewegen hat angemessen ist, um desto mehr sind Regeln und Ordnungen gestellt, aus welchen der Mensch nicht nur nicht weichen soll, sondern je mehr er in der Mitte steht um desto weniger kann. Wo wir nun einen solchen Zustand sehen, da ist Ungerechtigkeit eine seltne Ausnahme, Gerechtigkeit herrscht, aber eben deßwegen kann es keinen Hunger und Durst nach | Gerechtigkeit geben, weil sie sich von selbst ergeben muß. Sie braucht nicht aufs neue gewirkt zu werden weil in Keinem der Gedanke entstehen kann aus den Schranken zu gehen, da die feststehende

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Ordnung der Dinge eben das Wesen des Zustandes ausmacht, so ist in diesem Zustande Gerechtigkeit herschend. Aber von Hunger und Durst darnach kann nicht die Rede sein, denn die einzelnen Ausnahmen sind bald ausgeglichen durch das geregelte Ganze. – Aber wo wir einen solchen Zustand finden, da ist auch kein Fortschreiten vom Guten zum Bessern, kein Entwickeln der menschlichen Kräfte zu denken, Trägheit hält sie, PesS ist da nichts als die alten väterlichen Satzungen welche alles Lebendige unter ihrer Gewalt haben. Der andre Zustand ist der, in welchem ein bestimmtes Bestreben ist fortzuschreiten vom Guten zum Besseren ohne aus gesetzmäßiger Ordnung herauszustreben ohne den wir nicht bestehn, alle Kräfte immer mehr von Schranken zu entbinden und in Uebereinstimmung zu bringen, damit sie sich frei entwickeln und die höhern Willen erfüllen mögen. Ein solches Fortschreiten vom Guten zum Bessern ist das PKommenS des Reichs Gottes auf Erden. Überall wo dieses Reich beginnt da wird der alte Schlummer unterbrochen, da muß das Trübe dem hellen leuchtenden Lichte Platz machen, da werden die geistigen Kräfte befreit von den Schranken der Sinnenlust und der Trägheit. So finden wir es überall, wo dem Menschen durch den Glauben an Christum eine höhres Leben aufgegangen ist, da ist ihm mit demselben auch der Hunger und Durst aufgegangen, den der Erlöser als Seeligkeit anpreist. Die Schuppen fallen den Menschen von den Augen, daß sie erkennen was da sei des Herrn Wille; so ist es und so muß es sein, wo das Licht des Erlösers aufging, welcher gekommen ist seelig zu machen, das ist frei und einich – Ganze Völker in denen die äußre Gerechtigkeit ist, liegen oft gefesselt in den Banden der Sinnenlust und Trägheit so daß sie nicht vermögen einen Schritt weiter zu kommen auf der Bahn zur Vollkommenheit. Denken wir uns aber der Menschen Kräfte befreit von ihr unwürdigen Fesseln, aufgehoben die Knechtschaft der Lust und Sünde, zerreissen die Bande der Trägheit, so daß sie sich nun frei entwickeln und ausbilden können, und denken wir uns dabei die Aufgabe, alle Kräfte zu verbinden zu einem Zwecke, und daß die Menschen immer mehr erleuchtet werden durch das Licht der Wahrheit, welches alles Unvollkommne erkennen lehrt, so daß sie dann nicht anders können als nach dem Bessern verlangen. So finden wir in jener Befreiung und diese Vereinigung ist das Reich Gottes auf Erden, das Streben nach dem Besseren, nach Gerechtigkeit. – Dieses Streben nach Gerechtigkeit ist uns Bedürfniß, das sich immer wieder erneut. Erregt sich nicht nach jeder Befriedigung des Hungers und Dursts, aufs neue derselbe? Wenn ein Uebel bezwungen ist, erwacht schon wieder unsre Sehnsucht ein neu sich zeigendes zu überwinden, und so möchten wir immer weiter gehn, nicht daß es Täuschung gewesen wäre 23 einich] Vgl. Adelung, Wörterbuch 1, 1574 22–23 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10

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was uns sonst als das beste für uns erschien, sondern weil uns, was uns sonst genügte, nicht mehr genügen kann, wenn wir Schöneres, Vortreflicheres erkennen und anders können wir ja nicht zum Vollkommnen gelangen. Zu überwinden streben müssen wir alles was nicht rein entspricht dem Geiste indem wir handeln mit der höhern Kraft. Das ist der Hunger und Durst, und wer den nicht fühlt, der kann kein rechter Arbeiter sein im Weinberge des Herrn, und indem er es nicht ist, ist er ein wesentliches Hinderniß derjenigen die es sind, weil durch sein Säumen die Arbeit der andern aufgehalten wird. Nur dieser Hunger und Durst kann uns das Gefühl geben, daß wir Theil haben an seinem Reiche, daß wir Arbeiter sind. Und so müssen wir wol sagen: seelig sind die hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit: ihnen ist ein würdiges Ziel des Lebens vorgestekt durch ihn dessen Leben das Gewicht dieser Verheißung ans Licht gebracht. Der Hunger entreißt sie der Trägheit in der sie sich unseelig fühlen, und indem der Mensch sich nicht genügt an dem was er gethan, strebt er immer vorwärts. Indem sein Bedürfniß sich erneut mag er nicht zurücksehn auf frühere Befriedigung, sondern sagt wie der Apostel: ich vergesse was dahinten ist – : – Im Widerstreben übt sich unsre Kraft immermehr in der Freiheit und Einheit des Gebrauchs nur dem einen Dienst hingegeben. Aber nur durch den ewigen Geist Gottes den der Erlöser uns einflößt, können wir zum Bewußtsein seiner Kraft gelangen, er allein öffnet uns die Fülle aus der wir nehmen Gnade um Gnade: Aus diesem Bewußtsein geht aber auch immer wieder der Hunger und Durst nach seiner Gerechtigkeit hervor für jedes mit ihm verbundne Herz, und für jeden ihn erkennenden Geist. – | Stillstand ist nicht in dem Leben welches der Erlöser in uns anfacht, und welches nur ein seeliges sein kann. – Jemehr wir aber das einsehn und fühlen daß nur der seelig sein kann dem hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit so mögten wir fragen: wie steht es um den andern Theil der Rede des Herrn welchem gemäß er sie nicht blos deswegen weil sie den Herrn und Gott fühlen seelig preißt sondern auch weil sie sollen satt werden, weil ihr Hunger immer befriedigt werden soll. – II. Es kann auf zwiefache Weise geschehen, daß der Mensch nicht befriedigt fühlt sein Verlangen nach Gerechtigkeit – 1. wenn er das nicht leistet wozu sein Verlangen ihn treibt. 2. wenn er nachdem er es geleistet hat doch keine Befriedigung fühlt; nemlich dies nicht Befriedigtsein als etwas anders betrachtet als Erweiterung des Bedürfnisses, denn das soll ja sein, aber befriedigt wird jedes Bedürfniß, das hat der Herr verheißen. Soll also sein Wort wahr sein so müssen wir einsehen: denjenigen die wirklich hungern und dürsten kann Beides nicht begegnen. Mit Bedacht hat der Erlöser den Ausdruk gewählt; denn Hunger und Durst sind Bewegungen 17 Vgl. Phil 3,13

21–22 Vgl. Joh 1,16

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der thierischen Natur im Menschen welchen Widerstand zu leisten bis zu einem gewissen Grade das Leben selber in Gefahr bringt, und welche in dem Maaße als sie wirklich da sind jeder zu befriedigen eilt. Hier ist also nicht die Rede, daß einer könnte verlangen und nicht alles thun um sein Verlangen zu stillen. So kann, wer wirklich hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit gar nicht müßig sein, und eben durch die Thätigkeit unterscheidet sich das innre Bedürfniß von dem eitlen Wunsche. Wer nur diesen hegt, der wird wenn ihm der gegenwärtige Zustand der Dinge nicht gefällt, mit seiner Einbildungskraft ein schönes Bild eines bessren Zustandes entwerfen und das ausschmücken mit aller ihm zu Gebote stehenden Phantasie; aber er legt die Hände in den Schoß, weil es nur eitle Wünsche sind die ihn bewegen, und diese haben immer einen Preis, sie beziehen sich auf etwas dessen Werth erst abgewogen werden muß gegen das daran zu wendende ohne welches es nicht erlangt werden kann; übersteigt nun dieses den Werth des Erwünschten, so unterbleibt das Mühen darnach, weil der Genuß der Bequemlichkeit größer ist als der den das zu Wünschende verspricht. So bleibt das eitle Verlangen nach eitlen Gegenständen. Wer aber nach der Gerechtigkeit selbst wirklich dürstet der kann nicht solchen Vergleich anstellen, denn es ist ihm das Höchste, welches zu erstreben innres Bedürfniß ihn treibt, darum, frisch legt er die Hand ans Werk und thut worauf sein Verlangen gerichtet ist, wie er sichs denkt so thut ers, denn das ist eben Hunger und Durst, dies Bedürfniß daß wer es fühlt nicht anders kann als dazu thun daß es befriedigt werde. Wer also nicht leistet wozu sein Verlangen ihn treibt, dessen Verlangen ist nicht das welches der Erlöser bezeichnet mit dem Ausdruck Hunger und Durst; denn fühlt jemand diesen, so ist kein Zweifel zu hegen ob er thun werde was ihm Gerechtigkeit ist, nicht mit leeren Wünschen wird er sich genügen, sondern mit allen Kräften arbeiten; er kann nicht eher ein andres Werk anrühren bis das gethan. Wen so hungert und dürstet der wird auch satt; denn eben dadurch daß er thut wird sein Bedürfniß befriedigt. Ja freilich wenn wir auch verstehen wollten daß auch geschehen sollte was nicht jeder in seiner eignen Gewalt hat was sich nicht auf seine Thätigkeit bezieht, wenn wir verlangen wollten, daß unsre Einsicht auch die Einsicht andrer werden müsse; dann mögten wir wol sagen nicht immer werden wir satt: Aber es ist ja hier nur die Rede von dem Hunger und Durst der jedem in seiner eignen Seele entstanden ist, und diesen fühlen wir befriedigt in der eignen Thätigkeit, das Uebrige können wir Gott anheim stellen. Wir werden gewiß satt wenn sich nur das Verlangen nicht in eitlem Wunsch aufgelöset hat; denn dann können wir ja sagen: du hast gethan wozu du berufen warst, so bist du gesättigt und fühlst dich ganz befriedigt und kannst das Übrige Gott anheim stellen, bis er einen neuen Hunger in deiner Seele erregt. – Denn Hunger und Durst 35 jedem] jeden

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das betrifft nichts anders als die Einheit im Menschen; seine eigne Persönlichkeit und so ist es auch diese allein worauf sich die Befriedigung bezieht. – Mit Recht können wir sagen: jedes Bedürfniß wird befriedigt: denn ist der Mensch zu dem geistigen Leben hindurchgedrungen dann kann er in solche eitle Anschauungen nicht mehr versinken, jedes Bedürfniß in ihm wird eine belebende schaffende Kraft und im Gefühl dieser thätigen Kraft ist er befriedigt. – Aber das zweite Nichtbefriedigtsein laßt uns bedenken. O wie oft geschieht es nicht, daß in der Seele eine Bewegung gewesen ist die einen Menschen trieb zu anhaltendem Streben nach etwas ihm schön und herlich Er|scheinendes. Und wenn dann wirklich sein Bestreben gesegnet ist und er hat erreicht wornach er gerungen, dann erscheint es ihm nicht nur unvollkommen sondern bisweilen gar als verkehrt und nicht zusammenhängend mit dem Ganzen des gottgefälligen Sinnes und Lebens, er hat also nicht die Gerechtigkeit ausgeübt und ergriffen, so kann er denn nicht befriedigt sein. Ja diese Erfahrung macht der arme Mensch auf der Erde nicht selten. Wenn also der Erlöser spricht: sie sollen satt werden: so können wir nicht anders als uns demüthigen und gestehen, daß er recht hat, und daß wenn wir nicht satt werden, nicht der rechte Hunger und Durst nach der Gerechtigkeit in uns gewesen ist. Seine Verheißung fordert uns auf zur ernstesten Selbstprüfung welche uns zeigen wird daß so oft wir nach einer That nicht befriedigt waren so oft haben wir uns selbst getäuscht, es war nicht die Gerechtigkeit auf welches unser Verlangen gerichtet war. Irrthum trieb uns und was wir suchten war ein Traumbild oder wol gar eigner Vortheil. O wie oft sucht die Selbstsucht sich einzuschleichen, und dann halten wir für Gerechtigkeit für höheres rein geistiges Gut was vermischt ist mit Menschlichem. Damit wir uns retten können vor dieser verderblichen Täuschung darum ist die Gerechtigkeit nie ohne die Wahrheit. Diese laßt uns nehmen von ihm der die Wahrheit ist. Wie können wir wissen wie es um unsern Hunger und Durst steht und ob es Gerechtigkeit ist auf die er sich bezieht wenn wir nicht seine Wahrheit erkennen und daran alles prüfen. Erkennen werden wir sie jemehr wir uns selbst verleugnen und ihm uns hingeben und dieser Zustand der Gemeinschaft mit dem Herrn ists allein in welchem wir Besseres, das heißt höhere Gerechtigkeit erstreben können. Ist sie es also wirklich wonach uns verlangt, so werden wir befriedigt, darin müssen wir ihm wol recht geben. Vor Täuschungen sind wir geschützt wenn wir in keinem Augenblick von ihm weichen der die Gerechtigkeit ans Licht gebracht hat. Je strenger wir unser Herz dem Urtheil seiner Wahrheit unterwerfen und so uns ununterbrochen prüfen, je mehr wir nie ohne Verdacht gegen alle menschlichen Anschläge, nur Wunsch und Hoff28 Vgl. Joh 14,6

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nung darauf richten was nicht eigner Vortheil sondern Erfüllung göttlichen Willens verspricht, je weniger werden wir den Täuschungen ausgesetzt bleiben. – So sind wir seelig in rechtem Hunger und Durst denn wir werden gesättigt dadurch, daß sein Leben in uns übergeht.

[Liederblatt vom 6. Februar 1820:] Am Sonntage Sexagesimä 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Ein’ feste Burg etc. [1.] Auf ewig ist der Herr mein Theil, / Mein Führer und mein Tröster! / Er ist mein Gott, mein Licht, mein Heil, / Und ich bin sein Erlöster. / Du verwirfst mich nicht / Selbst im Gericht; / Mit jenes Lebens Ruh / Erquickst, beschattest du / Mich schon in diesem Leben. // [2.] Wann meine ganze Seele steht / Erhoben aus dem Staube; / Wann ich in freudigem Gebet, / Mein Vater, mächtig glaube: / Zu der Sieger Chor, / Zu dir empor / Steig ich dann, ruh in dir, / Dort bin ich, nicht mehr hier, / Bin schon durch Hofnung selig. // [3.] Ich lebe dir, ich sterbe dir! / Doch nicht durch meine Kräfte. / Bin ich des Herrn, so ist’s in mir / Sein göttliches Geschäfte. / Ja ich lebe dir / Ich sterbe dir! / Ja Vater, Vater, dein / Will ich auf ewig sein, / Auf ewig dein Versöhnter! // (Klopstock.) Nach dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Heil, Heil dem Frommen, der auf Erden / Mit allen seinen Kräften strebt / Reich an Gerechtigkeit zu werden, / Und nicht für diese Welt nur lebt, / Stets vorwärts dringt und nie vergißt, / Daß seine Seel’ unsterblich ist. // [2.] Der forscht, nach seines Gottes Wegen, / Was gut ist, leicht und schnell zu thun, / Nicht säumend spricht gleich jenem Trägen, / Noch will ich schlummern, will noch ruhn, / Früh sä’t, und wuchert mit der Zeit / Zur Erndte für die Ewigkeit. // [3.] Für Gottes Reich voll treuer Sorgen / Denkt er und denkt mit Lust daran, / Wie er hier sichtbar, dort verborgen / Ein Gotteswerk verrichten kann, / Und nutzet jeden Augenblick / Für seiner Brüder wahres Glück. // [4.] Nicht abgeschreckt von Hindernissen, / Stärkt er mit Gottes Stärke sich / Zu seinen heiligen Entschlüssen / Gleich Felsen unerschütterlich; / Und ob er auch zu kämpfen hat, / Stets strebt er hin zur reifen That. // [5.] Mit Selbstverläugnung ausgerüstet / Scheut er Beschwerden nicht, entbehrt / Wonach des Weltlings Sinn gelüstet / Freiwillig, größrer Freuden werth; / Wie schmeichelnd auch die Sünde sei, / Er bleibt ihr Feind, bleibt Gott getreu. // [6.] Er ist es, der mit festem Muthe / Dem Bösen sich entgegenstellt, / Ihn treff’ im Kampfe für das Gute / Verfolgung oder Spott der Welt. / Er kämpft auf seines Herrn Geheiß, / Er siegt, sein ist des Kampfes Preis. // [7.] Sonst nichts bewe2 verspricht, je] verspricht. Je

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get seine Seele, / Er durstet nach Gerechtigkeit, / Ihm bürgt, daß er des Ziels nicht fehle, / Das Wort des Herrn der Herrlichkeit. / Heil euch, die ihr ihm gleichet, Heil, / Nur euch ist sicher euer Theil. // (Cramer.) Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. Du den ich zum Vorbild wähle / Hebest meine Seel’ empor, / Wenn ich wanke, wenn ich fehle / Schwebe mir dein Beispiel vor. / Wer sich ganz dem Staub entreißt, / Der nur heiliget den Geist, / Der allein kann lebend sterben, / Sterbend Himmelsglück erwerben. //

Am 20. Februar 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Invocavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 12,24 Nachschrift; SAr 74, Bl. 1r–12v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Beginn der bis zum 19. März 1820 gehaltenen Predigtreihe zu Worten Jesu über seinen Tod (vgl. Einleitung, I.4.A.) Die Nachschrift ist geringfügig von Schleiermacher überarbeitet. Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Invokavit 1820. Oder am ersten Leidenssonntage, den zwanzigsten Hornungs. |

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Wiewohl heute, m. g. F., die Betrachtungen erst beginnen, die besonders den Leiden unsers Erlösers gewidmet sind, so hat uns das, was wir mit einander gesungen haben, gleichwohl an das Ende derselben unter das Kreuz des Erlösers, zu dem Augenblikke seines Todes hingeführt. Und es ist auch meine Absicht, meine Theuren, daß wir uns diesmal bei dieser Betrachtung nicht mit dem Einzelnen des Leidens unsers Herrn und Meisters verweilen wollen. Wie lehrreich, wie erbaulich es ist, wieviel wir daraus gewinnen können zur Stärkung unsers Glaubens, zur Kräftigung in seiner Nachfolge, zur Befestigung des Entschlusses, durch welchen wir allein seine wahren Jünger sein können, wo er uns auffordert auch sein Kreuz auf uns zu nehmen, und uns selbst und die Welt zu verleugnen, darüber haben wir uns ja oft in ähnlichen Zeiten mit einander unterhalten. Aber alles, was dem Herrn in den letzten Tagen seines irdischen Lebens begegnete, es war doch nur das Vorspiel, nur die Einleitung zu jenem entscheidenden Augenblikk, in welchem er mit den Worten: „es ist vollbracht,“ sein irdisches Leben endigte; es war alles von | einer andern Seite angesehen schon ein Theil dieses seines heilbringenden Wortes. So laßt uns denn dieses Jahr in den wenigen Morgenbetrachtungen, die hierzu bestimmt sind, eben dieses Entscheidende, den Tod unsers Herrn allein ins Auge fassen, nicht als ob wir

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5–7 Vgl. Liederblatt (unten Anhang zur Predigt) Lk 9,23 18 Joh 19,30

13–14 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34;

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glauben könnten diesen großen und heiligen Gegenstand durchaus zu erschöpfen, wir wissen vielmehr, daß der Tod des Herrn dasjenige ist, was wir nie auslernen können, und woran wir nie unser Gefühl und unsre verehrungsvolle Liebe zu sättigen vermögen. Aber um desto weniger vom Einzelnen bewegt zu werden, um wiederholt und von verschiedenen Seiten diese große Begebenheit ins Auge zu fassen, so laßt uns einige von den Worten des Erlösers, in denen er selbst seinen Tod, das Nothwendige desselben und seine heiligen Folgen zum Gegenstande seiner Betrachtung und Mittheilung gemacht hat, mit einander erwägen. An diese wollen wir uns in diesem Jahre halten, um von ihm selbst einiges über die große Begebenheit seines Todes zu lernen, und in unser Herz zu schreiben. So sei denn der Herr bei uns mit seinem | Segen in diesen Betrachtungen. Tex t. Johannes 12 V. 24. Wahrlich wahrlich ich sage euch: es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein; wo es aber erstirbt, so bringt es viele Früchte.

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Es war, m. g. F., eine besondre Veranlassung, bei welcher der Erlöser diese Worte sagte. Es war als er zum letztenmal auf das hohe Fest seines Volkes nach Jerusalem gekommen war, und in dem Tempel lehrte, daß einige Fremdlinge auf demselben erschienen, und sich an seine Jünger wandten mit der Bitte den Erlöser zu sehen, und Fremdlinge gewiß außerhalb des jüdischen Landes wohnend, wahrscheinlich auch nicht einmal durch die Geburt dem jüdischen Volke angehörend. Da schaute der Erlöser im Geiste jene spätere Zeit, wo die fröhliche Botschaft von dem Himmelreich, welches zu stiften er gekommen war, weit über die ursprünglichen Gränzen, die er sich selbst gesetzt hatte, würde hinaus getragen werden, wo wie diese Fremdlinge sogar viele von den verschiedensten Geschlechtern | der Menschen zu der Seligkeit gelangen würden, wenn nicht leiblich aber geistig den Herrn und sein Heil zu schauen. Aber er fühlte, wie nothwendig, wenn dieses geschehen sollte, wenn die Gesellschaft wirklich sollte fest gegründet werden, welche zu stiften er gekommen war, wie nothwendig sein Tod vorhergehen müsse. Fällt das Weizenkorn, sagt er, nicht in die Erde, und erstirbt es nicht, so bleibt es allein; erstirbt es aber, so bringt es viele Früchte. So [Z. 17–20 von Schleiermacher geändert in:] diese Worte sagte. Als er zum letztenmal auf das hohe Fest seines Volkes nach Jerusalem gekommen war, und in dem Tempel lehrte, geschah es, daß einige Fremdlinge eben da erschienen, 15 ersterbe] so Schleiermachers Korrektur; Textzeuge: erstrebe Schleiermacher gestrichen das folgende Wort hinaus 19–23 Vgl. Joh 12,20–21

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laßt uns denn dies nach Anwendung der Worte unsers Erlösers mit einander erwägen, in welchem Sinne sein Tod die nothwendige Bedingung war, damit seine Erscheinung auf Erden die reife Frucht tragen könnte, die sein und unser himmlischer Vater ihm beschieden hatte. 5

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I. Dabei, m. g. F., ist das wohl das Erste, daß wir uns fragen: in welchem Sinne konnte denn der Erlöser damals noch sagen, daß er allein sei und daß er erst sterben müsse, wenn das ausgesäete Korn aufgehen sollte, damit er Früchte bringen könnte? Hatte er denn nicht die freilich | kleine aber doch ihm so theure und werthe Schaar seiner nächsten Jünger sich schon um sich gesammelt? sammelte sich nicht beständig um ihn her ein freilich etwas unstäter Haufe von Menschen, aber doch begierig die Worte seiner Weisheit zu hören, doch mit ihrem ganzen Verlangen gerichtet auf jenes Heil, woran sie die süße Rede vernahmen aus seinem Munde? Diese seine Jünger, m. g. F., erhielten von ihm selbst früher schon und wiederholt in diesen letzten Tagen seines Lebens das Zeugniß, daß sie wirklich an ihn glaubten, daß der Glaube, daß er sei der Sohn des lebendigen Gottes, von Gott selbst ihnen offenbart, von dem liebevollen Vater, der die Herzen der Menschen zu dem Sohne hinzieht, in ihnen gestärkt wäre. Und nicht nur das Zeugniß des Glaubens, sondern auch das Zeugniß der Liebe giebt er ihnen, daß sie ihn wahrhaft und von ganzem Herzen liebten, weil sie nicht von ihm gewichen wären, wenngleich er ihnen öfters vorher verkündigt hatte, was für Leiden und Trübsale sie im Laufe ihres irdischen Lebens bei seiner Nachfolge | erwarteten. Aber dennoch, m. g. F., dennoch sagt er nicht mit Unrecht, daß er allein sei. Denn dazu war er gekommen, daß er den Menschen darstellen sollte das Ebenbild seines himmlischen Vaters, daß sie an ihm den Vater schauen, durch ihn den Vater kennenlernen sollten. Aber noch in spätern Reden sagt er zu seinem vertrautesten Jünger selbst, so kennten sie ihn noch immer nicht, wie er sei, wenn sie ihn so kenneten, dann kenneten sie auch den Vater und würden nicht zweifelnd fragen, wie sie zu diesem kommen sollten, denn er wäre dann bei ihnen und in ihnen. Und das fühlte er, daß in diesem Sinne sie ihn nicht kennen und sehen würden so lange er leiblich menschlich irdisch unter ihnen wäre. Denn da würden sie natürlicher Weise viel zu sehr von dem Einzelnen seines Lebens verschlungen, von diesem menschlichen Verhältniß an sich gezogen und bewegt, viel zu sehr als daß sie mit der ganzen ungetheilten Kraft des Geistes so in sein Inneres hätten dringen können daß sie, wie er es 1 mit] weit

34 an] in

15–17 Vgl. Mt 16,16–17; Joh 6,44.65.69 19–20 Joh 16,27 22–23 Vgl. Mt 10,16–22; 24,9; Mk 13,9; Lk 21,12 24–25 Vgl. 2Kor 4,4; Kol 1,12; Hebr 1,3 28–31 Vgl. Joh 14,7.9

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wünschte, in ihm das | Wesen des himmlischen Vaters selbst erblikkt hätten. Darum sagt er mit Recht, mit diesem Ebenbilde Gottes in seinem Herzen und in seinem ganzen Wesen, mit dieser Kraft den himmlischen Vater den Menschen zu verklären, damit war er noch allein. Sie sollte aber in seine Jünger übergehen, er sollte ihnen dasjenige werden, in welchem sie den Vater schauen möchten, und dasselbe vertraute Verhältniß, in welchem sie mit ihm standen und schon lange standen, in demselben sollten sie auch als ihm dem ewigen Vater durch den Herrn wieder zugeführte Kinder mit dem himmlischen Vater selbst stehen. Das aber fühlte er konnte nur so geschehen, wenn er leiblich von ihnen getrennt war. Was die Kraft seines Lebens und seines weisen und mächtigen Geistes nicht vermocht hatte, weil sie zu sehr ins Irdische verwikkelt waren, das sollte nach seiner Entfernung von der Erde die heilige Erinnerung, die fromme Wehmuth, | worin sie ihn vermißen würden, in ihrem Herzen bewirken. Dann sollte, dann würde ihnen das Ebenbild Gottes wahrhaft und herrlich aufgehen, dann sollte, dann würde das Irdische und Einzelne immer mehr vor ihren Augen verschwinden, so daß sie auch, von der Kraft des Ewigen durchdrungen, und dem Dienst der Sache Gottes alle ihre Kräfte widmend, nur einzelne Bruchstükke seines innern Lebens dem Gedächtniß der spätern Geschlechter zurükkgelassen haben; aber sein göttliches Bild das würde dann erst in ihren Herzen ihnen der Vater verklären. Aber zweitens, weßhalb er sie auch noch nicht rühmte und noch nicht rühmen sollte, was er noch unmittelbar ehe sein Leiden begann, zum Gegenstande seines Gebetes für sie machte, daß sie auch unter einander Eins sein sollten, wie er der Herr selbst mit seinem himmlischen Vater Eins war, auch das fühlte er, könne erst nach seinem Tode seinen Worten gemäß geschehen, und solange es nicht geschah, fühlte | er auch und konnte mit Recht sagen, daß er allein sei. Denn das war es ja, was er in seinem göttlichen Herzen trug, die Menschen unter einander zu verbinden mit der heiligsten göttlichsten Liebe; aber mit dieser Kraft der Liebe, welche die ganze Menschheit umfaßt hat, und für die ganze Menschheit glühte, war er in der That bis jetzt noch allein. Mit ihm hatten seine Jünger die Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe; aber je mehr jeder die Gemeinschaft mit dem Herrn und Meister suchte, um desto weniger müssen wir gestehen waren sie unter einander auf eine innige Weise verbunden. Wie, m. g. F., hätten sie sonst fragen können, wie oft der eine Bruder dem andern vergeben müsse seine Fehler, und ob es genug sei siebenmal? wie hätten sie sonst fragen können, wer denn der größte sei und sein werde und wodurch man es werden könnte im Reiche Gottes? Das sah nun der Erlöser an ihnen mit tiefem Schmerz, und darum sagt er es ihnen vorher als die erste Folge dieses für sich allein | Stehens auch 23–25 Vgl. Joh 17,20–23

35–37 Vgl. Mt 18,21

37–38 Vgl. Mt 18,1

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noch nach seinem Tode, sie würden zerstreut werden ein jeglicher in das Seine, und jeder für sich allein gehen und sein Theil suchen, aber zugleich fügt er hinzu, daß aus seinem Tode diese Kraft der Liebe, diese innigste lebendige Verbindung unter ihnen entstehen werde. Und wie natürlich auch, m. g. F.! Was die Kraft des Geistes nicht vermocht, was das liebende Wort des Herrn auch so oft zu ihnen gesprochen nicht vermocht hatte, das sollte und mußte endlich das Geschäft des gemeinsamen Verlustes in ihnen vermögen. Wenn er nicht mehr bei ihnen war, dann sollten dann mußten sie es fühlen, daß jeder für sich auch nur Einzelnes und Zerstreutes aus seinem heiligen Leben und Wesen in das eigne Gemüth aufgenommen hätte, daß das vollständige Bild des Erlösers, welches jedem Einzelnen zur Richtschnur seines Lebens dienen, und jedem Einzelnen eben die beseelende Kraft zu dem hohen Beruf, der ihnen durch die Gnade Gottes | geworden war, verleihen sollte, daß dies keiner für sich allein besäße, sondern nur indem sie austauschten und mittheilten, indem sie gemeinschaftlich einander ergänzten, und indem sie das Wahre und Gute jeder durch das liebende Auge des andern erblikkten. So nur konnten sie den Herrn festhalten im Geist, und ihre Gemeinschaft mit ihm war von dieser Zeit an bedingt durch eben jene innige Gemeinschaft mit einander, die ihnen der Erlöser oft so dringend empfohlen hatte. So wahr, m. g. F., war in dieser Beziehung das Wort des Herrn, „wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und erstirbt, so bleibt es allein; erstirbt es aber so bringt es viele Früchte“. Denn fragen wir uns, m. g. F., woher denn entsteht es daß das Weizenkorn so viele Früchte bringt? O es ist in dem einzelnen eingeschlossen ein verborgener geheimnißvoller Keim des Lebens. Bleibt es allein, so bleibt es auch verborgen und thut sich dem menschlichen Auge nicht auf. Wie | es aber gesäet in den fruchtbaren Boden, so erstirbt die äußere Hülle, die früher den lebendigen Keim umgab; das Leben desselben drängt sich hervor, aber das Korn ist dann nicht mehr. Und dieses Leben, wo ist es? Es ist in der ganzen Pflanze, es ist in jedem Theile des Halmes, in jedem Röhrchen, wodurch der lebendige Saft emporsteigt, in jedem Blatte, das sich entwikkelt, in jeder Blüthe und in jedem kleinen Körnlein das einst zu einem eben so lebendigen befruchteten hervortritt. Darum, m. g. F., hing eben die Fruchtbarkeit des Erlösers davon ab, daß sein göttliches Leben die menschliche Hülle verlassend auf dieser Erde nicht mehr für sich allein stand, aber lebendig war und wurde nicht in diesem oder jenem Einzelnen allein und ausschließend, nicht an diesem oder jenem Orte, aber in jedem Theile der lebendigen geistigen Gemeinschaft, die er unter den Menschen stiften wollte, in jedem | Gliede seines heiligen Leibes, in jeder Bewegung, welche die Liebe zu ihm und der Glaube an ihn in der menschlichen Seele hervorbrachte. Das war das aufgegangene vollständige Leben, dessen er sich erfreuen 1–2 Vgl. Joh 16,32

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sollte, das war die große und herrliche Frucht, die sein himmlischer Vater ihm zur Beute gegeben hatte. Wohlan denn, m. g. F., auch wir haben das Leben des Herrn in uns, weil er gestorben ist, auch wir, wie seine ersten Jünger, müssen es fühlen; ja sein Geist lebt in uns, seine göttliche Kraft beseelt und durchdringt uns, aber keiner hat sie als sein Eigenthum, in keinem ist sie allein zu schauen und zu finden, aber in der innigen Gemeinschaft, die uns umschließt und festhält an dem gemeinsamen Bande, welches er gestiftet hat, und das der schönste Preis seines Lebens und seines Todes war, das ist sein Leben, und dadurch bringt er noch jetzt und wird, solange das menschliche Geschlecht währt, jene Frucht bringen, die ihm sein himmlischer | Vater bestimmt hat. II. Aber m. g. F. die besondere Veranlassung, bei welcher der Erlöser diese Worte aussprach, reichen uns noch eine zweite Beziehung derselben dar, die unsre Aufmerksamkeit verdient. Der Erlöser gehörte durch seine Geburt an dem jüdischen Volke, aus ihm war er entsprossen, mit ihm fühlte er sich so Eins und verwachsen – und das mit Recht und dem allgemeinen göttlichen Willen mit dem menschlichen Geschlecht gemäß – daß er seine Kraft, und seine Zeit nur dem Dienste seines Volkes widmete, und sich selbst nur ansah als gesandt zu den verlornen Schafen aus dem Hause Israel. Wenn nun auch da der Glaube an ihn immer mehr gewurzelt, und die Gemeinschaft, die er zu stiften berufen war, immer mehr sich verbreitet hätte; wenn von jener unstäten Menge, die oft ihn als den verehrte, der vom Himmel gesandt war zu ihrem Heil, | und oft auch wieder ihn schmähte und Steine aufhob, um ihn zu tödten, von jener unstäten Menge, die einmal vor ihm herzog mit dem Triumphliede „gelobt sei der da kommt im Namen des Herrn, Hosianna in der Höhe“, und dann wieder das „Kreuzige“ über ihn ausrief, wenn von dieser auch mehrere ja die meisten durch die strafende Predigt seiner Apostel getroffen an ihre Brust schlugen und fragten, was sollen wir thun, daß wir selig werden, und daß wir die Schuld seines Todes von uns abwälzen? wenn dadurch auch eine große Gemeinschaft der Gläubigen unter jenem Volke gestiftet worden wäre: so würde der Herr eben deßwegen, weil das Leben seines Volkes so sehr sein eignes war, er hätte denn doch noch mit Recht gesagt, daß er allein sei. Aber das schöne Bild von der Frucht, die er bringen sollte, das ging ihm erst auf in der Seele, als er diejenigen, | die nicht unmittelbar seinem Volke angehörten, herkommen sah von der Begierde entflammt ihn zu sehen. Wenn seine Liebe das ganze menschliche Geschlecht umfaßte, so konnte er nicht befriedigt sein, 18–20 Vgl. Mt 15,24 24 Vgl. Joh 8,59; 10,31 25–26 Mt 21,9; Mk 11,9–10; Joh 12,13 26 Mk 15,13–14; Lk 23,21; Joh 19,6.15; vgl. Mt 27,22–23 28– 29 Vgl. Apg 2,37 32–33 Unklarer Argumentationsgang vermutlich durch Überlieferungsverlust beim Herstellen der Nachschrift

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wenn nicht überall hin auf der Erde sein Wort ausgestreut wurde in die Herzen der Menschen, und diese durch ihn mit dem himmlischen Vater auf das innigste verbunden wurden; und das ganz vorzüglich fühlte er, daß dies nicht anders geschehen könnte als durch seinen Tod, und zwar durch die Art und Weise seines Todes, welche zu leiden ihm Gott bestimmt hatte. Denn eben jenes Volk sich ansehend als das alte auserwählte Volk Gottes sonderte sich aufs strengste von allen übrigen Völkern ab, und achtete diejenigen neben sich gering, die nicht an denselben Stammvater ihre Geburt anknüpfend auch an den alten herrlichen Verheißungen | Gottes nicht Theil hatten. Was mußte geschehen, m. g. F., damit dieses sich Aussondern, dieses Ausgeschlossensein aus dem Gemüthe seiner Jünger vertrieben, damit sie geneigt gemacht würden an allen Enden der Erde das Evangelium von ihrem Herrn und Meister zu verkündigen? Ja wenn nicht das Volk des Herrn in dem Wahne seinem alten Gesetze zu folgen ihn getödtet hätte, so würden seine Jünger in diesem Volke geboren und demselben Gesetze unterthan nicht haben dem Geseze absterben können. Aber so spricht derjenige, der unter allen seinen Jüngern unstreitig am meisten gethan und gelitten hat, um das Evangelium des Herrn, so weit seine Kräfte es zuließen, durch alle Welt zu tragen: „seitdem Khristus gestorben ist, bin ich mit ihm dem Gesetze abgestorben“. Diejenigen, die sich die besten zu sein dünkten, und von Gott besonders begünstigt und begnadigt, die mußten | den Herrn der Herrlichkeit, nachdem sie ihn oft erkannt hatten für das, was er wirklich war, verfolgen und mißhandeln, sie mußten ihn kreuzigen und in den Tod geben, damit jener Wahn von einem solchen eigenthümlichen Vorzuge einiger Menschen vor den andern, der an irgend etwas Aeußerliches und Vergängliches geknüpft wäre, verschwände. Nur indem das menschliche Verderben als ein ganz allgemeines gefühlt wurde, von welchem auch das auserwählte Volk Gottes nicht ausgenommen war, aber eben dadurch die Zuversicht empfing, daß durch das Heilmittel, welches der Herr gebracht, auch alle, selbst die man für die geringsten gehalten hatte, könnten geheilt und beseligt werden – nur in dieser Kraft, m. g. F., ist das Evangelium zu allen Geschlechtern der Menschen durch | gedrungen, ist es auch gekommen zu uns. Erst mußte jener menschliche Dünkel verschwinden, als ob einige vor den andern bei Gott Vorzüge hätten; in dieser Beschämung mußten die Menschen fühlen, wie weit die Gewalt der Sünde auch in denen reichen könne, in welchen der Glaube an den Ewigen nie ganz erstorben war, und zu denen durch heilige Gesetze seine Stimme geredet hatte; erst mußten sie fühlen, daß sie alle ohne Ausnahme Kinder des Zornes wären, Genossen des Verderbens; denn nun konnte in ihnen das Verlangen entstehen, allen das Heil zu predigen, dessen sie alle bedurften, und allen fühlbar zu machen, wie es auch denen nicht verschlossen sei, die unmittelbar den 19–20 Vgl. Gal 2,19

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Tod des Herrn verschuldet hatten. Ja, m. g. F., und eben dadurch entsteht noch jetzt und vermehrt sich täglich die | herrliche Frucht, welche die Erscheinung des Herrn auf Erden trägt. Wenn wir, die wir an ihn gläubig geworden sind, m. g. F., wenn wir in uns fühlen die Spuren des menschlichen Verderbens, worauf denn führen wir alles zurükk, was sich als Folge seiner Wirksamkeit regt? Darauf, daß wir uns bezeugen, daß wir es inne werden, alles was Sünde ist im Menschen es hängt zusammen mit denjenigen Bewegungen des Gemüthes, wodurch damals der große Haufe der Menschen fleischlich gegen den Erlöser erregt wurde, und wovon sein Tod die Folge war, wir fühlen es, daß auch wir im Stande wären, getrieben von der Gewalt fleischlicher Lust oder irdischen Wesens den Herrn der Herrlichkeit zu kreuzigen. Und wenn wir dies fühlen, wenn wir gedemüthigt vor ihm niedersinken, wenn die Kraft seiner Erlösung | aufs neue das Herz, welches nach seinem Heile trachtet, durchdringt, dann erwacht mit neuer Kraft in demselben der Trieb, dieses Heil auch andern zu bringen, dann kann uns nie einer unsrer Mitmenschen zu schlecht, ja verworfen dünken, zu sehr entfernt von dem himmlischen Vater, als daß nicht die barmherzige die beseligende Kraft des Erlösers auch ihn ergreifen könnte, und wir müßen uns erfreuen der Ueberzeugung, daß nun keiner mehr, da er sich unser Bruder nennt, von der gemeinsamen Seligkeit zurükkgewiesen ist. So ist denn das Gefühl des menschlichen Verderbens durch seinen Tod aufs neue erregt, so ist es zu seiner höchsten Höhe gelangt, wodurch der Herr erst die Frucht zu bringen im Stande war, die er ernten sollte im reichsten Maße für alle | seine Bemühungen. Und eben darum versammeln wir uns aufs neue mit der innigsten Liebe, mit dem heiligsten Glauben um sein Kreuz her, und bekennen seinen Tod als dasjenige, wovon uns allein Seligkeit ausgegangen ist, und wovon bis ans Ende der Tage die Seligkeit des menschlichen Geschlechts ausgehen muß, und worauf allein sein Reich, das Reich Gottes auf Erden, kann gegründet werden. Dies mitzugründen mit allen Kräften, daran zu bauen mit festem Glauben und mit dankbarer Liebe, das laßt uns immer aufs neue geloben, so oft uns das Kreuz des Herrn nahe gebracht wird. Amen.

[Liederblatt vom 20. Februar 1820:] Am Sonntage Invocavit 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Zion klagt etc. [1.] Der am Kreuz ist meine Liebe, / Meine Lieb ist Jesus Christ! / Weicht von mir, ihr eitlen Triebe; / Alles, was nicht ewig ist, / Was ihr gebt, ist nicht von Gott, / Und womit ihr lohnt, ist Tod! / Der am Kreuz ist meine Liebe, /

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Weil ich mich im Glauben übe. // [2.] Der am Kreuz ist meine Liebe! / Was, o Welt, befremdet’s dich / Daß ich mich im Glauben übe? / Jesus gab sich selbst für mich; / So wird er mein Friedeschild, / So bleibt er mein Lebensbild / Der am Kreuz ist meine Liebe / Weil ich mich im Glauben übe. // [3.] Der am Kreuz ist meine Liebe, / Sünde du bist mir verhaßt! / Weh mir wenn ich den betrübe, / Der für mich am Kreuz erblaßt, / Kreuzigt’ ich nicht Gottes Sohn? / Spräch ich seinem Blut nicht Hohn? / Der am Kreuz ist meine Liebe, / Weil ich mich im Glauben übe. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wenn mich die Stunden etc. Hin an dein Kreuz zu treten, / In deinem Leiden dich / Voll Glauben anzubeten, / Erlöser stärke mich! / Laß mich mit Zittern und Vertraun, / Wie du dich für uns Sünder / Dahingegeben, schaun. // Chor. Sieh! das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt. // Arie. Er ward verschmähet und verachtet, von allen verschmäht, ein Mann der Schmerzen, und umgeben mit Quaal. Er gab den Schlägen seinen Rücken, und gab seine Wange der bittern Feinde Wuth; er verbarg nicht sein Antlitz vor Schmach und Speichel. // Chor. Warlich warlich, er trug unsre Krankheit und litt unsre Schmerzen, ward verwundet um unsre Sünde, ward zerschlagen um unsre Missethat; unsre Strafe liegt auf ihm / zu unserm Frieden. // Choral. [1.] Dem Tode nah, / Auf Golgatha – / Wer kann die Leiden fassen! / Seufzest du; mein Gott mein Gott, / Wie bin ich verlassen. // [2.] Ihr Augen weint, / Der Menschenfreund / Der Edle, der Gerechte, / Wird verachtet, wird verschmäht, / Stirbt den Tod der Knechte. // [3.] Ihr Augen weint, / Der Menschenfreund / Beschließt sein theures Leben, / Hat dem Vater seinen Geist / Willig hingegeben. // Gemeine. Ach Sünder nehmts zu Herzen, / Kehrt um und werdet rein! / Der Preis von soviel Schmerzen / Soll eure Rettung sein. / O nehmt an seiner Gnade Theil, / Erkennet seine Liebe, / Verwerft nicht euer Heil. // Unter der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu etc. Herr stärke mich dein Leiden zu bedenken, / Mich in das Meer der Liebe zu versenken / Die dich bewog von aller Schuld des Bösen / Uns zu erlösen. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. Du der tausendfache Schmerzen / Mir zum Heile gern ertrug, / Deinem liebevollen Herzen / War mein Leben Lohn genug. / Trost in meinen letzten Stunden / Floß auch mir aus deinen Wunden, / Herr ich dank’, ich danke dir / Einst im Tode noch dafür. //

Am 27. Februar 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Reminiscere, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 5,7–9 Nachschrift; SAr 59, Bl. 23r–24v; Woltersdorff Keine Keine Teil der wohl vom 25. April 1819 bis wahrscheinlich zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Aus der Predigt am Sonntage Rem. 1820. 1. Petr. 5 v. 7–9. Der Inhalt dieser Worte ist zu reichhaltig für eine Betrachtung, wir wollen daher mit gegenwärtiger bei dem ersten stehen bleiben und das andre nur in Beziehung darauf berühren; denn schon das ist etwas Unerschöpfliches: Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorget für euch: Hören wir das, so dringt sich uns zuerst die Frage auf, wie es zugehen mag daß diese Lehre welche so tröstlich und beruhigend ist, und so nachdrücklich eingeschärft von dem Herrn selbst und so oft wiederholt von den Seinen, so wenig Frucht bringt, und weniger in Leben und Wirksamkeit ist als jede andre, denn wenn dem nicht so wäre, wie könnte uns denn auch überall in der christlichen Welt so viel Sorge entgegen kommen, daß sie sich hierin wenig von der übrigen unterscheidet. Wie mag es zugehen daß diese Lehre des Apostels so wenig Eingang findet? Was sie in uns wirken soll es ist doch so innig verbunden mit dem Glauben der schon von Natur im Menschen liegt und den der Erlöser ganz ans Licht gebracht, mit dem Glauben an ein höchstes Alles regierendes Wesen, dem eben deßwegen alle Sorge obliegt, denn das liegt ja in dem Glauben, und also auch daß die welche er regiert nur zu thun haben was er ihnen selbst auferlegt; und alle andre Sorge ihm billig anheim stellen. Da dieses also von selbst aus dem Glauben an Gott hervorgeht, wie mag es zugehen daß ohnerachtet des Glaubens den wir nicht verleugnen, wir doch so oft unsre Sorge für uns selbst behalten und sie nicht auf ihn werfen, von dem wir ja doch glauben daß er für uns sorge. Das Erste was wir hier zu unsrer Rechtfertigung oder Entschuldigung sagen könnten ist, daß da der Apostel sagt: eure Sorge: er doch meint daß wir Sorge haben, diese setzt er voraus als natürlich in dem Zustand des Men-

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schen, noch mehr: er meint nicht daß sie nur auf das gehe was den natürlichen Menschen umgiebt und beschäftigt, sondern daß wir sie mit hinüber nehmen in das geistige Leben, also sich bezieht auf den Zustand des Reiches Gottes auf Erden; denn diese Worte scheinen sich zunächst zu beziehen auf die vorhergehenden: demüthigt euch unter die gewaltige Hand Gottes, daß er euch erhöhe zu seiner Zeit: welches Erhöhetwerden besteht in dem reinern erhöhetern Genuß der geistigen Gaben, also wie es wer-| den soll mit dieser Erhöhung, darauf ist die Sorge gerichtet. Wenn der Mensch sich ganz ergeben hat nach dem Reiche Gottes zu trachten, so giebt es auch hierin so viel Wechsel des Gelingens und Mißlingens, daß es natürlich ist, daß jemehr wir uns demüthigen, sorgend ausrufen: Herr wie lange! – Herr ach bald! – Sind wir noch nicht erhöhet so gehört der Zustand zu dem was umgestaltet werden soll, und fragen wir: wodurch können die Hindernisse zur Vorbereitung des Reichs Gottes weggeräumet werden? so entsteht aus dieser Frage die Sorge. – Jeder Einzelne kann weiter zu seiner Entschuldigung sagen: Ist die Sorge allen Menschen natürlich so ist es auch natürlich daß bei der Verschiedenheit der Gemüther, sie in manchem tiefer wurzle. Des Einen Gemüth ist so geartet daß er den Wechsel des Lebens leicht erträgt, hingegen das des Andern so daß Alles auf ihn einen tiefern Eindruck macht und seine Gedanken sich mehr damit beschäftigen müssen also Alles auf ihm mehr lastet; wenn also die Rede davon ist, daß Sorge da ist, so kann es nicht jedem gleich leicht sein sich davon zu entladen. – Der Apostel sagt aber: alle eure Sorge werfet auf ihn: und dieses kann sich nur gründen auf den Glauben daß der Herr für uns sorget. Dieser Glaube aber soll hervorgehn aus dem Gefühl seiner Gewalt der wir uns demüthigen. Sind wir fest in diesem Glauben so werden wir die Sorge auf ihn werfen, und wenn das weniger geschieht als es soll, so liegt es nicht an der natürlichen Verschiedenheit der Gemüther sondern der Glaube daß der Herr für uns sorget ist nicht klar in den Herzen und auch die Gläubigen sind darin schwach. Ein erfreuliches Bild entsteht uns von einem Menschen der seine Sorge auf den Herrn wirft, aber das fühlen wir daß wir nicht der Gegenwart allein leben können, denn wir fühlen ja immer daß es besser sein könte, daß wir uns also die Zukunft anders gestalten, können wir nicht lassen. Was uns mangelhaft erscheint in dem Zustand des Reiches Gottes auf Erden, dabei fragen wir was wohl geschehen müsse um dem abzuhelfen, und stellt sich uns etwas dar als dem Herrn gefällig, so fragen wir wieder ob wir seine Wege wol recht ausgespüret haben, und dann fragen wir sorgend ob die Ausführung ihren Zweck erreichen werde, und so geschieht es denn gar zu leicht daß unser Blick auf die Gegenwart weniger als auf die Zukunft gerichtet ist und daß die Sorge dafür uns aus der Besonnenheit des Handelns treibt. Wie gläubig muß ein Mensch sein der immer im ruhigen Erwarten 5–6 1Petr 5,6

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bleibt und in der festen Ueberzeugung daß Gott immer etwas Gutes daraus hervor gehen läßt wenn wir thun was seine Weisheit uns lehrt! | Ja das ist ein beneidenswerther Zustand so die Sorge für die Zukunft auf den Herrn zu werfen! Aber das ist eben der Unterschied in der Stärke des Glaubens, der Herr kann stark genug sein daß der Mensch dieses Abwerfen der Sorge als schön und herlich erkennt, aber nicht stark genug daß er sie wirklich abwerfe. Ist es denn aber so schwer zu glauben daß der Herr für uns sorget? wir müssen wol meinen daß es schwer sei weil so wenige zu dieser Stärke des Glaubens gelangen. Schwer ist es darum weil die Regierung Gottes so oft nach menschlicher beurtheilt wird. – So weit wir mit unsern Augen sehen, ist es so, daß je größer das ist was wir zu umfassen haben, desto mehr in Widerspruch zu stehen scheint, das was gut ist für das Ganze und für das Einzelne. Ja bei menschlichen Anschlägen für menschliches Wohl ist es wol so daß wenn auf Einzelnes gesehn wird das Ganze leidet, und umgekehrt. Unserer Unvollkommenheit gemäß muß der Glaube an uns selbst unvollkommen sein, aber diesen unvollkomnen Glauben tragen wir auf Gott über und haben keinen bessern Glauben an ihn als an uns selbst, sondern meinen noch weise zu sein wenn sich etwas ereignet hat nach Gottes Willen was für das Ganze gut ist, daß wir fragen ob es denn auch für jeden Einzelnen gut sei, und weil wir uns selbst nicht vergessen können, so wagen wir nicht unsre Sorge auf ihn zu werfen. Wir meinen wenn Gott dafür sorgt was fürs Ganze ersprieslich sei, so sei es unsre Sorge dem nachzuhelfen, damit es sich auch aufs Einzelne beziehe. Ja dieser unvollkomne Glaube an Gott das ist gewiß die Ursach daß wir unsre Sorge auf uns behalten! Aber wie können wir denn auf eine so unvollkomne Weise von Gott denken, überzeugt müssen wir ja sein daß so gewiß Gott Gott ist bei ihm das Einzelne und das Ganze gar nicht verschieden ist, so daß nichts gut sein kann für das Ganze was nicht auch nach seiner Weisheit gut sein muß für das Einzelne. Das ist der Glaube in dem wir alle festhalten müssen daß was er verhängt hat und beschlossen dem Ganzen wie dem Einzelnen zum besten dient. Und so können wir denn bei beständger Erfüllung seines Willens unsre Sorge getrost auf ihn werfen und nur so können wir nüchtern sein und wachen in dem Gebiete unsers Handelns. Die Sorge aber die wir auf uns behalten wenn wir handeln sollen nimmt uns den freien Blick und die Besonnenheit, denn indem wir mit unsrer Kurzsichtigkeit in die Zukunft sehn und alles was sich da vielleicht ereignen könnte und unserm Handeln entgegentreten, berechnen wollen, erheben sich Zweifel in uns gegen das was uns zu thun obliegt. | In jedem Augenblick soll unsre Sorgsamkeit auf den Kreis unsrer Thätigkeit gerichtet sein, aber von der Sorge für die Zukunft sollen wir nie unser Gemüth und unsre Thatkraft niederdrücken lassen sondern auf ihn 22 dem] den

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die Sorge werfen der stets bereit ist uns dieselbe abzunehmen, also thätig sein für die Zukunft aber nicht ängstlich besorgt. So erhalten wir uns nüchtern und kommen nicht in Gefahr in Unmuth zu versinken. Auch sollen wir durch das verschieden Scheinende in der Regierung Gottes uns nicht irren lassen, denn sehen wir ruhigen Blicks in die Vergangenheit, so müssen wir finden daß er überall auf gleiche Weise zu Werke ging, und daraus wird sich uns ein Bild der Zukunft gestalten. Hiernach können wir uns das Gegenwärtige als schon vorüber denken dann wird unser Urtheil freier sein, und erheben werden wir uns können über die Traurigkeit welche der gegenwärtige Zustand des Reiches Gottes uns erregt. Und wie wir oder unsre Brüder auch leiden mögen, so wissen wir doch daß der Herr mit gleicher Liebe über uns alle waltet. Mit dieser Ueberzeugung fühlen wir schon in der Thätigkeit die uns Gott auferlegt um uns erhöhen zu können zu seiner Zeit, die Seeligkeit dieser Erhöhung. Mit Liebe werden wir jede Gelegenheit die der Herr uns darreicht umfassen, zu jeder That gestärkt uns fühlen und in sorgloser Freude auf Erden wandeln. So werden wir denn den Himmel schon hier auf der Erde haben, in welchen der Herr uns aufnehmen will nach seiner Gnade.

Am 5. März 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 16,7 Nachschrift; SBB, Signatur: MS. germ. oct. 1395; Bl. Ir, 1r–9v; Gemberg Keine Nachschrift; SAr 59, Bl. 25r–27v; Woltersdorff Teil der vom 20. Februar 1820 bis zum 19. März 1820 gehaltenen Predigtreihe zu Worten Jesu über seinen Tod (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt von Dr. Schleiermacher. Am Sonntage Oculi 1820. Nachgeschrieben von Aug. Gemberg |

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Am Sonntage Oculi. den 5. März 1820. Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes, unseres himmlischen Vaters, und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sei mit uns, jetzt und immerdar. Amen.

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Die Worte der heiligen Schrift, die wir zum Grunde unserer Betrachtung legen, lesen wir im Evangelium Johannis c. 16, v. 7: „ich sage euch die Wahrheit: es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn so ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. So ich aber hingehe, will ich ihn zu euch senden.“ Auch dieses, m. g. F., sind Worte unsers Erlösers, durch die er seine Jünger zu belehren suchte über die Nothwendigkeit seines Todes. Denn es könnte freilich, indem der Erlöser schon vorher seinen Jüngern gesagt, daß wie er vom Vater ausgegangen, er zu ihm zurückkehre, es könnte, sage ich, scheinen, als ob diese Worte unsers Textes: „es ist gut, daß ich hingehe p.“, nicht sowol von seinem Tode, als von seiner Auffahrt zum Himmel zu verstehen seien, an die wir bei dem Ausdruck am liebsten und nächsten zu denken pflegen. Aber wie er seinen Jüngern sagt, er habe nicht nöthig, den | Vater für sie zu bitten, er liebe sie von selbst und gebe ihnen, was sie 5–7 Vgl. 2Kor 13,13 als Kanzelgruß

16 Vgl. Joh 16,28

20–21 Vgl. Joh 16,26–27

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bedürfen, so war es nicht seine Absicht, daß wir seine Erhöhung von der Erde als leibliche Gegenwart zur Rechten seines Vaters denken, diese als nothwendig ansehen sollten, damit auf seine Fürbitte der Tröster, der Geist der Wahrheit zu den Jüngern käme, sondern wenn er das sagt, so hat er zu erkennen geben wollen, daß wenn er nicht den Schauplatz der Erde wieder verließe, wenn er nicht, wie es geschehen mußte nach Gottes Rathschluß, den Feinden überantwortet und getödtet würde, sie nicht fähig wären, den Geist zu empfangen, den er ihnen von oben senden würde. In diesem Sinne laßt uns nachdenken über die Worte unsers Textes, um zu überlegen, wie die Ausgießung des Geistes der Wahrheit auf die Jünger und durch sie in der christlichen Kirche überhaupt, wie diese zusammenhangt mit dem Tode des Erlösers, auf die Weise wie er es hier sagt, daß der Tröster nicht kommen könne, wenn er nicht hinginge. Um diese Worte recht zu verstehen, sehn wir auf das, was er von jenem Geist, den er senden werde, seinen Jüngern überhaupt, und im Zusammenhange der Rede, aus der unser Text entnommen ist, rühmt. Er sagt zweierlei von ihm, 1. er | sei der Geist der Wahrheit, der die Jünger in alle Wahrheit leiten werde, indem er es von dem Seinigen nehmen werde, und ihn, den Herrn, verklären und von ihm zeugen. Das ist dasselbige, denn keine Wahrheit ist den Jüngern, als die vom Herrn ausgegangen, weil alle Wahrheit ein Zeugniß von ihm seyn muß. 2. sagt er von ihm, daß wenn der Tröster kommen werde, er die Welt strafen werde, um die Sünde und um die Gerechtigkeit und um das Gericht. So sehen wir, wie die Ausgießung des Geistes in doppelter Beziehung mit seinem Tode zusammenhängt. I. Wenn der Erlöser sagt, m. g. F., es ist euch gut, daß ich hingehe, damit der Tröster kommen kann, der euch in alle Wahrheit leiten und von mir zeugen wird, so scheint es natürlich zu fragen: konnte er denn nicht selbst seine Jünger besser in alle Wahrheit leiten, und war das nicht der Zweck seines nähern Umgangs mit ihnen, daß durch seine Belehrung an sie alle sollten fähig werden, sich in der Zukunft an die frühern anzuschließen. Aber der Erlöser, m. F., war überzeugt, daß der göttliche Geist besser, als er, seine Jünger in alle Wahrheit leiten werde, so daß er | freudig hinging, obgleich er im Zusammenhange der Rede sagt: ich hätte euch noch viel zu sagen, aber ihr könnt es nicht tragen. Gewiß m. F., versetzen wir uns zurück in die Zeiten, wo die Jünger am Munde des Erlösers hingen, um nach ihrem allmählig sich aufschließenden Vermögen Worte der Weisheit von ihm aufzunehmen, so sagen wir, wie er von dem ausging bei der Belehrung, was der Augenblick mit sich brachte, sich beschränkt auf das, wozu unmittelbar Veranlassung gegeben war, damit die Lehre unmittelbar ins Leben der ihn 17–19 Vgl. Joh 16,13–14; 15,26

34–35 Joh 16,12

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umgebenden Menschen eingreifen konnte, so vernahmen sie immer Worte der Weisheit, nur einzeln und zerstreut, so daß sie ihnen weniger im Zusammenhange gegeben waren, als in Beziehung auf die jedesmalige Gelegenheit. Wie sie nun von Tag zu Tag das neue Wort der Belehrung von ihm vernahmen, immer von ihm erquickt und gesättigt wurden, so begnügten sie sich mit diesem augenblicklichen Gewinn, suchten ihn vestzuhalten, in der Überzeugung, daß zu einem das andere hinzukommen werde. Aber deswegen konnte ihr Glaube und ihre Einsicht ins Werk der Erlösung, solange sie den Herrn umgaben und im irdischen Zusammenhange | mit ihm lebten, nichts so selbstständiges, vestbegründetes sein, wie der Erlöser es als Wirkung des Geistes in ihren Herzen ausdrückt, wenn er sagt, der werde sie in alle Wahrheit leiten. Erst nachdem sein Werk durch Tod und Auferstehung vollendet war, nachdem die Belehrung, die er ihnen in den Tagen der Verklärung geben konnte, zu den übrigen hinzugetreten war, war ihnen das Werk seiner Erlösung, der Zweck seiner Sendung, die Richtung, die sie zu nehmen hätten, erst deutlich geworden, nun konnten sie den Mittelpunkt finden, von dem aus sie der Geist, der Jesum verklären wollte, in alle Wahrheit leiten konnte. So können wir nicht verkennen, der klare Zusammenhang der christlichen Lehre, die lichtvolle Uebersicht alles, wovon ein gläubiges liebendes Herz bewegt wird, war eine Wirkung des göttlichen Geistes, erst durch ihn hat sich dieser Zusammenhang in der christlichen Kirche gebildet, und noch immer ist es derselbe leitende tröstende Geist, der den Gläubigen die Wahrheit der Erlösung verklärt. So, m. g. F., mögen wir denn sagen, so gewiß die Jünger selbst erst in Beziehung auf die Wahrheit, die ans Licht zu bringen, er gekommen war, vollendet | wurden nach seinem Hingang durch die Kraft von oben, so ist es der sich hingebende Erlöser, durch dessen Liebe wir ihnen gleichgesetzt sind, weil uns nicht gegeben war, vom Herrn in alle Wahrheit geleitet zu werden, aber der Geist, den er den Jüngern sandte, auf allen ruht, die an ihn gläubig werden. Wir mögen uns getrösten, daß wenn es uns nicht gegeben war, den Herrn mit leiblichen Augen zu sehen und mit leiblichen Ohren die Worte seiner Weisheit aufzufassen, auch das, was die Jünger uns von seinem Leben und Thaten übergeben, nicht das Werk war ihrer unmittelbaren Wahrnehmung, und ihres Umgangs mit ihm, – so haben sie es uns übergeben, wie jener verklärende Geist sie dessen erinnert, was der Herr bei Leibesleben geredet und gethan, und vieles in seinen Reden und Thaten verstanden sie richtiger, von diesem Geiste erleuchtet, nachdem er Jesum in ihren Herzen verklärt hatte. So, m. g. F., fühlte es der Erlöser, und wie recht hatte er daran, daß sein ganzes Wesen und seine himmlischen Worte erst nachdem er durch den Tod seinen Jüngern ganz würde verklärt seyn, die volle Wirkung auf ihr 11–12 Vgl. Joh 16,13

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Herz und Leben würde thun können, und durch sie auf künftige Geschlechter, und sagte daher, es sei gut, daß er hingehe. Eben so wahr werden wir dasselbe finden in der andern Be|ziehung, daß er sagt, der Geist der Wahrheit, den er senden werde, werde von ihm zeugen. Da liegt es näher freilich zu sagen, war es nicht besser, ihn zu sehen, unmittelbar ihn aufzufassen, als sich den Geist der Wahrheit von ihm zeugen zu lassen? Aber, m. F., so sehr die Jünger des Herrn auch, weil der Vater es ihnen gegeben, vor andern Menschen gesegnet waren, daß sie erkannten wahrhaft, er sei der Sohn Gottes, so müssen wir gestehn, daß sie auch ihren Herrn und Meister nicht vollkommen verstanden, daß er ihnen in seinem ganzen Wesen nicht vollkommen deutlich war, als bis er für sie und uns den Tod gelitten. Dadurch wurden sie erst überzeugt, wie gränzenlos und unendlich seine himmlische Liebe zu den verlornen Kindern seines Vaters sei, und auf der andern Seite wurde ihnen gewiß erst, wie entfernt er gewesen von allen irdischen Bestrebungen und weltlichen Absichten, und wie nur aufs innerste Wohl des Geistes das Werk seiner Erlösung gerichtet sei. Das nun verklärte ihnen und uns der tröstende Geist der Wahrheit, den der Herr sandte, tröstend, weil er uns alle gewiß macht, daß die Gemeinschaft des Geistes mit dem erhöhten Erlöser größer sei, als der persönliche Zusammenhang mit seinem irdischen Leben, der erst zeuget recht von ihm, indem er die ganze Tiefe und das heilige Wesen seiner erlösenden Liebe | den Menschen deutlich macht, er ist, der in unsern Herzen zeugt von dem, der für uns gestorben, als wir noch Sünder waren, der in uns Gott das Zeugniß giebt, daß wir daran erkennen seine Liebe, daß er seinen Sohn gesandt, mehr noch, daß er ihn für uns in den Tod gegeben. Es war nicht das natürliche Ende des menschlichen Lebens, sondern ein Tod, im Bestreben der Erlösung erworben durch die Macht der widerstrebenden Sünde, solcher Tod, der die Liebe des Erlösers ganz verklären konnte und Zeugniß von ihm ablegen, so daß wenn der Herr auf andre Weise hingegangen und der Tröster wäre über die Jünger gekommen, er sein volles Werk nicht ausgeführt haben würde. Auch wie und von wo aus verklären wir deutlicher alle Wahrheit, die das Wesen des Glaubens ausmacht, von wo aus sehen wir deutlicher alle Forderungen, die er an die Schafe seiner Heerde machen kann, als wenn wir ihn in dem Tode betrachten, den er für uns gelitten! da verklärt ihn uns der Geist in seiner Schönheit und Herrlichkeit, da leitet er uns von dieser Anschauung des Todes in alle tröstende und stärkende Wahrheit, da nimmt er uns mitten aus den Seinigen heraus, wenn er uns zeigt die aufopfernde Liebe des Erlösers. So sagt er mit Recht: es ist gut, daß ich hingehe perge, und wir mögen ihm | dafür danken, daß auch uns die Möglichkeit gegeben, ihn in unsern Herzen verklären zu machen durch den Geist, der immer von ihm redet und auf ihn hinweiset. 4–5 Vgl. Joh 15,26

23 Vgl. Röm 5,8

24–25 Vgl. Joh 3,16

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II. Nun lasset uns, g. F., auf die andere Seite unsern Blick richten, indem uns der Erlöser vom andern Amte des Geistes redet, nämlich es werde der Geist seyn, der die Welt straft. Hier könnte man fragen: wenn es wahr ist, daß der Geist Gottes die Welt strafen muß, wie konnte der Erlöser, indem er das sagt, ihn einen Tröster nennen, der erst kommen könne, wenn er zum Vater gegangen? Aber ich darf wohl nur auf unser eigenes innerstes Gefühl hinweisen, um das deutlich zu machen. Wenn Gott nicht in uns und aus uns die Welt strafte, wie könnten wir sicher seyn, nicht zur Welt zu gehören, sondern ausgeschieden in den Zusammenhang eines höhern Lebens aufgenommen zu seyn, wenn Gott nicht die Ungläubigen strafte, wie könnten wir ein vestes Gefühl haben von unserm Glauben, wenn nicht die Lieblosen, wie könnten wir uns bewußt werden, daß die Liebe Gottes ausgegossen wäre in unsere Herzen, – wenn er nicht die strafte, die thun und leben, als hätten sie keine Hoffnung | wie könnten wir uns sicher fühlen der seligen Hoffnungen, die der Herr uns aufgethan. Daher ist es der tröstende Geist, der die Welt straft, und der strafende, der die Herzen tröstet. Daß auch als solcher der göttliche Geist nicht eher kommen konnte, bis der Herr hingegangen, daß seine Ankunft bedingt gewesen durch den Tod des Herrn, davon überzeugen wir uns leicht. Die Welt nennt der Erlöser in seinen Reden die Gesammtheit der Kinder der Finsterniß; denen stehen entgegen die Kinder des Lichts, die durch ihn zum Licht von der Finsterniß gebracht sind. Welchen mächtigen Zusammenhang die Kinder der Finsterniß haben, wiewol manichfaltig entzweit unter sich, um die selige Gewalt des Lichts zu beugen und zu brechen, ist eine Erfahrung, die wir beständig machen, und die jeder einzelne, sofern er für sich allein steht, auch nur auf demüthigende Weise machen kann, drum kann der Geist die Welt nur strafen, sofern er unter den Gläubigen die enge Gemeinschaft der Herzen vestgegründet, in der sie ihre Kraft finden, um gegen die Welt aufzutreten; – nicht der Einzelne, sondern die Gemeinde des Herrn ist es, der er verheißen, daß die Pforten der Hölle sie nicht über|wältigen würden. Der strafende Geist ist der Geist der Gemeinschaft, und erst wo dieser vestgegründet war, in jenem großen himmlischen Augenblick, wo er die Jünger durchdrang mit höherer Kraft, fing beides an, daß sie sich eins fühlten und vestverbunden, und daß sie mit unerschütterlichem Muthe anfingen die Welt zu strafen um die Sünde und die Gerechtigkeit und das Gericht. Aber eben diese Gemeinschaft, diese Verbindung der Gläubigen, wir dürfen es nicht verkennen, hat nicht der lehrende umherwandelnde wunderthätige, nein der sterbende Erlöser gestiftet. Das sagt er selbst seinen Jüngern deutlich genug in dem Zusammenhang der Rede, woraus unsere Worte genommen sind: bisher, sagt er, habt ihr noch nichts gebeten in meinem Namen, hernach: 30–31 Vgl. Mt 16,18

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was ihr bitten werdet in meinem Namen, wird euch der Vater geben – und: wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, werde ich mitten unter ihnen sein, d. h. bisher wären sie noch nicht unter einander verbunden gewesen auf seinen Namen zur Verbreitung desselben, als sie es werden würden durch | seinen Tod. Sie waren Schafe seiner Heerde, das rühmt er von ihnen, aber sagt: bald kommt der Augenblick, wo der Hirt geschlagen wird und die Schafe sich zerstreuen, und ihr gehet jeglicher in sein Eigen. Nicht in der Gewalt, womit die Jünger an seine Person vesthielten, lag die Kraft sie zusammenzuhalten, sondern in dem Geiste, der sie erst nach seinem Tode beseelen konnte, weil solange er lebte, jeder von ihnen innig mit dem Herrn zusammenhing, nicht von ihm lassen konnte oder wollte, aber sie unter sich, darüber müssen wir der Wahrheit die Ehre geben, hingen so nicht zusammen, und mußten einander mehr übersehen, indem Jeder mit der Kraft des Verstandes und der Liebe an der Person Christi hing. Dadurch konnte aber das Werk der Erlösung nicht vollendet werden, verbinden sollten sich die Erlösten, um den Vater zu bitten in seinem Namen um Förderung seines Reiches, unter einander sollten sie zusammensein und eins, wie er und der Vater eins waren. Als er von ihnen genommen wurde, und sie fühlten, jeder Einzelne trage schwache unkenntliche | Züge seines himmlischen Bildes an sich, mußten sie sich verbinden, damit einer den andern ergänzte, der ganze Christus in allen zusammen wenigstens geistig da wäre, und so hing dieser Geist der Gemeinschaft mit seinem Tode zusammen. Daher sagt Paulus: die wir auf Christum Jesum getauft sind, sind in seinen Tod getauft: die Taufe ist die Aufnahme in die Gemeinschaft mit ihm und mit den Jüngern, und diese ist begründet durch seinen Tod. Getauft wurden freilich auch während seines Lebens die Massen auf seinen Namen, aber die Beziehung auf das, was sich allmählig weiter entwickeln würde; eine vestgeschlossene Gemeinschaft der Menschen auf seinen Namen sollte es nicht geben, so lange er umherging auf Erden – so sehr war auch sein irdisches Leben eine Vorbereitung zum Höhern, und dieses konnte nur kommen, da er hingegangen, durch den Geist der Gemeinschaft, den er senden wollte. Dieser Geist strafte die Welt, indem er das Bild des Erlösers in den Seinigen darstellte, | schwach freilich für Christi Liebe, für das, was sie ihm schuldig sind, aber deutlich genug, um den Unterschied des Göttlichen und Ungöttlichen in den Herzen der Menschen, wenn es erstorben sein könnte, zu Leben und Bewußtsein zu bringen, und das meinte der Erlöser, wenn er sagte, der Geist werde die Welt strafen. Wie er von sich sagte, er sei nicht gekommen zu richten, so müssen wir es sagen, die wir durch den Geist auf seinen Namen verbunden sind, die Welt zu richten sind wir nicht gekommen, aber zu strafen, damit sie zur Erkenntniß 1 Joh 16,23 2–3 Mt 18,20 6–7 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (Zitat aus Sach 13,7) 18 Vgl. Joh 17,22 23–24 Vgl. Röm 6,3 38 Vgl. Joh 12,47

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der Sünden komme. Freilich sagen auch die Apostel, die Erkenntniß der Sünden komme durchs Gesetz, und wenn schon durch das früher gegebene Gesetz, so gewiß mehr durch die heiligen das Innerste der Gesinnung zum Gegenstande habenden Vorschriften und Aussprüche des Erlösers; aber was ist das alles gegen die Erkenntniß der Sünde, die aus seinem Tode kommt! Davon redeten die Apostel am meisten, da sie die Welt | strafen wollten, darstellend, daß sie sich versündiget, indem sie den Herrn der Herrlichkeit getödtet. Ist das auch auf alle nicht unmittelbar anwendbar, so ist sein Tod doch für alle ein Spiegel, um die Keime der Sünde in sich zu finden, die den Herrn tödteten. Und indem wir das aus der Tiefe des Herzens heraus bekennen, und daß gegen diese Sündengewalt uns kein Heil gegeben ist, als im Namen dessen, der alle Sünde hinweggenommen durch seinen Tod, so straft auch durch uns der göttliche Geist die Welt. So müssen wir es unserm Erlöser zugestehen, sein Tod ist die Quelle der seligsten und größten Gaben, die er den Menschen zu erwerben gekommen, aber erst senden konnte nach seinem Hingang von der Erde, und wie die Sendung des Geistes bedingt war durch seinen Tod, so ist es überall das rechte Gefühl der Erlösten vom Tode Christi, wodurch ihn der Geist in den Herzen der Menschen verklärt und auf die, die noch nicht das Heil in Christo gefunden, am besten wirken kann. | So laßt auch uns denn durch den Tod des Herrn von seinem Geist in alle Wahrheit geleitet werden, daß er den sterbenden Erlöser in unseren Herzen verkläre, damit wir von seinem Tode in einem Leben, das keinem geringeren Endzweck als die Menschen durch die lebendige Kraft des Sohnes frei zu machen geweiht ist, dadurch von ihm das kräftige Zeugniß geben, das allein der tröstende Geist geben kann. Je ernster es uns ist um die Gemeinschaft, die er durch seinen Tod gestiftet, desto mehr wird dann auch in der Kraft des Todes Jesu der göttliche Geist durch uns die Welt strafen, über den Unglauben, die Sünde, daß sie nicht glauben an ihn, und dadurch, daß wir ihnen durch die Gnade Gottes zeigen, zu welchem frohen seligen und vesten Leben uns zum Besitz dieses Kleinods das Herz vest werde durch die Gnade, der sterbende Erlöser und sein Geist die Gläubigen hinführt. Möge er die Welt strafen um die Gerechtigkeit, daß Christus auch zurückkehre zum Vater, indem, wiewol schwach, der Geist Christi | in unserer Gemeinschaft Zeugniß ablege der Welt, daß nachdem die gegründet, nichts Neues mehr zu geschehen braucht zur Beseligung der Menschen, und alle Gerechtigkeit vollendet ist dadurch, daß der Herr kam, um einzugehen zur Herrlichkeit und den Geist sandte: – strafen möge er die Welt um das Gericht, daß nämlich der Fürst dieser Welt gerichtet ist, daß uns, nachdem der Erlöser für die Sünden der Welt gestorben und in seinem Tode die göttliche Kraft der Liebe offenbart hat, nun offenbar zu Tage liegt das ungöttliche Wesen, das in allen ist, die den Herrn des Lebens aufs neue kreuzigen, und das Heil in seinem Namen verschmähen. Dadurch möge er strafen die Welt um das Gericht, daß hier schon in der Gemein-

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schaft der Gläubigen das Himmelreich aufgerichtet erscheint, die göttliche Liebe mit dem Glauben und der Hoffnung, daß der Unterschied zwischen dem Himmel und der Erde, zwischen dem Glauben und Schauen aufgehoben sei ihr einwohne, und jeder sehe, er könne Theil haben an dieser Seligkeit, wenn er sich losreiße von der Gewalt des Fürsten dieser | Welt. So umherschauend ins Gebiet der Wirksamkeit des göttlichen Geistes der Wahrheit fühlen wir, der Herr hatte recht, hingehen mußte er, damit uns so sein Geist durchdringen konnte, und seinem Tode verdanken wir alle Seligkeit, sie sein Geist in unsere Herzen ausgießt, und so sei auch dafür dem sterbenden Erlöser Dank und Preis und Ehre in Ewigkeit. Amen.

[Liederblatt vom 5. März 1820:] Am Sonntage Oculi 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu meine Freude. [1.] Ruh’ und hohe Freuden / Giebt mir, Herr, dein Leiden / Deines Todes Pein. / Wenn mein Geist bedenket, / Was dein Tod mir schenket, / Könnt ich trostlos sein? / Jesu du / Bleibst meine Ruh, / Bei dir find ich Trost und Freude / Auch im größten Leide. // [2.] Ja du wolltest sterben, / Heil uns zu erwerben / Unser Trost zu sein; / Stiegst ins Grab hernieder / Um uns deine Brüder / Ewig zu erfreun. / O möcht’ ich / Mein Jesu, dich / Doch von ganzem Herzen lieben, / Und stets Gutes üben. // [3.] Segne mein Bestreben / Dir allein zu leben, / Gieb mir deinen Sinn. / O was kann mir fehlen, / Retter meiner Seelen, / Wenn ich treu dir bin! / Du wirst mich, / Ich hoff auf dich, / Einst gewiß von allem Bösen / Dir zum Ruhm erlösen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wenn meine Sünd’ etc. [1.] Als Herr dich im Gerichte / Der Sünden Fluch umgab, / Da floß vom Angesichte / Dein Schweiß wie Blut herab. / Zur Erde stürzte dich die Angst, / Als du von Gott verlassen / Nun mit dem Tode rangst. // [2.] Und sie, die so entschlossen / So männlich dich bekannt, / Sind muthlos, sind verdrossen, / Von Schlummer übermannt. / Sie schauen deiner Seele Schmerz, / Und keiner deiner Freunde, / Flößt Labung dir ins Herz. // [3.] Doch trägest du die Schwachen / Mit göttlicher Geduld, / Du eilst sie stark zu machen, / Und milderst ihre Schuld / Erbarmend sprichst du „Freunde wacht / O wacht mit mir und betet, / Nah ist des Feindes Macht.“ // [4.] Du Tröster schwacher Brüder, / Herr, nimm dich meiner an. / Wie leicht sink ich darnieder / In Stolz und feigem Wahn! / Ach oftmals schlummr’ ich sorglos ein, / Bin ruhig bei Gefahren, / Die meiner Seele dräu’n. // [5.] Herr rette du mich Schwachen, / Wenn Stolz und Sicherheit / Den Geist vermessen machen! / Gieb Muth und 10 Amen.] Unterzeichnet Aug. Gemberg

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Kraft im Streit. / Flöß meiner Seele Tröstung ein, / Sprich zu ihr: Wach und bete, / Bald ist die Krone dein. // (Sturm.) Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen etc. [1.] Senke dich auf uns hernieder / Geist der uns mit Feuer tauft, / Alle sind wir Jesu Glieder, / All’ mit seinem Blut erkauft. / Fülle du das ganze Herz / Mit der heiligen Wehmuth Schmerz, / Daß kein Streit uns mehr empöre, / Nichts die innre Ruhe störe. // [2.] Alle Lebensworte schreibe / In das Herz mit Flammenschrift; / Bleib uns, milder Tröster, bleibe, / Stärk uns wenn der Tod ihn trifft, / Wenn „Nun ist die Welt versöhnt“ / Im „Vollbracht“ heruntertönt, / Wenn wir sehen seine bleiche / Kalte blutbefleckte Leiche. //

Am 12. März 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Laetare, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 5,8–9 Nachschrift; SAr 59, Bl. 28r–29r; Woltersdorff Keine Keine Teil der wohl vom 25. April 1819 bis wahrscheinlich zum 26. März 1820 gehaltenen Homilienreihe zum 1. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Aus der Predigt am Sonntage Laetare 1820. 1. Petr. 5 v. 8. 9.

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Wir haben diese Ermahnung des Apostels uns schon in der vorigen Betrachtung vorgehalten, aber nur in Beziehung auf die: Alle eure Sorge werfet auf ihn, – : mit welcher im Zusammenhang sie hier besonders gegeben ist. Es ist uns dabei deutlich geworden daß nur der rechte Glaube an die Alles umfassende göttliche Regierung uns nüchtern und wach erhalten kann zu erkennen was Gott als Thätigkeit von uns fordert und daß die treue Erfüllung des göttlichen Willens uns solche Freudigkeit giebt, daß wir getrost unsre Sorge für das Gedeihen des Guten auf ihn werfen können, der für uns sorget, und daß eben diese Stimmung schon Seeligkeit ist. – Aber es muß uns wohl anziehend sein diese Worte auch nach ihrer allgemeinen Beziehung auf unser geistiges Leben zu betrachten. Der Apostel hat hier in die Mitte der beiden Theile seiner Ermahnung den Grund derselben gestellt: denn euer Widersacher der Teufel – : Die in der Schrift mit diesem Ausdruck bezeichnete Gewalt des Bösen kennen wir nicht ihrem Ursprunge sondern nur ihrer Wirkung nach: Ihren verderbenden Einfluß auf die Herzen der Menschen, aber von ihrem Entstehen wissen wir nichts. Bald heißt es in der Schrift: das Herz wird vom Bösen ergriffen, und bald: alle bösen Gedanken und Neigungen kommen aus des Menschen Herzen. Da wir nun hievon keinen klaren Begrif haben, so vermögen wir nicht uns davor, nemlich vor dem Entstehen der Versuchung zum Bösen, zu schützen, aber daß wir der Macht des Bösen nicht unterthan werden und nicht in Gemeinschaft gera1 Laetare] Letare 19 Vgl. Joh 13,2

19–20 Vgl. Mt 15,19; Mk 7,21

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then mit denen die ihr unterthan sind, dazu hat Gott uns das Vermögen gegeben. Damit wir nun dieses Vermögens uns stets bewußt sein mögen und es gebrauchen, ermahnt uns der Apostel 1. Wachsam und nüchtern zu sein. Dem Zustande des wach und nüchtern Seins steht gegenüber der des Schlafs oder der Schlaftrunkenheit. Ist nun unsre Seele von dieser Dumpfheit umfangen oder ist sie aus dem Gleichgewicht gebracht durch leidenschaftliche Bewegungen so sieht sie nicht klar sondern alle Dinge und Verhältnisse erscheinen ihr anders als sie wirklich sind, es läßt uns denn entweder alles gleichgültig und untheilnehmend oder es macht uns zu verwirrten Theilnehmern. Wir unterscheiden nicht richtig was dem Guten und Bösen gehört, sind also unfähig jenes zu wählen und dies zu verwerfen. | Ist unsre Seele aber weder abgestumpft, in Dumpfheit versunken noch unordentlich bewegt und berauscht, so erkennen wir die Angriffe des Bösen leicht und können dann die Kraft welche der Herr uns verleiht anwenden gegen sie, und gehen dann ohne daß unser geistiges Leben gestört wäre oder eine Kraft desselben verschlungen, noch gestärkt aus der Versuchung hervor. Darum müssen wir den Zustand unsrer Seele immerwährend prüfen | Nun scheint es um dem Bösen Widerstand leisten zu können genug zu sein wenn wir für uns selbst wach und nüchtern sind und so hätte es der Apostel bei dieser Ermahnung können bewenden lassen. Aber wie jeder nur durch die Gemeinschaft des Geistes wodurch die Gemeinde besteht zu einem Gliede derselben gebildet wird, so liegt auch jedem die Sorgfalt für den Zustand der ganzen Gemeinde ob. Auf das Bestehen und Verbreiten des Reichs Gottes auf Erden sucht die Gewalt des Bösen sich Einfluß zu verschaffen; darum sagt der Apostel dem widerstehet fest: Und dies kann nur geschehen mit vereinter Kraft, die Gemeinschaft des Geistes nur kann der Macht des Bösen strafend entgegenstehn und ihrem verderbenden Wirken Einhalt thun. Wie der Apostel diese zerstörende Macht mit der eines Raubthiers vergleicht, welches sich als solches zeigt, so tritt sie zu manchen Zeiten in öffentlichen Kampf gegen das Gute; so war es zur Zeit des Apostels – öffentlich wurde die Gemeinde der Christen verfolgt. Aber zu manchen Zeiten ist die Gestalt welche diese Macht annimmt einem im Verborgnen lauschenden Raubthiere zu vergleichen. In beiden Fällen gilt es fest zu widerstehen durch Wort und That, und hauptsächlich kömt es darauf an, daß wir die Macht des Bösen nicht als mehr Einfluß habend auf die Gestaltung des gemeinsamen Lebens, als die Macht des Guten anerkennen; es soll in der christlichen Welt nicht gesagt werden, daß die Reden der Bösen wirksamer seien als die der Jünger des Herr – anerkannt und gefühlt muß die größere Kraft des Guten, des Werths der Wahrheit werden, und angewandt gegen die Reden der Widersacher [Der Text endet hier.] 18 prüfen] Die restlichen vier Fünftel der Seite sind nicht beschrieben. cher] Das restliche Viertel der Seite ist nicht beschrieben.

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Am 19. März 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 12,32 Nachschrift; SN 597/2, Bl. 1r–14r; Andrae Keine Nachschrift; SFK 10, Bl. 1r–10r; Gemberg Ende der vom 20. Februar 1820 an gehaltenen Predigtreihe zu Worten Jesu über seinen Tod (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Judika 1820. oder am fünften Leidenssonntage, den neunzehnten des Lenzmonats. |

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Tex t. Joh. 12 v. 32. Und ich, wenn ich erhöhet werde von der Erde so will ich sie alle zu mir ziehen. Diese Worte des Erlösers m. g. F stehen in Verbindung mit denen die wir unsrer ersten Morgenbetrachtung in dieser Leidenszeit zum Grunde gelegt haben, wo der Erlöser sagt: „Das Weizenkorn so es nicht erstirbt bleibt es allein; so es aber zur Erde fällt und erstirbt, so bringt es viele Frucht.“ Wie er jenes auf sich und auf den Tod der ihm nahe bevorstand, bezog, so sagt auch der Evangelist Johannes, nachdem er die Worte unsers Textes berichtet hat: „Dies sagte aber der Herr zu deuten welches Todes er sterben würde.“ Und so sollen wir überwiegend diese Worte des Erlösers verstehen daß es sein Tod sei, der die Menschen alle zu ihm ziehen werde. Und wie er in jenen Worten, die wir zu erst mit einander beobachtet haben mehr auf das große | Werk welches durch ihn gegründet und befestigt werden sollte, im allgemeinen sieht, so scheint er in diesen Worten daran gedacht zu haben, wie auf jedes einzelne menschliche Herz die große Wirkung von seinem Tode ausgehen werde; wie darin am meisten seine anziehende Kraft um die Herzen der Menschen ihm zu zuwenden sich offenbaren werde: Und dies denn laßt uns in den Worten des Erlösers selbst jetzt näher mit einander betrachten. 8–10 Vgl. oben 20. Februar 1820 vorm.

13–14 Joh 12,33

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Wenn wir uns nun, m. g. F, die Frage beantworten sollen, in wiefern und warum ist es denn ganz vorzüglich der Tod des Herrn, der die Herzen der Menschen an ihn zieht, und sie ihm zuwendet: so können wir über die Sache selbst keinen Zweifel haben. Denn es ist und muß unser allgemeines Gefühl sein, daß jemehr sich die Liebe zu dem Erlöser in den Herzen der Menschen entwikelt, jemehr das unmittelbare Verhältniß derselben zu ihm sich bildet, um desto mehr ist es sein Leiden und sein Tod, worin sich alle Betrachtungen sammeln, und das ganze Gefühl des Menschen | seine volle Befriedigung findet. Und wenn wir fragen, was hat denn das Werk des Erlösers und sein Reich auf Erden so weit verbreitet, wie wir es jetzt verbreitet sehen durch die göttliche Gnade? ist es mehr von denen ausgegangen, die das Predigtamt seiner Lehre geführt und den Samen des göttliche Wortes in die menschlichen Gemüther gestreut haben? ist es mehr von denen ausgegangen, die das Göttliche und Würdevolle seines Sinnes und Lebens den Menschen vor Augen gestellt haben? – wahrlich es ist das Wort vom Kreuze, das geflogen von einem Ende der Erde zum andern[,] es ist das Leiden des sterbenden Erlösers, welches die Menschen überall mit solcher Macht an ihn gezogen hat. Und so können wir wie wahr das sei was der Erlöser sagt, daran gewiß nicht zweifeln. Wollen wir aber darüber, zum klaren Bewußtsein kommen, wollen wir uns die Frage, die ich aufgeworfen habe, beantworten, was ist es denn, weßhalb der Tod der Herrn das Anziehenste ist für den Geist und das Herz des Menschen? so kommen mir dabei zwei Worte der Schrift in den Sinn, an welchen ich glaube daß sich die Wahrheit dieser Worte des Erlösers | am vollständigsten erkennen lassen wird. Zuerst nähmlich, daß er uns in seinem Leiden und in seinem Tode erscheint als derjenige, der, wie einer seiner Apostel sagt, so viel Widerspruch von den Sündern erdulden mußte; und eben in diesem Widerspruch, den er erfuhr, in diesem Widerspruch, der gegen seine ganze Wirksamkeit und gegen sein Leben gerichtet war, darinn erkennen wir die große Macht der Sünde, und fliehen von dieser Macht der Sünde zu ihm, der ohne Sünde den Widerspruch der Sünde erduldet hat. Denn m. g. F., wenn das ganz wahr ist und unbezweifelt, was der Apostel Paulus allen einschärft, daß aus dem Gesetz dem Menschen komme die Erkenntniß der Sünde; so ists doch ein Unterschied das Erkennen der Sünde selbst in dem lebendigen Gefühl von der grauenvollen Macht, welche die Sünde in der Welt und in den Gemüthern der Menschen ausübt, und eben diese Macht, von der wir immer wieder aufs neue fühlen müssen wir finden die nirgends so klar ausgesprochen, nirgends so deutlich entfaltet, nirgends so rein dem Guten gegenübergestellt, | als in dem Leiden und Sterben unsers Erlösers. Es ist wohl wahr, wir erfahren alle die Gewalt der Sünde, indem sie leider öfters als es uns geziemt auf der Stufe, auf welche uns die göttliche Gnade gestellt hat, die 15 1Kor 1,18

26–27 Vgl. Hebr 12,3

32–33 Röm 3,20

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guten Vorsäze unsers von dem Geiste Gottes erleuchteten Herzens zu besiegen weiß; wir erfahren die zerstörende Macht der Sünde, wenn wir sehen, wie sie denen, die sich ihr zum Dienst hingeben, selbst lohnt, wie sie ihre herbesten Früchte auf diejenigen herabschüttelt, die den Baum des Verderbens gepflanzt haben, aber am stärksten doch zeigt sich überall die Gewalt der Sünde, wenn sie sich gegen das Gute selbst richtet, das in der Welt verbreitet werden soll. Und wenn dann der Erlöser der innerste heiligste Grund war alles Guten, der nicht mehr sollte überwunden werden[,] die lebendige Kraft, aus der alles Gute und Herliche hervorgehen sollte: so war die gesammte Macht aller Sünde seiner Zeit | gegen ihn gerichtet, und offenbart sich in dem scheinbaren Siege, den sie über sein irdisches Leben errang. O, m. g. F., wenn wir in dem Leiden des Erlösers sehen, wie die versteckte Liebe und Anhänglichkeit der Menschen an dem Unvollkommenen, bei dem sie hergekommen sind und erzogen, dieses Unvollkommne, das ihnen aufs deutlichste vor Augen liegt, und gegen welches eine Stimme in ihren eignen Herzen spricht, gegen allen Widerstand festzuhalten suchen, und wie sie den milden freundlichen Ruf der göttlichen Liebe nicht nur überhören sondern auch den Mund auf immer zum Schweigen bringen konnte, aus welchen dieser Ruf ertönte, wenn wir sehen, wie die wilde Rohheit, die noch nicht vermag das Unsittliche vom Sittlichen, Unrecht vom Recht, das Unschickliche vom Schicklichen zu unterscheiden, mit den Schmerzen, mit den lezten Stunden, mit dem aufhörenden Leben des Herrn der Herrlichkeit spielt wie mit den Geringfügigsten und Schlechtesten; | wenn wir sehen, wie der Hochmuth selbst solchen, die nichts anders im Auge haben als das Zeitliche und Vergängliche, die kein anderes Ziel erreichen wollen als sich auf der Stufe der Macht und des Ansehens behaupten welche sie erreicht haben, den heiligsten Keim einer langen Zukunft im Leben des Erlösers zu vernichten sucht, ohne vor ihrer eigenen That zu zittern, ohne daß ein Gefühl des Verbrechens, dessen sie sich schuldig machen, in ihre Seele drange – ja stärker können wir die Macht der Sünde nirgends erblicken. Ja und wenn wir gleich diese Bestrebungen des menschlichen Verderbens zu jeder Zeit um uns her sehen, und wir nicht erst unsre Blicke über die Gränze der Gemeine unsers Herrn hinaus zurichten brauchen, um sie zu finden, sondern wir dieses Verderben auch bei denen antreffen, die an seinen Namen gläubig geworden sind und stark durch die Gnade | des himmlischen Vaters, wie es auch der begnadigten schwachen Menschenkinder in einzelnen Spuren sich zu bemächtigen weiß: so auf Einen Punkt zusammengedrängt, so auf seinen höchsten Gipfel gestiegen, ach und was das betrübendste ist, so ganz die Macht der Sünde gekehrt gegen das Gute und Göttliche, ohne daß auch nur eine Spur des Rechten und Gottgefälligen und von solchen Regungen, die der gute Geist hervorbringt, in demselben zu erkennen wäre, können wir es nirgends sehen. Denn m. g. F., wo in der Welt durch dasselbe Verderben, welches den Erlöser

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der Welt ans Kreuz gebracht hat, das ewige Werk Gottes gehemmt wird, wo wir in der Gemeinschaft des Herrn aus demselben Grunde die Diener wie einst den Meister verfolgt sehen: nirgends doch können wir sagen, daß das Leiden welches die Menschen tragen, das Leiden welches selbst die treusten Diener Gottes | tragen, die es am redlichsten meinen mit der Forderung des Wahren und Guten auf Erden, ja selbst das, was sie mitten in dem Werke Gottes begriffen und alle ihre Kräfte einzig richtend auf die Verherrlichung seines Namens tragen, daß es ganz rein gewesen wäre von ihrer eignen Schuld, und daß es nicht könnte angesehen werden als das was sie sich selbst zugezogen haben durch ihre Sünde. Denn m. g. F. fühlen wir in uns die Macht der Sünde, fühlen wir wie nöthig es ist ihr nachzuspüren, selbst in den tiefsten Wurzeln die sie in unsern Innern geschlagen hat, fühlen wir durch das was sich in den Stunden der Versuchung in uns regt, uns aufgefordert über uns selbst zu erschrecken, wollen wir uns durchdringen lassen von dem demüthigenden Gefühle der Macht der Sünde: o wohin sollten wir anders unsere Blicke richten als auf den leidenden Erlöser der frei von aller Sünde ihren Widerspruch | im reichsten Maße erfahren hat, so daß sie ohne Achtung und Scheu vor seinem göttlichen Sinn und Leben ihn in den Tod gab! „Ja, fällt mir etwas Arges ein, denk ich gleich an deine Pein, flieh ich gleich zu deinem Kreuze!“ Aber das zweite m. g. F., das ist das Wort des Apostels: „größere Liebe kann niemand haben als die Liebe, die sich darin gezeigt hat, das Christus der Herr für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.” Wenn wir alle m. g. F von dem Gefühle der Sünde und ihrer Macht durchdrungen sind, was ist es was uns dann am stärksten bewegt, daß wir selbst nicht vermögen uns zu helfen, und daß wir an die Liebe gewiesen werden, die unser Dasein trägt an eine hülfreiche Macht, die sich dem guten aber schwachen Willen, dem aufrichtigen, aber unkräftigen Wunsche des eignen Herzens zugesellen muß, und in dem wir fühlen, wie alles Gute, dessen wir in der Welt genießen, uns | nicht von uns selbst, sondern von der göttlichen Macht der Liebe kommt von den ersten Tage unsers Lebens an, und wie wir diese als die einzige Quelle alles Guten Schönen Großen und Erhabenen ansehen müssen. Dann ertönt im Herzen des Christen diese Stimme: „größere Liebe giebt es nicht als die daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ Und von allem andern, was als Ausfluß der göttlichen Liebe unser Leben bereichert und mit Anmuth und Freude erfüllt, o wenn das Herz sich recht durchdringen will mit dem Gefühle der göttlichen Liebe: wo eilen wir hin, um jenes Bild der göttli19–20 Die erste Strophe des Liedes „Jesu! Deine tiefen Wunden“ (Melodie von „Freu dich sehr, o meine Seele“) lautet: „Jesu! Deine tiefe Wunden, deine Quaal und bittrer Tod geben mir zu allen Stunden Trost in Leibs- und SeelenNoth! Fällt mir etwas Arges ein, denk ich gleich an deine Pein, die erlaubet meinem Herzen, mit der Sünde nicht zu scherzen.“ Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, 1812, Nr. 93 21–23 Vgl. Röm 5,8

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chen Liebe zu erblicken, und aufs neue in uns auf zu fassen, als allein unter das Kreuz des Erlösers? Denn, m. g. F., alle andre Liebe, die wir erfahren, alle andre Liebe, die wir um uns her wahrnehmen, und die wir selbst in unsern eignen Herzen fühlen, o wo konnten wir sie je finden so rein von den gewöhnlichen Triebe aller irdischen Natur sich selbst zu erhalten und sich selbst zu schützen | wo könnten wir je eine so reine sich hingebende Liebe finden, frei von jedem blinden Triebe, frey von jeder bewußtlosen Bewegung der Natur, nichts anders als die Liebe zum Guten und die Vollendung des Guten selbst, als in dem leidenden Erlöser? und seine erlösende Liebe, worin hat sie sich so deutlich offenbart, als darin daß er wissend und wollend sein Leben dahin gegeben hat um jene Macht der Sünde, durch welche er selbst den Tod erlitten, zu brechen, und aufs neue aus dem Stamm seines Kreuzes heraus den Baum des Lebens in dieser irdischen Welt zu pflanzen? Denn m. g. F., weil uns dieses beides das Leiden und den Tod des Erlösers so deutlich darstellen, auf der einen Seite die Macht der Sünde, die sich gegen ihn erhob, und die er der ohne Sünde war, im reichsten Maße fühlen mußte, und auf der andern die göttliche Liebe von der wir alle fühlen müssen, wie wir geliebt sind, darum wenden sich immer die Blicke der Christen zu seinem Kreuz, darum ist dies der Mittelpunct des ganzen | khristlichen Lebens, und wie sehr uns auch mit dem Eindrucke seiner höhern Kräfte und seiner göttlichen Würde erfüllen mögen die Worte der Weisheit, die uns aus seinem Munde aufbewahrt sind, und als die segensreiche Blüthe seines Lebens unser Herz erfreuen, die Thaten seiner hülfreichen göttlichen Kräfte auf Erden, und die Gesinnungen, von denen er überall geleitet wurde, wie viel Gutes, Schönes und Herliches uns auch im Einzelnen das Bild seines Daseins, welches wir uns aus den zerstreuten von ihm übrig gebliebenen Zügen entwerfen können, vorhalten möge – den rechten Schlüßel zur lebendigen und freudigen Gemeinschaft mit ihm finden wir erst in seinem hingebenden seligmachenden Tode. Denn dieses m. g. F., eben dieses ist das Wahrzeichen der Khristen geworden, daß wo wir in Beziehung auf andre nicht sicher sind der völligen Übereinstimmung | der Gemüther im Glauben, die wir unter ihnen suchen, wenn wir irgend eine Aeußerung hören der Verehrung gegen den Herrn als gegen einen großen von Gott gesandten, und mit seinem Geiste begabten Erlöser, wenn uns das allerdings nicht genügt, sondern wo wir unter den Menschen einen Bruder des Glaubens finden möchten, daß wir ihn denn erst fragen: wirfst du dich auch wieder vor unsern Herrn und Meister und betest demüthig an unter seinem Kreuze? wendest du dich auch in dem lebendigen Verlangen des Herzens nach einer immer innigern Vereinigung mit dem Sohn Gottes zu seinem Kreuze, um hier die Kraft zu empfangen zur würdigen Nachfolge seines Beispiels und zur treuen Erfüllung seines Willens in 40 zur] zu

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dem Dienste für sein Reich auf Erden? So müssen wir es natürlich finden, und können uns nicht darüber wundern. Und wenn in der Geschichte wie sich der ganze Glaube der Christen | geschichtlich entwickelt hat in dem Bilde des sterbenden Erlösers das gläubige Herz ruht bei der innersten Betrachtung des Leidens unsers Herrn, bei dem was seine göttliche Seele in dem herannahenden Ende des irdischen Lebens dachte und empfand, aber vielmehr die andre Seite der leiblichen Theilnahme an den Schmerzen und dem Tode des Herrn für ihn von keiner großen Bedeutung ist, wenn auch den die Anbetung der Christen oft mehr verrückt als es billig allen gläubigen Seelen begegnen müßte, wenn das auch geschieht auf eine Weise die den andern nicht anspricht, und die auch wir nicht theilen können: wir müssen es von diesem Gefühle aus entscheiden, und erklären, weil es wahr bleibt, daß der gläubige Christ sich nur sättigen kann an der geistigen Kraft, die aus der Betrachtung des leidenden und sterbenden Erlösers kommt. | Allein, m. g. F., noch eine Betrachtung kann ich nicht zurückhalten, zu der uns die Worte des Erlösers veranlassen. „Wenn ich,” sagt er, „wenn ich werde erhöht sein von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.“ Wie nun durch nichts anderes als durch seine Erhöhung von der Erde an den Stamm des Kreuzes er die Herzen der Menschen an sich zieht, das wissen und fühlen wir. Aber alle will ich zu mir ziehen, sagt der Erlöser – ach und viele gehen nicht noch immer entfernt von seinem wohlthätigen und heilbringenden Kreuze! wie viele schütteln nicht noch immer bedenklich das Haupt bei der Verehrung, welche die Gläubigen dem sterbenden Erlöser weihen, wie es damals seine Feinde thaten, als er geduldiger als sie gehofft hatten und leichter deßhalb ihrem Spotte Preis gegeben gestorben war. Und seinen Apo|stel, als sie nichts als allein das Wort vom Kreuze predigen, als sie nichts anderes rühmen wollten als den gekreuzigten Erlöser, reden nicht auch sie schon von den Feinden des Kreuzes? War es nicht schon ihre tägliche und sich immer wieder erneuernde Erfahrung, wie es den Juden ein Aergerniß war und den Griechen eine Thorheit? Und so weit sind wir noch immer davon entfernt, daß der der erhöht ist von der Erde, sie alle zu sich gezogen hätte. Ja, m. g. F., wie das Kreuz des Erlösers den Griechen eine Thorheit war, weil sie meinten, alles was der Mensch Großes Schönes und Herliches erreichen könne, das müsse daraus hervorgehen, wenn nur seine sich selbst gelaßne Natur sich entwickeln könne, wenn nur jede lebendige Kraft, die in ihnen wohne, freien Spielraum hätte, dann müsse die Schönheit, dann müsse die volle Uebereinstimmung dann müsse die Göttlichkeit des menschlichen Lebens zum Vorschein kommen, | weil sie das meinten – so war es ihnen eine Thorheit, daß aus einem Einzelnen, und zwar aus 36 wohne] wohnen 26–30 Vgl. 1Kor 1,18.23

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einem vom Widerspruch besiegten, aus einer in seiner Entwikelung gehemmten, aus einem zur vollkommnen Thätigkeit aller seiner Kräfte nicht gelangten Einzelnen, daß daraus das Heil der Welt hervorgehen sollte. Und weil die Juden stolz auf die Vorzüge älterer Offenbarungen, wohlbewahrter Lehren und Einsichten, die schon den Vätern geworden waren und blind gegen alles dasjenige, was menschlicher Verstand und menschliche Willkühr und Umstände mit demselben vermischt hatten, und ohne Ahndung davon, daß alles was vor der Ankunft des Herrn auf Erden, als ein erfreulicher Beweis der Verehrung Gottes und seiner Erkenntniß unter ihnen bestanden hatte auch nur einen vorübergehenden Werth haben konnte, weil sie in dieser Verkehrtheit und Verblendung um das Alte | was ihnen aus der Väter Zeit überliefert und ehrwürdig war, aufrecht erhalten wollten, und wiewohl mit aller Innigkeit der Sehnsucht auf die letzte Erfüllung der göttlichen Verheißungen, in der Person des Erlösers, der da kommen sollte, das Reich Gottes unter ihnen aufzurichten, ihn dennoch als er nun wirklich kam nicht nur verkannten sondern so gar verwarfen zum Tode, indem sie mit den Augen des Geistes nicht vorwärts sahen auf die immer schöner aufzublühen bestimmte Verherrlichung des göttlichen Namens durch den Sohn, sondern nur rückwärts auf das Vergangene – darum war ihnen ein Aergerniß das Kreuz des Erlösers, weil sie meinten, nur aus der wiederhergestellten alten Herrlichkeit ihres Volkes, und nur aus einem neuen Glanze der über das alte Gebäude fallen sollte, könne das bleibende Heil zu erst ihres Volkes und durch dasselbe aller übrigen Menschen hervorgehen. Und eben diese | beiden den Glauben an das Kreuz des Erlösers abhaltenden Neigungen, wir sehen sie immer wieder aufs neue unter den Menschen, die an den Namen des Herrn zu glauben bestimmt sind, und beiderlei Arten von Feinden des Kreuzes Christi finden wir überall in der Welt, in der wir leben. Wie sagt denn doch der Erlöser: „wenn ich werde erhöht sein von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen?“ O, m. g. F., deßwegen weil von dem ewig gesegneten Augenblick an, wo er mit dem heiligen Gefühl, es sei alles vollbracht sein irdisches Leben aufgab, und seine Seele in die Hände seines himmlischen Vaters befahl, weil von dem Augenblicke an jene wunderbare Kraft seines Kreuzes die Herzen der Menschen zu ihm hin zu führen nie aufgehört hat wirksam zu sein, weil mit dem Worte vom Kreuz diese Kraft immer weiter gedrungen ist in die Finsterniß der Welt, weil immer mehr von dieser natürlichen Finsterniß die Menschen zu | einer sichern und festen Kenntniß von dem Ursprunge ihres Heils gelangt sind, eben deßwegen weil so wohl diejenigen, die in ihrem Wahne das Kreuz Christi für eine Thorheit halten, als auch diejenigen denen es in ihren willkührlich aufge19–20 Vgl. 1Kor 1,23 30–32 Vgl. Joh 19,30; Lk 23,46 (Zitat aus Ps 31,6) 34 1Kor 1,18 38–1 Vgl. 1Kor 1,23

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stellten Menschensazungen ein Aergerniß geworden ist, weil sie alle doch noch gerade bedenklich geworden sind und unsicher, und es immer mehr werden müssen, weil doch bisweilen von diesem göttlichen Lichte ein Strahl in ihre Gemüther fallen muß, wenn sie das Wort vom Kreuz hören, weil sie doch nicht ganz blind sein können gegen die beseligenden Wirkungen, die dasselbe in den Herzen der Gläubigen hervorbringt: Darum müssen wir sagen, der Erlöser ist und bleibt immer in Begriff die Herzen der Menschen zu sich zu ziehen. Und die Entfernung der Menschen von ihm, sie mindert sich immer mehr, sie werden | immer näher zu ihm erhoben und durch ihn mit dem himmlischen Vater versöhnt, und immer schöner machen wir die Erfahrung, daß er, dem alle Gewalt verliehen ist im Himmel und auf Erden, das Gebiet der Menschlichen Welt immer mehr mit seiner Herrschaft durchdringt, und daß doch je länger je mehr Aller Knie sich vor ihm beugen und unterwerfen müssen unter sein Kreuz. Was dann noch übrig ist, in der Welt von solchen denen sein Kreuz ein Aergerniß ist oder eine Thorheit: o es ist die schöne Aufgabe eines jeden von der Kraft des Erlösers ergriffnen Gemüthes, auch diese ihm herbeizuführen. Und wenn, m. g. F., wie es ja sein soll, die khristliche Welt eine Darstellung davon sein muß, daß die Macht der Sünde durch den Tod des Erlösers gebrochen ist; wenn diejenigen, die immer aufs neue ihren Glauben und ihre geistige Kraft unter dem Kreuze | des Erlösers holen, wenn von diesen sichtbar ist und immer sichtbarer wird, wie sehr sie, indem sie die menschliche Weisheit als Thorheit geachtet haben, die himmlische Wahrheit gefunden und ihren Besiz errungen haben durch die göttliche Gnade, und daß, jemehr sie aufgehört haben ein Aergerniß zu nehmen an dem Kreuz Christi, um desto mehr es ihnen geworden ist zu einer ungetrübten Freude des geistigen Lebens; wenn wir von dem sterbenden Erlöser lernen, die Macht der Sünde, die gegen uns andringt, mit nichts anderm als mit der Kraft des Guten zu hemmen und zu besiegen, wie er ja selbst zu unserm gemeinsamen himmlischen Vater in den lezten Augenblicken seines zeitlichen Daseins betet: „vergieb ihnen sie wissen nicht, was sie thun“; wenn wir auch unsre irdische Wirksamkeit | in dem Dienste seines Reiches gegen die Gewalt der Sünde, wenn wir sie nicht länger fortsezen können nach dem göttlichen Rathschluß über uns, auf und dahingeben in dem schönen Gefühl, daß auch von uns in dem, was wir auf Erden gewirkt haben, eine geistige Kraft ausgegangen ist die nicht untergehen kann, weil sie in dem sterbenden Erlöser ihre Wurzel hat; wenn wir so lernen das Böse durch das Gute überwinden: o dann werden wir auch je länger je mehr die Thorheit und das Aergerniß der Welt besiegen, und ihre 30 zeitlichen] zartlichen 11 Vgl. Mt 28,18 13 Vgl. Röm 14,11; Phil 2,10 31 Lk 23,34 37 Vgl. Röm 12,21

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Seele dem Einigen zuführen, von welchem allein alles Heil werden kann dem Geschlecht der Menschen. Und indem wir immer aufs neue das Gefühl von der verderblichen Macht der Sünde unter seinem Kreuze erneuern, indem wir immer auf neue von dem Gefühl der göttlichen Liebe in dem Bilde des sterbenden Erlösers ergriffen und durchdrungen | werden, und in seiner Gemeinschaft unser Kreuz auf uns nehmen, ihm nachfolgend durch alles was nur unser Vater im Himmel uns auflegen mag: dann wird es uns zu der tröstlichen Erfahrung werden, zu der lebendigen Ueberzeugung daß der Glaube, der Glaube an den, den Gott gesandt hat zu unserm Heile, der einzige Sieg ist, der die Welt überwindet. Und eben diesen Sieg, m. g. F., den hat vollständig errungen der sterbenden Erlöser, darum ist er der sterbende der Anfänger und Vollender unsers Glaubens, darum ist sein Kreuz das Zeichen unter welchem sich immer aufs neue diejenigen vereinigen, die die Kraft der Erlösung in ihrem Innern erfahren haben. Und dann wird auch eben diese sich immer weiter verbreiten in der Welt, die er zu retten bestimmt ist. Und blicken wir nur durch die Kraft des Erlösers gestärkt von einer Zeit in die andre, von einer Zukunft in eine immer größere Ferne hinaus: o im tröstlichen Glauben wird uns auch das wahr werden, daß er der Erhöhte von der Erde sie alle alle zu sich zieht. Amen.

[Liederblatt vom 19. März 1820:] Am Sonntage Judica 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Laß deinen Geist mich stets mein Heiland lehren, / Dein Kreuz durch meinen Glauben so zu ehren, / Daß ich in Frömmigkeit und wahrer Liebe / Mich täglich übe. // [2.] Du hast dich selbst für mich dahin gegeben, / Wie sollt ich noch nach meinem Willen leben? / Nein leben will ich dem ich angehöre, / Dir Herr, zur Ehre. // [3.] Ein reines Herz gleich deinem reinen Herzen / Sei Herr mein Dank für deine Todesschmerzen, / Du lebtest ja und starbst von allem Bösen / Uns zu erlösen. // [4.] Wenn meine Brüder mich aus Irrthum hassen, / Denk ich, wie du dein Leben hast gelassen; / Und auch für alle, die mich untertreten, / Muß ich dann beten. // [5.] Lockt Lust der Welt mit ihrem falschen Reize, / So warnet mich das Wort von deinem Kreuze; / Und würd’ ich matt im Laufe guter Werke, / Dies giebt mir Stärke. // [6.] Und säh’ ichs auch den Klugen dieser Erden / Ein Aergerniß und eine Thorheit 9–10 Vgl. 1Joh 5,4

12 Vgl. Hebr 12,2

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werden: / Mir sei es, troz auch ihres bittern Spottes, / Die Weisheit Gottes. // (Gellert.) Nach dem Gebet. – Mel. In allen meinen Thaten etc. [1.] Wer hat dich so geschlagen, / Mein Heil, und unter Plagen / Dem Tod dich zugeführt ? / Du bist ja nicht ein Sünder / Wie andre Menschenkinder, / Bist ganz von Sünden unberührt. // [2.] Ich bins, da meine Sünden / Sich auch vermischet finden / In jenem Sündenmeer, / Das dir, o Herr, die Banden, / Und was du ausgestanden, / Erregt, das ganze Marterheer. // [3.] Drum bin ich dir verbunden / All Augenblick und Stunden / Zur tiefsten Dankbarkeit. / Dir sei mein ganzes Leben / Zum Opfer hingegeben, / Dir meine ganze Kraft geweiht. // [4.] Herr ich kann nicht viel geben / In diesem armen Leben, / Eins aber will ich thun: / Es soll dein Tod und Leiden, / Bis Leib und Seele scheiden, / Mir stets in meinem Herzen ruhn. // [5.] Ich wills vor Augen sezen, / Es soll mit Trost mich lezen, / Mich stärken mit Geduld; / Es soll mir sein ein Spiegel / Der Unschuld und ein Siegel / Von Gottes ewger Lieb und Huld. // [6.] Ich will dabei gedenken, / Wie ich mein Herz soll lenken / Zu stillem sanften Muth; / Und wie ich die soll lieben, / Die mich so sehr betrüben. / Mit Werken so die Bosheit thut. // [7.] Ich will ans Kreuz nun schlagen / Die Sünd, und dem absagen / Was nur mein Fleisch begehrt; / Was deine Augen hassen, / Das will ich fliehn und lassen, / Nur was dir ähnlich sei mir werth. // (Gerhard.) Nach der Predigt. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. Mich tröste dein Versöhnungstod, / Es bilde mich der Geist von Gott, / Daß ich dir ähnlich werde! / Erhebe mich, erhöhter Held, / Zu dir hinauf von dieser Welt, / Zum Himmel von der Erde. / Du bist das Haupt, wir folgen dir; / Zieh uns dir nach, so werden wir / Dich lieben, und uns deiner Pein / Und deines Todes ewig freun. / Herr Jesu Christ! / Wie selig ist / Wie selig ist / Der Mensch, dem du ein Heiland bist. //

Am 31. März 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 3,5–6 Nachschrift; SFK 11, Bl. 1r–10v; Gemberg Keine Nachschrift; SAr 59, Bl. 30r–31v; Woltersdorff Keine

Nachmittagspredigt von Schleiermacher am Charfreitage 1820.

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Tex t. 1. Joh. 3, 5–6.

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M. g. F. Diese Worte enthalten unmittelbar nichts von dem großen Gegenstande, welcher uns heute hier vereinigt hat, es ist in diesen von dem Tode unsers Herrn und Heilandes die Rede nicht; aber wohl wird der Ausdruck: er ist erschienen, damit er unsere Sünden hinwegnehme, uns an den Gesichtpunkt erinnern, aus welchen am meisten die Christen den Tod des Erlösers zu betrachten pflegen, und auch gewiß den großen Segen für ihr Herz davon tragen – daß er unsere Sünden wegnahm, dies, weswegen er auch sterben mußte. Dasselbe, wie der Apostel in den Worten unsers Textes sagt, weshalb er auch erschienen ist; denn so stellt es der Apostel dar als den Endzweck der Sendung | Jesu und seines ganzen Lebens: er ist erschienen, daß er unsere Sünden hinwegnehme; vollständig aber, das fühlen wir, wenn wir an die letzten Worte des Erlösers am Kreuze denken, hat er das erst, als er starb; und wie der Vorläufer unsers Herrn und Meisters, da er erst eben anfangen wollte, öffentlich aufzutreten, von ihm sagt: seht, das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt, und ihn eben deswegen so bezeichnet, weil seine ganze Laufbahn nichts andres war, als in diesem beseeligenden Bestreben, ein beständiges Dulden, ein immerwährender Tod, so auch müssen wir auf der andern Seite sagen: in den letzten Augenblicken des Erlösers finden wir alles sich wiederholen, was er that, was er thun mußte, ja was er war und sein mußte, um unsere Sünde wegzunehmen. Das ist die Hinsicht, m. g. F. in welcher ich die verlesenen Worte | an 12 es] so SAr 59, Bl. 30r; Textzeuge: sich 17–18 Joh 1,29

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diesem großen Tage der Christenheit zum Gegenstande unserer Betrachtung gewählt habe, und, wie nun der sterbende Erlöser auch unserer, seiner Gläubigen und Jünger Sünde hinweggenommen: das wird uns am anschaulichsten werden, wenn wir an die bedeutendsten seiner letzten Worte am Kreuze mit einander denken.

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I. Zuerst also, m. g. F. wenn unser Erlöser durch sein ganzes Dasein, durch seine Lehre und sein Leben die menschliche Seele zu der fast verlorenen Erkenntniß Gottes gebracht, wenn wir durch den Sohn zum Vater gekommen sind, wird der Entschluß, seinem heiligen Willen gemäß zu leben, die Überzeugung, seine Diener auf Erden zu sein uns erfüllt, weil wir die Liebe Gottes daran am stärksten erkannten, daß Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder | waren: dann entsteht in dem wiedergebornen gläubigen Menschen ein ernstes Bestreben, wie in sich, so um sich allem demjenigen zu wehren, was dem Willen des Höchsten zuwider, was des Namens Christi unwürdig ist, was mit dem aufrichtigen Bestreben ihm anzuhangen, nicht zusammenstimmt, und da seinen Grund hat in diesem Widerspruch der Sünde, den auch der Erlöser erdulden mußte. Wenn dann, m. g. F. die Seele in Widerwillen und Haß gegen die Feinde des Kreuzes Christi entbrennt, wenn sich, anstatt, daß sie in Ruhe und Besonnenheit ihres Weges wandeln sollte, feindselige Leidenschaften ihrer bemeistern: ach! dann, m. g. F. ist die Sünde nicht hinweggenommen, dann erzeugt sich in den nur noch nicht ganz gereinigten und geläuterten Herzen neue Sünde, und in diesem | immer wieder Erzeugtwerden der Sünde auch in gläubigen Gemüthern wird das Werk der Erlösung gehemmt und unterdrückt, und das Reich Gottes kann sich dann auf Erden nicht bauen. Aber in dem Worte, das er am Kreuze sprach: Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun: da hat er uns gezeigt, er, der Anfänger und Vollender unsers Glaubens, wie die Sünde hinweggenommen werden könne; und wir bedürfen nichts, als ihm, dem sterbenden Erlöser darin nachzufolgen, damit ohne Unterbrechung und Störung sein Werk, das Reich seines ewigen Vaters auf Erden durch uns immer mehr gedeihen, und die Sünde wirklich hinweggenommen werden könne. Denn wenn er, m. G. das nur deswegen vermochte, weil er das Ebenbild des göttlichen Wesens | und der Abglanz seiner Herrlichkeit war – das göttliche Wesen aber ist nichts, als Liebe, unendliche Liebe zu den wenn auch verirrten Menschenkindern – so vermögen auch wir, die wir durch die Liebe leben, nicht anders, als durch die Kraft der 14 allem] alle 11–13 Vgl. Röm 5,8 34–35 Vgl. Hebr 1,3

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Liebe, ihm nachfolgend, die Sünde der Welt und unsere eigene hinwegzunehmen. Das ist aber der Blick der Liebe auf alles noch so Verkehrte, auf alles noch so Verderbliche, ja auf das Verworfene selbst in der menschlichen Seele: sie wissen nicht, was sie thun! Wer diesen Blick der Liebe auf die Sünden der Welt zu werfen fähig ist, mag sie ihn auch anfeinden, wie den Erlöser, mag sie, wie seiner, so auch seiner Jünger und treuen Diener wirksamen Erscheinung auf Erden ein Ende machen – wer diesen Blick der Liebe | auf das Verderben der Welt werfen kann, der arbeitet an der Hinwegnahme desselben unausgesetzt, und mit segensreichem Erfolge, wie der Erlöser. Denn, m. g. F. wie wollten wir gegen die Sünde der Welt reinigend und heiligend auftreten wenn nicht die Überzeugung in unsern Herzen lebte, daß der ewige Vater um des Sohns willen sie vergebe? denn was ist alle Förderung des Reiches Christi, als das wahre thätige Vergeben der Sünde, und wie anders können wir glauben, dazu beizutragen, als indem wir dem Erlöser nach denken: sie wissen nicht, was sie thun! Denn ein anderes Mittel hat der Mensch nicht, in der Seele seiner Brüder und in seiner eigenen dem Guten Raum zu schaffen, und dem Bösen zu wehren, | als, indem er das innerste Bewußtsein der Menschen aufregt, und da schlummert der sich so oft ihm verbergende Grund des Ewigen oft in der geheimsten Tiefe; wenn die Kunde des göttlichen Gesetzes in unergründlicher Ferne dahin zu schwinden schien, und da ist auch in den verhärtetsten Herzen eine weiche Stelle welche schmilzt bei dem Bilde des sterbenden Erlösers. Dies Bewußtsein aufzuregen in der tröstenden und beruhigenden Zuversicht, daß der ewige Vater alle Früchte des Dunkeln und Bewußtlosen, alle Werke der Finsterniß und der Sünde vergiebt sobald das erwärmende und belebende Licht in der Seele aufgegangen ist: das ist der Glaube, in dem wir allein, wie unser Herr und Meister, an der Hinwegnahme der Sünden arbeiten können. | II. Aber zweitens, m. g. F. wie dunkel sind uns nicht die Wege Gottes, wie verworren greifen die Handlungen der Menschen in einander ein, welche Kluft ist zwischen dem Samen des göttlichen Wortes, der in die Seele gesäet wird, und dem Reifen desselben zur erfreulichen Erndte; welche Macht liegt zwischen jedem guten Entschluß, der in der Seele aufgeht, und der Ausführung desselben im Leben? So lange wir, m. g. F. von diesen Gefühlen beherrscht werden, so sind wir uns selbst nicht sicher: es hängt sich an diese Verborgenheit des Zusammenhanges der Dinge feindliche Trägheit und Nachlässigkeit der Menschen. Verbirgt sich uns, was aus dem ausgestreue33 Macht] so SAr 59, Bl. 30v; Textzeuge: Nacht 15 Lk 23,34

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ten Samen wird, sehen wir nicht | neben der Furche, die wir eben ziehen, die reife Frucht schon ihr zur Seite stehn: ach, wie legt der Mensch da die Hand an den Pflug, wie schauet er nicht müßig und verdrossen dem thörichten und sündhaften Streben der Welt zu, in dem Glauben, daß seine Thätigkeit, seine Arbeit für den Weinberg des Herrn erstickt durch die überall hervorschießende Sünde, und keine Frucht bringe, daß er das Werk seiner Hände nicht schauen werde, und ist so nicht geschickt zum Reiche Gottes. So kann die Sünde der Welt nicht hinweggenommen werden, und jeder Mangel an Vertrauen an die göttliche Allmacht, die das Reich unseres Herrn hier auf Erden begründet, jede Verdunkelung des Gefühls von der Sicherheit und Herrlichkeit desselben, ist | selbst Sünde, und Theilnahme an der Sünde der Welt, die hinweg genommen werden soll. Darum sprach er, der sterbende Erlöser am Kreuz zu jenem, der nicht freudig aufschauen konnte, sondern vom Gefühle seiner Schuld darniedergebeugt war, vor dessen Augen nun auch weiter nichts lag, als die lange Nacht des Todes, als er sich im Glauben mit der Bitte an den Herrn wandte: Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! darum sprach er zu ihm: Heute, heute wirst du mit mir im Paradiese sein! O dies Wort des Trostes, meine gläubigen Freunde, es ist kein andres, als dasselbe, welches der Erlöser sonst ausgesprochen hat: wer da glaubt, der wird nicht gerichtet: wer da glaubt, der hat das ewige Leben! Und nur in diesem | Gefühle von den unmittelbaren Wirkungen Gottes durch die Kraft des Glaubens unter dem Beistande seines Geistes: nur in diesem unmittelbaren Bewußtsein davon, daß uns jeder Augenblick unseres Lebens, was auch vor uns zu liegen scheine von einer Frucht zur andern, wie gering auch die Erfolge unserer angestrengtesten Thätigkeit für das Reich des Erlösers zu sein scheinen, doch zu ihm, dem Herrn immer mehr hinführt: nur in diesem freudigen Muthe wird die Sünde der Welt hinweggenommen. Mit diesem hat der Erlöser uns Alle erfüllen wollen, wie er selbst davon erfüllt war, als er einem von dem Bewußtsein der Sünde erfüllten diese Worte sprach: heute wirst du mit mir im Paradiese sein! O das, m. g. F. das laßt uns erst in unser Herz schließen: denn was | sind auch wir mit dem besten Willen, unserm Herrn und Meister zu dienen? was sind auch wir mit der innigsten Dankbarkeit dafür, daß Jedem nach dem ihm gegebnen Maaße der Herr schon geworden ist zur Gerechtigkeit, Weisheit und Heiligung: was sind wir anders, als auch von dem verdunkelnden Bewußtsein der Sünde von Zeit zu Zeit niedergedrückte Gemüther? O wenn dann auch vor uns mitten im Leben nur die dunkele Macht des Lebens zu liegen scheint, wenn sich unser dann das Gefühl bemeistern will, es sei wenig zu hoffen von allem: was die einzelnen Kräfte der Jünger des Herrn auf Erden zu leisten suchen, wenn wir uns in der Ungewißheit aller 3–8 Vgl. Lk 9,62 16–18 Lk 23,42–43 33–35 Vgl. 1Kor 1,30

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menschlichen Dinge fürchten vor dem, was unsere eigene Sünde | verwirrendes hinein gebracht hat: es bedarf dennoch nichts anderes, als daß wir mit jenem sagen: Herr, gedenke unser, wenn du kommst in dein Reich; damit der Herr auch uns das tröstende Wort zurufe, er sei schon da mit seinem Reiche; seine Herrlichkeit brauche nicht erst zu kommen, so wir nur gläubig an ihm hingen. Heute werden wir mit ihm im Paradiese sein. Sein Anblick öffnet unmittelbar der Seele das Paradies, in das, wer im Bewußtsein der göttlichen Liebe und im Vertrauen auf die väterliche Allmacht dessen, der seinen Sohn in den Tod dahingegeben um der Sünde der Welt willen, verharre, nothwendigerweise eingehen muß. Und wir in diesem freudigen Muthe fortwirkend, nur so wie der Anfänger und Vollender unsers | Glaubens uns immer wieder aufrichtend, und wenn das Gefühl der schweren Schuld uns drückt, an seine Herrlichkeit uns erinnernd und erfrischend, nur so vermögen wir die Sünde der Welt und unsre eigene hinwegzunehmen. III. Aber endlich drittens, auch so fühlen wir es wohl, m. g. F. stünde Jeder für sich allein in dieser irdischen Welt, o er vermöchte kaum sich die Güter des Heils zu erhalten; er vermöchte kaum den Kampf gegen die Sünde zu bestehen. Mit wie vielen Fäden umspinnt nicht Jeden die Sünde der Welt, wie mancherlei nähere und entferntere Verbindungen bringen uns mit denjenigen zusammen, die die Sünde zu hegen, und ihre Gewalt an der Welt | wieder zu haben suchen. Wären wir nun allein, o wie könnten wir sie von uns abhalten in irgend einer Stunde der Versuchung, wie leicht würden wir dann zur Beute dem Geschlecht, das nur das noch schwache und unvollkommne Werk soweit sie können zu hintertreiben sucht. Das freilich vermögen sie nicht; mit aller Gewalt und List der Sünde können sie doch den Sieg über das Gute nicht davontragen; aber jeder Einzelne für sich allein, er kann den Muth und die Zuversicht im Kampf gegen jene gewaltige Macht nicht vesthalten. Darum sagte der Erlöser am Kreuz, als er auf der einen Seite stehen sah den Jünger, den er lieb hatte, und auf der andern Seite die Mutter, die doch mehr oder weniger mit seinen an seinen | heiligen Namen noch nicht gläubigen Brüdern zusammenhing: darum sprach er zu ihnen Weib, siehe das ist dein Sohn: Sohn, siehe, das ist deine Mutter! und indem er so diejenigen, welche ihm angehörten, und ihm unter allen die liebsten waren, die Eine durch die Bande der Natur, der Andre durch die innigste und vertrauteste Freundschaft und Liebe, so auf das Engste an einander 33 zusammenhing] zusammenhang 3–5 Vgl. Lk 23,42–43 6 Vgl. Lk 23,43 Hebr 12,2 30–34 Vgl. Joh 19,26–27

9–10 Vgl. Röm 4,25

11–12 Vgl.

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Am 31. März 1820 nachmittags

knüpfte, sicherte er die Eine und den Andern. Und das, m. g. F. das ist es, was vorzüglich uns stärken muß und sichern, damit in uns und durch uns die Sünde der Welt hinweggenommen werde; nur indem der Erlöser seelige Bande geistiger Verwandtschaft stiftete unter denen, die in ewiger Liebe und Verehrung an seinem Kreuz sich zusammen | fanden: nur dadurch hat er die Gefahr abgewehrt, die jedem Einzelnen droht von der Sünde; o durch das theure Testament hat er auf das Kräftigste die Sünde der Welt hinweggenommen; daran dürfen wir bei uns nur halten, und es uns zu eigen machen, in inniger Liebe an einander hängend, und auf keine andre Hülfe trauend, als auf den Schutz und Beistand der Jünger des einen Herrn: denen vertrauend unter allen Widerwärtigkeiten des Lebens, an diese uns haltend in allen schwachen Stunden – so werden wir uns und sie und Andre stärken und immermehr die Sünde aus unserer Mitte hinwegnehmen. So finden wir, m. g. F. in den letzten Augenblicken des sterbenden Erlösers alles vereint, was er sein ganzes Leben | hindurch auf die Seelen der Menschen gewirkt hatte, um ihre Sünden wegzunehmen: und wer in ihm bleibt, sagt der Apostel in den Worten unseres Textes, der sündiget nicht, und halten wir uns an diese letzten Worte des sterbenden Erlösers, einmal wie aus unsern Herzen aller Haß und alle Feindschaft, um in denen, welche nicht wissen, was sie thun, immer mehr das Licht zu erwecken, welches sie erleuchten muß von Oben, entweichet, wie nicht länger alles Dunkel, welches uns umgab, bleiben kann, sondern dahin schwinden muß, leben wir nur immer mehr in der jeden Augenblick sich erneuernden Seeligkeit, die wir genießen können in der Gemeinschaft mit dem, der unter | uns ist alle Tage bis an der Welt Ende; sind wir jeden Tag mit ihm in der Kraft der Liebe und des Glaubens und in der Gemeinschaft mit Gott: und hängen wir mit einander so zusammen, wie es seiner, des Abglanzes der ewigen Liebe würdig ist, o dann können wir auch das Letzte, das große Wort uns gläubig aneignen: es ist vollbracht; dann ist das Werk der Erlösung vollbracht; dann ist er uns in der That geworden, wie zur Gerechtigkeit, Weisheit und Heiligung, so auch in der That zur Erlösung aus aller Gewalt mit der Sünde und aus aller Gemeinschaft mit der Finsterniß. Amen.

20 Vgl. Lk 23,34

24–25 Vgl. Mt 28,20

29 Joh 19,30

30–31 Vgl. 1Kor 1,30

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Am 3. April 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostermontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,40–41 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 59, Bl. 34v–35v; Woltersdorff Keine Keine Tageskalender: „über die Epistel“

Aus der Predigt am 2. Ostertage 1820 nachm. Apst. Gesch. 10 v. 40. 41.

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In diesen Worten welche aus der Rede genommen sind, die Petrus beim Cornelius hielt der ihn auf göttliches Geheiß hatte zu sich rufen lassen, ist zu bemerken daß er erzählt, der Auferstandne habe sich nur den vorerwählten Zeugen gezeigt. Daß nun Christus sich nicht allem Volk gezeigt hat sondern nur ihnen, das ist ein Umstand in welchem sich die göttliche Gerechtigkeit und Gnade auf besondre Weise offenbart. Wenn wir über die Ursache nachdenken, daß sich der Herr nicht allem Volk gezeigt hat so werden wir darin die göttliche Gerechtigkeit finden, und darin, daß er sich den Auserwählten gezeigt hat, die göttliche Gnade. Es ist freilich schwer zu unterscheiden was Gerechtigkeit und Gnade zu nennen ist, denn es sind die Begriffe die von menschlichen Verhältnissen her genommen sind und die in dem Verhältniß der Menschen gegen Gott eigentlich gar nicht statt finden. – Aber wir müssen nun einmal auf menschliche Weise und in menschlichen Worten von göttlichen Dingen reden sonst würde alle Mittheilung hierüber aufhören müssen. Wenn wir nun reden von göttlicher Gerechtigkeit gegen den Menschen, so bezieht sich dieses auf etwas was wir fordern können; nemlich etwas giebt es wovon wir sagen können Gott sei es dem Menschen schuldig, es ist: das Wort Gottes wodurch der Mensch allein Gott erkennt: schuldig, weil sonst die ganze menschliche Natur zerstört wird. Das Bewußtsein Gottes in der Seele das ist es was den Menschen erst zur Stufe der Menschheit erhebt, wir sehen es ja wo es fehlt da ist Zerrüttung. Als Gott sprach: laßt uns Menschen machen, da verhieß er ihnen schon dies Bewußtsein welches sein Wort wirken sollte indem er sagte: ein Bild das uns gleich sei: und daß er dies Wort gab und erhält, das gehört zu seiner Treue gegen 3–4 Vgl. Apg 10,34–43

24 Gen 1,26

25 Gen 1,26

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Am 3. April 1820 nachmittags

sich selbst. Als es am meisten verdunkelt war durch die Sünde, da erschien der Herr der auch nichts andres war als das göttliche Wort selbst weil es sein Amt war der Schlange den Kopf zu zertreten durch die Wiederherstellung der Gemeinschaft des Menschen mit Gott. Wie die ersten Voreltern nur auf unvollkommne Weise die Gotteserkenntniß in sich aufnehmen konnten so war die Erscheinung des göttlichen Worts in dem Erlöser erst die Vollendung der Schöpfung des Menschen; als die Zeit erfüllet war da erst konnten sie das Göttliche erkennen und unterscheiden von dem Ungöttlichen. – Diejenigen nun welche das Wort in sich aufnahmen, an denen bewies sich eben darin und dadurch die göttliche Gnade, daß der Auferstandne ihnen erschien. Diejenigen aber deren Ohren verstokt geblieben waren, sie die nicht hören wollten, sie hatten nun keinen Grund der Hoffnung auf göttliche Gnade denn da der Erlöser unterbrochen war in seinem Lehramte durch den Widerspruch der Sünde, so war es die Schuld des Volkes selbst daß ihnen der Mund der Lehre verstummt war, und auf andre Weise entzieht Gott den Menschen keine wesentliche Wohlthat als durch ihre eigne Schuld. Vergeblich suchen sich die Menschen davon zu reinigen und sich so darzustellen als ob es ohne ihre Schuld geschehen sei. Wir haben gar nicht zu suchen nach einem andren | Grunde sondern können im Glauben an die göttliche Gerechtigkeit voraus setzen daß die Schuld der Grund ist. Ja es ist nur die Folge der Sünde daß das Gute in der Welt kann verloren gehen. Gott hatte ihnen sein Wort gegeben und mehr war er ihnen nicht schuldig, aber wir haben nicht nöthig dabei stehen zu bleiben, sondern es würde gar keinen wesentlichen Erfolg gehabt haben wenn er sie hätte theilnehmen lassen an dem was die Jünger erfuhren. Was der Mensch bedarf und zu benutzen versteht, nur das kann die göttliche Gerechtigkeit ihnen nicht versagen, was er aber entweder nicht bedarf oder nicht zu benutzen versteht ist ihm überflüßig, das sagt die Geschichte vom Reichen Manne im Evangelium sehr deutlich indem Abraham sagt: sie haben Mosen und die Propheten, hören sie diese nicht so werden sie auch nicht glauben und wenn jemand von den Todten auferstände: – Der Glaube, sagt der Apostel kömmt aus der Predigt: Es giebt also nichts anders wodurch die Kraft der Gemeinschaft mit Gott, welche wir Glauben nennen und in deren Gefühl wir uns Gläubige nennen, in der Seele erregt werden kann als die Kraft des göttlichen Wortes, wie es aus einer gläubigen Seele hervorgeht, das heißt: die Predigt. – Jene nun hatten nicht nur Mosen und die Propheten sondern sie hatten ihn selbst gehört der das reine und lebendige Wort Gottes war, und obgleich sie sich verstockt hatten dagegen, so blieb ihnen das Wort doch in den Jüngern des Herrn ob sie vielleicht noch glauben möchten. Verstokten sie sich aber ganz dagegen, so konnte die Erscheinung 3 Vgl. Gen 3,15

30–32 Vgl. Lk 16,29.31

32–33 Röm 10,17

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Über Apg 10,40–41

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Christi wie die Jünger sie erfuhren sie nicht gläubig machen, eben weil der rechte Glaube nur durch die Kraft des Wortes entstehen kann. Es ist also bloßer Schein des Glaubens der aufs Wunderbare gegründet ist, und dieser kann die Gemüther nicht heilgen und mit Gott verbinden. – Wie sich nun die göttliche Gerechtigkeit bewies an der Gleichheit der Gaben, so bewies sich die Gnade an dem was sich der Wirkung anknüpfte. In der Gerechtigkeit also liegt eine Gleichheit, in der Gnade eine Verschiedenheit, bei Gott aber ist Beides Eins, Gerechtigkeit ist Gnade, und Gnade ist Gerechtigkeit – Nur von den Menschen, nur davon wie die göttlichen Gaben aufgenommen werden, geht der Unterschied aus: Denn einen größern Unterschied giebt es gar nicht in der Welt als zwischen dem Gläubigen und Ungläubigen, dem einen ist Alles ein Anderes als dem andern. Alles führt den Gläubigen auf Gott zurück, überall sieht er Gottes Walten, und alles was ihm entgegen kommt, und was er erfährt dient ihm zur Heiligung auch das was dem Ungläubgen zum Strick der Versuchung wird; denn denen die Gott lieben müssen alle Dinge zum Besten dienen. Daß uns alles zur Heiligung gereichen kann ist göttliche Gerechtigkeit, daß aber wo der Glaube aufgegangen ist es wirklich zur Heiligung gereicht, das nennen wir göttliche Gnade. Da durch die Sünde des Volks der Ungläubigen Christus den Jüngern entnommen war, so hatten sie an dieser Sünde keinen Theil. Freilich müssen wir gestehen, wie der einzelne Mensch nicht für sich bestehen kann so kann er sich auch nicht los sagen von der Schuld die aus dem Gesamtzustande des gemeinsamen Lebens hervorgeht. Aber zu einer Zeit wo sich erst die Gemeinschaft der Gläubigen bildet durch die Wirkung der göttlichen Gaben auf sie, und in wiefern unter ihnen eine bessre Welt schon gebildet ist haben sie keinen Theil an der Schuld die aus der Gesamtheit des Unglaubens hervorgeht. Um nun | die Folgen der Sünde für den Unschuldgen aufzuheben darum ließ sich der Herr unter ihnen sehen, ihr Glaube, ihre Erkenntniß bedurfte noch ergänzt zu werden, und dies sollten sie nicht entbehren, darum war es nothwendig daß er denen durch die göttliche Gnade vorerwählten Zeugen erschien. Und das ist die Ursache warum auch wir unserm Vater niemals aufhören dürfen dankbar zu sein. Weil nun dieser Vorzug den sie hatten, von der göttlichen Gnade und in Beziehung auf die andern, von der göttlichen Gerechtigkeit abhing, eben deswegen redet der Apostel so unbefangen von diesem Unterschiede der erwählten Zeugen, denen der Herr erschienen, und des Volks dem er nicht erschienen war, und redete vor Cornelius nicht allein, sondern es waren auch solche zugegen denen das Wort des Herrn Aergerniß war, diese nun werden gewiß gesagt haben: „wenn Christus wirklich auferstanden wäre, 5 Gaben] Gabe

28 ihnen] sie

15–16 Vgl. Röm 8,28

32 sein.] Im Manuskript folgt eine Leerzeile.

38 Vgl. 1Kor 1,23

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Am 3. April 1820 nachmittags

warum sollte er sich nicht dem Volke gezeigt haben? es würde dann ja gleich geglaubt haben“: Das ist die Rede des natürlichen Menschen. Der natürliche Mensch aber vernimmt nichts vom Geiste Gottes, und so würde es denn auch nichts gefruchtet haben wenn der Apostel ihnen hätte erklären wollen was der Glaube sei. Der ungeistliche Mensch, der die Begierde nach Gemeinschaft mit Gott in sich unterdrückt und die Gnade von sich weiset die durch das Wort zu ihm kommen will, der versteht auch nichts, wenn von geistigen Dingen die Rede ist, von Glauben wie Bewußtsein höhrer Kraft, von Freudigkeit und Friede und Seeligkeit; denn es will geistlich gerichtet sein. Sie werden immerfort Einwendungen machen gegen die Sprache des Glaubens, aber der Apostel indem er sich nicht abhalten ließ durch die Einwendungen seiner Rede freien Lauf zu lassen, ist er uns ein herliches Vorbild geworden, zwar nicht unaufgefordert, aber wo wir aufgefordert sind von Heilsbegierigen alles zu sagen, was wir erkannt, und erfahren im innern Leben durch die Gnade des Herrn ohne Rücksicht zu nehmen auf die welche etwa gegenwärtig sind, und es nicht verstehen oder sich zum Gericht hören könnten. Es ist menschliche Klugheit lieber zu schweigen als zu reden wo unsre Rede könnte gedeutet werden als aus unklarem Gemüth kommend, der Apostel aber redet als vorerwählter Zeuge der Herlichkeit des Herrn und im Gefühl dieses heilgen Berufs konnte er keine Gelegenheit unbenutzt lassen, die Heilsbegierigen zu befriedgen, und das war Cornelius im eigentlichsten Sinne, die heidnischen Gebräuche des Unglaubens waren ihm längst zuwider gewesen, er hatte sich der jüdischen Anbetung des alleinigen Gottes angeschlossen, welche seinem Gefühl entsprach und so that er wozu ihn die Sehnsucht dieses höchste Wesen und den Willen desselben näher kennen zu lernen trieb. Durch die freimüthige Rede des Petrus ward ihm dieses Heil und größeres zu Theil, in die Gemeinschaft der Jünger des Sohnes Gottes ward er aufgenommen, und so ist das Wort der vorerwählten Zeugen von Munde zu Munde gegangen und Gottes Gnade hat sich bezeugt an allen die welche sich nicht selbst verstockten. Wir nun die wir die göttliche Gerechtigkeit und Gnade erkannt haben, an uns ist es Gott zu preisen daß er durch die Auferstehung des Herrn die Jünger gekräftigt hat, durch deren Wort auch wir fähig geworden sind Glieder seiner geistigen Gemeinde zu werden, die regiert wird durch den Geist dessen dem Ehre und Preis sei in Ewigkeit!

20 konnte] konnt

24–25 entsprach] ansprach

30 allen] alle

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Am 9. April 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Quasimodogeniti, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,19–23 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 74, Bl. 31v–46v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender: „In der lutherischen Reihe“

Predigt am Sonntage Quasimodogeniti 1820. am ersten Sonntage nach Ostern den neunten Wandelmonds. |

31v

Das erste, m. g. F., was unser Erlöser denen, die über seine Auferstehung erstaunt waren, gesagt hatte, war dies, „ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem und zu eurem Gott, aber ich werde auffahren zu ihm“. So sah er diese Tage seiner Auferstehung nur an gleichsam als den Uebergang zu seinem gänzlichen Hinweggenommenwerden von der Erde und zu seiner Rükkehr zum Vater; und wie er von dort seinen Jüngern den Geist der Wahrheit senden wollte, der sie nicht nur trösten sollte, sondern auch stärken und mit Kraft aus der Höhe erfüllen, um sein Werk auf Erden zu fördern, so sah er auch vorzüglich für sie diese lezte Zeit seines vorübergehenden Aufenthalts unter ihnen an als die lezte Vorbereitung, die er ihnen geben konnte zu jenem selbstthätigen Wirken in der Welt für sein Reich, | zu welchem sie berufen waren. Da legte er ihnen die Schrift aus, damit sie in den wahren Sinn derselben eindringen könnten, da redete er zu ihnen von ihrem künftigen Beruf, und stellte ihnen den ganzen Umfang desselben vor die Augen. Aber, m. g. F., es war von Anfang an das Ziel der Sendung des Erlösers, wie es auch gleich am Anfang der Verkündigung seine Jünger aussprachen, daß unter denen, die an seinen Namen glauben würden, kein Unterschied sein sollte zwischen denen die da lehren, und denen die da gelehrt werden, daß keiner den andern sollte Herr und Meister nennen, sondern alle sollten von Gott gelehrt sein. Denn, m. g. F., es ist auch richtig

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3 Das] Notiz oben rechts von Schleiermachers Hand: Am Sonntag Quasimodogen. 1820 4–5 Vgl. Joh 20,17 8–10 Vgl. Joh 14,16–17; 15,26; 16,5–7; Lk 24,49 14–17 Vgl. Lk 24,45–48 21 Vgl. Mt 23,8; Joh 13,13 22 Joh 6,45 (Zitat aus Jes 54,13)

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Am 9. April 1820 vormittags

verstanden alles dasjenige, was der Herr seinen Jüngern von ihrem | großen Beruf sagt, eben so auch zu uns geredet, und wir können und sollen es auch auf unsre Stellung im Reiche Gottes auf Erden anwenden. Dazu giebt uns unser heutiges Sonntagsevangelium Gelegenheit, und wir wollen es zu dem Ende mit einander betrachten. Johannes XX, 19–23. Am Abend aber desselbigen Sabbaths, da die Jünger versammelt und die Thüren verschlossen waren aus Furcht vor den Juden, kam Jesus und trat mitten ein und spricht zu ihnen, Friede sei mit euch. Und als er das sagte, zeigte er ihnen die Hände und seine Seite. Da wurden die Jünger froh, daß sie den Herrn sahen. Da sprach Jesus abermal zu ihnen. Friede sei mit euch, gleich wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch. Und da er das sagte, blies | er sie an und spricht zu ihnen, nehmet hin den heiligen Geist; welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet denen sind sie behalten. „Gleich wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, das sind die Worte des Herrn, m. g. F., bei denen heute unsre Betrachtung stehen bleiben soll. Wir sehen daraus, wie uns der Erlöser hinweist auf die Aehnlichkeit der Sendung seiner Jünger mit seiner eigenen Sendung vom Vater in diese Welt; und eben dies wollen wir, wie ich vorher schon angedeutet habe, mit Anwendung auf unsern eigenen Beruf in seinem Reiche unter dem Beistande Gottes jetzt näher mit einander betrachten.

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I. Zuerst, m. g. F., der Vater sandte unsern | Herrn von der Herrlichkeit, die er bei ihm hatte ehe denn der Welt Grund gelegt war. Das sind die eigenen Worte unsers Erlösers, und mehr als einmal, wenn gleich auf verschiedene Weise kommt er zurük auf diese Herrlichkeit, die er von Anfang an bei dem Vater hatte, und von welcher herab er in diese Welt gesandt war. Das ist freilich ein Gegenstand, der eigentlich über die Gränzen unsrer Einsicht hinaus geht; wir können uns von der Herrlichkeit, die der Erlöser bei dem Vater hatte, ehe denn er in dieses irdische Leben getreten ist, keine bestimmte Vorstellung machen, aber nichts desto weniger ist sie für uns ein Gegenstand des Glaubens. Denn wir können sie uns nicht hinwegdenken ohne auch zugleich die heilige Würde und Kraft verloren zu geben, mit welcher ausgerüstet der | Erlöser in dieser Welt erschien und auftrat. Denn eben diese göttliche Kraft und Würde konnte ihm nicht von der Erde gegeben sein, nicht aus der Entwiklung der Menschen, nicht aus dem was mit einem gewöhnlichen Menschen zugleich im Geiste gegeben war, konnte er sie 25–29 Vgl. Joh 17,5.22.24

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Über Joh 20,19–23

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finden, und darum war sie eine Herrlichkeit, die er hatte ehe er in diese Welt kam. Aber eben weil dies ein so ausgezeichneter Gegenstand ist, so scheint es als ob wir dies nicht könnten auf die Sendung seiner Jünger anwenden. Und doch hat der Erlöser gesagt „gleich wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, doch hat ungleich an das was er war, ehe ihn der Vater in die Welt sandte, und an das was er auch nach seiner Sendung war, daran hat er ungleich nicht denken | können. Auch wir also müssen unterscheiden von der Sendung seiner Jünger, von ihrer Thätigkeit in der Erfüllung ihres Berufes und in der Ausrichtung seines Auftrags an die Menschen, die Herrlichkeit welche sie bei ihm hatten, ähnlich der die er selbst, ehe er gesandt war, bei seinem Vater hatte. Diese aber bestand darin, daß ihnen Gott offenbart hatte, dieser Jesus von Nazareth sei Khristus, der eingeborene Sohn Gottes. Denn indem der Erlöser, als im Namen seiner übrigen Jünger Petrus dies Bekenntniß ablegte, zu ihm sprach „Simon, das hat dir Fleisch und Blut nicht offenbart, sondern allein der Vater im Himmel“, so gab er dadurch zu erkennen, daß diese Kraft und Festigkeit des Glaubens etwas sei was sie nicht auf dem gewöhnlichen Wege des menschlichen Lebens hatten finden können, | sondern vom Vater mußte es ihnen offenbart sein in ihrem Zusammensein mit seinem Sohne. Dieser Glaube an ihn als den Sohn des lebendigen Gottes, diese Zuversicht, daß er gekommen sei das Reich Gottes auf Erden zu gründen, die damit zusammenhangende lebendige Anschauung von dem göttlichen Reiche auf Erden, daß es nicht bestehe in irgend etwas Aeußerlichem Irdischem und Vergänglichem, sondern allein im Geiste und in der Kraft, diese Sehnsucht ihrer Herzen, die sich so oft aussprach, daß das Reich Gottes kommen möge, je eher je lieber, und je stärker desto besser – das war die Herrlichkeit, die sie bei dem Erlöser hatten, das war die Herrlichkeit, die sie bei ihrem Herrn und Meister hatten und haben mußten, ehe er sie in die Welt senden konnte. Denn ohne diese Kraft des Glaubens an ihn als | den Sohn des hochgelobten Gottes, ohne diese belebende und leitende Vorstellung von seinem großen Gottesreiche, welches er auf Erden zu stiften gekommen war, hatte er sie noch nicht senden können in alle Welt, um alle Völker zu lehren und gläubig zu machen an seinen Namen, ohne jene Kraft und diese Vorstellung wären sie nichts anders gewesen als auf die gewöhnliche Weise menschliche Schüler eines menschlichen Lehrers, so wie er selbst ohne die Herrlichkeit, die er bei dem Vater hatte ehe der Welt Grund gelegt war, nichts anders gewesen wäre als das was manche ausgezeichnete Menschen in der Welt zu göttlichen Werkzeugen auf Erden bestimmt auch vor ihm und außer ihm gewesen waren. – Und laßt uns nun, m. g. F., uns nicht scheuen eben dasselbe auf unser | Inneres und auf unsern Beruf in dem Reiche unsers Herrn 10–11 Vgl. Joh 17,22 12–14 Vgl. Mt 16,16 Mk 14,61 35–36 Vgl. Joh 17,24

14–16 Mt 16,17

29–30 Vgl.

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Am 9. April 1820 vormittags

und Meisters anzuwenden. Er sendet euch aus, auch uns allen liegt eine Thätigkeit ob, um sein Reich zu erhalten und immer weiter auszubreiten. Dazu sollen wir beitragen durch alles was wir in der Welt sind und thun, indem wir durch Lehre und Beispiel sein Reich auf das künftige Geschlecht fortzupflanzen suchen, indem wir in der Kraft des Glaubens als Kinder des Lichtes kämpfen gegen jede Macht der Finsterniß, die sich gegen das Reich Gottes erhebt. Aber auch wir vermögen diesen Beruf nicht zu erfüllen, wenn wir nicht schon eine Herrlichkeit haben bei ihm ähnlich der seiner ersten Jünger, wenn wir nicht schon eine Herrlichkeit bei ihm haben ähnlich der, die er selbst hatte bei seinem himmlischen Vater, ehe | er in diese Welt kam; das Herz muß erst fest geworden sein in der Kraft des Glaubens, die Liebe zu seinem Reiche muß erst alle andre Liebe ausgetrieben und jede andre Begierde zum Schweigen gebracht haben. Das ist die selige innere Herrlichkeit, die wir erst bei ihm haben müssen, ehe er uns aussenden kann zu arbeiten in seinem Weinberge. Wohlan, m. g. F., freilich fühlen wir, daß diese Herrlichkeit in uns nur etwas allmälig Wachsendes und Werdendes ist, und eben deßwegen können wir nicht sagen, wir müßten warten, ehe wir uns von ihm senden lassen in sein Reich, bis diese Herrlichkeit vollständig uns geworden wäre. Nein aber eben dieses war auch nicht der Fall bei seinen Jüngern; auch ihnen wuchs erst allmälig die Kraft des Glaubens, | auch in ihren Seelen gab es noch vieles zu berichtigen in Beziehung auf ihre Vorstellungen von dem Reiche Gottes auf Erden, wie ihnen auch der Erlöser selbst sagt, er hätte ihnen noch vieles zu sagen, aber sie könnten es jetzt noch nicht fassen. Und das ist der Unterschied zwischen uns und ihnen, aber ein Unterschied, in Beziehung auf welchen wir auch seinen ersten liebsten und vertrautesten Jüngern völlig gleich sind. Deßwegen m. g. F., laßt uns fleißig darauf zurükgehen in jeder ersten und ungetheilten Betrachtung unsrer Bestimmung in dieser Welt, welch ein köstliches Ding es sei, daß das Herz fest werde, und wie wir nur in dem Maße, als diese Festigkeit auch schon unser Eigenthum geworden ist, seinem heiligen | Willen gemäß in seinem Reiche und für sein Reich wirken können. II. Zweitens der Erlöser sagt von sich selbst „niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wem es der Sohn will offenbaren“; und eben darum mußte er in die Welt gesandt werden, damit die Menschen den Vater wieder kennenlernen möchten durch den Sohn. Indem er nun aber seinen Jüngern sagt, gleichwie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“, so liegt ja offenbar darin dies „niemand kennt den Sohn denn nur ihr, die ihr an mich 27 darauf] daran 23–24 Joh 16,12

28–29 Vgl. Hebr 13,9

33–34 Mt 11,27

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glaubet, und diejenigen, denen ihr es vermöget zu offenbaren“. Daß niemand den Vater kannte, als der Sohn in diese Welt kam, außer nur der Sohn selbst, | darüber, m. g. F., kann uns kein Zweifel sein. Denn der größte Theil der Menschen waren diejenigen, die das Bewußtsein des lebendigen Geistes verkehrt hatten in die Gestalt vergänglichen Wesens und die Wahrheit verdunkelt durch Ungerechtigkeit. Und diejenigen, die sich das Volk, das auserwählte Volk des Herrn nannten, waren auch ein Volk, wie ihre eigenen Propheten es ihnen wohl sagten, deren Lippen gern von dem Herrn redeten, ihre Herzen aber waren fern von ihm. Und wie wenig sie ihn erkannten, das sieht man daraus, daß auch der Erlöser ihnen sagen mußte, sie verstünden nicht einmal das Wort „ich will Barmherzigkeit aber keine Opfer“. Indem sie also den Ewigen für ein solches Wesen hielten, das durch irgend etwas Aeußeres könne versöhnt und zufrieden gestellt werden, und das seine Liebe nur über einen gewißen Theil | der Menschen erstrekte, so kannten sie den Vater nicht, sondern der Sohn allein kannte ihn und konnte nur ihn kennen als seinen und aller Menschen himmlischen Vater. Aber mit demselben Rechte konnte er in den Worten unsers Textes zu seinen Jüngern sagen „gleich wie der Vater mich gesandt hat als den Einzigen, der ihn kannte, so sende auch ich euch als die Einzigen, die mich kennen“. Denn wenn gleich ein Theil seiner Zeitgenoßen, unter denen er lebte, hingerißen von der Kraft, mit welcher er lehrte, und von den Thaten, die er vor ihren Augen verrichtete, diesen Jesum von Nazareth hielten für einen Propheten von Gott gesandt; wenn gleich mehrere unter ihnen, wiewohl immer nur als einen vorübergehenden Gedanken, das in dem Sinne trugen, er sei der Prophet, der größte unter allen, die unter ihnen aufgetreten | waren, und mit dem eine neue Ordnung göttlicher Dinge unter den Menschen anheben sollte: so konnten doch diese ihn eben so wenig als jene ihn richtig schäzen, weil sie sich das Werk seiner Sendung als ein äußeres von äußerer irdischer Macht und Hoheit dachten. Und so war es immer nur das kleine Häuflein, dem der Vater offenbart hatte, in welchem Sinne Jesus von Nazareth Khristus sei, der Verheißene, der Sohn des Hochgelobten, diese waren es allein, die ihn kannten. Und wir müßen es wohl mit inniger und gefühlvoller Dankbarkeit erkennen, hätte Khristus sie nicht in die Welt senden können, wären ihnen diese herrlichen Tage, in denen er nach seiner Auferstehung mit ihnen umging, bis er auffuhr zu seinem Vater, nicht zu einer heilsamen Vorbereitung auf ihren nun bald zu beginnenden Beruf unter den | Menschen geworden, hätte er sie nicht erfüllen können mit der Kraft aus der Höhe, so wäre der Sohn in seiner Herrlichkeit unerkannt geblieben und sein Reich 27 schäzen] schäzten 3–6 Vgl. Röm 1,23.25 8–9 Vgl. Jes 29,13 11 Vgl. Mt 9,13; 12,7 (Zitat aus Hos 6,6) 24–25 Vgl. Lk 7,16 30–31 Vgl. Mk 14,61 37 Vgl. Lk 24,49

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auf Erden unaufgebaut. – Aber wie können wir dasselbe auch auf uns anwenden? Können alle die auf das Wort der Apostel an den Namen des Herrn glauben, können diese das auch sagen, daß niemand den Sohn kennt als sie? Wir kennen ihn, m. g. F., aus den Worten seiner Jünger, wir kennen ihn aus den wenigen Zügen freilich nur, die uns von ihnen schriftlich hinterlaßen sind, aber wir kennen ihn auch aus dem was in seinem Namen auf Erden geschehen ist und noch geschieht, aus aller der Verherrlichung, die ihm widerfahren ist, und mit der größten Gewißheit können wir eben deßwegen jezt sagen, er ist es vor dem sich alle Knie beugen und | alle Zungen bekennen sollen, daß er der Herr ist. Aber eben diese Gewißheit der khristlichen Wahrheit, dieses geschriebene Wort Gottes, liegt es nicht aller Welt vor Augen da, und können wir nun noch sagen, niemand kennt den Sohn denn die an ihn glauben, und diejenigen denen sie es vermögen zu offenbaren? Ja, m. g. F., auch wir können dasselbe von uns sagen. Denn eben das was der Herr in seinen Jüngern auf Erden gewirkt hat, eben diese seine Verheißung gewiß so fest begründende khristliche Kirche auf Erden, worin besteht sie doch? Sie ist nichts anders als die Fülle der Gläubigen, und alles Andre das gereicht mehr zu ihrer Verdunkelung und Verunstaltung, als daß es zu ihrer Verherrlichung beitragen sollte. Wenn wir also sagen, die Menschen könnten jezt den Sohn kennen lernen aus seinem Wort und aus | seinem Reiche, welches er niemals aufhört unter uns zu erbauen, worauf weisen wir sie anders hin als auf die Herzen der Gläubigen, die da verbunden sind in seinem Namen durch die Liebe. Aber ohne diesen, m. g. F., ohne diesen Beweis des Geistes und der Kraft würde auch das geschriebene Wort Gottes der Welt dunkel bleiben und nicht vermögen den Glauben in den Herzen der Menschen zu entzünden. Denn das sagt der Apostel selbst „der Glaube kommt aus der Predigt”, nicht aus dem geschriebenen Wort an und für sich, welches wenn es ohne lebendige Beziehung auf den Geist angesehen wird, ein todter Buchstabe ist, sondern aus der Predigt, aus dem Zeugniß, welches die Gläubigen ablegen durch ihr Wort und durch ihr ganzes von dem Geiste Khristi | geleitetes Leben; das ist die Predigt, aus der da kommt der Glaube und durch diesen der Geist. Und so mögen wir es gestehen, darin sind wir den Jüngern Khristi gleich und dem Erlöser nahe, die den schönen Beruf in sich fühlen der Welt den Sohn zu offenbaren. Wir sind es die ihn kennen, und wir sollen Zeugniß von ihm ablegen. Aber auch nur wird er uns von einem Tage zum andern immer mehr in der Tiefe unsrer eigenen Seele offenbart, auch an uns ist eben deßwegen noch nicht erschienen, was wir sein werden, weil wir ihn noch nicht sehen wie er ist, weil 38 wie] was 9–10 Vgl. Röm 14,11 (Zitat aus Jes 45,23) 2Kor 3,6 37–38 Vgl. 1Joh 3,2

26–27 Röm 10,17

28–29 Vgl.

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wir noch zu lernen haben an seinem Wort und an seinem Bilde, welches noch immer vollkommner und reiner unter uns muß aufgerichtet werden. Aber dadurch eben kann der Sohn allmälig offenbart werden der Welt, die ihn nicht kennt. | Und so folgt es denn freilich daraus, daß wir es uns und keinem andern zuzuschreiben haben, wenn der Sohn so vielen, einem großen Theile des menschlichen Geschlechts, und was noch mehr sagen will, m. g. F., wenn er so vielen unter denen, die seinen Namen bekennen, noch nicht offenbart ist. O kennten wir, die wir an ihn glauben, ihn ganz und vollkommen, sähen wir die wir ihn lieben, ihn so wie er ist: dann würde unser Zeugniß von ihm auch kräftiger und belebender auf andre wirken, dann würde die ganze Gemeinschaft unsers Daseins ihn preisen und verherrlichen, und dann würde unser Leben auch vollkommen die den Geist erwekende Predigt vom Glauben sein. III. Drittens der Erlöser sagt von sich selbst, eben indem er redet davon, wie ihn der Vater in die Welt gesandt habe „der Sohn thut | nichts von ihm selbst, sondern was er den Vater hat thun sehen, das thut er“; und indem er nun zu seinen Jüngern sagt „gleichwie der Vater mich gesandt hat, so sende ich euch“, so meint er damit allerdings ganz vorzüglich auch dies, er sende auch sie als solche, die nichts thun sollten aus sich selbst, sondern aus seiner Kraft – denn auch nur von dem Seinigen werde der Geist der Wahrheit es nehmen und ihnen verklären – und daß sie nichts thun sollten als was sie ihn selbst hatten thun sehen. Und wie wohl, m. g. F., muß uns sein, daß wir eben in diesen Worten des Erlösers die Sicherheit darüber haben, daß seine Jünger nichts geredet haben als was sie von ihm gehört, daß sie nichts gethan haben als was sie von ihm gesehen hatten. Denn wenn wir diese Sicherheit nicht hätten, wenn uns erst obläge aus unsrer Weisheit und mittelst | unsrer Einsicht in ihren Worten dasjenige zu sondern, was auf die Worte des Erlösers sich beziehen, von demjenigen, was ihre eigene Erfindung und eigenes Machwerk sein würde; wenn wir erst sondern müßten in der Verbreitung des Lebens, welches von ihnen ausging, sobald sie angethan waren mit Kraft aus der Höhe, und in den Einrichtungen der khristlichen Kirche, die sie getroffen haben, dasjenige was sie von dem Erlöser hatten verrichten sehen, und das was sie selbst hinzugefügt haben aus menschlicher Willkühr oder genöthigt durch dieses oder jenes Bedürfniß: o wie unstät würde dann unser Auge umherirren, nicht wissend was denn nun dem Geiste des Erlösers entsprechend sei und was nicht! wie uneigentlich könnte dann unser Herz fest werden! und wie sehr würden wir es aus menschlicher Klugheit besorgen | müssen, die Kraft des göttlichen 16–17 Joh 5,19

21–22 Vgl. Joh 16,14

32 Vgl. Lk 24,49

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Wortes habe ihnen nicht rein und ungeschwächt eingewohnt! Nein darum kommt es auch ganz besonders darauf an, daß er seine Jünger so gesandt hatte, daß sie nichts reden konnten als was sie von ihm gehört hatten, daß sie nichts verrichteten aus sich selbst; sondern indem sie überall auf ihn sehen, indem der heilige Gottesgeist, der sie beseelte, sie immer auf den Erlöser zurüktrieb. Darin liegt die Sicherheit unsers Glaubens; aber eben darin liegt auch die Sicherheit des künftigen Besizes und der weitern Verbreitung der khristlichen Kirche unter den Menschen, nur darin, daß auch wir, sofern wir Jünger sind unsers Herrn und Meisters, nichts reden als was wir von ihm gehört, nichts thun als was wir von ihm gesehen haben. Aber uns erfüllt der tröstende | der warnende Geist, den er gesendet hat, zwar noch, aber nicht in demselben Maße wie seine ersten Jünger, und nicht eben so nahe steht sein Bild, das Bild seines ganzen Daseins, unsrer Seele als der ihrigen. Darum ist auch dies in uns etwas Unvollkommnes, daß wir nur reden können was wir von ihm gehört, und nur thun was wir von ihm gesehen haben. Aber so gewiß unser Beruf ist, m. g. F., wie der seiner ersten Jünger, seine Zeugen zu sein auf Erden, o so gewiß laßt uns immer nur auf das eine Werth legen was wir von ihm gesehen und gehört haben. Laßt uns den Menschen zurufen und sie bitten, uns in nichts anderm zu folgen, laßt uns sie bitten auf nichts anderes zu hören, als worin unser Thun übereinstimmt mit dem seinigen, als worin unsre Worte von seinem Geiste | zeugen und die seinigen wiedergeben. Laßt uns sie bitten alles andere in Vergessenheit zu tragen, und nur mit dem Mantel der Liebe zu bedeken; aber uns Gehör zu geben und zu folgen in dem, worin wir der Nachhall unsers Herrn und Meisters sind. Und wenn wir dann auch deßwegen nun nichts lieben und achten als was wir von ihm selbst gehört haben, wenn auch uns das erfreut was von ihm abstammt: das ist das sicherste Mittel um frei zu werden von allem verderblichen menschlichen Uebermuth, und nur der Freiheit uns zu rühmen, die der Sohn uns gebracht hat. Denn nur die sind recht frei, die der Sohn freigemacht hat, und die in der Freiheit von ihm seine Diener sein wollen, und nicht größer sein als der Herr und Meister. IV. | Endlich, m. g. F., der Vater sandte den Sohn in sein Eigenthum, und die Seinen nahmen ihn nicht auf, aber allen, die ihn aufnahmen gab er die Macht Gottes Kinder zu werden; und gleich wie ihn der Vater gesandt hat, so sendet er die Seinigen auch. Er sendet sie auch in ihr Eigenthum. Denn, m. g. F., wem gehört die Welt als den Kindern Gottes? welchen hat der Herr sie übergeben? damit sie dieselbe beherrschen sollen, und welche vermö1 ungeschwächt] geschwächt 30 Vgl. Joh 8,36

31 Vgl. Mt 10,24; Joh 13,16; 15,20

33–35 Vgl. Joh 1,11–12

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gen sie zu beherrschen, als diejenigen, welche nachdem das ganze menschliche Geschlecht das Ebenbild Gottes verloren hatte, es wiedergefunden haben in dem Sohne? Denn nur zu den Menschen, denen er sein Bild aufgedrükt hat, sagt er, sie sollen Herr sein über die Erde und über alles was darauf lebt. So sendet der Herr | seine Jünger nur in das Ihrige, aber das Ihrige nimmt sie nicht auf. Alle Menschen, die noch nicht durchdrungen sind von dem göttlichen Geiste, sie gehören den Kindern Gottes, die von ihm gesendet werden. Diese sollen sie hören, damit sie durch die göttliche Gnade gläubig werden. Aber das Ihrige nimmt sie nicht auf. Das war das Schiksal unsers Erlösers, und ein beßeres können wir auch nicht erwarten, solange in der Welt der Streit noch dauert zwischen dem Lichte und der Finsterniß, so lange noch gegen einander stehen die Kinder Gottes und die Kinder der Welt, so lange die Mehrzahl unter denen, unter die wir gesendet werden, aus solchen besteht, die auch uns nicht aufnehmen, wie sie unsern Herrn und Meister nicht aufgenommen haben. Aber wir werden | unter sie gesandt wie er, nicht daß wir uns dienen laßen, sondern daß wir dienen, nicht daß wir herrschen, sondern daß wir suchen und selig machen das Verlorene, wie er gethan hat; und wie er sich nicht scheute alles dasjenige was ihm in diesem irdischen Leben begegnete, zu tragen, so sendet er auch uns als solche, die sich selbst verleugnen sollen, und ihr Kreuz auf sich nehmen und ihm nachfolgen. Aber die ihn aufnahmen, denen gab er die Macht, Gottes Kinder zu werden. Und die uns aufnehmen, die werden von uns eingeladen in das Reich Gottes, welches sich allen Menschenkindern öffnet, sobald sie glauben an den, den Gott gesandt hat, und der der ewig gebietende Herr ist der menschlichen Welt. Und eben daß diese Kraft in uns ist, den Menschen die | uns aufnehmen ihren Antheil an dem Reich Gottes zu erstehen, darin liegt die Freiheit, die wir unserm Herrn und Meister zu verdanken haben. O so laßt uns denn auf alle Weise an diesem Worte uns ermuthigen und stärken, daß er uns sendet wie ihn der Vater gesandt hat. Und möge sich seine Gnade darin verherrlichen, daß wir zwar nicht in der Vollkommenheit, aber doch wie er von weitem ihm nachfolgen und eben so unermüdet den Auftrag erfüllen, den er uns gegeben hat, wie er selbst hinaus geführt hat das Werk seines Vaters, und durch Leiden eingegangen ist in seine Herrlichkeit, die er bei seinem himmlischen Vater hatte ehe der Welt Grund gelegt war, und die er auch den Gläubigen, den Geliebten seines Vaters, bereiten will in Ewigkeit. Amen.

3–5 Vgl. Gen 1,27–28 16 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45 Lk 19,10 20–21 Vgl. Mt 16,24, Mk 8,34; Lk 9,23 35 Vgl. Lk 24,26 35–36 Vgl. Joh 17,22.24

17–18 Vgl. Mt 18,11; 21–22 Joh 1,12 34–

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[Liederblatt vom 9. April 1820:] Am Sonntage Quasimodogeniti 1820. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Die Seele war dazu geboren, / Daß sie, was göttlich ist, erfreu; / Sie war vom Schöpfer auserkohren, / Daß sie sein Bild und Gleichniß sei. / Es konnt’ ihr ewiglich nicht fehlen, / Denn Gott war selbst das Licht der Seelen. // [2.] Sie konnt’ aus jener Quelle trinken, / Aus welcher sie entsprungen war, / Dann ließ die Weisheit sie nicht sinken, / Die Tugend schmückt sie wunderbar. / Sie hatte Ruhm und Heil gefunden, / Wenn sie dem Höchsten blieb verbunden. // [3.] Ihr Leben war nur Gott zu lieben, / Ihr Ruhm sein Eigenthum zu sein; / Wär’ sie in seiner Liebe blieben, / Wir wären frei von Quaal und Pein; / Allein der Feind hat sie verderbet, / Nun ist die Sünd’ uns angeerbet. // [4.] Die Seel’ ist nun ganz irdisch worden, / Sie liebt die Eitelkeit der Welt, / Gefällt sich in der Sünder Orden, / Und ihre Schönheit ist entstellt: / Sie kann sich nicht mehr aufwärts schwingen, / Sucht ihre Ruh in schnöden Dingen. // [5.] O Gott, der du ein Heil gegeben, / Und hilfst der Seele wieder auf, / Erwecke sie zum neuen Leben, / Und richte zu dir ihren Lauf! / Laß mich die Weisheit wieder finden, / Und mich in neuer Lieb’ entzünden! // [6.] Schon lange nährt’ ich dies Verlangen, / In Schmerz und Liebe such’ ich dich, / Wie selig ists an dir z[u] hangen! / O Liebe komm, erfülle mich, / Daß ich, aus Christi Geist geboren, / Zu deinem Tempel sei erkohren! // (Richter) Nach dem Gebet. – Mel. Der Tag ist hin etc. [1.] O Menschenkind! was hast du in Gedanken! / Nichts Sterblich’s füllt der Seele weite Schranken; / Dem nur, der recht an Jesum Christum denkt, / Wird, was sein Herz verlangt, von ihm geschenkt. // [2.] Zu deinem Heil ist er geboren worden; / So eile nun zu treten in den Orden, / Der Brüderschaft des Kreuzes, sorge rein, / Ein neuer Mensch vom Geist gezeugt zu sein. // [3.] Sein Leben hat er dir zu gut geführet, / Du folg ihm nun mit Geist und Kraft gezieret, / In stillem Sinn, wie Er in Demuth ging, / Und liebevoll, wie Er die Welt umfing. // [4.] Er rief dich ja von seinem Reich zu zeugen, / Du sollst die Welt in Liebe zu ihm neigen; / Wie wir in ihm das Bild des Vaters sehn, / So soll sein Bild in deiner Seel entstehn. // [5.] Das ist gewiß, daß die nicht mit ihm sterben, / Auch nicht die Frucht des Lebens mit ererben, / Wer nicht mit ihm des Leidens Bahn betritt, / Der bleibt zurück, und herrschet auch nicht mit. // [6.] Was wär’ es wol, daß wir uns seiner schämen, / Nicht seine Schmach mit Freuden auf uns nehmen? / Er sendet uns, wie Gott ihn hat gesandt, / Was er empfing, wird uns auch zugewandt. // [7.] So wie der Herr und Heiland hat gewandelt, / Nach welcher Art die Welt mit ihm gehandelt, / Das ist mit Recht auch seines Knechts Gebühr, / Sein größtes Glück, sein Ruhm und seine Zier. // [8.] Was er gethan an dem Erlösungswerke, / Der theure Held aus göttlich eigner Stärke, / Das thun auch wir von seinem Geist beseelt, / Das leiden wir durch seine Kraft gestählt. // [9.] Durch seinen Sieg sind wir nun Gottes Kinder, / Der Sünde quitt, des Fleisches Ueberwinder, / Durch seinen Geist verkünden wir sein Wort, / Und schiffen hin zum sel’gen Friedensport. // [10.] Was ihm geschehn in seiner Auferstehung, / Die ihn

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gebracht zur himmlischen Erhöhung, / Wird unser Theil in seinem ewgen Reich, / Wir sehn ihn wie er ist, und sind ihm gleich. // (Freilingsh. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu etc. Hilf, Herr, daß dein theures Wort / Unsre Seelen ganz durchdringe, / Daß es jetzt und immerfort / In uns reiche Früchte bringe, / Gieb daß es uns kräftig stärke, / Zur Vollendung guter Werke. // Nach der Predigt. – Mel. Mir nach etc. So laßt uns denn dem lieben Herrn / Mit Leib und Seel nachgehen, / Und wohlgemuth getrost und gern / Bei ihm im Leiden stehen! / Denn wer nicht kämpft, trägt auch die Kron / Des ewgen Lebens nicht davon. //

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Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,24–29 Nachschrift; SAr 74, Bl. 47r–60r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Keine

Am Sonntage Miserikordias Domini 1820. oder am zweiten Sonntage nach Ostern, den sechszehnten Wandelmonds. | Tex t. Johannis 20. V. 24–29. Thomas aber, der Zwölfen einer, der da heißt Zwilling, war nicht bei ihnen, da Jesus kam. Da sagten die andern Jünger zu ihm: wir haben den Herrn gesehen. Er aber sprach zu ihnen: es sei denn, daß ich in seinen Händen sehe die Nägelmale, und lege meinen Finger in die Nägelmale und lege meine Hand in seine Seite, will ich es nicht glauben. Und über acht Tage waren abermal seine Jünger darinnen, und Thomas mit ihnen. Kommt Jesus, da die Thüren verschlossen waren, und tritt mitten ein und spricht: Friede sei mit euch! Darauf spricht er zu Thoma: reiche deinen Finger her und siehe meine Hände, und reiche deine Hand her, und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig sondern gläubig. Thomas antwortete und sprach zu ihm: mein Herr und mein Gott! Spricht Jesus zu ihm: dieweil du mich gesehen hast, Thoma, so glaubest du. Selig sind die nicht sehen und doch glauben. | M. a. F., Wie oft schon ist dieser Jünger den Khristen vorgehalten worden als ein Warnungsbeispiel des Unglaubens. Und freilich wenn wir bedenken, wie einstimmig seine vertrauten Freunde, auf die er doch wußte wie sehr er sich verlassen könnte, ihm zuriefen, wir haben den Herrn gesehen: so finden wir es billig, zuviel Mißtrauen ist in seiner Seele, zu sehr rechnet er auf seine eigene sinnliche Anschauung allein, als daß wir nicht sollten den Vorwurf des Unglaubens auf ihm ruhen lassen. Aber, m. g. F., wenn wir auf der anderen Seite bedenken, von welcher Art und Natur der Gegenstand war, auf den es hier ankam, wie abweichend von allen gewöhnlichen menschlichen Erscheinungen wie unerwartet, wie außerordentlich in allen seinen Umständen: so fragen wir auch wiederum billig, wie leicht wäre es

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gewesen für den, der sich von allem Unglauben | des Thomas hätte frei halten wollen, in einen leichtgläubigen Kleinmuth, der ihn hätte täuschen können, zu verfallen! Und so sehen wir, m. g. F., auch hier, was uns so oft im menschlichen Leben vorkommen muß, wie schwer es ist die rechte Mitte zu finden auf der einen Seite zwischen dem trostlosen Unglauben in Beziehung besonders auf die außerordentlichen Wege Gottes unter den Menschen, und auf der andern Seite zwischen einer verderblichen Leichtgläubigkeit. Wenn nun, m. g. F., Thomas allein hier gehandelt hätte in der Erzählung unsers Textes, so möchten wir wenig mit Sicherheit aus diesem Beispiel über die vorliegende Frage lernen können. Aber er war es nicht allein, sondern es war auch der Erlöser; und wenn wir auf dessen Betragen merken, so soll uns dieses Beispiel eine wichtige Lehre sein, um zu finden worauf es ankommt, damit wir in allem was uns in unserm Leben vorkommt, diese richtige Mittelstraße des Glaubens nicht verfehlen. Darauf also laßt unsre | andächtige Betrachtung in dieser Stunde gerichtet sein. Wir werden aber in dieser Erzählung vom Thomas bei unserm Erlöser, der uns belehren muß, zu merken haben auf sein Verhalten und seine Handlungsweise. Wir bemerken aber in derselben zweierlei, was unsre Betrachtung angeht: erstlich in dieser fällt am meisten auf der Tadel, den er über den Thomas ausspricht; aber zweitens fällt auch darin die Nachgiebigkeit, die er gegen ihn beweist: und beides zusammen wird uns belehren, wie wir nach dem Willen des Erlösers in Fällen dieser Art uns selbst zu verhalten haben. I. Zuerst also, m. g. F., laßt uns merken auf den Tadel, den der Erlöser über den Thomas ausspricht; er liegt in den Worten: „dieweil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubest du; selig sind die nicht sehen und doch glauben.” Wenn wir diesen | Tadel des Herrn recht verstehen und würdigen wollen, so müssen wir bedenken, er traf nicht den Thomas allein, sondern alle andern Jünger des Herrn eben so gut als ihn. Denn auch Petrus und Johannes, als die Frauen ihnen zuerst verkündigten, sie hätten das Grab leer gefunden, und der Engel des Herrn hätte ihnen gesagt, Jesus sei nicht hier sondern auferstanden, so wollten sie es nicht glauben; und als sie beide selbst zum Grabe gingen, und fanden daß dem so sei, wie die Frauen ihnen erzählt hatten, so wird uns nur gesagt, sie haben sich gewundert, aber nicht daß sie geglaubt haben. Und jene beiden Jünger, mit denen der Herr auf dem Wege nach ihrer Heimath redete, und denen er aus der Schrift zeigte von der Nothwendigkeit seines Todes und seiner Auferstehung, auch diese glaubten nicht eher, bis sie erkannten, daß er sei Jesus von Nazareth, bis ihre Augen nicht mehr gehalten waren, | bis er mit ihnen zu Tische saß, 30–35 Vgl. Lk 24,1–12

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und ihnen vergönnt war ihn mit geöffneten Sinnen wahrzunehmen. Und eben so als die Jünger versammelt waren, wenn uns gesagt wird, wie sie dem Thomas zuriefen: wir haben den Herrn gesehen“, so war ihnen mit ihrem Sehen erst ihr Glaube gekommen. Wenn also der Herr sagt: „dieweil du mich gesehen hast, Thomas, so glaubst du; selig sind die nicht sehen und doch glauben”: so will er dadurch keinesweges, wie man gewöhnlich meint, den Thomas vor seinen andern Jüngern auszeichnen als einen ungläubigen; nein, die andern hatten auch nicht eher geglaubt, bis sie gesehen hatten. Wenn wir also dies: „selig sind die nicht sehen und doch glauben“ anwenden wollen, wie wir es doch müssen, auch auf diejenigen, die unter diesen Tadel des Erlösers eben so gut gehören als Thomas, was hat dann der Herr gemeint? Sie hätten alle glauben sollen, wenn sie ihn auch nicht gesehen hätten, | d. h. wenn er auch für ihre leiblichen Augen nicht auferstanden wäre, wenn er sich ihnen auch nicht gezeigt, wenn er auch nicht mit ihnen gegessen und getrunken und geredet hätte vom Reiche Gottes, kurz wenn er in keine sinnliche Berührung mit ihnen getreten wäre – denn dann hätten sie ihn gewiß nicht gesehen – so hätten sie doch glauben sollen. Und was hätten sie denn glauben sollen? Ei was anders als daß der Heilige Gottes die Verwesung nicht sehen dürfe, als daß es geschehen wäre, wie der Herr selbst in den Tagen seines irdischen Lebens zu ihnen gesagt hatte: „über ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen, denn ich gehe zum Vater“? was anders als daß unmittelbar nachdem er sein Werk auf Erden vollendet, er aufgefahren sei zu ihrem und seinem Gott und himmlischen Vater, und daß er von dort aus bei ihnen sein werde, wie er es verheißen hatte, | überall auch wo nur zwei oder drei versammelt wären in seinem Namen, und daß er von dort aus seine Gemeine erbaue, die durch seinen Tod festgegründet sei, und die nach seiner Versicherung von keiner bösen Gewalt der Welt fortan überwunden und vernichtet werden könne. Das hätten sie glauben sollen; dann wären sie die gewesen als solche, die nicht gesehen hätten und doch glaubten. Und eben dies, m. g. F., eben dies, aber ich möchte auch sagen, dies allein ist für uns alle der Gegenstand des Glaubens, des Glaubens, zu welchem es keines Schauens für uns bedarf, wo wir glauben sollen, auch wenn wir nicht sehen, indem wir unter dieser Bedingung erst recht vollkommen die Seligkeit genießen können, die der Erlöser den Seinigen bereitet hat. Daß er aufgefahren ist zu seinem und unserm Gott und Vater; daß unmittelbar sich an das Ende seiner leiblichen Gemeinschaft auf Erden seine geistige kein Ende nehmende | Gemeinschaft unter allen denen, die an seinen Namen glauben, angeschlossen hat, und von dem Augenblik an niemals aufhört; daß durch diese er in dem Innersten ihrer Herzen alle, eben so lebendig wie es in den Tagen seiner Auferste14–17 Vgl. Lk 24,36–43; Apg 13,35 (Zitat aus Ps 16,10) 19 Vgl. Apg 13,35 22 Vgl. Joh 16,16 25–26 Vgl. Mt 18,20 26–29 Vgl. Mt 16,18

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hung durch die Worte seines Mundes geschah, die er zu seinen Jüngern redete, überzeugt von dem großen Zusammenhang der göttlichen Wege und von der Unvergänglichkeit des göttlichen Reiches, welches zu gründen der Vater seinen Sohn in die Welt gesandt hatte; daß dieses Reich fest stehen werde, wie auch die Gewalt der Finsterniß gegen dasselbe andringe, um es zu zerstören, wie auch die Kinder der Welt sich noch anstellen mögen gegen die Kinder des Lichtes: das ist es, was wir alle glauben sollen – und selig, sagt der Herr, die da nicht sehen und doch glauben. Denn freilich, m. g. F., das Sehen ist uns nicht immer gegeben, sondern es wechseln gar oft, wie alles in dieser irdischen | Welt dem Wechsel unterworfen ist, auch die Angelegenheiten des göttlichen Reiches: bald scheint es sich herrlich auszubreiten auf Erden, und seine Segnungen in reichstem Maße zu ergießen über alle diejenigen, die durch die göttliche Gnade seine Glieder geworden sind, fest und immer fester scheint es den Augen der Menschen sich zu gründen, und mit göttlicher Festigkeit immer tiefer in den Gemüthern, in welchen sein Wesen eine gottgefällige Gestalt angenommen hat, zu wurzeln; bald scheint es sich wiederum zu verdunkeln, der Glaube klein zu werden und kraftlos in vielen, die Liebe geschwächt in ihren Aeußerungen, und es will das Ansehen gewinnen, als ob das Spiel der Finsterniß stark werden wolle gegen das Licht, und als ob alle Kräfte des Bösen sich vereinigen wollten, um auf jede Weise dem Reiche des Herrn den Untergang zu bereiten. Dann, m. g. F., sehen wir nicht. Es ist freilich nichts anderes, was | uns am Sehen hindert, als eben die Finsterniß die vor uns liegt, und gegen die wir streiten sollen. Aber um zu streiten gegen sie, und durch diesen Streit zum Lichte hindurchzudringen, welches der Herr uns wieder in ungetrübter Klarheit zeigen will, müssen wir glauben ohne zu sehen. Und nur wenn wir uns zu jenem Glauben erheben und ihn in uns befestigen ohne zu sehen, so oft ein düsterer Schein sich über das Reich Gottes verbreitet, wenn wir auf demselben beharren bis ans Ende; dann kann dieser nachtheilige Schein unsre Seligkeit nicht trüben, und dann wird die Kraft des Glaubens, der unser Herz durchdringt, und in dem wir leben und handeln, das Auge unsers Geistes wieder erhellen, daß wir nun sehen, wo wir früher nicht gesehen haben. Aber wer mit dem Glauben warten will aufs Schauen, wer sich einer trüben Verzagtheit hingiebt, abwartend bis der Herr siegreich erscheint im Kampfe gegen die um sich greifende Gewalt des Bösen, abwartend bis sich die Angelegenheiten seines | Reiches wieder wenden, und mitten in der Dunkelheit ein schöneres Licht aufgeht als früher geschienen hatte, ja der weiß nicht, wie lange er die Seligkeit der gläubigen Seele entbehren muß, der weiß nicht, wird es um acht Tage sein, wie damals als der Herr wiederum den versammelten Jüngern erschien, und sich dem Thomas zu erkennen gab, oder um eben so viel Jahre oder Men12 Segnungen] Segungen

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schenalter, wenn die günstigere Zeit des Reiches Gottes erscheinen wird. Selig ist der, welcher glaubt wo er nicht sieht. Denn gesezt auch es wendet sich denn die Sache des Rechten und Guten ehe wir es gemeint haben, gesezt auch die Dunkelheit weicht und ein helles Licht verbreitet sich über das Gebiet des göttlichen Reiches auf Erden: wer hat dazu nächst Gott, der doch nur mittelbar seine Wege und seinen Willen unter den Menschen ausführt, wer hat dazu beigetragen? wer hat dazu mitgewirkt? | Kein anderer als diejenigen welche glaubten ohne zu sehen, und deren unabänderlicher Wahlspruch der war: „wer beharret bis ans Ende im Glauben ohne zu sehen, der wird nicht etwa erst, sondern der ist schon selig“. Denn das sagt der Erlöser selbst: „wer da glaubt“ – aber eben das ist der rechte Glaube, der nicht sieht – „der hat schon das ewige Leben“. Darum also, m. g. F., darum sollen wir nicht sehen wollen, sondern glauben ohne zu sehen. Auf das feste und untrügliche Wort der göttlichen Verheißung sollen wir trauen, daß nichts in der Welt seinem Willen sich entgegenstellen, und nichts in der Welt, wie mächtig auch seine Kraft sich äußern möge, sein Reich überwältigen kann. Darum sollen wir glauben, wenn auch nichts von dem, was wir in dem Rathschluß Gottes begriffen wähnen, zu Stande kommt, wenn auch alles dasjenige was wir in unsrer menschlichen Weisheit, die vor Gott doch so oft Thorheit ist, für heilsam, für gottgefällig, für nothwendig halten, | zu Grunde geht. Dann sollen wir denken, daß unsre Wege nicht Gottes Wege sind, und unsre Gedanken nicht Gottes Gedanken, sondern daß diese unendlich weise und heilig sind; und weit entfernt, unsern Glauben darauf gründen zu wollen, wenn das anfängt zu geschehen und zu entstehen, was wir für heilsam gehalten haben, sollen wir uns vielmehr jedesmal wundern, wenn die Wege Gottes mit den unsrigen übereinstimmen. Denn wie soll es zugehen, daß der kurzsichtige Mensch die Wege Gottes im voraus sieht, die in den großen Plan der göttlichen Weltregierung verflochten sind? wie soll es zugehen, daß wir mit unserm kurzsichtigen Verstande das im voraus berechnen und erkennen, was der ewige Geist, der alle Dinge weise lenkt, von Ewigkeit gedacht und angeordnet hat? Ja wundern sollen wir uns jedesmal, wenn das geschieht, was wir geglaubt haben; aber glauben sollen wir, daß keine Macht der Finsterniß | jemals das Wort der göttlichen Weisheit und Liebe zerstören wird, sondern daß der Wille des Herrn, wie viel ihm auch entgegen zu stehen scheinen mag, doch immer geschehen muß.

9–10 Vgl. Mt 24,13

11–12 Vgl. Joh 6,47

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II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch achten auf die Nachgiebigkeit, die der Erlöser gegen seinen Jünger beweist. Als die Jünger zum Thomas sprachen: „wir haben den Herrn gesehen,“ da sagte er: wenn ich ihn nicht selbst sehe – so wahr die Augen getäuscht werden können – wenn ich ihn nicht mit meinen Händen berühre, wenn ich nicht die Zeichen seines Kreuzes an den Nägelmalen und an seiner Seite entdeke; so will ich es nicht glauben. Wie? hätte der Herr nicht diesen ungläubigen Jünger strafen können und sich ihm ganz entziehen? hätte er ihn nicht mit seinem Glauben verweisen können lediglich auf das übereinstimmende Zeugniß so vieler ihm bekannten zuverlässigen | Menschen, wie die übrigen Jünger des Herrn waren? So denken wir, und eben deßhalb schelten wir vorzüglich den Unglauben des Thomas, weil er diesem einstimmigen Zeugniß seiner Freunde nicht glauben will. Aber der Herr nicht so; sondern kaum waren acht Tage verflossen, und die Jünger wieder eben so versammelt wie früher und Thomas mit ihnen, so trat er wieder hinein mitten unter sie, und sprach zu ihnen: „Friede sei mit euch“; er gewährt dem ungläubigen Jünger das Begehren seines Herzens. Er muß also, m. g. F., darin auch nichts Unrechtes gefunden haben, ja er muß vielmehr gefunden haben, daß Thomas ein Recht habe zu verlangen, auch ihm solle dasselbe begegnen, was den übrigen Jüngern des Herrn wiederfahren war, und er fühlt sich durch seine Gerechtigkeitsliebe gedrungen ihm seinen Wunsch zu erfüllen. Und dies, m. g. F., ist die andre Seite der Sache, ebenso lehrreich und eben so bedeutend wie jene. Weßwegen denn zeigte | sich der Herr, nachdem er durch die Macht Gottes vom Tode erstanden war, noch seinen Jüngern und verweilte noch auf der Erde, der er nicht mehr angehörte? Weßhalb anders als um einen Glauben zu stärken, der in seiner Schwäche und Unsicherheit eines solchen äußern Mittels bedurfte? Deshalb ließ sich der Herr herab als ein von den Todten Erstandener, als ein der Erde nicht mehr Angehörender, unter seinen Jüngern zu erscheinen, mit ihnen zu essen und zu trinken, menschliche Rede mit ihnen zu pflegen, und wenn gleich nur in abgerißenen Stunden den Umgang und den Unterricht fortzusezen, den er ihnen früher ertheilt hatte. Und aber weil Thomas fühlte, sein Glaube habe diese Stärkung eben so nöthig als der der übrigen Jünger, so meinte er dasselbe Recht zu haben auf göttliche Hülfe. Und siehe da, sie ward ihm. Und erst nachdem die Kunde von der Auferstehung des Herrn | auch zu denen gekommen war, die ihn nicht gesehen hatten, die seine Gemeinschaft entbehrt hatten menschlicher Weise, wie wir denn vieles glauben müssen, was nicht ausdrüklich in unsern evangelischen Büchern geschrieben steht, erst da erschien 2 Nachgiebigkeit] Nachiebigkeit 30 Vgl. Lk 24,41–43

25 verweilte] verweilt

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der Herr nicht mehr, sondern fuhr wirklich auf zu seinem und unserm Gott und Vater. – So laßt uns denn, m. g. F., in dem wir auf der einen Seite dem Tadel des Erlösers suchen aus dem Wege zu gehen, und uns immer mehr zu befestigen in der Seligkeit des Glaubens, der nicht sieht, auf der andern Seite der Nachgiebigkeit des Erlösers glauben, daß wir keine Verpflichtung haben in Beziehung auf alles dasjenige, was als eine außerordentliche Fügung Gottes in einzelnen Fällen den schwachen Glauben des Menschen stärken soll, uns auf fremdes Zeugniß zu verlassen, sondern daß wir uns dem Gefühl hingeben dürfen, daß dies jeder selbst erfahren müße, und daß es nur so sei, wie ein jeder selbst es erfährt. Denn dies war | eben das Gefühl, dem sich der Erlöser in seiner Barmherzigkeit fügte. Und so haben wir dasselbe Recht es zu erkennen für unser Gefühl. Und hier, m. g. F., liegt die Sicherheit für die gefährliche Leichtgläubigkeit, der sich die Menschen in Beziehung auf das Aeußere, was sich in diesem Leben zuträgt, so leicht überlassen. Eben deßhalb weil der Glaube ohne zu sehen bei den meisten Menschen nicht stark genug ist, eben deßhalb weil sie auf den Einen und ewigen Grund, daß des Herrn Wort nicht vergehen kann, sondern eher Himmel und Erde vergehen als ein Jota von seinen Reden, weil sie auf diesen nicht fest gebaut sind: so sind sie oft in der Nothwendigkeit, im Einzelnen eine Stärkung für diesen Glauben zu suchen, nämlich in dem, wodurch Gott lediglich auf eine außerordentliche Weise den Bedürfnissen der Menschen zu Hülfe kommt, wodurch er drohende Gefahren von ihnen abwendet, oder wodurch er auf | eine unerkennbare Weise den menschlichen Angelegenheiten eine andre Wendung giebt. Darnach spürt am meisten die Schwachgläubigkeit der Menschen, und wenn sie dergleichen wahrnimmt, so hängt sie sich daran eben mit der Blöße eines schwachgläubigen Herzens, sieht darin die Spuren der göttlichen Hülfe und Erbauung, und will auf solche einzelne Beispiele lieber als auf einen festen und sichern Grund ihren Glauben gründen. Aber wohl das ist Thorheit, und Thomas der scheinbar ungläubige Thomas war in der That weiser zur Seligkeit als sie, indem er sagte: „was Gott auf eine außerordentliche Weise dem Menschen zu seiner Seligkeit zukommen läßt, das hat nur Werth für den, dem es begegnet. Ich könnte auch glauben, daß ihr den Herrn gesehen habt, wenn es darauf ankäme das einzelne Aeußere festzuhalten, was einer dem andern überliefert; aber die rechte | Kraft auf mein Herz würde es nicht haben. Aber wenn ich ihn selbst sehe, dann wird dies eine Kraft auf mich ausüben, der ich mich nicht werde entziehen können; wenn ich ihn selbst sehe, dann will ich glauben.“ Was liegt darin, m. g. F., anders als eben im innersten Grunde die rechte Vorsicht in Rüksicht des Glaubens, der nicht sieht? Denn das konnte Thomas doch selbst sehen, und sah selbst, wie es nicht anders geworden, wenn der Herr auch nicht ihm erschienen wäre, daß Gott ihn von 17–18 Vgl. Mt 24,35; Mk 13,31; Lk 21,33

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den Todten auferwekt, daß er seinen Jüngern dann seinen Frieden hinterlassen hätte, daß eine Zeit kommen werde, wo er seine Jünger aussenden würde in alle Welt in seinem Namen das Evangelium zu predigen, das mußte er sich selbst sagen, und darin würde kein Bedenken in ihm rege geworden sein, wenn der Herr ihm auch nicht erschienen wäre. Aber das unerwartete Hineintreten, die sichtbare Erscheinung des Herrn, die leibliche Darstellung desselben nach seinem Tode, wenn das wirken sollte, | so mußte es durch die unmittelbare Gegenwart wirken. Aber eben deßwegen war es auch in demselben Maße, als er es für gefährlich erkannte, etwas was er für nothwendig erkannte. Und, m. g. F., daher sollen wir immer bedenklich sein und zweifelhaft in Beziehung auf dasjenige, was sich in der Nähe oder in der Ferne als eine wunderbare Leitung Gottes zu erkennen giebt. Wohl dem, der dergleichen erfährt! Denn jeder Mensch hat in seinem Leben schwache Augenblike, wo der verlöschende Glaube einer höhern Stärkung bedarf. Der Herr ist dann der, und zeigt sich als der, der das glimmende Docht nicht verlöschen, der den Funken unter der Asche nicht erstikken läßt. Und so wird einem jeden, wenn es Noth thut, betet er nur fest gegründet auf den Glauben, der nicht sieht, ist sein Glaube nur, „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“, so wird sich Gott ihm auch | offenbaren, wie er es bedarf, und wie jeder Gläubige seine Hülfe erfährt. Aber darauf sollen wir harren, wie Thomas acht Tage harrte ohne Ungeduld, ohne daß er sich von den übrigen getrennt hätte, sondern er harrte, m. g. F., mit der Gelassenheit, die dem Menschen geziemt, und die den Erlöser erkennt; wir sollen uns nicht stärken wollen in unserm Glauben für den einzelnen Augenblik durch den Gedanken an dasjenige, was andern Menschen in diesem oder jenem Falle als eine außerordentliche Hülfe vom Herrn begegnet ist, sondern statt dessen soll uns mehr sein der Eine ewige Grund des Glaubens, auf den jedes gottgefällige menschliche Dasein gebaut ist. Aber wenn wir fühlen in einzelnen Augenbliken des Lebens, daß wir seiner Hülfe bedürfen, dann ist es das Werk des Glaubens auf die Hülfe des Herrn zu warten, daß er sich uns offenbaren, daß wir seine gnädige Rettung ersehnen werden. Und dieses Warten, das sich von | dem beschränkten Halten an dem Einzelnen was andern Menschen begegnet ist, und wovon wir nie beurtheilen können, wie es bestimmt ist, und wie es in den Zusammenhang ihres Daseins paßt auf das bestimmteste unterscheidet, dieses Warten, m. g. F., das ist die Zuversicht, die sich von jener Leichtgläubigkeit fernhalten und es den Fügungen Gottes anheimstellen kann, wie auch er sich als der der alles in seiner Gewalt hat, als der vor welchem sich alles beugen muß, offenbaren werde. Das ist die sichere Linie, auf welcher der Khrist wandelt zwischen dem gefährlichen Unglauben und der engherzigen Leichtgläubigkeit. Es giebt Ein großes Wunder Gottes, das ist der Gegenstand des Glaubens, in 1–2 Vgl. Joh 14,27

15–16 Vgl. Mt 12,20 (Zitat aus Jes 42,3)

18–19 Mk 9,24

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dem wir fest stehen müssen ohne zu sehen, die Sendung des göttlichen Sohnes und alles was durch diese in der Welt gewirkt ist und noch gewirkt wird. Vieles haben wir gesehen, vieles von dem, was gesehen ist kann sich nicht verbergen, weil es geschrieben ist | mit unvergänglichen Buchstaben in der Geschichte der Menschheit. Aber es giebt Zeiten, wo wir nicht sehen, und da soll sich der Glaube an dieses Eine Wunder Gottes, welches alles andre in der menschlichen Welt in sich schließt, und gegen welches alles Einzelne nur geringfügig erscheint, besonders wirksam in uns zeigen. Der Glaube an dieses Eine Wunder Gottes, das unter uns geschehen ist, der ist es der das ganze Leben des Khristen leiten soll und heiligen, der ist es wodurch er die Kraft des ewigen Lebens und die Seligkeit, welche uns zu bereiten der Erlöser gekommen ist, empfängt, der ist es wodurch er sich in der Gemeinschaft des Erlösers, die er sucht, und in der Wirksamkeit für sein Reich zu erhalten weiß. Wie aber in diesem Reiche auf Erden unter dem Wechsel der menschlichen Dinge Gott der Herr sich den Menschen offenbart bald hier bald dort als den Retter, darüber sollen wir jedem seine eigene Erfahrung | gönnen; aber unsern Glauben darauf gründen zu wollen, unser Vertrauen auf Gott und die göttliche Hülfe danach bestimmen zu wollen, das wird ein mißliches Unternehmen sein. Sondern da laßt uns, um nicht in die beschränkte Leichtgläubigkeit zu verfallen, mit Thomas sprechen „wenn ich nicht sehe die Nägelmale in seinen Händen, und lege meine Hand in seine Seite, so will ich es nicht glauben“. Jeder habe seinen Glauben für sich in dieser Hinsicht, jeder erfreue sich der Hülfe, die Gott ihm in seiner Lage sendet; erfahren kann aber keiner etwas in diesem Gebiete ohne geduldig zu warten. Warten wir nur in Geduld, so werden wir es erfahren, daß der hilft der nicht fern ist von einem jeglichen unter uns, so wie der Herr, der auf das Geschrei seiner Kinder hört, eben so sich an uns verherrlichen, eben so sich uns offenbaren, wenn es zur Stärkung unsers Glaubens förderlich ist, wie seinem Jünger. Jenes Glaubens aber laßt uns leben und an jener Hoffnung festhalten, laßt uns festhalten an dem unvergänglichen, unter uns aufgerichteten Worte, festhalten an der Ueberzeugung „der Herr kennt die Seinen und hilft den Seinen“. Amen.

27 Vgl. Ex 3,7.9

32 2Tim 2,19

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Am 26. April 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,29–32 Nachschrift; SAr 74, Bl. 61r–74v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender: Vertretung für Grunow

Am Bettage 1820. den sechsundzwanzigsten Wandelmonds. |

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M. a. F., Was wir wiederholt jetzt mit einander gesungen haben: „Gott sei mir Sünder gnädig“, das ist der Vereinigungspunkt des heiligen Tages, wie wir auch denselben betrachten mögen. Es ist ein festlicher Tag, eingesezt von unsrer khristlichen Obrigkeit zu einem Tage des Gebetes in dem ganzen Umfange dieses großen Reiches, um Gott zu empfehlen alle menschlichen Bemühungen, die Früchte unsrer Felder, die Obhut über unsre gemeinsamen Angelegenheiten und alle ihm wohlgefälligen Anstrengungen, um Recht und Ordnung, Zucht und Sitte zu erhalten. Aber können wir vereint zu Gott beten, ohne uns zu fragen jeder sich selbst, wie er mit Gott stehe? und können wir es denn, m. g. F., weiter bringen als zu diesem Ausruf: Gott sei mir Sünder gnädig? Und wenn wir eben deßwegen diesen angeordneten Tag des Gebetes benuzen zu einer ersten gottgefälligen Prüfung unsrer selbst; wenn Jeder in sein Inneres zurükgeht um zu fragen, | wie viel und in welchem Sinne und Geiste er beigetragen habe, um uns alle die großen Güter zu verschaffen und zu erhalten, um deren Schuz wir Gott anflehen: was können wir anders als ausrufen, Gott sei mir Sünder gnädig? Aber auf diesen Ruf, m. g. F., begehren wir eine Antwort, das wehmüthige seufzende

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19 wehmüthige] wemüthige 1 Vertretung für August Christian Wilhelm Grunow (1764–1831), seit 1806 Frühprediger an der Jerusalemskirche und an der Neuen Kirche, der an diesem Termin für seinen verstorbenen Amtskollegen Hecker als Vertreter vorgesehen war (vgl. unten 16. Juli 1820). 3–4 Lk 18,13; zum Gesang vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 12–13.18 Lk 18,13

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Am 26. April 1820 vormittags

Herz, das beunruhigte Gemüth, sie wollen erquikt sein und getröstet, und wir wissen, daß der zu dem wir rufen: „Gott sei mir Sünder gnädig,“ auch gnädig ist und ein gnädiges Ohr leiht unsern Seufzern. Wenn aber dieser Seufzer, m. g. F., auch gewiß öfter aus jedem nicht ganz verwahrlosten und verstokten Gemüth zum Himmel steigt, und wenn doch nicht alle in gleichem Maße – ach und leider mögen wir es an einem Tage, wie der heutige, wohl bekennen, viele gar nicht – den Trost genießen, der ein so seufzendes Herz erquiken soll: woran liegt es? Das ist die Frage, die wir uns jetzt vorlegen, und für welche | wir in unsrer Betrachtung aus dem Worte Gottes die Antwort vernehmen wollen.

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Tex t. Lukas II, 29–32. Herr nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, welchen du bereitet hast vor allen Völkern ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis deines Volkes Israel.

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Wir wissen alle, m. g. F., aus welchem Zusammenhange diese Worte genommen sind. Aber wie sie mit der Frage, die ich vorher vorgelegt habe, zusammenhängen, auch das wird wohl jeder unter euch sogleich sehen und fühlen. Unser Herr sagt, daß von Zween die im Tempel des Herrn anbeteten, derjenige, der zerknirschten Herzens an seine Brust schlug, und nichts anders hatte als: „Gott sei mir Sünder gnädig“, vor dem andern gerechtfertigt ihm nachgegangen sei in sein Haus. Gerechtfertigt sein vor Gott, und Frieden haben mit Gott im Herzen und im Gewissen, das | ist ja wohl Eins und dasselbige. Und es kann auch nur Eins und dasselbige sein, wodurch wir aus dem Tempel des Herrn, in welchem wir angebetet haben, gerechtfertigt hingehen in das Haus unsrer gewöhnlichen irdischen Geschäfte, und wodurch wir gerechtfertigt hingehen aus diesem ganzen irdischen Leben, welches ja auch durch uns und für uns ein Tempel Gottes gewesen sein soll, in dem wir anbeten, in jenes unvergängliche Haus, das uns dort oben bereitet ist. Sollen wir also, m. g. F., auf den Seufzer eines demüthigen Herzens, Gott sei mir Sünder gnädig, die tröstliche Antwort empfangen, die in dem Geschäfte liegt, daß wir in Frieden dahinziehen können; so kommt es allein auf das Eine an, was Simeon in den Worten unsers Textes ausspricht: „denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen!“ Diesen Zusammenhang, m. g. F., den laßt uns in unsrer jetzigen Bußbetrachtung näher mit einander erwägen.

7 bekennen] bekommen 1.31 Lk 18,13

19–22 Vgl. Lk 18,10–14

27–28 Vgl. 1Kor 3,16; 2Kor 6,16

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I. Simeon war ein frommer und gottesfürchti|ger Mann; ihm waren nicht fremd alle Werke des Gesezes und der Liebe, wie sein Volk sie unter sich zu beweisen gewohnt und durch die göttlichen Anordnungen war angewiesen worden. Aber dennoch hoffte er auf den Trost Israels; der fromme, der gottesfürchtige Mann hatte seinen Trost nicht in sich selbst, sondern er wartete auf den Trost Israels. Er war nicht befriedigt durch die Werke des Gesezes und der Gerechtigkeit, die er sein Lebetag gesucht hatte zu vollbringen, und auch aus der Kunde der alten göttlichen Offenbarungen war ihm keine Befriedigung geworden als nur in der tröstlichen Verheißung, die sie so häufig aussprachen, von dem, der da kommen sollte. Und eben deßwegen, weil er in sich selbst keine Beruhigung fand, weil sein ganzes Herz gerichtet war auf jenen Trost Israels, der da kommen sollte, deßwegen hatte er eine Verheißung empfangen von dem heiligen Geist, er sollte den Tod nicht sehen, bis daß er den Khrist Gottes | geschaut habe. Und von dieser Verheißung fühlte er mit gläubigem Herzen die freudige Erfüllung, als er das Kind Jesum im Tempel Gottes in seine Arme schloß; und da rief er aus: „Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen“. Und, m. g. F., wie auch wir keine Beruhigung finden in allen Werken der Gerechtigkeit und des Gehorsams und des Gesezes, die wir, sei es bloß aus der Ehrfurcht für menschliche Ordnung, oder sei es aus dem reinen gutartigen Triebe eines unverdorbenen Herzens, thun, daß auch wir fühlen, wie wir es denn vorhin mit einander gesungen haben, daß alles, was wir unternommen haben, und was wir jemals ausführen können aus eigener Kraft, gar zu unvollkommen ist als daß Gott es sollte schäzen können, dem das nicht genügen kann, was sein heiliges Gesez nicht ganz erfüllt: das wissen wir; und daß wir alle dieselbe theure Verheißung haben, und daß wir nicht erst rufen müssen, indem wir an den Trost der Welt denken: | „o daß du den Himmel zerrissest und herniederführest mit deinem Trost“, sondern daß er da ist und gekommen der göttliche Trost, und daß wir nur unser Auge auf ihn zu richten brauchen, um aus seinem Lichte, aus den Wirkungen seines Daseins unser inneres Dasein erst zu erneuern und dann zu stärken – das wissen wir. Wohlan, sehen wir auf die Vergangenheit, sei es das Ganze, sei es irgend ein bestimmter Theil unsers irdischen Lebens – „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Das müssen wir alle ausrufen, o alle diejenigen, die noch nicht ganz versunken sind in die thörichte Selbstgefälligkeit. Alle müssen wir es ausrufen, diejenigen die schon hängen mit innigem und treuem Glauben an dem Trost des Israel im Geist, und diejenigen, die als wären die Augen ihres Geistes noch nicht aufgethan, als umgäbe sie ein besonders täuschender Nebel, die ihn 2–7 Vgl. Lk 2,25 13–17 Vgl. dazu Lk 2,26–27 24–25 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 29–30 Vgl. Jes 64,1 35 Lk 18,13

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noch nicht geschaut haben – das müssen wir alle ausrufen. Aber wer geht in Frieden hin? | O immer nur derjenige welcher sagen kann: „ich danke dir Herr, daß meine Augen deinen Heiland gesehen haben“. Nur der, der es weiß, daß er ihm alle seine Tugend und alle seine Sünde, weil beides im menschlichen Herzen so unzertrennlich vermischt ist, zu Füßen legen kann mit der Bitte, daß er sie von ihm nehmen soll; nur der, m. g. F., der es weiß, daß er alle seine Bestrebungen mit den seinigen vereint hat, daß er nichts anderes will und weiß als daß die Kraft des Trostes Israel überall sein möge in ihm lebendig und wirksam; der nur, der oft – ach in jeder Stunde wo auf eine besondere Veranlassung sein Blik in die verborgenen Tiefen seines Innern fällt – aufs neue seinen Trost und seine Stärkung nur bei dem Erlöser gesucht hat, in dessen Namen und Gemeinschaft allein Heil für die Menschen gegeben ist; der nur der sagt: „meine Augen haben deinen Heiland gesehen, und sie sehen immer wieder auf ihn hin, aber, | um seinetwillen, Gott sei mir Sünder gnädig!” – der nur geht gerechtfertigt in sein Haus, der nur darf sagen: „Herr, ich danke dir, daß meine Augen deinen Heiland gesehen haben“. II. Aber zweitens, m. g. F., der Mensch vermag nicht und soll nicht das Werk seiner Heiligung für sich allein schaffen; und auch der Erlöser der Welt bietet seinen hülfreichen Arm nicht dem einzelnen Menschen dar, damit das Werk der Erlösung ein Geschäft sei sich beziehend auf diesen oder jenen; sondern er sammelt die Seinigen zu einer Heerde, die verirrten Schafe ist der Erlöser geschäftig zu sammeln, und nun in der Gemeine des Herrn sollen wir Gott mit einander preisen. Darum hält der Mensch mit inniger Liebe an den Banden durch welche ihn Gott mit andern seines Gleichen, mit seinen Brüdern vereint hat; und in diesem Sinne sprach Simeon: „meine Augen haben deinen Heiland gesehen, | welchen du bereitet hast ein Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preise deines Hauses Israel“. Ja, m. g. F., wo ein Haus Gottes ist, da soll es immer mehr geschmükt werden und verherrlicht, und wo Licht ist in demselben von da soll es ausgehen und sich verbreiten immer weiter, um zu erleuchten alle Völker, und allen soll es scheinen, die noch wandeln im dunkeln Thale des Todes. Das ist aller derer eifriger Wunsch, die im Stande sind, ihr eigenes Wohl, ihre eigene Heiligung in der Kraft des Herrn zu suchen und zu finden. Und o, m. g. F., wie freuen wir uns an allen festlichen Tagen der Kirche, an allen Tagen des Lobes und des Dankes für alles was geschehen ist und geschieht zum Preise des Hauses Israel, für alles wodurch Gott seine Kirche, für alles wodurch er jedes khristli1 noch] nocht

29 deines] seines

15 Lk 18,13

32–33 Vgl. Lk 1,79

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che Volk vor der Welt ehrt und verherrlicht! wie danken wir ihm für alle die gemeinsamen | großen Veranstaltungen seiner Weisheit, wodurch das Licht, welches einmal mit seinem Sohne auf der Erde aufgegangen ist, immer weiter sich unter dem menschlichen Geschlecht verbreitet. Aber wohlan denn, was zum Preise seines Hauses geschieht, o wie wenig fehlt es in diesem verwirrenden irdischen Leben, wie wenig fehlt es an Demüthigungen, wie wenig an Schmach seines Hauses! und wie unsicher und zitternd, oft sich ausbreitend oft sich wieder zusammenziehend, erscheinen uns die Bewegungen des himmlischen Lichtes! wie oft sind wir aufgefordert zu rufen, „das Licht scheint in die Finsterniß, aber die in der Finsterniß haben es nicht begriffen!“ Und wenn wir uns diesen Zusammenhang der menschlichen Dinge vor Augen stellen, können wir anders, m. g. F., als uns fragen: hast du durch | Gottes Gnade mitgewirkt mit deinem Wandel, mit deinem Dasein, mit deiner treuen Pflichterfüllung zum Preise des Hauses Israel? bist du frei von allem Antheil an demjenigen, wodurch es geschwächt wird, und was ihm zur Unehre gereicht? sind auch die Augen deines Geistes Träger gewesen und Verbreiter des himmlischen Lichtes? hast auch du in dem kleinen Kreise deines Lebens durch die Gnade des Herrn Worte des Lichtes zu reden gesucht? o bist du frei von aller Schuld daran, daß auch die Finsterniß wieder Ueberhand nimmt, daß das himmlische Licht sich in den Gemüthern der Menschen, die es bereits aufnahmen, immer wieder verdunkelt? Und was, m. g. F., können wir anders als gedemüthigt ausrufen: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Aber, m. g. F., fühlen wir es, daß wir uns von keiner Schuld frei sprechen können, so weit die Gemeinschaft unsers eigenen Daseins reicht, weil alles gemeinschaftlich ist | in dieser Welt: o so mögen wir und müssen wir freilich zu unsrer Beschämung aber auch zu unserm Troste sagen: „das alles ist mein eigen und nicht sein“. Nicht sein ist dasjenige und nicht von ihm ausgehend: wodurch seine Gemeine, wodurch die Gemeine khristlicher und von Gott erleuchteter Menschen verunstaltet wird und entehrt – nicht sein ist es, sondern unser. Nicht sein ist es, wenn die Finsterniß sich wieder verbreitet; denn er ist die Quelle des Lichtes. Nicht aus seinem Munde geht dasjenige, was der Irrthum in den Seelen der Menschen hervorbringt, sondern unser ist es. Ja zu unsrer Beschämung laßt uns das bekennen an einem Tage des Gebetes und der Buße wie dieser ist, aber ich seze auch hinzu, zu unserm Troste. Denn eben weil wir so sprechen können, so können wir getrosten Herzens ein hoffnungsvolles Auge zu ihm erheben und sagen, Gott, indem ich dies bekenne, meine Augen | haben deinen Heiland gesehen und sehen ihn noch immer. Die unerschöpfliche Quelle des Lichtes wird fernerhin fließen und die Finsterniß überwinden, und der, der zur reinsten Liebe, der zu dem Heiligsten, der zur Gemeinschaft seines Vaters im 10–11 Vgl. Joh 1,5

22–23 Lk 18,13

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Himmel die Seinigen nicht nur ermahnt und auffordert, sondern auch stärkt und leitet, von ihm wird immer wieder aufs neue ausgehen, was zum Preise seines Hauses Israel gereicht, und der Glaube, mit dem wir an ihm hangen, wird immer wieder der Sieg sein, mit welchem auch wir die Welt überwinden. Und wer so spricht, „meine Augen haben deinen Heiland gesehen”, der geht auch von ihm, von diesem Bekenntniß mit Frieden heim, und freut sich aufs neue und mit gläubigem Herzen des Lichtes das wahrhaft erleuchten wird je länger je mehr alle Völker, um des Preises, der durch seine Kraft | entsteht für das Haus Gottes, welches er auf Erden gestiftet hat. III. Aber drittens, m. g. F., alle diese Bemühungen der Menschen für sich selbst um ihr Heil zu schaffen, und für andere um sie her, um das Reich Gottes auf Erden zu gründen und zu verbreiten, o es geht mit ihnen nicht ab in dieser unvollkommnen Welt ohne Verwirrung, ohne Streit und Zwietracht. Das war das Loos der Menschen ehe der Herr auf Erden erschien, und es ist das Loos der Menschen geblieben seit dieser Zeit. Und auch Simeon voll der Verheißung und der Freude über ihre Erfüllung, die ihm geworden war, und indem er den Erlöser pries, der gekommen sei, um zu erleuchten die Heiden, und ein Preis zu sein des Hauses Israel, sagt noch zu seiner tief bewegten Mutter die bedenklichen Worte: „dieser ist gesezt zum Falle und zum Auferstehen vieler in Israel, auf daß vieler Menschen Gedanken offenbar werden.“ Und | das, m. g. F., das ist unser aller gemeinschaftliche Erfahrung, und ein gemischtes Gefühl von himmlischer Freude und von tiefem Schmerz muß sich unsrer Seele bemächtigen, wenn wir daran denken, zum Auferstehen ist er vielen gesezt. O wie viele gefallene Seelen hat seine milde Hand schon aufgerichtet aus dem Staube! o wie vielen demüthig Flehenden hat er schon zugerufen aus der Fülle seiner Gnade, gehe hin, mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben! Aber er hört auch nicht auf der Stein zu sein, den noch immer manche der Bauleute, die am Reiche Gottes zu bauen bestimmt sind, verwerfen; und unsre Erfahrung hört noch nicht auf, daß sein Wort ist vielen ein Aergerniß und eine Thorheit. Und wie er vielen zum Aufstehen gereicht, so leider, leider noch manchen zum Fall, indem sie sich nicht finden können in das freundliche Verhältniß mit dem Erlöser, indem ihnen nicht einheimisch werden kann der Gedanke von der großen Liebe, daß Gott seinen Sohn gesandt hat, um | zu suchen und selig zu machen was verloren ist. Und, m. g. F., wenn wir diesen Streit und dieses Aergeniß auch innerhalb der khristlichen Welt betrachten und fragen uns, wie denn hast du in diesem Streite und in dieser Verwirrung gelebt und gewirkt? Hast du wie jene Apostel, die es gern bekannten, daß sie keine andern Gaben 3–5 Vgl. 1Joh 5,4 20–22 Vgl. Lk 2,34–35 27–28 Mt 9,2; Mk 2,5 28– 30 Vgl. Ps 118,22–23 (zitiert in: Mt 21,42; Mk 12,10; Lk 20,17; 1Petr 2,7) 31 1Kor 1,23 35–36 Lk 19,10

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in ihrer Gewalt hätten als allein die Gaben des göttlichen Geistes, aber hast du auch im Namen Jesu von Nazareth zu den gefallenen Seelen bisher sprechen können: „stehe auf und wandle“ und sie mit gläubiger Hand ergriffen und aufgerichtet? – und wenn wir uns in dem Gebiete des häuslichen Lebens und unsrer freundschaftlichen und geselligen Verbindungen und überall, wo wir die Stärkern mit den Schwächern, die Weisen mit den Unerfahrenen in der Welt zusammenleben, wenn wir uns aber dieses tröstliche Zeugniß geben können, und es danken der Gnade Gottes, der uns berufen hat, von der Finsterniß zu seinem wunderbaren Licht; werden wir | auf der andern Seite sagen können, wir hätten nie einem ungewissen und denkenden Herzen zum Anstoß gereicht und zum Ärgerniß, wir hätten immer nur behütet vor dem Fall, und nie hätten wir dazu beigetragen? – o welch eine reine Weisheit müßte denn unser ganzes Leben geleitet haben ohne Ausnahme! wie frei müßte unser Leben gewesen sein um keine schwache Stunde in dem Umfang unsrer irdischen Tage aufzunehmen! Denn jede Schwachheit, jedes unüberlegte Wort, jede leichtfertige Rede kann, wir vermögen es nicht zu berechnen, irgend einem Gemüth zum Anstoß gereichen und zum Ärgerniß. Wie viel fehlt daß wir rein wären! Wahrlich, wenn auch unter uns der Herr vielen gereicht hat zum Aufstehen, vielen noch zum Fall: das ist seine Kraft, die aufrichtet, und das unser Leichtsinn, das ist unsre Unbesonnenheit, da ist unser unweises Wesen, was zum Falle bringt. Und wenn wir, m. g. F., auch gewöhnlich im Einzelnen nicht zu sagen vermögen, daß | in einem solchen Wechsel von Aufstehen und Fallen, von durch einander bestimmten und sich kreuzenden Einwirkungen des einen Gemüths auf das andre die Gedanken des Herzens offenbar werden, vielmehr wir für uns selbst uns an jenes Wort halten müssen, daß, wie schon der Herr nicht gekommen war zu richten, so auch wir, die wir als die Diener und Jünger immer weniger sind und bleiben als der Herr und Meister, auch viel weniger richten müssen, daß jedes voreilige einzelne Richten des einen Menschen über den andern eine Verabsäumung der großen Regel khristlicher Vorsicht ist: „wer da steht oder fällt; der steht oder fällt seinem Herrn“, daß jedes Richten dieser Art immer mehr Verwirrung in der Welt anrichtet, den Streit nicht beseitigt sondern nur noch mehr aufregt, die Dunkelheit nicht aufhebt sondern immer weiter verbreitet, wenn wir das bedenken müssen: wie können wir sagen, daß wir | frei gewesen wären davon, nicht nur daß der Erlöser mehreren noch zum Fall gereicht, sondern daß auch immer noch nicht die Herzen in ihren verschlossenen Gedanken wollen offenbar werden. Ja, m. g. F., wäre jedes Herz immer und unwandel21 unweises] unwweises 2–3 Vgl. Apg 3,6 19–20 Vgl. Lk 2,34 27 Vgl. Joh 12,47 Mt 10,24; Joh 13,16; 15,20 31–32 Vgl. Röm 14,4

28–29 Vgl.

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bar dem Erlöser zugewendet, sähen wir immer nur auf ihn hin: o dann würde unser Herz immer offenbar sein, dann würden die tiefsten Gedanken desselben wie leicht für jeden zu schauen sein. Und wollten wir nichts anders als in der Gemeinschaft mit dem Erlöser dahin streben, aus reiner Liebe zu ihm nur uns selbst zu verleugnen, um nicht das Unsrige zu suchen, sondern allein was Gottes ist: o dann würde der Vergehungen überall es immer weniger geben, dann würde der Erlöser sich in einem immer reichern Maße als derjenige offenbaren, durch welchen den Menschen Heil kommt, dann würden die Züge seines göttlichen Bildes vor aller Welt deutlich daliegen, dann würde seine verklärte Gestalt sich in dem Thun und Treiben seiner | Jünger abbilden, und so der rechte Gewinn des Lebens mit ihm hervortreten, deßhalb alle sagen würden, ja in diesem Manne allein ist dem menschlichen Geschlecht Seligkeit gegeben, und dann würde die selige Zeit dasein, wo er keinem mehr zum Fall gereichen wird. Wohlan, m. g. F., wenn wir uns auch in dieser Hinsicht vor Gott demüthigen müssen, und nichts anderes ausrufen können als: „Gott sei mir Sünder gnädig“; wenn auch wir gleich jenem Pharisäer, der statt sich vor dem Herrn zu demüthigen, sich in seinem Herzen über den bußfertigen und reuigen Sünder erhob, welcher aber gerechtfertigt hinging in sein Haus vor ihm, mit stolzer Anmaßung umherschauen, und uns vergleichen mit diesem oder jenem, ob wir einen Vorzuge vor ihm haben; wenn alle, die das wollen, nicht anders umhin können, in dieser Hinsicht auszurufen: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ – o so laßt uns, damit wir in Frieden hingehen können, unsre Augen zu ihm, den Gott zum | Heiland der Welt bestimmt hat, erheben, und ihn bitten, daß er immer mehr unser Inneres dem seinigen ähnlich mache, und daß sein Geist aus unserm Herzen alles hinwegnehme, was seinem Werke auf Erden entgegen steht. Und wenn wir dann fühlen, wie wahr es ist; was er gesagt hat, was ihr auch möget zu bitten haben, so ihr nur bittet in meinem Namen, so wird der Vater es euch geben; o wenn wir dann demüthig zu ihm emporsehen und fühlen, wie wahr es ist, daß er bei den Seinigen immerdar ist mit seiner tröstenden Liebe und mit seiner heiligenden Kraft: o dann werden wir, wenn wir ausgerufen haben: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ auch freudig fortgehen können mit den Worten: „nun Herr lässest du deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, den du bereitet hast ein Licht zu erleuchten die Heiden, und zum Preise deines | Hauses Israel.” So sagte jener ehrwürdige Greis, der den Erlöser als Kind, da er zum erstenmal im Tempel des Herrn dargestellt wurde, in seine Arme schloß; er sagte es, weil er fühlte die Erfüllung der göttlichen Verheißung, die ihm geworden war, weil er in diesem ersten 8 derjenige] derjenigen 16.22–23.32–33 Lk 18,13

16–19 Vgl. Lk 18,9–14

28–29 Vgl. Joh 15,16

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unscheinbaren und von der ganzen Welt verkannten Anfang schaute die Herrlichkeit, die von diesem Kinde ausgehen sollte. Und in derselben Lage, m. g. F., sind auch wir noch. Viele Jahrhunderte ist er nun schon der Erlöser der Welt mit seiner geistigen Kraft unter den seinigen, viele Jahrhunderte besteht schon sein irdisches Reich, manchen Sturm hat gegen dasselbe gewogt die Macht der Finsterniß, und sie ist immer zurückgeschlagen worden durch die göttliche siegreiche Kraft, die innen thront; viele Verirrte, die im Dunkeln wandelten, haben das Licht der Wahrheit in sich aufgenommen und walten lassen | in ihrem Gemüthe. Aber es ist noch die Kindheit des Erlösers, es ist noch nicht erschienen, was sein Reich auf dieser Erde sein soll; und damit müssen wir uns ja trösten, wenn wir bedenken, wie klein noch gegen die ganze Masse des Menschengeschlechts die Zahl derer ist, die an ihn wahrhaft glauben und ihn innig lieben, damit müssen wir uns trösten, wenn wir bedenken, wie selbst in dieser noch so vieles verunreinigt ist und getrübt durch die noch nicht gewiechene Macht des Unglaubens und der Sünde. So mögen wir mit gläubigen Herzen von diesem kleinen sichtbaren Anfang in jene herrliche Zeit hinausschauend, von der der Apostel sagt: „es ist noch nicht erschienen was wir sein werden, wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden und sehen wie er ist“, aus dieser unreifen verworrenen dunkeln Zeit in jene selige im Glauben von uns erfaßte, in Liebe von uns | ersehnte Zeit hinausschauend laßt uns sagen: „Herr du lässest deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen.“ Amen. Ja, heiliger gütiger Gott und Vater, dir sagen wir Lob und Preis im demüthigen Gefühl aller Sünde, die noch in uns ist, und aller Vergehungen, die wir in der vergangenen Zeit auf uns geladen haben, dafür daß auch unsre Augen deinen Heiland gesehen haben, daß sich unser Herz gläubig an ihn hält, und daß wir die Hoffnung haben dürfen, er werde uns immer mehr bereiten durch seinen Geist zu einem Volke des Eigenthums, zu einem Volk, das wert sei deines und seines heiligen Namens. Ja hilf uns allen dazu, daß wir immer mehr nur auf ihn sehen, dem Vorbilde nachfolgen, welches er uns gelassen hat, den Geist in uns aufnehmen, mit welchem er alle diejenigen, die an ihn glauben | und ihm vertrauen, so ganz annehmen will, und indem wir uns selbst verleugnen, und überall wo es sein heiliger Wille ist, sein Kreuz freudig auf uns nehmen, und es ihm nachtragen auf demselben Wege zur Herrlichkeit, auf welchem er vorangegangen ist, der zur Rechten seines 6 gewogt] gewegt 18–20 1Joh 3,2 Mk 8,34; Lk 9,23

29–30 1Petr 2,9 (Zitat aus Dtn 7,6) 37–1 Vgl. Röm 8,34

34–36 Vgl. Mt 16,24;

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himmlischen Vaters sizt und uns vertritt, auch mit Zuversicht ausrufen mögen: „Gott sei mir Sünder gnädig!“ Amen.

[Liederblatt vom 26. April 1820:] Am Bußtage 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Der Werke Ruhm muß vor der Gnade schwinden, / Verdienst kann nicht den Weg zum Himmel finden, / Weil Gott nur dem, der glaubt, das ewge Leben / Umsonst will geben. // [2.] Gott kann, was seinen heiligen Gesetzen / Nicht Gnüge thut, auch nicht für gültig schätzen; / Wer darf als Lohn den Himmel zu verdienen / Sich wohl erkühnen? // [3.] Wie würd’ ich doch mit meinem Thun bestehen, / Wenn ins Gericht mit mir Gott wollte gehen? / Bleibt alles doch was je ich unternommen / Gar unvollkommen. // [4.] Und wenn gleich Gott der guten Werke denket, / Und reichlich uns dafür Belohnung schenket: / So thut ers doch allein aus freiem Triebe, / Aus Vaterliebe. // [5.] Du Jesus nur befriedigst das Gewissen, / Ich flieh zu dir, will von Verdienst nichts wissen, / Mein Thun ist nichts; um Gnade will ich flehen, / Auf dich nur sehen. // [6.] Doch falscher Trost soll nimmer mich verführen, / Gottseligkeit soll meinen Glauben zieren. / Gieb daß ich dir mein ganzes Herz ergebe, / In dir nur lebe. // (Heeren.) Nach dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. [1.] O König, dessen Majestät / Sich über alles hebet, / Dem Erd und Meer zu Diensten steht, / Vor dem der Weltkreis bebet! / Du bleibst durch alle Ewigkeit / Der Gott der Macht und Herrlichkeit, / Bist groß von Huld und gnädig. / Ich armer Mensch vermag nichts mehr, / Als daß ich ruf zu deiner Ehr, / Gott sei mir Sünder gnädig! // [2.] Ich meiner Sünden mir bewußt / Im zagenden Gewissen, / Ich schlage mich an meine Brust / Von Schaam und Schmerz zerrissen. / Dein Rufen hab ich überhört, / Ich bin nicht deiner Liebe werth. / Nun ruf ich, Sey mir gnädig! / Ich fleh mit reuevollem Geist, / Ich fleh zu dir, der Vater heißt, / Gott sei mir Sünder gnädig. // [3.] Ich schaue, Vater, Jesum an, / Den Heiland aller Sünder, / Der auch für mich genug gethan, / Durch den wir deine Kinder / Und Erben der Verheißung sind, / Wenn unser Herz ihn lieb gewinnt; / Er ist voll Huld und gnädig. / Ihm trau ich fest, ihn laß ich nicht, / Bis einst mein Herz im Tode bricht, / Gott sei mir Sünder gnädig. // [4.] Regiere du mir Herz und Sinn, / In meinem ganzen Leben! / Du bist mein Gott, und was ich bin, / Bleib’ ewig dir ergeben. / Ach heilige mich ganz und gar. / Mein Glaube sei auch immerdar / Durch wahre Liebe thätig; / Und sollt’ ich dennoch irre gehn, / So soll mein Herz mit Wehmuth flehn, / Gott sei mir Sünder gnädig. // [5.] Mein Leben und mein 2 Lk 18,13

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Sterben ruht, / Allein auf deiner Gnade! / Mir geh es übel oder gut, / Gieb daß es mir nicht schade! / Und kommt mein End’ auch einst heran, / So stärk mich auf der Todesbahn, / Und sei auch dann mir gnädig. / Ja wenn die Zunge nicht mehr spricht, / Verschmäh den lezten Seufzer nicht, / Gott sei mir Sünder gnädig. // (Brem. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Auf meinen lieben Gott etc. O Herr, was uns gebricht, / Laß in der Wahrheit Licht, / Lebendig uns erkennen, / Daß wir von Ernst entbrennen, / Der Sünde zu entsagen, / Der Beß’rung nachzujagen. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu meiner Seele Leben etc. Wenn ich falle, laß michs merken, / Laß mich streben aufzustehn, / Eile mich dein Kind zu stärken, / Lehre selbst mich sichrer gehn, / Warne mich, sei mein Begleiter, / Führe Gott mich täglich weiter, / Bis ich in der Ewigkeit / Dringe zur Vollkommenheit. //

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Cantate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 15,3–8 Nachschrift; SAr 74, Bl. 75r–92v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Kantate 1820. oder am vierten Sonntage nach Ostern, den dreißigsten Wandelmonds. | Tex t. 1. Korinther XV. 3–8. Denn ich habe euch zuvörderst gegeben, welches ich auch empfangen habe, daß Khristus gestorben sei für unsere Sünden nach der Schrift; und daß er begraben sei, und daß er auferstanden sei am dritten Tage nach der Schrift, und daß er gesehen worden ist von Kephas, darnach von den Zwölfen; darnach ist er gesehen worden von mehr denn fünfhundert Brüdern auf einmal, derer noch viele leben, etliche aber sind entschlafen; [darnach ist er gesehen worden von Jacobus, darnach von allen Aposteln;] am lezten nach allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt gesehen worden. M. a. F., Wir leben noch in der Zeit zwischen dem Fest der Ostern und dem Tage der Himmelfahrt, wo wir ganz besonders jenes lezten verklärten Wandels unsers Herrn und Meisters auf der Erde gedenken. Über diese Zeit nun geben uns die verlesenen Worte des Apostels einen wünschenswerthen Aufschluß. Denn es sind gar wenige einzelne Geschichten von dem Zusammentreffen des Herrn mit den Jüngern, | welche uns die Bücher der Evangelisten genauer beschreiben, und wir werden nicht leicht glauben können, daß in dieser Zeit von vierzig Tagen, während welcher der Herr noch wandelte auf Erden, und sich sehen ließ unter seinen Jüngern, und mit ihnen redete vom Reiche Gottes, nichts anderes geschehen sei als jene einzelnen Züge und Unterredungen. Aber doch hätten wir darüber keine bestimmte Kunde, wenn wir sie nicht in diesen Worten des Apostels fänden. 3 XV] XX 20–22 Vgl. Apg 1,3

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Denn er erwähnt mehrere Erscheinungen und Erweisungen des Herrn, von denen unsre Evangelienbücher keine Nachricht enthalten, und indem zugleich in dem Verzeichniß, welches er in unserm Texte aufstellt, mehreres von dem fehlt was in den Büchern der Evangelisten erzählt wird, so schließen wir billig, es sei ihm eben so ergangen wie uns, daß nicht alles was der Herr in jener Zeit mit seinen Jüngern gelebt, zu seiner Kunde gekommen ist; und wir können auf größere Erweisungen | seiner Gnade schließen als die sind in jenen Erzählungen der Evangelien und in diesem Verzeichniß des Apostels. Aber, m. th. F., der Apostel giebt uns auch eine besondere Veranlaßung eben diese Betrachtung noch auf uns selbst und auf die gegenwärtige Zeit anzuwenden. Denn indem er daran erinnert, daß der Herr von ihm selbst, wie er sich ausdrükt, als von einer unzeitigen Geburt gesehen worden, dies aber doch nur nach dem Tage der Himmelfahrt des Herrn und der Ausgießung des Geistes, und nachdem der Apostel lange Zeit die Gemeine verfolgt hatte, geschehen war, er aber, was ihm begegnet war, in ein und dieselbe Reihe stellt mit den Beispielen die er anführt davon, daß der Herr in den Tagen seiner Auferstehung gesehen worden: lehrt er uns nicht dadurch, daß auch wir alles was wir selbst erfahren von der geistigen Gegenwart, die der Herr verheißen hat den Seinigen bis ans Ende der Tage, in dieselbe Reihe zu | stellen und auf die selbe Weise zu betrachten haben? Und indem wir diese Anwendung machen, was liegt uns näher, m. g. F., als die Lehre, daß es mehrere solcher geistigen Erweisungen der Gegenwart des Herrn giebt unter den Seinigen, weit mehrere solcher stärkenden und tröstenden Einwirkungen derselben auf die Seelen der Gläubigen, gleich denen die er damals ausübte auf seine Jünger und seine nächsten Freunde, daß es mehrere derselben giebt als zu unsrer Kunde kommen, und wir im Stande sind zu denken und auszufüllen. Und über diese verborgen bleibenden Einwirkungen des Herrn und diese Beweise seiner geistigen Gegenwart laßt uns jezt näher mit einander reden. Ich werfe zuerst die Frage auf: wo sollen wir sie nach der Ähnlichkeit derer, welche uns die verlesenen Worte des Textes darbieten, suchen? und hernach die zweite Frage: was für eine Gemüthsstimmung, was für Ansichten | und Entschließungen muß eben diese Gewißheit, daß es viele solcher uns verborgen bleibenden Wirkungen der geistigen Gegenwart unsers Herrn giebt, in uns hervorbringen? I. Der Apostel, m. g. F., erwähnt in jenem Verzeichniß, welches er aufstellt von den Erscheinungen unsers Herrn, theils solche Beispiele, wo er vielen Versammelten, in kleinerer und größerer Anzahl erschien, und theils solche wo er sich Einzelnen allein in der Stille und Einsamkeit offenbarte; und eben auf diese Verschiedenheit werden wir auch in unsrer Betrachtung zu sehen haben. Wenn wir nun fragen, m. g. F., giebt es wohl und wo giebt es solche Einwirkungen, die der Erlöser ausübt auf die Seelen der Gläubigen, wenn

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sie bei einander versammelt sind, solche Beweise seiner geistigen Gegenwart, wo giebt es sie, die wir nicht kennen, und | die wir uns nothwendig vorstellen müßen, wenn sie gleich nicht zu unsrer Kunde kommen? wenn wir diese Frage aufwerfen: so denken wir gewiß alle zunächst an alle diese Versammlungen, wie die gegenwärtige, in dem weiten Umfange der Khristenheit, wo diejenigen, die den Namen Khristi führen, in Beziehung auf ihn, um ihn sich zu vergegenwärtigen, und gemeinschaftlich aus seiner Fülle zu nehmen, sich mit einander vereinigen. Die Zeit, m. g. F., ist noch nicht gekommen, von welcher der Herr sagt, daß nur Ein Hirt und Eine Herde sein werde, sondern die Gemeine der Khristen, die ganze Zahl derer, die den Namen Khristi führen, sind nicht auf gleiche Weise Eins, sondern in verschiedene Kirchen und Glaubensbekenntniße getheilt. Da glaubt nun jeder wohl, in derjenigen kleinen Heerde, der er selbst angehört, da erweise sich die geistige Gegenwart des Herrn auf mancherlei Weise den ver|sammelten Gläubigen gnädig, um sie zu befestigen, zu erleuchten und zu stärken. Sollen wir uns aber in diejenigen Gestalten des Glaubens und des Gottesdienstes versezen, die uns ferner liegen, so entsteht leicht der Verdacht in uns, da sei mehr der Name als die Sache, mehr der äußere Schein als die innere Wahrheit der khristlichen Kirche. Und eben diese Entfernung der khristlichen Gemeinen von einander, wenn auch nicht immer gleich, und bald gelinder bald schärfer ausgesprochen, sie beengt unsern Gesichtskreis in Beziehung auf das große Gebiet der khristlichen Kirche, und vermindert unsern Glauben an die Einwirkungen unsers Herrn auf Erden. Aber für ihn, m. g. F., wenn auch nicht für uns, für ihn ist es alles, wie er Ein Hirt ist, so auch Eine Heerde; und eben weil er dieses Wort gesprochen hat, weil es schon wahr sein muß, und nicht etwa in einer fernen Zeit, die er dabei im Sinne gehabt hat, erst wahr zu werden braucht, o so laßt uns von diesem Mißtrauen in Absicht auf seine Gegenwart | auch bei den uns fernen und fremden Gestalten der khristlichen Vereinigungen uns reinigen, laßt uns darüber hinwegsehen und fest vertrauen, auch da wo sich die Khristen versammeln unter Vorstellungen, die uns fremd sind, unter Formen des Gottesdienstes, die uns wenig ansprechen, auch da findet der Herr die Seinigen, die ihm sein himmlischer Vater gegeben hat, auch da erweist er sich ihnen gnädig, auch da ist er nach seiner Verheißung unter ihnen, wenn sie in seinem Namen versammelt sind, auch da bewegt er die vereinigten Gemüther zu seinem Lobe und seinem Preise. Wir leben in einer Zeit, m. g. F., wo diese engherzige und hemmende Vorstellung allerdings auf mancherlei Weise abnimmt, und wie die Gemeinschaft der Menschen in äußerer Hinsicht sich immer mehr verbreitert und ihre Kunde von einander, so nehmen auch die verschiedenen | khristlichen Kirchen in der gegenwärtigen Zeit eine liebevolle theilnehmende Kenntniß von einander, und das 9–10.24–25 Vgl. Joh 10,16

33 Vgl. Joh 10,29

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ist gut und schön eben weil es jenen Glauben an die mannichfaltigen Gnadenerweisungen unsers Herrn stärkt. Aber wenn dieser Unterschied uns weniger hemmt und unsern Gesichtskreis weniger beschränkt, so mögen wir sagen, es treten gleich andre an seine Stelle; und wenn die meisten Khristen auch darin Eines sind, in dem einen wie in dem andern Glaubensbekenntniß könne jeder Heil finden bei dem, in deßen Namen allein Heil gegeben ist den Menschen, so denkt doch jeder, dies könne jeder finden in dieser Kirchengemeinschaft und in diesem Glauben wie in jener Kirchengemeinschaft und in jenem Glauben. Aber denken sich nicht die meisten dabei eine bestimmte Art und Weise? meinen sie nicht, gewiße Arten sich zu denken | von dem Verhältniß des Erlösers zu uns, die dürfen nicht ausbleiben, wenn der Herr sich den Seelen gnädig erweisen soll, und wo diese fehlen, wo diese weniger ans Licht treten, da sei von seiner geistigen Gegenwart nichts zu erwarten? Aber das Eine, m. g. F., ist nicht mehr wert und hat nicht mehr Bedeutung vor ihm als das Andre. Wenn schon der Apostel sagt „ich suche allen alles zu werden, damit ich alle gewinne“, und damit ausdrükt, daß derjenige, dem es Ernst ist damit das Evangelium des Herrn zu verkündigen, und die Seelen zu ihm zu sammlen, der müße sich in alle Mannichfaltigkeit der menschlichen Natur, in alle ihre verschiedenen Denkungsarten und Empfindungsweisen zu finden wißen, und ihr in allen Khristum zu verherrlichen, sie in allen von | dem Zufälligen auf das Wesentliche was noth ist hinzuführen suchen, wenn schon der Apostel dies sagt, und wir deßhalb eben fühlen, daß, wenn gleich das weise und schön gesagt ist, gerade in dieser Hinsicht die Fähigkeit eines jeden Menschen beschränkt ist und bleibt, und eine große Festigkeit und Sicherheit des Herzens und des Verstandes dazu gehört, um in einem solchen Bestreben nicht über die reinen Gränzen der Wahrheit und der Treue hinauszugehen, aber wenn der Apostel, dem auch eben dies als einem so treuen und eifrigen Diener des Herrn und der so tief in das Wesen der menschlichen Natur eingedrungen war, nicht verborgen bleiben konnte, wenn der das sagt: wie viel mehr werden wir es nicht von unserm Herrn und Erlöser sagen müßen, daß das das große Gesez sei, nach welchem er die so | mannichfaltig zusammengesezte Gemeine seiner Gläubigen regiert, daß er nach der Fülle seines Geistes allen alles werde, daß die Kraft seiner Erlösung sich in die mannichfaltigsten Gestalten menschlicher Gedanken und Vorstellungen, menschlicher Empfindungen und Gesinnungen dennoch hineinzuziehen wißen, und aus ihnen hervorleuchte als das Licht welches sie alle erwärmt und heiligt, und daß, weil sein Vater diese Mannichfaltigkeit menschlicher Gemüther angeordnet hat, und der Vater es ist, der die Menschen zum Sohn hinzieht, der Sohn 7 denkt] denk 16.33–34 Vgl. 1Kor 9,22

39 Vgl. Joh 6,44

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auch in dieser Mannichfaltigkeit müße zu finden sein in allen Schäzen und Erweisungen seiner Gnade. Aber, m. g. F., nicht müßen wir stehen bleiben allein bei diesen Versammlungen der Frommen, um durch | die Betrachtung des Herrn, seines Wortes und seines Vorbildes sich im Glauben und in der Liebe zu stärken, nicht bei dem allein müßen wir stehen bleiben, wenn wir die uns unbekannt bleibenden Erweisungen seiner Gnade sehen und fühlen wollen, sondern wir müßen das ganze große Leben der Menschen in der Khristenheit uns vorhalten, jede Beziehung, in der die Menschen sich in größern und kleinern Maßen vereinigen, ihr Zwek sei welcher es wolle. Denn überall wo dieser etwas ist, was mit seinem Reiche und mit der Förderung seines Reiches auf Erden nicht in Widerspruch steht, da sind auch die jenigen, die bei allem was ihnen auf Erden wichtig ist ihn immer vor Augen haben, da sind auch die in seinem Namen versammelt, mag es geschehen um gemeinsame Angelegenheiten mit vereinter Weisheit zu berathen, mag | es geschehen um sich unter einander in der Erfahrung der Wahrheit zu beleben und zu stärken, und gegenseitig alles wodurch Gott den menschlichen Geist erleuchtet und schmükt auszutauschen; alle solche Vereinigungen der Menschen sollen wir, wenn wir daran denken wie der Herr sich auf Erden thätig beweist, und überall das geistige Reich seines Vaters zu bauen sucht, sollen wir denken da werde er verscheucht, da sei er nicht, da durchdringe seine geistige Gegenwart nicht auch diejenigen, die, wenn sie dabei auch nicht seinen Namen auf den Lippen trugen, ihn doch von Herzen lieben und vor Augen haben? Nein nicht so eng hat er seine Verheißung ausgedrükt, sondern wo, sagt er, viele oder wenige versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen. Und kann er unter ihnen sein ohne wirk|sam zu sein? kann er wirksam sein ohne daß sie seine geistige Nähe fühlen und sich beseligt wißen und gesättigt aus der Fülle seiner Gnade? Darum, m. g. F., laßt uns auf alle solche, wenn sie auch den Glauben an unsern Herrn und Meister, wenn sie auch die khristliche Kirche nicht unmittelbar betreffen, laßt uns auf alle solche auf das Wohl der Menschen abzwekende und gottgefällige Vereinigungen mit dem heiligen Vertrauen hinsehen, wenn nur, sei der Zwek welcher er wolle, die Gläubigen zusammenkommen mit dem Vorsaz, auch da ihrem Herrn zur Ehre zu leben, auch da nach den Gesezen zu handeln, die er ihnen durch sein Leben und seine Worte vorgezeichnet hat, auch da kann es nicht fehlen wenigstens mittelbarer Weise daran zu denken, daß die Güter des Heils den Menschen nicht verkürzt, sondern der Besiz | derselben ihnen gesichert werde. Begeben sie sich nur so zusammen, so ist er mitten unter ihnen; und auch in weltlichen Geschäften, auch wo sie sich vereinigen um auszutauschen weltliche Gedanken und weltliche Erfahrungen, auch da zeigt sich seine die Seinigen 12–14.25–26.38–39 Vgl. Mt 18,20

28 Vgl. Röm 5,17

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überall leitende und behütende Gnade, sein überall das menschliche Herz beruhigende stärkende zum Himmel richtende geistige Gegenwart gewiß unter denen, die ihn vor Augen und im Herzen haben. Ja noch mehr, gehen wir auch auf diejenigen Vereinigungen der Khristen zurük, die nicht etwas Ernsthaftes und Wirkungsreiches, nicht einen bestimmten Zwek zum Gegenstand haben, sondern nur um ihr Dasein gegen einander auszutauschen, und in frohen sorglosen Stunden des Lebens ihr Inneres zu enthüllen, auch da ist der Herr nicht fern, auch da hat er Wohlgefallen an den unschuldigen Freuden der Menschen, wie er sie selbst während seines irdischen Lebens getheilt hat, auch da hat er Wohlgefallen | daran, daß sich die Gemüther gegen einander erweitern und öffnen; auch da sind sie in seinem Namen versammelt, und je mehr sie das sind, desto mehr kann von dem Höheren und Geistigen aus dem einen in den andern übergehen. Und darum ist jede Vereinigung der Menschen in dieser Hinsicht sein Werk, und alles Erfreuliche, alles Erquikende, alles was uns in solchen Stunden erheitert und stärkt für die Zeit des ernstern Lebens, o er ist nicht fern davon gewesen, es ist je reiner es war desto mehr seine gnädige Gabe, und je mehr wir gläubig vertrauen auf seine geistige Gewalt, desto mehr werden wir sein Bild darin erkennen, desto mehr werden wir darin finden die Bewegungen des Lebens, welches er sich unter den Gläubigen auf Erden gebildet hat. Und nun, m. g. F., laßt uns fragen, wie steht es um das stille Leben der einzelnen Seelen? O da thut sich freilich jedem der Blik auf in der Weite, und jeder | sagt sich wohl, das können wir nicht verlangen zu erfahren, wie sich der Herr den einzelnen Seelen gnädig offenbart. Aber steken wir uns nicht auch in dieser Hinsicht zu enge Gränzen? Dies möchte, m. g. F., bei näherer Betrachtung wohl jeder zugestehen. Wir pflegen wohl zu denken, wenn die einzelne Seele in einem solchen Verkehr der Liebe und des geistigen Umgangs mit dem Erlöser steht, so müße sie auch davon reden und die Früchte davon an den Tag legen, wenn sie gleich gesinnte Gemüther findet; und eben wie jene Jünger sich einander erzählten in den Tagen der Auferstehung, wenn sie den Herrn gesehen hatten, so müßte auch jeder eilen um denen, die gleiches Sinnes sind mit ihm, die gnädigen Erweisungen des Erlösers mitzutheilen. Aber, m. g. F., das ist nicht aller Menschen Art – und so finden wir ja auch, daß nicht alle unter der Zahl der Jünger | wußten was die andern erfahren hatten im Umgange mit dem Herrn – sondern viele giebt es, die mehr geneigt sind ihr inneres Leben in sich selbst zu verschließen und weniger damit herauszutreten, und die da glauben es zu entweihen, wenn sie es von Mund zu Mund in das Gespräch der Menschen bringen; und wie sie die Sorgen und die Bedrükungen ihres Herzens in der Stille mit dem Herrn allein abmachen, so erfreuen sie sich auch allein für sich seiner erquikenden Gegenwart in den heitern Stunden ihres Lebens. Aber fruchtlos kann freilich dieser Segen des Herrn nicht bleiben, er muß sich in ihrem Leben zeigen. Je mehr der Herr sie in der

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Einsamkeit durch das Gefühl seiner Gegenwart leutert, um desto mehr muß sich auch ihr Leben und ihr Wandel auf ihn zurükbeziehen und ihm wohlgefällliger werden. Da sollen wir es aufsuchen, und wo wir sehen, daß der einzelne Mensch handelt in dem Geist | der Liebe, der alle Furcht aus der Seele vertreibt, und in dem Bestreben für das Reich Gottes, das durch alle würdige und edle menschliche Bemühungen gebaut wird, sich selbst und die Welt zu verleugnen, um das zu gewinnen was wir bei dem nur geltend machen können, der auch die Seele verderben kann und nicht nur den Leib tödten, wo wir den Menschen so handeln sehen, redet er auch wenig von dem Erlöser, scheint er auch in keinem Verkehr mit ihm zu stehen, mögen wir auch glauben, daß er äußerlich nicht zu ihm gehöre, und daß seine Rechtschaffenheit eine andre Quelle habe als die des Glaubens an ihn und der Liebe zu ihm: o laßt uns glauben auch in einer solchen Seele ist der Herr geschäftig; denn nicht ohne ihn gelangt der Mensch zur Verehrung des Wahren und Guten und zur Wahrhaftigkeit des Wandels, nicht ohne ihn vermag er das rechte Ziel seines Lebens im Auge zu haben, sondern er muß da gewesen sein, er muß auf die | Seele gewirkt haben. Aber noch mehr, der Herr, m. g. F., der so vielerlei Wirkungen bedarf, der eben deßwegen sich auch so vielerlei Werkzeuge ausbildet, durch welche er durch den einen dieses durch den andern jenes ausrichtet, der bedarf auch in den einzelnen menschlichen Seelen gar mancherlei vorbereitende Wirkungen, die auch nur von ihm ausgehen können, aber die der Mensch selbst gar oft verkennt, und nicht so unmittelbar wie er sollte auf den Herrn und auf die geistige Kraft desselben zurükführt. Ja, m. g. F., wir dürfen uns selbst nur fragen, so werden wir gestehen, daß manches was wir Anfangs nicht dafür erkennen, manche Aufregungen des Innern, die unmittelbar nicht seinen Namen zu tragen scheinen, uns doch in der Folge des Lebens so gesegnet werden und so wirken, daß wir erkennen müßen, wie wir denn alles auf ihn zurükführen, auch das ist seine Gabe und sein Werk in unserm Gemüth. Und | so giebt es im Einzelnen und Verborgenen der Seele gar vieles, wovon wir keine Kunde bekommen können nicht nur, sondern es thut auch noth, daß wir immer weiter unsern Blik ausdehnen und unser Auge schärfen, damit wir immer mehr auffaßen von den zahllosen Gnadenwirkungen des Erlösers, die er ausübt in der Schaar der Seinigen. II. Und nachdem wir dies mit einander erwogen haben, m. g. F., so laßt uns die zweite Frage zur Beantwortung uns aufwerfen: was soll die Ueberzeugung, daß es gewiß ist im Großen und Allgemeinen wie im Kleinen und 4–5 Vgl. 1Joh 4,18 Lk 12,4

6–7 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

8–9 Vgl. Mt 10,28;

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Einzelnen eine unzählige Menge von Gnadenwirkungen des Erlösers giebt, die wir nicht erfahren, und die wir, auch wenn sie zur Kunde unsers Lebens gelangen, gar wohl geneigt sind nicht zu würdigen, was | soll diese Ueberzeugung für eine Stimmung des Gemüthes in uns hervorbringen, sowohl wenn wir unsere Blike außer uns werfen in das Reich Gottes, in deßen Wachsthum wir mitten hineingestellt sind, als auch wenn wir Jeder in sein Inneres sehen? O, m. g. F., in jeder Hinsicht ist wohl das die Lehre, die wir daraus nehmen, und das die Stimmung, die wir dadurch in uns erweken und befestigen müßen, daß wir uns hüten sollen vor allem ausschließenden und richtenden Wahne, wozu so viele auch unter den gläubigsten und eifrigsten Verehrern des Herrn nur allzusehr geneigt sind. Nämlich das ist das ausschließende und richtende Wesen, daß wir meinen, wenn sich die Menschen nicht auf dieselbige Weise und in demselbigen Zusammenhang der Gedanken wie wir ausdrüken, wenn sie ihre Vorstellungen über ihr Verhältniß zum Erlöser, über die Gemeinschaft ihrer Seele mit | ihm, über die Art, wie sie ihm dienen, nicht eben so äußern wie wir, daß es dann nicht der Erlöser sei den sie verehren, daß es dann nicht das Rechte sei, was ihren Augen vorschwebt, sondern es sei ein leerer und falscher Schein, der sie hintergeht. In der Beziehung, in welcher wir hier jezt reden, denke ich dabei weniger an die Lieblosigkeit, die darin liegt, wenn wir den Kreis, in welchem wir an die Wirksamkeit des Erlösers glauben, zu eng ziehen, wenn wir in welchem Unterschied es auch sein möge, solche Menschen, von denen wir doch nicht sagen können, daß sie mit ihrem ganzen Streben und mit ihrem ganzen Dasein in Widerspruch stehen mit den Foderungen des Erlösers, wenn wir diese doch von unsrer Überzeugung, daß auch in ihnen der Herr thätig sei, und von der nähern Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe, die sich zwischen uns und ihnen nach dem Willen Gottes knüpfen | soll, ausschließen wollen; sondern ich meine es mehr in der Hinsicht als wir dadurch eine viel zu geringe Vorstellung bekommen von der Macht und Wirksamkeit unsers Erlösers auf Erden. Wie, m. g. F., wenn es sich wirklich so verhielte, daß nur bei gewißen Glaubensweisen, nur bei gewißen Sitten, nur bei gewißen Vorstellungen in der That die Wirksamkeit, die erlösende Wirksamkeit des Herrn, die heiligende Wirksamkeit seines Geistes in den Seelen bestehen könnte, wenn es wirklich so wäre, warum würde er nicht mit seiner Kraft es schon längst bewirkt haben, daß dies allgemeiner geworden wäre? wie sollte nicht das Licht, welches er gebracht hat – und ist es nicht seit langer Zeit schon angezündet unter dem menschlichen Geschlecht? – so hell geschienen haben, daß der Gegensaz zwischen Wahrheit und Irrthum, zwischen dem Wege, der auf die Höhe des Gedankens an die ewig erlösende Kraft seines | Geistes und eines gottgefälligen Lebens führt, und zwischen dem, auf welchem der Mensch das ihm dargebotene Heil in 10–11 eifrigsten] eifristen

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Khristo verwirft und sein eigenes Dasein lebt, allgemeiner und fester wäre erkannt worden von den Menschen? O wenig Vertrauen beweisen wir dadurch sei es dem Wort des Herrn, sei es der Kraft, die ihm der Vater gegeben, wie er von sich rühmt. Nein, der selbst gesagt hat, daß er noch andre Schafe habe, die nicht in diese Heerde eingezwängt wären, der hat noch im Voraus erkannt, unter wie mannichfachen Gestalten sich seine Gnade den Menschen würde offenbaren können und müßen, und er hat uns dazu leiten wollen, daß, wenn auch im Äußern getrennt, wir dennoch glauben sollen, in ihm sei Alles, wie er selbst Ein Hirt ist, so auch Eine Heerde. Und hüten wir uns, m. g. F., vor diesem | ausschließenden und richtenden Wesen, so werden wir auch bewahrt sein vor jeder kleinlichen Art eine Meinung zu bekommen von den Wirkungen des Erlösers in den Herzen der Menschen, worin so viele auch unter dem gegenwärtigen Haufen der Gläubigen befangen sind. Nämlich wir sehen sie darauf gerichtet in einzelnen Beispielen zu erfahren, wie der Herr hier und dort sich einer einzelnen Seele zu erkennen giebt, wie er hier und dort in ihr zur Selbsterkenntniß wirkt, wie er das Verlangen nach der Erlösung in ihr aufregt, und in besondern Stunden seine Nähe offenbart, und je mehr sie solche einzelne Züge aus der Nähe und Ferne zusammenraffen, um desto mehr glauben sie ein vollständiges Bild von dem Reiche Gottes auf Erden zu haben, und indem sie bei so bestimmten äußern | Kennzeichen stehen bleiben, indem sie nur eine bestimmte Form der göttlichen Gnade in Khristo erkennen, so bekommen sie freilich eine engherzige Vorstellung von den geistigen Wirkungen des Herrn auf Erden, und das große schon freie Reich Gottes zersplittert sich ihnen zu einem kleinen und, wenn wir auf das Ganze der Khristenheit sehen, zu einem kleinen kaum bemerkbaren Häuflein. Und dann entsteht aus dieser falschen Vorstellung die ungerechte Klage, die man so häufig hört, daß es nur wenige gebe die den Herrn verehren, daß nur klein sei die Zahl derer die ihn suchen. Aber sie ist so klein nicht, sondern euer Auge nur ist gehalten, es ist nicht geöffnet, daß es die Wohnung des Herrn erkenne in andern Gestalten; und ihr habt eben so Unrecht wie jener Prophet, der keinen gerechten und treuen Diener Gottes in dem Volke mehr zu finden glaubte, wenn | ihr meint, ihr wäret allein übrig geblieben aus dem Volk als solche, die den Herrn wahrhaft suchten und ehreten. Aber möge über alle die sich so beschränken, möge über alle ein solcher Augenblik der Weisheit kommen, wie über jenen Propheten, daß er sehen mußte, wie viele unter denen, die er nicht dafür gehalten hatte, die Zeichen des Herrn trugen, und daß ihm offenbar wurde, wie außer jenen, die ihm als gottgefällige Seelen erschienen waren, der 4 Vgl. Mt 28,18; Joh 17,2 5–6 Vgl. Joh 10,16 2 Vgl. 1Kön 18,22; 19,10.14–18

9–10 Vgl. Joh 10,16

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Herr sich noch viele erwählt hatte als eben so treue und wahre Verehrer wie er selbst war. Aber wenn wir, m. g. F., mit dieser Betrachtung in unser eigenes Herz hineinschauen, dann muß uns das Verlangen aufs neue entstehen, daß es uns nicht begegnen möge, irgend etwas was eine gnädige Wirkung des Erlösers in unserer Seele ist zu übersehen und zu erkennen. Fern, m. g. F., wird ja, wenn unser Gemüth diese Richtung genommen hat, das Bestreben von uns bleiben, daß | uns etwas Außerordentliches und Wunderbares in der Gemeinschaft mit dem Erlöser begegne. Der Apostel Paulus sagt, er sei einmal in Jerusalem entzükt gewesen im Geist, und der Herr habe mit ihm geredet. Das begegnete ihm, weil ihm der Herr etwas Wichtiges für seinen Dienst zu offenbaren hatte, weil er ihn warnen wollte vor einem falschen Wege, den er in der Verkündigung des Evangeliums einzuschlagen im Begriff war. Aber getrachtet hat er nie darnach, dem schon in seinem Beruf der Segen des Himmels folgte; vielmehr unter den Gaben des Geistes, unter den Erweisungen desselben in der Kirche wie im gewöhnlichen Leben zog er diejenigen vor, die im natürlichen Ganzen des menschlichen Lebens bleiben, die Äußerungen der menschlichen Kräfte sind, und welche auf gleiche Weise die göttliche Gnade hervorbringt. Und eben so wenig, m. g. F., | wäre es das Rechte, alles was wir als eine gnädige Erweisung des Herrn in der Seele erkennen müßen, in seinem innersten Ursprung begreifen zu wollen, um uns lebendiger zu überzeugen, daß es von dem Herrn herrührt. Indem der Apostel jene Entzükung beschreibt, sagt er, „ich kenne einen Menschen, war er im Leibe oder außer dem Leibe, ich weiß es nicht“; und er hatte es also nicht einmal bei dieser außerordentlichen Begebenheit für seine Pflicht gehalten, in das innerste Wesen, in die genaueste Beschaffenheit deßen was ihm begegnet war, hineinzugehen. Nein er sagt, er wäre entzükt gewesen, er hielt sich an die Wirkung ohne die Ursach ergründen zu wollen, an die feste Überzeugung, es sei der Herr gewesen, der ihn gewarnt. Dem folgte er; wie es aber damit zugegangen sei, darum kümmerte er sich nicht. Und, m. g. F., je mehr wir glauben an die in dem ganzen Zusammenhange des Lebens | erscheinenden Wirkungen des Herrn, um desto weniger können wir die Neigung haben, das Außerordentliche und Wunderbare, was doch nur gering sein kann der Zahl nach, in seinem Ursprung und Zusammenhang begreifen zu wollen. Aber darauf sollen wir denken, nichts was uns von dem Herrn kommt im Innern unsers Herzens zu übersehen oder zu verkennen, damit nicht irgend etwas in uns vergeblich sei. Denn anders behandeln wir jede Erwekung des Gemüths, jedes gläubige Gefühl, das uns bewegt, wenn wir glauben es ist vom Herrn – es ist die stille Frucht der 18 menschlichen] menschliche 9–14 Vgl. Apg 22,17–21

27 hineinzugehen] Kj hineinzusehen

23–24 Vgl. 2Kor 12,3

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Gemeinschaft der Seele mit ihm, es ist die Wirkung seiner Nähe und seiner Kraft, als wenn wir dasselbe halten wollen für eins von den unmerklichen Spielen, welche die menschliche Seele mit sich selbst treibt, und die erfolgen aus äußern Anregungen. Und nicht nur können wir auf diese Weise dahin kommen, recht wirksam sein zu laßen | was der Herr von seiner Gnade uns mitteilt, sondern auch unsern Glauben an seine Treue gegen jeden Einzelnen, an die Art, wie er sich der Seelen annimmt, an den Zusammenhang des Geistes, der zwischen uns und ihm Statt findet, diesen Glauben können wir nur festhalten, indem wir ihm geben was das Seine ist, indem wir ihm die Ehre geben für alles was unsern Verstand erleuchtet über das was zu seinem Werk auf Erden gehört, was uns stärkt und belebt im Gemüth seinen Willen zu vollbringen, was uns den Zusammenhang der Sünde und der Gnade, und die Gemeinschaft des Menschen mit Gott in unserm Innern verklärt. Denn das kann nicht anders als von ihm kommen sei es mittelbar oder unmittelbar, für das Seine müßen wir alles erkennen was Wahrheit und Leben in uns ist, für das Seine alles was uns einen Schritt weiter führt auf dem Wege, den er uns gezeigt hat. Und so, m. g. F., | so werden wir, mögen wir in das Weite hineinsehen, oder in den kleinen aber unergründlich tiefen Raum des Herzens schauen, wir werden ausrufen müßen „o welch eine Fülle des Reichthums und der Gnade, der Kraft und der Herrlichkeit, welch eine Fülle des geistigen Segens kommt von dem, der verheißen hat, daß, wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen, er mitten unter ihnen sein wolle, der gesagt hat, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Amen.

[Liederblatt vom 30. April 1820:] Am Sonntage Cantate 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Herr Christ der ein’ge etc. [1.] Du Freude der Erlösten, / Mein Jesu komm zu mir! / Komm den der seufzt zu trösten, / Komm mich verlangt nach dir. / Komm hilf, errett’, erquicke, / Begnadige, beglücke, / Erfreu und segne mich. // [2.] Mit brünstigem Verlangen / Sehn ich mich Tag und Nacht, / Dich, Theurer, zu empfangen, / Dich der mich selig macht! / Ich suche dich mit Schmerzen, / Die Ruh entflieht dem Herzen, / Wenn du nicht drinnen wohnst. // [3.] Du kennst ja mein Vertrauen, / Ach warum trittst du fern! / Wann werd ich dich doch schauen, / Dich meinen besten Herrn? / Du mußt dich mein erbarmen, / Denn du hast ja mich Armen / Mit deinem Blut erkauft. // [4.] Ach laß mich dich erblicken / 20–21 Vgl. auch Röm 11,33

22–23 Vgl. Mt 18,20

23–24 Mt 28,20

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In deiner Freundlichkeit, / So werd’ ich mich erquicken, / So wird mein Herz erfreut! / Wenn ich dich bis zum Grabe / Zu meinem Troste habe, / Hat meine Seele gnug. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meiner Seele Leben etc. [1.] Trauernd und mit bangem Sehnen, / Wandelt dort ein Jünger-Paar, / Jesu fließen ihre Thränen, / Der ihr Freund und Lehrer war. / Doch den sie als todt beklagen, / Der, eh sie’s zu hoffen wagen, / Naht sich als Begleiter schon; / Schnell war nun ihr Gram entflohn. // [2.] Ach es gehn noch manche Herzen / Ihrem stillen Kummer nach, / Sie bejammern und verschmerzen / Ihre Noth, ihr Ungemach. / Manches wandelt ganz alleine, / Daß es nur zur Gnüge weine, / Aber Jesu freundlich Wort / Scheuchet jeden Kummer fort. // [3.] Oft schon hab ich es empfunden, / Jesus läßt mich nie allein, / In den trüben Unglücksstunden / Stellt er mir zum Trost sich ein. / Wenn ich traurig mich beschwere, / Als ob er zu ferne wäre, / O so ist er mir schon nah, / Und mit seiner Hülfe da. // [4.] Treuster Freund von allen Freunden / Bleibe ferner noch bei mir! / Sucht die Welt mich anzufeinden, / O so wend’ ich mich zu Dir. / In dir werd’ ich Ruhe finden, / Auf dein Wort die Hofnung gründen, / Wer die Thränensaat gestreut, / Erndte einst die Seligkeit. // [5.] Tröst’ auch andre fromme Seelen, / Wenn sie tief in Sorgen stehn, / Wenn sie in verborgne Hölen, / Kammern, Feld und Wälder gehn. / Wenn sie von der Welt sich trennen, / Daß sie satt sich weinen können, / Dann sprich ihrer Seele zu, / Zagende, was trauerst du. // (Müller) Nach der Predigt. – Mel. Ach was soll ich etc. [1.] Wo in eines Menschen Herzen / Jesus ist gezogen ein, / Da kann nichts als Leben sein, / Da verschwinden alle Schmerzen, / Rafft ihn gleich hinweg der Tod, / O so lebt er doch in Gott. // [2.] Jesu hilf mir überwinden, / Wenn mich Kreuz und Unglück plagt, / Wenn mich mein Gewissen nagt, / Wenn mich drückt die Last der Sünden! / Und wenn rückt der Tod herbei, / Jesu du mein Helfer sei. //

Am 7. Mai 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Rogate, 9 Uhr St. Nikolai-Kirche zu Berlin Joh 16,23–30 (Sonntagsperikope) Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 304–320 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 307–320; 21844, S. 357–370 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 251–262 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine Tageskalender: Vertretung für Ribbeck

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Ueber die Erhörung des Gebetes im Namen Jesu. M. a. Fr., daß das allgemeine menschliche Gefühl der Abhängigkeit von einem höchsten Wesen, ein Gefühl, welches sich nicht in uns verlieren kann, ohne daß zugleich das Ausgezeichnete und Edle in unserer Natur untergehe, daß dieses Gefühl sich äußert in einer Sehnsucht des Herzens zu diesem höchsten Wesen, indem wir eilen, für Alles, was uns fehlt, eben weil wir uns abhängig fühlen, Hülfe bei ihm zu suchen, und alle Noth, der wir selbst kein Ende zu machen wissen, ihm im Gebet vorzutragen: das ist die allgemeine Erfahrung überall, wo sich der Mensch aus der ersten Rohheit erhoben hat. Auf der einen Seite nun fühlen wir uns hieran Alle unter einander gleich, wie wir alle Brüder sind in der menschlichen Schwachheit, so auch darin, daß wir Hülfe suchen von Oben herab, von woher sie allein kommen kann; auf der andern Seite aber, m. g. Fr., sind wir uns bewußt, daß wir als Christen uns hierin noch eines besonderen Vorzuges erfreuen. Denn wie wir durch Christum zur Erkenntniß des Vaters in einem höheren Sinne gelangt und aus seinem Geiste auf’s Neue geboren, auch gern als durch ihn Erlöste in einem engeren Sinn in der Gemeinschaft des himmlischen Vaters stehn: so müssen wir auch als solche ein eigenes und unverlierbares Kindesrecht an ihn haben. Und in Beziehung auf unser Gebet finden wir dies in der Erhörung desselben, welche der Erlöser uns verheißen hat. Aber, wie es auch mit den irdi0 Vertretung für Konrad Gottlieb Ribbeck, 1783–1860, von 1805–1826 Propst an St. Nicolai

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schen Vorzügen eines Menschen vor Anderen zu gehen pflegt, daß sie gar verschiedener Deutung | fähig sind, und daß eben dadurch Mißverstand und Mißbrauch entsteht, so ist es auch gegangen mit diesem wichtigen geistigen Vorrechte der Christen, und wir finden auch darüber Mißverstand und Mißbrauch auf der einen Seite, so wie frevelnde und ungläubige Geringschätzung auf der andern. Um nun Beides zu vermeiden, laßt uns auf die eigenen Worte, auf die unmittelbare Verheißung des Erlösers in dieser Hinsicht zurückgehen. Dazu giebt uns das heutige Evangelium eine erwünschte Gelegenheit, und wir wollen sie um so mehr zur Belehrung über diesen wichtigen Gegenstand benutzen, als wir in dieser Woche besonders aufgefordert sind zu gemeinschaftlichem Gebet und Fürbitte.

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Das, m. g. Fr., ist unverkennbar der Mittelpunkt dieser ganzen Rede des Erlösers: „so ihr bitten werdet in meinem Namen, so wird euch der Vater geben.“ Diese Zuversicht, daß der Vater ihr Gebet erhören wird, will er in seinen Jüngern erwecken und befestigen. Aber eben, wenn es nun darauf ankommt, zu bestimmen, welche Bedeutung und welchen Werth diese Verheißung des Erlösers haben kann, da ihr, wenn man sie auf die gewöhnliche Weise buchstäblich versteht, eine nur zu häufige Erfahrung zu widersprechen scheint, und wie weit wir sie uns also aneignen können, ohne in gefährliche Täuschungen zu gerathen: so finden wir uns in Verlegenheit. Doch dürfen wir uns nur an die Worte des Erlösers selbst halten, deren Zusammenhang aber, so verständlich auch alles Einzelne zu seyn scheint, doch nicht ganz leicht zu übersehen ist, und uns vielleicht bei näherer Betrachtung manches Entscheidende an die Hand geben wird. Um also uns die Frage zu beantworten: was denn es mit dieser verheißenen Erhörung unseres Gebetes für eine Bewandniß habe? so laßt uns Zuerst sehen, an welche Be|dingungen der Erlöser seine Verheißung knüpft, und dann Zweitens auch auf den Inhalt dieser Verheißung selbst genauer Acht geben. Zu dieser Betrachtung wolle uns Gott in seine Wahrheit leiten, durch den Geist der Wahrheit. I. Wenn wir zuerst, m. g. Fr., fragen: an welche Bedingungen knüpft denn der Erlöser die Verheißung, daß der Vater uns geben werde, was wir bitten? so ist das, was einem Jeden zuerst aus den verlesenen Worten einfällt, dieses: „so ihr bitten werdet in meinem Namen.“ Und dieses freilich ist die erste Bedingung. Es liegt aber außer dem, wie13 16, 23–30] 16, 24–30

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wohl minder deutlich, in der Rede des Erlösers noch etwas Anderes, was jedoch wieder mit diesem Bitten in seinem Namen auf’s Genaueste zusammenhängt. Denn indem der Erlöser auf der einen Seite sagt: „ich sage nicht, daß ich den Vater für euch bitten will, denn der Vater selbst hat euch lieb, darum, daß ihr mich liebet und glaubet, daß ich von Gott ausgegangen bin,“ so ist offenbar, daß er eben die Erfüllung unserer Bitten, die ja vom Vater abhängt, auf die Liebe der Jünger zu ihm, und auf den Glauben, daß er von Gott ausgegangen sey, gründet. Wenn er aber auf der andern Seite sagt: „bisher habt ihr noch nichts gebeten in meinem Namen,“ so sollte uns das Wunder nehmen, wenn er damit sagen wollte: bisher auch hätten sie ihn noch nicht geliebt, und den Glauben noch nicht gehabt, daß er von Gott ausgegangen sey. Denn diesen Glauben hatte er ihnen schon früher bezeugt, und wir lesen es in allen Büchern der evangelischen Geschichte, daß, indem noch Andere den Erlöser nur für einen erstandenen Propheten hielten, seine Jünger schon glaubten und bekannten: er sey der, der da kommen solle, der Sohn des Hochgelobten. Aber wir finden in den Worten unseres Textes, daß die Jünger selbst sagen: „nun glauben wir, daß du von Gott ausgegangen bist“: und es muß also außer jenem allgemeinen noch ein besonderer Glaube | seyn, an welchen der Erlöser eben die Erhörung unserer Bitten knüpft. Und wenn wir fragen: worauf beziehen sich denn diese Worte der Jünger: „nun glauben wir, daß du von Gott ausgegangen bist“? so ist es das, was der Erlöser vorher sagt: „ich bin ausgegangen vom Vater, und gekommen in die Welt; wiederum verlasse ich die Welt, und gehe zum Vater.“ Es ist also der reinste Glaube an seinen Ausgang vom Vater, und an seinen Hingang zum Vater, der Glaube, daß er in die Welt gekommen sey, und daß er die Welt wiederum verlassen werde, der erst durch diese Rede des Erlösers den Jüngern vollkommen deutlich und hell wurde in ihrer Seele. Und indem der Erlöser sagt: „wenn ich euch frei heraus verkündigen werde von meinem Vater, dann werdet ihr bitten in meinem Namen!“ so meint er, daß erst, indem sie diesen Glauben in ihrer Seele lebendig aufgefaßt hätten, sie geschickt wären, in seinem Namen zu bitten. Und diesen Zusammenhang, m. g. Fr., laßt uns eben jetzt näher erwägen. Lange schon hatten die Jünger des Herrn an ihn geglaubt, und ihn für den gehalten, der da kommen sollte, und den Gott zum Erlöser der Welt bestimmt habe; lange auch schon hatte er sie deßhalb selig gepriesen, und sie waren es auch wirklich gewesen in dem Besitze 19 bist“:] bist:“ 14–17 Vgl. Mt 16,14–16; Mk 8,28–29; Lk 9,19–20; Joh 6,69

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dieses Glaubens, der noch jetzt mit einer besonderen Gewalt die Herzen aller Gläubigen empor zum Himmel wendet. Und doch sagt der Erlöser: noch hätten sie nichts gebeten in seinem Namen. Das kommt wohl daher, m. g. Fr., – geglaubt hatten die Jünger an ihn, als an den, der von Gott ausgegangen sey, und geliebt hatten sie ihn auch, wie sie denn selbst sich dieses von ihm nicht widersprochene Zeugniß gaben: sie hatten Alles verlaßen, um ihm anzuhangen. Aber dieser Glaube war nur gewesen der empfangende Glaube ihrer Seelen, mit welchem sie die Worte der Weisheit und der Kraft aus seinem Munde vernahmen, und sich von ihm anleiten ließen zu einem neuen Leben. Aber der handelnde Glaube in seinem Namen, der durch die Liebe zu ihm thätige Glaube, in welchem sie | bestimmt waren, das große Werk der Erlösung, das er gegründet hatte, in der Welt zu fördern, dessen waren sie sich noch nicht bewußt geworden, und hatten noch nicht Gelegenheit genug gehabt, ihn zu beweisen, und sich in ihm zu üben. Das war der Glaube an den Erlöser, der die Welt wieder verlassen sollte, und zum Vater zurückkehren, der ihnen noch fehlte. Denn wenn er von seinem Leiden und seinem Tode redete, so verstanden sie es nicht; und wenn sie es auch verstanden, so meinten sie dann doch, er müsse bald wieder zurückkehren auf die Erde, weil sie meinten, er habe Irdisches persönlich darauf zu stiften und zu ordnen. Aber der Glaube, daß er die Welt wieder verlassen und zu seinem Vater gehen werde, war zugleich der Glaube daran, daß alle seine Wohlthaten und Gaben geistiger Natur seyn, daß, nachdem er in den Himmel zurückkehrt, er auch nur Himmlisches auf Erden wirke, daß sein Reich nicht aus Leiblichem bestehe, und nicht von dieser Welt sey, und darum auch nichts enthalte, was nur durch seine leibliche Gegenwart geschaffen und erhalten werden könne. Indem sie nun, als er es ihnen frei heraus verkündigte, zugleich sagten: nun glauben wir, daß du, wenn gleich im Begriff die Welt zu verlassen, doch vom Vater ausgegangen bist, – so war dieser Glaube Eins mit der Liebe zu ihm, die sie drang, in seinem Namen die Menschen zu bitten: laßt euch doch versöhnen mit Gott! und überhaupt sein geistiges Reich auf Erden zu fördern. Dadurch nun hatten sie die eine Bedingung der großen Verheißung, die er ihnen in den Worten unseres Textes gegeben, erfüllt, und sie waren nun geschickt, in seinem Namen zu bitten, welches die zweite Bedingung ist, die der Erlöser seiner Verheißung voranstellt. Was das aber heiße, in eines Namen bitten, das, m. g. Fr., können wir ganz einfach darnach beurtheilen, was wir überall im menschli24 den] dem

30 bist] ist,

32 Vgl. 2Kor 5,20

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chen Leben darunter verstehen, wenn wir etwas im Namen eines Anderen thun. Nämlich nur das thun wir im Namen eines Anderen, was wir in seinen Angelegenheiten | thun, und auch hiervon wiederum nur das, was wir in seinem besonderen Auftrage entweder thun, oder wozu wir seinen Auftrag wenigstens voraussetzen können. Nur so, und in keinem andern Fall wird Jemand sagen, daß er etwas im Namen eines Andern thut. Und gehen wir nun zurück in das ganze bisherige Verhältniß der Jünger zu unserm Herrn und Erlöser, so werden wir ihm auch darin Recht geben müssen, wenn er sagt: „bisher habt ihr noch nichts gebeten in meinem Namen.“ Denn wenn wir fragen: welches war denn seine große Angelegenheit? so können wir uns den Bescheid mit seinen eigenen Worten geben: „ich bin gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ Wenn aber auch eben dieses ihnen schon am Herzen gelegen hatte, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, so konnten sie dennoch unmittelbar nicht glauben, daß sie, in dieser Angelegenheit betend, auch in seinem Auftrage bitten würden, so lange er ihnen noch keinen Auftrag gegeben hatte, weil er selbst noch handelte, und er seine Auserwählten nur um sich versammelt hielt, damit sie nach und nach lernen möchten, und sich ein Geschick erwerben für den Dienst in seinem Reiche, welchen er ihnen angewiesen hatte, in welchen sie aber erst nach seiner Entfernung von der Erde völlig eintreten sollten. Nur wenn sie in jener großen Angelegenheit der Beseligung der Menschen so baten, wie er selbst, dann konnten sie glauben, auch in seinem Auftrage zu beten, weil sie den Auftrag wenigstens, sich so zu seinem und ihrem himmlischen Vater zu wenden, wie er selbst es that, immer voraussetzen konnten. Aber, m. g. Fr., wie hat der Erlöser gebetet? Als die Stunde seines Leidens herannahete, betete er: „Vater, wenn es möglich ist, so gehe dieser Kelch von mir; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Und als einer seiner Jünger, frühere Worte des Meisters mißverstehend, Gewalt brauchen wollte gegen diejenigen, welche gekommen waren, ihn gefangen zu nehmen, sagte der Herr: ,,weißt du denn nicht, daß ich meinen Vater bitten könnte, daß er mir sendete mehr denn zwölf Legionen Engel?“ Aber so bat er nicht, sondern wartete nur, was sich zeigen würde als | der heilige Wille seines Vaters über ihn in dieser entscheidenden Stunde. Aber ohne alle Einschränkung hatte er kurz zuvor für seine Jünger gebetet: „heilige sie in deiner Wahrheit.“ – Das ist seine Art, und so, rein in der großen Angelegen28 Leidens herannahete] Leiden sherannahete 12–13 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10 28–30 Mt 26,39; vgl. Mk 14,36; Lk 22,42 34 Mt 26,53 37–38 Vgl. Joh 17,17

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heit, das Verlorene zu suchen und selig zu machen, und die verirrten Schaafe zu Einer Heerde zu sammeln, in solcher reinen Ergebung des Herzens in den Willen Gottes in Ansehung alles dessen, wovon sie nicht mit der vollkommensten Ueberzeugung sagen könnten: es gehöre wesentlich zu jenem Suchen und Seligmachen des Verlorenen, – so, m. g. Fr., hatten sie noch nicht gebetet. Sondern es schwebte ihnen noch immer mit und neben jener großen Angelegenheit der Beseligung der Menschen etwas Irdisches vor. Bald hatten sie Lust, wo die Menschen den Herrn nicht aufnehmen wollten, Feuer vom Himmel regnen zu lassen, um sie zu verzehren, bald hätten sie gern Einem gewehrt, der etwas im Namen des Herrn that, und ihm doch nicht mit ihnen folgte; und immer mußten sie erst belehrt werden von unserm Herrn, daß dergleichen Alles theils nicht zu seiner Angelegenheit gehöre, theils aber auch nicht in seinem Geiste und nach seiner Art und Weise sey, indem nicht mit irdischer Gewalt das Geistige könne gefördert werden, sondern Geistiges auch nur geistig wolle gerichtet und gehandhabt seyn. Nun sie aber recht in sich aufnahmen, daß der Herr vom Vater gekommen, auch wieder zum Vater gehe, und sie zurück lasse, ohne andere Mittel als seinen Geist, – nun wußten sie auch, wie sie für seine Sache, und in seinem Geist zu handeln sowohl, als zu beten hatten. Und dieses demnach, m. g. Fr., sind die Bedingungen, an welche der Herr die Verheißung geknüpft hat, die er gewiß nicht nur jenen Jüngern, sondern, wie alles Gute und Schöne, was aus der reichen Fülle seiner Gnade kommt, auch allen denen gegeben hat, die durch ihr Wort an ihn gläubig geworden sind. II. Haben wir nun diese recht beachtet, so werden wir uns die zweite Frage: welches denn der wahre Inhalt und das rechte | Maß der Erhörung sey, die der Herr den Seinigen verheißen hat? so schwierig sie auch zu seyn scheint, doch leicht beantworten können. Das Erste und Nächste, was sich in den Worten des Erlösers Jedem von selbst als Antwort auf diese Frage darbietet, ist nun freilich: „wenn ihr bitten werdet in meinem Namen, so wird der Vater euch geben.“ Aber es gehört dazu noch ein Zweites, was der Erlöser hinzufügt: „und ihr werdet nehmen, daß eure Freude vollkommen sey.“ Auf Beides, nach seinem natürlichen Zusammenhange, laßt uns nun in dem zweiten Theile unserer Betrachtung zurückgehen. Also dabei bleibt es, m. g. Fr., wie der Erlöser sagt: „was ihr den Vater bitten werdet in meinem Namen, das wird er euch geben.“ Und an einem solchen Worte des Sohnes Gottes wollen wir nicht auf eine 8–10 Vgl. Lk 9,53–55

10–12 Vgl. Lk 9,49–50

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kümmerliche Weise deuteln, um es so weit zu beschränken, bis es sich mit dem gewöhnlichen Verstande, und mit den alltäglichen Erfahrungen reimen läßt, sondern so einfach, wie er es gesprochen hat, so wollen wir es annehmen, und dessen versichert seyn, was es auch sey, so wir den Vater nur bitten in seinem Namen, so wird er es uns geben. Nur müssen wir nicht verlangen, daß diese Verheißung auch dann in Erfüllung gehen soll, wenn wir nicht in seinem Namen gebetet haben, und dürfen nie vergessen, was zu dieser Bedingung gehöre, an welche der Erlöser sie so bestimmt geknüpft hat. Willst du also, daß dein Gebet nicht unerfüllt von Gott zurückkommen soll, willst du das Tröstliche erfahren: „so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er es euch geben“: ja, du kannst es, aber erst erhebe dein Herz über alle irdischen Wünsche, die du nicht im Namen Jesu vortragen kannst. Denn nur die Seele voll Glaubens an Den, der vom Vater ausgegangen, und zum Vater zurückgekehrt ist, nur die Seele voll des durch die Liebe thätigen Glaubens, die sein geistiges Reich auf Erden fördern will, und nichts Anderes begehrt als dieses, nur die kann getrost zu Gott dem ewigen | Vater in dem Namen des Sohnes beten. – Hast du aber deine Seele von allen irdischen Bestrebungen gereinigt; kannst du dir sagen: in diesem Augenblick, wo ich mein gläubiges Gebet vor den Thron Gottes bringe, habe ich mich selbst und die Welt verläugnet, ich suche nichts Irdisches, weder für mich, noch für meine Brüder, sondern allein das liegt mir am Herzen, daß das Werk des Herrn, welcher gekommen ist, zu suchen und selig zu machen, was verloren war, immer mehr in Erfüllung gehe, und das allein ist der Gegenstand meines Gebetes, daß sein Reich immer mehr gebaut werden möge, und immer schöner erblühe auf Erden, und daß eben dadurch, daß die Menschen ganz ihr Herz dem Sohne Gottes hingeben, auch der heilige Wille des Vaters in der Welt geschehe; kannst du dir das sagen, und denkest nun, aber damit dies geschehen könne, müssen ja die Boten des Friedens sich frei bewegen, muß ja das Wort, durch dessen Predigt der Glaube kommt, ungehindert und ungehemmt in der Welt erschallen können, und die dunkeln bösen Mächte, die sich hie und da dagegen auflehnen im Innern eines Jeden, und im gemeinsamen Leben, müssen bezwungen werden, wenn ich also darum, und um Alles, was dazu gehört, den Vater bitte, so wird er geben, was ich bitte: so entgegne ich: Ja, wenn du nur ganz sicher bist, daß deinem Verlangen nach Beförderung des Reiches Gottes nichts Fremdartiges, nichts für 12 geben“:] geben:“ 32–33 Vgl. Röm 10,17

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menschliche Beimischungen und Zusätze Partheiisches und Einseitiges, daß deinem Wunsche, alles Böse und Finstere bezwungen zu sehen, nichts Leidenschaftliches, kein persönlicher Widerwille nicht sowohl gegen dieses oder jenes Böse, als vielmehr gegen diese oder jene Bösen, beigemischt ist, – wenn du dir dies Zeugniß geben kannst, so wird der Vater geben, was du bittest, wenn nur noch das Eine hinzukommt, daß du nämlich auch gewiß weißt, das, was du bittest, gehöre nothwendig zur Förderung des Reiches Gottes. Bist du darüber gewisser, als der Erlöser über das ihm unmittelbar Bevorstehende in dem Augenblick war, als er sagte: „Vater, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe,“ – dann bete immerhin ganz unbedingt, und was du betest, | das wird dir der Vater geben, so gewiß als es der Sohn verheißen hat. Aber, m. g. Fr., wie selten sind wir wohl in dem Falle, daß wir mit einer solchen Gewißheit unser Gebet vor Gott bringen können! Wie sollten wir Kurzsichtige noch weit mehr, als die Jünger des Herrn, in deren Tagen das Reich Gottes noch klein war in seinem Umfange, und auf Wenige beschränkt, so daß auch der schlichte, aber von dem göttlichen Geist erleuchtete Verstand leicht übersehen konnte, was ihm unentbehrlich sey zu seinem Heile, und was hingegen seiner Verbreitung nothwendig nachtheilig werden müsse, wie sollten wir Kurzsichtige, in deren Tagen das Reich Gottes so weit verbreitet ist, daß wir wenig oder gar nicht berechnen können, was ihm heilsam ist in dieser oder jener Beziehung, oder was seinen Fortschritt hemmen muß, was ihm hier zum Schaden gereicht, und was dort die Segnungen der göttlichen Gnade herbeiführt, wie sollten wir auch bei unserm reinsten und geistigsten Gebet immer die Worte des Erlösers hinzufügen: „Herr, doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Wer diese gesprochen in seinem Herzen, der wird sich nie beklagen über nicht erhörtes Gebet; aber wie viel wird nicht unter uns über Mangel an Erhörung geklagt ungerechter und grundloser Weise, weil das Gebet gar nicht ein solches war, das die Verheißung des Erlösers dabei hätte in Anspruch genommen werden können! Jedoch nicht nur dies, m. g. Fr., sondern auch wie viel nichtiges und eitles Rühmen von erhörtem Gebet wird nicht selten unter uns vernommen! Wie wenig scheint uns das, m. g. Fr., mit der Verheißung des Erlösers zusammenzuhängen, wenn sich Einer rühmt, er habe gebetet um das Leben oder die Gesundheit eines geliebten Angehörigen, und sey erhört worden. Können wir behaupten, das Reich Gottes werde gefährdet, wenn ein Einzelner, sey es auch ein noch so frommer Christ, stirbt oder erkrankt? Wäre es nicht frevelhaft, hierüber eine Zuversicht, die Einer im voraus haben wollte, zu vergleichen mit der 10–11 Lk 22,42

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Gewißheit Christi am Grabe des Lazarus, da doch Keiner von uns sagen kann zu | Gott: ich weiß, du hörest mich allezeit,1 und Keiner von uns hinzutreten und sprechen: Lazarus, komm heraus, – so daß es unmittelbar geschieht? Oder, wenn gar in irgend einer armseligen zeitlichen Noth, in irgend einer kleinlichen Verwickelung weltlicher Angelegenheiten um Auskunft und Hülfe ist gebetet worden, und die Gewährung wird dann mit Freuden als ein Beweis eines festen Glaubens, und als Erfüllung jener Zusage unseres Herrn dargestellt! Als ob Christus selbst nicht dergleichen Alles ertragen hätte, ohne um etwas zu bitten; als ob irgend Einer behaupten könnte, daß nicht die fortdauernde Noth und Verwickelung ihm eben so gut hätte förderlich seyn müssen zur Heiligung! Darum möchte ich zu solchen immer sagen: „freuet euch immerhin, daß euch geworden ist, was euer Herz begehrte, und dankt Gott und seiner gnädigen Führung auch bei solcher Gelegenheit. Aber glaubt nicht, daß ihr euer Gebet, wie eifrig es auch gewesen seyn mag, als Muster dessen hinstellen könnt, welches in dem Namen des Herrn vor Gott gebracht wird. Denn da dieser selbst nicht um irdische Dinge gebeten, sondern diese sämmtlich seinem Vater und dessen göttlichen Willen anheim gestellt hat: so kann auch nicht in seinem Namen um Irdisches gebeten werden. Nachdem euch also der Herr gewährt hat, was ihr wünscht: so geht bußfertig in euch, und bekennend, daß ihr nicht in Jesu Namen gebetet hattet, reinigt eure Seele, damit ihr sowohl künftig ein wohlgefälligeres Gebet vor Gottes Thron bringen könnet, als auch, wenn ihr ein andermal wieder in irdischer Noth, oder in schwierigen weltlichen Verwickelungen und Bedrängnissen eures Lebens seufzend vor ihn tretet, ihr dann eben so voll Dankes von ihm gehen möget, wenn er euch nicht gewährt, was ihr gebeten habt, weil ihr dann wisset, daß nur derjenige, der im Namen des Sohnes Gottes bittet, empfangen wird, um was er gebeten.“ | So kann es aber freilich Manchen scheinen, als sey diese große Verheißung, die der Erlöser seinen Jüngern gegeben, genauer betrachtet, wenig oder gar nichts. Wenn euch aber das betrübt, so bedenkt doch nur: könnten wir uns wohl freuen, dürften wir es, wenn die Verheißung Christi, von dieser Seite angesehen, mehr wäre? Gesetzt nun, es wäre in uns, frei von aller Beimischung weltlicher Zwecke und Neigungen, eine Ueberzeugung entstanden, als ob irgend ein einzelnes 1

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30 gebeten.“] gebeten. 3 Joh 11,43

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Ereigniß im Staat, in der Kirche, im häuslichen Leben wesentlich nothwendig sey, wenn das Reich Gottes oder wenigstens ein einzelner Theil desselben fortbestehen solle, und wir wollten nun mit dieser Gewißheit vor Gott treten in Jesu Namen: würde unsere Gewissheit wohl feststehen, wenn wir uns selbst in diesem Augenblick fragten, ob wir es wohl für völlig unmöglich hielten, daß ein anderer eben so treuer und redlicher Jünger des Herrn über denselben Gegenstand eine eben so feste aber entgegengesetzte Ueberzeugung hätte? Können wir nun dieses unmöglich läugnen, wo bliebe dann die brüderliche Liebe, wenn wir erhört zu werden wünschen, damit der Andere nicht erhört werde? Und wenn noch viel gewisser dieses ist, daß das, was Einer mit der größten Angelegentlichkeit zum Gegenstande seines Gebetes macht, vielen andern Christen unerheblich erscheint und gleichgültig: woher sollte uns denn, bei der so wohlthätigen Gemeinsamkeit des Lebens, bei der so tief gefühlten Einheit des leitenden und vertretenden Geistes, die Zuversicht kommen für unser Gebet, wenn wir nicht einmal wissen, daß unser Flehen unterstützt wird von dem unserer Brüder, und daß sie mit uns eines geworden sind im Namen des Herrn? So laßt uns denn gern bekennen, daß ein solches Beten uns nicht geziemen würde! Ja, laßt uns demüthig uns verwahren, daß wir niemals eine so feste Ueberzeugung haben können über irgend etwas in dem uns so tief verborgenen und so unbegreiflich verschlungenen Zusammenhange der menschlichen Dinge in der Welt, welcher Verlauf derselben dem Reiche Gottes heilsam und ersprießlich sey oder nicht. Fehlt es aber deßhalb der Verheißung des Erlösers an einem würdigen | Gegenstande? Fehlt es uns an Bitten über die wir immer und augenblicklich einig werden können im Namen des Herrn? Giebt es nichts, was unbezweifelt nothwendig ist, damit das Verlorene gefunden werde und selig gemacht? Darum also dürfen und sollen wir immer mit der größten Zuversicht bitten: um die Befestigung des Herzens der Gläubigen im Glauben und in der Liebe, um die Erleuchtung aller derer, die noch wandeln in der Finsterniß dieser Welt, um günstigen Lauf für die lebendige Kraft des göttlichen Wortes, um gutes Gelingen für alle Veranstaltungen, durch welche die Gewalt der Sünde wahrhaft gebrochen wird, damit der Name des Erlösers immer mehr unter uns verherrlicht werde! Laßt uns aber auch dabei nie vergessen, daß der Herr selbst sagt: Zeit und Stunde habe sich der Vater im Himmel vorbehalten, – damit uns niemals einfalle, ihm Zeit und Stunde im Namen des Herrn gleichsam vorschreiben zu wollen. Das 20 nicht] niche 37–38 Vgl. Apg 1,7

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ist dann das Gebet, wovon wir gewiß seyn können, der Vater werde uns geben, was wir so gebeten haben. Was aber hierüber hinausgeht, das vermögen wir nicht zu beurtheilen, und dürfen uns also auch nicht rühmen, daß wir deßhalb mit fester Zuversicht vor Gott treten, und im Namen dessen darum bitten dürften, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Aber damit die Verheißung des Erlösers uns auch in dieser Beziehung nicht geringer erscheine, als sie ist: so laßt uns noch auf das Wort achten: „ihr werdet nehmen, damit eure Freude vollkommen sey.“ Hört, m. g. Fr., welch ein freundliches und liebevolles Wort des Erlösers! Das ist seine Absicht, daß unsere Freude vollkommen sey! Eure Traurigkeit und euer Weinen soll in Freude verkehrt werden; alles Leid soll verschwinden aus seinem Reiche, – das ist sein heiliger Wille; und bitten wir in seinem Namen, wie es auch mit dem Wunsche werde, der ursprünglich unser Gebet veranlaßte, das werden wir immer nehmen, daß unsre Freude vollkommen sey. Denn, m. g. Fr., was uns auch am Herzen liege, worüber unser Ge|müth in bangen Zweifeln befangen ist, indem wir abwechselnd bald diesen bald jenen Ausgang hoffen und fürchten, wissen wir einmal, was der gnädige und wohlgefällige Wille Gottes auch in dieser Hinsicht gewesen ist, muß dann nicht jede Bangigkeit verschwinden aus dem Herzen? muß dann nicht in das Herz eine selige Ruhe, und ein göttlicher Friede einkehren? Gewiß ja in ein Herz, welches weiß, daß der Herr Alles wohl macht, und daß denen, die ihn lieben, Alles zum Besten gereichen muß, weil der Herr in Beziehung auf sie keinen anderen Willen hat, als ihre Heiligung; gewiß in ein Herz, welches weiß, daß Gott die Liebe ist, und aus welchem die Liebe, durch die der Glaube thätig ist, alle Furcht vertrieben hat! Lebt nicht der Mensch von einem jeden Worte, das aus dem Munde Gottes geht? Sollen wir uns nicht, m. g. Fr., und können wir uns nicht an jedem Willen Gottes erfreuen und stärken, weil jeder ein gnädiger und wohlthätiger ist? Wohlan, haben wir gebetet um irgend etwas in des Herrn Namen, und mit frommer Scheu in seinem Namen auch sein Wort: „doch nicht mein, sondern dein Wille geschehe“ hinzugefügt, und der Vater hat uns das nicht gegeben, worum wir ihn baten, sondern nur dieses Letzte, daß sein Wille geschehen ist, und so nicht den Anfang, sondern nur das Ende unsers Gebetes erhört: – o, das erhalten wir gewiß auch hierdurch, daß unsere Freude vollkommen ist. Denn, m. g. Fr., nur so 35 worum] warum 5–6 Mt 28,18 26–27 1Joh 4,8.16 27–28 Vgl. Gal 5,6; 1Joh 4,18 Mt 4,4 (Zitat aus Dtn 8,3) 33–34 Lk 22,42

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lange vermögen die irdischen Dinge das Herz des Frommen zu beunruhigen, es in störender Spannung zu erhalten, oder mit Zweifeln zu quälen, und mit Wehmuth zu erfüllen, nur so lange, als er sie nicht in Beziehung auf den betrachtet, der die Liebe ist. Eben darum vorzüglich sollen wir über Alles, was uns wichtig ist, getrosten Muthes Gebet und Fürbitte laut werden lassen vor Gott im Namen des Herrn, das heißt mit seinem Zusatze: „nicht mein, sondern dein Wille geschehe.“ Denn dadurch wird das Herz im voraus wohl bereitet und aufgeregt, den Ausgang, wie er auch falle, zu betrachten als eine Gabe von Gott, und als ein Werk seines heiligen Willens. Wenn sich dann in Folge dieses Gebetes in | unserer Seele alle Wehmuth und Traurigkeit über die Vereitelung unserer wohlgemeinten Wünsche in dem Gefühle niederschlägt, so sey es der wohlgefällige Wille des freundlichen, liebevollen Vaters, von dem lauter gute Gaben kommen, und er habe uns eben deßhalb nur das Beste, also wenn auch nicht dasselbe, doch gewiß mehr gegeben, als wir baten und begehrten, weil wir wahrhaft im Namen seines Sohnes gebeten haben: dann empfangen wir dieses köstliche, daß unsere Freude vollkommen sey. Und diese Frucht des Gebetes, daß wir nehmen, daß unsere Freude vollkommen sey, die, m. g. Fr., hat der Erlöser Allen, die in seinem Namen bitten, weil sie glauben, daß er von Gott ausgegangen und wieder zu Gott zurückgekehrt ist, ganz unbedingt verheißen, so daß sie uns unter allen Umständen gleich gewiß ist, und uns gleich wohlschmeckend und gedeihlich seyn soll, der äußere Erfolg sey, welcher er wolle. Ist nun dieses die wahre Erhörung des Gebetes, wohlan, so laßt uns fragen – damit doch auch diese, wie jede Betrachtung des göttlichen Wortes, uns in der Selbsterkenntniß fördere, welche der zweite Anfang aller Weisheit ist – laßt uns fragen: wie wir denn uns selbst richten können vor dem Herrn, in Absicht auf unser Gebet? Woher können wir wohl erkennen, ob wir wirklich fähig gewesen sind, und von innen her gedrungen, im Namen des Herrn zu bitten, oder nicht; ob wir voll gewesen sind des rechten lebendigen und thätigen Glaubens an ihn, und an das von ihm gegründete Reich Gottes, und nur nach diesem getrachtet haben oder nicht? Nicht daraus können wir es wissen, m. g. Fr., wenn seltener oder öfter unsere Wege mit den Wegen des Herrn, und unsere Gedanken mit den seinigen zusammengetroffen sind, so daß er uns das unmittelbar gewähren konnte, was wir, ergeben in seinen Willen, betend vor seinem Throne gewünscht haben, sondern nur daran, wenn wir oft nach unserm Gebete genommen haben, daß unsere Freude vollkommen, und von einem Tage zum 7 Lk 22,42

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andern immer vollkommener wurde, so daß immer mehr der schöne zuversichtliche Wunsch des Apostels an | uns in Erfüllung ging: „freuet euch in dem Herrn alle Wege, und abermal sage ich, freuet euch,“ und daß es uns von einer Zeit zur andern leichter geworden ist, jede Fügung Gottes, wenn sie auch unsern ursprünglichen Wünschen nicht entspricht, und wir ihre Bedeutung in dem großen Inbegriff der göttlichen Absichten auch nicht einsehen, doch mit der Freude aufzunehmen wissen, welche die Frucht eines wahrhaft christlichen Gebetes ist. – Ja, m. Gel., je mehr wir so in dem Namen des Herrn beten, um desto deutlicher werden wir inne werden, daß auch von dieser Gabe der Erhörung das Wort des Herrn gilt: nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt. Denn die Menschen, wenn wir sie um etwas bitten, wollen sie uns gefällig seyn, können nicht anders, als an den Buchstaben unserer Wünsche sich halten, und wir dürfen ihnen keinen Vorwurf machen, wenn uns übel ausschlägt, was wir auf unsere Bitte von ihnen erlangt haben. Der Herr aber sieht über den Buchstaben, der so oft ein unverständiges und selbst nicht verstandenes Lallen ist, in das Herz der Seinigen. Er kennt es, und weiß, daß sie nicht das Ihrige suchen, sondern das Seinige, daß sie nur nach seinem Reich und dessen Wohl trachten. Haben sie nun dieses nicht erkannt, so giebt er ihnen nicht das, was sie unverständig ausgesprochen, sondern was sie im Grunde eines treuen Herzens gemeint haben. Wollte nun Jemand sagen, auf diese Weise geschehe also doch nichts, als was auch geschehen seyn würde ohne unser Gebet, und es gebe also keine Erhörung: wie thöricht und kurzsichtig wäre das! Denn ist es wohl möglich, daß Alles in der Welt auf gleiche Weise geschehen würde, wenn es gläubige Seelen giebt, die im Namen Jesu beten, und auf die gleiche Weise auch, wenn es keine solche gäbe? Unmöglich wohl. Und soll das keine Erhörung seyn, wenn der Herr, indem er das in Erfüllung gehen läßt, was auch wir würden gewünscht haben, wenn wir Alles in seinem Lichte zu erkennen vermöchten, sich zugleich freundlich in unser Herz niedersenkt, und es mit der schönen Gabe der Freude erfüllt, die wir nicht hätten empfangen können, wenn wir nicht gebetet hätten in seinem Namen? | Wie sollte denn dies nicht die wahre und himmlische Erhörung seyn, anders als die Welt giebt. So freuet euch denn seiner Verheißung, nicht berührt von den Zweifeln des Unglaubens, nicht gestört durch die kleingläubigen Vorstellungen der Schwachen! Betet, wo euer bedrängtes Herz euch dazu treibt, oder wo die frische und fröhliche Liebe euch dazu auffordert, 3–4 Phil 4,4

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betet immer und ohne Unterlaß in seinem Namen, und ihr werdet nehmen, daß eure Freude vollkommen sey. Amen. Schl.

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Exaudi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,14–22 Nachschrift; SAr 74, Bl. 93r–109v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift: SAr 59, Bl. 40r–42v; Woltersdorff (unvollendet) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am Sonntage Exaudi oder am sechsten nach Ostern, den vierzehnten Wunnemonds. |

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M. g. F., Als unser Erlöser sich von der Erde erhoben, und den bisherigen Schauplaz seines Wirkens verlassen hatte, war für seine Jünger ein großer bedeutender Abschnitt des Lebens geschlossen. Wie reich war er gewesen an tief empfundenen unvergleichlichen Bewegungen des Gemüthes! mit welchen hohen Erwartungen für eine neue Welt, die sich vor ihren Augen und durch ihre Mitwirkung entwikeln sollte, wenn sie in die nähere Verbindung mit dem Erlöser getreten! wie mächtig war ihr Herz ergriffen worden von den Worten seiner Lehre, und wie geläutert ihr Herz dadurch, daß sie alles mit ihm getheilt, die Mühseligkeiten und Beschwerden seiner Lebensweise, die Geringschäzung eines großen Theils der Menschen mitgetragen, dann aber auch die Wunder seines Daseins geschaut, und den lebendigen Einfluß desselben auf ihr ganzes Gemüth erfahren hatten! Das war nun vorüber. Eine andre Zeit war ihnen verheißen, weil sie ohne seine leibliche | Gegenwart, aber von seiner geistigen Kraft erfüllt und unterstüzt ausgehen sollten in alle Welt und das Evangelium verkündigen aller Kreatur, verheißen war ihnen dazu die Kraft aus der Höhe, verheißen war ihnen, daß der Herr mit ihnen sein werde und sie begleiten durch mitfolgende Zeichen. Aber unbestimmt in Beziehung auf Zeit und Stunde hatte er dieses Versprechen ihnen gegeben, und so oft sie ihn darüber fragten, so sagte er: diese habe der Vater allein sich vorbehalten. Aber die Erfüllung zögerte nicht lange, und nur eine kurze Zeit finden wir zwischen der einen mehr ihr Inneres bereitenden und zwischen der andern Zeit ihres Lebens, wo eine unausge-

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16–17 Vgl. Mk 16,15 17–18 Vgl. Lk 24,49 18 21–22 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32; Apg 1,7

18–19 Vgl. Mt 28,20; Mk 16,17–

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sezte Thätigkeit für das Reich Gottes, die von ihnen ausging, die Gemeine des Herrn gründete. Das, m. g. F., das ist das Gesez des menschlichen Lebens überhaupt im Einzelnen und im Ganzen. So wechseln thätigere und bedeutendere | Zeiten, und wenn die eine abgeschlossen ist ehe die andre kommt, befinden wir uns in eben solchem Zustande zusammenfließender Erinnerungen, unbestimmter sehnsüchtiger Erwartungen, wie die Jünger des Herrn; und eben so pflegen auch sowohl in den einzelnen Bearbeitungen des menschlichen Gemüthes als im Fortschreiten aller menschlichen Angelegenheiten zuerst solche Zeiten voranzugehen, wo das Gemüth in seinem Innern strebt sich immer mehr zu befestigen und zu läutern; und auf sie folgen andre, wo eine höhere vielseitigere Thätigkeit dasjenige zu verwirklichen sucht, was sich im Innern der menschlichen Seelen gebildet hat, und mancherlei längere und kürzere Zwischenräume giebt es zwischen der einen und zwischen der andern. Aber auch die sind bedeutend und wichtig, und wie sie ausgefüllt werden, davon hängt gar vieles ab für das eigene Leben, das einer spätern Zeit bevorsteht. So laßt uns denn mit einander erwägen, | wie eben dieser Zwischenraum, an welchen der heutige Tag zwischen dem Tage der Himmelfahrt des Herrn und dem Tage der Ausgießung des Geistes uns besonders gemahnt, wie diese Zwischenzeit für die Jünger ist ausgefüllt und benuzt worden, damit wir lernen von ihnen für unser eigenes Leben. Tex t. Apostelgeschichte 1 V. 14–22. Diese alle waren stets bei einander einmüthig mit Beten und Flehen, sammt den Weibern und Maria, der Mutter Jesu, und seinen Brüdern. Und in den Tagen trat Petrus auf unter den Jüngern und sprach: „ihr Männer und Brüder, es mußte die Schrift erfüllt werden, welche zuvor gesagt hat der heilige Geist durch den Mund Davids, von Juda, der ein Vorgänger war derer, die Jesum fingen. Denn er war mit uns gezählet und hatte dies Amt mit uns überkommen. Dieser hat erworben den | Aker um den ungerechten Lohn und sich erhenket; und es ist kund geworden allen die zu Jerusalem wohnen, also daß derselbige Aker genannt wird, auf ihre Sprache, Hakeldama, d. i. Blutaker. Denn es stehet geschrieben im Psalmbuch: ihre Behausung müsse wüste werden; und sei niemand, der darin wohne, und sein Bißthum empfange ein anderer. So muß nun einer unter diesen Männern, die bei uns gewesen sind die ganze Zeit über, welche der Herr Jesus unter uns ist aus- und eingegangen, von der Taufe Johannis an bis auf den Tag, da er von uns genommen ist, ein Zeuge seiner Auferstehung [mit uns] werden. 29–30 Apg 1,18 lautet vollständig: Dieser hat erworben den Acker um ungerechten Lohn und sich erhenket; und ist mitten enzwei geborsten und alle seine Eingeweide ausgeschüttet.

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Dies, m. g. F., dies ist das Nähere, was uns mitgetheilt wird von dem Leben und Thun der Jünger des Herrn von seiner Himmelfahrt an bis auf den Tag, da die Ausgießung des Geistes, dessen was ihnen der Herr versprochen hatte, an ihnen in Erfüllung ging, nach welchem nun die öffentliche | Verkündigung des Evangeliums jenen Abschnitt ihres Lebens beschloß. Wenn wir nun fragen: womit haben sie denn wohl diese Zwischenzeit zunächst ausgefüllt? so wird uns zweierlei gesagt: erstens daß sie einmüthig beisammen gewesen sind mit Flehen und Beten; zweitens daß sie gesucht haben die traurige Lüke, die in ihrem Kreise entstanden war, zu ersezen. Beides laßt uns jezt, wie es uns von ihnen gesagt ist, näher erwägen, und auf unser eigenes Leben anwenden. I. Die da mit einander vereint waren, und einmüthig versammelt blieben mit Flehen und Beten, die waren die kleine Schaar derjenigen, deren Glaube treu geblieben war auch während des Leidens und des Todes unsers Herrn. Sie waren und blieben versammelt und vereinigt auf seinen Namen. Nun wird uns freilich nicht näher gesagt, m. g. F., worin ihr einmüthiges Beisammensein bestanden haben, und | was der Inhalt ihres Flehens und ihres Betens gewesen sei. Aber es versteht sich dies aus den Umständen so von selbst, daß wir uns diese Frage gar leicht beantworten können. Sie waren einmüthig bei einander zugleich in der Erinnerung an den vergangenen so wichtigen und gesegneten Abschnitt ihres Lebens, und dann gewiß eben so in der Vorbereitung auf den, der ihnen nach der Verheißung des Herrn noch bevorstand. Ganz gewiß, m. g. F., ist die Erinnerung an den nun verfloßenen Abschnitt ihres Lebens der Inhalt ihres Beisammenseins gewesen. Denn wovon soll der Mund anders reden als wovon das Herz voll ist? was hatten sie anders, worüber sie denken und sinnen konnten, und was war es, wodurch sie mit einander vereinigt waren, als eben dieses? Und wenn gleich, wie Petrus in seiner Rede auch sagt, sie selbst alle mit dem Herrn Jesus ausund eingegangen waren von der Taufe Johannis | an bis auf den Tag, da er ihnen genommen wurde: so hatten sie doch nicht alle überall dasselbe erlebt. Vieles freilich hatten sie gemeinschaftlich erfahren, aber auch jeder Einzelne hatte gewiß sein Eigenes und Besonderes mit dem Herrn und Meister gehabt nach den Veranlassungen, die in den Umständen lagen. Und auch das Gemeinschaftliche, keiner konnte es ganz auffassen; dem einen hatte sich dieses dem andern jenes lebendig eingeprägt in die Seele; und sollten sie ein zusammenhängendes und vollständiges Bild in sich tragen von dieser herrlichen und abgelaufenen Zeit, so mußten sie alle Hand ans Werk legen, und gegenseitig einander austauschen, damit der eine das 26–27 Vgl. Mt 12,34; Lk 6,45

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Mangelhafte des andern ergänzte. Und, m. g. F., uns ergeht es eben so, und ist derselbe Fall mit uns in Beziehung auf jede bedeutende Vergangenheit in unserm Leben. Wie die Worte des Herrn, so oft sie sich auch wiederholten, so sehr auch der Gegenstand der|selben immer derselbe war, immer die Eine große Wahrheit und Erregung der Gemüther, doch unerschöpflich waren ihrem Gehalte nach, und jede neue Betrachtung auch einen neuen Segen daraus schöpfen konnte: eben so ist auch das Wort, welches der Herr zu uns allen redet in den bedeutenden Ereignissen des menschlichen Lebens, o es ist unerschöpflich. Und am wenigsten sind wir im Stande da, wo wir selbst in das Wirken und Handeln verflochten sind, da wo der gegenwärtige Augenblik ganz erfüllt ist von unsrer Thätigkeit, und unsre ganze Aufmerksamkeit anzieht, am wenigsten sind wir da im Stande ihn ganz zu sehen und zu empfinden. Die Erinnerung muß vervollständigen, was die Gegenwart nicht fassen kann, und wie wir im Handeln selbst vorzüglich auf die eine Seite mehr zu sehen haben | als auf die andre, wie uns, haben wir das Eine ergriffen, das Andre entgeht, so können wir nur, indem wir in stiller Betrachtung das Versäumte mittelst der Erinnerung vor die Seele rufen, das Bild der vergangenen Zeit vervollständigen, welches uns bleiben soll im Gemüth für die Zukunft, und nur allmälig uns eine richtige Vorstellung erwerben von dem, was der Herr in der Vergangenheit gewollt hat und gewirkt. Aber allein ist auch dazu der Mensch nicht fähig, sondern immer, wie es bei den Aposteln unsers Herrn der Fall war, muß dies auch ein gemeinsames Werk sein, und darum sollen wir zu demselben, so viel unsrer gleichgesinnt sind, einmüthig bei einander sein in jenen unser Gemüth beschäftigenden Zwischenräumen des menschlichen Lebens. Dazu, m. g. F., hat der Herr die Gaben des Geistes nach dem ihm wohlgefälligen | Maße auf verschiedene Weise vertheilt, dem einen hat er dieses dem andern jenes verliehen und auch versagt, damit alles Gute und Große und Herrliche unter uns immer möge ein gemeinsames Werk sein. O wer da glauben wollte, er könnte für sich allein die vergangene Zeit und ihre große Bedeutung richtig verstehen, wer da glauben wollte, auch in der einsamen Betrachtung müßten die vergangenen Führungen seines Lebens in einem klaren und reinen Bilde vor seinen Augen stehen, und er könnte für sich allein allen Segen daraus schöpfen, den der Herr auf eine stille Erwägung gelegt hat, der würde sich sehr täuschen, und zu bald in einer einseitigen und also auch wie im Augenblik des Genusses selbst wenig erfreulichen und lebendigen, so auch gewiß in der Zukunft wenig wirksamen bildenden und heiligenden Ansicht dessen, was ihm begegnet ist, | befangen sein. Sondern wenn alle einmüthig bei einander sind, wie die ersten Jünger des Herrn es waren, dann gleicht sich aus in den Gaben des einen was dem andern fehlt, dann berichtigt der eine die falsche Erfahrung des andern, dann macht dieser aufmerksam auf das, was alle andern würden übersehen haben, und so wie ein vollständiges und richtiges Bild der Vergangenheit ein großes gemeinsa-

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mes Werk derer, die alles was der Herr ihnen und was er der Welt, in welcher sie leben, schikt, im Lichte seines Wortes, in Beziehung auf sein großes Werk auf Erden, in Beziehung auf den betrachten, in dessen Namen sie mit einander versammelt sind. Aber nicht nur um sich der Vergangenheit zu erinnern waren die Jünger des Herrn einmüthig bei einander, sondern gewiß auch um sich vorzubereiten | auf den großen Beruf, der ihrer wartete. Zwar wußten sie, daß sie sich dasjenige, dessen sie dazu bedurften, nicht selbst geben konnten, und auch der Herr hatte sie angewiesen zu warten in Jerusalem, bis sie angethan würden mit Kraft aus der Höhe. Aber, m. g. F., es giebt kein unthätiges Warten des Menschen auf die göttliche Gnade und auf die Gaben des Geistes. Denn er wartet wirklich nur derselben, wenn sein Herz erfüllt ist mit frommer Sehnsucht, und die duldet keine träge Ruhe, sondern, wenn auch nur allmälig, bewegt sie das Herz auf eine lebendige Weise, und durchdringt die ganze Seele mit leisen heiligen Regungen. Dazu waren ihnen diese Tage der Stille und der Einsamkeit, dazu diese Tage eines hochheiligen Wartens bestimmt und gesegnet. Wenn wir sie in der Folge auftreten hören bald | vor der versammelten Menge, bald vor den Obersten des Volkes, die sie vor sich forderten um Rechenschaft zu geben von ihrem kühnen und ihnen mißfälligen Thun, und wir hören sie mit solcher Kraft das Evangelium verkündigen, mit solchem Muth ihre thätige Entscheidung aussprechen, daß keine irdische Gewalt sie aufhalten solle Gott und seiner Stimme zu gehorchen: o so fühlen wir freilich, da ging das Wort in Erfüllung, welches der Herr früher zu ihnen geredet hatte „sorget nicht was ihr wollt sagen, sondern der Geist wird es euch geben zu der selbigen Stunde“; aber wir fühlen doch auch, er hätte es ihnen nicht so geben, sie hätten es nicht so auffassen, sie hätten es nicht so darstellen können, wenn sie sich nicht vorbereitet hätten auf diese Tage einer großen Thätigkeit in jenen Tagen einer einsamen Stille und | einer gemeinschaftlichen Betrachtung. Und wohl mögen sie da, um sich vorzubereiten zu der Verkündigung des Evangeliums, mit einander geforscht haben in der Schrift, und zusammengesucht und zusammengehalten, was sich darin auf den Erlöser bezieht; wohl mögen sie sich unter einander geprüft haben, was da sein werde des einen und des andern schwache Seite, wenn nun der Augenblik kommt, wo Gegenwart des Geistes, wo unerschütterliches Festhalten am Glauben und an der Liebe, wo treues Bekenntniß der Wahrheit Noth thut. Und indem so ihre gegenseitige Liebe fühlte was ein jeder bedurfte, so wird eben deßwegen auch ihre Liebe gegeben haben, was sie zu geben vermochte mit ihrer Kraft, wenn sie auch schwach war, so wird jeder den andern noch schwächern gestärkt haben, und unter einander werden sie sich verpfändet haben 3–4 Vgl. Mt 18,20 Lk 12,11–12

9–10 Vgl. Lk 24,49

24–25 Vgl. Mt 10,19; Mk 13,11;

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ihre Treue sich nicht zu verl|assen in den Tagen der Anfechtung in den Stunden der Versuchung. Und eben dieses Bedürfniß, m. g. F., das müssen auch wir fühlen. O freilich ist jenes große Wort der Verheißung: „sorget nicht was ihr reden werdet, sondern der Geist wird es euch geben zu derselbigen Stunde“, es ist nicht nur den ersten Jüngern des Herrn gegeben, sondern auch uns, und mit der nämlichen Zuversicht können wir hineinsehen in dunkle und unbekannte Zeiten, können uns dunkle Tage der Gefahr und der Versuchung, wo wir selbst sollten beides zu überwinden und zu bestehen haben, wo uns selbst im Stich lassen sollte jedes Mittel und jede Hilfe und jede besondre Anregung, die uns den Weg zum Ziele bahnen könnte; sondern da müssen wir uns auch auf den Geist verlassen, der es | uns geben wird zu der Stunde, wo wir dessen bedürfen. Und nicht ist in den Worten dieser Verheißung allein die Rede von dem, was durch den Mund des Menschen geht, wenn der Herr sagt: „sorget nicht was ihr reden sollt“; sondern die Gedanken der Seele, die sind ihre innere Rede, und jeder Entschluß, jeder Vorsatz, jede Wendung, die wir unsern Angelegenheiten geben, sie ist mit unter diese Verheißung begriffen, und wir müssen es Gott danken, daß sein Geist uns mächtig macht, wo wir schwach sind. Aber doch werden wir es fühlen, die Gaben des Geistes können nur gedeihen in einem wohlbewahrten Gemüthe. So ist überall jener Same des göttlichen Wortes, den der Säemann aussäet; aber fällt er auf ein verhärtetes Land, so geht er zwar auf, doch er verwelkt und trägt keine Frucht; und das sind die, welche in das | zeitliche Leben versunken die Trübsal um des Wortes willen nicht aushalten. So ist es mit allen Gaben des Geistes, wie viele derselben wir bedürfen durch die göttliche Gnade für die Stunde, wo uns der Beistand von oben allein den Sieg verleihen kann über die Macht des Bösen, die gegen uns in den Kampf tritt. Fragen wir uns, können wir sie uns selbst geben? o wie demüthig werden wir uns unbedenklich diese Frage verneinen, und mit wie getröstetem Gemüthe werden wir uns erfreuen des Segens jener heiligen geistigen Gemeinschaft, die der Herr im Leben und im Geiste gestiftet hat, unter denen, die an ihn glauben, und in der Liebe, die alle seine Jünger verbindet, und die auch ihn bis in den Tod geleitet hat. Dann wird das Herz gestärkt, wenn es sich aufschließt gegen eine verwandte Seele in unbeschränkter Offenheit; dann wird das Herz ge|stärkt, wenn wir gern einen liebenden Bruder in die verborgenen Falten unsers Innern sehen lassen; dann wird das Gemüth befestigt und erhoben, wenn es uns nicht mit verderblicher Eitelkeit darauf ankommt, unsre Fehle zu verbergen; sondern eben weil der Segen der Verheißung auf dem Bekennt4 reden] redet

28 uns] und

3–5.11–12.14 Vgl. Mt 10,19; Mk 13,11; Lk 12,11–12 Mk 4,16–17; Lk 8,13

20–22 Vgl. Mt 13,20–21;

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niß ruht, und er selbst wirksam ist im menschlichen Herzen, auch die verborgensten Fehle zum Bewußtsein zu bringen und aufzuheben, o so muß dieser Segen reichlich über uns kommen, wenn sie uns aufgedekt werden von der nachsichtigen Hand der Liebe, wenn wir in das wohlwollende Auge der Liebe schauen, deren Blike uns durchdringen. Und eben darum, m. g. F., kann jene Erinnerung und diese Vorbereitung nichts anders sein als ein einmüthiges Versammeltsein im Beten und Flehen. Denn freilich nur ein Herz | das seinen Gott gläubig sucht, so wesentlich sucht wie die Jünger des Herrn es thaten, kann diese Segnungen in sich erfahren; nur wenn, wie jeder nicht selbst sich zu helfen vermag, so auch einer dem andern liebevoll zur Seite geht und ihn zum Guten zu leiten sucht, sondern weil wir Glieder sind an dem geistigen Leibe des Herrn, die Wirkungen der göttlichen Gnade immer mehr erfahren, daß der Name des Herrn unter uns gemeinschaftlich immer mehr soll verherrlicht werden und bewahrt vor aller Schande vor der Welt. Und was kann die Erinnerung, m. g. F., an die Führungen der göttlichen Verheißung an die Wohlthaten der göttlichen Barmherzigkeit, was kann auch vollends dieselbe in der künftigen Zeit, sobald es der menschlichen Schwachheit gebricht den Willen des Herrn | zu vollziehen, was kann die anders sein als Flehen und Beten? Und in Beziehung auf den Herrn, den Erlöser der Welt, in dessen Namen wir versammelt sind, auf dessen Wort wir bauen, was können unsre Betrachtungen anders sein als Flehen und Beten? II. Zweitens benuzten die Jünger des Herrn diesen Zwischenraum in ihrem Leben, um die traurige Lüke auszufüllen, die unter ihnen entstanden war. Da trat Petrus auf in der versammelten Schaar, und stellte ihnen vor, wie ein anderer von denen, die beständig unter ihnen gewesen wären seit der Zeit, da der Herr unter ihnen aus- und eingegangen war, müße an die Stelle dessen treten, der, nachdem er den Herrn verrathen, sich selbst gerichtet hatte. Wir dürfen nicht glauben, m. g. F., daß es dabei den Aposteln einzig und allein darum zuthun war die Zahl aufrecht | zu erhalten, in welcher der Herr seinen nächsten und vertrautesten Kreis um sich versammelt hatte, und noch viel weniger darum, daß dies sich zu beziehen schien auf die alte Eintheilung des Volkes, dem sie angehörten, in die zwölf Stämme. Nein, denn gern ließen sie es sich nachher gefallen, daß nachher noch ein andrer über diese Zahl zu den Aposteln gerechnet wurde, und in den engsten Kreis ihres Wirkens für das Reich Gottes auf Erden eintrat. Aber die Lüke auszufüllen, die unter ihnen entstanden war, das war ein Bedüfniß ihres 5 Blike] Blieke

9 Segnungen] Segungen

11–12 Vgl. 1Kor 6,15

14 aller] alle

35–37 Vgl. Apg 1,26

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Herzens; und wir dürfen uns nur an dasjenige was ihre Aufmerksamkeit besonders beschäftigte, erinnern, um einzusehen und zu fühlen mit welchem Recht. Denn eben weil frühere Erinnerungen und einsame Vorbereitung auf die Zukunft nur | ein Werk der gemeinsamen Aufregung, des gemeinsamen Glaubens und der einigen Liebe sein können, eben deßwegen weil jeder sich sein bescheiden Theil auszusuchen im Stande ist, so erscheint eine Lüke, sobald einer mit seiner Einsicht und mit seinem Ansehen aus dem Kreise der Verbundenen heraustritt, als etwas Schmerzliches, dem wir nicht lange Raum geben dürfen in unsrer Seele; und auf welche Weise auch diese Lüke entstehen mag, wir fühlen sie und sollen sie fühlen als eine wesentliche Beschränkung unsers Lebens. Und so ist es natürlich, daß wir nicht eher ruhen, als bis wir sie wieder ausgefüllt haben auf eine unsrer Bestimmung angemeßne Weise. Der Fall, auf den es in der Versammlung der Apostel ankam, m. g. F., wir fühlen es besonders, wie nothwendig es war, daß sie schnell ans Werk schritten, | um den unter ihnen entstandenen Mangel zu ersezen. Und wir wollen nicht in dieses dunkle schaudervolle Geheimniß hinabsehen; aber doch es wiederholt sich ja auch häufig in unserm Leben, und wir dürfen es nicht verkennen, jeder bedeutende Zeitraum unsers Lebens, wenn er vorüber ist, so läßt er auch solche Lüken zurük. Wie wenig wir es auch verstehen, wie es zugeht, daß der Mensch sich von dem einmal erkannten und betretenen Wege des Lichtes und der Heiligung wegwendet zu dem Dunkeln und Verkehrten, daß die Liebe zum Guten und Wahren, sei es allmälig sei es plözlich, aus seiner Seele herausgerißen werden kann, und daß er sich mit aller Kraft dem Tichten und Trachten nach dem Vergänglichen ergiebt, und die Stimme eines | gottgefälligen Lebens in seinem Innern unterdrükt, wie wenig wir das noch begreifen und in keinem Falle zu sagen vermögen, geschieht es wirklich so, oder ist es nur ein Schein, der uns trügt und das rechte Verhältniß nicht sehen läßt, ist der Mensch nicht verkehrt worden von der Gemeinschaft des Wahren und Göttlichen, sondern nur in einem vorübergehenden Irrthum befangen, von welchem er einmal wieder auf den richtigen Weg zurükkehren wird, oder ist er wirklich böse geworden, und es zeigt sich, wie er nicht auf dem rechten Wege wandelte, und ging er nicht mit uns denselben Weg, so hat es ihm von Anfang an einer heiligen Gesinnung, dem innersten Grunde der vertrauten Gemeinschaft des Geistes und des Herzens, gefehlt, wie wenig wir dies zu entscheiden vermögen – wir sollen es auch nicht. Das Gericht, m. g. F., | das ist des Herrn; aber die Thatsache, die sich überall eben so gestaltet wie das was der Apostel hier ausspricht, die liegt in jedem bedeutenden Theil der menschlichen Geschäfte nahe genug vor unsern Augen. Und wie wenige sich auch selbst so richten wie Judas sich richtete, nachdem er den Erlöser in die Hände seiner Feinde geliefert hatte, so sehen wir 11 Lebens] Leben

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doch deutlich genug wie jede Spur des Wahren und Göttlichen in solchen Menschen, welche die Zeit der Versuchung nicht aushalten, und das ihnen dargebotene Heil verschmähen, wie jede Spur daran in ihnen sich verliert, und wie sie in der That schon auf Erden jene Wohnung der Finsterniß gefunden zu haben scheinen, und wie alle ihre Gedanken nur scheinen auszugehen von einem bösen | Geist. Solche Lüken, m. g. F., schmerzlich fühlend, das können wir nicht anders. Aber wie wichtig es ist sie zu ersezen, das müssen wir auch fühlen. Denn jemehr wir, m. g. F., von einem Menschen gehalten haben, er wandle mit uns denselben Weg, er suche mit uns das nämliche Heil, und strebe mit uns demselben Ziel entgegen; je inniger die Gemeinschaft war, die zwischen uns und ihm bestand: wendet er sich von uns, alles was uns sonst in seinem Leben groß und gut, alles was uns sonst in seinen Reden wahr und trefflich erschien, das wird uns dann verdächtig, es fällt ein trüber Schein darauf von der spätern Verwandlung seiner Seele, wie wir es zu nennen gewohnt sind; und wir können nicht anders je näher uns solche Erfahrungen liegen, um desto mehr verwirrt werden wir uns selbst, und wißen nicht recht den Zustand unsers eigenen Herzens | zu erklären. Denn thut es uns Noth, daß ein anderer hineintritt, der die leere Stelle ausfülle, damit von uns weiche das dunkle Bild, der durch seine Erscheinung, durch seine Wirkung, durch seine innige Theilnahme uns befreie von dem Schatten, der uns verfolgt, so oft jene Erinnerung vor unsre Seele tritt, und der das wirklich Fehlende erseze durch jenen reinen Sinn, welchen wir zu suchen gelernt haben. Und wenn wir, m. g. F., nur soweit wir mit gleichgesinnten Gemüthern verbunden sind, zu jedem guten Werk stark und tüchtig sind, welches uns auszuführen obliegt, sei es irgend etwas Einzelnes, oder betreffe es die gemeinsame große Bestimmung der Menschen: o so fühlen wir in dieser Hinsicht, in Hinsicht auf die Ausführung deßen was uns in der Zukunft aufgegeben ist, schmerzlich jede Lüke in unserm Kreise, und natürlich und gottgefällig ist das Streben sie | zu ersezen. Denn so lange in der Welt noch der Kampf besteht zwischen dem Guten und dem Bösen, zwischen dem Lichte und der Finsterniß, so lange glauben wir eher zu schwach zu sein um ihn zum Sieg des Guten und des Lichtes durchzukämpfen, als daß wir unsrer Macht vertrauen sollten. Und wenn es gleich nur ein trüber und nichtiger Schein ist, der auch dem Herrn in den hellern Augenbliken seines Lebens wie ein Schleier vor der Seele herabfiel, daß überhaupt die Zahl der Gläubigen und Getreuen, der wahren Verehrer Gottes und des Herrn in der Kraft des Geistes, der wahren Diener in seinem Weinberg nur gering sei: o so ist es doch die demüthigende und beßernde Kenntniß von unsrer eigenen Kraft und Einsicht, weßhalb wir glauben, daß unsrer nie genug sein können. Und daher muß es uns wie damals den Aposteln am Herzen | liegen, und es wie ein gemeinschaftlich zu führendes Werk sein, daß wir aufsehen die Augen des Geistes erhebend, wo wir im Stande sind, die Lüke, die auch uns in dem nähern Kreise des Lebens auf

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welche Weise es sei entstanden ist, zu ersezen, wo wir finden die Kräfte, die uns ausgegangen sind, den Ersatz den sie vermißen laßen was an uns zu ergänzen ist in dieser oder jener Hinsicht, und dessen Ergänzung uns nun verloren gegangen ist. Und dies, m. g. F., kann und soll, eben wie es die Apostel thaten, es kann und soll nur geschehen mit Flehen und Beten. Denn je mehr uns solche Erfahrungen erschüttern von uns drükender und augenscheinlicher Verwandlung der Menschen aus dem Guten und Wahren in das Böse und Verkehrte, und wir uns dabei des Gedankens nicht erwähren können, daß auch wir selbst uns früher oder später geirrt haben, und dem Bösen nicht zeitig genug auf die Spur gekommen sind: desto mehr fühlen wir, daß der Herr | es ist, der uns überall leiten muß, wenn wir nicht sollen irregehen. Je weniger wir uns zutrauen, etwas für uns selbst auszurichten, je mehr wir fühlen, daß alles Große und Gute in der menschlichen Welt ein gemeinsames Werk ist: desto mehr fühlen wir auch, wie wichtig es ist, daß wir uns vereinigen in der Wahl unsrer Genossen mit gleichgestimmten Gemüthern. Überbliken wir nun, m. g. F., das Gesagte, o so werden wir fühlen, der Herr hat uns das nicht zugedacht, daß irgend eine Zeit unsers Lebens leer sein soll an den Erweisungen seiner Gnade in heilsamer Thätigkeit für sein Reich auf Erden. Scheint auch bisweilen die Zeit länger hinzuschleichen und erfahrungslos, ist auch im Augenblik nichts Großes und Bleibendes zu thun für die Sache der Menschheit, und sehen wir uns vergeblich darnach um, daß uns ein Feld erfreulicher und heilsamer Wirksamkeit eröffnet werde: doch wenn wir auch harren müßen bis die Stunde kommt, wo wir erfüllt mit Kraft aus der Höhe zu einer regen Wirksamkeit eilen können, o doch können jene stillen Zwischenräume und sollen uns recht gesegnet sein von dem Herrn, und wir würden nicht im Stande sein den Beruf, den er uns ertheilen wird, seinem Willen gemäß | zu erfüllen, wenn wir nicht auch diese Zwischenzeit so anwenden wollten, wie es seinem Willen gemäß ist. Und dieser ist eben der, daß wir sollen vereint sein in einiger Liebe, einmüthig flehend und betend um seinen Beistand, um die Ertheilung seiner Kraft für das was er zu einer andern Zeit von uns fordern wird, daß wir uns selbst stärken und befestigen, indem wir uns vorhalten das Eine Licht, auf welches allein die Menschenkinder sehen sollen, um sich selbst nach demselben zu prüfen, und ihr Leben in die Gestalt desselben zu verwandeln, auf das Eine Gesez, nach welchem wir alle ein jeder sich selbst und weniger seine eigene That als seinen innern Zustand zu meßen hat, und daß wir im Gefühl unsrer Schwachheit uns die Hand reichen zu treuer Freundschaft und Liebe, damit uns so fest und recht vorbereitet finde der Ruf des Herrn, der uns in eine neue und größere Thätigkeit einsezt. So laßt uns folgen den Jüngern des Herrn, so wird es dann auch uns nicht fehlen, wo der Herr das Größere und 24–25 Vgl. Lk 24,49

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Ausgezeichnetere von uns fordert, an der Kraft aus der Höhe, die uns allein leiten kann auf seinen Wegen zu seinem Wohlgefallen. Amen.

[Liederblatt vom 14. Mai 1820:] Am Sonntage Exaudi 1820. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Schau hin in die vergangnen Zeiten, / O Christ, und sammle Weisheit ein, / Um, fern vom Dienst der Eitelkeiten, / Dich der Gottseligkeit zu weihn! / Nur sie schafft dir zu aller Zeit / Das wahre Glück Zufriedenheit. // [2.] Erinnre dich der Gnadenstunden, / Die der Allliebende dir gab; / Sind sie in seinem Dienst verschwunden, / So fürchte nicht das nahe Grab. / Dir bleibt von der verschwundnen Zeit, / Dann noch Gewinn in Ewigkeit. // [3.] Doch sieh, erfüllt von Schaam und Reue, / Auf deine Fehler auch zurück; / Dies reize dich zu größrer Treue / Und ernstrer Sorge für dein Glück; / So sammlest du noch Weisheit ein / Selbst aus den Fehlern die dich reun. // [4.] Ermanne dich dies kurze Leben / Dem weisesten Gebrauch zu weihn; / Vom Schöpfer ward es dir gegeben, / Hier guten Samen auszustreun, / Der für die Ewigkeiten reift, / Und dir der Freuden Erndte häuft. // [5.] Denn siehst du einst am Ziel der Zeiten / Voll Trost in das Vergangne hin, / Und schwingst dich zu den Ewigkeiten, / Wo nicht wie hier die Freuden fliehn; / Wo stete Wonne den umgiebt, / Der hier sich treu im Guten übt. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] In deiner Liebe Gott nicht zu erkalten, / Will ich mich stets zu deinen Kindern halten, / Durch sie erleuchtet freudiger mit ihnen / Nur dir zu dienen. // [2.] Der Heiligung Gemeinschaft, Herr, verbinde / Uns zu dem Kampfe wider Welt und Sünde, / Daß der Versuchung Keiner unterliege, / Daß jeder siege. // [3.] Laß ihren Eifer in der Tugend Werken, / Auch meinen Fleiß und meinen Eifer stärken, / Um nicht, wenn sie dein Werk mit Freuden treiben, / Zurück zu bleiben. // [4.] Laß mich mit Lust den Rath der Weisern hören, / Gieb daß sie gern und freundlich mich belehren; / Und, brauch ich Trost, mich ihren Miterlösten / Voll Mitleids trösten. // [5.] Gieb daß sie sanft mich warnen, eh ich falle, / Und mirs entdecken, ob ich richtig walle, / Und wie ich meines Heiles Hindernisse / Besiegen müsse. // [6.] Sind wir nicht darum deine Kinder, Brüder. / Und Alle, Vater, Eines Leibes Glieder, / Daß wir um Einen Himmel zu besitzen / Einander nüzen? // [7.] O darum laß Erbarmer uns zusammen / Einander stets zur Heiligkeit entflammen, / Und so einst Alle durch vereintes Ringen / Zum Himmel dringen. // (Cramer.) Unter der Predigt. – Mel. Was Gott thut etc. Nach Wahrheit und Gerechtigkeit / Mit treuem Eifer streben, / In dieser Vorbereitungszeit / Nicht uns, dem Herrn nur, leben, / Ihm ähnlich sein, / Dies dies allein / Ist Weisheit, Ruhe, Leben, / Und dies nur sei mein Streben. //

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Nach der Predigt. – Mel. Jesu der du meine etc. Du der Schwachen Stärke, wende, / Nie von mir dein Angesicht! / Reiche, Vater, mir die Hände, / Wenn mir Muth und Kraft gebricht. / Wär ich nur erst treu im Kleinen! / Du bist gut, und läßest keinen, / Der um Weisheit bittet, leer; / Gern gäbst du dem Treuen mehr. //

Am 21. Mai 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstsonntag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,44–48 Nachschrift; SFK 12, Bl. 1r–9r; Gemberg Keine Nachschrift; SAr 59, Bl. 44r–45r; Woltersdorff An die überlieferte Predigt schloss sich die Konfirmationshandlung mit einer Einsegnungsrede an, die nicht überliefert ist.

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Nachmittags-Predigt am ersten Pfingst-Feiertage 1820 von Schleiermacher. |

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Die Gnade unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes unseres himmlischen Vaters, und die trostreiche Gemeinschaft seines Geistes sei mit uns jetzt und immerdar. Amen!

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Die Worte der heiligen Schrift, die wir zum Grunde unserer Betrachtung legen wollen, lesen wir im 10. Capitel der Apostelgeschichte wo sie im 44. und folgenden Versen also lauten:

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Da Petrus noch diese Worte redete, fiel der heilige Geist auf alle die dem Wort zuhöreten, und die Gläubigen aus der Beschneidung, die mit Petro gekommen waren, entsetzten sich daß auch auf die Heiden die Gabe des heiligen Geistes ausgegossen ward. Denn sie höreten daß sie mit Zungen redeten und Gott lobpriesen, da antwortete Petrus, mag auch Jemand das Wasser wehren, daß diese nicht getauft werden, die den heiligen Geist empfangen haben, | gleich wie auch wir? und befahl sie zu taufen im Namen des Herrn. Diese Worte m. g. F. sind aus einer Geschichte entlehnt, die sich freilich später zugetragen hat, und nicht an dem großen Tage dessen Gedächtniß wir heute in der Christenheit begehen, aber sie sind doch eine wahre 2 Schleiermacher.] Notiz von gleicher Hand rechts unten Nachgeschrieben von Aug. Gemberg 5 uns jetzt] jetzt uns 12 Gabe] Gaben 13 antwortete] antworte 3–5 Vgl. 2Kor 13,13 als Kanzelgruß

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Pfingstgeschichte und werth daß wir sie zum Gegenstand unserer Betrachtung machen, weil sie uns näher liegen als was sich in jenen Tagen selbst zugetragen. Damals wurden die Apostel des Herrn ausgerüstet mit der Kraft aus der Höhe, unmittelbar wie der Herr ihnen verheißt und als Erfüllung seines Gebets und auf eine Weise, wie wir jetzt nicht zu derselben Gabe des Geistes gelangen. Aber eben diese Geschichte, von der ich das Ende eben vorgelesen, handelt von der weiter sich fortpflanzenden Mittheilung des göttlichen Geistes von der Art, wie derselbe in den Herzen der Menschen aufgeht, an die auch wir alle gewiesen sind, und indem diese Tage | für uns das freudige Fest unserer Theilnahme am göttlichen Geiste sind, so mögen wir miteinander, nach Anleitung unseres Textes von der in der christlichen Kirche ausgehenden Mittheilung des göttlichen Geistes reden. Es kommt uns in der Erzählung unseres Textes zweierlei entgegen. 1. daß diese Mittheilung des Geistes die Würkung ist der Predigt des göttlichen Wortes und 2. daß sie im unmittelbaren Zusammenhange steht mit der Aufnahme des Menschen in die christliche Gemeinde. I. Zuerst also, es war damals und ist noch jetzt die Mittheilung des göttlichen Geistes die Folge der Predigt des göttlichen Wortes: dasselbige m. g. F. welches damals Petrus jenem römischen Hauptmann mit seiner Hausgenossenschaft und seinen Freunden verkündigte indem er das wovon sie dunkle Gerüchte vernommen, näher auseinander setzte, es | war die Predigt vom hülfreichen Erlöser der gekommen, wohl zu thun, zu suchen und seelig zu machen das verloren war, die Predigt von dem Erlöser, in dessen Namen allen Menschen Vergebung der Sünden gegeben werden sollte und Antheil an der göttlichen Gnade und Liebe, aber auf die Predigt von dem Erlöser, der von Gott verordnet ist ein Richter der Lebendigen und der Todten, und der auch beständig sein Gericht aufschlägt in den Herzen aller Menschen die von ihm hören und denen seine Gestalt vor Augen gemahlt wird. Das m. g. F., das ist die Predigt, die überall in der christlichen Kirche der Grund ist unseres Gottesdienstes und unserer gemeinsamen Erbauung, an die sich alle Belehrung über die göttlichen Dinge anschließt, und die der Mittelpunkt ist von allen frommen Bewegungen im Innern unseres Gemüths. Und nur an diese, m. g. F. hat sich von jenem Tage an, wo zuerst die Jünger des Herrn das Evangelium von ihm verkündiget, der göttlichen Seegen | angeschloßen, daß unter denen, die der Predigt glauben, und sich zum hülfreichen Erlöser wenden der Geist Gottes sich verbreite, und je inniger sie sich mit ihm verbinden, desto prächtiger auf ihnen ruht und aus ihnen wirkt: O m. g. F. es ist auch eben die Mittheilung des göttlichen Geistes 3–4 Vgl. Lk 24,49 Apg 10,42

21–23 Vgl. Apg 10,34–43

24–25 Vgl. Lk 19,10

28 Vgl.

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jetzt wie damals und wird sie immer sein, des Geistes, der da Zeugniß giebt unserm Geiste, daß wir Gottes Kinder sind, des Geistes der uns in jeder schweren Stunde des Lebens, wo die eigene Kraft uns verlassen will, vertritt mit unaussprechlichen Seufzern, und rufen lehrt, lieber Vater, des Geistes, dessen liebliche und schöne Früchte sind Friede und Freude, Gütigkeit und Gerechtigkeit. Nur wo der ist, m. g. F. da ist wirklich die Gemeinschaft mit dem Erlöser, nur wo der ist, da ist die unsichtbare Kirche des Herrn; aber wenn Jemand sagen wollte wir wären weit verschieden und zurückgedrängt hinter der großen Herrlichkeit jener großen Tage wenn wir glauben, daß jene stille Frucht des Geistes und also durch dieselbe | sein Dasein in den Gemüthern nicht abgeleugnet werden könne in der christlichen Kirche, wo blieben dann jene herrliche Zeichen der damaligen Zeit jene sicheren in Augen fallende Merkmale von seiner heiligen Gegenwart? wie auch in unserm Texte gesagt wird, daran hatte Petrus erkannt, daß der heilige Geist auf sie gefallen wäre, daß sie mit andern Zungen redeten und die großen Thaten Gottes priesen. Aber wie m. g. F. sollte sich denn wirklich unter uns der göttliche Geist wieder herrlich und groß dadurch offenbaren, als damals? sollte seine Kraft schwach geworden sein oder die menschliche Natur wieder empfänglich seiner beseeligenden Wirkung? o laßt uns nicht bei dem äußern Schein stehen bleiben, sondern bedenken daß wir, weil wir in den sichern Besitz gestellt sind durch die göttliche Gnade, der äußern Zeichen weniger bedürfen. Ueberlegen wir es in der That und Wahrheit meine Geliebten und bedenken, wenn durch den Mund der Verkündiger, das Wort von dem Erlöser ergeht, an solche die bisher in dem Schatten des Todes gewohnt, und | versunken gewesen waren in Dunkelheit eines heidnischen Aberglaubens, und verfinstert in ihnen das den Menschen angeborene Bewußtsein des höchsten Wesens, wenn an sie jenes göttliche Wort des Erlösers und der Zug desselben zum Vater ergeht, wenn der erlöschende Funken in ihrer Seele aufgeht, und die liebenswürdige Gestalt dessen, der für uns gestorben, sie mit ihrem mächtigen Zauber ergreift, sich ihnen ein neues Bild von der Bestimmung des Menschen und von seinem höhern Leben darstellt, und das, wonach sie bisher gedichtet und getrachtet, ihrem Blick verschwindet als unwürdiges, o reden sie dann nicht wenn auch stammelnd doch mit veränderten Zungen, o preiset nicht ihr ernstes sehnsüchtiges Verlangen die großen Thaten Gottes? denn größere giebt es doch nicht als die er vollbringt an der menschlichen Seele und wenn auch in der christlichen Kirche nicht fehlt an vernachläßigten Gemüthern, an denen der Ruf zum Himmel lange ungehört vorübergeht, die in Tichten und Trachten in der Welt versunken bleiben auch für sie schlägt die Stunde der göttlichen Gnade, | auch sie schaudern am Rande des Abgrundes an dem sie stehen 1–2 Vgl. Röm 8,16 2–4 Vgl. Röm 8,26 4 Vgl. Röm 8,15 4–6 Vgl. Gal 5,22 15–16 Vgl. Apg 2,11 24–25 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79 26–27 Vgl. Röm 1,20–21

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und rufen zu Gott: Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben. O reden sie denn nicht mit verherrlichten Zungen, ist das nicht die That Gottes an ihren Herzen den sie von diesem Augenblick an in ihrem ganzen Leben preisen werden? aber das größte, m. g. F. und wichtigste ist, wie der göttliche Geist sich unter uns allmählig mittheilt dem allmählig aufwachsenden jungen Geschlechte. Wenn die jugendlichen Herzen m. g. F., früher ganz sich begnügen an den frohen Spielen des irdischen Lebens, allmählig anfangen die Töne zu verstehen, die auch ihnen in der Kindheit Tagen unverständlich erklungen, wenn ihnen auch gepredigt wird das Wort vom Erlöser der Menschen und sie aufgefordert werden seine Gemeinschaft zu suchen, wenn ihnen aus jenen fröhlichen Spielen die Pflicht, im Ernste des Lebens, und Bestimmung des Menschen aufgeht, und sie anfangen zu fühlen wozu sie berufen sind und wie viel Gnade Gott an sie gewandt, um sie vorzubereiten zu dem großen Beruf. O m. g. F. ist das nicht auch ein Reden mit | veränderten Zungen und ist in ihrem Leben das Bestreben der Gemeinschaft der Gläubigen anzuhängen, preisen sie und verherrlichen sie mit uns die großen Thaten Gottes, ja so zweifeln wir nicht es ist dieselbe Mittheilung des Geistes die eine Frucht ist von der Predigt des göttlichen Wortes, dieselbe ihrem Wesen, ihrer ganzen Herrlichkeit und Unbegreiflichkeit nach. II. Und woran wir zuletzt erinnert werden m. G. das bahnt uns den Uebergang zur zweiten Betrachtung: nemlich schon damals war, und ist immer noch die Mittheilung des göttlichen Geistes die wesentliche Bedingung der Aufnahme in die Gemeinschaft der Christen. So lautet es in unserm Texte; als Petrus sah daß der heilige Geist gefallen war auf die die ihm zuhöreten, sprach er, wer will dem Wasser wehren daß sie nicht getauft würden und aufgenommen in die Gemeinschaft der Gläubigen, und so m. g. F. geschieht es noch in der christlichen Kirche nicht nur an den äußersten Enden derselben, wo sie allmählig anfängt sich zu vergrößern aus solchen, die noch nichts gehört | vom Wort des Herrn, denn wer würde eher aufgenommen durch das Wasserbad der Taufe in ihre Gemeinschaft als bis der göttliche Geist gewürkt ein sehnliches Verlangen in ihrem Herzen, und wo sich aus Irrthum oder unbefriedigtem Wahn von selbst ein einziges Glied freiwillig von der Kirche gesondert um ein eigenes Leben für sich zu suchen, wie könnte es anders zurückkehren und sich anschließen an die Gemeinschaft der Gläubigen, als eben durch die Würkung des göttlichen Geistes in der Tiefe des Herzens. 9 Kindheit Tagen] Kindheittagen 1 Mk 9,24

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Und wenn wir sehen auf die Art wie die Gemeinschaft der Gläubigen sich ergänzt aus der unter uns aufwachsenden christlichen Jugend, so ist es wahr, seit vielen Jahrhunderten ist es Gebrauch in dem größten Theil der christlichen Kirche daß wir die Kinder aufnehmen durch das Wasserbad zu einer Zeit wo wir nicht glauben können daß sie den lebendigen Wirkungen des göttlichen Geistes schon fähig sind, weil die Kräfte der menschlichen Seele auf die er wirken muß, noch nicht entwickelt scheinen. Aber in welchem Glauben thun wir das? in dem, daß es nicht möglich | ist, geboren zu sein in der christlichen Kirche, erzogen zu werden in ihr, und fern zu bleiben von der Gemeinschaft der Gläubigen, in dem Glauben, daß die, welche als eine Gabe Gottes empfangen und begrüßt werden von freudigen Eltern, in dem ersten Kuß der Liebe eine Wirkung des höhern Geistes in sich aufnehmen, und daß vom ersten Augenblick, wo mit dem leiblichen das geistige Leben anfängt sich zu entfalten, auch der göttliche Geist seine heilsame Wirkung auf ihre Seele beginnt. Dennoch müssen wir es fühlen, diese Aufnahme in die christliche Kirche, sie wird vollendet dann, wenn die heranwachsende Jugend sich selbst bekennt zum Wasserbad der Taufe, das an ihr ist vollzogen worden, es anerkennt als ein dankenswerthes Geschenk, das sie annimmt so bald sie im Stande ist zu verstehen, daß sie aufgenommen ist in die Gnade der Christen, und dann ist die Mittheilung des göttlichen Geistes die innerste Bedingung bei dieser Aufnahme, auf zwiefache Weise, einmal so, wie es in den Worten unsers Textes enthalten ist, weil sie | den Geist Gottes empfangen, so kann Niemand wehren daß sie vollkommen aufgenommen würden in die Gemeinschaft der Christen, und um es zu werden müssen sie ihn empfangen haben, denn das Werk der Belehrung aus dem göttlichen Worte, ihnen die Schrift zu eröffnen und zugänglich zu machen, ihnen den Erlöser zu verklären, das gemeinschaftliche des häuslichen Lebens in der christlichen Kirche und die Anstalt des Unterrichts in derselben, o es kann nicht ungesegnet von Gott geblieben sein, und die Regungen des göttlichen Geistes in ihren Herzen müssen da gewesen sein, ehe sie ganz aufgenommen werden in die christliche Kirche. Aber auch so, wie in jener Rede die Petrus am Tage der Pfingsten selbst hielt, und zum versammelten Volke sagte, thut Buße und laßet euch taufen zur Vergebung der Sünden so werdet ihr empfangen die Gabe des Geistes. Auch so meine g. F. eben weil das sinnliche im Menschen eher | erwacht als er sich des Geistigen bewußt wird, hat er Buße zu thun so bald das Bewußtsein des höheren Lebens in ihm aufgeht und er kann nicht kennen lernen den Erlöser durch den Geist, ohne daß er in sich findet manches das getilgt werden muß in seiner Seele durch die Gnade Gottes, in dem Gefühl daß sie es in sich allein nicht vermögen, und das Gefühl muß in jedem sein der sich als ein Werk der kräftig liebenden Gemeinschaft findet, daß er bedürfe der 32 Vgl. Apg 2,14–36

33–34 Vgl. Apg 2,38

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Hülfe der Gemeinschaft der Gläubigen. Das muß ihrer Taufe eben so gewiß vorangehen, als die Regung des göttlichen Geistes in ihren Herzen selbst und mit derselbigen Gewißheit, mit der der Apostel sagt, thut Buße und laßet euch taufen zur Vergebung der Sünden u. s. w. mit derselben sagen wir zur Jugend wenn wir sie aufnehmen in den Schooß der christlichen Kirche nach ihrem Wunsche, hört nicht auf Buße zu thun und Vergebung zu suchen bei dem ihr sie nur allein findet, so werdet ihr, | wie der göttliche Geist in eurem Herzen wirksam gewesen, ihn empfangen in immer reichlicherm Maaße und mit uns allen gesegnet werden zum seeligen Leben aus der einen unerschöpflichen Quelle der göttlichen Gnade. Solche nun m. g. F. die eben in diesem Glauben wozu uns das große Fest dieses Tages berechtigt, in den Schooß der Kirche aufgenommen werden, sind hier zugegen, die an diesen Tagen feiern wollen das schönste Pfingstfest des Lebens, froh werden des Bewußtseins von den Würkungen des göttlichen Geistes in ihren Herzen: es sind folgende ppp. Möge uns alle, m. g. F., der köstliche Glaube erfüllen, den ich in dieser Rede gesucht habe auszusprechen, der Glaube, daß der göttliche Geist nicht aufhört von oben herab durch die Wirkung der Predigt mitgetheilt zu werden den Herzen, daß er ein sicheres Pfand der göttlichen Gnade ist, die sich von einem Geschlecht aufs andre | vererbt in der christlichen Kirche, und daß je länger er fortfährt, die menschliche Natur zu reinigen, desto größer und herrlicher seine Wirkungen unter uns erscheinen und jedes künftige Geschlecht ein herrlicheres Werk des göttlichen Geistes in Jesu Christo darstellen solle. Mögen wir alle dieses Glaubens voll werden, und mit demselben bewillkommen diese neuen Mitglieder die heute den Bund ihrer Taufe unter uns erneuern wollen und mögen sie unser aller herzlichem Gebet empfohlen sein. Alles andere, und was ein Jeder auf seinem Herzen hat fassen wir zusammen in dem Gebet des Herrn. ppp.

3 derselbigen] demselbigen unserer

4 zur] zu

8–9 reichlicherm] reichlichen

26 unser]

28 In SAr 59, Bl. 45r, folgt das Stichwort Einsegnungsrede. Diese Ansprache an die Konfirmanden ist nicht überliefert.

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Am 22. Mai 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am zweiten Pfingsttage 1820. den zweiundzwanzigsten Wunnemonds. |

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Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,1–4.15–18 Nachschrift; SAr 74, Bl. 110r–125v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 59, Bl. 46r–49v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Berliner Intelligenz-Blatt: Vor der Predigt Vocal-Musik

Tex t. Apostelgeschichte XI, 1–4. 15–18. Es kam aber vor die Apostel und Brüder, die in dem jüdischen Lande waren, daß auch die Heiden hätten Gottes Wort angenommen. Und da Petrus hinauf kam von Jerusalem, zankten mit ihm die aus der Beschneidung waren, und sprachen, du bist eingegangen zu den Männern, die Vorhaut haben, und hast mit ihnen gegessen. Petrus aber hob an, und erzählte es ihnen nach einander her und sprach, indem ich aber anfing zu reden fiel der heilige Geist auf sie gleich wie auf uns am ersten Anfang. Da gedachte ich an das Wort des Herrn als er sagte, Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber sollt mit dem heiligen Geist getauft werden. So nun Gott ihnen gleiche Gaben gegeben hat wie auch uns, die wir glauben an den Herrn Jesum Khrist; wer war ich, daß ich konnte Gott wehren? Da sie das hörten, schwiegen sie stille und lobten Gott und sprachen, so hat Gott auch den Heiden Buße gegeben zum Leben. Dies, m. g. F., ist die Fortsezung der | Geschichte, die schon gestern unsre festliche Betrachtung geleitet hat. Als Petrus den heidnischen Hauptmann Kornelius mit seiner Hausgenossenschaft und seinen Freunden getauft hatte, und sie ihn gebeten hatten, einige Tage bei ihnen zu bleiben, und er 3 XI] X 18 Vgl. oben 21. Mai 1820 nachm.

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ihre Bitte gewährt, da kam vor die Ohren der übrigen Apostel die Rede von der großen Kraft des göttlichen Wortes unter den Heiden, und die dem jüdischen Gesez noch eifrig anhängenden Khristen wunderten sich, und stellten den Petrus zur Rede, wie er habe zu heidnischen Männern gehen können, mit ihnen essen und Umgang mit ihnen pflegen. So finden wir denn hier, m. g. F., den Geist Gottes, der das Amt führt, das Evangelium zu verbreiten und zu befestigen, im siegreichen Streit mit einer beschränkten Denkungsart, welche die Gränze der Erlösung auf einen engen Raum einschränken wollte. Und wie nun dies der Grund gewesen ist von der Verbreitung des Evangeliums unter den verschiedensten Völkern der Erde ohne allen Unterschied der | Geburt und was sonst Menschen vor andern auszeichnet oder hinter sie zurükstellt, so mögen wir wohl sagen, wie die Erscheinung des Herrn selbst, so auch die Ausgießung seines Geistes auf die Jünger wäre auch wieder nur ein vergängliches Werk und Stükwerk gewesen wie alles Frühere, und wir müßten auch noch auf die lezte Vollendung der göttlichen Offenbarung warten, wenn dieser Sieg über jene beschränkte Denkungsart nicht wäre errungen worden. Und dies laßt uns also jezt zu unsrer Erbauung und Belehrung so wie zum Preise der göttlichen Gnade mit einander erwägen. Es kommt aber dabei vorzüglich darauf an, daß wir uns die ganze Bedeutung dieses Sieges recht vor Augen stellen, und daß wir uns die Frage vorlegen, worauf denn dieser Sieg des Geistes beruht habe. Das sind denn die Gegenstände, worauf sich jezt unsre khristliche Aufmerksamkeit unter dem Segen Gottes hinwenden soll. I. | Die erste Frage, welches denn die ganze große Bedeutung des Sieges sei, den der freiere Geist des Khristenthums über die beschränkte Sinnesart eines großen Theils seiner ersten Bekenner davon trug, diese Frage, m. g. F., mögen wir immer zuerst auf eine dem Anscheine nach etwas eigennüzige Art, wenn ich so sagen soll, uns vorhalten, indem wir fragen: wenn das nicht geschehen wäre, wo wären dann wir? wie würde das Evangelium vorgedrungen sein bis zu unsern Vorvätern, die es zuerst angenommen haben? wie würde es von ihnen aufgenommen worden sein, wenn ihnen bei demselben die ganze Last des jüdischen Gesezes wäre auferlegt worden? Denn m. g. F., das war nicht die Meinung jener eifrigen Anfänger des Gesezes, daß die Heiden gar nicht sollten das Evangelium annehmen, sondern sie meinten nur, sie sollten es erst durch und mit dem Judenthum annehmen, erst sollten sie von der Abgötterei und dem Heidenthum sich hinwenden zu dem Bekenntniß des Einigen Gottes nicht nur überhaupt, sondern auch verpflichtet werden durch alle heilige Gebräuche zu dem Umfange | des Gesezes, welches er ehedem durch seinen Diener Moses seinem auserwählten Volke gegeben hatte. Wenn sie nun auf diese Weise

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einverleibt worden wären der Nachkommenschaft Abrahams, auf den der Seegen der göttlichen Verheißung zuerst gelegt wurde, dann möchten sie auch die neuen Güter dieses Segens erlangen, indem sie an den glaubten, der als die Erfüllung derselben auf Erden erschienen war. Wenn nun jene Meinung damals obgesiegt hätte, als die erste Gemeine der Khristen sich versammelte, um Petrum den Apostel über sein Verfahren zur Rede zu stellen, ja wir mögen wohl billig fragen, wo wir denn sein würden und wie fern von allen Sazungen des Khristenthums. Denn in der Zeit desselben, m. g. F., wo unsre Vorväter, die Ahnherrn des gesamten deutschen Volks, zwar ebenfals versunken in ähnliche Unwißenheit und Irrthümer, wie die übrigen Völker des Heidenthums, zum Theil verkehrt und zum Theil kindisch war in der Art, wie sie eines | unerleuchteten Herzens dunkelem Bewußtsein von dem höheren Wesen Raum gaben in äußerer Verehrung; aber so freien Geistes waren sie, daß sie auch damals viel weniger als andre in einem ähnlichen Zustande sich befindende Völker niedergedrükt waren in ihrer Gottesverehrung von einer großen Masse äußerer Gebräuche und schwer zu vollbringender Übungen, sondern wie günstig sie gestellt waren unter den freien Himmel, so auch mit dem freien Gemüthe suchten sie ihr unvollkommnes Bewußtsein in sich selbst zu beleben und andern kund zu thun – wie gern und willig nahmen sie das Evangelium auf von dem Erlöser der Welt, als es ihnen gepredigt wurde! Nicht alle freilich gleich, aber wie sehr es doch ihrer Denkungsart und ihrer Natur angemessen war, das sehen wir aus den schnellen Fortschritten, die das Evangelium überall in deutschen Landen machte, daß selbst da wo es, was freilich nie hätte | geschehen sollen, zuerst durch die Gewalt des Schwertes eingeführt wurde, doch gar bald alle Spuren dieser gewaltthätigen Erscheinung sich verloren, und jener Väter Söhne gar bald eifrige Bekenner des Khristenthums wurden. Aber die Last des jüdischen Gesezes freilich, die gehaltlosen Gebote und Pflichten, die unübersehbaren äußern Gebräuche, wir dürfen es wohl sagen, dazu würden sie sich niemals verstanden haben, und wären die Segnungen des Evangeliums an diese Bedingung gebunden geblieben, sie würden sich nie unter uns verbreitet haben. Und dasselbe mögen wir wohl sagen von vielen Völkern, die sich nun schon seit Jahrhunderten der freien Verehrung Gottes in dem Namen und in dem Bekenntniße seines Sohnes erfreuen, und unter denen auf eine vorzügliche Weise sein Name und Werk unter den Menschen verherrlicht wird. Ja noch mehr, die Geschichte hat es gelehrt, daß unter denen, die auch | damals ihrer ursprünglichen Sinnesart treu blieben, und fortfuhren auch als Bekenner des Evangeliums von sich die ganze Beobachtung des Gesezes zu fordern, der Segen des Khristenthums nicht lange anhielt, und daß diejenigen, die sich nicht zu jener freien Sinnesart erheben, und das Joch des Gesezes abwehren konnten, daß diese gar bald in der 1–2 Vgl. Gen 12,2

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Geschichte des Khristenthums wieder verschwanden. Aber nicht nur würde das Evangelium in weit engere Gränzen sein eingeschlossen gewesen, sondern wir dürfen auch noch mehr sagen: wo wäre denn wohl die ganze Freudigkeit und Reinigkeit des wahren khristlichen Glaubens geblieben? Gedenket mit mir, indem wir uns diese Frage vorlegen, jenes ernsten Wortes des Apostels Paulus, das er zu den Galatern sagt : „ich verkündige euch nochmals“, sagt er, „daß so ihr euch binden laßt an das Gesez Moses, so ist Khristus für euch vergeblich gestorben“. Und wahr müssen wir dieses | Wort finden in unserm eigenen Gefühl, wenn wir es genauer überlegen. Denn, m. g. F., das sagt ja auch der Erlöser, daß der Mensch nicht kann zween Herren dienen; und der dem zweierlei vorgehalten wird, woran er sich halten soll, was er in sich selbst nicht kann in Eines verwandeln, der ist und bleibt immer übel daran getheilten und unsichern Herzens. Sollen wir glauben an den Erlöser, dabei aber auch gebunden sein an ein schweres äußeres Gesez, wie würde unser Herz immer hin und her schwanken, nicht wissend was denn nun das Eigentliche sei, worin die Kraft der Zuversicht ruht; ob in dem Glauben, ob in dem Gesez, und das Herz des Menschen würde zu der Ruhe, zu dem Frieden gekommen sein, welchen doch zu bringen der Erlöser gekommen war. Und das Gesez, wie derselbe Apostel sagt, das war und blieb ein ängstlichendes Wesen, denn es war darin geschrieben „wer alle die Worte thun wird, die da geschrieben stehen in diesem Buche des Gesezes, der | wird leben“. Das wußte aber jeder, daß er sie nicht alle thun konnte, daß es unmöglich war in den mannichfaltigen Verkettungen des Lebens nicht diese oder jene von den zahllosen äußern Vorschriften zu übersehen und zu übertreten. Wäre uns nun neben dem Glauben an den Erlöser das Gesez noch gegeben, o so wären wir ja Knechte gewesen der Furcht, von welcher der Erlöser uns zu befreien erschienen war, und die Freiheit der Kinder Gottes, zu der wir durch ihn berufen sind, sie wäre nie ans Licht gekommen. Wir hätten auch dann, m. g. F., nicht wissen können, welchen Werth eigentlich die göttliche Offenbarung in Khristo unserm Herrn habe: ob durch ihn nur hätte sollen gereinigt werden jenes alte Gesez, übrigens also der Mensch in seinem ganzen Verhältniß gegen den himmlischen Vater auf derselben Stufe stehen geblieben wäre, auf der er früher stand; oder ob jene nun wieder eine Vorbereitung gewesen | wäre um das Vollkommene ans Licht zu bringen. Aber wenn neben dem Vollkommnen doch nicht sollte und durfte das Unvollkommene ganz verschwinden, wie dies denn eben bestimmt ist, so würde sich nur viel eher das menschliche Gemüth zu diesem gekehrt haben als zu jenem. Und es beweist auch dies die Geschichte der khristlichen Kirche, daß unter denen, die neben dem Glauben an das Evangelium auch noch den Gehorsam ge6–8 Vgl. Gal 2,21 10–11 Vgl. Mt 6,24; Lk 16,13 in Gal 3,12) 28 Vgl. Röm 8,21

21–22 Vgl. Lev 18,5 (zitiert

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gen das Gesez forderten, die reine Erkenntniß von Jesu als dem Sohn des hochgelobten Gottes, als dem Worte Gottes, das auf der Erde erschienen und Fleisch geworden ist, daß diese allein den Glauben befestigende, das Herz wahrhaft erhöhende und in der Gemeinschaft mit Gott durch Khristum erhaltende Lehre unter ihnen nicht Raum fand, daß der Erlöser der Welt unter ihnen nur in eine Reihe gestellt wurde mit allen übrigen Dienern und Werkzeugen des Herrn, deren er sich zu diesem oder jenem Zweke bediente, mit allen Propheten und | Lehrern, die sonst vom Geiste getrieben ein Wort Gottes an die Menschen zu reden hatten. – Das, m. g. F., das ist die große Bedeutung des Sieges, den damals durch den Mund des Apostels Petrus der freie Geist des Khristenthums, der für die Verbreitung des Segens des Evangeliums unter allen Völkern der Erde gewirkt hat, über jene beschränkte Sinnesart erfocht. In engere Grenzen nicht nur eingeschlossen, sondern auch in sich selbst unvollkommen, und sich zu seiner rein geistigen Gestalt nicht erhebend, wäre das Khristenthum, m. g. F., wenig mehr gewesen als eine einzelne von den Sekten, die unter dem jüdischen Volke bestanden, und mit demselben so gut als untergegangen sind. Die meisten also, m. g. F., von denen unter allen Geschlechtern der Menschen, die sich seitdem rühmen Theilhaber zu sein an der Gemeinschaft mit Gott, die Khristus der Herr gestif|tet hat, die danken es dem Worte, welches damals mit solchem Siege Petrus der Apostel sprach; damals oder, aber freilich im Wesen dasselbige, bei einer ähnlichen Gelegenheit mußte dieser Sieg erfochten werden, sollte das Werk des Herrn auf Erden bestehen, und zu seinem Ziele geführt werden, aber nicht nur in Beziehung auf seine äußere Ausbreitung zu seinem Ziele, sondern auch in Beziehung auf seine innere Schönheit und Vollendung. Dadurch also ist die große so weit umfassende Gemeinschaft der Gläubigen an den Erlöser gestiftet worden. II. Nun aber laßt uns bedenken, daß alles Lebendige, alles Gute was auf dem Höheren und Geistigen des Menschen ruht, nur auf dieselbe Weise und unter denselben Gesezen kann erhalten werden, unter denen es gestiftet worden. Und weil es unser Beruf ist, die Segnungen des Evangeliums in einer eben so reinen Gemeinschaft aller Gläubigen frei von allen | andern Banden und nur auf den einen Ruhm dem künftigen Geschlecht zu überbringen: so ist uns eben deßwegen von großer Wichtigkeit die Beantwortung der zweiten Frage, wodurch denn jener Sieg des Apostels über die beschränkte Denkart der meisten seiner Mitkhristen sei erfochten worden. Und hier scheint mir die Erzählung unsers Textes eine zweifache Antwort 14 in sich] in 1–2 Vgl. Mk 14,61

2–3 Vgl. Joh 1,14

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zu geben. Einmal war der Grund davon die reine und kindliche Demuth des Apostels selbst, mit welcher er in denjenigen, zu denen er damals redete, die gleichen Gaben des Geistes erkannte, die er selbst empfangen hatte. Er, m. g. F., der sich so lange der eigenen Belehrung und des vertrauten Umganges des Erlösers erfreut hatte, den schon vor so langer Zeit der Herr ausgezeichnet hatte als denjenigen, auf welchem seine Gemeine ruhen sollte – und wahrlich ein solcher Mann mußte es sein, der mit so unerschrokenem Muthe vor den Großen der Erde, den Vertheidigern des alten Gesezes, stehen konnte in dem | Namen des Herrn wie Petrus – er der zuerst im Namen aller seiner Mitbrüder das große Bekenntniß abgelegt, sein Herr und Meister sei der Gesalbte, der von Gott gesandte ewige Sohn desselben; er in dem die Reden des Erlösers so tiefe Wurzel gefaßt hatten, daß der Geist, als er mit höhern Kräften von oben die Jünger erfüllte, nichts anders brauchte als ihn zu erinnern dessen, was er gehört hatte, um ihn aufzuregen zu jener standhaften und in der Folge nie wieder ermüdenden Verkündigung des Evangeliums; er der gleich das erstemal, als er öffentlich aufgetreten war zu lehren, so die Gemüther bewegt hatte, daß mehrere tausend Seelen von der Kraft seiner Rede ergriffen, hinzugethan wurden zu der Gemeine der Gläubigen – in dem er sprach vor einer kleinen Zahl bisher in den tiefsten Aberglauben versunken gewesenen heidnischen Männer und Frauen, denen er zuerst die dunkelen Gerüchte, die sie gehört hatten von Jesu von Nazareth, klar machte, die er von der noch | nicht ganz befriedigenden Sehnsucht nach der näheren Gemeinschaft mit dem damals schon so tief herabgesunkenen auserwählten Volke des Herrn zu der höhern Gemeinschaft mit dem Erlöser und zu seinem geistigen Reiche hinwenden wollte, indem er vor diesen stand, und der Geist Gottes auch in ihrem Herzen sich zu regen und zu wirken anfing – aber wie sehr auch dieser Geist, m. g. F., immer Einer und derselbige ist und überall sich selbst gleich, es ist doch nicht anders möglich, wenn er durch Menschen redet, so muß seine Rede etwas in sich tragen von den Werkzeugen, deren er sich bedient, denn sonst würde er die ganze Ordnung der Dinge umkehren – es wirkte also der göttliche Geist auch in diesen, aber in diesen, die noch schwache Kinder waren im Glauben, was konnten diese, auch durch den Geist Gottes angeregt, was konnten sie anders als lallen wie die Kinder: – aber da erkannte der große Apostel, der demüthige Apostel, die gleichen Gaben, die er selbst empfangen hatte, und weil | er diese erkannte, so fühlte er sich ohnerachtet der alten Trennung, die zwischen seinem Volke und den übrigen bestand, berufen diese Heiden zu taufen im Namen des Herrn, und scheute sich nicht mit ihnen zu leben. O das ist das größte Vorbild khristlicher Demuth für uns; und ich muß es sagen, nur dadurch und unter der Bedingung, daß alle diese Demuth des Apostels nachahmen 5–7 Vgl. Mt 16,18

9–11 Vgl. Mt 16,16

16–19 Vgl. Apg 2,14–41

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können, kann die Eine unvergängliche Gemeine aller Gläubigen, die unsichtbare Kirche unsers Herrn immer mehr in Liebe verbunden bleiben. Wie verhält sich doch, m. g. F., aller Unterschied, der jezt unter den Khristen Statt finden kann, wenn einige erleuchteter sind als andre, wenn einige meinen einen reinen Glauben zu haben, und andre eben sich für schwach halten, wie verhält sich doch dieser Unterschied zu jenem Unterschied zwischen dem großen Apostel des Herrn und zwischen denen, die in diesem Augenblik erst das Wort Gottes vernehmen, und ihre Augen dem himmlischen Lichte der Wahrheit öffneten? wie nichtig muß uns in Vergl|eichung damit jeder Unterschied zwischen dem einen Khristen und dem andern in dieser unsrer Zeit erscheinen? Und doch giebt es solche, die sich scheuen diesen oder jenen als ihren Bruder anzuerkennen, die sich scheuen in einer engern Verbindung des Herzens mit denen zu sein und zu bleiben, von denen sie meinen, sie stehen ihnen nicht gleich in Reinheit und Vollkommenheit des Glaubens, indem sie nicht erkennen wollen die gleichen Gaben des Geistes, die auch sie empfangen haben. O so laßt uns doch fragen, welches sind denn diese Gaben? Was sagt der Apostel? „die Frucht des Geistes ist Liebe Friede Freude Gütigkeit und Gerechtigkeit“. Wenn wir die finden bei denen, die da glauben an den Namen unsers Herrn, die sich nicht schämen, seinen Namen zu bekennen und zu gestehen, daß alles was sie Schönes und Gutes in sich tragen von ihm herrührt, daß sein Bild es ist, welches sie darzustellen | suchen in ihrem Denken und Thun, und daß er die Überschrift ist zu ihrem Leben, wenn wir also diese finden: o mögen wir dann nur selbst nicht fragen, ob wir sie in einem höhern Grade haben und umfassender, oder ob schwächer und eingeschränkter! Laßt sie uns erkennen, damit wir uns nicht selbst ausschließen aus der großen Gemeinschaft der Gläubigen, damit wir nicht selbst dem großen Wort des Herrn in den Weg treten, der da wollte, daß alle wie Ein Hirt so auch Eine Heerde seien, und laßt uns darauf denken, und dafür wirken, daß, wenn es einmal nicht anders sein kann mit den andern Unterschieden der Menschen, doch die Einheit Jener unsichtbaren Kirche erscheinen möge, in welcher überall derselbe Geist, derselbe Glaube und dieselbe Liebe besteht. Aber nicht nur in dem Apostel, sondern auch in denen die ihm zuhörten, war außer jener beschränkten Sinnesart, durch welche sie getrieben wurden ihn zur Rede zu stellen, etwas was sie in den Stand | setzte, den guten Eindruk seiner Rede aufzufassen, ihre beschränkte Sinnesart zu vertreiben, und in jene begeisterten Worte auszubrechen „so laßt uns denn Gott loben, der auch den Heiden Buße gegeben hat zum Leben“. Und was war das? Es spricht sich in dem ganzen Zusammenhang der damaligen 6 verhält] erhält

18 Friede] Freude

17–18 Vgl. Gal 5,22

28–29 Vgl. Joh 10,16

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Begebenheit deutlich genug aus; es war die große Erwartung, die sie hegten von den Dingen welche geschehen sollten durch die Kraft aus der Höhe, die über sie kommen würde, und durch die Verheißung, mit welcher der Erlöser sie verlassen hatte, als er von der Erde sich erhob. Von dieser Erwartung waren sie erfüllt gewesen seit dem er das große Wort dieser Verheißung zu ihnen gesprochen hatte, in dieser Erwartung hatten sie alle gläubig geharrt bis die Stunde kommen würde, wo er sie erfüllte mit Kraft aus der Höhe. Und wenn nun gleich bei den meisten ausgezeichnete und die göttlichen Schikungen überschreitende Erwartungen jener Kraft sich fanden, daß, was in ihnen zurükgeblieben war | aus ihrem frühern Zustande, sie hofften auf eine vorzügliche Weise erfüllt zu sehen: sie wußten diese Bewegungen zu unterdrüken, sobald sie in sich aufnahmen das Gefühl, daß die Kraft der göttlichen Gnade an keinen Unterschied der Völker gebunden sei; die Macht der Beschränktheit wich; und sie brachen einstimmig mit dem Apostel in jene Worte des Lobes und des Dankes aus. Und wir, m. g. F., die wir so viel reichere Erfahrungen haben von dem Segen Gottes, der auf der Verkündigung und Verbreitung des Evangeliums ruht, können wir sagen, daß die Kraft desselben etwa schwächer geworden ist und weniger wirksam? Wir die wir Theil nehmen durch die Gnade Gottes an jener Mittheilung des Geistes, sollten wir weniger im Stande sein sein Wort zu erkennen überall wo wir es nur finden können? sollten wir weniger Verlangen haben, um mit sehnsüchtigen Augen überall herumzuschauen, wo wir es finden möchten. Und wenn wir doch noch so viel ähnliche beklagenswerthe Beispiele | unter den Khristen finden, wenn doch noch nicht überall so rein ist wie sie sein sollte die Neigung unter andern Gestallten dennoch das Werk des göttlichen Geistes zu erkennen: o so laßt uns das demüthige Bekenntniß ablegen, daß wir zurükstehen hinter jenen ersten Khristen in den Erwartungen, welche sie hatten von den Erweisungen der göttlichen Gnade. Wir sollten es aber nicht, eben wegen jenes reichen Schazes von Erfahrungen, den wir vor ihnen voraus haben. Nicht nur überall sollen wir geneigt sein, wo wir nur Menschen sehen – und wir sehen sie ja überall – sie als Geschöpfe des höchsten Wesens anzuerkennen, und ihnen mit wahrhaft menschlichen Gefühlen zu begegnen; überall sollen wir auch darauf gefaßt sein zu finden das Werk des göttlichen Geistes in ihnen. Und wenn wir so überall mit liebender Sehnsucht darauf gerichtet wären, dieses zu suchen und zu sehen, o dann würden | auch von unsern Augen immer mehr die Schuppen fallen, dann würden auch wir immer mehr frei werden von allem, was jezt noch den Sinn und die Liebe so vieler beschränkt. Darum nun ist es allein jener herrliche Sinn des Apostels, durch welchen die große Gemeine der Khristen wie sie gestiftet worden ist, so erhalten werden kann auch für das künftige Geschlecht. Denn alles Beschränkende 1–4 Vgl. Mt 28,20; Lk 24,49; Apg 1,4–5.8

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trennt, und jeder beschränkende Sinn in dem liegt die Neigung, die große Eine Kirche aufzulösen in eine große Menge kleiner von einander geschiedener Gesellschaften, die wiewohl eng unter sich verbunden, aber in einem beschränkenden Sinne verbunden nicht durch den religiösen Geist des Glaubens und der Liebe sich von andern trennen, und alles was unter ihnen sich zeigt mit getrübten | Augen ansehen, wenig geschikt zu jener Einheit, die nach den Worten des Erlösers bestehen soll unter seiner Heerde. Darum, m. g. F., in diesen Tagen, wo wir das Fest des Geistes mit einander feiern, o laßt es uns feiern mit jenem Sinne, der alles in Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe auf nehmen will, was mit treuem Herzen den Namen des Herrn verehrt, und bei denen sich die wahren Gaben des Geistes, die kräftigen, durch deren Gebrauch allein das Reich Gottes gefördert werden kann, die tröstlichen, von denen alle Seligkeit ausgeht bis ans Ende der Tage, wirksam finden. Und zweierlei haben wir, was uns immer wieder zurükführt von allen andern Beschränkungen, die in dieser oder jener Hinsicht unter uns Statt finden, zu der Einen großen Gemeine der Gläubigen. Es ist das Eine Wort Gottes, aus welchem wir | uns alle erbauen und befestigen zu einem gottgefälligen Leben, welches für uns alle das Richtmaaß ist aller menschlichen Gedanken über göttliche Dinge, und aus welchem alle zu lernen suchen, um immer gewißer zu werden über das was der Wille Gottes an uns ist. Die dies eben so suchen wie wir, sie sind dadurch Schüler desselben Geistes, und sie können aus derselben Quelle nichts anders als dasselbe ungetheilte genügende und ewige Leben schöpfen, so sie nur mit unbefangenem Sinn ohne vorgefaßte Meinungen zu derselben hinabsteigen. Das zweite ist das Mahl des Herrn, welches überall unter seinen Bekennern ausgezeichnet ist zu seinem Gedächtniß nicht nur, sondern auch zu einer immer innigern Vereinigung mit ihm. Je mehr wir von diesem alles Trennende und Spaltende entfernt halten können, je mehr wir uns einigen können zu demselben Genuß, um desto reichlicher muß der Segen | desselben über uns kommen, und desto mehr müßen wir im Innersten unsers Herzens die Wahrheit fühlen, daß, wie weit auch in menschlichen Dingen der eine von dem andern entfernt stehen mag, die hier versammelt sind alle Glieder sind an dem Einen Leibe, von welchem Christus das Haupt ist. Und beides, m. g. F., ist beständig unter uns als Mittel der göttlichen Gnade zu unsrer Seligkeit. Täglich nehmen wir unsre Zuflucht zu dem Worte Gottes, und oft vereinigen wir uns um den Tisch des Herrn sein Mahl mit einander zu feiern. O so möge denn immer mehr unter uns aller beschränkende Sinn ausgerottet werden, so mögen wir immer mehr geheiligt werden durch die Kraft der Wahrheit, die lebendig wirkte in jenem großen Apostel, und die durch ihn sich ergoß über diejenigen, die gekommen waren ihn zu hören, und die überwältigt wurden von | der Kraft seiner göttlichen Rede: damit wir 6–7 Vgl. Joh 10,16

32–33 Vgl. Eph 4,15–16

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so immer mehr von ihm fühlen lernen wie es Ein Geist ist, der alles beseelt und durchdringt, was den Namen des Herrn bekennt und damit wir uns immer inniger verflochten fühlen, in die unsichtbare Gemeine des Geistes und Glaubens, von welcher allein es gilt daß wie Ein Hirt so auch Eine Heerde es ist und immerdar sein wird. Amen. Ja barmherziger Gott und Vater, ein Volk des Eigenthums hast du dir bereitet durch die Sendung des Sohnes und die Kraft des Geistes; ein Volk des Eigenthums laß uns alle immer mehr werden, die seinen Namen bekennen, ein geistiges priesterliches Volk, unter welchem das Bild der geistigen Kraft des Herrn wirke eine Vollkommenheit nach der andern, und uns erhebe in der Seligkeit des Glaubens und der Liebe von einer Stufe zur andern, und uns immer mehr | verkläre das höhere Licht der heiligen und erhebenden Wahrheit, die dein Sohn auf Erden verkündigt hat. O dazu laß überall in der khristlichen Kirche die Feier dieser großen Tage, dazu laß immer und überall die Verkündigung deines Wortes gesegnet sein, und knüpfe immer enger das Band der khristlichen Gemeine, die Einen und denselben Erlöser bekennen, und durch Einen und denselben Glauben Bruderfrieden mit dir haben wollen, der du durch ihn die Welt versöhnt hast mit dir selbst. Schaffe aber auch gütiger Gott und Vater, deiner Kirche Pfleger und Versorger an allen Obrigkeiten Fürsten und Königen der Völker. Vor allem laß Deine Gnade und Barmherzigkeit groß sein über unserm theuren König und über dem königlichen Hause, und seze dasselbe unter uns | als ein erfreuliches Beispiel eines dir wohlgefälligen Lebens. Dem Könige aber verleihe zu seiner Regierung alle Gaben des Geistes und des Herzens, deren er bedarf zur Erfüllung seines Berufes. Umgieb ihn mit treuen und redlichen Dienern, die ihm helfen das Rechte erkennen, und die ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit das Erkannte ausführen. Verschaffe ihm an uns und überall in dem Umfange seines Reiches gehorsame Unterthanen, damit wir unter seinem Schirm und Schuz des Namens eines khristlichen Volkes, das von dem Geiste deines Sohnes getrieben ist immer würdiger werden. Segne dazu, gütiger Gott, überall unter uns die Erziehung der Jugend in der Furcht des Herrn; segne dazu auch einen jeden in dem Kreise seines Berufes, und begründe es uns allen in mancherlei tröstlichen Erfahrungen immer wieder, daß wir | Arbeiter sind und nicht ungesegnete in deinem Weinberg. Erfülle aber mit deinem tröstenden beruhigenden Geiste alle diejenigen, die von den Widerwärtigkeiten dieses Lebens getrieben ihre Zuflucht zu 4 wie] wir 4–5 Joh 10,16

6.7–8 Vgl. 1Petr 2,9; Tit 2,14

9 Vgl. 1Petr 2,9

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dir nehmen, damit das dein Geist unter uns immer mehr befestige, daß denen die dich lieben alle Dinge zum Besten dienen müßen. Amen.

[Liederblatt vom 22. Mai 1820:] Am zweiten Pfingsttage 1820. Vor dem Gebet. – Mel. An Wasserflüssen etc. [1.] Dir Vater, der du deinen Sohn / Zum Heil uns hast gegeben, / Dir dank ich hier mit Freuden schon / Noch mehr im höhern Leben. / Ich danke dir, daß du den Geist, / Der uns der Finsterniß entreißt, / Zur Erde hast gesendet. / Auf Jesu Wort kam er herab, / Der seinen Boten Stärke gab, / Daß sie dein Werk vollendet. // [2.] Erfüllt von seiner Wunderkraft / Gehn sie die Welt zu lehren; / Der Geist, der neue Herzen schafft, / Hilft ihnen sie bekehren. / Die Völker hören hocherfreut / Die Botschaft ihrer Seligkeit; / Das Licht von oben sieget. / Die angestammte Blindheit flieht, / Kein Nebel mehr das Aug’ umzieht, / Des Bösen Macht erlieget. // [3.] Noch jetzt bist du, o Geist der Kraft, / Noch jetzt der Menschen Lehrer. / Du bist, der wahre Weisheit schafft, / Des Sündenreichs Zerstörer. / In Sündern wirkst du Reu und Leid, / In frommen Seelen Fried und Freud, / Und Muth im Kampf der Sünden; / In Leiden sprichst du Trost uns zu, / Im Tode schenkst du Seelenruh, / Und hilfst uns überwinden. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Komm heilger Geist etc. Sei, Welterlöser, sei gepreist, / Du sandtest uns den theuren Geist, / Der uns in alle Wahrheit leite, / Und uns zum Himmel zubereite. / Er schenket uns zum Guten Kraft, / Stärkt uns in dieser Pilgerschaft, / Den Lauf zum Ziele zu vollbringen, / Und einst die Krone zu erringen, / Hallelujah, Hallelujah! // Chor. Sei hochgelobt, Gott heilger Geist, / Vom Vater uns herabgesendet, / Der dich zum Führer dem verheißt, / Der demuthsvoll zu ihm sich wendet. / Erbarme dich, wir flehn um Heiligung! / Aus deiner Kraft kommt Sinnesänderung. // Choral. Geist Gottes! wer kann dich verstehen, / Wem leuchtet dein durchdringend Licht? / Wer strebt zu deiner Weisheit Höhen? / Wer weise sich schon dünket nicht. / Du bist ein Licht; doch nur den Blinden; / Wer bei sich selbst noch Rath kann finden, / Dem ist bei dir kein Trost bereit. / Nur dem bist du des Lebens Quelle, / Der an des Unterganges Schwelle / In sich verzagt um Hülfe schreit. // 2 Röm 8,28

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Zwei Stimmen. Erfülle uns mit deinen Gütern, / O Gottesgeist! zeuch uns zu dir, / Dein Gnadenlicht strahl den Gemüthern / In seiner Kraft zum Heil herfür! / Ein reines Herz, ein ruhiges Gewissen, / Des Mittlers Huld laß trostreich uns genießen. / Verlaß uns nicht! Hilf uns die Sünde scheun, / Dann sind wir ewig dein. // Chor. Wer ist wie der Herr unser Gott, der sich so mild und gnädig zeigt, und uns das Licht der Erkenntniß vom Himmel herabschickt. Hallelujah! // Gemeine. O send ihn auch zu uns den Geist, / Der uns den Weg der Wahrheit weist! / Ach dunkel sind’ des Lebens Pfade: / Erleuchte sie durch deine Gnade! / Er lehr uns Gottes Heil verstehn, / Er leit’ uns, wenn wir irre gehn; / Und wenn wir straucheln und ermüden, / Dann stärk er uns mit Kraft hienieden. /Hallelujah, Hallelujah! // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Ja du allein, du Geist der Wahrheit, / Machst unsern Pilgerschritt gewiß, / Und leitest stärkend uns mit Klarheit, / Durch unbekannte Finsterniß. / Du bist der Beistand unsers Lebens, / Dir rufen niemals wir vergebens, / Wenn unser Fuß den Pfad verliert. / Dein Trost ist’s, der die Schwachheit stüzet, / Dein Wort die Kraft, die uns beschüzet, / Du selber bist es, der uns führt. //

Am 28. Mai 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 1,8 a. Autograph Schleiermachers; SAr 74, Bl. 126v–127v; Slg. Wwe. SM, Andrae (Unvollendete Überarbeitung der unter b. gebotenen Nachschrift) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 74, Bl. 126r–139r; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 100, Bl. 6r–17v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 37r–38r; Gemberg Nachschrift; SAr 51, Bl. 59r–62v; Maquet Nachschrift; SAr 59, Bl. 50r–53r; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Autograph Schleiermachers (Überarbeitung einer Nachschrift) 126v

XXII. Die Zulänglichkeit der christlichen Offenbarung für alle Zeiten. Am Trinitatisfest.

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Text. Galater I, 8. Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde ein anderes Evangelium predigen, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht. Diese Worte, m. g. F., schiken sich recht wohl unsre Betrachtung zu leiten an einem Tage wie der heutige, an dem wir auf die ganze abermals an uns vorübergegangene Reihe unsrer schönen khristlichen Fe4 Text.] Am Rand die Anweisung von Schleiermachers Hand: NB. Statt kh immer ch 1 Die Zählung ist vermutlich dadurch zu erklären, dass Schleiermacher die Nachschrift für eine von ihm umfänglicher geplante 5. Sammlung zu überarbeiten begonnen hat.

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ste und die darin enthaltene Gestalt der göttlichen Offenbarung in Christo zurüksehend uns in uns selbst müssen gesättigt fühlen von den hohen und himmlischen Gütern, die uns durch diese Offenbarung eben zu Theil geworden sind. Denn diese Grenze schließt zugleich das Bewußtsein in sich, daß Höheres und Beßeres dem Menschen gar nicht könne gegeben werden, und daß jede Verleitung auf einen andern Weg, jede Lockung der Seele zu andern ihr vorgespiegelten Gütern nichts anders sein könne als eine Verlockung auf den Weg des Verderbens. Diesen Gedanken, m. g. F., ich meine den von der Zulänglichkeit | der uns durch das Christenthum gewordenen Offenbarung Gottes für alle Zeiten der so deutlich und bestimmt in den Worten unsers Textes ausgesprochen ist, diesen [Der Text endet hier.]

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b. Nachschrift Predigt am Sonntage Trinitatis 1820. am achtundzwanzigsten Wunnemonds. | 15

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Tex t. Galater I, 8. Aber so auch wir oder ein Engel vom Himmel euch würde ein anderes Evangelium predigen, denn das wir euch gepredigt haben, der sei verflucht. Diese Worte, m. g. F., schiken sich recht wohl unsre Betrachtung zu leiten an einem Tage wie der heutige, an dem wir auf die ganze abermals von uns vorübergegangene Reihe unsrer schönen khristlichen Feste und die darin enthaltene Gestalt der göttlichen Offenbarung in Khristo zurüksehend uns in uns selbst müssen gesättigt fühlen von den hohen und himmlischen Gütern, die uns durch diese Offenbarung eben zu Theil geworden sind, und recht beleben müssen das Gefühl, daß höheres und beßeres dem Menschen gar nicht könne gegeben werden, und daß jede Verleitung auf einen andern Weg, jede Lokung der Seele zu andern ihr vorgespiegelten Gütern nichts anders sein könne als eine Verlokung auf den Weg des Verderbens. Diesen Gedanken, m. g. F., ich meine den von der ewigen Zulänglichkeit | der Offenbarung Gottes der uns durch das Khristenthum geworden ist, der so deutlich und bestimmt in den Worten unsers Textes ausgesprochen ist, den laßt uns jezt unter dem Beistande Gottes weiter mit einander verfolgen. Ich glaube, es ist dabei das Natürlichste, daß wir auf der einen Seite zurüksehen in die Vergangenheit, auf der andern aber auch hinaus in die Zukunft. 12 diesen] Schleiermachers Überarbeitung endet mit gestrichenem den in Zeile 32 32 den] darüber das letzte Wort von Schleiermachers Text in Zeile 12

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I. Denn wenn wir zuerst in die Vergangenheit zurüksehen, so müßen wir wohl gestehen, daß das Tichten und Trachten aller Menschen auf Erden, die von jeher nach Gott gefragt haben, gestillt und befriedigt worden ist durch diese göttliche Offenbarung in Khristo und seinem Geist. Denn sehen wir auf das Volk, welches als ein auserwähltes von Gott die Erkenntniß des Einigen höchsten Wesens unter sich bewahrt hatte, während die meisten Geschlechter der Menschen das angeborene Bewußtsein Gottes verkehrt hatten in ein verderbliches | Bild, wenn wir auf jenes sehen, sage ich: wie anders hat sich die Sehnsucht desselben von Anbeginn an ausgesprochen als durch die Hinweisung auf den einen, der hernach wirklich gekommen ist? wie erschienen allen Beßern die Einrichtungen des Gesezes, welche dieses Volk zusammenhielten, anders als eben so wie der Apostel Paulus, nachdem er sich bekehrt hatte, im Lichte des Evangeliums erblikte, und wie er es uns darstellt in eben diesem Briefe, woraus die Worte unsers Textes genommen sind, daß das Gesez nichts anders gewesen sei als ein Zuchtmeister bis dahin, daß die Zeit würde erfüllet werden, und daß, indem es nichts sollte und konnte als Erkenntniß der Sünde bewirken, es eben unter dieser Erkenntniß der Sünde die Menschen zusammenhalten sollte für den, der da kommen würde und sie frei machen? Und wenn der Herr von Zeit zu Zeit unter ihnen aufstehen ließ auserwählte Rüstzeuge, heilige Propheten und Sänger, die, indem sie auf | der einen Seite das Volk kräftig warnten, sich nicht durch die ungebundenen Beispiele der heidnischen Völker von der Erkenntniß des einen Gottes abwenden zu lassen, sondern fest zu halten an dem Gesez, doch zugleich sagten, daß Gott Barmherzigkeit und Liebe mehr begehre als alle Opfer, die das Gesez fodere, wenn der Höchste, sage ich, von Zeit zu Zeit solche heilige Männer unter ihnen aufstehen ließ, die zu ihnen redeten, weil die Stimme des Herrn an sie ergangen war, die zu ihnen redeten nicht durch sich selbst sondern getrieben vom heiligen Geist: o was war dann die Sehnsucht aller Beßern, die sie bei einer solchen himmlischen Erscheinung ergriff, als das Verlangen nach einer Zeit, wo dieser göttliche Geist, der immer Einzelne nur und auf eine vorübergehende Weise anregte, ein gemeinsames Gut aller sein würde, die den Namen des Höchsten verehrten und anbeteten. Und so war denn die Sehnsucht der Frommen den Offenbarun|gen Gottes zugewendet, die Ja und Amen geworden sind als das Wort Fleisch ward, und der Herr, nachdem er den verheißenen Geist auf seine Jünger ergoß, nicht damit er wieder wie ehedem jezt einen und nach langen Zwischenräumen einen andern wieder aufregte, das an ihn ergangene Wort des Herrn vor den Menschen auszusprechen, sondern damit er derselbe in Khristo dem Haupte und derselbe in allen seinen Glie7–9 Vgl. Röm 1,23 16–17 Vgl. Gal 3,24 Hos 6,6 36 Joh 1,14

17–18 Vgl. Röm 3,20

25–26 Vgl.

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dern einen größern Leib aus ihnen bildete, und sie alle so belebte, daß er das Bild dessen, den Gott ihnen zum Heile gesandt hatte immer vollkommner in ihnen gestalten sollte. Aber freilich, m. g. F., dieses Volk war nur ein kleiner Theil des menschlichen Geschlechts, wie wohl, wenn schon in andern Dingen andre ihm mochten vorangegangen sein, immer besonders der beste und innerste Kern desselben doch nur die Augen des Geistes auf Einen Herrn schaffend erhaltend und leitend die ganze Welt hingerichtet hatte. Aber auch die andern, wie wohl | in so viele Thorheiten dahingegeben eben weil sie durch Ungerechtigkeit und durch verderbliche Begierde ihres Herzens, wie der Apostel Paulus in seinem Briefe an die Römer sagt, die innere Wahrheit in sich verkehrt hatten, und die ursprüngliche Offenbarung Gottes an die menschliche Natur, daß er sei aus seinen Werken zu erkennen, nicht mehr zu vernehmen im Stande gewesen waren: in allen regte sich doch von Zeit zu Zeit das nie ganz erloschene Gefühl, alle strebten doch, indem sie Ein höchstes Wesen suchten, welches sie kaum mehr zu denken vermochten, nach lebendiger Gemeinschaft mit demselben. Aber dieses Bestreben theilte größtentheils die verkehrte Gestalt, die alle ihre Vorstellungen von göttlichen Dingen, von dem Übermenschlichen und Ewigen an sich trugen. Aber was sie unter sich bildeten, was sie als Hoffnung aussprachen, | was war es anders als ein wiewohl dunkler und entstellter Schatten, der aber auf dasselbe Wesen zurükwies? Denn wo etwas Großes und Ausgezeichnetes unter ihnen sich hervorthat, wovon ihr Glaube geleitet wurde auf die ausgezeichneten Wohlthaten Gottes, deren Ursprung sich in der frühesten Zeit verlor, von welcher keine bestimmte Kunde geblieben war, jenes sahen sie immer an als ein solches, das die Verwandtschaft des menschlichen Geschlechts mit dem höchsten Wesen bekunde, und alle diese ausgezeichneten Wohlthaten schrieben sie solchen zu, die von dem göttlichen Geiste von oben waren beseelt und geleitet gewesen. Das war also dasselbe Gefühl und dasselbe Bestreben, daß Gott sich offenbaren und eben diese Verwandtschaft kund thun solle in der menschlichen Natur, und daß es | einen Geist von oben herab gebe, von welchem alles ausgehen müsse was einen bleibenden Werth für das irdische Geschlecht der Menschen haben soll. Was anders haben sie also vorgebildet mit freilich oft verleiteter und verkehrter menschlicher Einbildung und menschlichem Tichten, worauf anders haben sie gewiesen als auf das was Wahrheit geworden ist durch Khristum den Herrn und durch seinen Geist? Wenn nun aber jemand sagen wollte, m. g. F., woher denn, nachdem nun diese große Offenbarung Gottes wirklich in ihrer Vollkommenheit erschienen war auf Erden, woher denn die zeitige Klage, daß das Evangelium von Jesu den Juden ein Aergerniß sei und den Heiden eine Thorheit? Weiset, könnte man sagen, dies nicht hin auf eine Unvollkommenheit, die dieser göttlichen Offenba8–13 Vgl. Röm 1,20–25

39–40 Vgl. 1Kor 1,23

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rung selbst einwohnt, darauf | daß sie nicht vermochte vollkommen und leicht die Herzen der Menschen zu durchdringen, weil sie eben selbst noch nicht das Höchste und Vollkommenste gewesen war? Aber nein, m. g. F., die Apostel selbst, indem sie diese Klage aussprechen, weisen auf den Grund derselben deutlich genug hin es ist, sagen sie, das Evangelium von dem Gekreuzigten, welches den Juden ein Ärgerniß ist und den Heiden eine Thorheit. Nicht deßwegen vermochten sie es nicht zu fassen und nahmen es leicht und gern in ihr Inneres auf, weil es ihnen entweder zu viel gewesen wäre oder nicht genug, daß sich das höchste Wesen sollte geoffenbart haben in der Person des Sohnes in der menschlichen Natur; sondern weil derjenige, der diese Offenbarung darstellte, dahingegeben sein sollte seiner Geschichte zu folge, die ihnen bekannt gemacht wurde, in die Gewalt der Sünde, weil auch er allen Widerspruch der Sünde empfunden haben sollte, wie die, welche auch vor ihm und ohne ihn freilich schwach und unvollkommen | dem Guten nachtrachteten, ihn immer empfunden hatten. Und dies, m. g. F., wiewohl falsch, es war doch etwas worin sich auch das Edle und Hohe der menschlichen Natur aussprach, das nämlich, daß wir uns nie voneinander trennen können in unsern Gedanken und Gefühlen das Göttliche und das Herrliche und Selige. Was aber verachtet erscheint und nicht herrlich, was leidend gekränkt duldend von allen Schmerzen erscheint und nicht selig, das kann das menschliche Herz auch nicht für das Göttliche halten – und soll es auch nicht, m. g. F., denn das ist die Wahrheit und die rechte Auflösung dieses Knotens, daß der Herr nicht gelitten hat und seine Seligkeit ist nicht getrübt gewesen, und daß keinen Augenblik seines Lebens vor den Augen des Geistes, der durch das Leibliche hindurchzudringen vermochte, die göttliche Herrlichkeit, | in der er erschienen war, ist getrübt gewesen. Und darum nur weil er litt ohne zu leiden, weil er trug ohne zu dulden, weil er einherging in Knechtsgestallt, ohne daß jemals die erhabene Macht und Herrlichkeit, die ihm sein himmlischer Vater gegeben hatte, von ihm gewichen wäre. Darum nur konnte er der Erlöser der Menschen sein. Aber das vermochte das menschliche Herz nicht zu fühlen, bis es allmälig eingeweiht war in das Geheimnis des Kreuzes, bis die Menschen allmälig es fühlen lernten, auch sie vermöchten zu leiden ohne zu leiden, auch sie könnten über sich ergehen lassen den Widerspruch der Sünde und äußerlich gebeugt werden von ihrer Gewalt, ohne daß sie innerlich die Herrlichkeit des schönen Lebens im Glauben und in der Liebe ihnen getrübt oder geraubt werden mag. So nur diese der menschlichen Seele aufgegangen ist, so schwinde | von selbst das Ärgerniß des Kreuzes, dem sie vorher nicht entgehen kann, und voll Anbetung der göttlichen Weisheit und Heiligkeit, deren Wege wir nicht eher begreifen können bis wir auf diesen Punkt gedrungen sind, sinkt dann die Seele des Menschen anbetend nieder, vor 28–30 Vgl. Phil 2,7–9

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dem hohen und erhabenen Kreuze des Erlösers. Darum, m. g. F., was nur daher kommt, daß das Herz des Menschen erst mußte erweicht werden, um die hohe göttliche Offenbarung zu fassen, das kann auf keine Unvollkommenheit derselben hindeuten. Aber das ist eben gewesen das Werk jener ersten herrlichen Jahrhunderte des Evangeliums, jener Jahrhunderte der Verfolgung und der Märtyrer, wo die nach dem Worte des Apostels, die mit Khristo litten, gleichsam das Leiden desselben ergänzten, wo | diejenigen, denen das Bild des Erlösers nicht leiblich gegenwärtig gewesen war, in der Gemeinschaft des Geistes mit ihm und in der Liebe zum Himmlischen, die über sie ausgegossen war, den Widerspruch der Sünde erfuhren, und mit der That und mit der Wahrheit strebten, den Menschen das Leiden des Erlösers vor Augen zu stellen, und sie empfänglich machten die Herrlichkeit des Kreuzes zu fassen. II. Aber nun, m. g. F., wenn dem so ist, daß alles, was sich in der vergangenen Zeit gezeigt hat als Sehnsucht der seufzenden Kreatur, als Verlangen der nach Erlösung schmachtenden Seelen, erfüllt ist in der Offenbarung in Khristo und seinem Geist: so laßt uns nun zweitens, weil das immer nur noch die Hälfte der Wahrheit | wäre, und die Hälfte der Gestalt und Schönheit des Glaubens, auch in die Zukunft sehen, und nun überlegen, daß auch wir nicht vermögen irgend etwas zu denken, was die Herrlichkeit der Offenbarung Gottes in Khristo überstiege. – Und hier, m. g. F., möchte vielleicht manchem einfallen manches Wort der Schrift, das einen andern Sinn in sich zu tragen scheint, und auch nachdem die Kirche des Herrn auf Erden gegründet war, nachdem durch die Sendung des Geistes alle Verheißungen Gottes erfüllt waren, doch den Zustand der Menschen noch darstellt als unvollkommen, und sie bewegt zu einem Trachten nach etwas Höherem und Vollkommneren. „Wir schauen hier nur in einen dunkeln Spiegel“, so lautet die Stimme des Geistes, „dort aber von Angesicht zu Angesicht; und es ist noch nicht erschienen was | wir sein werden”, sagt sie an einem andern Orte; „aber es wird erscheinen“. Zeigt das nicht, könnte man sagen, daß uns noch etwas Anderes bevorsteht, etwas Anderes vielleicht in jener Zeit, auf welche geheimnißvoll der Apostel deutet, wenn der Sohn das Reich wieder übergeben wird dem Vater, damit dieser Alles sei in Allem? Zeigen sie nicht auf etwas Vollkommneres, wozu die Offenbarungen Gottes in dem Sohn und in seinem Geist eben so nur dürftige Vorbereitung gewesen sind, wie in dem frühern Zustande das Gesez eine Vorbereitung gewesen ist auf das Evangelium? Zeigen sie nicht, daß auch denen, die am meisten erfüllt waren von dieser göttlichen Offenbarung, nicht jenes Verlangen des Her6–7 Vgl. Kol 1,24 16–18 Vgl. Röm 8,19–23 31 1Joh 3,2 33–34 Vgl. 1Kor 15,24–28

28–29 Vgl. 1Kor 13,12

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zens durch sie gestillt war, sondern ihr Sinn noch auf etwas Anderes und Höheres gerichtet gewesen ist, und daß auch diese vielleicht nur eine jezige Veranstaltung ist für die immer noch fortwährende Kindheit des menschlichen Geschlechts, die nur wir Kurzsichtige und Unwissende uns oft träumen, | als sei sie das erwachsene Alter der Menschheit? So könnten wir sagen, und manches von mir noch nicht angeführte Wort der Schrift ganz in demselben Sinne gesprochen könnte uns darin bestätigen. Aber laßt uns nur an diejenigen uns halten, auf die ich hingedeutet habe. Wenn der Apostel sagt „hier schauen wir in einen dunkeln Spiegel, dort von Angesicht zu Angesicht“ können wir dann glauben, daß etwa ein leibliches Schauen Gottes jemals geben könne für eine endliche und an das Leibliche gebundene Natur? Wenn aber dieses Wort im geistigen Sinne zu nehmen ist, m. g. F., kann es dann ein Schauen geben vom geistigen Auge in das geistige Auge, was etwas Größeres und Herrlicheres wäre, als eben dieses unmittelbare Bewußtsein Gottes in uns selbst, zu welchem wir dann erhoben werden, wenn wir uns wirklich in unserm Thun und Wesen getrieben fühlen von seinem Geist? Wenn gesagt wird, es werde eine Zeit kommen, wo der Sohn das Reich übergeben werde | dem Vater damit dieser alles in allem sei, ist das wohl etwas Anderes als was der Apostel Johannes in jenem andern Worte so ausdrükte „es ist noch nicht erschienen was wir sein werden, aber es wird erscheinen, denn wir werden ihm gleich sein, wenn wir ihn sehen wie er ist“? Und dieses Wort, m. g. F., deutet es auf etwas anderes, will es etwas anderes aussagen und in sich schließen als nur den vollkommensten Genuß der göttlichen Offenbarung, die uns in Khristo geworden ist? Er würdigt uns jezt schon uns seine Brüder zu nennen; von Anfang an hat er dies gethan seinen unmittelbaren Jüngern, und sie für seine Freunde erklärt, weil sie wußten was er ihr Herr that; und von ihnen ist es auf uns gekommen. Wie weit aber fühlen wir uns von ihm entfernt? wie weit stehen wir hinter ihm zurük? Und eben weil wir das fühlen, daß er unser Herr und Meister auch unser Bruder geworden ist: durch dieses Brudergefühl im Innersten der Seele leitet | er die Schaar der gläubigen Menschen von einer Herrlichkeit zur andern. Jemehr wir aber von ihm werden geleitet sein, je mehr dadurch daß sein Geist in uns wohnt und alles Böse überwunden wird durch die Gemeinschaft mit ihm, der Unterschied zwischen ihm und uns anfängt zu schwinden, jemehr wir fühlen von der Wahrheit des Wortes, daß wir seine Brüder sind: desto mehr werden wir im Stande sein ihn zu sehen wie er ist, werden wir haben die Gleichheit mit ihm, von welcher der Apostel redet; und wenn er uns gleich ist, der ewige Sohn, der das Ebenbild des Vaters rein darstellte, wenn er so unser Bruder geworden ist: dann freilich kann nur Gott allein regieren, und von ihm und von uns erkannt werden als der Herr. Keine andre Vollkommenheit und nichts Geringeres bringen 20–22 Vgl. 1Joh 3,2

38–39 Vgl. Kol 1,15; Hebr 1,3

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uns diese Worte der Schrift nahe, was denen zu Theil werden muß, die | nicht in sich selbst leben wollen sondern in Khristo, sich ganz in ihn versenkend, und der Leitung seines Geistes folgend. Und sehen wir ab von diesen und ähnlichen Worten der Schrift, und gehen auf das innerste, durch das Khristenthum uns festgestellte Bewußtsein der menschlichen Natur und fragen, finden wir im tiefsten Innern unsers Herzens irgend eine Sehnsucht, die nicht gestillt werden könnte durch das Khristenthum selbst? wir werden es verneinen müßen. Wollen wir uns ferner nur immer denken mit der menschlichen Natur, o wie könnten wir etwas anderes und höheres wollen, da der Sohn selbst nicht die Natur eines Engels sondern die menschliche Natur angenommen hat, wie könnte es eine nähere Vereinigung des Menschen mit Gott geben, da wir nicht ganz versinken können in das göttliche Wesen, sondern als endliche Wesen beschränkt sind, wie könnte es eine innigere Vereinigung des Menschen | mit Gott geben als die welche der Apostel ausspricht in den Worten „er ist nicht fern von einem jeglichen unter uns, denn in ihm leben weben und sind wir“? Gott in sich tragen, m. g. F., durch die Kraft seines Geistes, das heißt auch und nichts anderes ihn schauen von Angesicht zu Angesicht. Denn der Mensch vermag nur sich selbst mit seinem Auge, und für sein Auge was er in sich getragen hat wahrzunehmen. Tragen wir Gott in uns, indem wir von seinem Geiste getrieben werden, dann schauen wir ihn auch von Angesicht zu Angesicht. Und wenn wir denken an die ungestillte Sehnsucht des menschlichen Verstandes die Wege des Herrn zu erforschen und zu begreifen, wenn wir denken an das ungestillte Verlangen des menschlichen Herzens, daß in ihm aufhören möge alles Wanken, und daß es ganz und ewig fest werde: o wo könnten wir sie unbeschadet der menschlichen Natur erfüllt sehen und | denken als in Khristo und durch ihn in uns? Denn, m. g. F., der Weg des Herrn, den wir allein zu erforschen brauchen, das ist der, wie er kommt in das menschliche Herz, um seine Wohnung darin zu machen. Wie er äußerlich die Angelegenheiten der Menschen regiert, o das wird uns nicht etwa will ich sagen immer dunkler von einem Tage zum andern, außer insofern es übergeht in jenes Andere, insofern es nichts sagen will als wie der Herr sich Wohnung bereitet im menschlichen Herzen, wie er äußerlich die Angelegenheiten der Welt regiert, so mögen wir wohl sagen, daß sie uns nicht deutlicher werden, sondern haben sie sich einmal klar gezeigt, so kommt dann wieder eine Zeit wo alles dunkel wird und trübe; aber geringer wird in uns das Verlangen dies zu wissen, je mehr wir fühlen, daß der Herr Wohnung gemacht hat in unserm Herzen. Denn je mehr wir uns geleitet fühlen durch seinen Geist, desto mehr werden wir | die Wahrheit des großen Wortes erfahren „der Geist wird es euch geben, zu welcher Stunde ihr es bedür15–16 Apg 17,27–28 23 Vgl. Röm 11,33 1 Lk 12,11–12; vgl. Mt 10,19–20; Mk 13,11

28–29 Vgl. Joh 14,23

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fet“. Und was bedürfen wir die Angelegenheiten der Welt, was bedürfen wir den Zusammenhang der menschlichen Schiksale näher zu wissen, wenn wir in der That die Wahrheit jenes Wortes selbst in uns fühlen und tragen? Und dieses Geheimniß, m. g. F., von dem Kommen und Wohnung machen Gottes in dem Herzen der Menschen, das ist uns aufgeschlossen durch den Erlöser, und wir vermögen keine andre Art zu ersinnen, wie es uns immer heller in das Bewußtsein treten kann, als diesen Weg der Vereinigung mit Gott durch den Sohn, der unser Bruder geworden ist. Und was das Wanken des menschlichen Herzens betrifft und den immer ungestillten Durst, daß es ganz fest werde, wohin sollen wir anders sehen, so wir nicht hinausgehen wollen aus dem | Gesichtskreis, in welchen die göttliche Ordnung uns gestellt hat, als auf den Einen, der nie gewankt hat, als auf den Einen, dessen Herz unerschütterlich fest war unter allen Wechseln des Lebens, immer sich selbst gleich, immer derselbe Abglanz des höchsten Wesens, derselbe Spiegel seiner Herrlichkeit. Ist es uns nun durch das Evangelium verheißen, daß wir dem gleich sein werden, wenn wir ihn sehen wie er ist: o so ist die Liebe für ihn, das Verlangen nach ihm der Wille, daß unser Herz fest werde wie das seinige immer war. Und so ist alle Sehnsucht des menschlichen Verstandes und des menschlichen Willens, sie ist gestillt in dem, in welchem allein das menschliche Gemüth seine volle Befriedigung findet, in der Vereinigung des Menschen mit Gott durch den Sohn in der Kraft des Geistes, den er gesendet hat. So, m. g. F., laßt uns ruhen auf | dem, was in der nun geschloßnen festlichen Zeit unsers Jahres so oft unser Gemüth erhoben hat und unsern Glauben gestärkt: laßt uns halten an dem Worte, welches wir heute zum Gegenstand unsrer Betrachtung gemacht haben „kein andres Evangelium als das, welches unter uns verkündigt ist durch den Herrn, kann uns irgend ein Engel oder Mensch predigen, oder er sei verflucht”! Keiner der je dieses Evangelium verkündigt hat, würde sich überwinden eine höhere Weisheit zu verkündigen, so er etwas anderes verkündigen wollte, sondern könnte er dies, so müßte das Licht erst von ihm genommen werden, welches ihn erleuchtet, und kein Engel vom Himmel könnte uns ein anderes Evangelium predigen als das, welches uns der Sohn verkündigt und gelehrt, und nicht nur in Worten vor unsre Augen gestellt, sondern auch als | Kraft des Geistes bewiesen hat. Und wer uns davon vertreiben wollte, der könnte uns nur von dem rechten Wege zu unsrer Seligkeit vertreiben, aber nicht nur von dem Wege zu ihr, sondern sie selbst uns rauben; denn ewig wahr ist und bleibt das Wort des Herrn „wer da glaubet an mich der hat das ewige Leben“. Amen.

16 1Joh 3,2

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[Liederblatt vom 28. Mai 1820:] Am Sonntage Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein’ Seel etc. [1.] Gott ist ein Schutz in Nöthen, / Und seiner Kirche Zuversicht, / Wenn wir um Hülfe beten, / Versagt er seine Hülf ihr nicht. / Ob auch schon oft auf Erden / In Nacht gehüllt ihr Licht / Schien ausgelöscht zu werden, / Verlosch es dennoch nicht. / Es strahlt aus allen Nächten / Nur mächtiger hervor, / Weil Er, zu Gottes Rechten, / Zum Tempel sie erkor. // [2.] Gott ist in ihren Mauern, / Und sie, erbaut auf Golgatha, / Die Stadt des Herrn wird dauern, / Wie der, den sie dort bluten sah. / Die Erde wird vergehen, / Der Himmel nicht bestehn, / Die Kirche wird es sehen, / Und nicht mit ihm vergehn. / Daß sie ganz herrlich werde, / Wird, ihr zur Seligkeit, / Der Himmel und die Erde / Verjünget und erneut. // [3.] Sie hat schon viele Sünder, / Wiewol bedrängt durch Macht und Spott, / Zu dir bekehrt; viel Kinder / Zum Himmel dir geboren, Gott! / Noch spotten ihrer viele; / Sie aber achtets nicht; / Sie schauet dort am Ziele / Die Kron und das Gericht. / Schmäht immer, schmäht, ihr Spötter ! / Denn furchtbar ist sie noch, / Der Herr ist ihr Erretter, / Sie triumphiret doch. // (Cramer.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Jesu dem die etc. [1.] Dein Wort, o Herr! bringt uns zusammen, / Daß wir in der Gemeinschaft stehn; / Es läßt an uns die heil’gen Flammen / Des Glaubens und der Liebe sehn. / Wir werden durch das Wort der Gnaden / Selbst zur Gemeinschaft jener Schaar, / Die lange schon vollendet war, / Gelockt und kräftig eingeladen. // [2.] Der Glaubensgrund, auf dem wir stehen, / Ist Christus und sein theures Blut; / Das einz’ge Ziel, darauf wir sehen, / Ist Christus, unser höchstes Gut; / Sein Wort die Regel, die wir kennen, / Nicht dieser oder jener Ort. / Dies ist’s was wir mit einem Wort / Gemeinschaft und Gemeine nennen. // [3.] Was ist das für ein himmlisch Leben, / Mit Vater, Sohn und heilgem Geist / In seeliger Gemeinschaft schweben, / Genießen das was Gott geneußt! / Wie flammen da die süßen Triebe! / Gott schüttet in sein geistlich Haus / Die ganze Gnadenfülle aus; / Hier wohnet Gott, die ew’ge Liebe! // [4.] Der Vater liebt uns als die Kinder, / Schenkt uns den Geist, der: Abba! schreit; / Des Sohnes Treue schmückt uns Sünder / Mit ewiger Gerechtigkeit; / Der heil’ge Geist tritt mit dem Oehle / Des Friedens und der Freude zu; / Das Herz genießet Trost und Ruh, / Und neue Kraft stärkt Leib und Seele. // [5.] Die Kinder, die zusammen essen, / Die stehen auch für einen Mann. / Wagt sich der Feind an Eins vermessen, / So greifet er sie Alle an: / Sie fallen betend Gott zu Füßen, / Und siegen in des Herren Kraft; / Sie wollen von der Brüderschaft / Der Heil’gen nicht das Kleinste missen. // [6.] Sie wallen mit verbundnen Herzen / Durchs Thränenthal ins Vaterland, / Versüßen sich die bittern Schmerzen, / Eins reicht dem Andern seine Hand; / Sie wollen sich mit Freuden dienen. / Sie sehen mit des Glaubens Blick / Auf Jesum und ihr künft’ges Glück: / Sie sind in ihm und er in ihnen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Laß, Gott, dein Wort zu deiner Ehr / Sich immer mehr verbreiten; / Es müsse

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Jesu Christi Lehr, / Erleuchtend Alle leiten, / Laß uns des heil’gen Geistes Kraft, / Des heil’gen Wortes Lebenssaft, / In Glaub’ und Liebe zeigen. //

Am 4. Juni 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Friedrichswerderkirche zu Berlin Lk 16,19–31 (Sonntagsperikope) Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 213–233 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 321–337; ²1844, S. 371–387 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 262–276 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 100, Bl. 18r–32r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 38v; Gemberg Nachschrift; SAr 53, Bl. 31r–31v; Gemberg (Fragment); Parallelstück zu Andrae Besonderheiten: Tageskalender: „über das Evangelium“

Ueber das Verlangen nach Kenntniß von jener Welt und nach Gemeinschaft mit derselben.

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M. a. Fr., wir Alle glauben als Christen, daß Gott, unser himmlischer Vater, durch die ganze Reihe seiner Offenbarungen, welche erfüllt worden ist, als das Wort Fleisch ward und unter uns wohnte, hinreichend gesorgt habe für Alles, was uns nothwendig ist auf dem Wege des Lebens; wir glauben, daß, wenn wir nachfolgen den Fußtapfen dessen, der uns vorangegangen ist, wir nimmer freier werden können von Allem, was den Menschen hier auf Erden drückt, und nimmer reichlicher genießen die selige Freude an dem Herrn, die unser eigenthümliches Gut ist; wir glauben dies Alles: aber so, daß wir nimmer Ursache haben mit Jenem, der noch ein Kind und Anfänger im Glauben war, auszurufen: „Herr hilf meinem Unglauben!“ Denn wie Viele gibt es nicht – doch was sage ich, – wie Wenige mag es wohl überhaupt nur geben, welche eben dieses nicht, wenigstens bisweilen, anwandelt – daß wir nämlich für den Grund und das Wesen unseres Glaubens eine andere Gewißheit begehren, als jene, mit welcher der Geist Zeugniß giebt dem Worte Gottes in unserm Herzen, eine andere, als eben die köstliche Erfahrung, aus welcher jener Apostel des Herrn ausrief: „Herr du hast Worte des ewigen Lebens, wohin sollten wir gehen als zu dir?” – Und unser wohlmeinender, aber nicht immer eben 5 Vgl. Joh 1,14

13 Vgl. Mk 9,24

20–21 Vgl. Joh 6,68

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so verständlicher und gründlicher Eifer, das, was uns selig macht, auch denen klar zu machen, und wo mög|lich sogar aufzudringen, deren Herz zum rechten Glauben an den Erlöser noch nicht vorbereitet und geschickt ist, – wie oft wünscht er nicht, ihnen andere Mittel zur Ueberzeugung darbieten zu können, als welche der Herr selbst darreicht, indem er sagt: Wer diese Lehre thut, der wird erfahren, daß sie von Gott ist, und kommt her zu mir, so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Und eben so, m. g. F., giebt es wohl nicht Wenige, die, als hätten sie schon alle Tiefen des Reichthums der göttlichen Gnade erschöpft, und als sey ihnen auch der ernste Genuß der sich immer erneuernden Freude am Herrn und aller Herrlichkeit, die schon jetzt an uns offenbart ist, zu wenig, nach noch Höherem streben, als was uns durch das Wort Gottes aufgeschlossen ist, und in seiner Gemeinschaft Allen dargereicht wird, so daß sie, wir können es nicht anders ausdrücken, durch ihr Verlangen nach fernen und fremden Gütern, nach geistigen Genüssen sowohl, als nach Erkenntnissen, die in dem Bereich unseres irdischen Lebens nicht liegen, das Wort des Erlösers der Unwahrheit zeihen wollen, daß, wer zu ihm kommt, und aus seinem Quell nur immer schöpfen will, keinen Durst leiden werde. Daran, m. g. F., erinnert uns unser heutiges Sonntagsevangelium. Lukas 16, 19–31. „Es war aber ein reicher Mann, der kleidete sich mit Purpur und köstlicher Leinwand, und lebte alle Tage herrlich und in Freuden. Es war aber ein Armer, mit Namen Lazarus, der lag vor seiner Thüre voller Schwären, und begehrte, sich zu sättigen von den Brosamen, die von des Reichen Tische fielen. Doch kamen die Hunde und leckten ihm seine Schwären. Es begab sich, daß der Arme starb, und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schooß. Der Reiche aber starb auch und ward begraben. Als er nun in der Hölle und in der Qual war, hub er seine Augen auf, und sah Abraham von ferne und Lazarum in seinem Schooß, rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein, und sende Lazarum, daß er das Aeußerste sei|nes Fingers in’s Wasser tauche und kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme. Abraham aber sprach: gedenke Sohn, daß du dein Gutes empfangen hast in deinem Leben, und Lazarus dagegen hat Böses empfangen. Nun aber wird er getröstet, und du wirst gepeiniget. Und über das Alles ist zwischen uns und euch eine große Kluft befestiget, daß, die da wollten von hinnen hinabfahren zu euch, können nicht, und auch nicht von dannen zu uns herüberfahren. Da 6–7 Vgl. Joh 7,17

7–8 Vgl. Mt 11,28–29

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sprach er: so bitte ich dich, Vater, daß du ihn sendest in meines Vaters Haus: denn ich habe noch fünf Brüder, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual. Abraham sprach zu ihm: sie haben Mosen und die Propheten, laß sie dieselbigen hören. Er aber sprach: nein, Vater Abraham, sondern so Jemand von den Todten zu ihnen ginge, so würden sie Buße thun. Er aber sprach: hören sie Mosen und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, ob Jemand von den Todten auferstände.“ Es ist nämlich, m. g. F., das Ende des verlesenen Abschnittes der Schrift, welches in genauem Zusammenhange steht mit dem, was ich vorher gesagt habe, ich meine jene Bitte des reichen Mannes, daß Abraham den Lazarus senden möchte in seines Vaters Haus zu seinen Brüdern, damit sie Buße thäten, und nicht auch kämen an den Ort der Qual. Denn die Kunde von der andern Welt und die unmittelbare Gemeinschaft mit derselben, welche der reiche Mann seinen Brüdern verschaffen wollte, ist nicht nur selbst eine solche über unsern Bereich hinausgehende Erkenntniß und Einsicht, nach der dennoch ein großer Theil der Menschen strebt, als ob sie an den geistigen Gütern des Reiches Gottes auf dieser Erde nicht genug hätten; sondern so wie der reiche Mann seinen Brüdern vorzüglich deßwegen diese Gemeinschaft wünschte, damit sie ihnen ein Grund würde, Buße zu thun, weil nämlich die natürlichen Aufforderungen dazu bei ihnen nicht anschlugen, so ist es auch eben irgend ein Wink und Zeichen aus der andern Welt, worauf unsichere Gemüther am Liebsten ihren Glauben gründen möchten, wenn ihr Herz auf | dem gewöhnlichen Wege nicht fest werden will. Darum muß es uns merkwürdig seyn, daß in dieser Erzählung der Herr durch die Antwort des Abraham jedem solcher Wünsche die Erfüllung gänzlich versagt. Denn eben dieser Antwort wegen, welche er dem reichen Manne durch den Abraham ertheilen läßt, kann wohl Niemand glauben, als habe der Herr in seiner Erzählung selbst eine solche Kunde von jener Welt niederlegen wollen, wie wir sie anderwärts her hienieden nicht haben könnten. Vielmehr wenn er den Lazarus im Schooße Abrahams liegen läßt, den reichen Mann aber unerträgliche Glut fühlen an dem Orte der Qual: so redet er, und gewiß mit Recht, da dies für den eigentlichen Zweck seiner Lehrerdichtung nur eine Nebensache war, von jener Welt in den Ausdrücken, welche unter seinen Zeitgenossen gewöhnlich waren. Und eben damit Niemand glauben möchte, er habe durch den Gebrauch, den er davon macht, jene Ausdrücke zu einer richtigen und bestimmten Beschreibung erheben wollen: so fügt er am Schlusse aus dem Munde des Abraham diese Belehrung hinzu: daß jede genaue Kunde von jener

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Welt eben so gut als jede sichere und geordnete Gemeinschaft mit derselben uns von Gott versagt sey. Und eben dieses ist der Gegenstand, den ich heute aus Anleitung unseres Evangeliums eurer näheren andächtigen Betrachtung vorlege, damit wir uns darüber beruhigen lernen, daß wir uns hier ohne nähere Kenntniß von jener Welt und ohne Gemeinschaft mit denen, die uns dorthin vorangegangen sind, behelfen sollen. Da aber der Erlöser in jener Erzählung nur eine von den Ursachen angiebt, weßhalb eben dieses Versagte gewünscht wird, nämlich damit die Menschen, gewarnt und belehrt durch diejenigen, die aus diesem Leben schon abgeschieden sind, desto eher Buße thun: so laßt uns zuerst erwägen, daß es außer den angeführten andere besser begründete Ursachen zu jenem Wunsche für uns nicht giebt; und dann zweitens, daß wir uns auch in Absicht auf die einzige, von der in der Erzählung des Erlö|sers die Rede ist, bei demjenigen, was er selbst dem Abraham in den Mund legt, vollkommen beruhigen können. I. Was nun das Erste betrifft, daß es andere Gründe, nach einer näheren Kenntniß von jener Welt und einer unmittelbaren Gemeinschaft mit derselben zu streben, als den in der Erzählung des Erlösers angeführten, gar nicht geben kann: so werden deren freilich mehrere und vornämlich dreie angeführt, welche wir mit einander beleuchten wollen. Der erste ist der: daß der menschlichen Seele ein nicht zu löschender und in keine Grenzen einzuschließender Durst nach Erkenntniß eingepflanzt sey, für welchen also diese Erde mit Allem, was sie enthält, ein viel zu beschränkter Gegenstand sey, an dem er seine Befriedigung nicht finden könne. Sondern wie schon dem leiblichen Auge durch das zahllose Heer des Himmels, welches sich vor ihm ausbreitet, die Aussicht weit über die Erde hinaus eröffnet sey: so strebe natürlich auch das Auge des Geistes, in alle verborgenen Wunder hineinzudringen. – Gewiß, m. g. F., wollen wir diesem edlen Triebe, den Gott dem menschlichen Geiste eingepflanzt hat, und der dessen höheren Ursprung so deutlich bezeugt, keine willkührlichen Grenzen stekken! Vielmehr mag er sich überall versuchen, und soweit dringen, als er nur kann; aber schwerlich wird er weit kommen, wenn er die Erde, welche ihm zunächst angewiesen ist, gering achtet. Denn auch hier gilt: daß wer über das Wenige nicht treu gewesen, auch gewiß nicht über Mehreres gesetzt wird. Haben wir nun etwa schon Alles erschöpft, was die Erde uns darbietet, so daß es nichts ist mit allen 38–39 Vgl. Lk 16,10

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Klagen über die vielen unaufgeschlossenen Räthsel, die sich uns aufdringen? Oder sollten die irdischen Gegenstände zu gering seyn, und nicht der Mühe werth? Wahrlich, wenn wir hier nicht von den Werken zum Werkmeister aufzusteigen wissen, wenn wir nicht an dieser Schöpfung, unter und über welche wir gesetzt sind, seine ewige Kraft und Gottheit erkennen: so werden wir sie auch nicht finden, und wenn wir die Flügel der Morgenröthe nehmen könnten. Wunderbar schaffend und gesetzmäßig weise erhaltend, | offenbart sich Gott überall in seinen Werken, und die Tiefen seines Wesens, die doch das letzte Ziel aller menschlichen Erkenntniß sind, werden uns weder klarer noch inniger aufgeschlossen durch das Ferne als durch das Nahe. Indessen das bleibt gewiß, und Jeder muß es zugeben, daß unsere Erde nicht abgesondert für sich allein besteht mitten in jenem unendlichen Meere von Welten, sondern daß Alles mannichfaltig auf sie einfließt, und sich in ihr abdrückt, und daß wir also, wenn auch nur um sie selbst recht zu erkennen und zu durchdringen, danach streben müssen, wo möglich auch das Fernste, was noch einen Einfluß auf sie haben kann, zu verstehen. Wohlan, diese Richtung hat auch von jeher der menschliche Verstand genommen, und wir wollen ihn darum nicht tadeln, sondern loben. Immerhin sey das bewaffnete Auge des Naturforschers eben so fleißig auf die fernen unermeßlichen Weltkörper gerichtet, als auf die bewundernswürdigen feinsten Verzweigungen der irdischen Gebilde! Aber was wir auf diesem Wege jemals erreichen können, das wird doch nie jene vorwitzige Begierde befriedigen können. Denn jede auf diesem natürlichen Wege von dem Zusammenhang mit unserer Erde ausgehende Erkenntniß auch des Allerfernsten wird immer eine Erkenntniß unserer Welt, dieser Welt, die sich uns auf solche Weise erweitert, nicht aber eine Erkenntniß jener Welt. Auch will diese langsame, aber sichere, Fortschreitung, dieser natürliche, aber gesetzmäßige, Erwerb der Ungeduld jener hochfliegenden Gemüther nicht genügen. Sondern sie meinen, weil wir doch die Grenzen des Einflusses ferner Welten auf die unsrige nicht mit unserm schwachen Verstande abmessen können, so bleibe es doch möglich, und darauf eben sollten wir lauschen, und es auf alle Weise von unserer Seite begünstigen, daß die Bewohner ferner Welten uns unmittelbar gegenwärtig, oder wir im Geiste zu ihnen entrückt werden könnten, und daß so, durch außerordentliche Gemüthszustände, durch leise Ahnungen und flüchtige Erscheinungen entdeckt werden könnte, was auf dem Wege der natürlichen Forschung noch lange, vielleicht immer ein Geheimniß würde geblieben seyn. Schon von Alters her | ist diese Sprache häufig gehört worden, und sie läßt sich von Zeit zu Zeit 3–6 Vgl. Röm 1,20

7 Vgl. Ps 139,9

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wieder vernehmen. Aber was sollen wir dazu sagen? Paulus sagt von sich selbst, er sey entzückt worden in’s Paradies; aber er sagt auch, er habe unaussprechliche und unmittheilbare Dinge vernommen, und er hat den Gläubigen keine Kenntniß davon zurückgelassen. So möge denn, wem selbst etwas Aehnliches begegnet, wohl zusehen, was er davon habe, auf keine Weise aber seiner Offenbarungen sich überheben, sondern, wenn er minder zurückhaltend ist, als Paulus, dann sich demüthig gefallen lassen, wenn der Eine sie annimmt, und der Andere sie verwirft. Beides ist eine gleiche menschliche Meinung; aber eine Kenntniß von jener Welt erhalten wir auch auf diese Weise nicht eher, als bis wir auch die Art begreifen, wie wir dazu gekommen sind, und dann ist Andern das Uebernatürliche natürlich geworden. Und der reiche Mann, wenn es ihm gelungen wäre, den Lazarus zurückzusenden in seines Vaters Haus, und dieser hätte seinen Brüdern erzählt, wie das Paradies beschaffen sey, und wie der Ort der Qual und die Kluft zwischen Beiden, ja auch überdies noch Alles, was er, daß ich so sage, unterweges geschaut hätte von der wundervollen Schöpfung Gottes: hätte er wohl zürnen können, wenn diesem Abgesandten der Eine geglaubt hätte und der Andere nicht? Gewiß nicht, da wir eben so wenig die Grenzen der Selbsttäuschung des Wahnes und des Betruges gemessen haben, als das Gebiet der verborgenen Wahrheit. Was für Ursache könnten wir also haben, eine solche Erkenntniß zu wünschen, da wir weder ein sicheres Mittel haben, auf diesem Gebiet die Wahrheit vom Irrthume zu unterscheiden, noch eben deßhalb eine sichere Regel für den Gebrauch solcher Wahrheit? – Allein worauf jener ungeregelte Wunsch am Meisten geht, das ist nicht sowol die Erkenntniß von der natürlichen Beschaffenheit fremder Gegenden der göttlichen Schöpfung, sondern vornämlich eine andere Gemeinschaft des Geschöpfes mit dem Schöpfer möchten sie kennen, und also auch gewissermaßen theilen, sey es nun die, welcher sich andere Wesen erfreuen, oder die, deren wir uns selbst dereinst werden zu | erfreuen haben. Und dieses vorzüglich müssen wir tadeln, als eine sträfliche Ungenügsamkeit und Ungeduld. Uns ist als das Ziel unseres hiesigen Lebens vorgehalten, Eins zu werden mit Christo, oder selbst Eins mit dem Vater. Und wir wissen, daß wir täglich noch zu streiten haben gegen dasjenige, was uns von ihm trennen will. Sollen wir nun, als ob wir die Lust an diesem Kampf und den Geschmack an dem Preise desselben verloren hätten, lüstern seyn, zu erfahren, in welcher Gemeinschaft mit Gott solche Wesen stehen, die etwa die Sünde nicht gekostet haben, oder die mit einem Leibe nicht beständig umgeben, oder die irgendwie der Erlösung nicht bedürftig, und außer dem Ge2–3 Vgl. 2Kor 12,4

6–7 Vgl. 2Kor 12,7

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biet derselben gestellt sind? Was aber unsere eigene künftige Gemeinschaft mit Gott betrifft, so sagt der Apostel des Herrn ausdrücklich: es ist noch nicht erschienen, was wir seyn werden. Das wissen wir aber, daß, um es zu erreichen, wir vor dem Throne des Erlösers erscheinen müssen in dem weißen Kleide eines guten Gewissens, in Absicht auf die Gemeinschaft mit Gott, welche uns hier ist dargeboten worden. So dürfen wir also nie aufhören, danach zu forschen, wie weit der von Christo erlöste und befreite menschliche Geist es hier darin bringen kann, Gott immer in sich selbst gegenwärtig zu haben, vor seinen Augen zu wandeln, und Alles zu seiner Ehre zu thun. Dieses aber führt mich auf den zweiten, vielleicht besser zu entschuldigenden Vorwand für diesen so gewöhnlichen Wunsch des menschlichen Herzens. Viele von denen, die ihn in sich hegen, würden nämlich sagen: sie wünschten nämlich aus jener Welt eben dieses, in welcher Gemeinschaft mit Gott und unter einander wir Menschen in derselben stehen werden, nicht ihrer selbst wegen, sondern seitdem ihr liebendes Herz verwundet sey durch den Tod derer, die ihnen die Theuersten waren in diesem Leben, und das stehe doch früher oder später Jedem bevor, der es noch nicht erfahren habe, seitdem sey jenes Verlangen erwacht, und sie könnten sich nicht, wie sonst, mit allgemeinen Verheißungen und unbestimmten Aussichten begnügen. Auf dem gewöhnlichen Wege aber sey nicht mehr zu erwarten, darum hingen sie sich mit | inniger Sehnsucht an jede auch entfernte Möglichkeit, des Größern, dessen ihr Herz bedarf, auf einem außerordentlichen Wege theilhaft zu werden. Ja dies scheint ein Wunsch zu seyn, m. g. F., von dem wohl nicht leicht ein gefühlvolles Gemüth ganz frei bleiben könne in diesem Leben. Und dennoch, wenn er gerecht wäre: würde nicht der Erlöser, indem er uns hier so bestimmt alle Hoffnung auf eine solche Gemeinschaft mit jener Welt, durch welche allein auch nur die gewünschte Erkenntniß derselben entstehen kann, abschneidet, und so deutlich heraussagt, es gebe keine Sendung der Todten zu den Lebenden, würde er nicht in Rücksicht auf diesen Wunsch der Liebe ein besonderes Wort der liebreichen Belehrung hinzugefügt haben? Gewiß wohl, aber er hat es eben deßhalb nicht für nöthig befunden, sondern uns nur an uns selbst gewiesen, weil wir bei näherer Betrachtung leicht finden können, daß auch dieses thöricht geredet war. Wenn die Erfüllung eines solchen Wunsches etwas Seltenes bliebe, so daß nur Wenige unmittelbar, alle Uebrigen aber nur durch den Glauben an Jene, zu einer näheren Kenntniß von dem Zustande unter Abgeschiedenen gelangen könnten: würde dann wohl der Schauer, der sich unserer jedesmal bemächtigen müßte bei einer sol3 1Joh 3,2

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chen Erscheinung, uns zu einem nur irgend ruhigen Genusse derselben kommen lassen? würde jeder, sey es nun überspannte oder betäubte, immer doch ungewöhnliche und unruhige, Zustand der Seele, wie eine solche Ueberraschung ihn hervorbringt, wenn auch nur allmählig, doch ehe eine solche Erscheinung von dir verschwände, noch übergehen zu einem klaren und bestimmten Bewußtseyn, welches wir für uns selbst festhalten könnten, und welches uns Glauben bei Andern verschaffen würde? Und doch müssen unvermeidlich auch bei Jedem selbst Zweifel entstehen über seine eigene Erfahrungen, wenn er wenig oder gar keinen Glauben fände bei Andern! Wenn es also hiezu kein größeres Vertrauen giebt, als das, welches sich alle Erzählungen solchen Inhalts bis jetzt haben zu verschaffen gewußt: so haben wir auch gewiß kein Recht, die Erfüllung dieses Wunsches zu erwarten. Könnten wir uns aber ernsthafter Weise denken, eine solche Ge|meinschaft mit jener Welt konnte so häufig seyn, wie das Bedürfniß selbst ist, so daß der Glaube daran einem Jeden so zu sagen in die Hand käme, und die Kluft nicht nur leicht zu überspringen, sondern gleichsam schon ausgefüllt wäre, welche sonst zwischen dieser und jener Welt ist: wie wunderbar zerrissen und durchschnitten müßte dann unser irdisches Leben seyn, und alle seine Fugen gleichsam gelöst. Darum, so heilig uns jedes Verlangen der reinen Liebe auch ist, werden wir doch diesem Wunsche die Flügel beschneiden, und gestehen müssen, daß wir keinen Grund haben, die Grenzen unserer Welt anders gesteckt zu sehen, als Gott sie geordnet hat. Daher, was uns selbst betrifft, m. g. F., wollen wir uns an das freundliche Andenken, an die geistige, aber natürliche Einwirkung unserer Abgeschiedenen auf unsere Seele halten, die uns Allen von ihnen in dem Maße, als sie uns lieb und werth gewesen sind, zurückbleibt. Denn so lange der, der von uns geschieden ist, noch nicht vergessen ist, so lange dauert auch fort seine lebendige Wirkung auf unsere Seele, so lange leitet, warnt, erhebt uns sein Andenken, so lange erquickt uns die Erinnerung an das, was er uns war, als er auf Erden mit uns wandelte, und so lange ist er uns also noch nicht genommen, sondern wir besitzen ihn noch, und gewiß viel herrliche Früchte dieses Zusammenhanges mit unseren Vorangegangenen haben wir Alle aufzuzeigen. Was aber sie selbst betrifft, die Geschiedenen, o m. g. F., so haben wir ja ein theures Wort der Verheißung, kräftiger als irgend eine vorübergehende Erscheinung es seyn könnte, lebendiger durch seinen ganzen Zusammenhang mit unserm innersten geistigen Leben, als irgend etwas, was vor unser äußeres Auge und vor unsere Sinne treten könnte, ich meine die herrliche Verheißung des Erlösers: wo ich bin, da soll mein Diener auch 41–1 Joh 12,26

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seyn. Welche größere Sicherheit könnten wir wohl begehren, als ein Wort des Herrn selbst; und was konnten wir wohl lieber wissen wollen, wenn uns dieses gewiß ist, daß diejenigen, die hier mit ihm vereint ge|wesen sind, auch dort noch viel weniger von ihm können getrennt werden, da er schon von dieser unserer unvollkommnen irdischen Vereinigung mit ihm sagt, daß keine Macht der Hölle sie jemals zerreißen könne. Und nun, m. g. F., ist außer dem Grunde zu einem solchen Wunsch, den der Erlöser selbst behandelt, nur noch einer übrig, aber schon an sich selbst schwächer, als die bisherigen, – nämlich die Trübsale und Widerwärtigkeiten dieses Lebens. Denn diese dringen uns bisweilen den Wunsch ab, daß die Herrlichkeit des künftigen uns möge näher treten. Das gekränkte Herz, welches sich an das Wort hält1, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die an uns soll offenbaret werden, o es wünscht, wenn es sich am Tiefsten zerrissen fühlt von den Schmerzen dieses mannichfaltig bewegten Lebens, es wünscht jene verheißene Herrlichkeit zu schauen, um desto leichter Allem zu entsagen, was Andere Anmuthiges und Erfreuliches genießen. Doch dieses sollte ich wohl vor gläubigen Christen gar nicht einmal erwähnt haben. Denn der Apostel hat jenes Wort gar nicht gesagt, damit wir uns ein äußeres Bild dieser Herrlichkeit machen sollten, welches auch die anmuthigsten irdischen Bilder überglänze; sondern er redet von ihr, als von einem innern Bewußtseyn, welches durch alle Leiden der Erde keinen Abzug erfahren könne. Wie könnten wir aber dazu kommen, uns über die Leiden dieses Lebens mit der künftigen Herrlichkeit zu trösten, da ja doch Alles, was den Gläubigen in diesem Leben Freude macht, auch eben so gut genossen werden kann, ohne an jener Herrlichkeit einen Abbruch zu erfahren. Wünschen wir aber deßhalb dieselbe schon hier auf irgend eine Art zu schauen, damit die Trübsale dieser Zeit uns nicht von dem Wege ablocken, der dorthin führt: so laßt uns bedenken, daß wir hierzu keines Trostes bedürfen sollen, denn wir haben keine andere Anweisung von unserm Herrn | selbst, als die, daß wir unser Kreutz auf uns nehmen sollen, und ihm nachfolgen. Deßwegen sollen wir es auf uns nehmen, weil wir nicht von ihm lassen können, weil wir immer auf’s Neue angezogen werden von dem Worte seiner Weisheit und von seiner geistigen Nähe, weil die unverbrüchliche Liebe zu ihm unser höchstes Gut ist, und wir also auch seiner werth bleiben müssen, damit er nie aufhöre, uns auf- und anzunehmen. Wo sollte ich hingehen, wenn ich 1

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von dir wiche, du allein hast Worte des ewigen Lebens! Außer dieser Aufforderung zum treuen Ausharren, die schon von selbst um so dringender wird, je mehr wir uns von andern Seiten verlassen fühlen, außer dieser noch einer andern bedürfen, das ist eine Schwachheit, die wir nicht pflegen und ihr nachgeben sollen, sondern welche überwunden werden muß. Auch weiß der große Apostel, welcher jenes Wort gesprochen hat, nichts von einem solchen Gebrauche desselben, als ob ein außerordentlicher Blick in jene Herrlichkeit uns zum Trost gereichen sollte unter den Widerwärtigkeiten des Lebens. Denn ihm ward ein solcher Blick, daß er in einer Stunde der Begeisterung entzückt ward in’s Paradies; allein er bezieht das nicht auf irgend besondere Leiden, unter denen er damals erliegen wollte. Wohl aber sagt er ganz im Gegentheil, es sey ihm ein besonderes Leiden mitgegeben, wie es scheint, zur Begleitung durch einen großen Theil seines Lebens, damit er sich jener hohen Offenbarungen nicht überhebe. Und indem er dieses Leiden auf eine Weise beschreibt, welche das innigste Mitgefühl aufregt: sagt er nicht, daß er sich darüber tröste mit der künftigen Herrlichkeit; noch auch bekam er auf sein Gebet eine solche Anweisung von Oben, sondern nur die: „Laß dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ Das war das Wort, welches als ein Wort des Herrn in der Seele des Apostels ertönte, die vorzüglich deßhalb von jenen uns unbekannten Leiden so tief gebeugt ward, weil es ihn in der freudigen Verkündigung des Evangeliums hinderte; und dieses Wort hat | ihn für die ganze Zeit seines Lebens aufgerichtet. Wenn nun, m. gel. F., selbst ein Apostel, der wirklich Außerordentliches und Ueberirdisches in seinem Leben erfahren, und einen Strahl jener Herrlichkeit aufgefaßt hatte, oder vielmehr – denn Aeußerliches, wie es scheint, war ihm damals nichts erschienen – dem das innere Auge für dieselbe war geöffnet gewesen in einer Stunde entzückter Begeisterung – doch sobald es darauf ankam, sich mit dem irdischen Leben, wie Gott es auch ihm geordnet hatte, auszugleichen und die Schmerzen desselben zu lindern, durch die Stimme Gottes in seinem Innern weder auf jene besondere Erfahrung zurückgewiesen wurde, um in der Vergegenwärtigung derselben seinen Trost zu finden, noch eine Verheißung bekam, daß sich zu seiner Schadloshaltung und Beruhigung Aehnliches von Zeit zu Zeit wiederholen werde, sondern auch er nur angewiesen ward, sich an der göttlichen Gnade genügen zu lassen: wie sollten nicht wir Alle hieraus lernen uns bescheiden, und nicht wegen der Leiden, die aus der Ordnung dieses Lebens hervorgehen, Ansprüche machen, welche diese Ordnung übersteigen! wie sollten nicht auch wir Trost und Beruhigung genug in der Ordnung 10–11 2Kor 12,4

13–15 Vgl. 2Kor 12,7

19–20 2Kor 12,9

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des Heils finden, nach welcher wir eben so gut in den Leiden, als unter den Freuden dieses Lebens, wenn nicht unter jenen noch stärker und erhebender, die Erfahrung machen können von der göttlichen Gnade, deren Kraft in den Schwachen mächtig ist, und durch welche wir auch hier schon ohne alle Enthüllung einer künftigen Herrlichkeit das ewige Leben im Glauben wirklich haben, indem wir durch Christum Kinder Gottes und Genossen seines Reiches geworden sind. Und nun, nachdem wir alles Uebrige beseitiget, laßt uns auch II. diesen Wunsch nach belehrender Gemeinschaft mit jener Welt so begründet betrachten, wie er in der Erzählung des Erlösers selbst vorkommt, nämlich um Andere auf den Weg des Lebens hinzuweisen. Sende ihn, sprach jener Verstorbene, in das Haus meines Vaters zu meinen Brüdern, daß er ihnen bezeuge, auf daß sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual; | denn wenn Einer von den Todten zu ihnen ginge, so würden sie Buße thun. Gewiß kann dieser Wunsch, so gefaßt, auch uns nicht fremd seyn. Je tiefer uns oft das Gefühl ergreift, daß noch so Viele, selbst von denen, welche Christen heißen, die Gnade Gottes in Christo doch eigentlich gering achten, und sie trotzig von sich zu stoßen scheinen; je schmerzlicher wir oft inne werden, wie Alles, was wir selbst versuchen, um durch Wort und That den Samen des göttlichen Wortes in die Herzen zu streuen, und das Bild eines gottgefälligen Lebens den Menschen vor Augen zu stellen, keinen Erfolg zurückläßt in noch verstockten Gemüthern, und sie kaum für einen Augenblick nachdenklich macht, wie sie vielmehr ungerührt fortgehen in ihrer fleischlichen Sicherheit: desto natürlicher ist es uns, in den Wunsch des reichen Mannes einzustimmen, der selbst wie seine Brüder ein solcher gewesen war, und in einer Art von Verzweiflung denken wir wie er: wenn Einer kommen wollte aus jener Welt, um welche sie, verflochten wie sie sind mit den irdischen Dingen, sich gar nicht zu kümmern scheinen, dann würden sie endlich zur Buße erweckt werden. Ein solcher Gedanke entspringt aus der edelsten Quelle. Denn Besseres giebt es nicht in dem menschlichen Herzen, als das Bestreben, der göttlichen Gnade, derer wir uns selbst erfreuen, auch Andere theilhaftig zu machen, und sie wo möglich über Alles, was Mensch heißt, zu verbreiten. Allein wenn wir nun hören, wie der Erlöser diesen Wunsch behandelt: so müssen wir doch in uns gehen, nicht ohne einige Scham darüber, daß wir eben so denken konnten, wie Einer, der sein ganzes Leben hindurch selbst der Kraft des göttlichen Wortes verschlossen und in allen Angelegenheiten des Heils unerfahren gewesen war. Laßt uns daher sehen, wie wir uns auf das Vollständigste beruhigen können bei den Worten, die der Erlöser dem Abraham in den Mund legt: „Sie haben Mosen und die Prophe-

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ten; hören sie die nicht, so werden sie auch nicht glauben, so Jemand von den Todten auferstände.“ Diese Worte, m. a. Z., enthalten offenbar zuerst die stillschweigende Voraussetzung, über welche allerdings zwischen | Abraham und dem reichen Manne kein Streit seyn konnte, daß Moses und die Propheten eine hinreichende Anleitung geben, um an den Ort der Seligkeit zu kommen, demnächst aber und vorzüglich die ganz bestimmte Behauptung, daß auch, wenn Einer von Jenseits herüberkäme, doch eine solche Erscheinung keine andere Bewegungsgründe an die Hand geben könnte, als welche jenes Wort Gottes schon enthält. Laßt uns Beides noch etwas genauer betrachten. Was nun das Erste betrifft, so umfaßt allerdings der Ausdruck: Moses und die Propheten, die ganze ältere Reihe göttlicher Offenbarungen, die Aussprüche aller der auserwählten Männer, durch welche der Geist Gottes zu dem jüdischen Volke geredet hatte, um es auf den Weg des Heils zu bringen und es darauf zu erhalten. Allein die Schrift sagt: nachdem Gott vor Zeiten zu den Vätern geredet hat durch die Propheten, hat er am Letzten in diesen Tagen zu uns geredet durch den Sohn1. Wenn nun schon jene alten Reden, wiewohl mancherlei bald mehr, bald minder verhüllte Hinweisungen enthaltend auf den, der da kommen sollte, zureichend gewesen wären zur Erweckung und Erhaltung eines göttlichen Lebens in dem ganzen menschlichen Geschlecht: so wären ja diese letzten Reden durch den Sohn überflüssig, und das wollen wir wohl auf keine Weise glauben. Dann aber könnten wir immer noch sagen, der reiche Mann habe von dieser Seite so unrecht nicht. Denn wenn doch in jenem Leben die Beschränkungen des gegenwärtigen aufhören: so konnten auch schon in der Zeit, in welche der Erlöser seine Erzählung legt, die Vollendeten von Christo und von dem uns durch ihn geoffenbarten Willen Gottes eine genauere Kenntniß haben, als sie in Mose und den Propheten gefunden wird. Wie nun zu den Zeiten der Apostel durch ihr Wort von dem Erlöser gar viele Heiden auf den Weg des Lebens gebracht wurden, welche den Inhalt der Schriften des alten Bundes wohl kannten, von demselben aber nicht waren gerührt und ergriffen worden: so läßt sich auch wohl denken, daß auch jene irdisch gesinn|ten Brüder, auf welche die Lehren Mosis und der Propheten keine Wirkung gethan hatten, doch wären erleuchtet worden, wenn ihnen durch einen Boten von jenseits der vollkommene Wille Gottes, wie ihn der Sohn uns offenbaret, wäre vorgehalten worden. Was ist also wohl der Grund, warum der Erlöser den Abraham in diese Betrachtung nicht eingehen läßt, sondern uns auch dieses als leer darstellt? Wenn in den Zeiten des alten Bundes 1

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freilich wohl die Erkenntniß Gottes und seines Willens nur sehr unvollkommen war, so war doch Lazarus durch den richtigen Gebrauch derselben in Abraham’s Schooß gelangt, und Gott hatte nichts gefordert, als den richtigen Gebrauch der ihm dargebotenen Erkenntniß. Und wenn die Zeit, wo der Sohn, in dem wir nun vollkommen den Vater schauen, erscheinen konnte, um diesem Stückwerk ein Ende zu machen, erst später erfüllt war, so kann das wohl nur damit zusammenhängen, daß die Menschen früher noch nicht im Stande gewesen wären, diese Offenbarung aufzunehmen, und sie sich anzueignen. Wenn dieses Beides nicht wäre, zuerst, daß Gott den Menschen aus seiner Fülle soviel darreicht, als sie sich jedesmal aneignen können, und dann, daß er von Jedem nur Rechenschaft fordert für das, was er ihm gegeben hat, – wenn dies nicht wäre: so könnten wir wohl nicht einstimmen in das Wort des Apostels, was wir vorhin gehört haben: daß Gott die Liebe sey. Ist aber eine Zeit gekommen, um die Menschen weiter zu fördern, und zündet daher Gott in Einigen, dergleichen auch die Propheten des alten Bundes waren, das Licht einer besondern Erkenntniß an: so kann das nur in denen geschehen, welche die bisher schon vorhandene wohl in sich aufgenommen und befestigt hatten, und denen noch ein Verlangen nach Mehrerem und eine Fähigkeit dazu übrig geblieben war. Wie wären also wohl jene Brüder, welche alle vorhandenen Schätze der Erkenntniß vernachlässigt hatten, im Stande gewesen, die Aufforderung, Gott im Geist und in der Wahrheit anzubeten, zu verstehen, wie hätten sie das Gebet der Liebe, mit der uns Christus geliebt hat, auch nur fassen können, und hätte es ihnen auch ein En|gel vom Himmel herab, oder ein Todter von Jenseits herüber gebracht, da sie auch nicht einmal die beschränkte Nächstenliebe des Gesetzes geübt, und nicht einmal an Gott, als dem Gott ihres Volkes, gehangen hatten! Gewiß also würden sie das Größere auch auf einem solchen Wege nicht angenommen haben, eben deßwegen, weil sie schon Mosen und die Propheten nicht angenommen hatten. Wie viel vergeblicher aber wäre nicht eine solche wunderbare Begünstigung mitten im Schooße der Christenheit! Denn wir haben nun schon die Reden, welche Gott in den letzten Tagen geredet hat, durch den Sohn, in welchem alle Verheißungen erfüllt sind! Es giebt nun nichts Neues mehr, was noch zu offenbaren wäre, sondern unser Zuwachs an Erkenntniß des göttlichen Wesens und Willens geschieht nur dadurch, daß, wie der Herr selbst verheißen hat, sein Geist von dem seinigen nimmt, und es uns immer mehr verklärt. Aber von den Anfangsgründen des göttlichen Lebens muß auch angefangen werden, und nur allmählig kann Jeder zum Vollkommenen fortschreiten. Wer 14–15 Vgl. 1Joh 4,16 aus der Epistel dieses Sonntags

38–39 Vgl. Joh 16,14

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also auf den Weg des Lebens erst soll gebracht werden, dem kann auch noch nichts Anderes frommen, als die Milch des Evangelii. Wer den Trost der Versöhnung noch nicht begierig ergriffen hat, wen die süße Lehre von der Gnade Gottes in Christo noch erst locken soll, wer sich das Geheimniß noch nicht zu eigen gemacht hat von dem Worte, das Fleisch ward: was sollten dem tiefe Einsichten in die göttlichen Geheimnisse, die ihm nur Einer von den Todten bringen könnte? Laß ihn die Evangelisten hören und die Apostel, und denen glauben. Wer aber in der Heiligung, so wie in der Kenntniß und dem Genuß aller geistigen Güter, langsamer fortschreitet, als zu wünschen wäre, der ist gewiesen an die Fülle von Stärkung und Belebung, die uns Allen immer hervorgeht aus jeder lebendigen Gemeinschaft mit den Gläubigen, in der sich die geistige Gegenwart Christi offenbart; denn dazu bedürfen wir bleibender Einflüsse, nicht eines vorübergehenden Eindrucks, wie ihn die flüchtige Gemeinschaft mit einem Wesen aus einer andern Welt hervorbringen könnte. | Ist nun die stillschweigende Voraussetzung des Erlösers so wohl begründet, daß eine Erscheinung aus jener Welt uns nichts bringen könnte, was nicht in dem Worte Gottes schon gegeben ist: so steht es gewiß auch eben so mit seiner ausdrücklichen Bestimmung, daß in einer solchen Erscheinung auch keine Kraft liegen könne, diejenigen zum Glauben zu bringen, welche dem Worte Gottes nicht glauben wollen, oder Lust und Kraft des geistigen Lebens in denen zu entzünden, welche trotz des ihnen wohlbekannten göttlichen Wortes immer noch in die vergängliche Lust dieser Welt versenkt bleiben. Das wissen wir, m. g. F., wie von Anfang des Christenthums an der Glaube entzündet worden ist durch die Predigt vom Glauben, indem durch diese die Gabe des heiligen Geistes sich mittheilte. Und noch jetzt erfahren wir täglich die Gewalt und Kraft des göttlichen Wortes über das menschliche Herz, das von demselben bald allmählig erreicht, bald plötzlich in seinen innersten Tiefen erschüttert und so die neue Kreatur gebildet wird, und die Keime des neuen Lebens sich entwickeln. Aber wo das Wort Gottes diese Wirkung noch nicht hervorgebracht hat, da sollten Erscheinungen aus einer andern Welt dasselbe bewirken können? Mit nichten! Glaubte doch Herodes, in Christo selbst sey der Johannes wieder erstanden, den er enthaupten lassen; aber deßwegen that er nicht Buße und ward gläubig. Und Lazarus, der Freund des Herrn, der wirklich von den Todten erstanden war, als er mit dem Herrn zu Tische saß, und Viele gekommen waren, um ihn zu sehen, schwieg er bescheiden still, damit sie Christo glauben möchten, und drängte sich nicht auf mit den Geheimnissen des Grabes, um sie zu bewegen. So nun wird immer unter uns das Wort des Herrn, das 2 Vgl. 1Kor 3,2; 1Petr 2,2; Hebr 5,12

5–6 Joh 1,14

35–36 Vgl. Mk 6,16

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soviel mehr ist und kräftiger, als Moses und die Propheten, die einzige Quelle aller wahrhaft heilsamen Bewegungen des menschlichen Herzens bleiben. Und wie eine Kluft befestiget ist zwischen denen in Abrahams Schooß, und denen an dem Ort der Qual, daß den Letzten auch nicht einmal eine Linderung kommen kann von den Ersten: so möge auch immer eine Kluft befestiget bleiben zwischen Beiden und uns, | daß keine Aufforderung zur Buße uns von ihnen komme, und wir werden des keinen Schaden haben. Vielmehr wenn es zweierlei Art gäbe, wie die Menschen ermahnt würden, Buße zu thun, durch die Verkündigung des Wortes in der christlichen Kirche und durch die Predigt der Todten, seyen es nun selige und gequälte, – welche neue Vorwände und Entschuldigungen wegen des Ungehorsams gegen die göttliche Einladung müßten nicht daraus entstehen! Und wie leer! Denn auf einen andern Grund kann doch und soll Niemand bauen, als den Christus gelegt hat, und er selbst hat weder von Anfang an als ein Geist aus einer andern Welt erscheinen wollen, sondern ist Mensch geworden, um durch menschliches Wort menschlich zu wirken, noch auch hat er nach seiner Auferstehung sich zeigen wollen, als ein von den Fesseln der Erde schon gelöster Geist, oder in der Herrlichkeit, als ob er schon aufgefahren wäre zum Vater, sondern mit Fleisch und Bein ist er gekommen, und hat nicht geglaubt, dadurch mehr zu wirken auf diejenigen, die schon an ihn glaubten; noch weniger hat er sich den Ungläubigen gezeigt, um sie zur Buße aufzufordern, sondern das hat er der Predigt seiner Jünger überlassen, wenn die Fülle des Geistes über sie würde ausgegossen seyn. Diese Ordnung, wie sie beständig ist, so muß sie auch die beste seyn. Möchte auch immer ein Verklärter den Geist in einem höhern Maße haben, als irgend ein Einzelner unter uns, doch gewiß nicht in einem höheren, als die Gemeinschaft der Gläubigen ihn hat; denn in dieser ist er ganz und ungetheilt, wie in Christo selbst. Was aber die Meisten, die gern ihre noch verhärteten Brüder durch Erscheinungen aus jener Welt bekehren möchten, davon eigentlich erwarten, das ist wohl nicht ein höheres Maß des Geistes, sondern eine bestimmtere Darstellung von der Qual der Unseligen und von der Seligkeit der Begnadigten. Aber hat Christus selbst nicht klar genug geredet von der Herrlichkeit, die er uns mittheilen wird, und von der Dunkelheit, in welcher die von Gott Entfernten wohnen? Nur mit einer größern sinnlichen Kraft könnte Beides dem vor Augen treten, vor dem ein Theilhaber jener Seligkeit oder Qual aus Er|fahrung redete. Soll aber auf diese Weise der Glaube entstehen aus der Heftigkeit sinnlich aufgeregter Furcht oder Hoffnung? Gewiß nicht! Denn die völlige Liebe soll ja die Furcht austreiben; also kann sie nicht selbst aus der Furcht entstehen, und 14–15 Vgl. 1Kor 3,11

41–42 Vgl. 1Joh 4,18

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also wäre auch der Glaube, der durch die Furcht entstände, nicht derjenige, der in Christo allein gilt, der nämlich durch die Liebe thätig ist. Und so giebt es auch für uns keine Hoffnung als die, daß der, welcher uns seinen Sohn geschenkt hat, uns mit ihm auch Alles schenken werde. Diese gilt für dieses und jenes Leben, und kann in uns nicht entstehen durch irgend eine Offenbarung, sondern allein durch das freudige Gefühl der Liebe, die Gott uns erwiesen hat in seinem Sohne. Daher ist es auch das Anerkennen und Erwägen dieser Liebe allein, wodurch das menschliche Herz seinem Heile wahrhaft zugewendet wird; alle andere Erregungen zum Guten, wie wunderbar sie auch mögen gewirkt worden seyn, wie glänzend sie auch noch als Erinnerungen bleiben, sie sind doch nicht von der Art, daß sie die Seligkeit in uns begründen könnten, welche Christus den Seinigen verheißen hat. Vielmehr wer auf dem von Christo selbst geordneten Wege zur wahren Gemeinschaft mit ihm gekommen ist, dem ist jede Gemeinschaft mit andern übermenschlichen oder verklärten Wesen überflüssig; wer aber in jener seligen Gemeinschaft noch nicht steht, dem kann, wie jedes Bestreben, dessen Gegenstand nicht der Erlöser selbst ist, so auch das Verlangen nach andern Offenbarungen, statt ihm förderlich zu seyn, eher nachtheilig werden, weil es der Sehnsucht nach dem Einen, was Noth thut, etwas Fremdartiges beimischt. Dies, m. gel. Fr., ist das Wort des Erlösers an uns über diesen Gegenstand; und ich wünsche, daß es durch die darüber angestellte Betrachtung auch uns Allen möge klar und fest geworden seyn. Gewiß, wenn er, der nur gekommen ist, uns die Fülle des Guten zu geben, und die Hoffnung ganz abschneidet auf eine solche Gemeinschaft mit der andern Welt, die ein Zuwachs zu unserm Frieden und zu unserer Seligkeit seyn könnte: so dürfen wir nicht glauben, daß er uns damit etwas Gu|tes versagt habe, und wollen das nicht für einen Raub halten, was er uns nicht zugestehen will; sondern uns an seiner Gnade genügen lassen, und immermehr aus allen segensreichen Quellen der Erkenntniß und der Liebe schöpfen, die Er uns eröffnet hat. Je mehr wir dies thun, um desto mehr werden wir Ursache finden, ohne daß wir über die Grenzen hinausstreben, welche unserm Leben gesteckt, dennoch mit dem Apostel auszurufen: „o welche Tiefe des Reichthums beide der Weisheit und der Erkenntniß, der Liebe und der Barmherzigkeit Gottes.“ Amen. Schl.

1–3 Vgl. Gal 5,6

3–5 Vgl. Röm 8,32

35–37 Vgl. Röm 11,33

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2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 4,5–14 Nachschrift; SAr 74, Bl. 140r–157v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 1–16 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 100, Bl. 32v; Andrae) Keine Beginn der bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1820. am elften des Brachmonds. |

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Wenn wir uns neulich, m. a. F., am Fest der Dreieinigkeit mit freudiger Dankbarkeit und mit festem Glauben deßen erinnert haben, daß durch die allgemein sich verbreitende Sendung des Geistes von oben die göttliche Offenbarung an das menschliche Geschlecht vollständig geworden, und dadurch, so weit sich überhaupt das Evangelium von Jesu verbreitet hat, allen Menschen eine immer genügende Quelle der Seligkeit und zureichende Mittel, um zur Gemeinschaft mit Gott zurükzukehren, gegeben worden: so laßt uns nicht vergeßen, daß die Erhaltung dieser göttlichen Gnade auf der Fortdauer der Gemeinschaft unter den Khristen, d. h. der khristlichen Kirche beruht. Denn so wie wir mit dem Apostel sagten, es könne keiner kommen weder Mensch noch Engel, und uns ein anderes Evangelium geben als dieses, so fühlen wir es auch und bekennen es gern, daß auch die göttliche Offenbarung in Khristo und seinem Geist nicht in | irgend einem einzelnen Menschen wohnt, sondern nur in der Gesammtheit derer, die im Glauben an den Erlöser verbunden und durch das von Einem zum Andern hinübergehende lebendige Wehen seines Geistes gerechtfertigt auf dem Wege des gottgefälligen Lebens, der fortschreitenden Erkenntniß und also der wahren Heiligung erhalten werden. Darauf also müßen wir hinsehen; die khristliche Kirche in ihrer Geschichte, in ihrem Fortbestehen, in dem freudigen Genuß und Besiz der Verheißung, daß keine Macht jemals sie solle überwältigen,

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12–14 Vgl. Gal 1,8

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das ist der Grund unsrer Zuversicht: und darum, m. g. F., habe ich es angemeßen gehalten in der noch übrigen Zeit unsers kirchlichen Jahres in unsern vormittäglichen Betrachtungen eure Aufmerksamkeit hinzuwenden auf die vorzüglichsten Begebenheiten in der Pflanzung und Verbreitung der khristlichen Kirche seit jenen Tagen der offenen Ausgießung des Geistes und der ersten Verkündigung des göttlichen Wortes durch den Mund der Apostel | an das ganze Volk, so weit nämlich die Geschichte unsrer heiligen Bücher reicht, und wir die Erzählung davon in ihnen selbst finden. Ich fange diese Betrachtungen an mit dem was wir lesen

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Apostelgeschichte IV, 5 –14. Als es nun kam auf den Morgen, versammelten sich ihre Obersten und Aeltesten und Schriftgelehrten gen Jerusalem, Hannas der Hohepriester und Kaiphas und Johannes und Alexander, und wie viele ihrer waren vom Hohenpriestergeschlecht, und stellten sie vor sich und fragten sie: aus welcher Gewalt oder in welchem Namen habt ihr das gethan? Petrus voll des heiligen Geistes sprach zu ihnen: ihr Obersten des Volks und ihr Ältesten von Israel, so wir heute werden gerichtet über diese Wohlthat an dem kranken Menschen, durch welche er ist gesund geworden, so sei euch und allem Volk von Israel kund gethan, daß in dem Namen Jesu Khristi von Nazareth, welchen ihr gekreuziget habt, | den Gott von den Todten auferweket hat, steht dieser allhier vor euch gesund. Das ist der Stein von euch Bauleuten verworfen, der zum Ekstein geworden ist. Und ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden. Sie sahen aber an die Freudigkeit Petri und Johannis und wunderten sich, denn sie waren gewiß, daß es ungelehrte Leute und Laien waren, und kannten sie auch wohl, daß sie mit Jesu gewesen waren. Sie sahen aber den Menschen, der gesund war geworden, bei ihnen stehen, und hatten nichts dawider zu reden.

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Es ist freilich nur ein Bruchstük einer einzelnen Begebenheit, m. g. F., welches ich heute zum Gegenstand unsrer Betrachtung mache; der weitere Verfolg derselben wird uns das nächstemal beschäftigen. Warum ich aber das Frühere glaube übergehen zu können, und warum ich | wünsche, daß ihr diese Begebenheit mit mir betrachten möget, das alles wird sich ergeben, wenn ich aus einander seze, warum ich ihr eine solche Wichtigkeit beilege, die bevorstehende Reihe unsrer Betrachtungen mit derselben zu beginnen. Damit ich euch dies nach Vermögen deutlich mache, so muß ich

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32 Verfolg] Erfolg 31–32 Vgl. oben 25. Juni 1820 vorm.

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zuerst aufmerksam machen auf die obwaltenden äußern Umstände und Verhältniße, und zweitens auf den eigentlichen innern und geistigen Gehalt der Begebenheit selbst.

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I. Die Apostel, m. g. F., seit jenem Tage, wo, wir können nicht genau angeben an welchem Orte und unter welchen Umständen, der Geist sie zu reinigen auf sie herabgestiegen war an dem großen Tage der Pfingsten, wo Petrus zuerst in der vollen Kraft des Geistes das Wort des Herrn verkündigt hatte und mehrere tausend Seelen zugesellt den Gläub|igen durch sein Wort, hatten seitdem nicht aufgehört, ihren unter so gesegneten Umständen begonnenen Beruf weiter fortzusezen, und es sammelten sich mehr oder weniger Menschen um sie her, vorzüglich aber in der Halle des Tempels, wo es ihnen nie fehlen konnte, das Evangelium von Jesu Khristo, den die Obersten des Volks zwar getödtet hatten, weil sie ihn verwarfen, Gott aber von den Todten auferweket und dadurch aufs deutlichste als denjenigen bezeichnet hatte, den er gesandt, zu bekennen. Und so ging ihr Geschäft unter dem Segen Gottes fort, und es hätten sich auf diese Weise immer mehrere zu dem Namen des Erlösers bekennen können. Allein es konnte doch daran nicht genug sein, daß die Apostel den großen Haufen des Volks belehrten, und aus ihm immer mehrere sammelten zu der Gemeine der Gläubigen, sondern es | erschien nothwendig, der göttlichen Weisheit angemeßen und zur Offenbarung der göttlichen Gerechtigkeit in den Wegen, welche der Herr eingeschlagen hatte, unerläßlich daß auch den Obersten des Volks das Evangelium mußte gepredigt werden, auf daß sie keine Entschuldigung hätten. Denn es ist nicht zu leugnen, daß der ganze Gang des Khristenthums von seinem ersten Anfang an ein andrer würde gewesen sein nicht nur wenn, als der Erlöser selbst noch auf Erden lebte und lehrte, die Obersten des Volks nicht einzeln – denn einzeln glaubten manche an ihn – sondern in Gesammtheit kraft ihres Amtes und in demselben ihn als den, der von Gott den Menschen gesandt sei zur Erleuchtung, zur Gerechtigkeit und zur Beseligung, angenommen hätten; nicht nur das, sondern noch mehr, nachdem er durch ihren Rath war gekreuzigt worden, Gott aber ihn von den Todten auferwekt hatte, wenn sie sich, wie ein nicht unbedeuten|der Theil von den Einwohnern der Hauptstadt des jüdischen Landes, zum Glauben an den Erlöser gewendet hätten, so würde ihr Beispiel von großem Einfluß gewesen sein, und weit schneller würde die Verkündigung des Evangelii von Jesu dem Gekreuzigten sich verbreitet haben. Der göttliche Rath aber hatte es anders beschloßen; und ohne daß wir uns, wozu wir das Vermögen nicht in uns haben, in die Tiefen desselben vergraben wollen, so können wir uns nur an das klare und offne Wort des Apostels Paulus 5–9 Vgl. Apg 2,1–41

40–1 Vgl. Röm 11,25–26

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halten, es sei solches geschehen, damit die Fülle der Gnade offenbar werde. Aber es geziemte doch Gott die Angelegenheiten der Verkündigung des Evangeliums so zu lenken, daß auch sie, die Priester und Obersten des Volks, keine Entschuldigung hätten. Nun freilich lehrten die Apostel öffentlich in der Halle des Tempels | und auf den andern öffentlichen Pläzen der Stadt, und es stand ihnen frei sich unter die hinzuströmende Menge zu mischen, und die Boten des Glaubens zu hören, und so sie das nicht wollten, so stand ihnen frei es so zu halten, wie jemand unter ihren Mitgenoßen Nikodemus, der bei Nachtzeit zu dem Erlöser kam, und sich von ihm unterrichten ließ über den Weg des Lebens, wovon er einen Segen davontrug, der ihn auch in jener entscheidenden Stunde, wo es auf das Leben und den Tod des Herrn ankam, nicht verließ; so hätten sie getrieben vom Drange des Herzens die Wahrheit suchen können bei denen, die im Stande waren ihre verschloßenen Augen zu öffnen, und indem sie von ihnen den Zusammenhang der Dinge, worauf es ankam, gehört und dagegen ihre eigenen Einwürfe vorgebracht hätten, so würde der göttliche Geist seine Macht auch an ihnen bewiesen haben. Denn indem der Erlöser auch sie mitbegriffen | hatte unter jenem lezten Gebet „Vater vergieb ihnen, sie wißen nicht was sie thun”, so dürfen wir nicht zweifeln, daß der Geist Gottes auch ihnen nicht sei verschloßen gewesen, und wenn sie ihr Ohr geöffnet hätten den Worten des ewigen Lebens, auch die Kraft derselben in ihre Seelen würde gedrungen sein. Aber wenn weiter nichts geschehen wäre, so hätten sie immer eine wenn gleich nur unvollkommne Entschuldigung gehabt. Denn bei der Ungleichheit, die in der Gesellschaft der Menschen nach menschlicher Einsicht nothwendig und nach dem göttlichen Willen geordnet ist, hätten sie sagen können, es gezieme ihnen nicht, ihr Ansehn auf eine solche Weise auf das Spiel zu sezen, daß sie die Obersten und Leiter des Volks sich gemischt hätten unter die große Maße derer, die aus der Mitte des Volks dahin gingen, und jenen zuhörten. Denn es gab damals noch nicht eine so feste und glükliche Versammlung in dem Worte Gottes, wodurch | in dieser Hinsicht alle bürgerliche Ungleichheit ausgeglichen und ausgelöscht wird; und damit ihnen auch diese Entschuldigung fehlte, so lenkte es Gott so, daß sie selbst mußten die Apostel vorladen, so daß sie nicht konnten aus dem Wege gehen, das Wort von Jesu von Nazareth zu hören. Dazu bediente sich Gott einer wunderbaren Heilung, die Petrus und Johannes, indem sie in den Tempel hinauf gingen um zu beten nach der gewöhnlichen Sitte ihres Volks, am Eingange des Tempels verrichteten an einem von einer Lähmung seiner Glieder Niedergedrükten. Dieses Wunder an und für sich, nur eins unter hundert oder tausend, die der Erlöser von derselben Art verrichtet hatte, und die nach der Erzählung in der Apostelgeschichte auch seine Jünger verrichteten, indem er diese seine Kraft auf sie übertragen hatte, 8–12 Vgl. Joh 3,1–21; Joh 7,44–53

18–19 Lk 23,34

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dieses an und für sich würde für uns weiter keine denkwürdige Begebenheit in der Geschichte der khristlichen Kirche sein, und eben | darum habe ich die eigentliche Erzählung desselben übergangen. Es ist der kranke Mensch, den die Hohen und Obersten des Volks neben die Apostel stellten, als sie dieselben vor ihren Rath forderten, und dasjenige was von ihnen geschehen war, nicht zu leugnen vermochten. Das Zeichen, wie sie selbst unter sich nachher redeten, war offenkundig geworden in ganz Jerusalem, und unmittelbar vorher erst hatte Petrus in dem Hofe des Tempels zu einer zahlreichen Menge des Volks das Wort der Auferstehung von Khristo geredet; und nun würden sie selbst ihr Ansehen auf das Spiel gesezt haben, wenn sie davon keine Kenntniß sich zu verschaffen gesucht hätten. Und so drang ihnen die göttliche Gnade und Barmherzigkeit auf die Gelegenheit das Wort zu hören, und ihre Herzen ergreifen zu laßen von der Wahrheit, und drang ihnen dieselbe auf zum Zeugniß über sie. Und dadurch nun wie sie diese aufnehmen würden, entschied | sich der weitere Gang der Verbreitung des Evangeliums unter dem jüdischen Volk. Denn nachdem es ihnen selbst auch noch einmal unmittelbar und unter solchen auch für sie ergreifenden und überzeugenden Umständen war verkündigt worden, so konnte es wohl ein jeder als entschieden ansehen, daß von ihnen für die Folge die Erleuchtung und Beseligung ihres Volkes nicht zu erwarten sei, und daß auf keinem andern als auf dem betretenen Wege durch die unerschroken weiter zu verkündigende Lehre und durch die Stiftung der khristlichen Gesellschaft das angefangene Werk des Herrn weiter gedeihen werde, allerdings nicht anders als im Gegensaz gegen die noch feststehende alte Ordnung der Dinge, und, wie der Apostel Paulus sagt gegen die unwißenden Eiferer des Gesezes, das seine Kraft verloren hatte. – Dies, m. g. F., sind die äußern Umstände | und Verhältnisse, um deren willen wir diese Begebenheit als wichtig und entscheidend für die ganze erste Entwikelung der khristlichen Kirche anzusehen haben. II. Aber nun laßt uns auch zweitens auf den innern geistigen Gehalt derselben achten, um daraus zu lernen, auf welche Weise das Evangelium Khristi verkündigt und erhalten, und auf welche Weise es von sich gewiesen und verworfen wird. Denn, m. g. F., ich kann nicht anders, indem ich mich dem Eindruk dieser Begebenheit hingebe, als sagen, sie sei ein vollständiger Beweiß von dem nun nicht mehr zu hemmenden und nicht mehr zweifelhaften Siege der geistigen und göttlichen Kraft des neuen Bundes über diejenigen, die sich berufen glaubten den alten aufrecht zu erhalten. Wir werden dieses erkennen, wenn wir auf der einen Seite auf das sehen was sich in den Hohenpriest|ern und Obersten des Volks zeigte, und auf der andern 6–7 Vgl. Apg 4,16

8–9 Vgl. Apg 3,12–26

25–26 Vgl. Röm 10,2

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Seite auf dasjenige was wir aus dem Gemüthe der beiden Apostel des Herrn, die vor ihnen standen, sich offenbaren sehen. Denn, m. g. F., wenn wir uns nun fragen, was zeigten denn bei dieser Gelegenheit die Hohenpriester und Obersten des Volks, als sie da standen, um die Apostel über ihr Thun zu befragen und über sie zu richten? das erste, was dabei gewiß einem jeden einfällt, ist daß sich in ihnen zeigte eine Furcht, der Wahrheit nahe zu kommen, und sie sich nahe kommen zu laßen. Denn als sie die Apostel fragten, aus welcher Gewalt und in weßen Namen sie denn das gethan hätten, nemlich beides den Kranken heilen und über ihre That öffentlich zu dem Volke reden, so antworteten Petrus und Johannes „wenn wir denn heute befragt werden auf gerichtliche Weise über diese Wohlthat, | die wir einem elenden und kranken Menschen erwiesen haben, so sei euch kund gethan, ihr Obersten und Ältesten des Volks, daß es im Namen Jesu von Nazareth geschehen ist, daß dieser gesund vor euch steht, im Namen deßen, den ihr gekreuzigt habt, den aber Gott auferweket hat von den Todten.“ Die Apostel, m. g. F., nannten sich in dem Berufe der öffentlichen Verkündigung des Evangeliums überhaupt, vorzüglich aber unter dem Volke des Herrn gewöhnlich die Zeugen seiner Auferstehung, weil sie eben aus seiner Auferstehung als der Fortsezung gleichsam und der höchsten Offenbarung der siegenden Kraft Gottes, die auf seiner menschlichen Person ruhte, zu beweisen glaubten, daß die sich müßten geirrt haben und den Willen Gottes nicht richtig verstanden, die ihn nicht hatten für den Gesandten des Herrn erkennen wollen, | sondern ihn verstoßen und in den Tod gegeben. Das war also der Punkt, auf den es ankam; und wenn Aufrichtigkeit gewesen wäre in diesen Obersten und Ältesten des Volks, wenn es ihnen irgend darum zu thun gewesen wäre, den Willen Gottes in Beziehung auf das was ihres Amts und Berufes war, zu erkennen und zu erfüllen, so hätten sie an dieser Vorstellung, welche ihnen die Apostel machten von der Erscheinung des Herrn auf Erden, nicht stillschweigend dürfen vorübergehen gleichsam als ob sie das Wort nicht vernehmen, sondern sie hätten müßen den Muth haben, die Sache näher zu untersuchen und sich Zeugniß geben zu laßen, was es mit der Erscheinung des Herrn für eine Bewandniß habe; sie hätten forschen müßen, wer von beiden Recht habe, ob sie die Jesum von Nazareth gekreuzigt hatten, oder diejenigen, die jezt noch vor ihnen standen und | jenen verkündigten, und gerade indem sie sich vorzüglich beriefen auf seine Auferstehung als auf etwas was auch den andern konnte kund werden, da ihnen der unmittelbare Glaube an die Göttlichkeit seines Wesens nicht konnte mitgetheilt werden. Aber sie thaten, als vernähmen sie es nicht, sie hatten keinen Muth und kein Herz sich in eine Auseinandersezung der Wahrheit einzulaßen, sondern zogen sich zurük auf die Macht, die ihnen gegeben war freilich wohl um die Apostel 18 Vgl. Apg 1,22

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zum Schweigen zu bringen, aber auch selbst schweigend zu dem was geschehen war, und sie thaten als ob sie das Gesagte überhört hätten. Aber nichts bekundet mehr das Unvermögen des Menschen auf dem Gebiete des geistigen Lebens irgend etwas Großes und Ausgezeichnetes zu leisten, als diese Scheu vor der Wahrheit, dieses Verschließen der | Augen gegen ihren heiligen Glanz, dieses Verstopfen der Ohren vor ihrem deutlichsten Schall, dieses Sichzurükziehen eines verstokten Herzens in sich selbst. Noch deutlicher zeigt sich aber dieses, wenn wir darauf achten, welche Vorwürfe ihnen die Apostel machten in ihrer Rede, und wie stillschweigend sie diese anhörten, ohne daß sie das Herz gehabt hätten sich zu rechtfertigen. Denn die Apostel sagten zu ihnen „dies ist der Stein, den ihr Bauleute verworfen habt, der aber durch die Kraft Gottes zum Ekstein geworden ist.“ Dadurch sagten sie ihnen gerade heraus, wie sie auf einem ganz verkehrten Wege wären in dem großen und heiligen Beruf, den ihnen Gott gegeben hatte, um nach der Anleitung seiner Offenbarung, nach den deutlichen Aussprüchen seiner Offenbarung die Zeichen der Zeit zu verstehen, und zu unterscheiden wann das Ende des Alten und | der Anfang des Neuen herbeigekommen sei, sie führten sie ganz deutlich auf unverkennbare Aussprüche ähnlichen Inhalts in der von ihnen anerkannten göttlichen Offenbarung zurük, um sie noch in diesem Augenblik zur Besinnung darüber zu bringen, daß sie den verstoßen hätten, den der Herr zum Ekstein eines neuen herrlichen unvergänglichen Baues gemacht, wie der Erlöser es selbst von sich auch ihnen in den Tagen seines Lebens unverholen und deutlich gesagt hatte. Wenn derjenige, m. g. F., der in den niedrigen Kreisen der menschlichen Gesellschaft einheimisch ist, zu Vorwürfen die ihm gemacht werden, auch wo sie seinen Beruf betreffen, schweigt, so sehen wir auch darin wohl einen Mangel an jenem Muth, den das Bewußtsein der guten Sache jedem Menschen geben | muß, und unter allen Umständen in ihm aufrecht erhält. Aber wir entschuldigen es, wenn der, welcher untergeben ist und zurükgestellt ist, schweigt gegen diejenigen, welche nach der durch die öffentliche Anerkennung ihnen angewiesenen Würde das Ansehen der menschlichen und göttlichen Geseze zu vertreten haben. Aber wenn der schweigt zu Vorwürfen, die ihm gemacht werden, der nicht der Untergeordnete ist sondern der Gebietende, wenn der nicht wagt sich zu vertheidigen über Vorwürfe die ihm gemacht werden über die ungerechte Führung seiner Geschäfte, über den verkehrten Gebrauch des ihm verliehenen Ansehens, über den Nichtgebrauch der Mittel, die Gott der Herr ihm gegeben hat um die Wahrheit zu erkennen und den erkannten Willen Gottes auszuführen; dann gewiß findet keine Entschuldigung Statt, und jeder kann deutlich sehen, daß diejenigen, welche, indem sie so hoch über | andre gestellt waren wie die Hohenpriester und Ältesten des Volks über die Jünger des Herrn, nicht mehr 16 Vgl. Mt 16,3

21–24 Vgl. Ps 118,22 (zitiert in Mt 21,42; Mk 12,10; Lk 20,17)

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freilich ganz und gar in dem Besiz der alten ursprünglichen Macht sich befanden, aber doch in allen heiligen Angelegenheiten des Gesezes und des Tempels frei gelaßen waren, wenn diejenigen, die mit einem solchen Ansehen ausgerüstet sind, so eingeschüchtert werden von dem und zwar von einem kleinen und in diesem Augenblik zerstreuten Häuflein solcher, die unter ihrem Ansehen und unter ihrem Geseze standen, und sich auch dazu bekannten ihnen ergeben zu sein, wie denn die Apostel sie ja auch mit Ehrerbiethung als die Obersten und Ältesten des Volks anredeten, und nie aufhörten sie als solche zu betrachten und zu ehren, wenn dieser Schuz eines göttlichen und menschlichen Ansehens nicht im Stande ist Kraft und Lust zur Vertheidigung und Behauptung | der Wahrheit, zur Rechtfertigung der in den heiligsten Angelegenheiten des menschlichen Lebens seit langer Zeit schon bestehenden Einrichtung anzubieten – o so sieht man, wie aus der alten Ordnung der Dinge unter dem jüdischen Volk diese alte Kraft gewichen war, und der Sieg des neuen herrlichen Reiches Gottes, welches durch die Jünger des Herrn gestiftet werden sollte, gegen eine so herabgesunkene und abgestorbene Zeit, nicht mehr konnte zweifelhaft sein. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch achten auf der andern Seite auf dasjenige, was sich uns aus den beiden Aposteln Petrus und Johannes, die hier vor den Obersten und Ältesten des Volks standen, kund giebt, um zu sehen, welches die Kraft war, die dem neuen Gottesreiche, das durch ihr Wirken und durch ihren Dienst gebaut werden sollte, den Sieg über die alte Ordnung der Dinge notwendig verschaffen mußte. | Unsre Erzählung sagt ganz einfach „sie wunderten sich über die Freudigkeit des Petrus und Johannes, indem sie wohl wußten, daß sie ungelehrte Leute und Laien waren, und sie wohl kannten, daß sie mit Jesu gewesen waren.“ Sie wunderten sich über ihre Freudigkeit, weil sie schienen halb und halb gehofft zu haben, sie würden gefühlt haben, wenn sie als solche wie sie waren, und wie sie uns beschrieben werden, ungelehrte Leute und Laien, die bisher noch nichts gethan hätten, was sie ausgezeichnet hätte, als daß sie einige Jahre mit Jesu von Nazareth gewandelt hatten, wenn diese stehen würden vor ihnen den Obersten und Ältesten des Volks, sie hatten gehofft, sie würden verlegen sein und verstummen, und wunderten sich nun über ihre Freudigkeit. Das ist nun eben | das Erste und die Kraft, welche dem Evangelium den Sieg über das Gesez verschafft hat, daß die Apostel des Herrn wenn gleich erkennend das Ansehen derjenigen, die zu Obersten des Volks gesezt waren, doch in keinem bedeutenden und entscheidenden Augenblik ihres Lebens jemals von demselben betäubt wurden, nach der Verheißung, die ihnen der Herr selbst gegeben hatte „wenn euch die Richter und die Häupter der Obrigkeit vor ihren Richterstuhl ziehen, so seid nicht bange was ihr reden werdet, denn der Geist wird es euch geben zu welcher Stunde ihr es 39–1 Vgl. Mt 10,17–20; Mk 13,11; Lk 12,11–12

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bedürfet.“ In diesem Bewußtsein, daß der Geist, der sie in alle Wahrheit leiten sollte, ihnen unverhohlen immer und sichtbar überall und kräftigend in jeder für den Dienst ihres Herrn und Meisters entscheidenden Stunde sagen würde was Noth thut, | in diesem Bewußtsein waren sie geschikt dazu auf der einen Seite in keinem Stüke über ihre Stelle hinauszugehen, ihr Maaß zu überschreiten, und alles was menschliche Ordnung mit sich bringt, von diesem irgend etwas zu verkennen und aus der Acht zu laßen, aber auch zu gleicher Zeit nie in Verlegenheit gesezt, nie außer Faßung gebracht, nie betäubt zu werden von keiner menschlichen Höhe, an der sie in irgend einem Augenblik hinaufzusehen genöthigt waren. Denn, m. g. F., weil es Gott gefallen hatte, das Geheimniß, welches bis auf jene Zeit verborgen gewesen war, auch noch verborgen zu halten den Weisen und Mächtigen der Welt, und es denen zu offenbaren, die für unmündige und thörichte gehalten wurden, und als schwache Werkzeuge des Herrn angesehen: so mußte in den Schwachen seine Kraft, die Kraft seines Geistes mächtig sein, daß sie in jedem Augenblik ihres Lebens im Stande waren, jeder menschlichen Macht und Stärke gegenüber zu treten, ohne von irgend einem | Ehrfurcht einflößenden Anblik schüchtern gemacht zu werden und unfähig zu dem was sie thun und leiden sollten. Und damit hing zusammen jene ihre Freudigkeit, über welche sich die Hohenpriester und Obersten des Volks wunderten. Unter dieser Freudigkeit, m. g. F., haben wir zu verstehen den getrosten Muth, den sie zeigten auch indem sie nicht wußten was ihnen bevorstand. Denn die Versammlung der Hohenpriester und Obersten des Volks, obwohl die weltliche Macht schon von ihr genommen war, hatte noch eine große Gewalt in allen Dingen, die sich auf das innere Verhältniß des Menschen mit dem höchsten Wesen und auf die Verwaltung der heiligen Angelegenheiten im Dienste des Tempels bezogen, und wie sie schon am vorigen Abend die beiden Apostel ins Gefängniß geworfen hatten aus Verdruß über ihr Thun, so hätten sie auch jezt die Freiheit gehabt dieselben mit einer ähnlichen Strafe zu belegen, und indem sie sie ins | Gefängniß geworfen zu verhindern, daß sie das Wort ferner verkündigten. Wären sie nun nicht getrosten Muthes gewesen, so hätte es ihnen freigestanden auch an jenem Abend, ehe die Tempeldiener mit dem Hauptmann und den Priestern zu ihnen kamen und sie griffen, das Volk zu verabschieden, und in ihre Wohnung zurükzukehren. Aber in dem getrosten Muthe den sie hatten, den Willen des Herrn zu erfüllen, beachteten sie nicht was ihnen bevorstand, sondern waren in jedem Augenblik darauf bedacht das zu thun was Recht war vor Gott und vor ihrem Herrn und Meister, und in diesem getrosten Muthe erschienen sie vor den Obersten und den Hohenpriestern unbesorgt um das was ihnen etwa begegnen möchte, von keiner Schuld gedrükt, 31 verkündigten] nicht verkündigten 1–2 Joh 16,13

13–14 Vgl. Mt 11,25; 1Kor 1,27

15 Vgl. 2Kor 12,9

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sondern in dem freudigen Bewußtsein, daß sie in dem Dienste ihres Herrn stehend die überschwenglich seligen waren. | O dadurch standen sie so hoch erhaben über diejenigen, welche ihre menschliche Weisheit, ihr beständiges Berechnen deßen was förderlich sei für ihre Absichten und was hemmend, ihr überkluges Hinsehen auf den Erfolg auf den Weg des Verderbens brachte. Denn überlegen wir was der Evangelist Johannes sagt von dem Rath, welchen sie hielten über den Erlöser, so sehen wir ganz deutlich, daß sie nicht aufkommen ließen was ein unbefangenes Gemüth in ihrer Mitte aussprach über das Recht, sondern nur in der Ferne zusahen, was für einen Einfluß die großen Wirkungen des Herrn haben würden auf die große Maße des Volks, welche sie zu leiten sich berufen fühlten; und dadurch war ihr Verstand verfinstert worden, und ihr Herz in Ungewißheit hingegeben, darum fehlte es ihnen an Freudigkeit, sondern in demselben Augenblik, wo sie als Richter versammelt waren, und die Apostel vor ihnen standen, wurden sie bestürzt, und die Apostel voll hoher Freude und Stand|haftigkeit, welche sie bewundern mußten, indem sie nicht glaubten auf dieselbe rechnen zu dürfen, und in dieser Bewunderung über die Freudigkeit der Apostel sprachen sie aus den Sieg des Geistes der in jenen lebte über den, von welchem sie befangen waren. – Aber, m. g. F., nicht so fest und ruhig hätten die Apostel stehen können vor denen die damals die Obersten und Richter waren, wenn sie sich nicht so fest gehalten hätten an das Wort des Herrn, daß man das Böse immer nur überwinden solle mit dem Guten, daß es keiner andern Kraft bedürfe die Welt zu überwinden als des Glaubens, und daß man daran daß sie liebten ihre Brüder erkennen solle, daß sie seine Jünger seien. Aber ihre Brüder waren damals und nannten sie noch immer alle Großen ihres Volks, mit denen sie sich im Tempel versammelten zum Gebet und zum Lobe Gottes, und nicht eher hörte jenes Band der brüderlichen Liebe auf, als bis | jene selbst es gewaltsam zerrißen hatten. Fragen wir, was war der Grund ihrer Festigkeit und ihres Muthes, so war es eben dies, daß keine Ungerechtigkeit und keine Verfolgung, die ihrem Herrn und Meister begegnet war, als er noch unter ihnen wandelte, und von der sie wohl wußten, daß die Kraft derselben nicht aufhören würde sich gegen sie zu richten, wie es ihnen auch der Erlöser so bestimmt vorhergesagt hatte, aber daß das alles nicht erstiken konnte die göttliche Liebe, welche sie beseelte. Denn was für einen Zwek hatten alle Worte der Wahrheit, die sie redeten als sie standen vor den Obersten des Volks, als den Wunsch, daß diese voll sein möchten der lebendigen Ueberzeugung von der Unzulänglichkeit deßen, was sie als Grundlage und Richtschnur des Lebens ansahen, daß die Kraft des Geistes über sie käme, daß sie Ein|gang gäben der 6–11 Vgl. Joh 7,44–53 22 Vgl. Röm 12,21 23 Vgl. 1Joh 5,4 24–25 Vgl. Joh 13,35 30–33 Vgl. Mt 10,17–25; Mk 13,9–12; Lk 21,12–17; Joh 15,20–21; 16,2

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Stimme der Wahrheit, welche die Jünger fühlten auf alle Weise. Und diese Liebe, die sie nie verleugnet haben, diese innige Theilnahme, die sie zeigten ohne Unterschied und ohne Ausnahme an dem Wohl ihrer Brüder, selbst als schon entschieden war, daß die große Maße des Volks die Wahrheit nicht annehmen würde, das war der Grund ihres getrosten Muthes und ihrer hohen Freudigkeit. Und das war ja auch das große Gesez des neuen Bundes, es sollte der Bund der Liebe sein, und alle andren Geseze sollten ergänzt sein und erfüllt durch die Liebe zu Gott und zu dem Nächsten, die nicht zwei verschiedene Lieben sind sondern eine und dieselbe. Und indem diese in ihnen lebte, jene aber erfüllt waren von einem unverstandenen Eifer für irdische Gewalt, für irdische Macht, für irdisches Ansehen, zu dessen Höhe | das damals so tief gesunkene Volk doch nicht wieder emporsteigen konnte, und in diesem eitlen Streben ihre Herzen erstorben waren und unfähig zur Liebe zu demjenigen was ihnen nicht gleich geartet war, o so waren sie unsicher in sich selbst, aber dadurch war zugleich ein vollständiger Sieg der Apostel über die, vor denen sie standen, ausgesprochen. Und m. g. F., wie die Kirche Khristi gestiftet worden ist, so wird sie auch erhalten durch diesen Geist, durch diese Kraft; und eine andre dürfen wir nie suchen. O daß wir alle möchten in unserm ganzen Leben immer darauf sehen, vorzüglich aber in alle dem was sich auf das Reich Gottes auf Erden bezieht, so gewiß und fest zu sein, wie die Apostel unsers Herrn es waren als sie vor ihren Richtern standen, und wie sie nie aufhörten zu sein. O daß uns allen besonders in jedem bedeutenden Augenblik bekunde sein Leben in uns der Geist von oben, | den der Erlöser der Menschheit gesandt hat, und keiner unter uns sich mißleiten laße durch eine irdische und verkehrte Richtung auf das Vergängliche! O daß jeder unter uns in jedem bedenklichen Schiksal seines Lebens in sich finden und haben möchte die hohe Freudigkeit der Apostel. Aber das alles, m. g. F., das wird und kann nur geschehen, wenn die Liebe in uns ist, die in ihnen war, wenn wir dem Geist der Liebe, der alles Böse nur durch das Gute überwindet, in uns Raum geben, und uns von ihm leiten laßen in allen Verhältnissen des Lebens. Dann werden wir eine hohe Freudigkeit haben und Muth gegen diejenigen, die sich der Gnade Gottes und der Verbreitung seines Reiches auf Erden wiedersezen, und wenn auch nicht so wirksame doch eben so treue Knechte wird der Herr an uns haben, wie er damals an den Aposteln hatte in jenen ersten herrlichen Tagen der Verbreitung seines Reiches auf Erden. Das verleihe uns allen seine Gnade jezt und immerdar! Amen.

10 von] Ergänzung aus SW II/10, S. 16 30 Vgl. Röm 12,21

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[Liederblatt vom 11. Juni 1820:] Am 2ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Christus der ist mein Leben etc. [1.] Ach! bleib mit deiner Gnade / Bei uns Herr Jesu Christ, / Daß uns hinfort nicht schade / Des bösen Feindes List! // [2.] Ach! bleib mit deinem Worte / Bei uns, Erlöser werth; / Daß uns beid’ hier und dorte / Sei Trost und Heil beschert! // [3.] Ach! bleib mit deinem Glanze / Bei uns, du werthes Licht! / Dein’ Wahrheit uns umschanze, / Damit wir irren nicht. // [4.] Ach! bleib mit deinem Seegen / Bei uns, du reicher Herr! / Dein’ Gnad’ und all’ Vermögen / In uns reichlich vermehr’! // [5.] Ach! bleib mit deinem Schutze / Bei uns; du starker Held, / Daß uns der Feind nicht trutze, / Noch fäll die böse Welt! // [6.] Ach! bleib mit deiner Treue / Bei uns, mein Herr und Gott! / Beständigkeit verleihe; / Hilf uns aus aller Noth! // Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein’ Seel etc. [1.] Frohlockt zu Gottes Ruhme! / Vest steht die ihm geweihte Stadt, / Die ihm zum Heiligthume / Des Menschen Sohn erbauet hat. / Erfüllt von hoher Klarheit / Freut sie sich ihres Herrn; / Er wohnt mit seiner Wahrheit / In ihren Tempeln gern. / Oft, wie von Meereswogen, / Ward sie bestürmt von Krieg, / Umsonst! die Feinde zogen / Hinweg und ohne Sieg. // [2.] Auf Felsengrund erbauet / Ward sie zu Gottes Stadt erhöht, / Sie, die nur ihm vertrauet, / Und ewig durch sein Wort besteht. / Von ihren Bergen funkelt / Der Wahrheit Sonnenlicht, / Durch Wolken nicht verdunkelt, / Die es mit Macht durchbricht. / Dem falschen Wahn entrissen / Sucht seine Welt den Herrn, / Und reinigt ihr Gewissen, / Scheut ihn, und dient ihm gern. // [3.] Die Krone der Belohnung / Gewinnt der Bürger dieser Stadt, / Der hier sich seine Wohnung / Erwählt und treu gestritten hat! / Errettet vom Verderben / Eilt er in hoher Ruh’, / Und freudig, selbst im Sterben, / Dem Vaterlande zu. / Dort wird er zu den Frommen, / Die schon des Lohns sich freun, / Vom Vater aufgenommen, / Vollkommen seelig sein. // [4.] Frohlocke, Kirche, singe, / Erhebe deines Königs Ruhm, / Breit aus sein Reich, und bringe / Die Sünder all’ ins Heiligthum, / Daß sie gereinigt werden, / Daß sie, von dir erhellt, / Ihn lieben, und auf Erden / Gern thun, was ihm gefällt, / Bis alles Volk erneuert, / Und in dein Licht verklärt, / Ein Fest des Friedens feiert, / Der ewig ewig währt. // (Jauersches Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Warum sollt ich etc. Geist des Herrn sei unsre Stüze, / Steh uns bei, / Mach uns frei, / In der Prüfungshize, / Führe, wenn nach kurzen Leiden / Gott den Geist / Scheiden heißt, / Uns zu Himmelsfreuden. //

Am 18. Juni 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

3. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Jak 1,9–12 Nachschrift; SAr 59, Bl. 54r–55v; Woltersdorff (unvollendet) Keine Keine Teil der laut Tageskalender vom 23. April 1820 bis zum 3. Dezember 1820 gehaltenen Homilienreihe über den Jakobusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Aus der Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis 1820 früh Jac. 1. v. 9–12

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Wovon der Apostel hier redet das leidet keinen Zweifel, denn wenn er die Niedrigen den Hohen entgegensetzt so erinnert er uns an den irdischen Wechsel: Es ist nichts anders als das Irdische wovon das gilt, welches der Apostel von den geistigen Gütern nicht würde gesagt haben. Aber wie er es thut, wenn er uns den Rath giebt, der Niedrige solle sich seiner Niedrigkeit und der Hohe sich seiner Höhe rühmen; dabei fällt uns gar Vieles ein: und bei näherer Betrachtung werden wir finden, daß der Apostel das Alles im Sinn gehabt hat. – 1. Frägt es sich was der Niedrige ist und wo er die Höhe hat der er sich rühmen kann. Der Niedrige ist der von weltlichem Ansehn und Mitteln entblößte der eben darum keinen bedeutenden Wirkungskreis haben kann. Und die Höhe, er hat sie in dem gewöhnlichen Wechsel menschlicher Dinge, der jedem bevorsteht. Wenn nun der Apostel sagt, er solle sich der Höhe rühmen, so meint er: der jezt niedrig ist, gedrängt, geschlagen, der rühme sich der Höhe auf der er gestanden hat, oder der auf welcher er künftig stehn wird. Freilich an sich kann sich keiner der irdischen Höhe rühmen, denn an sich ist solche Höhe nichts, sondern wird erst etwas durch das Thun auf derselben. Darum der jezt niedrig ist, wenn er früher gestanden hat auf irgend einer Höhe menschlichen Ansehns, so rühme er sich dessen 1 Die Predigt wurde laut Tageskalender nachmittags gehalten. Von den wahrscheinlich dreizehn Homilien über den Jakobusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.) ist außer der vorliegenden nur die vom 22. Oktober 1820 über Jak 3,1–5 überliefert.

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wie er damals durch den Geist Gottes die Gaben gebraucht habe, er danke Gott dafür daß er ihm damals den Sinn gegeben hat, sie seinem heilgen Willen gemäß anzuwenden. Oder hat er noch nicht erfahren den allgemeinen Wechsel menschlicher Dinge, hat er noch nicht auf solcher Höhe gestanden nun so rühme er sich derselben in so fern er von sich weiß daß er sie so benutzen würde, weil er das Vertrauen zu Gott in den Tagen der Niedrigkeit hat, daß er ihm dieselbe Kraft durch welche er jezt die Niedrigkeit seinem Willen gemäß also würdig trägt, auch dazu verleihen wird. | Als gute Gabe fühlt er diesen und jenen Zustand und so wird er sich der Höhe zu welcher er wenn es Gottes Wille ist gelangt und zu welcher er die Kraft und den Geist als Gabe Gottes in sich fühlt, rühmen. So wie auf diese Weise der Niedrige der Höhe, so soll auch der da reich ist sich seiner Niedrigkeit rühmen. Hat er schon den Wechsel der Dinge erfahren, wohl ihm! wenn er sich rühmen kann der vorgen Niedrigkeit indem er sie würdig ertragen, dann wird ihn die irdische Fülle nicht blenden und auf keine unwürdige Art wird er damit verfahren. Hat er aber den Wechsel nicht erfahren, nun so gedenke er seiner Niedrigkeit die da kommen kann und die er erwarten muß so lange er in menschlicher Gestalt auf dieser Erde lebt. Wenn er sich in den Tagen des Glückes der Niedrigkeit rühmen kann welche ihm bevorsteht weil er die Kraft dazu in sich fühlt; Wohl ihm! so wird er auch jezt in dem Besitze der Mittel, den Willen Gottes gewiß zu erfüllen suchen, und so gewiß er das thut so gewiß wird er auch die Kraft haben in dem niedrigen Zustand zu thun was er vermag, und zu sein ein getreuer Knecht des Herrn. – Indem nun so der Niedrige sich seiner Höhe und der Reiche sich seiner Niedrigkeit rühmt, was haben sie gegen einander auszugleichen? Sie haben zu sorgen in jedem Augenblicke, daß beides mit einander vereiniget sei. – Daß nicht Abgeschlossenheit hersche, sondern daß überall gemeinschaftlich mit vereinten Kräften gewirkt werde zum Preise dem Herrn – Der Wechsel irdischer Dinge sei jedem stets im Sinne. – Wir erinnern uns heute eines wichtigen Punktes in der Reihe unsrer Erfahrungen. Wir feiern einen Tag günstigen Wechsels unsers Zustandes, wir freuen uns dessen und danken Gott dafür, aber wie könnten wir | wohl einen so wichtigen Wechsel feiern ohne daß uns der ganze Wechsel menschlicher Zustände lebendig vor Augen stände. Auch wir waren vorher niedrig, gedrükt und geschlagen, und unser Volk hatte nicht die Mittel auf das große Ganze einzuwirken, aber wir rühmeten uns auch in der Niedrigkeit der Höhe, denn wir fühlten die Kraft das Joch abzuwerfen sobald die 31 Wir] Quer am Rand 18ter Jun. 31–1 Anspielung auf die Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815

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rechte Zeit gekommen sein würde. Wir erkannten es auch damals wie uns alles zum Besten dienen müsse, und wie wir also auch den Zustand der Niedrigkeit zu unserm Heile anzuwenden hatten, wir fühlten daß derselbe Geist bereit sei uns Kraft zu verleihen geduldig den Zustand der Niedrigkeit zu ertragen welcher fähig macht die Höhe würdig zu behaupten. Und wenn wir nachdem wir wieder die Höhe erstiegen hatten uns jener Niedrigkeit rühmen konnten in dem Bewußtsein jener Tage der Bedrückung als einen Zustand der Läuterung ertragen und benutzt zu haben, so werden wir derselben stets zu unsrer Heiligung gedenken. Und eben darin haben wir eine Sicherheit den Platz auf welchen uns Gott nun gestellt hat würdig zu behaupten. – Das ist der allgemeine Sinn des Wortes, aber indem der Apostel sagt: ein Bruder der niedrig ist rühme sich seiner Höhe, und der da reich ist der Niedrigkeit: – so deutet er noch besonders darauf hin daß Brüdern Alles gemeinsam ist, und daß eben die Ausgleichung der Verschiedenheiten der Glieder der Gemeinde des Herrn also ihr Wirken mit gleichen Kräften, sie zur Gemeinde des Herrn macht. – 2. Wenn wir nun fragen, welches die Höhe ist der sich die Niedrigen, und welches die Niedrigkeit der sich der Hohe rühmen soll, so liegt das eben so noch in diesem besondern Sinne. Denn es kann ja nichts andres heißen als: so soll es unter Christen | sein, daß sich einer des andern rühmet. – Der Niedrige sprach: bin ich auch niedrig so sehe ich doch den Bruder hoch stehn, sehe ihn wirken und wirke mit ihm durch die Mittel welche ihm gegeben sind. Und wenn ein Bruder reich ist so soll er sich nicht seines Reichtums sondern der Niedrigkeit seiner Brüder um ihn her rühmen, welcher abzuhelfen er auf die Höhe gestellt ist. Nur wenn er derer sich rühmet steht er würdig auf seinem Platze und hat Theil an den Segnungen der Gemeinschaft in Christo, denn jemehr sich jemand zurückzieht von den brüderlichen Verhältnissen, um so mehr entzieht er sich selbst den Segnungen welche der Herr darauf gelegt hat. Jemehr der Reiche die Armuth der Brüder ansieht als etwas ihn nicht Berührendes, um so mehr giebt er sich in die Gewalt der irdischen Dinge und wird ihr Knecht und indem er zu seiner Seele thöricht sagt: sei getrost liebe Seele so hoft er in dem Besitze der irdischen Güter gegen jeden Wechsel geschützt und von jedem Sterben ausgeschlossen zu sein, aber eben bei diesem Ausgeschlossensein kann er nicht anders als in seiner irdischen Fülle geistig verarmen und erstarren [Der Text endet hier.] 33 Seele] Es folgen eineinhalb Leerzeilen vermutlich für die nachträgliche Vervollständigung des Bibelzitats. 33 Vgl. Lk 12,19

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Am 25. Juni 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 4,13–21 Drucktext Schleiermachers; Predigt am vierten Sonntage nach Trinitatis 1820, 1821; S. 1–26 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 100–115; ²1844, S. 133–149 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 80–93 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 74, Bl. 158r–178v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SN 598, Bl. 1r–14v; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 56r–62v; Woltersdorff Gedruckte Nachschrift; SW II/10, 1856, S. 17–36; Andrae Besonderheiten: Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am vierten Sonntage nach Trinitatis 1820 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1821. Gedruckt bei G. Reimer. |

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Diese Predigt, welche, wie auch der Anfang zeigt, zu einer Reihe von Vorträgen über Stellen aus der Apostelgeschichte gehört, habe ich vorzüglich deshalb zur diesmaligen Neujahrsgabe gewählt, weil ich schon früher verschiedentlich um die öffentliche Bekanntmachung derselben bin ersucht worden. |

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Text. Apostelgeschichte 4, 13–21. Dies, m. a. Fr., ist der Verfolg der Begebenheit, deren erste Hälfte wir schon neulich zum Gegenstand unserer Betrachtung gemacht haben. So erging es damals den Aposteln Petrus und Johannes vor dem hohen Rath ihres Volkes, es ward ihnen verboten zu lehren, und sie sprachen, jene Männer, welche ja vorzüglich das göttliche Recht und Gesetz aufrecht halten sollten, möchten nur selbst richten, ob es recht 12 Vgl. oben 11. Juni 1820 vorm.

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sei ihnen mehr zu gehorchen denn Gott. Aber damit war die Sache freilich nicht zu Ende; sondern die Apostel handelten nun auch ihrem Worte gemäß; und nachdem sie mit den übrigen Gläubigen Gott kräftig gelobt und angerufen, so gaben sie „mit großer Kraft Zeugniß von dem Herrn Jesu“1, und verkündigten das Evangelium von dem Reiche Gottes in Christo, und war große Gnade bei ihnen allen. Nicht lange darauf also, als der hohe Rath meinte, der Eindruck jenes Wunders auf das Volk werde vorüber sein, wie denn allerdings solche Eindrücke ihrer Natur nach vergänglich genug sind, legten sie die Hände an die Apo|stel, und warfen sie in das gemeine Gefängniß; und als der Engel des Herrn ihnen die Thür aufthat, und sie dann gleich am Morgen wieder lehrten im Tempel, stellte der hohe Rath sie zur Rede, wie sie ohnerachtet des ernstlichen Gebots, in diesem Namen nicht weiter zu lehren, dennoch nicht aufhörten Jerusalem mit ihrer Lehre zu erfüllen.2 Aber Petrus mit den andern Aposteln hatten immer nur dieselbe Rede: Man muß Gott mehr gehorchen, denn den Menschen. Da gedachte der hohe Rath sie zu tödten; indeß auf den Rath eines verständigen Mannes, der den andern zu bedenken gab, wie sie aus dem weitern Verlauf der Sache, wenn sie sie nur gehen ließen, erst am besten würden ersehen können, ob es ein Werk aus Gott sei oder von Menschen, begnügten sie sich damit, die Apostel stäupen zu lassen und ihnen nochmals, offenbar mehr um sich selbst nicht zu widersprechen, als daß sie einen ernsthaften Erfolg davon erwartet hätten, das Verbot einzuschärfen, daß sie nicht reden sollten im Namen Jesu. Die Apostel aber gingen zu den Ihrigen, fröhlich daß sie gewürdiget waren um Christi willen zu leiden, und hörten nicht auf alle Tage im Tempel und hin und her in den Häusern zu predigen das Evangelium, wie ihnen denn befohlen war. Wundert euch nun nicht, m. Gel., daß ich dieses, wie es sich uns, wenn gleich in verschiedene Zeitabschnitte vertheilt, doch als Eine Begebenheit darstellt, mit unter den für das Entstehen und Bestehen der christlichen Kirche großen und entscheidenden Ereignissen aufstelle, daß nämlich die Apostel durch | Wort und That den Grundsaz aufstellten und für alle künftige Zeiten niederlegten: Man müsse Gott mehr gehorchen denn den Menschen. Wundert euch darüber nicht, 1 2

Apostelgesch. 4, 33. Apostelgesch. 5, 23.

11 aufthat] aufthät

27 Häusern] Häusren

9–11 Vgl. Apg 5,18–19

17 Apg 5,29

17–28 Vgl. Apg 5,33–42

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sondern laßt es jetzt nach Anleitung der vorgelesenen Geschichte den Gegenstand unserer frommen Betrachtung sein. Ich werde zuerst zeigen, Wie wichtig und nothwendig dieser Grundsatz für die erste Gründung der christlichen Kirche war, und auch für das Fortbestehen derselben noch immer ist und bleiben wird. Aber weil nun dieser Grundsatz, ja um seinetwillen auch das Christenthum selbst, nicht selten ist angefochten worden, so wollen wir dann auch zweitens betrachten, Wie bei demselben der nothwendige und heilsame Gehorsam gegen die Menschen sein volles Recht behält, und daher dieser für die christliche Kirche unentbehrliche Grundsatz die bürgerliche Gesellschaft und die menschliche Ordnung darin vollkommen ungefährdet läßt.

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I. Zuerst also m. a. Fr., wie die christliche Kirche nicht hätte gegründet und verbreitet werden können, wenn die Apostel diesen Grundsatz nicht aufgestellt und befolgt hätten, das ist wohl deutlich genug. Denn wenn sie nun wären von vorne herein klug gewesen nach menschlicher Weise, und hätten, nachdem der große göttliche Segen des Pfingsttages sie gleichsam überrascht, bei sich selbst gedacht, es liege nun ihnen ob zu verhindern, daß kein Widerspruch entstände zwischen dem Befehl Gottes und denen der Menschen, und sei es daher besser die christliche Gemeine, nachdem sie so herangewachsen, den Augen der Menschen zu entziehen: hätten sie dann wol dem Sinn und Geist jener Worte ihres scheidenden Herrn genügt, daß sie seine Zeugen sein sollten bis an das Ende der Erden anfangend in | Jerusalem? Nein, dem Worte nach hätten sie sich vielleicht rechtfertigen mögen; aber den Sinn und Geist hätten sie verfehlt, und schon so den Menschen mehr gehorcht, nämlich schon der Furcht vor ihnen, als der Stimme Gottes; aber gewiß hätten sie auch in ängstlicher Furcht und im verborgenen Winkel nicht eine solche Gemeine gegründet, welche die Pforten der Hölle nicht sollten überwältigen können, sondern nur eine solche, die schon dem ersten Widerspruch der Ungläubigen hätte fallen müssen, weil sie nicht gewagt an das Licht zu treten. Hätten aber nun, nachdem einmal die Aufmerksamkeit rege geworden, die Apostel den Hohenpriestern und Aeltesten Folge geleistet und aufgehört im Namen Jesu zu lehren: wie würde es wol gestanden haben um die kleine Gemeine von wenig tausend Seelen die sich nur eben gesammelt hatte und deren Glaube noch schwach war? würde sie sich wol haben fort erbauen können, wenn es ihr gefehlt hätte an der Zusammenhaltung und Stärkung durch die öffentliche Lehre der 23–25 Vgl. Apg 1,8

29–30 Vgl. Mt 16,18

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Apostel? hätte sich wol das Bild des Erlösers befestigen können ohne das Zeugniß derer, die mit ihm gewandelt waren von seiner Taufe an bis in die Tage seiner Auferstehung? würde nicht auch ihr Glaube erloschen sein wenn sie diejenigen, die ihn entzündet hatten, sobald hätten verlassen gesehen von dem kräftigen Geist, der jene großen Wirkungen hervorgebracht? Gewiß jeder muß es fühlen, hätten die Apostel nachgegeben, und den Menschen gehorcht, die junge Gemeine müßte sich bald zerstreut haben. Ja wenn sie auch im voraus bei sich beschlossen hätten, dieser Gehorsam gegen die Menschen solle nur eine kurze Unterbrechung sein ihres Gehorsams gegen Gott, und sie wollten sich schon in der Folge eine günstigere Zeit ersehen, und die Predigt vom Glauben | wieder anfangen, wenn die vornehmsten Gegner vom Schauplatz würden abgetreten sein, oder ihr feindseliger Eifer sich würde abgekühlt haben: auch mit solcher Theilung ihrer Lebenszeit zwischen dem Gehorsam gegen Gott und dem gegen die Menschen hätten die Apostel nichts gewonnen. Denn hätten sie dann wieder anfangen wollen zu lehren von Jesu von Nazareth, so wäre schon vielen nicht mehr bekannt gewesen, welch ein Mann von Gott gesandt er gewesen mächtig in Thaten und Worten, und unwirksam wäre die Erinnerung gewesen an seine mildthätige Liebe und an den Verrath seines Volkes. Ja wir müssen sagen, alles lag daran für die Gründung des Christenthums, daß die erste Predigt der Apostel in das noch frische Andenken an Jesum hineingriff und seitdem nicht wieder aufhörte; und nie würden sie nach einer solchen Unterbrechung mit demselben ergreifenden Ansehen und gesegneten Erfolg unter ihrem Volk aufgetreten sein! Um aber die Strenge ihres Gehorsams gegen Gott recht zu würdigen, so laßt uns nicht vergessen, wie leicht es ihnen von beiden Seiten gemacht war sich zu entschuldigen. Denn die Menschen mutheten ihnen nicht etwa zu ihre Ueberzeugung aufzugeben oder öffentlich zu widerrufen; dessen schämt sich wol jeder, und hält es für unwürdig, wenn er nicht zuvor eines besseren ist belehrt worden. Sondern nur schweigen sollten sie, und schweigen, denkt man nur gar zu leicht, kann man wol immer ohne Sünde, wenn es geboten wird. Und auf der andern Seite war nicht etwa an sie, wie ehedem an die Propheten, ein besonderes bestimmtes Wort Gottes ergangen, grade izt und zu einem bestimmten Behuf da und dorthin zu gehen und dies und jenes zu sagen. Sondern sie hatten nur den allgemeinen Befehl ihres | Herrn, seine Zeugen zu sein von Jerusalem anhebend durch das ganze Land. Wie leicht also wäre es ihnen gewesen, hätten sie sich klügelnd an den Buchstaben halten wollen, sich selbst zu überreden, als ob sie gar nicht den Gehorsam gegen Gott verletz5 hätten] hätte

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ten, wenn sie den Menschen gehorchten! Man muß, könnten sie gesagt haben, den Oberen Folge leisten in allem was keine Sünde ist, und schweigen ist keine Sünde. Der Herr hat uns zwar besonders anbefohlen zu reden, aber wir wollen ja auch nur jetzt auf eine Weile schweigen. Und wenn er selbst ausdrücklich gesagt hat, wir sollten warten, bis wir angethan würden mit Kraft aus der Höhe; so haben wir diese Kraft zwar reichlich gespürt, und in derselben auch ein gesegnetes Zeugniß abgelegt; aber vielleicht giebt uns der Herr eben durch dieses Gebot unserer Oberen ein Zeichen, daß wir diese Kraft noch eine Weile in uns verschließen sollen, und er wird uns wol einen Wink geben, wenn es Zeit ist wieder Gebrauch von ihr zu machen. So hätten sie denken können: aber gewiß wären dann sie nicht die Felsen gewesen, auf die er seine Gemeine gründen konnte. Doch nicht damals allein mußten sie den Grundsatz befolgen Gott mehr zu gehorchen als den Menschen; sondern späterhin, als zuerst sie und dann auch andere Christen nicht nur vor, nach unserer Art zu reden, doch mehr geistliche als weltliche Oberen, sondern vor die unbestrittene höchste weltliche Obrigkeit gestellt wurden, und ihnen zugemuthet, den Glauben an den Erlöser abzuschwören, ja sogar statt des von ihm geoffenbarten Vaters der Menschen die Götter des herrschenden Volkes anzubeten, während jenes ganzen Zeitraumes als das Blut der Märtyrer in nicht geringen Strömen floß um den Erdboden zu düngen, | damit die Saat des göttlichen Wortes desto reichlichere und herrlichere Früchte tragen könne: hätte da nicht derselbe Grundsatz immer gegolten, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, auch als Gott nicht mehr auf eine außerordentliche Weise zu den Menschen in der christlichen Kirche redete, sondern nur durch das feste prophetische Wort der Schrift, das wir noch haben, und durch die Stimme des Gewissens und die Gewalt des auf jenes Wort gegründeten Glaubens; wenn da nicht dieser Grundsatz der Apostel das allgemeine Vereinigungswort aller Gläubigen gewesen wäre: wie bald würde nicht die christliche Kirche wieder zerstört worden seyn durch die ihr feindselige Richtung menschlicher Macht! und mit welcher lange zurückgehaltenen Gewalt würde die abergläubische Finsterniß des Heidenthums sich wieder über das menschliche Geschlecht ausgegossen haben! Auf jene Zeiten dürfen wir nur sehen, m. a. Fr., um inne zu werden wie nothwendig es war, wenn die Gemeine Jesu fortbestehen sollte, daß alle Christen über dem Saz hielten, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, und wie nur er die wahre Veste sei, auf welche diese Gemeine sich gründen kann. 5–6 Vgl. Lk 24,49

13 Vgl. Mt 16,18

27–28 Vgl. 2Petr 1,19

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Aber möchte man vielleicht denken, das gilt von jener Zeit, wo die ersten, welche Gehorsam zu fordern hatten von den Bekennern des Glaubens, befangen waren von dem Buchstaben des alten Gesetzes, und nicht verstanden, daß es in Christo seine Erfüllung gefunden, und wo alles noch höhere menschliche Ansehn in dem Wahn des Heidenthumes und der Vielgötterei gefangen lag, feindselig allem was den väterlichen Gebräuchen widersprach, da war es auf der einen Seite natürlich, daß von Menschen ein Gehorsam gefodert ward wider den Befehl Gottes das Evangelium zu verkündi|gen, und auf der andern recht und nothwendig, daß denen, die selbst so im Dunkeln wandelten, diejenigen nicht gehorchten, welche die Träger des göttlichen Lichts auf Erden sein sollten, sondern daß sie sich allein an den Ruf Gottes hielten, der an sie ergangen war: überflüßig aber sei es diesen Grundsatz einzuschärfen unter christlichen Völkern; und er könne keine Anwendung mehr finden, wo Obrigkeiten und Unterthanen demselben Worte Gottes verbunden sind, denn da könne kein Streit entstehen zwischen dem Gehorsam gegen Gott und dem gegen die Menschen. Allein m. Gel. laßt uns nicht vergessen, daß wir alle insgesammt Mitglieder der evangelischen Kirche sind, und für ein Glück achten es zu sein. Wie aber ist denn diese entstanden? Als Luther dieser trefliche Mann Gottes zuerst mit der ihm eigenthümlichen Kraft redete und schrieb gegen die Irrthümer der damaligen Zeit, ward ihm nicht von seinen geistlichen Vorgesezten zugemuthet seine Meinungen fahren zu lassen und mit seinem Unternehmen inne zu halten? Befahl ihm nicht der römische Bischof, dem damals die ganze abendländische Kirche Gehorsam leistete, zu widerrufen so lieb ihm sein Antheil an der christlichen Kirche sei? ward er nicht gefordert vor das höchste Oberhaupt seines Volkes den ersten Monarchen der Christenheit, und befahl ihm der nicht dasselbe? Wie nun, wenn nicht jenes Wort des Apostels auch sein Wahlspruch gewesen wäre, ohnerachtet daß es christliche Fürsten waren, vor denen er stand; wenn er nicht mit dieser unerschütterlichen Festigkeit darauf bestanden hätte, er stehe in Gottes Namen und könne nicht anders, er widerrufe auch nicht, man überzeuge ihn denn aus Gottes Wort? Gewiß dieses hellere Licht des Evangeliums, für dessen Besiz und Kraft an un|sern Seelen wir, so oft wir uns in diesen Morgenstunden hier versammeln, Gott mit gerührtem Herzen Dank sagen, würde bald wieder erloschen sein, wenn die Männer die sich damals vereinigten um die göttliche Anstalt des Christenthums von menschlichen Verderbnissen zu reinigen, nicht jenen Grundsaz festgehalten hätten; gewiß die evangelische Kirche wäre damals nicht gegründet worden, die seitdem nicht nur unter ihren eigenen Gliedern die Erkenntniß christlicher Wahrheit reiner erhalten und gefördert, sondern auch durch ihr Dasein unsere Brüder von der römi-

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schen Kirche auf mancherlei Weise erleuchtet und gekräftiget hat. Auch damals also, mitten im Schooß des Christenthums, war es nothwendig über dem Grundsaz zu halten, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen. Und es sollte je minder nöthig sein? wir sollten jetzt oder jemals etwas nachlassen dürfen von dem Muthe des Glaubens, von der Festigkeit der Ueberzeugung, von dem Gefühl, daß wir dem göttlichen Geiste, der uns durch das Wort Gottes leitet, unter keiner Bedingung dürfen Widerstand leisten? Nein, gewiß niemals dürfen wir nachlassen. Alles in der geistigen Welt besteht nur fort und entwickelt sich durch dieselbe Kraft, durch welche es entstanden ist; und konnte die christliche Kirche nicht entstehen, wenn dieser Grundsaz nicht gehalten hätte; konnte sie sich ohne diesen nicht läutern und reinigen als sie von der Finsterniß vielfältigen Irrthums bedeckt und mit Aberglauben erfüllt war: so dürfen wir wol sagen, dieser Grundsaz sei ihr eingepflanzt als die nothwendige Bedingung ihres Fortbestehens, und zu keiner Zeit, zu keiner, dürfen die Christen sich von ihm entfernen. Auch bedarf es nur eines aufmerksamen und festen Blickes auf alle Verhältniße | unserer evangelischen Kirche um sich hievon zu überzeugen. Wohnen nicht etwa immer noch Mitglieder derselben hie und da in kleiner Anzahl zerstreut in Ländern, deren Beherrscher sowol als der größte Theil ihrer Bewohner zu einer andern Kirche gehören? und ist es etwa unmöglich daß von dieser Seite her Zeiten der Unduldsamkeit und der Verfolgung eintreten, wie wir sie sonst schon gehabt haben? und sollen dann unsere Brüder nicht auch nach wie vor Gott mehr gehorchen als den Menschen? Ja finden wir etwa in unserer evangelischen Kirche selbst eine vollkommne Einigkeit des Herzens und des Sinnes, der Meinungen und Gedanken? Wir werden uns wol nicht rühmen können, daß diese zu finden sei, sondern werden gestehen müssen, es giebt Einige, die in ihrer ganzen Weise mehr ängstlich sind, an menschlichen Buchstaben über die Gebühr hängen, sich in manchen Stücken dem Aberglauben nähern, und durch das eine oder das andere die Freiheit der Kinder Gottes schmälern. Es giebt Andere, die sich in ihrer Ansicht von der christlichen Lehre und in ihrer Behandlung des christlichen Lebens der entgegengesetzten Seite des Unglaubens nähern, wenn gleich wir nicht glauben wollen, daß das Gift desselben in ihren Herzen wohnt, sondern daß sie wider ihren Willen und ohne ihr Wissen sich demselben nähern. Und diese beiden Denkarten stehen nicht etwa ruhig neben einander, sondern es giebt einen Kampf derselben gegen einander, indem sie sich gegenseitig beschuldigen und anfehden, als ob die eine uns den Genuß der großen Güter verkümmere, welche unsere Väter durch die Verbesserung der Kirche uns erworben, und als ob die andere uns den Besitz

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derselben gefährde; wie dann solche Kämpfe von je in der christli|chen Kirche bestanden haben, und auch immer entstehen werden, wenn sie auch hie und da eine verschiedene Gestalt annehmen. Und zu jeder Zeit giebt es nur Wenige, die mit klarem Verstande und reinem Herzen in der Mitte stehen zwischen beiden Theilen; sondern die Meisten neigen sich auf die eine oder die andere Seite mehr oder weniger. Und das gilt denn, wie gar manche Erfahrungen es lehren, auch von denen, welche in der menschlichen Gesellschaft die Herrschaft ausüben, und das Recht haben in allem, was in das Gebiet der bürgerlichen Ordnung gehört, Gehorsam zu fordern. Wenn nun diese hier eben so eingreifen wie zu der Apostel Zeiten die Hohenpriester, und in den Zeiten des Märterthums die römischen Kaiser, und zu Luthers Zeiten der deutsche Kaiser; wenn sie in wohlmeinender Ueberzeugung, der eine Theil habe Recht und der andere Unrecht, ihre weltliche Gewalt anwenden um dem einen Theil das Uebergewicht zu verschaffen und den andern zu drücken: wie soll dann das Reich der Wahrheit in freier Entwicklung christlichen Sinnes und Lebens gedeihen, wenn die Ueberzeugung und das Bekenntniß sich der Gewalt beugen, und nicht auch in diesem Fall jeder weiß seinem Glauben zu leben und zu sterben? Ja selbst diejenigen, die in solchem Fall auf der begünstigten Seite stehen, wie können sie, wenn sie den Grundsaz scheuen und verwerfen Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, wie können sie dann ihres eignen Glaubens froh werden? wie können sie sicher sein, ob sie das, was sie annehmen, aus reiner Ueberzeugung wählen, oder ob sie unter dem menschlichen Ansehn gefangen sind? wie man ja schon immer gesagt hat, daß das Einmischen weltlicher Gewalt in die Gegenstände des Glaubens, wenn es auch nicht gradezu Heuchler | bildet, doch immer das Gewissen verunreinigt und trübt, was eben darauf beruht, daß, wer auf derselben Seite steht, nicht leicht mehr wissen kann, ob er Gott gehorcht oder den Menschen. Gegen diese Gefahr also können wir uns nur sicher stellen, wenn Jeder den Grundsaz festhält, Gott mehr zu gehorchen als den Menschen. Nur wer mit der Kraft dieses Grundsazes ausgerüstet ist, kann wahrhaft seines Glaubens leben, nur der kann hoffen, daß er desselben im stillen Gespräch des Herzens mit Gott immer sichrer werden, und daß der Geist Gottes ihn immer mehr in alle Wahrheit leiten wird. Und so hängt denn an diesem Grundsaz wie das erste Entstehen, so auch das ruhige und gedeihliche Fortbestehen der Christenheit. 1 gefährde] geefährde 36–37 Vgl. Joh 16,13

28 Heuchler | bildet] Heuchler |ler bildet

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II. Damit wir aber dieses desto ruhiger bei uns feststellen, und uns desto unbesorgter dem Apostel anschließen können; so wollen wir nun die zweite Betrachtung hinzufügen, daß nämlich eben dieser Grundsatz nicht im mindesten die bürgerliche Ordnung stört, noch die Ruhe der menschlichen Gesellschaft beeinträchtigt. Eigentlich ist es um so thörichter hierüber noch ausführlich zu reden, da wir nicht mehr unter Heiden leben, sondern alle unsere Fürsten und Obrigkeiten denselben Gott wie wir anbeten und seinem Wort gehorchen. Denn wenn einer nicht sagen will, und das hat wohl noch keine christliche Obrigkeit von sich gesagt oder sagen lassen, es sei eben deshalb, weil die Obrigkeit selbst Gotte gehorcht, wenn wir nur ihr gehorchen, gar nicht nöthig, daß wir auch Gott noch gehorchten, weil wir nämlich alle Befehle Gottes nur durch sie, die Gott gehorsame Obrigkeit erhielten. Das hat wie gesagt noch niemand behauptet; und wenn das nicht ist, | sondern auch wir Gotte gehorchen müssen, wie sollte es wohl zugehen, daß wir dem, welchem die Obrigkeit selbst gehorcht, nicht mehr als ihr gehorchen sollten? Ober welches Unheil sollte hieraus entstehen können, da sie ja doch im Gehorsam gegen Gott mit uns zusammen treffen muß? Darum m. gel. Fr. hege ich auch dagegen gar keinen Zweifel bei mir selbst, daß wenn wir hier um uns her versammeln könnten alle Kaiser und Könige und Fürsten, und wie sonst noch die Obrigkeiten christlicher Völker heißen mögen, die jede an ihrem Ort das höchste Recht haben Gehorsam zu fordern in menschlichen Dingen, und denen alle untergeordnet sind die sonst noch am Regimente Theil nehmen, wenn wir diese hier vor uns hätten, und könnten sie als Brüder in Christo, in dessen Namen wir hier versammelt sind, befragen, ob sie wohl für ihr althergebrachtes Ansehn, für die ihnen von Gott verliehene Gewalt, für die ungestörte Erfüllung der ihnen obliegenden Pflicht das wahre Wohl der Menschen zu fördern irgend eine Gefahr befürchten würden, wenn alle ihre Unterthanen ohne Ausnahme als gute Christen auf dem Grundsatz fest hielten Gott mehr zu gehorchen als den Menschen: o so gewiß sie Christen sind wie wir, und dieses zu seyn für ihr höchstes Gut halten; so gewiß sie dasselbe Gesetz des Geistes in ihrem innern Menschen fühlen wie wir, und ihr Leben an demselben in ihrem Munde und Herzen wohnenden Worte Gottes prüfen wie wir, so würden sie sagen, So wahr es für uns selbst das höchste ist Gott unserm Herrn zu gehorchen, so begehren wir auch nichts lieber als daß ihr alle überall Gott am meisten gehorchen möget; und so gewiß wir hier mit euch im Bekenntniß desselben Herrn und Meisters vereinigt sind, so | hoffen wir, daß euer Gehorsam gegen uns immer wird mit eurem Gehorsam gegen Gott bestehen können. So und nicht anders würden sie sagen, und um ihretwillen also wäre nicht nöthig hierüber weiter

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zu reden. Aber es giebt Andere, um derentwillen haltet mir ein wenig Thorheit zu gut, wenn ich euch auseinander setze was ihr ohnstreitig alle eben so fühlt als ich. Diese andere sind theils solche, welche zwar sonst jedes Wort Gottes ehren wie wir, dieses aber scheuen sie und wissen es nicht anzufassen, sondern meinen, es sei besser davon zu schweigen, daß es noch etwas höheres gebe als den Gehorsam gegen die Menschen, damit es nicht auf Rechnung des christlichen Glaubens komme, wenn irgendwo der ordentliche Lauf menschlicher Dinge gestört würde. Theils auch sind es solche, die das göttliche Wort nicht ehren wie wir, sondern meinen, die göttliche Kraft des Glaubens, die heiligen Ordnungen des Christenthums, und die brüderliche Verbindung der Gläubigen, dies alles sei eigentlich an und für sich nichts, aber gar herrliche Mittel wären es um die natürlichen Begierden der Menschen zu zügeln, ihnen Ehrfurcht und Gehorsam einzuflößen und sie zu allen nothwendigen Entsagungen willig zu machen; darum ehren und pflegen sie das Christenthum äußerlich, wiewohl es ihnen innerlich mehr zuwider ist. Wenn sie aber sehen, daß Andere in der Einfalt ihres heilsbedürftigen Herzens es ernsthafter nehmen, daß die Freudigkeit des Glaubens das Herz schwillt und den Muth stärkt, wenn sie sehen, daß die Liebe zum Erlöser eine fromme Begeisterung wird, die sein großes Werk, die Menschen zur wahren Freiheit der Kinder Gottes zu erheben, immer weiter fördern möchte: dann wird ihnen un|heimlich, als möchte der gewaltige kräftige Geist auch ihre Werke ans Licht ziehn, und ihre kleinliche Selbstsucht, ihr starrer Eigensinn, ihre frevelnde Willkühr oder womit sie sonst verborgenes Spiel treiben, das möchte in seiner Blöße erscheinen. Und wenn sie dann lauern, wie sie etwas auf dieses lebendige Christenthum brächten: so entgeht ihnen freilich nicht, daß ihrer Klugheit, welche den Glauben an das Göttliche möchte menschlichen Absichten dienstbar machen, und aus den Kräften der neuen Welt menschlicher Willkühr ein Werkzeug schmieden, nichts mehr zuwider ist als dieser Grundsaz: man müsse Gott mehr gehorchen als den Menschen. Darum ziehen sie gegen diesen zu Felde; und weil sie es gern dahin bringen möchten, daß die Frommen Gott gehorchten nur den irrdisch gesinnten Menschen zum Nuz, und daß die Wohlthaten des Evangeliums ganz so behandelt werden möchten wie menschliche nüzliche Anstalten, die nur so dürfen gebraucht werden wie Menschengebot es gestattet: so schmähen sie den Grundsaz Gott mehr zu gehorchen als den Menschen, als sei er höchst gefährlich und drohe aller menschlichen Ordnung Verderben. Um nun diese zum Schweigen zu bringen und jene zu beruhigen, so laßt uns sehen, wie leer und eitel solche Besorgniß sei. Derselbe Apostel, der hier nicht Einmal, sondern gleichsam in einem Athem mehrmals sagt, man müsse Gott mehr gehorchen als den

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Menschen, was sagt der in jenem schönen apostolischen Briefe, den wir, Gott sei Dank dafür, in unsern heiligen Büchern lesen? Schreibt er nicht, Seid unterthan aller menschlichen Ordnung um des Herrn willen; ehret den König und seine Hauptleute, daß ihr mit Wohlthun verstopfet die Unwissenheit der thörichten Menschen; hütet euch, daß | ihr nicht um Missethat willen leidet, so ihr aber um Wohlthat willen leidet, so ist es Gnade?1 Wenn nun dieses der heilige Geist gesprochen hat und jenes: kann auch der heilige Geist sich selbst widersprechen? Wenn auch das Gottes Befehl ist, der menschlichen Ordnung zu gehorchen; kann dann wol der Gehorsam gegen Gott den Gehorsam gegen die menschliche Ordnung aufheben? – Ja, sagt man, wenn es nicht so viele unselige Beispiele gäbe, daß einzelne Menschen sich einbilden, einen besonderen Befehl Gottes erhalten zu haben! und wie oft ist nicht frommer Wahn auf das verderblichste und schändlichste verfallen? Und schüzen dann nicht solche Menschen auch bei dem abscheulichsten Verbrechen den Grundsaz vor, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen? – An dem Grundsaz wenigstens liegt das nicht, antworte ich. Denn Petrus hatte nicht innerlich, sondern aus dem Munde seines und unseres Meisters den Befehl empfangen sein Zeuge zu sein; und der Sohn ist es durch welchen zu uns allen der Vater geredet hat. Dieses Wort Gottes haben wir aus seinem und seiner Jünger Munde aufbehalten in der heiligen Schrift; und in dieser soll daher jeder, der dem Grundsaz des Apostels folgen will, die Gegenstände seines Gehorsams gegen Gott nachweisen. Darum hält unsere evangelische Kirche, für die ich hier allein rede, soviel darauf, daß der Unterricht aus diesem gemeinsamen Wort Gottes fortgehe von einem Geschlecht auf das andere; darum ist sie von Anfang an so fest ja hart aufgetreten gegen alle Schwarmgeister, welche an diesem gemeinsamen Wort nicht genug habend sich auf ein besonderes inneres | Wort beriefen, und wir thun Keinem Vorschub, der solchem Wahne folgend Gott zu gehorchen glaubt. Sondern kommt er mit demselben ans Licht, und will ihn mittheilen und verbreiten, so wird er für die Diener des Wortes ein Gegenstand der Belehrung insgeheim und öffentlich; und Gott sei Dank das Werk derselben ist nicht ungesegnet an der immer nur geringen Zahl derer, die von solchem Wahne befallen sind. Wenn aber dennoch einer seinem Wahn Folge giebt, und kraft dessen thut, was menschlicher Ordnung zuwider ist: werden wir etwa hindern daß die Obrigkeit ihm Einhalt thue auf alle Weise? Nein, 1

1. Petr. 2, 13. 15. 20.

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sondern wie sehr wir ihn auch menschlicherweise bedauern möchten, wenn er dem Schwerdt der Obrigkeit anheimfällt, so sagen wir doch eben um so mehr, als wir den Menschen, also auch der Liebe zu Menschen weniger gehorchen als Gott, daß die Obrigkeit Recht thut Einhalt zu thun und zu züchtigen, indem sie dadurch nur ihren eigenen Gehorsam beweiset gegen das Wort Gottes, daß „sie gesezt ist zu Lobe der Frommen“1, daß sie aber auch „das Schwerdt trägt eine Rächerin zur Strafe über den der Böses thut“2. Und so bewährt sich in allen diesen Fällen der Grundsaz unseres Textes in Uebereinstimmung mit dem Briefe des Apostels und als die festeste Stüze der menschlichen Ordnung und des gesetzlichen Ansehns. Aber, sagt man wol weiter, damit ist noch nicht geholfen, wenn man die Menschen auf das gemeinsame Wort der heiligen Schrift verweiset, daß nur dessen lebendige Ausübung der rechte Gehorsam gegen Gott sein soll. Denn wie ganz verschiedenen Deutungen ist nicht | auch dieses in einzelnen Stellen ausgesetzt, und erfährt sie auch, zumal in unserer evangelischen Kirche, wo das Wort Gottes jedem offen daliegt, und jeder durch die Liebe zu demselben sich im Verständniß göttlicher Dinge selbst üben soll! Und wie oft finden wir nicht leider, m. gel. Fr., daß nicht nur wohlgesinnte Brüder an engen und beschränkten Auslegungen einzelner Schriftstellen hängen, sondern auch daß wirklich Verkehrtes und Gemeinschädliches sich durch solche Auslegungen rechtfertigen will. Das können wir nicht läugnen, m. Brüder; aber gewiß sind wir doch darüber einig, daß mit jenen Wahngläubigen, von denen ich vorher redete, der nicht verglichen werden kann, der wenigstens den redlichen Willen hat, das was er für Recht erkennt aus der Schrift nachzuweisen; denn eine reine Liebe zu Gottes Wort kann nicht auf Abwege führen, welche der menschlichen Gesellschaft zum wahren Nachtheil gereichen. Wir wissen alle, daß wir irren können in der Erklärung des göttlichen Wortes, und daß unter Beistand des göttlichen Geistes unser Verständniß desselben noch immer reiner und vollkommner werden soll. Das ist das gemeinsame Bestreben aller evangelischen Christen und auch aller christlichen Obrigkeiten, welchen es immer eine heilige Pflicht gewesen ist, alle Veranstaltungen zu diesem Zwecke zu begünstigen und zu beschüzen. Aber nur die gegenwärtige Erkenntniß, zu welcher jeder gelangt ist durch redliches Streben, ist und bleibt das, wonach er auch allein gerichtet werden kann. Und auch das gilt wie von uns allen, so 1

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1. Petr. 2, 19. Röm. 13, 4.

24 Brüder] Brr.

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auch von christlicher Obrigkeit, die sich ja in demselben Spiegel beschaut und nach demselben Maaßstabe prüft. Daher sehen wir auch mit Freuden und rühmen es, wieviel Geduld und Nachsicht unsere Fürsten und Obrig|keiten beweisen, wenn abweichende Auslegungen und irrige Anwendungen des göttlichen Wortes vorkommen in Beziehung auf Gegenstände des bürgerlichen Lebens. Unsere Obrigkeit zum Beispiel verlangt bei manchen Gelegenheiten, daß wir die Wahrheit, die wir ihr schuldig sind, eidlich bekräftigen sollen. Wer nun in dieser noch immer bestehenden Einrichtung nichts dem Worte Gottes Zuwiderlaufendes findet, der schwört. Aber wie viele kleine Häuflein von Christen giebt es nicht, die sich streng an das halten: eure Rede sei ja ja und nein nein, was darüber ist, das ist vom Uebel1[.] Diese nun, wenn sie aufgefodert werden zu schwören, so sagen sie, sie wären gebunden in ihrem Gewissen und könnten nicht, weil sie nämlich Gott mehr gehorchen müßten als den Menschen. Niemals aber haben christliche Obrigkeiten ihnen das als eine Widersezlichkeit gedeutet, oder sie zwingen wollen unter den gemeinen Gebrauch unserer Kirche, der jedem gestattet nach dem Verlangen der Obrigkeit zu schwören; sondern weit entfernt einen Zwang gegen diese Christen zu gebrauchen, oder sie an ihren bürgerlichen Rechten zu verkürzen, begnügt sich die Obrigkeit mit ihrem Ja und Nein, wenn sie sich nur zu der Ueberzeugung bekennen, daß sie der Obrigkeit die Wahrheit schuldig sind; weil man nämlich nicht glaubt, daß diejenigen, welche sich mit einfältigem Herzen an das Worte Gottes halten, nur sollten Ausflüchte suchen wollen zum Schaden ihres Nächsten. Ja giebt es nicht noch immer Christen, welche glauben es sei gegen Gottes Gebot, auch wenn eines Christen Vaterland angegriffen würde, auf Befehl der Obrigkeit das Schwerdt zu ziehen gegen den Feind; | und ein solches Gott mehr gehorchen als den Menschen ist schon weit bedenklicher als jenes. Aber hat es wol je die Sicherheit des Regimentes gefährdet? Nein! sondern weil christliche Obrigkeiten wol wissen, daß diese irrige Auslegung nur bei einer kleinen Zahl Beifall finden kann, und die größere Anzahl immer richtiger fühlt, was für Pflichten zu Schuz und Truz zusammenzuhalten ihr dadurch aufgelegt sind, daß „Gott zuvor versehen und Ziel gesetzt, wie lange und weit der Menschen Geschlechter auf dem Erdboden wohnen sollen“2: so haben sie auch gegen das Gewissen dieser Brüder Geduld geübt, und billig mit ihnen gehandelt, ohne daß auch ihre Mitunterthanen zu dieser Güte scheel 1 2

Matth. 5, 37. Ap. Gesch. 17, 26.

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gesehen hätten; sondern Schlimmeres kann ihnen nie begegnen, als daß, wenn die Gleichheit so sehr verlezt werden sollte durch ihre Weigerung, man ihnen freistellt sich ihren Plaz auf der Erde da zu suchen, wo keine Gefahr ist, daß eine menschliche Gesellschaft durch ungerechte Angriffe gestört würde. So zeigt sich überall in der christlichen Welt eine zarte und heilende Ehrfurcht der Regenten vor dem Grundsatz, man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen, aber nirgends finden wir, daß sie von demselben Gefahr besorgen. Ja selbst wenn bisweilen solche unglückliche Zeiten eingetreten sind, wo die Obrigkeit, wie denn irren menschlich ist, aus wolmeinendem aber mißleitetem Eifer ihre Macht nicht bloß gebrauchte zum Schuz der Guten und zur Strafe der Bösen, sondern auch trachtete durch dieselbe die Gewissen zu beherrschen, oder im einzelnen etwas gebot was gegen Gottes Gesez war, selbst in diesem schlimmsten Falle, hat etwa der bürger|lichen Ordnung irgend eine Gefahr davon gedroht, wenn dann die Christen fest bei dem Grundsatz beharrten Gott mehr zu gehorchen als den Menschen? Mit nichten! Sondern, wie überhaupt, wenn die Obrigkeit verbietet was sie für schädlich hält, sie dennoch durch Anwendung ihrer Gewalt nicht immer verhindern kann, daß das verbotene nicht geschehe, und wie auch dadurch an sich ihr Ansehn nicht leidet, sondern nur wenn das verbotene unbestraft bleibt; wer aber die Strafe erduldet, eben dadurch das Ansehn der Obrigkeit verkündigt und beschüzt: so geht es dann auch hier. Den Aposteln ward verboten im Namen Jesu zu lehren; das konnten sie nicht lassen, weil sie Gott gehorchen mußten, aber als sie gestäupt wurden, waren sie froh, daß sie gewürdiget waren um Christi willen zu leiden, und so war das Ansehn der Obrigkeit gerettet, und die menschliche Ordnung aufrecht erhalten. Den Christen in den ersten Jahrhunderten ward befohlen, ihren Glauben zu verläugnen und Menschen göttliche Ehre zu erweisen. Das konnten sie nicht; aber indem sie auf den Befehl der Obrigkeit ihr Leben willig hergaben, bewiesen sie sich unterthan der Obrigkeit um des Herrn willen. Ja selbst als sie schon so zahlreich waren, daß die, welche sich über die Oberherrschaft stritten, um die Gunst der Christen wetteiferten, haben diese nie gewaltthätig das Band der bürgerlichen Ordnung zerrissen. Und so hat in allen ähnlichen Fällen das Wort und das Beispiel des Apostels die Christen nur gelehrt, Gott zu gehorchen auf der einen Seite, und indem sie um Wohlthat willen litten, den Menschen zu gehorchen auf der andern; und das können wir immer um so getroster, als wir uns verlassen auf das feste profetische Wort, daß die | Gemeine des Herrn 25–27 Vgl. Apg 5,40–41

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nicht kann ausgerottet werden. Denn das ist gewiß, daß ein menschliches Ansehn, welches seine Grenzen überschreitet, und indem es die Gewissen zu beherrschen sucht, einen Streit hervorrufen will zwischen dem Gehorsam gegen Gott und dem gegen die Menschen, daß ein solches nicht bestehn kann; aber Gott hat dazu andere Mittel, und es bedarf nicht, daß die Gläubigen in einen solchen Streit wirklich gerathen, und indem sie sich sträflicher Verlezungen des von Gott geordneten menschlichen Ansehns schuldig machen, den Gehorsam gegen Gott selbst auf das gröblichste verlezen. Pilatus, ohnerachtet er wußte, daß er nicht zu richten habe über solche Beschuldigungen, als die Feinde Jesu vorbrachten, lieh ihnen sein Ansehn und überschritt seine Vollmacht, damit sie ihm nicht einen schlimmen Dienst leisten möchten bei seinem Herrn. Wohl! Christus widersezte sich nicht, und seine Diener kämpften auch nicht mit dem Schwerdt des Aufruhrs über seinem Reich; aber Pilatus hatte deß doch keinen Gewinn. Die Hohenpriester, denen eigentlich nur oblag das Gesez Mosis zu schüzen, die sich aber vermaßen, das Wohl des Volkes sicher stellen zu wollen, welches ihnen schon lange nicht mehr anvertraut war, und die deshalb Christum übergaben, hatten deß auch keinen Gewinn; sondern das Verderben, das sie entfernen wollten, kam nur desto schneller über sie; aber nicht durch die Hand der Christen, die auch, nachdem Stephanus und Jakobus gefallen waren, sich doch weder von den Gottesdiensten ihres Volkes trennten, noch dessen Oberen ihre Ehrfurcht aufkündigten. Und jener glänzendste Thron, von welchem herab der größte Theil der gesitteten Welt durch jene römischen Kaiser beherrscht ward, | im Uebermuth ihres Herzens göttliche Ehre begehrten von ihren Unterthanen, und deshalb das Blut der weigernden Christen stromweise vergossen; ihn konnte nichts retten, auch nicht daß er selbst ergriffen ward von der Gewalt des Christenthums; aber nicht aufrührerische Christen haben ihn gestürzt, sondern immer tieferes eigenes Verderben, immer schmählichere Entweihung machte ihn zur leichten Beute der Völker. Und jener große deutsche Kaiser, der unserm Luther zumuthete seine Lehre zu widerrufen, der seine ganze Macht aufbot das Entstehen der evangelischen Kirche zu hindern, der die Fürsten schon besiegt hatte in dem von den Lehrern der Kirche abgerathenen, aber als Widerstand unvermeidlich gewordenen Kriege, jener Kaiser hat sein Leben geendet in nachdenklicher Einsamkeit; aber nicht gezwungen von unsern Glaubensgenossen, die vielmehr, ohnerachtet sie Gott mehr gehorchen mußten als ihm, sein kaiserli21–22 Vgl. Apg 7,60; 12,2 32–2 Kaiser Karl V. (1500–1558) zog sich nach seinem Rücktritt 1556 in das Hieronymitenkloster Yuste in der Estremadura zurück.

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ches Ansehn immer ehrten, sondern er selbst nahm die Krone von dem müden Haupte herab. Aber auch solche traurige Beispiele einer ihre Grenzen überschreitenden und dadurch sich selbst strafenden und zerstörenden menschlichen Macht müssen immer seltner werden, je mehr jener große Grundsaz des Apostels auch von denen anerkannt wird, welche Gott würdigt sie zu Herrschern über christliche Völker zu erheben. Denn fühlen sie dies mit uns als die heiligste Pflicht der Christen: dann werden sie, wissend, daß geistliches nur geistlich kann gerichtet werden, und weit entfernt, ihre Hand über das zu erstrecken was Gott sich vorbehalten hat, ihr von ihm geheiligtes Ansehn rein und unbestellt erhalten. | So ist Christus auch in dieser Hinsicht der wahre Fürst des Friedens! Das Schwerdt kommt nur unter die Menschen, wenn sie ihn verkennen und sein Wort mißverstehen. Von ihm geht kein Hader und Streit aus, sondern die Liebe, zu welcher er alle vereinigt, die er zu sich gezogen hat, schlichtet allen scheinbaren Streit der Rechte und Pflichten. Möchten immer mehr alle Christen, die gebietenden und die gehorchenden, sowol die richtige Einsicht in das, was ihnen obliegt, als die Kraft es zu erfüllen nur suchen in dem Lichte seines Wortes und in der Gemeinschaft seiner Gläubigen; dann würde mit dem Gehorsam gegen Gott auch die Treue und Liebe christlicher Obrigkeiten und Völker gegen einander immer herrlicher sich entfalten, die Macht des Gewissens in dem Reiche Gottes und die Macht des Gesezes in der menschlichen Gesellschaft würden nie gegen einander gehen, und das Himmlische und Irdische immer mehr Eins werden, wie es sein heiliger Wille ist. Amen.

[Liederblatt vom 25. Juni 1820:] Am 4ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Herr Jesu Christ dich etc. [1.] Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort! / Den finstern Irrthum treibe fort! / Bewahr uns vor Gewissenszwang; / Frei bleibe unser Lobgesang! // [2.] Dir sein die Völker unterthan! / Es weich’ der Afterlehre Wahn / Vor deiner Wahrheit hellem Licht! / Gewalt beugt das Gewissen nicht. // [3.] Die Herrschsucht, die den fremden Knecht / Er glaube falsch, er glaube recht, / Gewaltsam zieht vor’s Richteramt, / Sie sei von deinem Volk verdammt! // [4.] Nur geistig sei der Wahrheit Krieg, / Gieb wider Irrthum ihr den Sieg, / Durch klaren gründlichen Beweis, / Und durch des frommen Beispiels Fleiß! // [5.] Wir gehn

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in Dämm’rung, irren bald; / Die Wahrheit übet nicht Gewalt; / Der Friede bleibe allgemein; / Laß nie Verfolger mächtig sein! // [6.] Der Scepter übe Billigkeit, / Verbiete nie der Gründe Streit! / Wer friedsam ist, nicht Laster lehrt, / Des Freiheit bleibe ungestört! // [7.] Zerbrich des Zwanges hartes Joch / Ist Wahrheit frei, so siegt sie hoch; / Sie sei bei uns von Irrthum frei, / Voll Frömmigkeit ohn Heuchelei! // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Dem Gott der Wahrheit Preis und Dank! / Er läßt die Wahrheit siegen / Vergebens droht Gewalt und Zwang; / Sie kann nicht unterliegen. / Den Menschen, Gottes Ebenbild, / Erhebt und heiligt stark und mild / Der Geist des guten Gottes. // [2.] Die Lehre Jesu, vest und klar, / Gewähret Licht und Frieden; / Doch als sie neue Lehre war, / Ward sie bekämpft hienieden / Wie drohte Dürftigkeit und Noth, / Verfolgung, Kerker, Schmach und Tod, / Den Jüngern des Erlösers. // [3.] Sie harrten aus mit hohem Muth, / Von Gottes Geist durchdrungen! / Vergossen ward der Lehrer Blut, / Die Lehre nicht bezwungen; / Und Völker wandten sich vom Wahn, / Und beteten den Höchsten an / Im Geist und in der Wahrheit. // [4.] Das Heil, in Wahrheit und im Geist / Den Höchsten anzuflehen, / Den Alles, was empfindet, preist, / Den reine Seelen sehen, / Dem wir uns auf der ebnen Bahn / Des frommen Glaubens seelig nahn, / Hat Gott auch uns bewahret. // [5.] Umsonst erhob sich Drohn und Zwang, / Die Wahrheit ward erhalten, / Dir, Gott der Wahrheit, Preis und Dank! / Du wirst auch ferner walten. / Wir wollen deine Wege gehn, / Und mit Vertraun gen Himmel sehn. / Das Gute bleibet ewig! // (Jauersches Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Gott sey Dank etc. [1.] Triumphire Gottes Stadt, / Die sein Sohn erbauet hat! / Kirche Jesu, freue dich! / Der im Himmel schützet dich. // [2.] Deine Feinde wüthen zwar; / Zittre nicht, du kleine Schaar! / Denn der Herr der Herrlichkeit / Machet deine Grenze weit. //

Am 2. Juli 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

5. Sonntag nach Trinitatis, 11 Uhr Dom zu Berlin Lk 5,1–11 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 41r–41v; Gemberg Keine Keine Tageskalender: „für Hanstein über das Evangelium“

Evang. am 5. Sonntag nach Trin. Dr. Schleiermacher in der Domkirche. 1820.

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Unser heutiges Sonntagsevangelium lesen wir beim Evangelisten Lukas, c. 5, v. 1 pp. 5

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Daß der Apostel Petrus nicht ohne alle Bekanntschaft mit Christo war, wissen wir aus den Erzählungen des Evangelisten Johannes, und sehn es aus den Worten Petri, ehe ihm Christus sagte: ich will dich zum Menschenfischer machen. Es war in ihm schon eine Sehnsucht nach dem Bessern, und ein Trieb, auf andre seine innerste Richtung überzutragen, und ein Heil für ihn, daß der Erlöser es war, der ihn lehrte die Menschen um sich sammeln und bilden. Hieran knüpfen sich mancherlei Gedanken. Sammeln und ordnen wir sie, so betrachten wir 1. wie es eine allgemeine natürliche Neigung des Menschen ist, sich und sein Streben allgemeiner zu machen. Wofür der Mensch Liebe und Bewunderung hegt, dafür möchte er beides auch bei anderen erregen. Wie ist diese Neigung so tief uns eingeprägt? Nichts wird in uns rein aus uns selbst. Wie unser leibliches Dasein seinen Anfang hat abhängig von andern, so das Erwachen der geistigen Kräfte. Wir werden von außen her angeregt, und die uns befruchtende Kraft erhält sich gleichsam einen Ueberschuß, daß sie noch weiter nachwirkt, und [den] der von ihr Gestärkte unmittelbar weiter um sich zu verbreiten trachtet. Das ist ein natürliches Verlangen der menschlichen Seele. Allein | ihre Befriedigung unterliegt vielen Gefahren. Der schwache Sohn der Erde, dessen geistiges Auge fast immer umnebelt 0 Vertretung für Gottfried August Ludwig Hanstein, 1761–1821, seit 1805 Propst an der St. Petri-Kirche

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ist, kann, indem er Menschen fangen will, sie unter der Fahne des Irrthums und Verderbens sammeln, und kann in dem Wahn befangen sein, als müßte das Bessere in allen auf dieselbige Art und Weise in die Erscheinung hinaus treten. Hier laßt uns nun auf den zweiten Punkt sehn, daß wir nämlich 2. zum Erlöser alle andern führen müssen, von ihm selber ausgehend. Viele wollen sich nur hinstellen als den Mittelpunkt, um den her sie sammeln, allein wie es für Petrus ein Gewinn war, daß es der Erlöser war, der ihm zum Menschenfischer machte, so für uns alle. Nur in der Anhänglichkeit an ihn gehen wir bei jenem natürlichen innern Drang allen Gefahren aus dem Wege, werden um die Wahrheit her alle Uebrigen rufen, und werden nicht verkennen, daß Ein Geist es ist, welcher da gebe verschiedene Gaben. Wir werden nach unsern Kräften auf den Kreis uns beschränken, welcher uns näher steht innerlich, und werden die Stimme Christi beachten: „noch andere Schafe werde ich herbeirufen, die nicht in diesem Schafstalle sind.“ Nicht uns, sondern ihm werden wir die Menschen fangen; wir werden uns nicht vermessen, uns für unverbesserlich zu halten, uns nicht aussondern aus dem großen Gemeinleben der Kirche, und es wird uns vor Augen stehn der Spruch des Apostels: „wer da meint, er stehe, der sehe zu, daß er nicht falle“.

11 Vgl. 1Kor 12,4 13–14 Joh 10,16 18 1Kor 10,12 18 Es folgt ein Insider-Kommentar des Nachschreibers, des späteren Domkandidaten Gemberg, zum Bezug der Predigt auf die Gemeindesituation: „In dieser Gemeine herrschen einige separatistische mystificirende Umtriebe. Der Gedanke an diese macht alles lebendiger und gewichtiger“.

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6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 6,1–6 Nachschrift; SAr 75, Bl. 1r–20r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 37–51 (Textzeugenparallele) Keine Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Apostelgeschichte VI, 1–6. In den Tagen aber, da der Jünger viele wurden, erhob sich ein Murmeln unter den Griechen wider die Hebräer darum daß ihre Wittwen übersehen wurden in der täglichen Handreichung. Da riefen die Zwölfe die Menge der Jünger zusammen und sprachen: es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlaßen und zu Tische dienen. Darum, ihr lieben Brüder, sehet unter euch nach sieben Männern, die ein gutes Gerücht haben und voll heiligen Geistes und Weisheit sind, welche wir bestellen mögen zu dieser Nothdurft. Wir aber wollen anhalten am Gebet und am Amt des Wortes. Und die Rede gefiel der ganzen Menge wohl, und erwählten Stephanum, einen Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, und Philippum und Prochorum und Nikanor und Timon und Parmenam und Nikolaum, den Judengenoßen von Antiochia. Diese | stellten sie vor die Apostel und beteten und legten die Hände auf sie. Wenn wir, m. a. F., in Beziehung auf den unmittelbaren Gegenstand unsrer jezigen Betrachtungen das was ich jezt verlesen habe mit dem vergleichen, worüber wir uns das leztemal unterhalten haben, so kann es auf den ersten Anblik scheinen, als ob dieses etwas ganz Geringfügiges sei gegen jenes. Damals war die Rede von einem großen fruchtbaren Grundsaz für das ganze khristliche Leben, den die Apostel aufstellten nicht nur, sondern auch durch die That bewährten, und in dem die ganze Kraft und der ganze Umfang der Wirksamkeit des Evangeliums verzeichnet war; hier aber in den eben verlesenen Worten ist die Rede nur von einer äußerlichen Einrichtung: | und wie könnten wir daher wohl diese auf gleiche Weise mit jenem für 1 Te x t .] Bl. 1r enthält nur die Notiz Schleiermachers: Am 6. p. Trin. 1820.

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eine von den wichtigen Begebenheiten halten in der Pflanzung der ersten khristlichen Kirche? Demohnerachtet, m. g. F., ist es so, und um es so zu finden dürfen wir nur daran denken, wie überall in dieser irdischen Welt Inneres und Äußeres auf das genaueste mit einander zusammenhangen, und jenes ohne dieses nicht bestehen kann. Der göttliche Geist, m. g. F., sollte durch die kleine Schaar derer, die ursprünglich das Wort von der Erlösung aufgenommen hatten, auf eine fruchtbare Weise wirken in eine unabsehbare Ferne hinaus einen mächtigen und immer mehr bedenklich werdenden Widerstand des Glaubens gegen feindselige Kräfte. Sollte also der große Zwek erreicht, sollte | ihm mit jener Schnelligkeit, die wir in der ersten Verbreitung des Khristenthums bewundern, angenähert werden, wie wichtig war es, daß jeder Einzelne an seinem rechten Orte stand, den er auf der einen Seite ganz ausfüllen konnte, aber der auch auf der andern Seite alle seine Kräfte in Anspruch nahm; wie wichtig war es, daß alle sich gegenseitig gleich zu unterstüzen fähig waren, und daß nicht etwa aus Mangel an Ordnung der eine gar den andern hinderte in dem großen Beruf, und die Kräfte, die vereinigt wirken sollten, einander aufhoben. Das m. g. F., das ist die große Wichtigkeit und Bedeutung aller Ordnung, aller festen Einrichtungen in menschlichen Geschäften; und diese war damals und ist auch noch jezt der | khristlichen Kirche eben so nothwendig wie jeder andern menschlichen Gesellschaft, und um so unentbehrlicher und bedeutender, je größer und heiliger der Zwek ist. Nun aber war die Einrichtung, von der die Worte unseres Textes reden, nichts anders als die vollkommne Gestaltung der ersten khristlichen Gemeine, nach deren Muster sich hernach alle andern einrichteten und bildeten, und deßhalb zählen wir sie mit Recht unter das Wichtigste was uns die Geschichte bewahrt hat von der ersten Pflanzung der khristlichen Kirche. Laßt uns daher jezt diese Vervollständigung in der Ordnung und in der Einrichtung der khristlichen Gemeine zum Gegenstand unsers frommen Nachdenkens machen. Wir wollen dabei zuerst | sehen auf das Wesen und die Bedeutung derselben, dann aber auch zweitens auf die Veranlaßung, wodurch sie herbeigeführt wurde. I. Wenn wir uns nun zuerst fragen, was war denn das eigentliche Wesen der Zwek und die Bedeutung der neuen Einrichtung, welche die Apostel vorschlugen, und die ganze schon bedeutende Menge der Khristen mit solchem Wohlgefallen aufnahm? so können wir wohl antworten, zuerst es war eine heilsame Theilung nothwendiger Geschäfte; aber dann auch zweitens es war eine annähernde Veränderung in dem Verhältniß der Apostel zu den übrigen Gliedern der khristlichen Gemeine. | Nothwendig war und ist überall in der khristlichen Kirche das Amt des Wortes und des Gebets, wie der Apostel in seiner Rede dasjenige bezeichnet, welches er und seine Genoßen sich zunächst und unmittelbar vorbehal-

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ten wollten; aber eben so nothwendig war der Dienst, den die Apostel früher mitverwaltet hatten, und der jezt andern übertragen wurde. Er bestand in der Fürsorge für diejenigen, die der Hülfe des gemeinen Wesens der Khristen bedurften. Ihre dürftigen Umstände, ihre verlaßne Lage, die täglichen Schwächen, die ihr heimathloser Zustand mit sich brachte, das sind die wesentlichen Glieder der Pflege, die von der ersten Zeit an in der khristlichen Kirche ist ausgeübt worden. Daß auch dies ein nothwendiger Dienst war, darüber ist wohl nicht Noth viel zu sagen. Es ist auch allenthalben dies in der khristlichen Kirche | gefühlt worden, und wo wir wirklich eine vollständige Einrichtung khristlicher Gemeinen sehen, da finden wir auch diese gemeinsame Sorge aller für diejenigen, die einer solchen äußerlichen Pflege bedürfen. Am notwendigsten aber mußte diese erscheinen in jener ersten Zeit. Denn unter welch eine große Menge von Ungläubigen, theils bethörten theils feindlich gesinnten, war damals die geringe Schaar derjenigen gestellt, die sich ganz dem Dienste des Evangeliums gewidmet hatten! und welch ein köstliches Gut war dieses für das ganze menschliche Geschlecht jedem Einzelnen unter ihnen! wie tief mußten alle den großen Werth eines jeden Gliedes ihrer noch so eng geschloßnen Gemeine fühlen! wie wichtig mußte ihnen sein, daß | jeder so wenig als möglich durch äußere Umstände und Leiden gehemmt alle seine Kräfte dem gemeinsamen großen Zweke der Aufrechthaltung und Verbreitung des Evangeliums widmen konnte. Freilich war damals und ist noch immer einer der ersten Grundsäze des Khristenthums und ein alle Bekenner des selben lebendig durchdringendes Gefühl, daß alle Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die durch den göttlichen Geist in der menschlichen Seele kann und soll offenbart werden. Eben deßwegen nun, wenn es hierbei nur darauf angekommen wäre, in welchem Zustande sich jeder Einzelne befände, wie viel oder wie wenig ihn von den Widerwärtigkeiten dieses Lebens träfe, so könnte man denken, man würde es für etwas weniger Wichtiges gehalten | haben und für etwas minder Nothwendiges, denen welche auf diese Weise litten zu Hülfe zu kommen, und ihre zeitlichen Bedrükungen aufzuheben oder wenigstens zu lindern. Denn alle waren ja aufgefordert zu leiden, an alle war der Ruf ergangen ihr Kreuz auf sich zu nehmen und dem Erlöser nachzufolgen; und was einem jeden von irdischen Leiden und Widerwärtigkeiten kam, das konnte und sollte er mit Freudigkeit des Herzens ansehen als eine heilsame Übung um daraus verstehen zu lernen, was ihm in dem Amt der Gemeinschaft des Glaubens und seiner Verkündigung kommen werde. Von dieser Seite angesehen also hätte man glauben sollen, die Khristen hätten gleichgültig sein müßen gegen die zeitlichen Leiden ihrer | Brüder, und statt denen, die von äußern Schmerzen gedrükt waren, äußere 24–26 Vgl. Röm 8,18

33–34 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

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Hülfe darzureichen, hätte es ihnen genügen sollen, durch den Geist der Liebe zu trösten und zu erquiken. Aber es kam eben nicht darauf allein an, in welchem Zustande jeder Einzelne unter ihnen sich befand, sondern jeder sollte wirksam sein für das Ganze; und wie jeder Zustand, wenn jemand beschränkt ist in seiner Thätigkeit, zurükgehalten auf demselben Flek, gehemmt in seinen Wirkungen durch äußere Verhältniße, wie jeder solche Zustand der Thätigkeit des Einzelnen für die Sache des Glaubens hinderlich sein mußte, das liegt zu Tage. Nicht also um ihretwillen, sondern um der Welt willen, der sie dienten, die sie sollten bekehren, und von dem Weg des Verderbens zurükführen zu dem Gesez des Glaubens und der Liebe, | darum war es ein wesentlicher Grundsaz der khristlichen Gemeinen, daß alle aus allen Kräften suchten der Noth und dem Leiden ihrer Brüder abzuhelfen. Und aus demselben Gesichtspunkt, m. g. F., sollen nun auch wir diesen Dienst und diese Pflege in der khristlichen Kirche ansehen, weniger um die äußere Noth abzuwenden als vielmehr um alle Kräfte zusammenzuhalten zum Dienst des Geistes, dem alles geheiligt sein soll, der alles beseelen will. Darum eilen wir den Dürftigen und Leidenden unter den Genoßen unsers Glaubens so gern mit allem was von äußern Mitteln uns zu Gebote steht zu Hülfe; darum laßen wir diese Unterstüzung nur denen zukommen, die sich in der khristlichen Kirche erhalten haben einen guten Namen und einen tadellosen Ruf, so daß wir sie | ansehen können als Werkzeuge des göttlichen Geistes, als unsre Mitarbeiter in dem Weinberge des Herrn, die Andern aber, die wir nicht dazu rechnen dürfen, die schließen wir mit Recht von dieser Pflege aus, welche nur für jene da ist, und verweisen sie in dem Fall äußerer Bedrükungen an die Wohlthätigkeit, welche von andern Quellen ausgeht. So mußten also der unmittelbare Dienst an der Verkündigung des göttlichen Wortes und dieser äußere Dienst der Pflege einander gegenseitig unterstüzen und zu Hülfe kommen. Aber wie es sich überall als heilsam erwiesen hat in der menschlichen Gesellschaft, und wie es zu gleich das Erste ist was die Menschen unter sich veranstalten, sobald sie den ganzen Umfang ihres irdischen Daseins übersehen, daß sie die gemeinsamen Arbeiten und Geschäfte auf eine | gleichmäßige Weise vertheilen, damit nicht, indem jeder Alles thun soll, dieses nur auf eine unvollkommne Weise geschehe – das zeigt sich auch als nothwendig und heilsam in der khristlichen Kirche, und die Begebenheit, deren Erzählung wir uns vorgehalten haben, war die Theilung der Geschäfte, die Absonderung des Lehramts von dem Geschäft der äußern Pflege. Denn früher hatten das leztere die Apostel mitverwaltet mit dem Dienst am Wort und an der Lehre, und wie die Träger der unmittelbaren göttlichen Gaben des Geistes, so waren sie auch die Spender der Gaben gewesen, welche die khristliche Liebe darreichte zum Dienst und zur Unterstüzung der Leidenden unter den Khristen. Aber Beides war freilich sehr weit von einander entfernt, und die Apostel fühlten, daß | es sich auf die Länge nicht mit einander vertragen würde. Petrus sagte „es

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ist nicht gut, daß wir das Wort Gottes verlaßen, und den äußern Dienst der Pflege verrichten.“ Denn eben weil die Zahl der Khristen groß geworden war, so konnte beides nicht ohne Nachtheil des einen oder des andern von einem und demselben bestritten werden. Und auch dies war eine Maaßregel, die durch das menschliche Wort des Apostels der göttliche Geist in unsern heiligen Schriften als seine eigne Veranstaltung niedergelegt hat. Denn der Apostel Paulus sagt, wie es zwar nur einen Geist gebe, aber mancherlei Gaben, so gebe es auch einen Herrn zwar, aber mancherlei Ämter, die er anordnet. Denn nach dem Maaße der Gaben seien auch die Ämter und Verrichtungen vertheilt worden, damit jeder sich dem vorzüglich widmen könne, | wozu ihm Gott die Gabe verliehen hat, und damit nicht, indem jeder alles thun will, diejenigen in ihrer Thätigkeit zurükgehalten werden, die zu einem Werk des Geistes welches im Reiche des Herrn geschehen soll, beßer ausgerüstet sind als er, und damit er sich selbst nicht hemme in der Verrichtung deßen, wozu ihn Gott der Herr durch die Gaben die er ihm verliehen, berufen hat. Und allerdings war dies der erste und wesentlichste Unterschied, der in der khristlichen Kirche gemacht werden mußte, indem ohne ihn die Gemeinschaft der Gläubigen nicht bestehen konnte. Ein anderes Amt ist das Amt der Lehre, ein anderes ist das Amt der Pflege; andere Gaben sind es, deren diejenigen bedürfen, welche die Wahrheit verkündigen sollen, und die Offenbarungen des Geistes auszusprechen berufen sind, der es von dem Eigenthum des Erlösers nimmt und ihn den Menschen verklärt, andere Gaben sind es, | deren diejenigen bedürfen, welche die gemeinsamen irdischen Heilmittel auf das zwekmäßigste vertheilen sollen unter diejenigen, die durch äußere Widerwärtigkeiten und Leiden gedrükt werden; andre Ämter sind ausgezeichnet durch andere Gaben, damit nicht jeder alles verrichte, sondern nur das, wozu er von Gott durch die ihm verliehenen Kräfte bestimmt ist. Und wie viel unvollkommnes würde uns nicht in der khristlichen Kirche erscheinen schon in ihrer ersten Entwiklung, in den schnellen Fortschritten des Evangeliums in der kurzen Zeit, von der uns die Apostelgeschichte Nachricht giebt, wenn nicht zur rechten Zeit diese Theilung der Geschäfte gemacht wäre, von welcher unser Text redet. Aber es war nun eben dies zweitens auch ein verändertes Verhältniß zwischen den Aposteln und den übrigen Gliedern der khristlichen Gemeine. | Denn bisher waren die Apostel allein zu allen übrigen Khristen in dem Verhältniß gewesen, das Gemeinsame zu besorgen anzuordnen und zu leiten, die Gemüther der Gläubigen durch die Gaben des Geistes in dem Wort des Heils zu befestigen, und das gemeinsame Wesen durch ihre Thätigkeit in allen verschiedenen Zweigen desselben zu lenken und zu fördern. Wie hätte 7–9 Vgl. 1Kor 12,4–5

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es auch anders sein können m. g. F.? Denn wenn wir überall in der menschlichen Gesellschaft Unterschiede entstehen sehen, die wenn man sie auch mit Gewalt aufheben wollte, doch immer wieder aufs neue sich entwikeln würden, weil Gott selbst den Keim dazu in die menschliche Natur und in die verschiedene Ausrüstung der Einzelnen gelegt hat; wenn wir so | häufig sehen, daß in diesem oder jenem was wichtig und bedeutend ist für das ganze menschliche Leben, es immer nur wenige sind, die sich auszeichnen und hervorragen, aber wie diese wenigen dann auch im Stande sind mit ihrer überwiegenden Kraft die andern zu leiten, und sie allmälig für dasjenige was ihnen sich als das Große und Gute offenbart zu beseelen: wie viel größer war noch der Unterschied zwischen den Aposteln und dem zwar schon ansehnlichen Haufen der übrigen Khristen, der aber je größer er geworden war, um desto mehr bestand er aus solchen die das Evangelium noch als etwas Neues aufgenommen hatten. Sie allein hatten im voraus vor allen übrigen den innigen und vertrauten Umgang, den sie mit dem Erlöser in der Zeit seines irdischen Daseins gepflogen hatten, die Art wie er sie selbst zu seinen unmittelbaren | Jüngern und Dienern gesezt hatte, den reichen Schaz von Erfahrungen und innern Wahrheiten, den sie gesammelt hatten während der Zeit ihres Lebens mit ihm und auch jezt schon in der zwar kurzen aber unendlich fruchtbaren Zeit ihres öffentlichen Daseins und Berufs. Das war also die große Ungleichheit zwischen ihnen und allen übrigen Khristen, daß sie allein leiten konnten, jene aber gehorchten und sich leiten ließen; und sie war so fest gegründet, wie sie nur irgendwo gegründet sein kann. Daß sie also bisher so gewesen war, das, m. g. F., das war sehr natürlich. Aber der göttliche Geist hätte müßen weniger beschäftigt sein und wirksam in jener großen und wichtigen Zeit, wenn er nicht unter dem großen Haufen derer, die durch das Wort der Apostel bekehrt waren von dem Dienst des | Vergänglichen zum Glauben an die unvergängliche Kraft der Wahrheit, oder auch auf eine eigenthümliche Weise das Bewußtsein des höhern Lebens in sich erwekt hatten, wenn er nicht unter diesen einige wenigstens getroffen hätte, die geschikt waren durch ihre natürliche Ausrüstung und durch den Eifer, mit welchem sie die Sache des Evangeliums ergriffen, in sich selbst Gaben zu entdeken, welche sie fähig machten selbst kräftige Gehülfen der Apostel zu sein. Es war also die Kraft des göttlichen Geistes selbst, die damals wirkte, daß eben dieses Verhältniß früher oder später ein anderes werden mußte als es bisher gewesen war. Und wenn nun die Apostel, m. g. F., wie wir sehen, nicht durch irgend eine äußere Gewalt geleitet, sondern von innen heraus dahin gebracht wurden das bisherige | Verhältniß zu ändern schon in einer so frühen Zeit der eben entstehenden khristlichen Kirche: so können wir nicht anders als sagen, es muß ihnen dies ein erfreulicher Beweis gewesen sein von der Kraft, die der göttliche Geist in den Gemüthern ausübt, daß es so wenig schwer war, daß die Menge der Khristen mit Übereinstimmung eine kleine Zahl auswählte,

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der sie mit vollem Vertrauen das Amt, welches die Apostel von dem ihrigen trennen wollten, überlassen konnten. Und wie recht die Apostel gethan haben, diese Trennung schon damals vorzunehmen, und durch die Wahl der Gemeine aus der Gemeine selbst sich Gehülfen geben zu laßen, welche die Leitung des Ganzen mit ihnen theilten, das sehen wir daraus, m. g. F., daß unter denen die gewählt wurden, ein Stephanus | war, ein Mann nicht weniger kräftig an Wort als die Apostel selbst es waren, und dem, ohnerachtet er durch das ihm jezt verliehene Amt an etwas anderes gewiesen war, außerdem noch Kraft und Zeit übrig blieb das Wort von dem Herrn zu verkündigen da wo ihm die günstige Gelegenheit geboten wurde, und die Gegner des Erlösers zu widerlegen. Daraus sehen wir, die Apostel haben diese Annäherung, welche sie stifteten zwischen sich selbst und den übrigen Gliedern der Gemeine, indem sie dieser das Recht gaben aus ihrer Mitte zu wählen, diejenigen welche den Aposteln zugeordnet waren, um die mehr äußerlichen Angelegenheiten der Kirche zu besorgen, wir sehen daraus sie haben diesen Zeitpunkt nicht übereilt, und die Erfahrung hat es gelehrt, daß sie Recht hatten der versammelten Gemeine diesen Vorschlag zu machen, die ihn auch mit | dem Wohlgefallen aller ergriff. Und eben durch diese Theilung der Geschäfte, eben durch diese innige Annäherung zwischen denen welche die Obern gewesen waren und blieben, und die vorzüglich zuerst nicht wenig freie selbstständige Thätigkeit in dem Ganzen der khristlichen Gemeinschaft ausübten, und zwischen denen die gewohnt gewesen waren ihren Worten Folge zu leisten, das war ein so bedeutender Fortschritt in der Entwiklung der khristlichen Kirche, daß wir nicht verkennen können, es ist daraus ein neues und erhöhtes Leben im Ganzen hervorgegangen. II. Aber nun laßt uns in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung auf die Veranlaßung sehen, wodurch diese Veränderung bewirkt wurde. Diese, m. g. F. klingt nicht so erfreulich, und eben | deßhalb ist es notwendig, daß wir unsre aufmerksame Betrachtung darauf richten, um uns vollständig darüber zu beruhigen. Nämlich der Verfasser der Apostelgeschichte erzählt, in den Tagen, da der Jünger viele geworden, sei entstanden ein Murren der Griechen wider die Hebräer, weil nämlich die Wittwen der erstern übersehen worden in der täglichen Handreichung. Hier sehen wir also ein Murren, einen leise ausgesprochenen Zwiespalt, zu dem uns auch gleichsam zwei Parteien genannt werden, es war ein Murren der Griechen wider die 20–23 und ... leisten] so SWII/10; S. 46; Textzeuge: und zwischen denen die gewohnt gewesen waren ihren Worten Folge zu leisten, und die vorzüglich zuerst nicht wenig freie selbstständige Thätigkeit in dem Ganzen der khristlichen Gemeinschaft ausübten

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Hebräer, ein Mißverhältniß also auf jeden Fall, welches entstanden war – das war die Veranlaßung zu dieser herrlichen Entwiklung und Ordnung in der khristlichen Gesellschaft. Sind die Wittwen der Griechen wirklich übersehen worden in der täglichen Handreichung, oder ist | es ihnen bloß so erschienen, das vermögen wir nicht zu entscheiden. Die Apostel, die damals diesen Dienst vereint mit dem Dienst des Worts besorgten, sie waren alle von denen, die bezeichnet werden [als] Hebräer, jüdischen Stammes nicht nur sondern auch im jüdischen Lande geboren und die Sprache dieses Volkes redend. Aber das Khristenthum hatte sich so weit ausgebreitet, daß auch Griechen waren unter den Khristen zu Jerusalem, d. h., auch Juden und gewiß jüdischen Stammes, aber deren Voreltern schon seit geraumer Zeit ausgewandert waren in andere Länder, und die dort herrschende Sprache zu reden gewohnt gewesen waren, sich aber wieder hernach niedergelaßen hatten im heiligen Lande und in der Nähe des Tempels. Gehen wir davon aus daß die Apostel selbst diesen | Dienst verrichteten, so können wir nicht glauben daß sie werden vernachläßigt haben die einen über den andern mit Wißen und Wollen. Aber unmöglich können sie damals schon diesen Dienst ganz allein verrichtet haben, sondern sie mußten solche gewählt haben unter den Brüdern, die ihnen halfen unterstüzen die dürftigen Brüder, indem sie ihnen den Auftrag dazu gaben. Haben diese es nun versehen aus natürlicher Vorliebe, weil die Apostel doch wohl die ältesten Bekannten dazu werden gewählt haben, oder ist es den Griechen nur so erschienen, weil sie sahen, diejenigen alle die unmittelbar oder mittelbar diese Pflege verrichteten, gehörten nicht zu ihnen sondern zu den andern – das Eine oder das Andere, ein Mißverhältniß war es, aber ein solches das entstehen kann ohne alle Schuld, und ohne daß man dadurch berechtigt wird und Ursache hat den andern Vorwürfe darüber zu machen. Denn eben so natürlich es war und | unvermeidlich, sollte das Khristenthum sich verbreiten unter allen Völkern der Erde, daß unter die Fahnen des Erlösers außer den Juden auch die Griechen mußten gesammelt werden, eben so natürlich war es, daß in den ersten Zeiten diejenigen, denen die Leitung des Ganzen anvertraut war, aus den andern mußten genommen werden, weil diese Neulinge waren und erst hinzukommen unter die Fahnen des Evangeliums. Und eben so natürlich beides war, eben so natürlich war es, daß dieser Schein entstehen konnte, als wären jene vor diesen bevorrechtet und begünstigt; und mehr braucht es auch nicht gewesen zu sein, was in den Worten unsers Textes ausgedrükt und durch das Murren. Daraus also auf der einen Seite, daß die Zahl der Khristen gewachsen war, und die Geschäfte | nicht mehr so durch einander gingen wie bisher, und daraus auf der andern Seite, daß die damalige Khristenheit schon bestand aus zweierlei bedeutend verschiedenen Bestandtheilen, verschieden durch die Sprachen und dadurch daß die einen früher für sich und eben so die andern

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für sich bestanden hatten, aus diesen beiden natürlichen Gründen entstand auf eine natürliche Weise jenes Mißverhältniß, welches unser Text erwähnt. Wohin aber solche Mißverhältniße führen können, wenn der göttliche Geist, wenn der Geist der Liebe und der Wahrheit unter den Menschen nicht waltet, o davon giebt es so viele, traurige Beispiele in der Geschichte, daß wir lieber nicht daran denken. Aber daran erinnern wir uns auf eine fühlbare Weise, daß, gehn wir auf die erste Trennung zurük, die ursprünglichen Mißverhältniße, wie ein gegenseitiges | und immer steigendes Mißtrauen, ein Fahrenlaßen der öffentlichen Angelegenheiten, ein Aufgeben der Zuversicht zu einander in so vielen Fällen entstanden ist, die ursprünglichen Mißverhältniße waren eben so natürlich wie das von welchem unser Text uns Nachricht giebt, eben so aus dem allmäligen Wachsen der menschlichen Angelegenheiten, eben so aus den verschiedenen Gaben, die der göttliche Geist den Menschen verliehen; daraus sind alle jene oft so verderblich gewordene Mißverhältniße in der menschlichen Gesellschaft eben so entstanden, wie dieses in der khristlichen Kirche. Und wie der Geist des Eigennuzes, der Geist des Dünkels, der Geist der Herrschsucht daraus alles dasjenige entwikeln kann, was am meisten der menschlichen Gesellschaft zum Verderben dient, so entwikelt der Geist der Liebe und der | Wahrheit aus derselben Quelle nur dasjenige was die Förderung der menschlichen Angelegenheiten zur nothwendigen Folge hat. O, m. g. F, möchten wo solche Verhältniße entstehen alle Theile der Gesellschaft eben so denken und handeln, wie wir hier die Apostel und den großen Haufen der Christen denken und handeln sehen. Zuerst nämlich, m. g. F., daß die menschlichen Angelegenheiten, der Gegenstand sei welcher er wolle, nicht immer können auf dieselbe Weise gestellt bleiben, wie sie es hier und da und zu dieser und jener Zeit waren, das geht daraus hervor. Aber um in einer Ordnung, die einmal sei es längere oder kürzere Zeit bestanden hat und sich bewährt, um in der etwas zu ändern, dazu gehört ein Zeichen von oben. Denn thut es der Mensch aus eigener Willkühr, so ladet er dadurch eine schwere Verantwortung auf sich; und dann ist es der menschliche | Leichtsinn, der die Umgestaltung der menschlichen Angelegenheiten übereilt. Und darum kann es die Liebe und Weisheit sein, welche die bisherige Gestaltung bewahren will, bis ein deutliches Zeichen von oben erscheine, daß der Augenblik gekommen sei, um die Aenderung vorzunehmen. So, m. g. F., denken und müßen über diese große Sache alle diejenigen denken, die von dem Geist der Wahrheit und der Liebe beseelt sind, der große Haufe der Khristen unter dem entstand ein Murren, wie unser Text sagt; aber forderten sie nun, die Apostel sollten diesen Dienst der Pflege aus ihren Händen herausgeben und in die ihrigen legen? Nein. Die Apostel vernahmen das Murren, welches entstanden war; aber glaubten sie es sei dadurch ihre Ehre und ihr Ansehen 10–11 entstanden ... wie] so SW II/10, S. 49; Textzeuge: eben so natürlich entstanden sind, wie

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gekränkt? glaubten sie, sie müßten | nun um so fester halten über ihrem Ansehen und über dem alten Recht, welches ursprünglich auf sie gelegt war, und das sie bisher ausgeübt hatten? Nein, sondern wie jene es ließen bei der leisen aber unverkennbaren Aeußerung ihrer Empfindungen, und warteten ob es Gott wohlgefällig sein werde, aus diesem Zustande und von dem Augenblik an eine Aenderung in den khristlichen Dingen hervorzubringen, eben so auch die Apostel weit entfernt von aller Selbstsucht und allem Suchen des Ihrigen, sie ließen sich diese leise Äußerung, die Erscheinung dieses eben erst aufkeimenden Mißverhältnißes zum Zeichen dienen von oben, daß nun die bisherige Gestaltung der Dinge nicht mehr zureichend sei, sondern daß auf eine andre müße gedacht werden. Und so einfach und wahr sie die Sache ansahen, ohne daß sie einen Vorwurf | benuzten, oder ihnen einer gemacht wäre, und wie sie hörten auf die Menge, sich vereinigten und sagten „es taugt nicht, daß wir das Wort Gottes unterlaßen und zu Tische dienen“: so hatte auch der Vorschlag, den sie thaten, auf die Menge der Khristen keine andre Wirkung, als mit Einem Sinne ihn anzunehmen; aber nicht nur dies, sondern was nun in ihre Hände gelegt wurde dazu sich im Gebet den Segen von Gott zu erstehen, und nicht etwa es anzusehen als einen Sieg den sie errungen hatten über das Übergewicht der Apostel, und sich zu freuen daß sie eine andre Stellung erhalten in der Gemeine der Khristen, sondern eben wie die Apostel nur das gemeine Wohl im Auge habend ließen sie sich das gefallen was ihnen von der höheren Einsicht der Apostel angeboten wurde, und was sie alle eben deßwe|gen, weil es von den Einsichtsvolleren kam, und die es redlich meinten mit der Sache des Herrn, einstimmig annahmen, und von dem Geist des Glaubens und des Gebets unterstüzt gingen sie an die Ausübung ihrer neuen Rechte; und so entstand dasjenige daraus was die khristliche Kirche förderte, was sich gleich in ihr als ein bedeutender Fortschritt zeigt, woraus ihre weitere Verbreitung in die noch nicht unterrichteten Länder, so wie unmittelbar die große Märtyrerkrone, die der erste Edelstein ist in der Krone der khristlichen Kirche, hervorgegangen ist. So bewährt es sich, wenn der Geist der Liebe und der Wahrheit aufkeimende Mißverhältniße dazu benuzt, um sie dem Zustand der menschlichen Dinge angemeßen zu behandeln, und die menschlichen Angelegenheiten immer näher zu bringen ihrem Ziele. Und | eben in dieser Hinsicht ist gewesen und soll immer sein die khristliche Kirche das Vorbild aller andern menschlichen Gesellschaften. Das soll sie sein eben deßwegen weil sie der Leib Khristi selbst ist, weil sie nur von ihrem Haupte im Himmel durch die Gewalt seines Wortes und durch die Kraft seines Geistes regiert wird. Und wie in ihr waltet das Wirken dieses Geistes, so soll sich auch in ihr am deutlichsten aussprechen auf eine für 37–38 Vgl. Eph 1,20.22–23; 4,15–16; Kol 1,18

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alle andre menschliche Angelegenheiten fruchtbare Weise der Sinn der nicht das Seine sucht sondern das allgemeine Wohl, dem nicht daran gelegen ist ob das Einzelne gelte, ob es stehe oder dahinsinke, sondern daß dasjenige geschehe wodurch das gemeine Wohl gefördert wird. Möge sie auch unter uns ein solches Vorbild bleiben, mögen alle andern menschlichen Angelegenheiten | unter den treuesten Khristen diejenigen finden, die auf die zwekmäßigste und beste Weise alles andre, was in die Gemeinschaft mit des Herrn Werk auf Erden kann aufgenommen werden, mit demselben Geist, der in der khristlichen Kirche ursprünglich waltete, zu leiten im Stande sind. Das gebe der Herr jezt und immerdar zur Ehre und zum Preis seiner Kirche und deßen der sie gegründet hat! Amen.

[Liederblatt vom 9. Juli 1820:] Am 6ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Es woll uns Gott genädig sein / Und seinen Segen geben; / Sein Antlitz uns mit hellem Schein / Erleucht zum ewgen Leben, / Daß wir erkennen seine Werk / Und was ihm lieb auf Erden, / Und Jesus Christus Heil und Stärk / Bekannt den Heiden werde, / Und sie zu Gott bekehre. // [2.] So danken Gott und loben dich / Die Völker überalle, / Und alle Welt erfreuet sich / Und singt mit großem Schalle: / Daß du auf Erden Richter bist / Und läßt die Sünd’ nicht walten; / Dein Wort die Hut und Weide ist, / Die alles Volk erhalten, / In rechter Bahn zu wallen. // [3.] Es danke Gott und lobe dich / Das Volk in guten Thaten, / Das Land bringt Frucht und bessre sich, / Dein Wort laß wohl gerathen. / Uns segne Vater und der Sohn, / Uns segne Gott der heilge Geist, / Dem alle Welt die Ehre thut, / Vor Ihm sich fürchtet allermeist. / Nun sprecht von Herzen Amen. // (Luther.) Nach dem Gebet. – Mel. Mein Heiland nimmt die etc. [1.] Der Himmelskönig schauet gern, / Wie sich getreue Seelen mühen. / Und an dem sanften Joch des Herrn / Mit allen ihren Kräften ziehen; / Vor ihnen liegt die ganze Welt / Als ein erstaunlich weites Feld, / Wo manche rauhe schroffe Höhen / Und düstre Thäler sind zu sehen, / Wo, wenn nicht Dorn und Disteln stehn, / Doch wenig Saaten sind zu sehn. // [2.] Drum läßt sich eine große Schaar / Der Knechte Jesu Christi schauen, / Die von ihm ausersehen war, / Das Land des Herren anzubauen. / Sobald sie Gottes Wort gesä’t, / Begießen sie es mit Gebet, / Mit tausend heißen Glaubensthränen; / Ihr Sinnen, Tichten, Trachten, Sehnen, / Ist dieses einzig und allein / Den Herrn mit Früchten zu erfreun. // [3.] Auf ihren treuen Arbeitsfleiß / Läßt Jesus Gnadenströme regnen. / Sie thun es ja auf sein Geheiß, / Wie sollte sie der Herr nicht segnen? / O du, den seine Kirche liebt, / Und immer mehr sich dir

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ergiebt, / Laß stets die Gnadenquelle fließen, / Und wie in Strömen sich ergießen, / Und Aller Arbeit werde dir / Zum Ruhm, zur wohlgefäll’gen Zier. // [4.] Dem Worte laß die offne Thür / Die nimmer jemand könne schließen! / Laß alle Völker für und für / Die große Seligkeit genießen, / Sich in dem Tempel zu ergehn, / Deß Pfeiler fest gegründet stehn, / Und unerschüttert seine Mauern! / Denn ewig soll die Kirche dauern / Sie stehe unter deinem Schutz / Und biete allem Unheil Trutz. // (Brr. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich etc. Laß dich durch nichts erschrecken, / O du christgläub’ge Schaar, / Gott wird dir Hülf erwecken, / Und dein stets nehmen wahr. / Er wird uns all’ erhalten / In Lieb’ und Einigkeit, / Und unser freundlich walten / Hier und in Ewigkeit. //

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7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 8,1–9 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 75, Bl. 20v–40v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 100, Bl. 33r–46v; Andrae Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender: „über das Evangelium“

Predigt am siebenten Sonntage nach Trinitatis 1820. |

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M. a. F. Es werden uns in unsern heiligen Büchern, die das Leben unsers Herrn und Erlösers beschreiben, theils ausführlicher theils zusammengezogener, eine große Menge von wunderbaren Thaten erzählt, die er während seines irdischen Lebens vollbrachte, wodurch er der großen Maße seiner Zeitgenoßen als der von oben herab Gesandte sollte bekannt werden, um die Aufmerksamkeit derselben auf das, was er das Reich Gottes betreffend sagen und thun würde hinlenken. Insofern nun sind sie einander alle gleich, und es wäre etwas Wunderliches, wenn wir einen Unterschied machen wollten zwischen dem einen und dem andern, eins etwa als dem natürlichen Lauf der Dinge und dem gewöhnlichen Maaß menschlicher Kräfte näherliegend, und ein anderes als ein von allen uns gegebenen Gränzen der Möglich|keit weit entfernter zu unterscheiden. In dieser Hinsicht wäre auch die ausführlichste Erzählung, welche uns die Evangelisten über einzelne dieser

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1 1820.] darunter von Schleiermachers Hand: in einer andern Kirche gehalten 1 Bei dieser nachträglichen Sichtungsnotiz des Nachschriftenkonvoluts durch Schleiermacher liegt vermutlich eine ungenaue Erinnerung vor. Schleiermacher hat nicht an einer anderen Kirche gepredigt, sondern in der Dreifaltigkeitskirche den lutherischen Gottesdiensttermin wahrgenommen, für den laut OGD Prediger Johann Gottfried Stahn (1764–1849) von St. Marien als einer der Vertreter im Witwenjahr des 1819 verstorbenen Andreas Jakob Hecker (geb. 1746) vorgesehen war. Da Schleiermacher bei Vertretungsgottesdiensten in anderen Kirchen über das Evangelium zu predigen pflegte (dazu und zum Predigtturnus vgl. Einleitung, I.3. und 4.), hat er möglicherweise den Rückschluss gezogen, auch dieser Vertretungsgottesdienst habe in einer anderen Kirche stattgefunden.

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wunderbaren Thaten zurükgelaßen haben, überflüßig, ja gewißermaßen vergeblich. Aber sie habe eine andre Seite von der sie uns wichtig sind: einige vorzüglich deßwegen, weil wie nicht leicht eine menschliche Handlung ist ohne begleitet zu sein von der Rede, die das Innere des Gemüthes ausspricht, auch diese Handlungen des Erlösers begleitet waren von denkwürdigen Worten, die wie alles was er während seines irdischen Lebens geredet hat, zu seinem großen Beruf gehören und uns segensreich werden können und sollen, andrerseits aber auch, indem diese seine wun|derbaren Handlungen veranlaßt wurden durch diejenigen Verhältniße zu den Menschen, in denen er uns allen gleich geworden ist, und in denen wir ebenfalls zu handeln haben, so können wir uns wohl alle des Eindruks nicht erwähren, daß eben diese unsre gegenseitigen Verhältniße unter einander und unser Thun in denselben auf eine ausgezeichnete Weise dadurch geheiligt ist, daß der Erlöser auch seine übermenschlichen und göttlichen Kräfte an dieselben gewandt hat, und daß eben deßwegen die Art wie er dabei gehandelt, uns ganz vorzüglich zu seiner Nachfolge ermuntern muß. Aus diesem Gesichtspunkte denn laßt uns auch dasjenige betrachten, was unser heutiges Evangelium uns von dem Erlöser erzählt. Wir bitten zu | dieser Betrachtung Gott um seinen Segen und um den Beistand seines Geistes, wenn wir die beiden ersten Verse gesungen haben aus dem bekannten Liede Herr Jesu Khrist dich zu uns wend pp. Mark. VIII, 1–9 Zu der Zeit, da viel Volks da war, und hatten nichts zu eßen, rief Jesus seine Jünger zu sich und sprach zu ihnen: mich jammert des Volks, denn sie haben nun drei Tage bei mir verharret und haben nichts zu eßen; und wenn ich sie ungegeßen von mir heim ließe gehen, würden sie auf dem Wege verschmachten. Denn etliche waren von ferne gekommen. Seine Jünger antworteten ihm: woher nehmen wir Brod hier in der Wüste, daß wir sie sättigten. Und er fragte sie, wie viel habt ihr Brote? Sie sprachen: sieben. Und er gebot dem Volk, daß sie sich auf die | Erde lagerten. Und er nahm die sieben Brote und dankte und brach sie und gab sie seinen Jüngern, daß sie dieselbigen vorlegten; und sie legten dem Volk vor. Und sie hatten ein wenig Fischlein, und er dankte und hieß dieselbigen vortragen. Sie aßen aber und wurden satt, und hoben die übrigen Broken auf sieben Körbe. Und ihrer waren bei viertausend die da gegeßen hatten, und er ließ sie von sich. Wenn wir m. g. F., diese Handlung unsers Erlösers mit den meisten der übrigen, wo er seine wunderthätige Kraft an den Menschen bewies, vergleichen, so finden wir einen bedeutenden Unterschied. Gewöhnlich wird der 20–21 Vgl. Liederblatt, Lied unter der Predigt (unten Anhang)

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Erlöser von den Leidenden und Hülfsbedürftigen und von denen welchen die Sorge für sie | oblag angelegen und um seine Hülfe gebeten, und dann versagte er sich nicht den Leidenden seines Volks. Hier finden wir nicht, daß von Seiten des Volks, welches ihn umgab, irgend eine Bitte gegen ihn wäre geäußert worden, daß sie ihm ihre Bedürfniße und ihre Wünsche selbst vorgetragen hätten, sondern frei und gleich aus eigenem Antrieb that er was er that. Aber dann waren es auch gewöhnlich wirkliche Leiden des Leibes und der Seele, um deretwillen die Hülfe des Erlösers angerufen wurde, langwierige körperliche Gebrechen, Krankheiten des Gemüths, und was sonst fühlbar und drükend den Menschen in dem irdischen Leben quält. Hier war auch ein solches wirkliches und dringendes Leiden, welches die Aufmerksamkeit des Erlösers von selbst auf sich gezogen hätte, nicht vor|handen. Denn wenn gleich unser Text sagt, es sei ihm bange gewesen, sie möchten unterweges verschmachten, wenn gleich die Erzählung sagt und er selbst sagt, sie hätten nichts zu eßen gehabt; so scheint doch in dem Volke selbst diese Besorgniß auf eine solche Weise, daß es ihm wirklich zum Leiden gereicht hätte, nicht vorhanden gewesen zu sein, sondern unsre ganze Erzählung lautet so, daß wenn der Erlöser nicht gethan hätte was sie beschreibt, das Volk selbst würde gerade zu den Seinigen gegangen sein, und gesehen haben wie sie sich unterweges bis an das Ziel ihrer Wanderschaft durchhelfen würden. Auch war in der That jene Gegend, wenn sie gleich in unsrer Erzählung eine Wüste genannt wird, nicht so weit von der Wohnung andrer | Menschen entfernt, daß sie nicht, wenn das Bedürfniß auf den höchsten Gipfel gestiegen wäre, Menschen in der Nähe angetroffen hätten, die bereit gewesen wären ihrer Noth abzuhelfen. Wir müßen also diese That unsers Erlösers in der Hinsicht von den meisten seiner Wunder unterscheiden, daß er sie nicht verrichtet hat, um einem wirklichen Leiden der Menschen abzuhelfen, sondern damit wenn die Besorgniß in ihnen aufstiege, sie auch von dieser nicht gequält würden, ihr Gemüth davon zu befreien, und sie so in einer freudigen und gestärkten Stimmung der Seele von sich zu laßen. Auf ähnliche Weise, m. g. F., theilen auch wir was aus der Liebe unsers Herzens gegen unsre Nächsten entsteht. Denn ein anderes ist hülfreiche christliche Milde, die auf alle Weise sucht den Leiden unsrer Brüder | abzuhelfen; aber ein anderes ist was auch wir wie der Erlöser thun, weniger um Leiden abzuhelfen, als um drükenden Gedanken und Empfindungen zuvorzukommen, und aus freudigem und fröhlichem Herzen die Herzen unsrer Brüder zu erfreuen und zu erquiken. So laßt uns denn die Erzählung unsers Textes aus diesem Gesichtspunkte betrachten und sehen, wie wir in allem was hieher gehört dem nachahmen müßen was wir in dem Beispiel unsers Erlösers finden. Wir haben dabei besonders auf zweierlei zu achten, erstlich wie diese Handlung des Erlösers entstand, und dann zweitens auf welche Art und Weise er sie ausführte. Zu beidem schenkt mir jezt eure khristliche Aufmerksamkeit.

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I. Wenn wir zuerst fragen, wie kam denn der Erlöser dazu eine solche Veranstaltung zu treffen, daß das viele Volk, welches ihn umgab, nicht ungegeßen von ihm sich zerstreute? so müßen wir sagen, wenn | wir an das denken was wir von sonsther von seinem Zusammensein mit einer großen Menge von Menschen wißen, und wenn wir auch diese Erzählung in ihrem natürlichen Zusammenhang betrachten, daß eine geistige Wirksamkeit des Erlösers auf das Volk welches ihn umgab, und zwar eine solche, die sich auf ihre wirklichen und fühlbaren Bedürfniße und Leiden bezog, vorangegangen war. Der Erlöser sagt, das Volk sei nun schon drei Tage bei ihm gewesen. Weßhalb denn war es so lange bei ihm gewesen? was hatte er und das Volk mit einander in diesen drei Tagen gethan? Gewiß nichts anders als was er immer that; er hatte sie gelehrt von dem Reiche Gottes, und was sie bei sich gehabt von Hülfsbedürftigen, von Kranken und Leidenden, denen war er mit seiner übernatürlichen wunderthätigen Kraft | zu Hülfe gekommen, und so hatte dies gewiß den Raum jener drei Tage ausgefüllt. Auf ihre Seelen hatte er zu wirken gesucht durch das Wort der Weisheit und Wahrheit aus seinem Munde, und auf die Leidenden und Bedrükten unter ihnen hatte er gewirkt durch das wunderthätige Wort seines Mundes; und erst nachdem dieses geistige Werk der Noth vollbracht war, dachte seine Seele daran das Volk auch noch vor dem Abschiede zu erfreuen. Das also, m. g. F., sei das Erste was wir dem Erlöser nachahmen in alle dem, was auch wir jeder nach seinem Vermögen in dem Kreise, in welchen wir gestellt sind, so gern thun mögen um die Herzen unsrer Brüder zu erfreuen. Nur daraus entsteht uns selbst das Recht dazu, nur darauf beruht unser gutes Gewißen vor Gott dabei, wenn eine geistige Wirksamkeit vorangegangen ist, und wenn, ehe das menschliche Herz erfreut | und erquikt wird sei es auch mehr auf eine leibliche Weise vorher schon gesorgt ist für das was wirklich drükende Noth und Elend ist im menschlichen Leben. Das Lezte, m. g. F., das wird ein Jeder so bestimmt fühlen und so deutlich einsehen, daß es nicht nöthig ist etwas darüber zu sagen. Wer wollte wohl, ich will nicht sagen sich selbst aber seine Brüder, die von keiner gegenwärtigen Noth leiden, erfreuen und erquiken, aber den der wirklich Noth leidet verschmachten laßen, ohne wo es geschehen kann ihm auf eine hülfreiche Weise zuvorzukommen. Das würde eine solche ungewöhnliche Härtigkeit des Herzens verrathen, daß wir auch das, was auf die vielbethätigenste Weise geschieht, schwerlich einer khristlichen Liebe zuschreiben. Aber das Erste, daß bei uns wie bei dem Erlöser eine geistige Wirk|samkeit vorangegangen sein muß, ehe es Recht sein kann und Gott wohlgefällig, daß wir das Herz unsrer Brüder auf eine leibliche und irdische Weise erquiken, das könnte wohl manchem zu streng erscheinen, und als eine Foderung die nicht jeder zu erfüllen im Stande wäre. Denn wie viele, so könnte man sagen, giebt es unter uns, die sich einer geistigen Wirksamkeit auf ihre

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Brüder rühmen können? wie viele giebt es unter uns ich will nicht sagen denen das Amt und der Auftrag von der menschlichen Gesellschaft geworden ist belehrend und leitend ihre Brüder zum Guten zu führen, und die Thätigkeit ihres Lebens dem geistigen Wohl derselben zu widmen, sondern denen dazu von Gott die nöthige Kraft und die äußere Bedingung gegeben ist? wie viele sind nicht, die ganz | und gar ihre Thätigkeit und ihre Kräfte den äußern Bedürfnißen weihen müßen? Aber, m. g. F., so ist nicht die Lage des Menschen in der Welt ursprünglich, und am wenigsten die des Khristen, der von dem göttlichen Wort erleuchtet ist, daß nicht alle sich sollten zu rühmen und zu freuen haben einer geistigen Wirksamkeit, die sie auf ihre Brüder ausüben. Denn das, m. g. F., liegt in eines Jeden Beruf, und jeder soll seinen Beruf zugleich in diesem Sinne und auf diese Weise betreiben. Gehört nicht jeder unter uns, sei es nun auf eine unmittelbare Weise wie die meisten, oder doch auf eine entfernte einer häuslichen Gesellschaft an, und ist nicht in dieser beständig eine geistige Wirksamkeit auszuüben von jedem nach dem Maaße seiner Kräfte auf jeden? Sobald der | Mensch dahin gelangt ist, daß er das Wort Gottes verstehen kann, daß es sein Herz zu erregen und zu erfüllen vermag, sobald das Herz von der Kraft des göttlichen Geistes ergriffen ist, so sollen und müßen überall geistige Wirkungen von ihm ausgehen, denn er wäre sonst ein todtes und unnüzes Glied an dem großen Leibe des Herrn, dem wir alle angehören. Und so hat jeder unter uns schon in seinem natürlichen Beruf eine geistige Wirksamkeit auszuüben. Aber wenn wir auch auf unsern bürgerlichen Beruf in dem menschlichen Geschlecht, in der menschlichen Gesellschaft sehen, den jeder so betreibt, daß er dadurch auf der einen Seite dem gemeinsamen Wesen dient, auf der andern sich selbst und die Seinigen versorgt: so ist | nicht zu leugnen, daß vieles darin mehr in äußern Handlungen besteht als in geistiger Wirksamkeit. Aber auch hier soll das Wort des Herrn unsern Pfad erleuchten, und wir sollen geschikt sein, um jenes Dunkel, als ob wir dienten der äußeren Nothwendigkeit, zu zerstreuen. Wie? giebt es irgend eine Thätigkeit der Art, die der Mensch verrichten könnte ganz allein ohne daß er mit andern in Verbindung steht? Gewiß nicht. So wie wir nun in diesem oder jenem Werke unsers Berufs mit andern verbunden sind, so üben wir eine geistige Wirksamkeit auf sie aus. Sind wir unveränderlich und treu in unserm Geschäft, so werden wir auch sie aufregen. Umfaßen wir es mit klarem Blik, so werden wir | auch sie erleuchten. Gehen wir ihnen mit dem Beispiel einer geübten Fertigkeit vor, so werden wir auch ihren Antheil leicht machen können. Und das alles, und jedes gute Beispiel welches in der Thätigkeit unsers Berufs beobachtet werden kann, und jede Hülfe die geleistet werden kann in der selben, und jede würdige Ansicht davon, die sich aus20–21 Vgl. 1Kor 12,27; Eph 5,30

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spricht in unserm Thun und in dem Geist und Sinn, mit welchem wir das Geschäft verrichten: es ist eine geistige Wirksamkeit; die wir auf andre ausüben. Und darum darf und kann sich niemand damit entschuldigen, daß ihm nicht zugemuthet werden könnte, wie der Erlöser es that, erst dann das Herz seiner Brüder zu erfreuen, wenn er eine geistige Wirksamkeit auf sie geübt hat; denn das sollen wir alle in unserm natürlich menschlichen und uns angewiesenen bürgerlichen Beruf. Das Zweite aber, was wir in | der Erzählung unsers Textes hieher Gehöriges bemerken, ist daß der Erlöser nicht daran gedacht haben würde, das um ihn versammelte Volk auf eine sinnliche Weise leiblich zu erfreuen und zu erquiken, wenn nicht in seiner Seele eine zarte Besorgniß über das Bedürfniß, welches entweder schon in demselben entstanden war, oder bald fühlbar sein würde, aufgegangen wäre. Das ist der Bewegungsgrund, den unser Text selbst angiebt. Als nun das Geschäft des Erlösers vollendet und das Maaß seiner Kräfte erschöpft war, und er das Volk von sich laßen mochte, da entstand in ihm die Besorgniß, es möchte ihnen zu schwer werden ohne Stärkung der leiblichen Kräfte den Rükweg von da wo sie sich jezt befunden bis in ihre Wohnung zu vollenden; und mit dieser Besorgniß im Herzen | wollte er sie nicht von sich laßen. Nicht am Anfang that er das, nicht mit leiblicher Erfrischung und Erquikung fing er sein Zusammensein mit ihnen an; ja auch am Ende fügte er diese Erquikung nur deshalb hinzu, weil eine solche Besorgniß ihm gekommen war; denn wo dazu kein Grund ist, da sehen wir von wenigen oder vielen Menschen ihn scheiden ohne daß wir etwas Aehnliches bemerken. Und dies, m. g. F., ist denn das Zweite, worin wir dem Erlöser ähnlich werden müßen, daß nämlich unser herzliches Bestreben unsre Brüder zu erquiken und zu erfreuen, nur dann Gott wohlgefällig sein kann, wenn es mit dem Gefühl, welches der Erlöser hatte, mit dem Gefühl von der Erschöpfung der menschlichen Kräfte und der Nothwendigkeit diese zu erregen und zu erneuern, | näher oder entfernter zusammenhängt. Was wir, m. g. F., so oft tadeln bei dem was in der menschlichen Gesellschaft immer mehr aus dem Bestreben andrer Gemüther zu erfreuen und zu erquiken hervorgehen soll als aus der eigenen sinnlichen Lust, aber was wir dabei so oft tadeln, das hat darin seinen Grund, daß auch die Khristen in diesem Stük ihrem Erlöser nicht so ähnlich sind, wie sie es billig sein sollten. Wenn wir so oft die Klage hören, daß dem Bestreben die menschlichen Kräfte durch Freude und Vergnügen zu erneuern und zu stärken nachgegangen wird, ohne daß sie wirklich durch eine pflichtmäßige Thätigkeit erschöpft wären, wenn wir darüber klagen, wie so mancher durch Reizungen hierzu von dem Wege seiner Pflicht und seiner berufsmäßigen | Thätigkeit abgezogen wird; wenn wir darüber klagen, wie dadurch die Sucht zu eiteln Vergnügungen und zu leeren Freuden gewährt wird, und nach allen Richtungen in der menschlichen Gesellschaft sich ausbreitet: es kommt nur daher. Denn wenn in größern Versammlungen, die Menschen sich unter einander erquiken und er-

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freuen, so muß doch von einigen oder mehreren der Anfang dazu gemacht sein und die Anregung dazu ausgehen. Handelte nun Jeder wie der Erlöser, sie nur zu geben und ihnen nur zu folgen, wenn das Maaß menschlicher Kräfte durch eine berufsmäßige Thätigkeit erschöpft zu sein scheinen könnte, eben deshalb weil je länger wir fortfahren in einer angestrengteren Thätigkeit, um desto weniger wir werden Zeit darauf verwenden können, und die menschliche Vergänglichkeit uns mahnet, daß es Zeit sei unsre Kräfte zu schonen, ihnen Ruhe zu verstatten, und dem | ganzen Menschen zu geben, woran er sich erfreue – thäten wir das, würde jeder dabei nur von diesem zarten Mitgefühl getrieben und beseelt, welches den Erlöser bei dieser Gelegenheit leitete: o dann würde keiner in dieser Beziehung dem andern zur Versuchung und zum Fallstrik gereichen, und so manches Aergerniß würde weniger sein in der Gesellschaft der Khristen; dann würde keiner sich hinterher den Vorwurf zu machen haben, daß, wenn er gleich nicht mit bestimmter Absicht der sinnlichen Lust seiner Brüder geholfen hat, sondern nur in der Meinung das Erfreuliche und Angenehme ihnen zu bereiten, aber keiner würde sich den Vorwurf zu machen haben, auch er habe Veranlaßung gegeben zu der falschen und irrigen Vorstellung, als wenn die geselligen Freuden etwas Beßeres wären und mehr Werth hätten | als die angestrengte Thätigkeit des Menschen, und daß das Leben auf eine würdige Weise zusammengesezt sein könne fast nur aus jenen ohne diese. Folgten wir, m. g. F., dem Erlöser in diesem fest, daß die Neigung das Herz unsrer Brüder zu erfreuen, und uns mit ihnen zu stärken und zu erquiken, nur auf eine solche Weise nach einer berufsmäßigen Thätigkeit und Anstrengung, und nur von dem natürlichen Gefühl aus, daß die menschlichen Kräfte der Erneuerung bedürfen, ausgeht: so würde auch dieser Theil des menschlichen Lebens dem khristlichen Geist und Sinn, der uns beseelen soll, überall angemeßener und entsprechender sein. II. Aber nun laßt uns in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung sehen, wie der Erlöser diese Handlung der Menschenfreundlichkeit, zu der er so angetrieben | wurde, wirklich ausgeführt hat. Und da ist das Erste wohl, womit wir beginnen müßen, dies, daß der Herr auch dies auf Gott bezogen hat. Denn als er seine Jünger geheißen hatte, sie sollten das Volk sich lagern laßen, und er hatte vor sich hinbringen laßen was sie bei sich hatten an Speise und Trank: da nahm er es und dankte, und also vertheilte er es unter die Jünger, daß sie es dem Volke gäben, und mit dem Gedanken an Gott begann er auch diese Handlung, so wie er ohne diesen nie etwas verrichtet hat. Und auch darin, m. g. F., sollen wir ihm ähnlich werden, denn es ist etwas Großes und Wichtiges darin. Und wahrlich wir folgen seinem Beispiele schlecht, wenn wir ihm dadurch zu folgen glauben, daß auch wir, so oft wir uns versammeln um irdische Speise und Trank zu genießen zur Stär-

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kung unsres Leibes, diese Handlung | mit dem Gebet zu Gott anfangen. Denn auch das freilich ist löblich und nöthig, wenn es Ernst damit ist, und es nicht zu einer bloßen leeren Gewohnheit geworden ist, die eine bestimmte Heiligkeit und Würde verrathe, sondern auch das Herz seinen Antheil daran hat. Aber was der Erlöser hier thut, das kann auch geschehen ohne dieses, aber dann wird es auch dadurch keines weges erschöpft. Denn darin daß er die Austheilung mit einem lauten Gebet des Dankes zu Gott anfing, darin folgte auch er einer schon vor ihm und ohne ihn bestehenden Sitte seines Volkes. Aber freilich hat er uns auch diese durch sein Beispiel geadelt und geheiligt; und Jeder möge, sobald er daran denkt, sich selbst fragen, ob was er Ähnliches in einem gleichen Falle thut auch ihm eben so aus dem | Herzen kommt, auch ihm eben so werth ist, eben so aus dem Mittelpunkt der Seele hervorgeht wie bei dem Erlöser, in dem wir uns überhaupt keine gedankenlose Gewohnheit, am wenigsten in dem was mit seinem Vater in der genauesten Verbindung stand, denken sollen. Denn so oft er zu Gott betend Speise und Trank genoß mit den Seinigen, o so oft war auch in ihm der Gedanke an seinen himmlischen Vater, von dem er die Gaben empfing, gewiß wahr und lebendig. Und dies sei unser Vorbild. Aber das kann auch geschehen, der Gedanke an Gott kann bei jeder leiblichen Gabe, die wir genießen, wahr und lebendig sein in uns, und wir können gewiß sein, daß er in denen, die sich mit uns zu demselben Zweke vereinigen, eben so wahr und | lebendig ist, ohne daß wir ihn laut werden laßen; denn das ist das Äußerliche und Zufällige dabei. Aber auch mehr sollte mir es leid thun, wenn Jemand glauben könnte, daß er dadurch dem Beispiel des Erlösers genügte. Denn dem Volke Speise darzureichen war nicht sein Zwek, sondern nur ein Mittel, deßen er sich bediente, und wodurch er seinen Zwek, die Aufrichtung ihres Muthes und die Erneuerung ihrer Kräfte zu erreichen hoffte. Und so müßen wir was er hier that, auf alles anwenden was wir thun, um uns in der Gesellschaft unsrer Brüder zu erheitern, um uns von den Sorgen der Geschäfte zu erleichtern, um Muth und frischen Sinn aufs neue in uns zu beleben; und was wir in diesem | Sinne thun, das sollen wir mit Gott beginnen; und nur dadurch daß wir dies überall thun, folgen wir dem Beispiel des Erlösers. O, meine g. F., thäten wir dies alle, dann würden auch alle unsre irdischen Freuden rein sein; denn wie könnte der Mensch irgend etwas, wobei sein Gewißen nicht rein wäre, mit dem Gedanken an Gott beginnen! wie wäre es möglich, daß wir in irgend etwas diesen hineintragen könnten, wobei uns ein dunkeles Gefühl oder ein bestimmtes Bewußtsein begleitete, daß etwas Sündiges damit verbunden wäre? Und nicht nur von der Beschaffenheit unsrer gemeinsamen Freuden gilt dies, sondern auch von dem Grade, in dem wir sie genießen, | und sie unsre Seele beschäftigen. Ja müßen wir uns selbst sagen, müßen wir von uns fürchten, wir würden uns so von ihnen fortreißen laßen, daß dabei die Ruhe und Besonnenheit unsers Geistes verloren ginge, daß wir anstatt erheitert und

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ermuntert zu werden nur unlustig und verdroßen gemacht würden zur Erfüllung unsrer Pflichten, müßen wir das besorgen: o dann werden wir die freudigen Stunden, die Stunden der Erholung in unserm Leben, unmöglich mit dem Gedanken an Gott beginnen und verleben können, nicht anders wenigstens als daß er uns ein warnendes Zeichen sei uns zurükzuhalten von gefährlichen Übereilungen, als daß uns durch denselben das Maaß wiedergegeben würde in unsrer Seele, welches wir | fürchten verloren zu haben. Aber vorzüglich denke jeder, der sich in dem Fall des Erlösers befindet, Stärkung und Erquikung seinen Brüdern darzureichen, daß er es thun kann und soll mit dem Gedanken an Gott; und diesen können wir uns nicht denken als etwa vorhergehend vor dem was uns zur Erfreuung und Stärkung gereichen soll, denn er kann nicht auf eine vorübergehende und flüchtige Weise in unsrer Seele erregt werden, sondern so wie er uns streng genommen nie verläßt, weil die menschliche Seele ohne das Bewußtsein von ihrem Schöpfer nicht gedacht werden kann, so ist auch jede Erregung deßelben nichts anders als nur ein neues kräftigeres Hervorrufen; und so muß, wenn der Gedanke an Gott einmal wieder erregt ist in der Seele, er ihr gegenwärtig | bleiben, und nur allmälig kann er in den Hintergrund geschoben werden, und dann entsteht in jedem frommen Gemüth das Streben ihn wieder zu erneuern. Fangen wir unsre geselligen Freuden und Erquikungen mit dem Gedanken an Gott an, so muß er uns mitten in dem Genuß gegenwärtig bleiben, so muß nichts in uns sein, was in der Seele den Gedanken an Gott unterdrükt, so muß unsre Stimmung diese sein, daß, indem wir unseren Brüdern darreichen was ihnen zur Stärkung und Erquikung dient, wir uns auch vor Gott freuen können, und mit fröhlichem Sinne die Lasten des Lebens tragen. Bedenken wir dies, und machen uns dies zum Gesez, dann werden wir nie dadurch, daß wir suchen unsre Brüder zu erfreuen, etwas Sündliches in ihnen erregen, wovon die Schuld und Verantwortung | auf uns zurükfiele. Das Zweite, was in der Erzählung unsres Textes so deutlich ausgesprochen ist, ist die bewundernswürdige Ordnung und das Maaß, welches wir in dieser Handlung des Erlösers erbliken. Eine große Menge von Menschen viertausend waren um ihn her versammelt; und wie vorher ihre Stille und Aufmerksamkeit, die andächtige und gleiche Richtung ihrer Seele auf ihn allein es ihm möglich machen konnte sie zu lehren und den Leidenden unter ihnen zu helfen, so mußte nun hier, wo es darauf ankam sie zu erfreuen, die Ordnung von ihm ausgehen, das Maaß von ihnen. Und so lesen wir, daß er seinen Jüngern den Auftrag gegeben dem Volke zu befehlen, daß es sich lagere in gewißer Zahl | und Ordnung, damit ein Überblik des Ganzen und so eine Anschauung jedes Einzelnen möglich wäre. Das war die Ordnung die der Erlöser feststellte, wodurch bei einer so großen Anzahl von Menschen allem des Menschen unwürdigen Getümmel gesteuert wurde. Aber das Maaß das ging von ihnen aus. Unser Text erzählt uns, daß

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nachdem das Volk sich gelagert, und der Herr das Gebet gesprochen, und seine Jünger die Speise vorgelegt und ausgetheilt, und das Volk sich gesättigt, so wurden noch aufgehoben die übrigen Broken sieben Körbe voll. Dies, m. g. F., ist uns eine erfreuliche Betrachtung, wenn wir sie uns recht vor Augen stellen. Denn es wäre Unrecht, wenn wir bloß verweilen wollten bei dem was | außerordentlich und wunderthätig ist bei dieser Handlung. Denn freilich wenn der Erlöser mit einem so geringen Maaße wie hier erzählt wird im Stande war das Volk zu sättigen und zu erquiken, so hätte freilich noch eine unendliche Menge übrig bleiben können; und darum ist dies nicht geschrieben um uns die Handlung des Erlösers in einem wunderbaren Glanze darzustellen, sondern deßwegen ist es geschrieben, damit wir einsehen, der Erlöser sei nicht im Stande gewesen eine solche Handlung, die darauf abzwekte, das Volk speisend zu erfreuen, anders als so zu verrichten, daß ein verständiges Maaß deutlich darin zu schauen sei – denn nur in dieser Vergleich|ung kann dieses Maaß uns erscheinen – und um uns davon einen bestimmten Eindruk zu geben, darum ist es so und nicht anders geschehen, darum ist es so und nicht anders beschrieben worden. Und gewiß, m. g. F., müßen wir es alle fühlen wie wesentlich das ist, und wie nur, wenn zugleich ein gewißes Maaß beobachtet wird, alles andre neben einander bestehen und Statt haben kann. Denn der Gedanke an Gott und das Vermögen diesen festzuhalten, o der muß gleich verloren gehen, wenn das richtige Maaß der Weisheit und Besonnenheit in dem was das menschliche Herz erfreut überschritten wird. Und wie jede Handlung dieser Art nur hervorgehen soll aus dem gefühlten Bedürfniß der Erholung nach der Anstrengung und der Stärkung nachdem was unser Leben geschwächt: | so kann ja dem Gefühl, von welchem das Vergnügen ausgegangen ist, nur genügt werden, wenn in der Stärkung und Erquikung selbst das richtige Maaß ist. Denn wo dies nicht ist, da gereicht der Genuß nicht zur Erquikung und Stärkung, sondern würde nur eine neue Schwächung der Kräfte und eine angreifende Thätigkeit des Lebens verursachen. Und eben so, wie kann uns bei dem Genuß unsrer gemeinsamen Freuden und Erquikungen das Zurükschauen auf unsre geistige Wirksamkeit, auf alles was wir zu thun haben in der Welt um das Reich Gottes zu fördern, wie kann uns diese Rüksicht erfreulich sein und erheiternd – und sie müßte es doch, so von hier die Sache ausgegangen ist – wenn wir das Maaß nicht beobachten. Denn so wir das Maaß | verfehlen, so geht das richtige Verhältniß verloren zwischen dem was uns stärken und erfreuen soll, und dem Gebiet unsrer Pflicht und unsrer Wirksamkeit. Statt uns diese zu erleichtern, erschweren wir sie uns dann, statt von Liebe zu ihr erfüllt zu werden werden wir dann davon abgezogen. So ist dies, daß überall das richtige Maaß beobachtet wird in dem was uns erfreuen und stärken soll, dasjenige worauf alles andre beruht, so wie es das ist woran man erkennen kann, ob die sinnliche Erquikung auf eine geistige und Gott gefällige Weise genoßen worden. Denn

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nur dadurch daß die verschiedenen Theile des menschlichen Lebens in dem von der Natur selbst angelegten Verhältniß stehen, nur dadurch können wir erreichen, daß sich in unserem Leben die göttliche Milde und Liebe offenbart. | Denn wo dieses Maaß nicht ist, da entsteht eine Verringerung und Störung in der menschlichen Natur da kann die menschliche Natur nicht mehr in ihrer Ursprünglichkeit sein, da ist das Verhältniß aufgehoben. Das rechte Maaß kann nur hervorgehen aus einem reinen Bewußtsein, aus einem solchen dem beständig das Ganze seines Daseins und der Umfang der Bestimmung des Menschen auf Erden gegenwärtig ist. Nur in ein Gemüth kann ein solches Maaß sich einfügen, welches gewohnt ist alles auf das Bewußtsein Gottes und auf das Streben ihm wohlgefällig zu sein zurükführt, so wie dieses uns nie hinderlich sein kann, wo es ankommt darauf uns zu erheben und zu stärken nach der Anstrengung unsrer Kräfte; denn wie würde es sonst der Erlöser gethan haben! So ist es dieses allein, wodurch alles auf eine Gott wohlgefällige Weise in uns erhalten | werden, und auf eine richtige Weise verbunden sein kann. So, m. g. F., ist uns auch hier, wo wir es am wenigsten zu erwarten geneigt sind, der Erlöser ein erfreuliches und reines Vorbild gewesen. Hätte er sich in einem so strengen Leben, wie sein Vorläufer gethan, von dem was in der menschlichen Gesellschaft nothwendig ist, zurükgehalten, hätte er an den Freuden der Menschen keinen Theil genommen, so würde uns etwas Wichtiges in der khristlichen Kirche zur Leitung unsers Lebens fehlen nach dem Sinn des Erlösers. Denn wie sehr dies in das Ganze des Lebens eingreift, davon muß jeder ein lebendiges Gefühl haben, der sein eigenes Leben im Zusammenhange überschaut. O so mögen wir Gott auch besonders danken dafür, daß der Herr uns auf diese Weise geworden ist ein Vorbild, welchem nachfolgend wir erlangen können, daß alles was wir thun um unsre Brüder zu | erquiken und zu erfreuen, uns immer mehr zur Heiligung und ihm immer mehr zum Preise gereichen kann. Amen.

[Liederblatt vom 16. Juli 1820:] Am 7ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Salomo etc. [1.] Herr lehr’ mich thun nach deinem Wohlgefallen, / Dein guter Geist führ’ mich auf ebner Bahn, / Durch ihn laß Weisheit mich und Kraft empfahn, / Stets unverrückt den rechten Weg zu wallen, / Dir immer mehr, o Vater, zu vertraun, / Und stets mit Lust auf dein Gebot zu schaun. // [2.] Kein Heuchelschein, kein unbeständig Wanken / Verführe meinen Geist! Aufrichtigkeit / Und rechter Ernst sei meine Frömmigkeit. / Ja alle Triebe, Wünsche und Ge-

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danken, / Sie sollen dir, nur dir geheiligt sein, / Mein ganzes Herz sey wie mein Leben rein. // [3.] O möcht’ ich recht das schwache Herz bewachen, / Wenn eitle Lust und Thorheit mich umgiebt! / Und wenn Versuchung meine Treue übt, / So reiche du die starke Hand dem Schwachen! / Lockt die Begier, lockt Eitelkeit der Welt, / Dann gieb mir Muth zu thun was dir gefällt. // [4.] Daß du mein Gott stets nahe bist uns Allen, / Daß du auch mir allgegenwärtig bist, / Daß deinem Auge nichts verborgen ist, / Das zieh mich ab in Sünde nicht zu fallen! / Vergessen laß mich was vergänglich ist, / Mich immer fühlen daß du Vater bist. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Christus der uns etc. [1.] Heilig, heilig ist das Band, / Das die Menschen bindet, / Ist geknüpft von dessen Hand / Der die Welt gegründet, / Ist geknüpft, daß besser mir / Seine Welt gefalle. / Einen Schöpfer haben wir, / Einen Vater Alle. // [2.] Er ist’s der uns Himmelsbrod, / Geisteskräfte giebet, / Der im Glück und in der Noth / Einerlei uns liebet, / Dessen Mild’ und Gütigkeit / Hält die Fürstenthronen, / Der mit gleicher Lieb’ erfreut / Die in Hütten wohnen. // [3.] Wohl mir! auch auf mich sein Kind / Schauet er hernieder! / Um mich her die Menschen sind / Alle meine Brüder. / O wie könnt’ ich ihn mit Lust / Meinen Vater nennen, / Fühlt ich nicht in meiner Brust / Brudersinn entbrennen. // [4.] Regte sich mir nicht das Herz / Bei des Nächsten Leiden; / Blieb ich kalt bei seinem Schmerz, / Kalt bei seinen Freuden: / Könnt ich dann wol frölich sein? / Einsam und verlassen, / Würd’ ich erst die Menschen scheun, / Dann mich selber hassen. // [5.] Brüder! nein, dies Herz soll nie / Sich vor euch verschließen! / Freundlich will ich spät und früh / Eure Müh versüßen. / Alle, alle leben wir / Um uns zu beglücken; / Doch ihr steht noch näher mir / Wenn euch Leiden drücken. // [6.] Immer will ich, wie ich kann, / Sie euch helfen tragen; / Kann ich’s nicht, so will ich dann / Tröstend mit euch klagen; / Dann sollt ihr an meiner Brust / Euren Gram verweinen, / Bis die Sonne neuer Lust / Euch ins Herz wird scheinen. // [7.] Heilig, heilig sei das Band, / Das schon hier uns bindet, / Und noch einst im Vaterland / Reine Freuden gründet! / Wandelt liebreich eure Bahn / Durch das Weltgetümmel, / Menschen strebt zu Gott hinan, / Strebt nach einem Himmel. // (Cramer.) Unter der Predigt. – In bekannter Melodie. [1.] Herr Jesu Christ dich zu uns wend, / Deinen heil’gen Geist du zu uns send! / Mit Hülf und Gnaden uns regier, / Und uns den Weg zur Wahrheit führ’. // [2.] Thu auf den Mund zum Lobe dein, / Bereit das Herz zur Andacht fein, / Den Glauben mehr’, stärk den Verstand, / Daß uns dein Nam’ werd’ wohl bekannt! // Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der etc. Herr Jesu du stellst selbsten dich / Zum Vorbild wahrer Liebe; / Verleih daß treu dir folgend ich / Auch Lieb’ am Nächsten übe! / Mein ganzes Herz gehört nur dir, / So gieb denn Kraft zu lieben mir, / Du Schöpfer reiner Triebe! //

Am 23. Juli 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 7,51–59 Nachschrift; SAr 75, Bl. 41r–61r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 52–66 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 53, Bl. 32r–41r; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 64r–66r; Woltersdorff Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am achten Sonntage nach Trinitatis am dreiundzwanzigsten Heumonds. |

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Tex t. Apostelgeschichte VII, 51–59. Ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren, ihr widerstrebet allezeit dem heiligen Geist, wie eure Väter also auch ihr. Welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und sie getödtet, die da zuvor verkündigten die Zukunft dieses Gerechten, welches ihr nun Verräther und Mörder geworden seid? Ihr habt das Gesez empfangen durch der Engel Geschäfte, und habt es nicht gehalten. Da sie solches hörten, ging es ihnen durchs Herz und bißen die Zähne zusammen über ihn. Als er aber voll heiligen Geistes war, sah er auf gen Himmel und sah die Herrlichkeit Gottes und Jesum stehen zur Rechten Gottes[, und sprach: Siehe ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn stehen zur Rechten Gottes]. Sie schrieen aber laut, und hielten ihre Ohren zu, und stürmten | einmüthiglich zu ihm ein, stießen ihn zur Stadt hinaus und steinigten ihn. Und die Zeugen legten ab ihre Kleider zu den Füßen eines Jünglings, der hieß Saulus. Und steinigten Stephanum, der anrief und sprach: Herr Jesu, nimm meinen Geist auf! Er kniete aber nieder und schrie laut: Herr behalte ihnen die[se] Sünde nicht! Und als er das gesagt entschlief er. Das, m. a. F., das war das Ende des ersten, der als ein Zeuge und ein Bekenner der Wahrheit des Evangeliums von den Händen menschlicher Gewalt den Tod empfing. Und wenn wir auf die ganze Geschichte der Gemeine des Erlösers sehen, auf welchem Wege sie von einem geringen Anfang zu |

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einem Heil so vieler Völker und Geschlechter gedrungen ist, so können wir es nicht leugnen, eben das Märtyrerthum ist ein wirksames und herrliches Mittel gewesen zu ihrer Verbreitung und Befestigung. Und darum ist dies ein wesentliches Glied in der Reihe von Betrachtungen, in welcher wir jezt begriffen sind. Es könnte freilich jemand sagen, nicht Stephanus, sondern der Herr selbst wäre der erste gewesen, der ein Zeuge und Bekenner dieser neuen heilbringenden Wahrheit des Evangeliums von der menschlichen Gewalt den Tod empfing. Aber, m. g. F., wiewohl er uns ermuntert ihn auch unsern Bruder zu nennen, indem er uns mit diesem Namen, begrüßt, so wagen wir doch nicht von heiliger Ehrfurcht gegen den durchdrungen, der der | Einige Sohn Gottes war, wir wagen es nicht irgend etwas was ein andrer Menschensohn gethan oder gelitten, mit seinem Thun und Leiden zu vergleichen. Gedenken wir seines Todes, so gedenken wir desselben als des Einen und ewigen heilbringenden Opfers für die Sünde, und fühlen es tief, welch ein Unterschied ist zwischen dem Tode der Zeugen und Bekenner und dem Tode deßen, den sie bekannt und dem sie Zeugniß gegeben haben. Aber wie er selbst gesagt hat in den Tagen seines irdischen Lebens, der Jünger sei nicht mehr als sein Meister, und der Knecht habe nichts Beßeres zu erwarten als sein Herr, so fühlen wir es denn, wie viel wir allerdings in der ganzen Sache des Khristenthums denen verdanken, die den Tod der Zeugen gestorben sind, | und wie der Apostel es sagt die Ergänzung der Leiden unsers Herrn erduldet haben. Darüber, m. g. F., laßt uns nach Anleitung dieses vorgelesenen geschichtlichen Abschnitts mit einander reden, über den hohen Werth des khristlichen Märtyrerthums. Dazu wird freilich zuerst gehören, daß wir uns darüber verständigen, was denn zu demselben gehört, und dann zweitens, daß wir über die Gründe und über die Nothwendigkeit desselben einverstanden werden. Das sind also die beiden Betrachtungen, zu denen mir eure khristliche Aufmerksamkeit folgen mag. I. Wenn wir nun zuerst fragen, m. g. Freunde was gehört denn zu dem wahren khristlichen Märtyrerthum? So muß | ich wohl zuerst eine beschränkende Vorstellung beseitigen, die indem sie den einen erhebt, den andern zu sehr zurüksezt und uns selbst muthlos machen möchte. Es ist nicht gerade der Tod von den Händen der menschlichen Gewalt, was den khristlichen Märtyrer bezeichnet. Denn so wie es auch schon für solche Menschen, die von dem ewigen Heil in Khristo noch fern sind, größere Übel giebt als der Tod, und manches was zu vermeiden sie lieber den Tod erdulden, so sehen wir daraus, daß der Tod nicht das Einzige und nicht das Höchste ist, wodurch derjenige bezeichnet und unterschieden wird, der alles wagt, und dem 18–19 Vgl. Mt 10,24; Lk 6,40; Joh 13,16

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nichts zu schwer ist und zu theuer im Dienste seines Herrn. Und das Märtyrerthum der | Schande, wo wir Ehre verdienten, das Märtyrerthum des Spottes, wo hohe Achtung allein die richtige Ausgleichung wäre, das Märtyrerthum jeder Zurüksezung, wo diejenigen, die voll sind von dem Geiste des Herrn und von der Liebe des Erlösers, vorangestellt werden sollten und ihnen gefolgt, das ist eben so sehr das Bekenntnißthum der Wahrheit wie der Tod für die Sache des Glaubens. Und wie überall in der heiligen Schrift dieser nur für das Sinnbild gebraucht wird, für den ganzen Inbegriff aller irdischen Übel, so auch, indem wir, wie wir diesen bezeichnet haben, die Märtyrer des Glaubens in denen denken, die für ihre Sache den Tod erduldet haben, so schließen wir daher mit Recht an ihre große Zahl alle diejenigen an, die in der Sache des | Glaubens erduldet haben was vielen andern Menschen geringer ist als der Tod. Also darauf, m. g. F., kommt es weniger an was erlitten wird im Dienst des Herrn, sondern wie. Und das ist nun das Erste, worin wir gewiß alle zusammenstimmen werden, soll ein Leiden in der That und Wahrheit ein Leiden sein um unsers Herrn willen und unsers Glaubens an ihn, so muß es aus dem freimüthigen Bekenntniß des Erlösers, seiner Lehre und seiner Sache auf eine natürliche Weise hervorgegangen sein. Unter der großen Zahl derer, von denen die bald mehr bald minder sichern und glaubhaften Geschichten aus der frühern Zeit der khristlichen Kirche reden, daß sie den Tod oder irgend ein anderes Leiden und Schmach in der Sache des Glaubens erduldet haben, unter diesen waren so | manche, die wir aus diesem reinen Verzeichniß der wahren Märtyrer des Glaubens vielleicht ausstreichen müßten, wenn uns die Umstände ihres Lebens und der Zustand ihres Gemüthes genau bekannt wären. O es gab darunter nicht selten ein sich Drängen nach Leiden, nach Martern und Tod, hervorgehend aus einer geheimen Eitelkeit, die einen leuchtenden und weit umher seinen Ruhm verbreitenden Tod einem dunkeln und unbekannten Leben vorzog; es gab darunter nicht selten ein sich Drängen kund zu werden als ein Bekenner des Khristenthums, wenn eben den Bekennern des Khristenthums Martern und Tod gedroht worden waren, aus einem leeren und eiteln Wahn, als wenn das Leiden deßwegen, weil man ein Khrist sei, an und für sich selbst etwas Verdienstliches sei bei Gott, ein Wahn der dem einigen und | ewigen Verdienst deßen, der uns erlöst hat, etwas entzog um es sich selbst zuzuwenden. Wo so menschliche Eitelkeit, strafbarer Fürwitz, irriger und wir müssen es gestehen, unkhristlicher und mit der Ehrfurcht gegen den Einen, dem allein Verdienst zukommt bei Gott, streitender Wahn ist, da ist kein Märtyrerthum des Glaubens. Nicht Leiden und Tod suchen sollen wir, denn wir sind ja schuldig die uns von Gott anvertrauten Gaben, so lange wir eine jede ohne sein heiliges Gesez zu übertreten zu benuzen im Stande sind, in seinen Dienst und in die Arbeit für seinen Weinberg hineinzuziehen. Aber wenn aus dem Bekenntniß der Wahrheit des Evangeliums, wozu alle Gläubigen verbunden sind, wenn aus dem allen Gläubigen

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natürlichen Wunsch auch andern die Segnungen des Heils in Khristo mitzutheilen, in | welchem ohne menschliche Begierde sich auf eine natürliche Art die Liebe zum Erlöser bekundet, wenn daraus von selbst hervorgeht das Leiden die Schmach der Tod: dann ist es offenbar bekennendes Leiden, ein Leiden für den dem wir alles hinzugeben schuldig sind, wie er uns alles gegeben hat. – Aber noch ein anderes Erforderniß des wahren Märtyrers leuchtet uns aus dem was wir eben mit einander gelesen haben in unserm Textesabschnitt von den lezten Worten des ersten Märtyrers, deutlich hervor. Wie er uns darin für alle Zeiten das Vorbild eines ächten Märtyrers gewesen ist, daß er sich nicht drängte zum Tode um des Evangeliums willen, sondern in dem unerschroknen und freimüthigen Bekenntniß welches er ablegte, in dem er sich bemühte belehrend und vermahnend die Menschen zum Glauben an den Erlöser zu bringen, wurde er vor den | hohen Rath seines Volks berufen, und auf diese Weise litt er begriffen in seinem Beruf den Tod für den Glauben, so ist er uns auch darin ein Vorbild aller künftigen Märtyrer des Glaubens gewesen, daß der Streit, in welchen er verflochten wurde mit der irdischen Gewalt, nicht beflekt ist durch irgend eine feindselige Bewegung seines reinen und liebenden Gemüths. Noch indem er seine Seele dem Herrn, den sie bekannt und geliebt hatte bis zum lezten, empfahl, waren es die süßen die lezten Worte des Sterbenden: Herr behalte ihnen die Sünde nicht! Und nur wer so eben so sehr als im unverfälschten Glauben auch in der unbeflekten Liebe in dem Dienst des Bekenntnißes des Evangeliums leidet und stirbt, nur der ist für einen wahren Märtyrer des Glaubens und der Liebe zu achten. Wen die feindseligen | Bewegungen der Feinde des Evangeliums, wen der Zorn der zornigen Verächter der ewigen Wahrheit anzusteken vermag, wer sich von denen, die weil sie selbstsüchtig sind im Innern ihres Herzens, auch feindselig werden gegen ihre Nächsten, verleiten läßt zu einer ähnlichen rükwirkenden Feindseligkeit, wer gegen die Feinde des Erlösers, die immer begriffen sind sich auf irgend eine Weise gegen ihn zu versündigen, Worte der Verwünschung ausspricht, oder einen ungerechten und unheiligen Wunsch auch nur still in dem Innern seines Herzens nährt; o der kann den reinen Ruhm derer die für die Sache des Glaubens gelitten haben und gestorben sind, nicht theilen. Wer Reue empfindet in den lezten Augenblikken über die Lieblosigkeit und Feindseligkeit, | zu der er sich hat hinreißen laßen; wer von der Feindschaft und von dem Zorn erst durch Schaam wieder zurükkehren muß zur Liebe: o dem muß sich das schöne reine Wort „Herr behalte ihnen ihre Sünde nicht“, in das verkehren in das wehmüthige „Herr behalte mir meine Sünde nicht“! Und wer, indem er fleischliche Gemüthsbewegungen in sich genährt hat, auf unreine Weise den Zorn der Gegner des Evangeliums sich zugezogen und befestigt hat, o der muß es fühlen und sich sagen daß er ganz oder halb wenigstens für seine Sünde, um seiner Sünde willen leidet und stirbt, und daß indem er duldet er sich nicht wahrhaft sagen kann, daß

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er um des Guten willen duldet, weil sein Dulden beflekt ist | durch das Böse, welches ihn bewegt hat. – Sehet da, m. g. F., das ist das wahre khristliche Märtyrerthum. Indem wir auf der einen Seite uns überzeugt haben, daß das Äußerste zu leiden von der menschlichen Gewalt und von der menschlichen Leidenschaft, wo es darauf ankommt den Herrn zu bekennen und sein Reich auf Erden zu bauen, daß das etwas Zufälliges ist, worüber wir nicht Herr sein können, weil was uns begegnen wird oder nicht in diesem großen Beruf, keineswegs das Wesentlichste sein kann, wenn wir gestehen müßen, daß alles Leiden um des Evangeliums willen denselben Werth hat an und für sich und in den Augen Gottes: o so öffnet sich | uns allen auf der andern Seite dieser heilige Kreis; und so lange der Kampf des Lichtes und der Finsterniß, der Kampf des Reiches Gottes und dieser Welt noch dauern wird, so lange können und sollen wir alle Theil nehmen an dem reinen und unbeflekten Ruhm derer, die sich selbst geopfert haben für die Sache des Evangeliums. Aber indem wir auf das Innere der Sache sehen, o so führt uns der hohe Ruhm und der herrliche Preis der reinen Märtyrer der Wahrheit, den wir auf ihre Leiden nothwendig legen mußten, in das Innere unsers eigenen Herzens zurük, weil wir an ihrem Ruhm Theil nehmen können, weil es wichtig ist um des Evangeliums willen zu leiden. Keiner überschreite je die Schranken seines Berufs, keiner sei voreilig, in | Trübsale zu gehen, welche ihm der himmlische Vater auf seinem Wege nicht zugedacht hat, jeder sei überall und besonders in der Gemeinschaft mit andern Menschen eingedenk der hohen Verpflichtung, die wir alle theilen, bereit zu sein zur Verantwortung Jedermann, und Rechenschaft abzulegen von unserm Glauben, aber auch den zu bekennen mit unserm Munde, deßen Name und Wahrheit tief in unserm Herzen leben soll; und reinige sich jeder je länger je mehr von allem Zorn, der nicht thut was recht ist vor Gott, von allen feindseligen Bewegungen des Gemüths, die das was der Preis des Glaubens sein könnte, zu einem verdienten Leiden um der Sünde willen herabwürdigen. Wie die ganze Kirche | Khristi vor ihrem Herrn erscheinen soll rein und unbeflekt, so vor allem diejenigen, die sich dazu weihen mögen – und das sollen ja alle wahrhaft Gläubigen – was ihnen auf dem Wege des Lebens auch Widerwärtiges begegne, es gern zu erdulden um deßentwillen, der sie so hoch geliebt hat. Reinigen mögen sie sich alle, daß ihr Herz unbeflekt bleibe von feindseligen Ausbrüchen von leidenschaftlichen Bewegungen, in denen das Wesen der wahren Liebe erstikt wird, damit, wenn die Stunde des Leidens kommt, sie nicht bedenken müßen die Sünde, durch welche sie das Leiden über sich gebracht haben, auf daß es ihnen vielmehr versüßt werde durch das Gefühl, daß sie rein um des Guten willen leiden. Aber wie sehr wir auch immer | und überall bereit sein sollen und bereit sein mögen über 23–24 Vgl. 1Petr 3,15

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uns ergehen zu laßen in dem Bekenntniß des Evangeliums was der Wille des Herrn beschloßen hat; müßen wir uns nicht doch billig fragen, warum ist es denn nothwendig? ist es denn freilich nothwendig, daß gelitten werden muß um des Glaubens willen in der Gemeinschaft mit unserm Herrn und Meister? worauf denn beruht diese Nothwendigkeit? und eben deßwegen was ist denn der große und ausgezeichnete Werth derer, die im khristlichen Sinne auch mit Recht Märtyrer des Glaubens genannt werden können? Das ist die Frage, die wir uns in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung zu beantworten haben.

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II. Zuerst, m. g. F., es giebt Verhältniße, | unter denen, Augenblike in denen, ist es uns in der That Ernst die Wohlthaten der Erlösung nicht in uns verschloßen zu halten, sondern sie auch zu verbreiten in der Welt, es giebt Verhältniße und Augenblike, wo den Menschen, die sich gegen den Herrn auflehnen, das Härteste muß gesagt werden. Wohl uns, m. g. F., wenn wir überall in unsern Verhältnissen ausreichen können mit dem gelinden Wort der Belehrung, mit dem liebreichen kräftigen Wort der Ermahnung, mit der klaren ruhigen Mittheilung deßen was wir selbst geschöpft haben aus der Quelle des Lebens. Das war auch das Hauptwerk und das Wesen des edlen und herrlichen Mannes, deßen Ende wir heute zum Gegenstand | unsrer Betrachtung gemacht haben. Von dem Augenblik an, wo er zugezählt ward zu der Schaar der Gläubigen, hatte er sich erworben den ausgezeichneten und herrlichen Ruhm unter seinen Glaubensgenoßen, der ihn fortan immer begleitete, und mit welchem die Khristen seiner zu allen Zeiten gedacht haben, so daß als die Apostel, wie wir neulich mit einander betrachtet haben, der Gemeine vorschlugen außer ihnen noch sieben Männer zu erwählen, die den Dienst und die Arbeiten in den äußern Angelegenheiten der Gemeine besorgen sollten, da war Stephanus einer der ersten unter ihnen. Aber in diesem obwohl herrlichen und wichtigen Beruf, der ihm aber doch nur eine äußere Thätigkeit in dem Dienst der Gemeine | anwies, fand sein Herz, fand der Muth und die Kraft seines Glaubens keine volle Befriedigung, sondern was er nur erübrigen konnte an Zeit von diesem ihm aufgetragenen Geschäft, das wandte er dazu an, daß er in den Schulen der Hauptstadt des jüdischen Landes auftrat und lehrte, daß er aus der Schrift bewies, Jesus von Nazareth sei derjenige, den das Volk erwarte, und den die Propheten vorher verkündigt hätten. Da wird er eifrig gesprochen haben und lebendig, wie er selbst mächtig ergriffen war und lebendig überzeugt von der Wahrheit. Aber da konnte er nicht anders und hat auch nicht anders als sich im 38 konnte] SW II/10, S. 60; Textzeuge: kann 25–28 Vgl. oben 9. Juli 1820 vorm.

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Allgemeinen der Lehre gehalten, ohne den einzelnen Menschen ihre Sünde und Schuld auf | eine besondere Weise vorzulegen. Aber als er vor den hohen Rath seines Volks gefordert wurde, und nun diejenigen, die er ehrte als seine Vorgesezten in dem Gebiete des alten Verhältnißes des Gesezes und des Tempeldienstes, als diese im Begriff waren sich aufs neue zu versündigen an dem Diener, wie sie an dem Herrn sich versündigt hatten: da fühlte er, daß er nicht stehen bleiben konnte bei dem Wort der Ermahnung und Erinnerung, da fühlte er, daß es nicht genug war ihnen seine Überzeugung darzulegen und zu versuchen, ob dieselbe auch sie bewegen möchte; sondern eben da er sah, daß sie nicht bewegt wurden von dem Worte der Lehre, da brach er aus in die harten Worte der Strafe, | welche die ersten sind unter denen, die ich euch vorgelesen habe „ihr Halsstarrigen und Unbeschnittenen an Herzen und Ohren, ihr widerstrebt allezeit dem heiligen Geist wie eure Väter! welchen Propheten haben eure Väter nicht verfolgt und sie getödtet, die da zuvor verkündigten die Zukunft dieses Gerechten, welches ihr nun Verräther und Mörder geworden seid? ihr habt das Gesez empfangen durch der Engel Geschäft und habt es nicht gehalten.“ So erinnert er sie an ihre Schuld, und reiht ihre Schuld an an das alte Register alter Schulden und Versündigungen von den ältesten Zeiten ihrer Väter bis auf die damaligen Zeiten herab, so warnt er sie, sie sollten sich nicht verschließen vor dem, der sich unter ihnen | gezeigt hatte als einen Propheten des Herrn, sie sollten nicht, wie sie den Herrn getödtet hatten, so auch gegen seine Diener verfahren, und Schuld auf Schuld häufen. Und eben, m. g. F., die Liebe war es, die ihn dazu trieb, die Liebe, welche diejenigen, vor denen er jezt stand, bewahren wollte vor neuen Versündigungen, diese Liebe drang ihn, daß er ihnen an das Herz redete mit den ernsten Worten der Strafe; und dazu, wenn die Gelegenheit ihm dazu kommt in der Wirksamkeit seines Berufs, dazu ist jeder berufen, der sich überhaupt berufen fühlt der Wahrheit und dem Recht ein Zeugniß abzulegen vor der Welt. Und wer sollte sich nicht dazu berufen fühlen, der selbst frei gemacht ist durch den Sohn, und den Besiz des | göttlichen Worts und seines heiligen Ruhmes genießt? Wenn so dem Menschen an das Herz gegriffen wird, dann erst wird das Amt der Verkündigung der Wahrheit herrlich und fruchtbar, dann ist der Augenblik gekommen, wo es entschieden werden muß, soll er sich noch tiefer versenken in seinen dem Guten und Rechten abgewendeten Sinn, oder soll er umkehren von dem Wege des Irrthums und des Verderbens zur Erkenntniß der Wahrheit und zur Verehrung des göttlichen Gesezes in seinem Herzen. Dadurch wird der Wille des Herrn erfüllt; und nur halb hätte Stephanus seinen Beruf erfüllt, wenn er mit seiner vorigen belehrenden Rede sich begnügt und die Ältesten | des Volks erinnert hätte an das Wort, welches früher schon einer der Pharisäer im Rath gesprochen hatte „ist das Werk von Menschen, so wird es vergehen, ist es aber von 42–1 Apg 5,38–39

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Gott, so könnt ihr es nicht dämpfen“; sondern er mußte ausbrechen in diese ernsten Worte der Strafe. Und wenn so nun den Menschen an das Herz gegriffen wird, wenn es ihnen so durch das Herz geht: dann sind nur zwei Wege übrig, entweder daß sie wie jene Zuhörer des Apostels an dem großen und herrlichen Tage der Pfingsten an ihre Brust schlagen und rufen, „ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun?“ oder daß sie wie hier die Genoßen des hohen Raths thaten, denen es auch durch das Herz ging, wie unser Text sagt, und die die Zähne | zusammenbeißen über denjenigen, welcher sie strafte, um ihrer Sünde willen. Und eben weil es solche Verhältniße und Augenblike giebt im menschlichen Leben, wo das Bekenntniß der Wahrheit nicht anders kann als harte Reden hineintönen in die verstokten Ohren, und weil die Menschen für diese Augenblike nicht immer bereit sind, wenig geneigt reuevoll an ihre Brust zu schlagen und zu fragen, was sie thun sollen, um die schwere Schuld von sich abzuwälzen, weil sie noch irdisch denken und tief begraben liegen unter der Gewalt der Sünde, eben weil sie noch bewegt werden von Leidenschaften, und gegen die Boten des Heils, die ihnen Frieden und Liebe bringen, die Zähne zusammenbeißen: | darum muß es Märtyrer geben für den Glauben, darum muß es solche geben, die wenn auch nicht mehr in jenem blutigen Sinne, für die Wahrheit sich aufopfern, so lange in dieser Welt noch der Kampf des Lichtes und der Finsterniß, des Guten und des Bösen besteht. Aber es könnte jemand sagen: da ergrimmten sie ja noch nicht und schleppten ihn hinaus vor die Stadt um ihn zu steinigen, als er zu ihnen das harte Wort der Strafe redete, sondern da erst als sein Gefühl ihn übermannte, und er sprach „siehe ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes stehen“, da erst verstopften sie ihre Ohren, gleichsam ergrimmend dasjenige hören zu müßen was ihnen | als eine Gotteslästerung erschien, und da erst faßten sie den Vorsaz ihn hinauszuführen vor die Stadt und ihn zu steinigen. Hätte er also nicht das Äußerste was ihm nachher begegnete, vermeiden können, wenn er geblieben wäre bei jenem ruhigen klaren Muth, den er vorher an den Tag legte, wenn er sich gehalten hätte in den Gränzen einer klaren Entwiklung der Wahrheit, wenn er sich nicht hätte hinreißen laßen zu jener Begeisterung, die doch nur an den Seelen der Menschen, zu denen er redete, verloren war? So könnten wir denken; aber laßt uns nicht vergeßen, m. g. F., unser Text sagt uns: und als er nun des heiligen Geistes recht voll war – erhoben also war die Kraft und der Muth seiner eigenen | Rede – als er des heiligen Geistes voll war, da rief er diese Worte der Begeisterung aus: ich sehe den Himmel offen und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes 8–9 denjenigen ... strafte] so SW II/10; S. 62; Textzeuge: diejenigen welche sie strafen 22 noch] so SW II/10, S. 62; Textzeuge: auch 6 Apg 2,37

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stehen! Und das eben, m. g. F., das ist das Zweite, weßhalb es nothwendig Märtyrer geben muß für den Glauben. Es ist nicht immer gethan in der Welt mit weisen und vorsichtigen Reden, die unsicher nach allen Seiten sich besinnen, was wohl die Folge sein möchte von diesem oder jenem Wort, welches geredet wird; sondern es treten auch solche Fälle ein, daß es an der Sanftmuth nicht genug ist, daß man Härte versuchen muß, ob man die verstokten Herzen der Sünder erschüttern möge. Das sind auch | Augenblike, wo die Kraft des Geistes, der sich der Gemeinschaft mit einer göttlichen Weltordnung bewußt ist, und sich dadurch weit erhoben hat über sinnliche Gedanken und Gefühle, wo die Kraft des Geistes nicht anders kann als sich Bahn machen durch die große Maße des Irdischen, welches ihr entgegensteht, wo der Mensch die ganze Kraft seiner innern Ueberzeugung hinausreden muß in die Welt, unbekümmert darum ob es helfen werde oder schaden, ob es Frucht bringen werde oder vergeblich sein. Wo die Fähigkeit nicht ist so voll zu werden des Geistes: o da kann ein guter und reiner Sinn sein, ein wahrer Glaube und eine heilige Liebe, aber es ist nur ein beschränktes Gefäß, | das sich der Herr ersehen hat für den lebendigen Geist, der keinen genügenden Raum darin finden kann. Wer sich aber so selbst verleugnen kann, sein Leben auf das Spiel zu sezen, o dem muß alle menschliche Berechnung zu gering sein, als daß er nicht für die Sache der Wahrheit ein begeistertes Bekenntniß ablegen sollte. Spricht es nur die Wahrheit aus, geht es nur aus dem Innern seines Herzens hervor, so wird es ihn nicht gereuen zu leiden um des Guten willen. Solche Diener brauchte der Herr, sollte aus dem kleinen Senfkorn der Baum erwachsen, unter welchem schon so viele Geschlechter der Menschen sowohl Schuz und Schirm als Freude und Seligkeit gefunden haben. Aber wie kann es anders sein, m. g. F., wenn der Geist auf eine solche Weise aus dem Menschen redet, als daß | denen, die irdisch gesinnt sind, und deren Tichten und Trachten auf das Vergängliche gerichtet ist, bange wird vor dieser ihnen unbekannten Gewalt, daß sie denken sie müßten ihr nur so zeitig als möglich Widerstand leisten, und ihr Werk aufheben in seinem ersten Beginne? Und weil diejenigen, die nicht gläubig sind, und die Seligkeit der Kinder Gottes, welche der Sohn frei gemacht hat, nicht genießen, niemals aufgehoben werden können und sein müßen, eben darum wird so lange das wahre Märtyrerthum nothwendig sein für die Sache der Wahrheit als jene Begeisterung nothwendig ist, mit welcher Stephanus die Gemüther der Sünder zu erschüttern suchte, damit die Wahrheit verbreitet | werde unter den Menschen. Und diese Zeit, m. g. F., wer möchte sagen, daß sie schon vorüber sei? welch eine lange Reihe von treuen standhaften Zeugen hat sich nicht angeschloßen an den ersten Märtyrer des Khristenthums, 23 Vgl. 1Petr 2,20; 3,17

24 Vgl. Mt 13,31–32; Mk 4,31–32; Lk 13,19

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so lange es noch im Streit lag mit den mißverstehenden Eiferern des alten Bundes auf der einen Seite und auf der andern mit denen, die in der Finsterniß des Heidenthums das ihnen angeborne Bewußtsein Gottes verkehrt hatten in Unwahrheit und Ungerechtigkeit! Aber auch nachdem die Völker khristlich geworden waren und die Fahne des Kreuzes geführt hatten, nachdem nicht mehr in schwachen einzelnen Zügen, sondern kräftig und gewaltig überall in ihren Gränzen die Kirche des Erlösers sich verbreiten konnte und es keiner | äußern Gewalt mehr bedurfte, um die Gemüther zu befreien von dem thörichten Wahn alter Zeiten, und die Seelen aus der Dunkelheit des Heidenthums hinüberzuziehen in das Reich des Lichtes in dem Herrn, sondern nur des sanften Wortes der Ueberzeugung und der Mittheilung der herrlichen Gaben, die im Schooße des Khristenthums zu finden sind – auch in der khristlichen Kirche selbst hat sich dieses Schauspiel so oft wieder erneuert, daß diejenigen, die den hohen Rath des Khristenthums bilden sollten, wie jene, vor denen Stephanus stand, des jüdischen Volks, wenig verstehend von dem was das wahre Heil und der rechte Segen des Khristenthums sei, sich auflehnten gegen die treuen Zeugen deßen, der die verdunkelte Wahrheit ans Licht bringen und dies zerstreute und zer|stükelte Reich des Glaubens und der Liebe wieder zusammenbinden will. Und ob solche Zeugen des Glaubens in der khristlichen Kirche nicht wieder auftreten müßen, wer kann es wißen? wer kann den Rathschluß des ewigen Geistes faßen? Im Kleinen aber und im Einzelnen, o, da können wir alle denselben Streit führen, da fühlen wir uns alle zu demselben berufen. So laßt uns denn jeder an seinem Theil unbekümmert und der göttlichen Liebe anheimstellend, ob ihm Großes beschieden sei, an dem Glauben fest halten, daß wie der Apostel sagt, alle diejenigen, die im Kleinen leiden, die ergänzen das Leiden deßen, der ohne Sünde für die Sünde der Welt gelitten hat. Und wenn die Zahl derselben voll sein wird, wenn das | Märtyrerthum in der khristlichen Kirche beschloßen sein wird, und das Gefühl allgemein die Herzen bewegen wird, es sei nicht mehr nöthig für den Glauben zu leiden: o dann ist das Reich der Sünde und ihre Macht gebrochen, dann muß, so daß kein Streit mehr geführt werden darf, Ein Hirt und eine Herde sein, dann muß erschienen sein, was jezt noch nicht erschienen ist, und dann muß vollendet sein das Reich Gottes. Und diese Vollendung, der wir alle entgegen sehen, an der arbeiten alle, die sich nicht scheuen zu leiden um des Glaubens willen. So laßt uns nachahmen, m. g. F., von Ferne wie wir vermögen, jenen treuen | Zeugen der Wahrheit, laßt uns uns sättigen an dem Vorbild ihrer reinen Liebe und ihres heiligen Muthes, damit wir jeder nach seinem Maaße erfüllt von demselben, wo und wie es immer kommen 2–4 Vgl. Röm 1,21.28

26–27 Vgl. Kol 1,24

32 Vgl. Joh 10,16

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mag, in ihre Fußtapfen treten – es sind die unsers Herrn und Meisters selbst! Amen.

[Liederblatt vom 23. Juli 1820:] Am 8ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Ein’ feste Burg etc. [1.] Wenn Christus seine Kirche schüzt, / So mag die Hölle wüthen! / Er, der zur Rechten Gottes sizt, / Hat Macht ihr zu gebieten. / Er ist mit Hülfe nah, / Wenn er gebeut steht’s da, / Er schüzet seinen Ruhm / Und hält das Christenthum; / Mag doch die Hölle wüthen! // [2.] Der Frevler mag die Wahrheit schmähn, / Uns kann er sie nicht rauben; / Der Unchrist mag ihr widerstehn, / Wir halten fest am Glauben. / Gelobt sei Jesus Christ! / Wer hier sein Jünger ist, / Sein Wort von Herzen hält, / Dem kann die ganze Welt / Die Seligkeit nicht rauben. // [3.] Auf Christen, die ihr ihm vertraut, / Laßt euch kein Drohn erschrecken! / Der Gott, der von dem Himmel schaut, / Wird uns gewiß bedecken. / Der Herr, der starke Gott, / Hält über sein Gebot, / Giebt uns Geduld in Noth, / Und Kraft und Muth im Tod; / Was will uns denn erschrecken? // (Gellert.) Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Getrost, ihr tapfern Glaubenszeugen, / Auf der euch angewies’nen Bahn! / Der heiße Kampf darf euch nicht beugen, / Und Kleinmuth darf euch nimmer nahn! / Blickt hoffend auf zur Schaar der Treuen, / Die bis zum Tode Glauben hielt; / Auch euch wird gleicher Lohn erfreuen, / Wenn ihr zum Preis des Glaubens fielt. // [2.] Getrost, wenn einem Unterdrückten / Kein Hofnungsstrahl auf Erden blinkt! / Wohl dem, den Glaubenskränze schmückten, / Eh’ er, ein theures Opfer, sinkt. / Des Ruhmes Flitterkrone werde / Hier seines Unterdrückers Lohn; / Ihm keimet aus des Grabes Erde / Der Ruhm vor Gott und Gottes Sohn // [3.] Ihr die verpflanzt in arge Zeiten / Mit Finsterniß zu kämpfen wagt, / Um Bahn dem Lichte zu bereiten, / Ihr fühlt die Schauer, eh’ es tagt. / Bleibt muthig bei des Feinds Triumphe, / Bleibt ruhig, wenn die Schlange zischt! / Und wißt, daß Irrlicht aus dem Sumpfe / Nur trüglich aufglänzt und erlischt. // [4.] Wißt, daß obsiegen muß die Wahrheit, / Sei’s auch erst in der Folgezeit! / Es bricht herein ein Tag in Klarheit, / Der alle Nebel schnell zerstreut. / Ihr seid von ewigen Gesezen / Beschützt, die frevelnd ein Tyrann / Ein Menschenalter lang verlezen, / Doch ihren Lauf nicht hemmen kann. // [5.] Drum wenn, vom Sturme losgerissen, / Der Hoffnung lezte Trümmer stürzt, / Sollt ihr den Kelch zu trinken wissen, / Der nur das Erdenweh verkürzt. / Behauptet eure Christenwürde, / Und dann vertraut dem Herrn der Zeit. / Trugt standhaft ihr des Druckes Bürde, / Wird euch am Ziel die Herrlichkeit. // [6.] Dem Staub entflohn wirkt eure Seele / Begeisternd auf der Christen Bund; / Daß nie Bekennertreue fehle / Thut euer Sinn sich ihnen

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kund. / So ruft das Recht, geschmäht, erwürget / Nach wohlgeführtem tapfern Streit, / Den Gottes Spruch herbei, verbürget / Dem Kämpfer die Unsterblichkeit. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle etc. Triumph der Glaube siegt, / Gott war mit seinen Streitern, / Gott ist und bleibt mit ihm, / Und wird sein Reich erweitern. / Auf, die ihr Jesum kennt / Und dankbar ihn verehrt, / Am Glauben haltet fest, / Er bleib’ euch ewig werth. //

Am 30. Juli 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 8,18–22 Nachschrift; SAr 75, Bl. 61v–81v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 67–87 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 112v–113v; Gemberg Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am neunten Sonntage nach Trinitatis oder am dreißigsten Heumonds. |

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Tex t. Apostelgeschichte 8, 18–22. Da aber Simon sahe, daß der heilige Geist gegeben ward, wenn die Apostel die Hände auflegten, bot er ihnen Geld und sprach: gebet mir auch die Macht, daß, so ich jemand die Hände auflege, derselbige den heiligen Geist empfange. Petrus aber sprach zu ihm: daß du verdammet werdest mit deinem Gelde, daß du meinest, Gottes Gabe werde durchs Geld erlangt. Du wirst weder Theil noch Anfall haben an diesem Wort, denn dein Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott. Darum thue Buße für diese deine Bosheit und bitte Gott, ob dir vergeben werden möchte der Tük deines Herzens. |

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Das Verlesene, m. g. F., bietet uns freilich weder Anfang noch Ende dieser Geschichte dar. Das Ende derselben ist uns aus der heiligen Schrift selbst unbekannt: ob dieser Simon, durch das Wort des Apostels bewegt wirklich von Herzen Buße gethan habe, wißen wir nicht. Was aber den Anfang dieser Geschichte betrifft, so war dieser Simon, wie aus dem Vorigen erhellt, ein Mann durch den Schein außerordentlicher und übernatürlicher Wirkungen, die er hervorbrachte, in der Landschaft Samaria, wo sich dies zutrug, ausgezeichnet und in hohem Ansehen. Er war durch die Predigt des Philippos mit andern gläubig geworden; und daran nun schließen sich die verlesenen

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1 Predigt] Predig 16–21 Vgl. Apg 8,9–13

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Worte an. | Der Eindruk, den sie in diesem Zusammenhang auf jeden machen müßen, ist wohl unstreitig der von der großen Uebermacht, die Petrus über diesen aber auch in einer geistigen Hinsicht so ausgezeichneten Menschen ausübte; es war aber dies eben der geistige Sieg eines wahren und treuen Apostels über die geistige Anmaßung eines falschen Propheten. Und weil die khristliche Kirche, so lange sie in diesem Zustand des Streits mit dem Reiche der Finsterniß besteht, dem nie entgehen wird, daß sich eben so Falsches und Verkehrtes, wie es hier der Sinn des Simon war, in sie einzudrängen und Raum in ihr zu gewinnen sucht: so können wir und sollen das Verfahren des Apostels in dieser Hinsicht als ein Vorbild aller | Zeiten ansehen, so wie er durch dieses gegebene und kundgewordene Beispiel den ersten Grund gelegt hat zu der richtigen Bestreitung und Ueberwindung des Falschen und Verkehrten von dieser Art: In dieser Hinsicht also laßt uns über die verlesene Erzählung nachdenken, und eben in derselben den Sieg der wahren und treuen Diener des khristlichen Glaubens über alles Falsche was sich in die khristliche Kirche eindrängen will, betrachten. Es wird zu dem Ende nothwendig sein, daß wir zuerst genau erwägen, was dieser Simon, der in der Erzählung unsers Textes den Aposteln gegenüber stand, eigentlich wollte mit der Forderung, welche er an | sie that; und daß wir zweitens betrachten, wie Petrus gegen ihn verfuhr, damit uns von dem was für uns und für alle Zeiten anwendbar ist, nichts entgehe, und damit wir in der Handlungsweise des Apostels dasjenige was das Wesen derselben ausmacht, nicht verfehlen. Zu dieser Betrachtung sei mit uns der Geist der Wahrheit, der uns führen möge in alle Wahrheit. I. Wenn wir zuerst nun der verlesenen Geschichte näher auf den Grund gehen und fragen, was wollte denn eigentlich Simon, weßhalb er von dem Apostel auf diese Weise angelaßen ward? so war die Sache diese. Philippus war in die Landschaft Samaria gekommen, und hatte dort das Evangelium | verkündigt, und es war von vielen angenommen, die sich durch ihn und durch seine Gehülfen taufen ließen. Zu der Zeit nun war jener Simon auch da, und hatte, wie es vorher in der Apostelgeschichte heißt, durch seine Zauberei die Samariter bezaubert, daß sie sagten, er sei die Kraft Gottes, die da groß ist. Als Philippus nun mit der Verkündigung des Evangeliums in jene Gegenden kam, und die diese Verkündigung des Heils so oft begleitenden Zeichen und Wunder auch hier nicht fehlten, so ließ sich mit den andern auch Simon, vorzüglich wohl weil er die Zeichen und Wunder sah, taufen und wurde gläubig. Da nun die Apostel dies vernahmen, daß Samaria das Wort Gottes angenommen hatte, so sandten sie aus dem gemeinen 28–4 Vgl. Apg 8,9–17

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Rath den Apostel | Petrus in jene Gegend, und denjenigen, die getauft worden, und durch seine Lehre aufs neue erwekt und im Innern recht befestigt waren, denen legte er die Hände auf, damit sie den heiligen Geist empfingen. Wir wißen nun auf der einen Seite, daß sie ohne allen Antheil an dem göttlichen Geiste nicht sein konnten. Denn der Glaube, der in ihren Seelen entstanden war, war schon, wie er von der Predigt ausging, die ein Werk des göttlichen Geistes ist, selbst eine Wirkung desselben. Aber wir wißen auch auf der andern Seite aus mehreren in der heiligen Schrift erzählten Beispielen, wie die Apostel durch Auflegung der Hände besondere Gaben des Geistes in jedem nach dem Maße seiner natürlichen Kräfte und kräftige Aeußerungen des Geistes durch Wort und That in den | Menschen zu erweken suchten. Diese Macht nun die höhern Gaben des Geistes in den Menschen zu erregen, diese wollte Simon von dem Apostel ertheilt haben. Da könnte man denn freilich sagen, dies sei etwas wovon wir in unsrer Zeit und in unsern Verhältnißen gar keine Anwendung machen könnten; sowohl das Vermögen jene Gaben durch das Auflegen der Hände zu ertheilen, als auch diese höhern Gaben selbst seien verschwunden. Allerdings äußere sich der Geist auch jezt noch in verschiedenem Maaße in den Werkzeugen, welche sich Gott der Herr zubereitet hat, den einen auf diese, den andern auf jene Weise, den einen zu diesem den andern zu jenem Beruf, hier oder dort in seinem Reiche. Aber ein so bestimmter | Unterschied zwischen denjenigen Gaben des Geistes, welche durch die wahrhaftige und gläubige Annahme des Evangeliums allen gemein sind, und zwischen denjenigen, die durch so Ausgezeichnete, wie die Apostel waren, die auch nicht mehr vorhanden sind, auf eine außerordentliche Weise erwekt werden, ein solcher Unterschied bestehe nicht. Das ist wahr, m. g. F., aber es ist auch in der ganzen Sache nur die Nebensache. Laßt uns vielmehr fragen, was ist alles was durch das Evangelium in den Menschen gewirkt wird? was ist denn das Wesen des Reiches Gottes auf Erden in der Welt? so werden wir sagen müßen, es ist jezt wie damals nichts anders als jene Belebung und Erhöhung geistiger Kräfte | in den Menschen. Und wenn wir fragen, was ist alle Mittheilung durch Wort und That, durch Lehre und Beispiel, durch Warnung und Trost, wie sie von uns auf andre übertragen werden? so müßen wir antworten, es ist nichts anders als die Macht geistige Kräfte in den Menschen durch Mittheilung zu erzeugen und zu beleben. Daß nun die äußere Art und Weise jezt eine andre ist als sonst, daß in dieser Beziehung alles den Schein des Außerordentlichen und Wunderbaren verloren hat, und in den natürlichen Lauf der Dinge und in die Aehnlichkeit mit ihnen zurükgekehrt ist, das können wir nicht anders auffaßen als daß es der natürliche Unterschied ist zwischen | dem eben erst entstehenden und zwischen dem 5–6 Vgl. Röm 10,17

6–7 Vgl. Gal 3,2.5

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schon fest bestehenden Reiche Gottes in allen seinen Theilen. Also das wollen wir nicht sagen, m. g. F., daß es in dem Reiche unsers Herrn und Erlösers nicht mehr solche Gaben des Geistes gebe, wie die Apostel sie damals in den Gläubigen erwekten durch das Auflegen der Hände; das wollen wir auch nicht sagen, daß eine solche Macht diese geistigen Kräfte, wenn einmal der Grund dazu gelegt ist im Gemüthe durch Glauben und durch den aufrichtigen Gehorsam des Herzens gegen den göttlichen Willen, daß solche Macht nicht mehr vorhanden sei diese höhern Gaben zu erweken in andern auf irgend eine Weise: nein vielmehr ist dies das Wesen der khristlichen Ge|meinschaft, in der wir alle leben und weben, und deren wir uns täglich mit Dankbarkeit gegen Gott freuen, es ist das Wesentliche derselben, daß diese Gaben da sind, und immer aufs neue erregt werden, und daß dies geschieht durch die Wirkung des einen auf den andern, und daß darin ist ein jeder nach dem Maaße der Gaben, die ihm Gott verliehen hat, lebendig wirkend zur Förderung der großen Sache, aber ein jeder, dem jene Kraft des Glaubens und der Treue geworden ist, nicht bloß empfangend und aufnehmend, sondern auch gebend und mittheilend von dem was er hat an Gaben des Geistes. Aber was wollte nun in Beziehung auf diese Gaben und auf die Macht | sie zu erwerben Simon? Er wollte sie auf eine unrichtige Art erwerben, und zwar deßwegen weil er sie auf eine unrichtige Art gebrauchen wollte. Beides ist in der Erzählung unsers Textes nicht zu verkennen. Und, m. g. F., wenn gleich der heilige Eifer des Apostels in seiner Antwort sich unmittelbar darauf zu beziehen und dahin zu richten scheint, daß Simon dem Apostel Geld bot, damit sie ihm die Macht ertheilten, daß auch durch das Auflegen seiner Hände der heilige Geist gegeben würde: so wollen wir auch dabei nicht vorzüglich stehen bleiben, daß es gerade Geld war, welches er ihnen geben wollte, und das jenes Verfahren des Petrus gegen ihn bestimmte; denn auch das ist etwas Zufälliges und Nebensache. | Geld bot er den Aposteln deßwegen unstreitig, weil er glaubte, sie wären verführbar durch die Aussicht auf äußern Vortheil; aber er gebrauchte es nicht anders als man auch jedes andre Mittel der Ueberredung zu gebrauchen pflegt; und wenn er statt ihnen Geld zu bieten ihnen Lobsprüche und Schmeicheleien ertheilt hätte, um sie zu bewegen ihm jenes wunderbare Vermögen zu verleihen, es wäre Eins und das selbige gewesen, das eine nicht minder verkehrt und falsch als das andre, das eine nicht minder unwürdig und niedrig als das andre. Was ich aber eigentlich meine, wenn ich sage, er wollte sich auf unrechte Weise diese Macht erwerben, das ist dies, er wollte sie auf eine der Ordnung, in welcher damals dieser Gebrauch bestand, | unangemeßene und zuwiderlaufende Art erwerben. Das hatte er ja gesehen, daß diese höheren Gaben erst erwekt wurden unter den Gläubigen 41–1 Vgl. Apg 8,17

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jener Gegend, als Petrus und Johannes von Jerusalem dorthin kamen. Philippus, der dort zuerst das Evangelium verkündigt hatte, war auch einer von den ältern und treuen Schülern des Herrn gewesen, und hatte schon gearbeitet für die Pflanzung und Begründung des göttlichen Reiches; aber wiewohl durch das Zeugniß seines Mundes viele gläubig wurden, und einfältigen Herzens das Evangelium von Jesu annahmen, sich taufen ließen und dadurch der Gemeine des Herrn einverleibt wurden, so hatte er doch die Macht nicht jene höheren Gaben zu | erweken, sondern diese war den Aposteln vorbehalten. Und Simon, der ein Neuling war im Glauben und erst durch das Zeugniß des Philippus und seiner Gehülfen wir wißen nicht von welcher Gestalt des heidnischen Aberglaubens und der Finsterniß zum Lichte des Evangeliums gebracht, der wollte diese Macht von den Aposteln erwerben. Da er sah, daß so viele ältere treuere an Erfahrung und an den Gaben des Geistes reichere Diener des Herrn als er diese Macht nicht hatten, so konnte er ja wohl sehen, daß dies der Ordnung und der Einsezung diese Gaben zu ertheilen nicht angemeßen war, und er wollte in einer falschen und verkehrten Einbildung von sich | selbst – das ist gewiß, aber wir werden hinzufügen, deswegen weil er einen unrechten Gebrauch davon zu machen gedachte, – sie auf eine dieser Ordnung zuwiderlaufende Weise erwerben. Das ist es eigentlich, wogegen sich der Apostel richtete, und mit demselben Eifer würde er dem Simon begegnet sein, wenn er ihm statt des Geldes irgend etwas anderes geboten hätte, um seinen unreinen Wunsch zu befriedigen. Und eben so, m. g. F., soll sich jeder, der die Ordnung in der khristlichen Kirche liebt und ehrt, dem widersezen, der sich auf eine unbefugte und gesezwidrige Weise in das Geschäft dieser Mittheilung und Aufregung der geistigen Kräfte einmischen will, und zwar aus eben dem Grunde, aus welchem | sich Petrus dem Simon wiedersezte, weil einem solchen unrechten Verfahren immer auch eine unrechte Absicht zum Grunde liegt. Denn, m. g. F., wenn Simon nichts anders gewollt hätte, als daß die Gemeine des Herrn, der auch er angehörte, sich immer fester bauen und gründen und immer weiter ausgebreitet werden sollte, und sich immer herrlicher ausschmüken mit allen ihr verheißenen Gaben des Geistes, wenn er nichts anders als dieses gewollt hätte, was der reine Wunsch aller gläubigen und das Reich Gottes liebenden Gemüther ist: warum sollte er denn für seine Person die Macht gewollt haben diese Gaben mitzutheilen, er der ein solcher Neuling war, | daß er sie ihrem innern Wesen nach nicht einmal beurtheilen konnte, sondern nur von dem äußern Schein derselben geblendet war, er der es ja wohl wißen mußte, daß er noch viel zu wenig bekannt war mit dem Wesen der khristlichen Kirche und mit der Beschaffenheit derjenigen, aus denen sie bestand, als daß er hätte beurtheilen können, wem 1–5 Vgl. Apg 8,12

9–12 Vgl. Apg 8,13

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diese Gaben mitzutheilen wohl für das Heil der Kirche am angemeßensten wäre? Hatte er nichts anders als das Wohl des Ganzen im Sinne, so konnte er dies Geschäft in den Händen laßen, in denen es sich befand. O die Apostel, die aus Jerusalem gekommen waren, die würden schon dafür gesorgt haben, wenn ihnen ihr Gewißen gesagt, daß sie ihr Geschäft in dieser | Gemeine vollendet hätten, die Gaben des Geistes mitzutheilen denen, die ihrer fähig und bedürftig waren. Und er hätte dann wie es ihm gebührte, diesem Walten des Geistes durch seine Diener in stiller Ergebung und in herzlicher Theilnahme zugesehen, und nicht eher als bis er selbst diese höheren Gaben des Geistes in sich gefunden hätte, bis er selbst durch dieselben reichlich gesegnet worden von den Aposteln, wenigstens dann auf eine unsträfliche Weise daran denken können, ob ihm nicht auch eine Macht über dieselben zu Theil werden könne. Aber indem er sagt, sie möchten ihm die Macht verleihen, daß, wenn er die Hände auf jemand lege, derselbige den heiligen Geist | empfinge, so sehen wir, er wollte gern dafür angesehen sein, so wie er vorher wegen anderer wir wißen nicht wegen welcher erlernten Künste und Weisheitsproben als eine große Kraft Gottes erschienen war unter denen, bei denen er lebte, so wollte er auch jezt dafür erkannt sein, daß diese noch höhere Gewalt ihm unterthan wäre, und allein sich selbst Ehre und Ruhm suchen. Wozu er aber das Ansehen unter den Menschen, welches er sich auf diesem Wege zu erwerben gedachte, wozu er es gebrauchen wollte, das wißen wir freilich nicht; aber wir können wohl nicht anders als das Gefühl des Apostels theilen, der zu ihm sagte, „dein Herz ist nicht rechtschaffen vor Gott“. Denn derjenige, | der sich unrechter Mittel bedient um seine Absicht zu erreichen, von dem ist nie vorauszusezen, daß er einen reinen und tadellosen Zwek habe. Und eben dies, m. g. F., ist das was sich unter allen Umständen und auf alle Zeiten der khristlichen Kirche anwenden läßt. Mannichfach und herrlich sind die Erweisungen des Geistes in derselben auch noch jezt; ja wir müßen, wir dürfen nicht nur, sondern müßen es rühmen und mit Lob und Preis erkennen, die Gnade Gottes ist noch immer mächtig in den Schwachen, und noch nie hat er aufgehört durch seine Kraft in der weit verbreiteten Gemeine des Herrn Gaben zu erweken und Werkzeuge auszurüsten mit der Macht die vom Glauben | erfüllten Herzen ihrer theilhaftig zu machen, um desto größere und ausgezeichnetere, je mehr diese nothwendig waren um Widerstand zu leisten dem feindseligen Reiche der Finsterniß, und unter allen den mannichfaltigen Stürmen, die es gewagt hat gegen das Reich Gottes, das himmlische Licht des Evangeliums immer brennend und leuchtend zu erhalten; und im Großen wie im Kleinen zeigt sich in der Erwekung und in dem Gebrauch dieser Geistesgaben das geheime und unbegreifliche Walten ei30–31 Vgl. 2Kor 12,9

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nes höheren Geistes; und was dabei von Menschen geschieht um die Gaben desselben mitzutheilen, wir können es noch eben so wenig faßen und begreifen, wie diese Wirkungen dadurch noch immer hervorgebracht werden, als wie sie damals | hervorgebracht wurden durch ein so einfaches Zeichen als das Beten und Auflegen der Hände war. Aber je theurer der Schaz ist, den die göttliche Milde uns immer noch giebt, um desto reiner laßt uns ihn bewahren; und wer darüber auf eine verkehrte Weise herrschen, wer ihn auf eine verkehrte Weise erlangen will, um ihn zu seinen selbstsüchtigen Zweken zu gebrauchen wie Simon, dem trete von allen Seiten der Eifer entgegen, welchen der Apostel im Namen seines Herrn und Meisters bewies. Ein leerer Wahn war es, den Simon hatte, als ob es nur möglich wäre, daß Petrus ihm die Gewalt diese Gaben mittheilen zu können, die Kraft diese Gaben in andern zu erweken, durch Geld zu übertragen im Stande wäre. Und wenn irgend einer glaubt, er könne | diese Kraft von einem andern erlernen durch Regeln, die er ihm vorschreibt, durch Künste die er ihm mittheilt, oder er könne sich selbst dazu erfinden eine menschliche Kunst, der ist in einem eben so leeren und verderblichen Wahn befangen. Denn die Apostel hätten nicht erhalten diese Gewalt, wenn sie nicht selbst voll gewesen wären von der Kraft des Geistes, der über sie gekommen, sie hätten dieselbe nicht hervorbringen können, wenn sie nicht diesen Geist empfangen hätten unmittelbar von ihrem und unserm Herrn und Meister. Und so giebt es auch keine andern Mittel und Wege, um diese Gaben und diese Erweisungen des Geistes zu besizen, als daß der Mensch selbst voll sei von dem Geiste, den er sich nicht geben kann, sondern nur ihn empfangen aus der beständig strömenden und | lebendigen Quelle, die allen aufgethan ist in dem Worte Gottes. Wer aber glaubt durch menschliche Hülfsmittel zu einer solchen Gewalt über den Geist der Menschen zu gelangen, der will gewiß auch das Rechte nicht dabei. Und wie wir nicht wißen, was Simon dabei wollte, so brauchen wir auch nicht erst zu wißen was irgend ein andrer in diesem Sinne will: ob er dadurch, daß er außerordentliche und ungewöhnliche Bewegungen des Geistes hervorzurufen im Stande ist, nur sich selbst Ehre und Ruhm vor den Menschen zu erwerben gedenkt, ob er eben deswegen weil er dies vermöchte ein Vertrauen unter den Menschen erweken will, welches ihm dann auch blindlings folge zu andern verkehrten und bösen | Absichten die er hegt; ob einer die Erregungen des Glaubens und der Liebe in den Herzen der Menschen nur gebrauchen will, um sie desto sicherer bei dem zu erhalten was er in andern menschlichen Dingen für das Beste hält; ob einer die Gemeine der Khristen und die Gaben des Geistes in ihr nur ansehen möchte als ein Mittel, um die Menschen im Zaum und im Gehorsam zu erhalten gegen das Ansehen der weltlichen Gewalt, oder als ein Mittel sie in gefährliche Irrthümer über das was der Wille Gottes ist mit dem menschlichen Geschlecht zu verwikeln – jenes ist eben so ver42 verwikeln] verwiekeln

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kehrt und verderblich als dieses, und in jedem Falle sollen wir einem solchen menschlichen Wahn furchtlos entgegentreten mit demselben heiligen Eifer, mit welchem der Apostel | Petrus dem Simon begegnete. II. So laßt uns zweitens sehen, was in dem Betragen des Apostels gegen den Simon eigentlich das Wesentliche war, was wir uns aneignen wollen. Ich möchte es, m. g. F., auf zwei Punkte zurükführen: zuerst daß er ihm zu erkennen gab, wie wenig in der That daran gelegen sei, ob ein solcher wenn auch noch so begabter und angesehener Mensch aber mit verkehrtem Sinn und Herzen in der Gemeine der Khristen sei oder nicht; und zweitens daß, indem er ihn auf diese Weise demüthigte, ja wir mögen wohl sagen ausstieß aus der Gemeine des Herrn, er ihm den Weg der Buße zeigte und offen ließ. In beiden zusammen genommen werden wir nur ganz | vollkommen unsre Khristenpflicht in jedem ähnlichen Falle erfüllen. Es ist, m. g. F., eine sehr natürliche Neigung der Menschen, in ihren näheren Kreisen, in denjenigen Verbindungen, durch welche sie am meisten Gutes zu schaffen glauben, besonders begabte und ausgezeichnete Menschen zu sehen. Und das finden wir auch in dem ersten Anfang der khristlichen Kirche. Es wird uns an mehreren Stellen von den Evangelisten mit Nachdruk berichtet, daß unter den Schriftgelehrten und Priestern des Volks viele zum Gehorsam des Evangeliums zurükkehrten. Mit welcher Ausführlichkeit und Vollständigkeit redet nicht Johannes von dem nächtlichen Unterricht, den Nikodemus, ein Pharisäer und Oberster unter den Juden, sich habe von Khristo | geben lassen! welche fast an das Unglaubliche gränzende Freude war nicht in der khristlichen Kirche, als jener Saulus, der die Gemeine des Herrn so lange verfolgt und im blinden Eifer für das Gesez des alten Bundes verkannt hatte die Beziehung aller göttlichen Veranstaltungen auf den, der des Gesezes Erfüllung gewesen, plözlich umkehrte und Jesum anerkannte als den von Gott Gesendeten, von welchem allein Heil den Menschen kommen könne! So nun auch dieser Simon, ein Mann, der von so vielen gehalten wurde wegen des Wunderbaren was er verrichtete für eine große Kraft Gottes, und der durch seine Thaten die Herzen der Menschen bestrikte, sollte es nicht dem Apostel lieb gewesen sein | und theuer, daß auch ein solcher sich gedemüthigt hatte unter den Gehorsam des Glaubens und sich hatte taufen laßen auf das Zeugniß des Philippus bekennend daß nicht er sondern dieser allein die große Kraft Gottes sei. Nun wohl, diese Neigung, m. g. F., wir haben sie alle. Zeigt sich der Glaube 35 Philippus] Stephanus 22–24 Vgl. Joh 3,1–21

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und die Theilnahme an dem Wohl der Kirche besonders wirksam in denen, die entschieden mächtig und angesehen sind in der menschlichen Gesellschaft, und die die Zügel der bürgerlichen Gewalt in Händen haben, wir freuen uns darüber; je mehr die Ansicht, die sie vom Glauben haben, je mehr ihre Überzeugung und ihre Handlungsweise als Khristen unsrer eigenen entspricht, um desto mehr freuen | wir uns darüber. Wählt sich der Herr, wiewohl in der Regel, so wie er selbst im ersten Anfang seines öffentlichen Lebens seinem Vater dafür dankt, daß er das Geheimniß des Glaubens den Weisen und Klugen verborgen aber den Unmündigen geoffenbaret habe, und wie lange Zeit der größere Theil der Khristen aus einfältigen Gemüthern bestand, und im Ganzen es auch noch immer die Regel ist, wenn man zählen will die Schaar der Gläubigen, aber wählt sich Gott der Herr zu Werkzeugen und Dienern der Kirche Männer von großen und ausgezeichneten Geistesgaben, die schon abgesehen vom Glauben und ohne denselben angesehen waren durch ihr geistiges | Übergewicht, so freuen wir uns darüber; jemehr wir uns mit ihnen verständigen können, je mehr alle Gewalt ihres Geistes, die sie sonst haben, aufgegangen ist in dem Gehorsam gegen das Evangelium, um desto mehr freuen wir uns darüber. Aber zeigt sich irgend etwas Unreines in ihrem Glauben und in ihrem Bestreben, dringen sie uns durch ihre Handlungsweise das Gefühl ab, welches den Petrus gegen Simon bewegte, daß ihr Herz nicht rechtschaffen ist vor Gott, haben wir Ursache zu fürchten, daß sie nicht suchen was des Herrn ist sondern ihr Eigen: o dann sollen wir uns durch diese natürliche Neigung nicht bestechen laßen, dann sollen wir fest vertrauen, daß die Kirche des Herrn keinen andern Grund | bedarf als ihn selbst, daß sie bestehen kann und wird, wenn auch kein Mächtiger der Erde ihr je und ihrem Lichte huldigt, wenn auch keiner von denen, die mit den Gaben der menschlichen Weisheit und der menschlichen Kunst ausgerüstet sind, zu ihr gehört, sondern sie ganz bestände aus den unmündigen und einfältigen Gemüthern, aus den Niedrigen und Geringern unter den Menschen, verachtet von den Kindern dieser Welt. Dieser Überzeugung sollen wir voll sein, und mit demselben Eifer allen begegnen, von denen wir glauben müßen, daß ihr Herz nicht rechtschaffen ist vor Gott, und daß sie verkehren wollen mit der Gewalt ihres Geistes das Wort der Wahrheit, und ihnen eben so sagen, daß sie für uns und nach unsrer Überzeugung keinen | Theil haben an diesem Worte des Lebens und an dem, was es auf Erden auszurichten bestimmt ist. Aber wie dieses, so auch das Zweite laßt uns dem Apostel nachahmen in seinem Verfahren, daß er dem Simon in dieser eifrigen Rede den Weg der Buße zeigte und offen ließ. „Darum, sagt er zu ihm, thue Buße für diese deine Bosheit, und bitte Gott ob dir vergeben werden möchte der Tük dei7–10 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21

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nes Herzens.“ Und was mag, m. g. F., den Apostel hiebei geleitet haben? Auf eine sehr unzweideutige Weise sprach sich durch das Begehren auf einem solchen Wege an den höheren Gaben der Apostel Antheil zu bekommen, und den Geist mitzutheilen wie er allein durch das Auflegen | ihrer Hände gegeben wurde, es sprach sich dadurch aus, daß er das Seine suchte, und daß sein Herz nicht rechtschaffen war vor Gott. Wenn er also auf einem ganz verkehrten Wege wandelte, und sein Herz nicht geöffnet hatte der reinen Wahrheit des Evangeliums, wenn daraus geschloßen werden konnte, es sei ihm nicht rechter Ernst gewesen, als er gläubig wurde auf das Zeugniß des Philippus und sich taufen ließ: was bewog den Apostel eben ihn mit dieser milden und schonenden Äußerung und mit dieser teilnehmenden Freundlichkeit, nachdem er ihn gezüchtigt hatte, auf den Weg der Buße zu weisen? Gewiß dies, daß der Apostel nicht ungläubig sein konnte an alles dasjenige was früher in der Seele des Simon gewesen war, | ehe er diese falsche Richtung des Gemüths an den Tag legte; er konnte nicht ungläubig sein, daß darin nicht etwas gewesen wäre was ihm von oben gekommen; er konnte nicht glauben, daß dies aus lauter Bosheit und Verkehrtheit und Heuchelei geschehen sei, sondern er hatte die feste Überzeugung, daß darin der Geist Gottes müße geschäftig gewesen sein, wenn gleich das gute Saamenkorn, sobald es aufgeschoßen im Innern seines Gemüths, zeitig überwachsen war von allem Saamen des Unkrauts, von welchem das wir wißen wie so mannichfaltig und von welchen Leidenschaften bewegte Herz des Menschen verunreinigt wird; er konnte an diese erste Regung des göttlichen Geistes nicht ungläubig sein, da der Glaube an das Reich Gottes | lebendig in ihm war, und er konnte nicht glauben, daß auch in jenen Zeiten schon ohne die erste Regung des Glaubens gefühlt zu haben sich einer habe können hinzuthun laßen zu der Schaar der Gläubigen; denn auch Philippus schon hätte müßen getäuscht worden sein von ihm und die ganze Schaar der Gläubigen; er hätte müßen keine höhere Regung des Gemüths gehabt haben damals als er sich taufen ließ. Und eben dieses Gefühl, m. g. F., soll uns alle leiten gegen alle diejenigen, die durch die Taufe aufgenommen sind in die Gemeinschaft der Gläubigen, die hernach bei gebildetem Verstande und nachdem sie unterrichtet sind in den Lehren des Evangeliums | den Bund der Taufe bestätigt und sich fest bekannt haben zur khristlichen Kirche, und die auf irgend eine Weise verpflichtet sind jene Lehren zu bekennen: – wir sollen nicht glauben, daß so Großes in dem Menschen geschehen könne ohne alle Theilnahme des göttlichen Geistes, und sollen nicht glauben, daß, wo so etwas einmal geschehen ist es ganz vergehen könnte und nicht wieder sollte zum Leben hervorgerufen 10 Philippus] Stephanus 19–16 Vgl. Mt 13,3–23.24–30; Mk 4,3–32; Lk 8,5–15

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werden, wenn es auch überwachsen ist von den Dornen. Und das, m. g. F., ist die schöne Hoffnung, die uns aufrecht erhalten muß, wenn wir so oft sehen, daß was gut angefangen hat sich auf eine schlechte Art endigt. Es gehört mit zu dem Glauben an das | feste Bestehen der khristlichen Kirche, da diese nur aus den Regungen des Geistes und aus den Wohlthaten des Wortes zusammengesezt ist, und nur daraus bestehen kann, daß wir vertrauen, keine solche Regung des Geistes und keine solche Wohlthat des Wortes müße ganz verloren sein, und es gebe irgend etwas Böses und Verkehrtes, was nicht besiegt werden könnte durch die Kraft des göttlichen Geistes, und es gebe in einem Gemüth, welches sich einmal, wenn auch nur flüchtig, der Wahrheit des Evangeliums geöffnet hat, irgend eine Verkehrtheit, die nicht könnte ausgerißen werden durch den Dienst der Diener, welche der Herr aussendet, um das Unkraut nicht nur in der Kirche | sondern auch in den einzelnen Seelen eben so sehr zu vertilgen, damit der gute Same wieder Raum gewinne um aufzukeimen und reiche Früchte zu tragen zur Verherrlichung Gottes. Und das ist die Art, m. g. F., wie mit dem Eifer der Khristen die Liebe, die das Wesen des Khristenthums ist, sich immer verbinden soll, wenn indem wir gegen das Böse und Verkehrte streiten aus allen Kräften, wir glauben an die Kraft des Evangeliums und daran, daß sie in der menschlichen Seele alles überwinden soll. Das ist der Grund, weßhalb jeder unter uns nie aufhören darf, indem er die verkehrten Gemüther der Menschen erschüttert, indem er sie fühlen läßt, daß, solange sie noch getrieben werden von sündlichen Neigungen und nicht rechtschaffen sind vor Gott, sie keinen Antheil haben | an dem Wort der Wahrheit und des Lebens, zu gleicher Zeit nie aufhören darf sie aufzufordern zur Buße, und sie daran zu erinnern, daß sie zu Gott beten, durch seine Gnade ihren verschloßenen Sinn zu öffnen, und den Tük ihres Herzens zu brechen, damit sie ganz hinzugethan werden zu der Schaar der Verkündiger der göttlichen Liebe, und alles was ihr eigener Sinn und ihr eigenes Werk ist, gefangen zu nehmen unter den Gehorsam des Glaubens. Und so sei denn beides, zu strafen und zu verzeihen, zu erschüttern und liebevoll hervorzuloken zu der Gemeinschaft mit dem Erlöser, zu verstoßen und den Weg der Buße zu zeigen, unser nie von einander zu trennendes und nur immer mit dem reinen und unverfälschten Eifer des Glaubens und der Liebe fortzutreibendes Geschäft in dieser Welt! Amen.

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[Liederblatt vom 30. Juli 1820:] Am 9ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der etc. [1.] Daß fern von Gottes Herrlichkeit / Wir trostlos nicht verzagten, / Und in der Erde Dunkelheit / Nach Licht vergeblich fragten, / Schrieb er dort auf des Himmels Rund, / Schrieb er hier in des Herzensgrund, / „Ich Gott bin euer Vater. // [2.] Und daß des ewgen Vaters Wort / Wir in der Schöpfung hörten, / Und des Gewissens Spruch hinfort / Als Gott-Gebote ehrten; / Daß auch der Sünde Zagen wich, / Drum einte Gott und Menschheit sich; / Er sandt uns Jesum Christum. // [3.] Als Jesus kam, sah sich erfreut / Der Mensch in Gottverklärung; / Er kam, und Lieb und Heiligkeit / Ward nun zur Gottverehrung. / Er ging erhöht, der Gottessohn, / Zurück zur ewgen Liebe Thron, / Und macht die Seinen selig. // [4.] O Heil uns, Heil! auch wir sind sein! / Sei, Vater, sei gepriesen, / Daß deinen Kindern reich und rein / Der Wahrheit Ströme fließen. / Und dir, der uns das höchste Gut / Am Kreuz erkauft mit Schmach und Blut, / Dank, Dank dir Jesus Christus! // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun freut euch etc. [1.] Welch hohes Amt, Betrug und Wahn / Und Laster zu bestreiten, / Und Seelen auf der Wahrheit Bahn / Zu dir, o Gott, zu leiten. / Wie herrlich! aber auch wie schwer! / Laß jeden Lehrer täglich mehr / Des Amtes Würde fühlen! // [2.] Gieb Allen deiner Weisheit Licht, / Stärk auch des Geistes Gaben, / Die sie für unsern Unterricht / Von dir empfangen haben, / Daß ihre Lehre wahr und rein, / Ihr Glaube standhaft möge sein, / Ihr Leben fromm und heilig. // [3.] Gieb daß mit sanfter Nachsicht sie / Der Schwachen Einfalt tragen, / Und keimt die Saat nicht gleich, doch nie / An ihrer Frucht verzagen! / Und möchten sie ohn Unterlaß / Und ohne Bitterkeit und Haß / Vor jeder Sünde warnen. // [4.] Und jeden Irrenden zurück / Zu deinem Pfade führen, / Ihn, eifrig für sein wahres Glück, / Beschämen, warnen, rühren; / Fest, doch geduldig und gelind, / Nicht stolz nicht hart, stets so gesinnt, / Wie Christi Dienern ziemet. // [5.] Trift sie Verfolgung oder Spott: / O daß sie dann mit Freuden / Und unerschrocknem Muth, o Gott, / Für deine Wahrheit leiden! / Du sandtest sie, sie ehren dich; / Umsonst empört der Frevler sich / Die Wahrheit zu vertilgen. // [6.] Und wie sie ohne Lohnsucht dir / Und ihren Brüdern dienen, / Nach keiner Herrschaft trachten hier: / So sei dein Lohn mit ihnen, / Daß sie am Tage des Gerichts / Im Glanze deines Angesichts / Sich deines Segens freuen. // (Cramer.) Nach der Predigt. – Mel. Was mein Gott will etc. Zeuch durch dein Gnadenwort an Dich, / Die noch den Irrweg gehen! / Steur’ allen Frevlern kräftiglich, / Die dir noch widerstehen! / Nichts müsse, Herr, dein Lebenswort, / Nichts dessen Lauf verhindern, / Erhalt es weiter fort und fort / Bei uns und unsern Kindern. //

Am 6. August 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 9,3–6 Nachschrift; SAr 75, Bl. 83r–103v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 83–97 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 114r–115r; Gemberg Nachschrift; SAr 53, Bl. 43r–56r; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 68r–72v; Woltersdorff Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Tageskalender:„über Pauli Bekehrung“

Predigt am zehnten Sonntage nach Trinitatis 1820. oder am sechsten Erntenmonds. |

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Tex t. Apostelgeschichte IX, 3–6. Und da er auf dem Wege war und nahe bei Damaskus kam, umleuchtete ihn plözlich ein Licht vom Himmel, und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Saul, Saul, was verfolgest du mich? Er aber sprach: Herr wer bist Du? der Herr sprach: ich bin Jesus, den du verfolgst. Es wird dir schwer werden wider den Stachel löken. Und er sprach mit Zittern und Zagen: Herr was willst du daß ich thun soll? Der Herr sprach zu ihm: stehe auf und gehe in die Stadt, da wird man dir sagen, was du thun sollst. Ich habe, m. a. F., nur dies Wenige herausgenommen, welches alle gleich vollständig und im Zusammenhange wird erinnert haben an die große Begebenheit, über die wir heute reden wollen. Denn wie könnte man diese übergehen, | wenn in einer Reihe von Betrachtungen das Merkwürdigste soll dargestellt werden, wodurch die khristliche Kirche ist gepflanzt und gegründet worden? wie könnte man da übergehen die Bekehrung dieses großen Apostels, der gleich bei seinem ersten Eintritt in die khristliche Kirche ihr als ein auserwähltes Rüstzeug Gottes angekündigt wurde, von dem wir wißen, wie er sein ganzes Leben hindurch dem Evangelium gedient und das Wort des Herrn in die entferntesten Gegenden gebracht hat zum Segen für viele hunderte und tausende, in deßen eigenen Schriften wir es lesen

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und daraus erfahren, wie tief er eingedrungen ist in das Geheimniß des Kreuzes, so daß sie uns und alle folgenden Geschlechter der Khristen erleuchten und befestigen können? Und als ihn die Stimme | des Herrn traf, da war er eben auf dem Wege die Gläubigen zu verfolgen mit Briefen des Hohenpriesters ausgerüstet, wenn er welche fände, die dieses Weges wandelten, die ins Gefängniß zu sezen und zu binden. Und eben dies, m. g. F., daß er aus einem Verfolger zu einem Bekenner, aus einem solchen Verfolger zu einem solchen Bekenner und Werkzeug des Glaubens geworden ist, das ist nicht nur dieses einzelnen Falles wegen merkwürdig, sondern wir müßen eben in diesem eine Regel sehen und eine göttliche Ordnung für jede Zeit nach ihrer eigenthümlichen Art und Weise, und müßen es betrachten als einen wesentlichen Bestandtheil des göttlichen Rathschlußes in der Begründung der Kirche Jesu Khristi, daß die Verfolger | desselben, und gerade solche wie der Apostel es war, sollen bekehrt werden zum Glauben und deshalb kein Ende nehmen bis an das Ende der Tage. Aus diesem Gesichtspunkt laßt uns jezt über jene merkwürdige Begebenheit, von der ich einen Theil vorgelesen habe, mit einander reden. Laßt uns zuerst betrachten, weßhalb denn wohl es so nothwendig ist und zur Begründung der Kirche des Herrn gehört, daß auch die Verfolger derselben sollen bekehrt werden; und laßt uns dann zweitens an dem Beispiel des Apostels sehen, auf welchem Wege dies bewerkstelligt wird. I. Wenn wir m. g. F., uns das Erste näher erwägen, so liegt freilich darin zuerst diese Behauptung, daß es noch immer Verfolger und Feinde des | Khristenthums gebe. Und das wird auch keiner unter uns zu leugnen begehren. Nicht nur giebt es noch immer viele Menschen, die der Stimme des göttlichen Geistes kein Gehör geben, denen der Sinn nicht geöffnet ist für das höhere Leben, zu welchem wir alle berufen sind, sondern die beständig in den Dingen dieser Welt und in den irdischen Bestrebungen des Menschen verstrikt bleiben, und sich dem Wirken des göttlichen Geistes entziehen. Der größte Theil von diesen freilich, wenn er die Stimme des göttlichen Geistes auch nicht vernimmt, so geht er an dem ganzen Werk desselben gleichgültig vorüber. Aber es giebt freilich auch andre, die in ihrem Herzen eine Stimme bisweilen vernehmen, welche sie auffordern will eben dieses | Weges zu wandeln, den sie die treuen Jünger unsres Herrn und Meisters wandeln sehen; aber indem sie es nicht über sich gewinnen können, sich selbst und die Welt zu verleugnen, so suchen sie diese Stimme in sich zu unterdrüken, und weil sie nur der Nachhall ist von dem was sie um sich her vernehmen von dem Reiche Gottes und seinem Willen, so suchen sie auch dies nach ihrem Vermögen zu unterdrüken, daß es ihnen nicht in den Weg 31 Theil] Ergänzung aus SAr 53, Bl. 45r; SAr 59, Bl. 68v

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treten kann. Solche suchen es sich und andern von einer geringfügigen und lächerlichen Seite darzustellen, und sind so nicht nur Gleichgültige, sondern auch Gegner und Feinde des Kreuzes Khristi. Von einer andern Art, m. g. F., war der Apostel ein Verfolger; denn wie er es selbst sagt, er that es im Eifer für das | Gesez Gottes und für die alte Ordnung der Dinge, aber in einem unverständigen und thörichten Eifer, der bei dem hergebrachten Buchstaben, bei dem was auf der Oberfläche schwebte, stehen blieb, und der das Innere und Wesenhafte nicht zu erforschen suchte. Aber er eiferte doch für Gott, wenn er es gleich mit Unverstand that. Und solche Verfolger des Evangeliums, wie er es in diesem Sinne war, giebt es noch immer, und diese sind es vorzüglich, die da sollen und müßen bekehrt werden. Es giebt noch Menschen, und wir sehen sie häufig genug in unsrer Nähe, die indem sie das Evangelium verfolgen[,] glaubten die Rechte der menschlichen Vernunft, als des köstlichen Gutes welches Gott uns beigelegt | hat, zu vertheidigen, weil ihnen nämlich das nicht gegeben ist einzusehen, wie die menschliche Vernunft sich selbst ehrt und dadurch erst frei wird, wenn sie sich gefangen giebt unter den Gehorsam des Glaubens, damit der Sohn sie frei mache. Weil sie das nicht vernehmen, weil ihnen in der Geschichte des Evangeliums vieles zu sein scheint, was mit ihrer noch nicht ganz erleuchteten aber ihrer doch sich selbst größtentheils bewußten Vernunft im Widerspruch steht, so sehen sie das Evangelium an als eine Feindschaft gegen dasjenige was Gott dem Menschen Größtes und Herrlichstes verliehen hat, und eifern, indem sie für Gottes Gabe eifern, für Gott selbst – aber sie thun es mit Unverstand. Andre giebt es, redliche Freunde des Guten aber strenge Richter alles menschlichen Thuns, die, | indem ihr ganzes Tichten und Trachten darauf gerichtet ist, unter der Gemeinschaft der Menschen, der sie angehören, das Gute und Rechte aufrecht zu erhalten, zu einer lebendigen Vereinigung der Kräfte, zu jedem würdigen gemeinsamen Zwek die Menschen zu vereinigen, aber indem sie dies wollen zu gleicher Zeit sehen, wie es unter den Khristen viele giebt, die sich von den Sorgen und den Geschäften der Welt zurükzuziehen suchen, und nun eben deßhalb theils aus Mißverstand, theils weil sie bei dem stehen bleiben was selbst ein Mißverstand des Evangeliums ist, oder aus einem Mißverstande herrührt, dies dem Worte Gottes und dem Kreuze Khristi zurechnen, und gegen die Vereinigung der Khristen nach ihrem Vermögen streiten, weil sie meinen, sie mache die Menschen | weniger geneigt und fähig dem gemeinsamen Wohl ihre Kräfte aufzuopfern, sie verringere ihre Theilnahme an den wichtigen Angelegenheiten der Menschheit. Das sind Freunde der Vernunft und Freunde des Guten, aber Gegner und Feinde des göttlichen Worts; es sind redliche Eiferer um Gott nach ihrer Einsicht, aber ihre Einsicht ist getrübt. So war der 5 Vgl. Phil 3,6

16–17 Vgl. 2Kor 10,5

17–18 Vgl. Joh 8,36

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Apostel; er war ein Verehrer des Gesezes, ein Eiferer um sein Volk, aber dennoch verfolgte er die Khristen, weil er meinte sie verachteten das Gesez Gottes, und zerstörten das was zum Heil des Volks gereiche. Und gerade einen solchen hatte sich der Herr ausersehen zu einem besondern Rüstzeug; und eben so müßen wir ja wohl glauben, daß sein | Herz gesinnt sei gegen alle diejenigen, die in diesem nichtigen und unverständigen Eifer um Gott und um sein Gesez dem Apostel ähnlich sind. Und wie der Herr, m. g. F., so auch die Diener; und so sollen auch wir alle mit unserm Sehnen, mit unserm Tichten und Trachten darauf gerichtet sein, vorzüglich alle solche Feinde des Kreuzes Khristi um die Fahne des Kreuzes zu versammeln, und sie zu dem Glauben, den sie verschmähen, hinzuwenden, nicht etwa, m. g. F., deßwegen, weil solche auserwählte Rüstzeuge zur Beförderung des Reiches Gottes auf Erden unentbehrlich wären – nein unentbehrlich, m. g. F., war nur Einer; und eben weil der seine Mühe gehabt hat und seine Last, | und weil ihm der Herr viele zur Beute gegeben hat, und weil die Zahl seiner Kinder ist wie der Thau der Morgenröthe, so ist keiner der von sich sagen dürfte, er könne nicht entbehrt werden. Denn wie der Herr selbst zu seinen Zeitgenoßen sagt „wenn ihr nicht wollt Abrahams Kinder sein, so vermag Gott aus diesen Steinen dem Abraham Kinder zu erweken“, so können die auserwählten und herrlichsten Rüstzeuge Gottes auf eine ganz andre Weise und von ganz andern Orten und Enden her entstehen, um das Wort des Lebens zu verbreiten, und Träger zu sein des göttlichen Geistes; und nicht dürfen wir glauben, daß an irgend ein menschliches | Mittel jene Festigkeit, die der Herr rühmt von seiner Gemeine auf Erden, gebunden sei. Aber eben so wenig dürfen wir uns auf eine einseitige Weise an jenes Wort des Erlösers halten, in welches er einmal ausbrach voll Freude über den Fortgang seines großen Werks, als er seinem Vater dafür dankte, daß er das Geheimniß von dem Kreuze den Unmündigen offenbart aber den Klugen und Weisen dieser Welt verborgen habe. Ja so fühlte er es damals, und sein ganzes Herz war aufgelöst in Dank und Verehrung gegen Gott für diese seine verborgenen Wege. Aber sollen wir glauben, er habe die Weisen dieser Welt ausschließen wollen | von der Theilnahme an seinem Reich und von dem Genuß seiner Wohlthaten? Nein, denn sein liebevolles Herz umfaßte sie eben so gut wie die Unmündigen und Unverständigen. Aber eben dadurch sollte die Weisheit der Welt gedemüthigt werden, daß ihr lange Zeit hindurch die Weisheit Gottes als Thorheit erschien, und daß durch die Unmündigen ihr erst sollten die Augen geöffnet werden, um das göttliche Licht zu schauen, und sich 34 sollte] solte 15 Vgl. Jes 53,12 16 Vgl. Ps 110,3 17–19 Johannes der Täufer vgl. Mt 3,9 25–29 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21 34–1 Vgl. 1Kor 1,20–29

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von demselben erleuchten zu laßen. Aber eben deßwegen, m. g. F., vorzüglich, damit sich die Unmündigen und Einfältigen, die der Geist Gottes erleuchtet hat, nicht ihrer eigenen Einfalt und ihres Unvermögens rühmen gegen diejenigen, die Gott ausgerüstet | hat mit vorzüglichen und herrlichen Gaben des Geistes: eben darum hat er nachher dafür gesorgt, und zum Theil auf eine ausgezeichnete Weise wie bei dem Apostel, daß auch die Weisen und Klugen dieser Erde gesammelt würden um die Fahne des Kreuzes. Denn so wie nun Saulus umgekehrt, und aus einem Saulus ein Paulus geworden war, ein muthvoller Verfechter der Sache des Evangelii, ein treuer und unermüdeter Diener des Herrn bis in den Tod, eben so eifrig wie vorher dem Gesez jezt Khristo anhangend, Juden und Heiden zu dem Wort der Wahrheit und des Lebens rufend, und dem Namen des Herrn eine große Gemeine der | Gläubigen sammelnd: wie bereit waren die Apostel ihm zu reichen die Rechte der Gemeinschaft, ihn anzusehen als einen Apostel Jesu Khristi; und wie ruhig ließen sie es sich gefallen, daß er sagte, das Wort welches er verkündige, habe er nicht von Menschen empfangen, auch nicht von den ersten Aposteln, sondern von dem Herrn selbst sei es ihm gegeben. So, m. g. F., so ist die göttliche Ordnung, und so wird und muß sie bleiben. Wie im Anfang der Ausbreitung der khristlichen Kirche, so beständig bleibt das die alte Regel: die größte Zahl derer, die sich in Sehnsucht und ausschließend zu dem Evangelium hinwenden, sind diejenigen, die vor der Welt gering sind und | übersehen werden; aber herrlich offenbart sich die Weisheit und die Kraft Gottes, wenn sie nicht bloß stark ist und mächtig in denen, die vor der Welt schwach sind, sondern wenn sie sich auch diejenigen unterwirft, die in der Feindschaft gegen das Evangelium mächtig und ausgerüstet mit herrlichen Gaben sich gezeigt haben. Und darum, m. g. F., soll die khristliche Kirche immer dürsten und verlangen nach der Bekehrung derer, die in einem falschen Eifer für Gott Feinde und Verfolger sind von dem Wort des Kreuzes; und darum laßt uns zweitens mit einander erwägen, wie diese Veränderung in dem Apostel ist bewirkt worden, damit wir wißen, was auch wir in einem ähnlichen Falle zu thun haben und zu laßen. II. | O freilich, m. g. F., gar wenig scheint auf den ersten Anblik das Unsrige dabei zu sein. Saulus war auf dem Wege gen Damaskus, mit Briefen von dem Hohenpriester versehen, um die Khristen, die er träfe, zu verfolgen und zu überantworten. Und als er nahe an die Stadt kam, da umleuchtete ihn plözlich ein Licht vom Himmel, daß er zur Erde fiel, und er hörte die Stimme des Herrn und kehrte um und glaubte. Das können wir nicht bewirken, daß plözlich in die wenn gleich an und für sich nicht finstere und 16–18 Vgl. Gal 1,12

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verdunkelte Seele, aber der doch das göttliche Geheimniß noch dunkel ist, daß plözlich in diese ein Strahl des himmlischen Lichtes hineinfällt und sie erleuchtet mit mildem Schein; das ist nicht unser | Werk sondern Gottes. Und wenn es auch jezt nicht mehr auf eine äußerliche Weise mit einer sinnlichen Offenbarung des Herrn verbunden ist, wenn es auch ganz innerlich vorgeht, so ist es das innere Geheimniß Gottes, das Wunder in den Tiefen der menschlichen Seele, welches kein andrer Mensch, wie sehnlich er auch verlange nach der Bekehrung des Sünders, wie ernstlich er sich auch bestrebe das Reich Gottes auszubreiten in den Herzen derer, denen es noch verschloßen ist, was keiner zu bewirken vermag. Aber, m. g. F., unnüz und vergeblich sind wir dabei auch nicht. Denn was freilich ein Wunder ist und bleibt, das ist und bleibt doch gebunden an die irdischen Verhältniße | des Menschen, und hat in der Erscheinung seine von Gott bestimmte Zeit und Stunde. Wenn es nur die göttliche Allmacht wäre, die hier wirkte mit Hintansezung aller menschlichen und irdischen Verhältniße, o warum hätte denn der Herr es so lange verschoben dem Saulus seinem Verfolger zu erscheinen! warum hätte seine himmlische Liebe es zugelaßen, daß er so viele Sünden der Verfolgung über sich häufte, da er ihm doch schon lange bekannt war als ein herrlich begabtes Rüstzeug auch für seine Sache. Das kann doch nicht eine Willkühr sein von dem Erlöser; sondern wir müßen sagen, Zeit und Stunde war noch nicht gekommen, sondern nun erst war sie erschienen. Also hing doch Zeit und Stunde von | menschlichen Verhältnißen ab; und diese auf den Punkt zu bringen, daß die Stunde schlage zur Bekehrung des Sünders, daran haben auch wir unser Theil. Wenn Gott, m. g. F., auch zu der menschlichen Seele redet äußerlich oder innerlich, wenn er sich ihr auch offenbart mehr oder weniger wunderbar und unserm Verständniß nach übernatürlich: die Seele bleibt doch ein freies Wesen, welches auch den Strahl des himmlischen Lichtes, wie unmittelbar er auch in den Mittelpunkt derselben fallen mag, freiwillig aufnehmen kann, und gegen jede göttliche Rede, die an das menschliche Herz ergeht, hat es seine Gegenrede frei. Und wie nun hier der Apostel nachdem er gefragt hatte, Herr | wer bist du? das schlagende und strafende Wort des Erlösers vernahm „ich bin Jesus, den du verfolgst; es wird dir schwer werden wider den Stachel zu löken“, und wie ihm nun nichts anders übrig war als zu fragen nicht ohne Zittern und Zagen „Herr was willst du daß ich thun soll“? so müßen wir sagen, wenn wir das Thun des Herrn rechtfertigen wollen: früher würde es anders gewesen sein mit dem Apostel. Aber je länger er schon fortgegangen war auf dem Wege der Feindschaft und der Verfolgung, um desto mehr mußte allmählig seine Seele wankend geworden sein in ihrer Ueberzeugung, | und sein Sinn nicht mehr so fest, um desto mehr mußte ihm nun, da er in die Nähe der Stadt kam, und der entscheidende 29 aufnehmen] so SW II/10, S. 91; Textzeuge: nehmen

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Augenblik sich nahte, wo er wieder Gebrauch machen sollte von der ihm übertragenen Gewalt, um desto mehr mußte sein Gemüth in sich beunruhigt sein, daß er sich selbst fragte, ob er auch wohl Recht thue, die Khristen zu verfolgen, ob das was er fördere wohl Gottes Werk sei, oder was er störe und bekämpfe; und dadurch war er reif diesen Zuruf des Herrn so aufzunehmen, wie er es gethan hat; und von jenem Augenblik an, wo die, welche den ersten Märtyrer des Glaubens steinigeten, ihre Kleider ablegten | zu seinen Füßen, von dem Augenblik an, wo er die Freudigkeit anschaute, mit welcher Stephanus den Himmel offen sehend dem irdischen Leben Lebewohl sagte, bis zu dem Augenblik wo er das Werk der Verfolgung wieder beginnen wollte alles, was ihm bis dahin begegnet war, alles, was auf ihn gewirkt hatte, es mußte seine Seele mürbe gemacht haben und reif und empfänglich für den Eindruk, den der Herr nun auf ihn ausübte. So sehen wir, m. g. F., wie auch wir unser Theil haben an der Bekehrung der Verfolger des Evangeliums. Denn wären dem Apostel die Khristen auf eine andre Weise entgegengetreten, hätten sie sich anders gezeigt als er sie | verfolgte, so würde er auch mit andern Eindrüken erfüllt einen andern Widerstand entgegengesezt haben dem Wort des Herrn welches an ihn erging, und auch dieser Augenblik würde verloren gewesen sein an seiner Seele. Was aber dabei der Antheil der khristlichen Gemeine und der einzelnen Glieder derselben gewesen war, das lernen wir aus den Worten, die wir aus dem Zusammenhange dieser Geschichte gelesen haben. Der Herr sagt zum Saulus: es wird dir schwer werden wider den Stachel löken, das heißt: wenn du auf dem Wege fortgehst, auf welchem du wandelst, so wirst du inne werden, daß du dich vergeblich einer Gewalt wiedersezest, die dich selbst gefaßt hat und leitet, du wirst es inne werden, | daß du dich vergeblich entgegenstellst mit nur menschlicher und vergänglicher Kraft einem Rathschluß Gottes von oben herab. Und eben dazu war seine Seele fähig geworden, daß ihm das deutlich wurde in diesem Augenblik, und darum sprach er mit Zittern und Zagen, Herr, was willst du daß ich thun soll? Dazu was der Herr dem Apostel sagte, dazu mußte ihm das ganze Leben und die Handlungsweise der Khristen den Beweiß geben, damit das Wort Wahrheit würde in der Seele deßen, der bisher ein Verfolger des Worts und seiner Bekenner gewesen war. Als er das hörte, da mußte er wohl gedenken an jenes weise und schöne Wort seines Lehrers, der in dem hohen Rath, als man | fragte was man beginnen sollte gegen die neue Lehre und mit den Aposteln, die sie mit solcher Freudigkeit und Unerschrokenheit verbreiteten, und sich nicht wehren ließen mit Wundern und Zeichen dem Worte welches sie verkündigten Eingang zu verschaffen in die Herzen der Menschen, der da seinen Mitgenoßen den Bescheid gab: ist das Werk von Menschen, so 6–10 Vgl. Apg 7,55–60

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wird es untergehen, ist es aber von Gott, so könnt ihr es nicht dämpfen, und so laßt es immer ruhig gewähren, damit ihr nicht das Ansehen habt gegen Gott zu streiten. Indem der Herr dem Apostel sagte, es wird dir schwer werden gegen die Gewalt auszuschlagen, die dich ergriffen | hat, so mußte nun alles in seiner Seele zusammentreten, wodurch es ihm Wahrheit wurde, daß das was er verfolgte ein Werk Gottes sei, daß der Jesus von Nazareth, den er verfolgt hatte, der Khrist und der Gesandte Gottes sei. Fragen wir, m. g. F. wodurch denn konnte es ihm, wenn alles in seiner Seele vereinigt war, klar werden wie niemals vorher, daß das ein Werk Gottes sei, welches er verfolge? o so müßen wir sagen, durch die Standhaftigkeit, mit der die Khristen über sich ergehen ließen das Unrecht, welches auch er ihnen zufügte, durch die Tapferkeit, mit der sie allen Leiden, die ihnen von ihren Verfolgern bereitet wurden, entgegen gingen, durch die feste Verbrüderung ihrer Liebe, die durch keine Lüke, welche die Feindschaft und Verfolgung ihrer Widersacher in ihrem | Kreise machte, gebrochen und zerstört wurde, aber endlich auch und vor allem dadurch, daß keine Feindschaft und Verfolgung sie selbst zu feindseligen Bewegungen des Gemüths fortreißen konnte. Davon mußte der Apostel viele Züge gesehen haben als er die Khristen verfolgte, und das mußte sich ihm in diesem Augenblik als eine Kraft darstellen, der er ganz vergeblich seinen feindseligen Eifer entgegen stellen würde, als eine Kraft, welche für menschliche Kräfte unüberwindlich sei, weil sie gebunden war und getragen durch das göttliche Wort. Und das ist es, m. g. F., wodurch auch wir können alle, die in demselben Sinne wie der Apostel es war Feinde des Kreuzes Khristi sind, zur Besinnung bringen nach unsern Kräften. Bilden sich die Menschen ein, daß | das Khristenthum uns unfähig mache zu den herrlichen Erweisungen des Muths, der Treue und der Liebe; wie können sie in diesem Wahn bleiben, wenn sie in dem Leben der Khristen nichts sehen als Liebe und Treue, und wenn ihnen der alle Mächte überwindende, allen Gefahren trozende und alle Leiden verspottende Muth der Gläubigen überall entgegen kommt! Und diejenigen, die da meinen, indem sie das Evangelium verfolgen, die Rechte der menschlichen Vernunft zu vertreten, müßen sie nicht am Ende zur Besinnung kommen und fragen, was kann die Vernunft, deren Rechte du so eifrig vertheidigst, denn geben, wenn sie auch überall aufs freiste handelt, und über den ganzen Kreis der Erde verbreitet ist, was kann sie den Menschen geben, welches herrlicher und größer | wäre, als was diese schon haben in der Kraft des Glaubens, unter den sich ihre Vernunft gefangen gegeben hat? Von welcher Finsterniß können die Menschen befreit werden durch das Licht der Vernunft, daß sie gelangen könnten zu einem reinern Licht als welches die besizen, deren Wandel schon hier im Himmel ist, und die schon 40 Vgl. Phil 3,20

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hier in sich aufgenommen haben das höhere Leben? Zu welcher Freiheit könnte die menschliche Vernunft führen, die größer wäre als welche diejenigen genießen, die der Sohn frei gemacht hat? So zusammenhaltend untereinander in wahrer Liebe, so in heiliger Treue uns unserm Herrn ergebend und seine Sache verfechtend, so mit Liebe aber auch wo es sein muß mit unerschütterlichem Muth und ohne von Haß und | Feindschaft bewegt zu werden uns unsern Gegnern entgegenstellend, so werden wir sie an uns ziehen, so werden wir Zeit und Stunde herbeiführen für die göttliche Gnade zum Preise deßen, der sie alle ergreifen und zu sich nehmen will. Und das finden wir auch noch besonders bestätigt in den Worten, die der Herr hinzufügte auf die Frage des Apostels, was er wolle, daß er thun solle: „stehe auf und gehe in die Stadt, da wird man dir sagen was du thun sollst.“ Da war ein Jünger des Herrn unter andern, ein Mann unbescholten und gerecht vor seinem Volk, der aber gehorsam geworden war dem Gesez des Glaubens, und den sah sich der Herr zum Rüstzeug aus, um die schon weich | gemachte Seele des Apostels völlig zu bearbeiten. Als dem der Herr sagte in einem Gesicht, er solle hingehen zu dem Saulus von Tarsen und die Hand auf ihn legen, daß er wieder sehend werde, so sagte der, er habe viel gehört von diesem Saulus, aber immer nur wie viel Böses er denen zugefügt habe, die den Namen des Herrn bekennen. Als ihm aber der Herr sagte, den habe er sich auserwählt zum Rüstzeuge, daß er seinen Namen trage zu den Heiden und zu den Kindern von Israel, und er wolle ihm gleich zeigen, wie viel er um seinetwillen leiden werde, da war Ananias augenbliklich bereit hinzugehen, um wie der Herr befohlen hatte an Saulus zu thun. Sehet da, m. g. F., | das war es, wodurch nun vorzüglich noch der Apostel dem Herrn gewonnen wurde. Wie spricht Ananias über ihn, in dem er ihn nur als einen Gegner und Verfolger des Evangeliums und also seines eigenen Glaubens kennt? Keine Spur von Haß und Feindschaft, keine Spur von Verkleinerung, keine Spur von Schmähung, sondern so daß wir in dem Wenigen was von seinen Worten uns auf bewahrt ist in der Schrift, deutlich fühlen können die Achtung, von welcher er durchdrungen war gegen den Geist und die Kraft des Mannes, von dem die Rede war, und so wie er nur die Möglichkeit dachte, dieser könne ein Werkzeug des Herrn werden, auch zugleich die Bereitwilligkeit, wenn gleich dem Anschein zuwider, alles das Seinige beizutragen, um ihn völlig zu gewinnen | und ihn zu befestigen auf dem Wege, den er von dem Herrn geleitet und erleuchtet eingeschlagen hatte. Das ist der Weg, den man mit solchen Gemüthern zu gehen hat, die auf dieselbe Weise wie der Apostel besondre Gaben und große irdische Weisheit besizen, aber in unverständigem Eifer Feinde des Kreuzes Khristi sind, wenn der Herr sie nun erweicht und fähig macht sein Wort zu vernehmen. Nur wenn 13–24 Vgl. Apg 9,10–13

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wir ihren natürlichen Werth nicht verkennen, nur wenn wir die Kraft, mit der sie wirken, die Einsicht, welche ihre Schritte leitet, nicht übersehen, nur wenn wir dem Eifer, mit welchem sie dem Guten dienen, Gerechtigkeit widerfahren laßen und die gebührende Achtung nicht entziehen, aber um desto lebendiger | der Wunsch in uns ist, möchten sie doch Rüstzeuge werden für den, der doch allein der Seele das ewige Heil gewähren kann, was wir auch dabei wagen mögen, wie tief wir auch unter ihnen stehen mögen in Erkenntniß und Weisheit – denn gewiß war Ananias nur ein einfältiger Mann gegen den hoch begabten und tiefdenkenden Apostel – wenn wir bereit sind ihnen zuzureden mit dem Worte der Liebe, ihnen mitzutheilen das Licht, welches nicht unser ist, sondern der Herr uns gegeben hat, um es denen leuchten zu laßen, die noch wandeln in der dunkeln Entfernung von ihm, nur wenn wir zu ihnen reden mit Sanftmuth und Freundlichkeit, wie Ananias es that, und nicht aufhören sie zu leiten auf den Weg, | den wir Khristo nachfolgen, und sie zu erfüllen mit dem Geist, den er denen beschieden hat, die an ihn glauben: dadurch erst wird das lezte Siegel aufgedrükt auf die wunderbaren Thaten des Herrn an der menschlichen Seele. Und so, m. g. F., so mögen wir uns wohl freuen, daß diese Laufbahn uns Allen aufgethan ist. Nicht mit Widerwillen, nicht mit feindseligen Bewegungen unsers Gemüths, sondern mit festem Glauben und mit wahrer Freude können und sollen wir daran denken, daß es noch immer giebt Eiferer um Gott und um Gottes Sache, welche die Kraft und das Licht des Evangeliums verkennen. O viele hat es unter ihnen gegeben, und immer wird es noch unter ihnen geben, die Gott sich auserwählt hat zu Rüstzeugen, wenn auch nicht wie | den Paulus, aber doch auf eine untergeordnete Weise, wenn die Stunde kommt, wo sie sich demüthigen unter seine Gewalt, und dann werden auch diese eifrige und treue Diener sein in seinem Weinberge. Aber mögen wir nur dazu unsern Dienst dem Herrn nie entziehen, mögen wir nur überall wie jene erste Gemeine der Khristen mit Muth und Festigkeit, mit Liebe und Sanftmuth den Feinden des Evangeliums entgegentreten. Sehnen wir uns nach dem Augenblik ihrer Bekehrung, versagen wir uns ihnen nicht in dem ersten Augenblik, wo uns ihre Rükkehr nahe scheint und sie getroffen werden von der Kraft von oben: dann werden auch wir unsern Antheil haben an dem größten Werk | des göttlichen Geistes, die Verfolger des Evangeliums zu seinen Bekennern und Werkzeugen umzugestalten. Und eben weil es noch solche Rüstzeuge giebt, die der Herr noch nicht gerufen hat aber rufen wird, eben darum sollen wir vertrauen, sein Reich wird durch alle Mittel, die in solchen Rüstzeugen liegen, sich immer weiter verbreiten und immer fester gründen, immer mehr wird die Wahrheit des Evangeliums die Seelen der Menschen erleuchten, und immer mehrere werden sich vereinigen die Sache des Herrn zu fördern, die Weisen und die Einfältigen, die Starken und die Schwachen, alle werden jeder nach seinem Maße Einem und demselben Herrn dienen, und indem

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sein Geist in den Schwachen mächtig | ist, indem die göttliche Weisheit, nachdem sie lange für Thorheit gehalten ist, sich die menschliche unterwirft, so fühlen wir es und müßen es einsehen, daß es viele Gaben giebt, aber Einen Gott der sie spendet, daß es viele Ämter giebt, aber Einen Herrn der sie vertheilt, und daß es viele Kräfte giebt, wodurch wir ihm und seinem Werke dienen können, aber Einen Geist, der sie alle beseelen und leiten muß zu dem was ihm wohlgefällig ist. Amen.

[Liederblatt vom 6. August 1820:] Am 10ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Es ist das Heil etc. [1.] Die Himmel preisen deine Macht / Mit allen ihren Heeren, / Und ihrer Wunder hohe Pracht / Strahlt, Schöpfer, dir zu Ehren. / Was deine Weisheit, Gott, vermag, / Lehre jeder Tag den andern Tag, / Und jede Nacht die andre. // [2.] Doch deiner Schöpfung Unterricht / Verstanden selbst die Weisen / Mit ihrem tiefen Forschen nicht, / Und lernten nicht dich preisen. / Was wüßten wir, wenn deinen Ruhm, / O Gott, dein Evangelium / Uns nicht verkündigt hätte! // [3.] Nur Jesu Weisheit, diese nur / Giebt Blinden Kraft zu sehen, / Und lehrt die Sehnsucht der Natur, / Der Schöpfung Ruf verstehen. / Durch ihren heilgen Unterricht / Wird erst des Lebens Dunkel licht, / Dich, Schöpfer, zu erkennen. // [4.] Von ihr erleuchtet können wir / Nach unsrer Würde leben, / Mit gottgefälliger Begier / Nach seinem Himmel streben. / Mit kindlich fröhlichem Vertraun / Durch Christum auf zum Vater schaun, / Und dankbarlich ihn preisen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Preis, Lob, Ehr, Ruhm etc. [1.] Der Geist, der von des Höchsten Thron / Mit Himmelslicht und Kraft ausgehet, / Der ausgesendet von dem Sohn, / Wo er nur will begeisternd wehet, / Der sich herab zu unsrer Armuth neigt, / Uns durch den Sohn den Weg zum Vater zeigt; // [2.] Der Geist, der uns als Gottes Pfand / Im Herzen die Versichrung giebet, / Daß Gott mit treuer Liebeshand / Uns hält und wie ein Vater liebet; / Der Geist, der uns in alle Wahrheit führt, / Und mannigfach mit Gnadengaben ziert; // [3.] Der Geist verlangt die große Schaar / Der Gott erwählten voll zu haben. / Drum ruft und lockt er immerdar, / Und bricht 1–2 indem ... gehalten ist,] Ergänzung aus SW II/10, S. 97 3–7 Vgl. 1Kor 12,4–6. Die dem paulinischen Text am nächsten kommende Formulierung findet sich in SAr 53, Bl. 56v „daß es mancherlei Ämter gebe, aber einen Herrn, und daß es mancherlei Kräfte gebe, aber einen Gott, der da wirket Alles in Allen, und daß es viele Gaben gebe, aber einen Geist, der alle beseelen muß und alle leiten zu dem, was ihm wohlgefällig ist.“

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hervor mit seinen Gaben. / Je stärker sich die Zahl der Frommen mehrt, / Je lauter wird sein Gnadenruf gehört. // [4.] Und wie er stets auf Erden zeugt, / Durch seiner treuen Boten Munde, / So, wenn die Welt zum Ende neigt, / Ruft er, es ist die lezte Stunde, / Er ruft der Welt, Komm es ist hohe Zeit, / Ergreif das Heil, geh ein zur Herrlichkeit. // [5.] Und wird sein Rufen ganz verlacht, / Verschmäht die Welt die milde Stimme, / Geht unbesorgt in eitler Pracht / Entgegen jenes Tages Grimme: / Sein Schmerzensruf nur desto lauter tönt, / Er dringt durch Mark und Bein, straft und versöhnt. // [6.] So kommt denn her, die ihr das Heil / Der Seelen ernstlich sucht und meinet, / Kommt und ergreift das beste Theil, / Eh’ euer Richter noch erscheinet. / Schon ruft der Geist: ja ja, der Herr kommt bald, / So kommt denn her, eh noch sein Zorn erschallt. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. O Ewigkeit etc. Wie Gottes Blitz geht Gottes Wort / Bis an der Erde Grenzen fort, / Die Nacht weicht vor dem Lichte! / Bald beten alle Feind’ ihn an, / Von dem wir einst die Kron empfahn, / Wenn er kommt zum Gerichte. / Zu ihrem Heil, zu Jesu Ruhm / Schafft Gottes Geist die Seelen um. //

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12. Sonntag nach Trintatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,19–21 Nachschrift; SAr 75, Bl. 104r–124v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 98–111 (Textzeugenparallele) Keine Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwölften Sonntage nach Trinitatis 1820. oder am zwanzigsten Erntenmonds. |

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Tex t. Apostelgeschichte XI, 19–21. Die aber zerstreut waren in der Trübsal, so sich über Stephano erhob, gingen umher bis gen Phönizien und Cypern und Antiochien, und redeten das Wort zu niemand denn allein zu den Juden. Es waren aber etliche unter ihnen Männer von Cypern und Cyrene, die kamen gen Antiochien, und redeten auch zu den Griechen, und predigten das Evangelium vom Herrn Jesu. Und die Hand des Herrn war mit ihnen, und eine große Zahl ward gläubig und bekehrte sich zu dem Herrn. Wir haben vor einiger Zeit, m. a. F., den ersten Märtyrer des Khristenthums als das Vorbild so vieler andern, | deren Blut die Wahrheit des Evangeliums besiegeln, und die Ruhe der Kirche Khristi fest in der Welt gründen mußte, zum Gegenstand unsrer Betrachtung gemacht. Das war ein Einzelner, der ein Opfer wurde der wilden Feindschaft der Menschen gegen das Heil, welches Gott ihnen bereitet hatte. Die Worte unsers Textes, die geben uns Nachricht, was aus einer allgemeinen Verfolgung der Christen entstand, und sie zeigen uns, wie auch diese Gott zu einem wirksamen Mittel gebraucht hat, um die Kirche Khristi in der Welt zu begründen; und das ist es was wir heute zum Gegenstand unsrer frommen Betrachtung nehmen wollen. Auch dieses, m. g. F., ist eben so gut wie jenes nur ein | einzelnes Beispiel gewesen; lange Zeit hindurch haben sich oft, zerstörender und blutiger als diese 11–14 Vgl. oben 23. Juli 1820 vorm.

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es war die Verfolgungen gegen die angehende und wachsende Gemeine des Herrn erneuert; und immer hat was die Menschen freilich böse meinten Gott der Herr zum Besten gekehrt. Wenn wir aber die Worte unsers Textes näher betrachten, so werden wir finden, es ist vorzüglich zweierlei, was nach der Weisheit Gottes durch die Verfolgung und die Trübsal, so sich über die Khristen erhob, entstand: nämlich erstens eine schnellere und leichtere Verbreitung des Evangeliums, und zweitens eine schnellere und leichtere Reinigung des Glaubens der Khristen von mancherlei beschränkenden Vorurtheilen und Meinungen, die | damit verbunden waren. Auf beides laßt uns nach Anleitung unsers Textes jezt unsre Aufmerksamkeit richten. I. Es wird im Anfang des achten Kapitels der Apostelgeschichte erwähnt, daß nach dem Tode des Stephanus sich eine große Trübsal erhob über die Khristen in Jerusalem, daß diese das Zeichen gewesen war zu vielen Widerwärtigkeiten und Mißhandlungen, die sie zu erdulden hatten und die uns nicht näher bezeichnet werden, nur daß uns gesagt wird, über dieser Trübsal habe sich die ganze Gemeine zu Jerusalem zerstreut, so daß fast nur die Apostel allein da blieben, wohin sie der Herr ursprünglich und für den ersten Anfang ihrer Wirksam|keit gewiesen hatte. Es kommt also zu der allgemeinen Wirksamkeit, die eine Verfolgung schon an sich haben mußte, um das Evangelium zu verbreiten, noch diese hinzu, die vorzüglich daraus entstand, daß durch diese Verfolgung die Khristen zerstreut wurden. Ich sage, m. g. F., es ist schon im Allgemeinen sehr natürlich, daß wenn eine Überzeugung, eine Handlungsweise, eine Lebensart, oder was es sonst sein möge verfolgt wird, dies zur Verbreitung derselben unter den Menschen beiträgt, unter der Bedingung nämlich daß die Verfolgung mit Würde und Standhaftigkeit ertragen werde. So das geschieht kann es kaum anders sein, als daß sie diese | Wirkung habe. Denn was ist natürlicher bei den Menschen, m. g. F., als, wie ein jeder es in sich fühlt, daß er eine Anhänglichkeit hat, ich will nicht sagen an die Dinge und an die Güter dieser Welt, sondern an seine gewohnte Lebensweise, an seine Beschäftigungen, die ihm von Gott angewiesen sind, an die mannichfaltigen Verbindungen, in welche er gesezt ist, die sich ja in den weitern und engern Kreisen des Lebens überall knüpfen, und dem Herzen des Menschen so werth und theuer sind, so bewundert er den Muth und die Tapferkeit derjenigen, welche nicht scheuen, um nur in irgend einem einzelnen Theile des Lebens ihrer Überzeugung | und ihren Grundsäzen folgen zu können, mehr oder weniger von diesen gemeinsamen Gütern aufzugeben. Darum wird so sehr auf diese Verfolgungen in der Welt die Aufmerksamkeit der Menschen hingeleitet, und es ist eine allgemeine Erfahrung, daß, je länger eine solche Verfolgung währt, und je 13–19 Vgl. Apg 8,1

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würdiger und standhafter sie ertragen wird, desto mehr sich in den Menschen eine Vorliebe für die Verfolgten entwikelt, und daß sie dasjenige für ein hohes und großes Gut halten, was den Verfolgten einen solchen Muth giebt zur Ertragung aller Ungerechtigkeit und aller Gewaltthat, die ihnen zugefügt wird. Darum ist es eine von den einfachsten aber | zugleich auch weisesten Vorschriften des Evangeliums, daß wir Khristen niemals sollen das Böse, welches gegen uns andringt, anders als durch das Gute zu überwinden suchen, daß wir uns durch die Feindseligkeit und durch die Gewaltthaten unsrer Widersacher niemals sollen fortreißen lassen zu Kränkungen und Bedrükungen; denn dadurch könnte es leicht geschehen, daß jene sich das Ansehen der Verfolgten gäben, und so die Vortheile, welche diesen zunächst gebühren, an sich rißen. Und darum ist dies eine Vorschrift nicht bloß der Frömmigkeit und Gerechtigkeit sondern auch der khristlichen Klugheit und Weisheit, daß wir uns nie sollen von den Beleidigungen unsrer Gegner zu gleichen Vergehungen hin|reißen laßen, indem wir auf der einen Seite dadurch eben an der Würde die uns beseelt verlieren, und auf der andern die Vortheile und den Segen der Verfolgung unsern Feinden und Widersachern zuwenden. Aber es ist nicht nur diese sehr natürliche Bewunderung des Muthes und der Standhaftigkeit der Verfolgten, die diese Wirkung hat und haben muß in dem Gefühl, sondern es ist auch eben so natürlich, daß die Zuschauenden einen Verdacht faßen gegen die gute Sache derjenigen, welche sich Gewalthätigkeiten und Verfolgungen gegen andre erlauben. Denn am Ende, m. g. F., beruht doch das ganze menschliche Leben in allen seinen Zweigen auf der Vernunft: alles | soll vernünftig gehandhabt werden, und alles kann ein jeder vor Gott und Menschen nur insofern rechtfertigen und bei sich ruhig sein daß er sich auf dem rechten Wege befindet, als er was er denkt und thut, nach den innersten Grundsäzen der menschlichen Vernunft denkt und thut. Wenn es so ist, so ist gerade der natürliche Weg, um allem vorzubeugen, oder alles aus dem Wege zu räumen was den Menschen hinderlich sein kann, daß man ihre Vernunft zu gewinnen sucht, indem man dieselbe zur Richtschnur nimmt, um nach ihr seine eignen Grundsäze und Handlungen zu bestimmen. Und darum lenkt sich auch, jemehr das menschliche Geschlecht aus einer Rohheit, in die es Jahr|hunderte lang versunken sein kann, sich zu erheben anfängt, desto mehr lenkt sich alles immer dahin, daß auf dem Wege der Vernunft aller Streit der Menschen ausgeglichen wird. Wenn nun statt deßen der Mächtige sich seiner Macht überhebt, und statt die höhere Macht der Vernunft zu gebrauchen die äußere Gewalt die ihm geworden ist anwendet, um das im Zaum zu halten und auszurotten was ihm vielleicht nur in seiner Überzeugung und in seinem Gewißen als das Unrecht, als das Verderbliche und Strafbare erscheint: um desto mehr schließen die Menschen und im Ganzen 2 Verfolgten] so SW II/10, S. 100; Textzeuge: Verfolgungen

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nicht mit Unrecht, daß es ihm fehle an der | Überzeugung der Vernunft, an der Übereinstimmung seiner Ansicht und seiner Sache mit dem innersten Wesen der menschlichen Vernunft. Darum gewiß wie der Verfolgte durch seine Standhaftigkeit und seine Stärke in der Ertragung der über ihn gekommenen Trübsal beweist, wenn er sich durch diese von seiner Überzeugung nicht abwendig machen läßt, wie er ein günstiges, so hat der Verfolgende durch seine Gewaltthätigkeit ein ungünstiges Vorurtheil in der Meinung der Menschen. Daher wir es für natürlich halten, daß, wo die ersten Khristen als Verfolgte hinkamen, ausgetrieben aus ihren Sizen durch die Gewalt derer, welche die Macht in Händen hatten, | daß sie da sich die Herzen der Menschen gewannen, und daß die innere Wahrheit des Evangeliums um so leichter Eingang in die Seelen fand, je mehr sie von denen verkündigt wurde, die so die Ruhe und Heiterkeit ihres Lebens hatten aufopfern müßen, je mehr es allen klar sein mußte, daß sie ihnen reichlichen Ersaz darbot für alle Beschwerden und Leiden, die sie um ihretwillen auf sich nahmen, und daß die göttliche Heiterkeit der Seele, welche die Wirkung derselben war, durch keine Trübsal, durch keine Gefahr des Todes ihnen konnte gestört werden. Aber es kam, wie ich vorher schon angedeutet habe, noch eine zweite besondre Wirksamkeit dieser | Verfolgung zur Verbreitung des Evangeliums hinzu, daß nämlich die Khristen, wie es scheint absichtlich, von ihren Verfolgern in verschiedene Gegenden zerstreut wurden. Wir lesen nämlich weder in jener ersten Beschreibung der Verfolgung, noch in der welche die Worte unsers Textes wiederholen, daß damals noch andre als Stephanus ihr Leben verloren haben, und es ist wegen des gänzlichen Stillschweigens der Geschichte nicht wahrscheinlich, daß damals noch anderes Menschenblut gefloßen sei, sondern es scheint mehr ein allgemeiner Druk gewesen zu sein, der die Khristen traf, und zwar ein solcher, durch den sie genöthigt wurden, die Hauptstadt des Landes, wo die erste | Gemeine der Khristen sich befand, zu räumen, und es scheint eine besondere Klugheit, nach Art der Kinder dieser Welt, jener Verfolger der ersten Khristen gewesen zu sein, daß in jene gewaltsame Verbannung die Apostel nicht mit eingeschloßen wurden; denn es wird uns gesagt, daß sie in Jerusalem geblieben sind, aber mit Ausnahme ihrer die ganze Gemeine zerstreut worden ist durch die Länder. Es scheint aber, die Häupter des jüdischen Volks, von denen die ganze Verfolgung ausging, haben so gedacht, daß, um die so schnell wachsende Macht des Khristenthums zu hemmen, man nur seine Bekenner von einander trennen und zerstreuen müße. Welche große Kraft in | der Gemeinschaft treu verbundener, in Liebe zusammenhaltender, gleich gesinnter, Leid und Freud mit einander theilender Gemüther liege, das konnte auch ihnen unmöglich entgehen; aber sie irrten nur darin, daß sie glaubten die Kraft des Evangeliums liege ganz und gar in dem Zusammenhalten, und daß sie glaubten, es könnte durch dieses Zusammenhalten ganz so gefähr-

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lich sein wie es ihnen schien, wenn es auch an sich eine wenig bedeutende Sache wäre. Das war freilich falsch und verkehrt; denn eine zeitlang wohl kann auch ein irriger Wahn die Menschen feßeln, der hält nicht aus, eine zeitlang freilich gegen die Stürme einer äußeren Gewalt, | aber nie lange gegen die jeden Wahn und jeden Schein zerstreuende Kraft von dem ewigen Lichte der Wahrheit. Nur durch seine innere Kraft konnte und sollte das Evangelium solche Wirkungen hervorbringen; aber daß die lebendige Überzeugung von der Kraft desselben eine so treue und unzerstörbare Gemeine stiftete, das war eben so natürlich und nothwendig. Nun glaubten sie, zerstreuen wir die Khristen hierhin und dorthin, so entbehren sie des Nuzens, den sie aus der Gemeinschaft unter einander schöpfen, so wird jeder vereinzelt sehr bald zu der alten Denkungsweise zurükkehren; und vor allem behalten wir die Oberhäupter dieser neuen Gemeine in unsrer Nähe, so werden auch diese dadurch, daß wir | die andern von ihnen entfernen, am sichersten gelähmt und unschädlich gemacht. Das war der damalige Rath der Menschen die es böse meinten. Aber wie war nun der Rath Gottes, der alles zum Guten lenkte, und der sich auch der bösen Rathschlüße der Menschen zu bedienen wußte als Mittel seine ewigen Zweke zu befördern? Die Zerstreuten als Verfolgte wo sie hinkamen fanden sie eben deßwegen, weil die Zeit die Gott der Herr bestimmt hatte erfüllt war, weil ihnen ein allgemein gefühltes Bedürfniß der Menschen nach dem höheren Leben überall entgegentrat, so fanden sie wo sie hinkamen auch ein kleines Häuflein | mehr oder weniger offner Gemüther, in welche das Wort der Wahrheit Eingang fand; und so sammelten die einen hier, die andern dort Häuflein der Gläubigen um sich, aus denen mit der Zeit eine Gemeine entstand; und so wurden aus der einen Gemeine derer die zerstreut waren, in einem Jahre mehrere der Zahl nach freilich wenige, aber doch jede von diesen ein lebendiger Mittelpunkt, um dieselbe Gesinnung, denselben reinen Eifer, dieselbe ungeheuchelte Liebe überall zu verbreiten. Und so war auch nicht der Geist des Khristenthums und hat sich niemals so bewiesen, daß seine Wirkungen beruhten auf dem besondern persönlichen Einfluß und auf der un|mittelbaren Gegenwart derer, die freilich als die ausgezeichnetsten Werkzeuge deßelben mußten angesehen werden, die der Herr selbst sich auserwählt hatte, um das Reich seines Vaters zu verbreiten auf Erden. Jene die sich zerstreut hatten über der Trübsal, welche sich erhoben in Jerusalem, sie waren ganz und lange Zeit getrennt von der Gemeinschaft der Apostel, die ihre Lehrer gewesen waren, und von denen sie die erste Kenntniß der Wahrheit des Evangeliums empfangen hatten; aber ihre geistige Gemeinschaft war nicht an Zeit und Ort gebunden, derselbe Geist lebte schon in ihnen, der lebendige Einfluß von dem kräftigen Wort der Apostel wirkte fort, und zu dieser Wirkung | kam die andre Wirkung der vereinigten Sehnsucht hinzu, so daß sie mit derselben Kraft des Geistes arbeiteten für das Reich des Herrn, wie es geschehen konnte, wenn an

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jedem Ort einer der Apostel mit ihnen gewesen wäre. So, m. g. F., so zertrümmerte der Rath der Feinde des Khristenthums, und was sie sich nach ihrer irdischen Weisheit ausgerechnet hatten als ein untrügliches Mittel das Khristenthum und seine Anhänger zu zerstören, das gedieh nur zur schnellern und weitern Verbreitung deßelben; und so lange es nothwendig war; daß das Khristenthum auf eine schnelle Weise in weit von einander entfernte Gegenden | zerstreut hingeworfen wurde, so oft bediente sich die göttliche Weisheit dieser blinden Wuth der Gegner des Khristenthums; wo sie verfolgten und zerstreuten, da wußte der Herr zu sammeln und zu stärken. Und auf diesem Wege, m. g. F., ist die khristliche Kirche das geworden was sie ein paar Jahrhunderte nach dem Scheiden unsers Herrn von der Erde bereits war. O, m. g. F., welche schöne Hoffnung muß uns dieser wichtige Theil der Geschichte des Khristenthums davon geben, daß alles was wahrhaft gut ist auch unter der göttlichen Leitung alle Prüfungen übersteht, und alle Feindseligkeiten siegreich überwindet. Denn wird es nicht verfolgt, so verbreitet es | sich nur allmälig und langsam durch die stille Kraft der Wahrheit; wird es verfolgt, so verbreitet es sich schnell durch die hohen Wirkungen eines lebendigen Muthes, und durch den kräftigen Gegensaz zwischen denen, die nichts anderes kennen und wollen als ihrer Ueberzeugung leben, und nichts anderes ausrichten in der Welt als was sie für den Ruf Gottes erkannt haben in ihrem Herzen, und zwischen der Handlungsweise und den Gesinnungen derjenigen, die, indem sie überall die Gewalt zu ihrem Werkzeuge machen, den Schein erregen, daß es ihnen nur um die Gewalt und nicht um das wahre Wohl und Heil der Menschen zu thun sei. II. | Aber laßt uns nun auch zweitens betrachten, wie sich die göttliche Weisheit dieser Verfolgungen bediente, um den Glauben der Khristen selbst von manchen daran haftenden Vorurtheilen und Irrthümern zu reinigen. Die Erzählung unsers Textes sagt uns, die meisten von denen, die damals hin und wieder zerstreut worden, hätten das Wort nur geredet zu den Juden, wie sie so lange sahen in Jerusalem und in der Umgegend von den Aposteln und den andern Jüngern des Herrn, wo es keine andre gab als Juden, zu denen das Wort des Heils geredet werden konnte; einige aber wären weiter gegangen und hätten, als sie nach Antiochia gekommen, das Wort auch geredet zu den Griechen, | und viele wären unmittelbar ohne daß sie sich dem Gesez der Juden unterworfen hätten, in die Gemeine der Khristen aufgenommen worden. Das war, m. g. F., eine solche Reinigung des Khristenthums von einem noch daran haftenden Vorurtheil. Dieses Vorurtheil bestand aber darin, daß nicht andern Menschen das Heil in Khristo Jesu bestimmt wäre als nur denen, welche entweder vermöge des Rechts der Geburt oder durch freiwilligen Übertritt auch dem Volke angehörten, zu 41–2 Vgl. Mt 15,24

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welchem allein durch seine Person unmittelbar gesandt zu sein unser Herr und Meister so oft versichert hatte. Andre Worte, die er auch gesprochen hatte von andern Bekennern, wie er | so oft sagt, er habe noch andre Schaafe, die nicht aus demselben Stalle wären, die er aber auch würde herbeizuführen wißen, damit wie Ein Hirt so auch Eine Heerde sei, die waren seinen Jüngern theils dunkel und unverständlich gewesen, theils fehlte ihnen zum Verständniß derselben jede Unterstüzung durch die Erfahrung. Daher denn war es damals eine herrschende Meinung unter den Khristen, daß, sofern auch einzelne Beispiele unter den Heiden an dem Heil Theil nehmen wollten, sie sich zuvor müßten einverleiben laßen dem Volke, zu welchem Khristus und die ersten Jünger gehörten, und das Gesez deßelben befolgen. | Wäre dies beschränkende Vorurtheil an dem Khristenthum haften geblieben, so würde das Evangelium viel langsamere Fortschritte nicht nur gemacht haben, weil nämlich das jüdische Gesez eine schwere Last war, die den Bekennern des Glaubens aufgelegt wurde, sondern es hätte auch nie geben können ein reines frohes und erhebendes Gefühl davon, daß zur Gerechtigkeit des Menschen vor Gott nichts anderes gehöre als die reine und lebendige Kraft des Glaubens. Es mußte also von der Seele der Khristen genommen werden dies beschränkende Vorurtheil. Dazu nun wirkte jene Verfolgung zunächst unmittelbar, indem die Verfolgten sich entwöhnen | mußten von dem Genuß und von der Gemeinschaft deßen was ihnen als Mitgliedern des jüdischen Volks und verpflichtet dem jüdischen Gesez oblag. Alle diese Zerstreuten hatten angehört der Gemeine zu Jerusalem, sie waren dort früher wohnhaft gewesen, täglich umgeben von der Herrlichkeit des Tempels und des jüdischen Gottesdienstes, Theil nehmend an den täglichen Opfern und Gebeten, und gewöhnt an das Vorlesen des Gesezes und an die Erklärungen frommer Lehrer. Daß sie dies werth und theuer hielten als ein ihnen von Kindheit auf gebührendes Gut, daß sie es suchten mit dem Evangelio | innig zu verbinden, wer könnte es ihnen verargen? war es nicht natürlich und dem menschlichen Gemüth angemeßen? Nun wurden sie gewaltsam hinweggetrieben aus den Gränzen des Landes, nun waren sie fern von der heiligen Stadt, an der ihr ganzes geistiges Leben von Jugend auf gehangen hatte, fern von dem Tempel und der gewohnten Verehrung Gottes, da konnten sie nicht mehr Theil nehmen an den vorgeschriebenen Gebräuchen des alten Bundes. Wenn sie nun dem ohnerachtet fühlten und täglich innig fühlen mußten, wie die Kraft des Evangeliums in ihrem Herzen unabhängig sei von den äußern Verrichtungen und den Opfern | des jüdischen Gottesdienstes, wenn sie sich täglich und stündlich fühlten in der Gemeinschaft mit Khristo, ohne gebunden zu sein an die Gegenden seiner Wirksamkeit in den Tagen seines irdischen Lebens, wenn 3–5 Vgl. Joh 10,16

14–15 Vgl. Apg 15,10

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sie es fühlten, wie in der lebendigen Kraft des Khristenthums der heiße dringende Wunsch die Güter des Geistes immer mehr unter den Menschen zu verbreiten, nicht nachließ unter jener Entbehrung und durch die Ferne des Raums nicht ausgetilgt werden konnte; o so mußte ihnen ja wohl das Licht aufgehen, daß alles jenes der Kraft des Evangeliums nicht wesentlich sei, ja daß es vielmehr gefährlich sei für dieselbe, und wo | sie auch unter den Heiden Gemüther fanden, welche für die Wahrheit des Evangeliums empfänglich waren, was konnte ihnen wichtiger sein und näher liegen, als ihnen dieselbe so mitzutheilen, wie sie jezt selbst sie genoßen, d. h. ohne alle Verbindung mit dem alten Gesez. Nun dürfen wir freilich nicht daran zweifeln, daß dieselbe reinere Einsicht in das Wesen des Khristenthums auf einem andern Wege würde den Menschen gekommen sein; ja wir wißen es aus unsrer eignen Geschichte. Zur Zeit der Verbeßrung der khristlichen Kirche, von der unsre evangelische Kirche das Ergebniß ist, da erging es so, daß manches Zufällige mit in | die reinere Art und Weise des Gottesdienstes in den khristlichen Gemeinen aufgenommen wurde, ja manches was inniger als man es Anfangs dachte mit den Mißbräuchen, denen die ersten Helden unsers Glaubens so kräftig entgegentraten, zusammenhing, und manches hat sich von dem Äußern lange erhalten in der evangelischen Kirche, ist aber auch die Ursach gewesen davon, daß man sagen muß, nicht überall und zu allen Zeiten ist der evangelische Glaube an die Freiheit und Seligkeit der Kinder Gottes gleich rein gewesen; ohne alle Verfolgung hat man das allmälig eingesehen und immer mehr von demjenigen abgestreift was die Gemüther der Gläubigen von dem Innern auf | das Äußere und Zufällige hinführte. So würde es auch damals bei dem Beginnen der khristlichen Kirche ergangen sein ohne alle Verfolgung. Ja wir sehen in der Verbreitung des Khristenthums, daß es geschah ohne Verfolgung. Dem Petrus kam diese Überzeugung, als er zu einem heidnischen Hauptmann gerufen wurde, nicht auf Veranlaßung einer Verfolgung, sondern es war der Geist der Wahrheit selbst, welcher ihm nahm das Vorurtheil, von dem noch bis jezt seine Seele war befangen gewesen. Aber er war ein Einzelner, dem die Einsicht auf diesem Wege kam; aber jene, die so zerstreut wurden, die waren viele. Und der Einzelne der fand Widerstand, wie uns die Apostelgeschichte erzählt. Denn als er zurükkam, und vor ihm vorherge|gangen war in die Gemeine zu Jerusalem der Ruf, er sei eingegangen zu einem heidnischen Manne, da entstand ein großes Murren gegen ihn, und er mußte sich rechtfertigen vor der Gemeine durch die Erzählung der Art, wie ihm durch ein höheres Licht gleich die Einsicht gekommen sei daß auch den Heiden das Heil gegeben sei und verliehen Theil zu nehmen an der Gnade in Khristo, und noch mehr wie sich sein Amt bewährt habe durch die Ausgießung des 29–31 Vgl. Apg 10,11–15

34–3 Vgl. Apg 11,2–18

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heiligen Geistes über jene Heiden; und erst dadurch wurden die gläubigen Khristen in Jerusalem überführt, und lobten Gott über alles was er an jenen gethan hatte. Aber wir lesen nicht, daß die Verfolgten, als sie daßelbe thaten in | einem größern Umfange, einen ähnlichen Widerstand erfahren haben. Die meisten, die in der Zerstreuung an einen andern Ort gekommen waren, die hatten jene alte Regel befolgt das Wort nur zu den Juden zu reden. Aber als diese kamen durch einen freien Geist beseelt, so erzählt uns die Geschichte nicht, daß jene irgend einen Widerstand geleistet haben, sondern sie bekannten sich alle gern und leicht dazu, und wurden freiwillige Genoßen an dem so sich verbreitenden Werk der Pflanzung der khristlichen Kirche, indem sie die freie Wahrheit in ihr Inneres aufzunehmen durch denselben Zustand geneigt waren. Und so, m. g. F., ist es überall der Segen | der Trübsal, der derselben von Gott dem Herrn besonders beigelegt ist, daß sie auf mancherlei Weise den Verstand und das Gemüth der Menschen zu reinigen weiß, und ein kräftiges Mittel ist mancherlei Wahn und Irthum zu erkennen und auszurotten, eben deswegen, weil der Mensch in dem Zustande der Trübsal und der Verfolgung am meisten an sich selbst gewiesen ist, und also auch nothwendig am meisten in sein Inneres hineingeht, wo sich ihm der Kern der Wahrheit enthüllt, und wo ihm der Muth und die Kraft entsteht die Schaale wegzuwerfen, und den Kern frei und rein zu machen von allem Irrthum und Mangel. Das, m. g. F., das ist die Geschichte | des Khristenthums gewesen in seinem ersten Anfang, in den ersten Jahrhunderten seiner Verbreitung, und in vergrößertem Maaßstabe nach mancherlei großen Abwechselungen wird und muß es so sein bis ans Ende der Tage. Denn, m. g. F., wie sehr es auch schon verbreitet ist in der Welt auf der einen Seite, und wie sehr es geläutert und gereinigt ist auf dem Wege der ruhigen Forschung sowohl als auch durch die Kraft der Verfolgung auf der andern Seite, so wißen wir doch, daß noch immer das Licht deßelben von mancherlei Nebeln verdunkelt wird, daß es noch viele Gegenden der Erde giebt und viele Theile des men|schlichen Geschlechts, die das Licht entbehren, welches der Herr unter uns angezündet hat, und welches bestimmt ist die ganze vernünftige Schöpfung zu erleuchten. Weniger freilich scheint es, als ob die göttliche Weisheit zu diesem Behuf noch der Verfolgungen bedürfe, weil jezt unter den Menschen eine weiter verbreitete Gemeinschaft herrscht, und weil das Khristenthum auch auf dem Wege eines ruhigen friedlichen Verkehrs immer mehr bis an das äußerste Ende durchzudringen vermag, so daß man glauben muß, es bedürfe nichts mehr als die Gemeine des Herrn in Frieden zu bauen, es bedürfe nichts mehr als daß diejenigen die in dem Schooße des Khristenthums leben, einen lebendigen | Theil nehmen an der Verbreitung deßelben auch unter diejenigen, die, in und außerhalb seines Gebiets, noch leben in der Finsterniß der Unwißenheit und des Wahns. Aber was die Läuterung des khristlichen Glaubens und Lebens betrifft, da müßen wir es wohl fühlen, daß wir des Segens der

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Trübsal und der Verfolgung noch nicht entbehren können. Von Zeit zu Zeit muß sie wiederkehren um das menschliche Leben zu läutern und zu reinigen, und die Menschen recht tief in ihr Inneres zurükzuführen; von Zeit zu Zeit muß es solche Erschütterungen geben, durch welche der Mensch erst recht inne wird, wie viel Falschem er noch gehuldigt hat neben der Wahr|heit, und welche ihm die beste Gelegenheit sind, die Kraft seines Glaubens die Stärke seines Geistes den Eifer seiner Seele zu prüfen. Wohlan denn, m. g. F., mögen wir es für uns reden, oder mag es uns erspart sein und wir es nur aussprechen für ferne Brüder und künftige Geschlechter: wir wißen es, Gott segnet das Khristenthum durch Verfolgungen, und er wird nicht aufhören, ihm von Zeit zu Zeit diese reinigenden Segnungen zu Theil werden zu laßen. Und darum wollen wir, wie es die Geschichte lehrt, im Kleinen wie im Großen, es sagen: bestimmt kommen die Segnungen der Trübsale und der Widerwärtigkeiten, und unter ihnen reift gar vieles was auf einem andern Wege nicht gedeihen kann, und uns | und jedem fernen khristlichen Geschlecht und allen künftigen Brüdern, auf die wir mit Vertrauen hinsehen, wollen wir sie gönnen wie Gott der Herr sie schiken kann. Kommen sie aber uns, so laßt uns daran denken, wozu der Herr Trübsale schikt, aber daß sie diejenigen, denen er sie schikt fördern sollen, in der Gottseligkeit, in der Weisheit und in der Gerechtigkeit. Amen.

[Liederblatt vom 20. August 1820:] Am 12ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Wunderbarer König etc. [1.] Singt dem Herrn, ihr Völker, singet neue Lieder, / Alle Welt kehr zu ihm wieder! / Alle Welt erkenne seine Wunderwerke, / Seine Ehre, Macht und Stärke, / Singet da Gloria, groß und hoch zu loben / Ist der Herr dort oben. // [2.] Was er thut ist alles herrlich und vollkommen, / Und stets fühlen seine Frommen / Seines Gnadenreiches hohe Lieblichkeiten / Auch schon hier, indem sie streiten. / Der die Welt trägt und hält, weidet alle Seelen / Die sein Reich erwählen. // [3.] Seligkeit und Herrschaft hat er aufgerichtet / Denen; die sich ihm verpflichtet; / Der die Völker scheidet sich zur Link’ und Rechten, / Ruft zur Freude seinen Knechten, / Und zerbricht im Gericht alle Macht der Feinde / Zum Triumph der Freunde. // [4.] Freue sich der Himmel, freue sich die Erde, / Alles fröhlich sich gebehrde, / Tretet froh, ihr Gläub’gen, vor des Herrn Gesichte, / Denn ihr kommt nicht ins Gerichte. / Habet ihr ihm schon hier euer Herz gegeben, / Führt euch Tod zum Leben. // (Freil. Ges. B.) 5 Falschem er noch] so SW II/10; S. 111; Textzeuge: noch Falschem er

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Nach dem Gebet. – Mel. An Wasserflüssen etc. [1.] Dir, Vater, der du deinen Sohn / Zum Heil uns hast gegeben, / Dir danken hier wir freudig schon / Noch mehr in jenem Leben; / Wir danken dir, daß du den Geist, / Der uns der Finsterniß entreißt, / Zur Erde hast gesendet. / Auf Jesu Wort kam er herab, / Der seinen Boten Stärke gab, / Daß sie dein Werk vollendet. // [2.] Erfüllt von seiner Wunderkraft / Gehn sie die Welt zu lehren; / Der Geist, der neue Herzen schafft, / Hilft ihnen sie bekehren. / Die Völker hören hocherfreut / Die Botschaft ihrer Seligkeit, / Vernunft und Wahrheit siegen. / Die Blindheit und die Rohheit flieht, / Wo man den Finger Gottes sieht, / Muß Satans Reich erliegen. // [3.] Umsonst daß wilder Eifer tobt / Verfolgung zu erregen; / Dein Name, Jesus, wird gelobt, / Dein Wort ist Kraft und Segen. / Die Jünger schreckt nicht Pein noch Müh, / Dein Geist, o Vater, stärket sie / Selbst in des Todes Leiden; / Sie bleiben ihrem Herrn getreu, / Bekennen seinen Namen frei, / Nichts kann von ihm sie scheiden. // [4.] Noch jezt bist du der Geist der Kraft, / Noch jezt der Menschen Lehrer, / Du machst uns weis’ und tugendhaft, / Des Sündenreichs Zerstörer, / In Sündern weckst du Reu und Leid, / In frommen Seelen Fried’ und Freud’, / Und Muth im Kampf der Sünden; / In Leiden sprichst du Trost uns zu, / Im Tode schenkst du Seelenruh, / Und hilfst uns überwinden. // [5.] Des Vaters und des Sohnes Geist, / Du Quell des Lichts der Liebe, / Den Jesus Betenden verheißt, / Pflanz in uns reine Triebe. / Gieb über unsre Sünden Schmerz, / Und Muth zum Glauben uns ins Herz, / Hilf uns andächtig beten! / In bangen Stunden stärk uns gern, / Mit deiner Hülfe sei nicht fern / In unsern Todesnöthen. // (Lavater) Nach der Predigt. – Mel. Auf Triumph etc. [1.] Kirche Jesu, wie ertönet / In dem Himmel auf der Erden / Deines großen Königs Ruhm! / Und die Welt, die dich verhöhnet, / Wird in Ohnmacht bald zerfallen, / Du bleibst Gottes Eigenthum. // [2.] Als wir noch an Trauerweiden / Unsre Harfen hängen mußten, / War ein Tag wie tausend Jahr. / Aber nun in seinen Freuden / Wird für einen Tag gerechnet, / Was sonst tausend Jahre war. //

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14. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,22–26 Nachschrift; SAr 75, Bl. 125r–147v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 112–128 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 54, Bl. 41r–51v; Schirmer Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Apostelgeschichte XI, 22–26. Es kam aber diese Rede von ihnen vor die Ohren der Gemeine zu Jerusalem; und sie sandten Barnabam, daß er hinginge bis gen Antiochia, welcher da er hingekommen war und sahe die Gnade Gottes, ward er froh, und ermahnte sie alle daß sie mit festem Herzen an dem Herrn bleiben wollten. Denn er war ein frommer Mann voll heiligen Geistes und Glaubens. Und es ward ein großes Volk dem Herrn zugethan. Barnabas aber zog aus gen Tarsen Paulum wieder zu suchen; und da er ihn fand führte er ihn gen Antiochia, und sie blieben bei der Gemeine ein ganzes Jahr, und lehrten viel Volks, daher die Jünger am ersten zu Antiochia Khristen genannt wurden. Nämlich dasjenige, m. a. F., wovon | wir neulich geredet haben, daß von denen, die aus Jerusalem vertrieben wurden nach dem Tode des Stephanus viele gen Antiochia kamen, und einige von ihnen dort auch zu den Heiden redeten das Wort Gottes, und eine große Menge derselben es gläubig annahmen – das kam vor die Ohren der Gemeine zu Jerusalem, und sie sandten, wie unser Text erzählt, aus ihrer Mitte den Barnabas dorthin, der sie ermahnte und befestigte und den ehmaligen Verfolger der Khristen aus seiner Vaterstadt, wohin er sich begeben hatte, herholte, und so wie unser Text sagt lehrten sie da beide vereint, und es ward ein großes Volk dem Herrn zugethan, und die Glieder der zahlreichen Gemeine wurden hier zuerst von ihrem Herrn und Meister Khristen genannt. Dies, m. g. F., erscheint auf den ersten Anblik nur als | eine erfreuliche Nachricht, die wir mit herzli12–16 Vgl. oben 20. August 1820 vorm.

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cher Theilnahme anhören mögen; aber was sie mit dem eigentlichen Gegenstand der gegenwärtigen Reihe unsrer Betrachtungen zu thun habe, das leuchtet vielleicht nicht sogleich ein. Denn wir wollen reden von demjenigen, wodurch vorzüglich die Kirche Khristi in ihrem ersten Anfang sei verbreitet worden, und Bestand gewonnen habe in der Welt. Hier wird uns nun freilich erzählt von einem fröhlichen Gedeihen derselben, und nicht unwichtig scheint es allerdings zu sein, daß nun auch die Khristen einen bestimmten Namen bekommen an ihren Herrn und Meister erinnernd: denn es liegt darin dies, daß das Khristenthum von allen übrigen, sei es der jüdischen Gottesverehrung sei es dem heidnischen Dienst, | sich nun auf das bestimmteste unterschied, und als etwas ganz Eigenthümliches für sich in der Welt auftrat. Aber von einer besondern Kraft, die hier wirksam gewesen erscheint auf den ersten Anblik nichts in unserem Text. Es wird aber das was ich euch aus ihnen zur andächtigen Betrachtung vorlegen will, wohl hervorgehen, wenn wir nur die Personen, von denen unser Text redet, näher ins Auge faßen. Ein großer Theil derjenigen, die in jener Stadt wirksam gewesen waren zur Befestigung des Glaubens, so daß man sagen kann, jene Gemeine sei nebst der ersten zu Jerusalem die fruchtbarste Heerde des Khristenthums in jener frühern Zeit gewesen, ein großer Theil derselben bestand aus denen, welche | zur Zeit der Trübsal, die sich über den Tod des Stephanus erhob, aus Jerusalem waren vertrieben worden; und derjenige, welcher auf eine ausgezeichnete Weise dazu beitrug, daß hernach von dieser Gemeine aus das Khristenthum sich in viele Gegenden verbreitete, wohin noch bisher sein Schall nicht gedrungen war, das war Saulus, eben derselbe der an dem Tode des Stephanus einen so bedeutenden Antheil genommen, und eben noch in jener Trübsal die sich über den Tod deßelben erhob, einer der eifrigsten und heftigsten Verfolger des Khristenthums gewesen war; und derjenige, der ihn von Tarsus seiner Geburtsstadt, wohin er sich zurükgezogen hatte, nach Antiochia zum Dienst der Gemeine holte, das war Barnabas, wie unser | Text sagt ein Mann voll Glaubens und heiligen Geistes, ein hochbegabter und von den Aposteln und Ältesten der Gemeine zu Jerusalem vorzüglich geehrter Mann, derselbe der auch früher zuerst den Saulus, nachdem er das Khristenthum angenommen, mit den Aposteln des Herrn und mit der Gemeine zu Jerusalem befreundet hatte, derselbe der nachher zuerst mit ihm eben von Antiochia aus eine Reise antrat, um das Khristenthum weiter zu verbreiten auch unter andre Geschlechter der Erde, aber auch derselbe, der hernach durch das zunehmende Ansehen, durch die überwiegende Kraft des Saulus so verdunkelt und in Schatten gestellt wurde, daß uns sein Name in der weitern Geschichte des Khristenthums bald eben so zu verschwinden anfängt, wie der 32–34 Vgl. Apg 9,27

35–37 Vgl. Apg 13,2

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Name des Saulus oder | Paulus sich vor allen andern so sehr auszeichnet. Betrachten wir dies, m. g. F., so werden wir sagen müßen, es liegt in der Erzählung unsers Textes etwas gar Großes Hohes und Wichtiges, und eben auch eine innere Kraft des Menschen, oder um es richtiger zu sagen, eine Gabe des göttlichen Geistes, die selten angetroffen wird, und ohne welche eben auf diesem Wege das Khristenthum sich nicht hätte verbreiten und die khristliche Kirche sich nicht hätte befestigen können. Wir können nämlich aus der Betrachtung der hier vereint zu einem und demselben Zwek handelnden Personen ersehen, wie viel die khristliche Liebe muß überwinden können, wenn sie ihren Zwek erfüllen und ihre Bestimmung erreichen soll, und darauf laßt | uns jezt unsre andächtige Aufmerksamkeit richten. I. Es muß uns nämlich zuerst einleuchten, wie sehr diejenigen welche früher von dem Apostel verfolgt worden waren, bereitwillig gewesen sein müßen alles Frühere zu vergeben und zu vergeßen. Wahrlich wenn wir uns ganz in ihre Lage und in die damaligen Umstände hineinversezen, wenn wir uns denken wie sie voll sein mußten von dem dankbaren Gefühl, daß es ein Antrieb des Herrn gewesen war, der sie aufregte, in jene Gegenden zu gehen, der ihnen den Muth gab die bisherigen Schranken zu durchbrechen, und dem Khristenthum auch dort unter den Heiden Raum zu schaffen, voll von dem Gefühl des Segens | den Gott auf ihr Werk gelegt, indem eine große Menge Menschen aus der Finsterniß des Heidenthums zu dem Lichte und dem Frieden des Evangeliums umkehrte, wenn dies alles dadurch noch erhöht wurde, daß die ursprüngliche Muttergemeine aus Jerusalem eines ihrer angesehensten Mitglieder zu ihnen sandte, um das Band der Brüderschaft mit ihnen zu befestigen, und ihnen in ihrem Namen mitzutheilen Lehre und Stärkung im Glauben; wenn wir nun denken, wie Barnabas der Gemeine den Vorschlag gethan, er wolle gen Tarsus reisen um den Saulus zu holen, der ein herrliches und kräftiges Rüstzeug des Herrn sei und von ihm besonders auserwählt – wenn wir das alles bedenken: hätten wir es ihnen verdenken können, wenn sie zurük|geschrekt wären vor diesem Gedanken, und wenn sie dem Barnabas geantwortet hätten: es ist wohl herrlich und schön, daß der Herr einen der eifrigsten Verfolger seines Kreuzes umgewendet hat zu seinem Vertheidiger, und es mag sein wie du sagst, und ist zu glauben, daß er ein ausgezeichnetes Rüstzeug des Herrn ist, und von ihm vorzüglich bestimmt zur Ausbreitung seines Wortes und zur Ausführung seines Willens auf Erden. Aber die Erde ist groß und ist überall des Herrn. Mag er in seinem Vaterlande, wo er jezt ist, mit seinen ausgezeichneten Gaben das Evangelium verkündigen, mag dort selbst der fruchtbare Keim werden zu einer neuen Pflanzung für unsern gemeinsamen Herrn und Meister, | und dort wie hier wird ihm dazu der göttliche Segen und die Kraft des Geistes nicht fehlen. Aber warum willst du uns das anthun,

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daß wir unsern Verfolger, der uns hinweggetrieben aus dem ruhigen Besiz unsrer Väter, von der Gemeinschaft mit den Jüngern des Herrn, die im Leben seine Gefährten waren, und von ihm vorzüglich begnadigt sind mit der Kraft aus der Höhe, der uns gerißen hat von denen, die unsre Väter und Führer im Glaubens sind, daß wir den täglich sollen vor unsern Augen herumwandeln sehen, daß wir ihm sollen Hülfe und Beistand leisten, daß wir durch seinen Anblik sollen erinnert werden an die vergangenen Zeiten der Noth und der Trübsal, und daß durch den Anblik eines sonst | so bittern Feindes soll getrübt werden diese Gemeinschaft der Liebe und des Friedens, in der wir hier bei einander sind. Ja wer hätte es ihnen verargen können, wenn sie so geantwortet? wer hätte es nicht zu Gute gehalten der menschlichen Schwachheit und einem sonst natürlichen fast unüberwindlichen Gefühl? Aber der Wille des Herrn wäre dann nicht erfüllt worden, und auf eine ganz andere Weise als es in seinem ewigen Rath geordnet war, hätte dann müßen die Sache des Evangeliums geführt werden. Ja wenn wir es noch tiefer ergreifen wollen, müßen wir nicht sagen, dieses wenn gleich sehr natürliche Gefühl; wenn gleich leicht der menschlichen Schwachheit zu Gute gehalten, es giebt uns doch kein solches Bild von dem vollkommnen Sieg des Glaubens, von der festen und uners|chütterlichen Gewalt des Geistes über alles, was Fleisch ist am Menschen, wie eben jenes, daß jene Jünger des Herrn dieses natürliche Gefühl überwanden, und mit einer solchen Leichtigkeit überwanden, daß die sonst ausführliche Erzählung unsers Textes nicht einmal Meldung thut von irgend einem Streit der sich darüber erhoben, von irgend einem Widerstand, der hätte müßen überwunden werden. Sehet da, m. g. F., das ist es was ich meine, die khristliche Liebe müße zu überwinden wißen alle früheren Störungen und Mißverhältniße, wenn sie so mannichfaltige Wirkungen, wie es demjenigen ziemt was das Ziel des unendlichen ewig herrlichen Geistes ist, offenbaren, und den Beruf auf Erden erfüllen soll den Gott ihr angewiesen hat. Schwer, m. g. F., das müßen wir fühlen, | schwer ist dies. Je leichter wir geneigt sein würden zu verzeihen, wenn jene Jünger des Herrn sich von jenem Gefühl menschlicher Schwäche hätten hinreißen laßen, um desto mehr müßen wir fühlen, daß wir demselben auch unterworfen sind. Das Vergeben, m. g. F., o das fühlen wir alle als die Pflicht des Khristen, und nun gar dem zu vergeben, der von seinem verkehrten Wege umgewendet ist, und nun mit derselben Kraft, mit welcher er vorher das Gute verfolgte, für daßelbe arbeitet, und sein ganzes Leben daran hingiebt, das scheint gar etwas Leichtes zu sein, und gewiß werden wir alle dies in jedem ähnlichen Falle von uns fordern. Aber vergeben und vergeßen – denn so pflegen wir uns gewöhnlich auszudrüken, | wenn von demjenigen die Rede ist wodurch das menschliche Gemüth tief gekränkt ist – vergeben und vergeßen, das scheint schwer, ja es scheint etwas was man von dem Menschen nicht verlangen kann, weil es nicht in seiner Gewalt und in seiner Willkühr steht. Ei freilich wenn jener Ausdruk

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richtig wäre, wenn es wirklich ein Vergeßen sein müßte, so könnten wir es nicht fordern – denn wer hat es in seiner Gewalt dies zu behalten und jenes zu vergeßen? – und es könnte auch keine khristliche Vollkommenheit sein, denn das ist keine Vollkommenheit etwas zu vergeßen und aus dem Gedächtniß zu vertilgen, sondern je mehr jeder vergangene Augenblik dem Menschen gegenwärtig bleibt, je mehr er in seinem menschlichen Bewußtsein sein ganzes Leben festhält, desto | vollkommner ist er. Aber es soll auch und darf kein Vergeßen sein, sondern nur, m. g. F., daß man nicht das Eine allein behält sondern auch das was der Herr hinzugefügt hat, und daß auch in dieser Hinsicht der Mensch sich das große Gesez stellt das nicht scheiden zu wollen was der Herr zusammengefügt hat. Zusammengefügt hatte er in dem großen Manne, der leicht der Gegenstand der menschlichen Schwachheit hätte werden können, den kräftigen Eifer, mit welchem er vorher sein altes Gesez vertheidigte, die lebendige Begeisterung, mit der er dem neuen Weg des Heils, den er damals für verderblich hielt, weil auf demselben das Gesez, woran er mit ganzer Seele hing, erschüttert wurde, entgegentrat, zusammengefügt hatte er in | ihm diese Kraft, womit er ihn von Anfang an ausgerüstet hatte, und jenes Licht der Gnade, wodurch er ihn plözlich erleuchtete, und ohne daß ihm von jener Kraft etwas genommen wurde sie ganz hingewendet wurde zum Dienste deßen, den er bisher verfolgt hatte. Vergeßen brauchten jene Jünger nichts, wenn sie nur beides zusammenfügten. Das war die große Kunst die sie verstehen mußten, wenn sie es erlangen wollten, daß er in ihrer Mitte wandelte nun ein Werkzeug deßelben Geistes, der durch sie auch redete und wirkte. Vergeßen sollten sie nicht: das ist der der uns verfolgt hat, das ist der der in der Wuth seines unverständigen Eifers die Gemeine des Herrn gestört und aus einander getrieben, | der gequält hat und in Noth und Trübsal dahingegeben die Einzelnen, die in treuen gläubigen Herzen das Wort Gottes bewahrten; aber es ist auch der, hätten sie hinzudenken müßen, deßen sich der Herr schon damals bediente, als er noch der Gegner der Lehre seines Sohnes war, unser Loos in Erfüllung zu bringen und uns hieher zu bringen auf ein so großes und gesegnetes Feld seiner Wirksamkeit; und er ist derjenige, deßen er sich jezt bedient, uns in alle dem zu unterstüzen und zu leiten worin er uns vorher gehemmt hat, und worin er unser großer Widersacher war, und zwar mit derselben Kraft, die früher wie es uns schien so verderbliche Wirkungen | auf die Gemeine des Herrn ausübte. Behielten sie so alles dies zusammen, und in der Erinnerung immer gegenwärtig, o mit welcher, ich will nicht sagen Gleichgültigkeit, aber mit welcher dankbaren Freude, mit welcher tiefen Bewunderung der göttlichen Wege konnten sie dann im Angesicht des Paulus an alles das zurükdenken was sie durch ihn gelitten hatten, 10–11 Vgl. Mt 19,6; Mk 10,9

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wie zwiefach herrlich mußte ihnen erscheinen das innige Band der gläubigen Liebe, durch welches sie mit ihm verbunden waren, von wie großem Werth mußte ihnen alles sein was sie mit ihm hatten, jedes Wort der Lehre der Ermahnung der Stärkung und des Trostes welches sie aus seinem Munde empfingen. Das, m. g. F., ist die hohe Kunst der khristlichen Liebe; und wie ich schon öfter daran erinnert habe, | die Kirche Khristi besteht nur durch eben daßelbe wodurch sie entstanden ist, so müßen wir es sagen, sein Werk auf Erden kann nur in demselben Maaße fortschreiten und gedeihen, als alle seine Jünger sich noch immer befleißigen dieser hohen Kunst der khristlichen Liebe. Haben wir sie nicht mehr nöthig? steht es schon so um unser gemeinsames Leben, daß wir ihrer überhoben sein könnten? O wäre das! Aber es ist nicht, das müßen wir uns alle gestehen, und nicht mit einem trüben Gefühl sondern mit dem herrlichen Bewußtsein, daß dies uns immer mehr anfeuern soll den Gipfel jener Kunst der khristlichen Liebe zu erreichen, sollen wir es gestehen. O sehen wir, m. g. F., auf unser ganzes Leben – denn wir führen unser ganzes Leben in der khristlichen Kirche – auf unsern | bürgerlichen Verein, auf unsre Bestrebungen das Feld der Ehre, welches uns angewiesen ist, zu bauen und zu schmüken, auf unsre Thätigkeit in dem großen Gebiet der Wißenschaft und der Kunst: alles ist und soll sein für gläubige Gemüther ein Bestandteil der Kirche Khristi, wesentlich gehörig dazu wie sie ihren großen Beruf in der Welt erfüllen soll. Wie viel, m. g. F., wie viel haben wir da alle zu vergeben, wie viel ich will nicht sagen zu vergeßen aber so zu behalten, so in unserm Gedächtniß zu faßen, daß wir neben dem menschlichen Irrthum und Wahn immer die Wunder der göttlichen Gnade, das Werk des göttlichen Geistes im Menschen mit unsern Augen auffaßen und in unserm Gedächtniß bewahren! Und wie immer noch eben | daßelbe was den Apostel früherhin zu einem Verfolger Khristi und seiner Heerde machte, der unbesonnene Eifer, der misleitete Wille, der aber doch das Gute und Rechte zu seinem Gegenstande hatte, wie eben dies immer noch am heftigsten die Menschen entzweit, und es noch lange thun wird, so lange bis Einsicht und Weisheit auf der einen Seite, und Liebe und Gerechtigkeit auf der andern Seite die Herzen der Menschen erfüllen, und fest in einander geschlungen und unzertrennlich verbunden sind, da, sage ich, daßelbe immer noch die Menschen trennen und entzweien wird: o so haben wir ja hier ein Vorbild welches unmittelbar für uns gemacht zu sein scheint. Möchte nur, m. g. F., jeder da wo er glaubt, in dem andern der ihm feindlich entgegen tritt den | misleiteten Willen den unverständigen Eifer zu sehen, ohne doch in den meisten Fällen entscheiden zu können wie richtig oder unrichtig er gesehen hat, weil immer die Wahrheit an dem Irrthum ist, und nie ein Mensch ganz sicher sein kann die Wahrheit rein erfaßt zu haben, und ihr allein zu dienen, dagegen wir nur allzu sehr geneigt sind in den feindlich gegenüber stehenden nichts als Irrthum und Verkehrtheit zu erkennen, möchte doch jeder da von dem Geist der Liebe

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geleitet auch wirklich schon in dem Augenblik des Streites und des Zwiespallts den künftigen Freund und Bruder und der ihm fest verbunden sein wird wenn der Herr auch ihm die Schuppen wird von den Augen fallen laßen, erbliken zu dem gemeinsamen Werk. Möchte doch jeder in jedem, von dem er nur | noch einen Vorwand hat zu glauben, es könne ihm doch wohl um das Rechte und um die Sache Gottes zu thun sein, möchte jeder in dem schon im voraus den künftigen Freund und Beförderer sehen, und sich eben des Eifers, eben der Kraft, eben der Seelenstärke, die ihm jezt feindlich entgegentritt, erfreuen als eines erfreulichen Werkzeugs, so nur der Herr ihm die Augen wird geöffnet und die Finsterniß zerstreut haben, so nur das Licht der Wahrheit durch die Gnade Gottes ihm wird aufgegangen sein. II. Aber, m. g. F., nicht nur würden wir uns nicht gewundert haben, wenn jene Mitglieder der Gemeine zu Antiochia, die Saulus früher verfolgt hatte, ihn nicht gern hätten | in ihrer Mitte sehen wollen, sondern auch wenn Saulus selbst, als Barnabas zu ihm kam nach Tarsus, und ihm da erzählte wie es denen die er früher verfolgt hatte ergangen sei und was der Herr durch sie ausgerichtet habe unter den Heiden, indem schon eine große Menge derselben sich zu der Gemeine der Gläubigen daselbst gesammelt hätten, und als er den Saulus aufgefordert hatte sich mit ihm zu verbinden in treuer Liebe zu dem gemeinsamen Werk, wir würden uns nicht wundern, wenn auch Saulus selbst wäre bedenklich gewesen und selbst gezögert hätte sein Jawort zu geben, wenn auch er sich gescheut hätte denen unter die Augen zu treten, an denen sich sein ehemaliger | falscher Eifer seine thörichte Wuth für das jüdische Gesez so versündigt hatte – nicht, m. g. F., aus falscher Schaam, die ist überall eines so großen Geistes wie jener war; auch menschlich betrachtet, unwürdig, und eben deswegen konnte ein Saulus sie nicht hegen, nicht aus Furcht vor den Vorwürfen, die jene ihm machen würden, und die er in einem hohen Grade fühlen mußte verschuldet zu haben, vor dem Mißtrauen welches sie vielleicht doch gegen ihn als einen noch nicht lange genug Bewährten und Befestigten hegen könnten, und vor der Abneigung, die er in ihren Herzen nicht ganz vertilgt wähnen konnte: das alles mußte er fühlen überwinden zu können durch die | Kraft des Geistes die der Herr in ihn gelegt hatte – aber, meine g. F., nichts ist störender für den Menschen als die lebendige Erinnerung an seine frühern Fehler, nichts vermag ihn auch in den heiligsten Augenbliken seines Lebens so gänzlich zu lähmen in seiner Thätigkeit als das Bild einer vielleicht alten vielleicht längst schon abgemachten und vergebenen Sünde, welches plözlich vor seine Seele tritt – davor möchte sich auch Paulus gescheut haben und zu dem Barnabas gesagt: ist es nicht beßer daß ich dem Werk des Herrn hier diene, wo mir ein solches Hinderniß nicht in den Weg tritt? ist es nicht

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beßer daß ich mir den Anblik derer erspare, die mich jeden | Augenblik erinnern würden an eine Zeit, deren Andenken ich selbst gern verwischen möchte aus meinem Gemüth? Ja wir würden uns nicht wundern, m. g. F., wenn er so geredet hätte; aber Paulus wäre er dann nicht gewesen, der Held des Glaubens wie er uns erscheint in jedem Wort seiner herrlichen Schriften, die wir besizen, in jeder That welche die Geschichte von ihm nennt, der wäre er nicht gewesen, welcher bestimmt war überall wohin er kam die Finsterniß zu überwältigen durch die Kraft des Geistes, den der Herr und Meister über ihn ausgegoßen hatte, der Paulus wäre er nicht gewesen, der auch durch die Schreken des Todes nicht abwendig gemacht | werden konnte von dem Wege den der Erlöser ihm gezeigt hatte. O laßt uns indem wir deßen gedenken, m. g. F., uns recht tief versenken in das Gefühl der göttlichen Vergebung der Sünde. O dieses muß, so es recht lebendig ist, so es aus der innersten Kraft des Glaubens hervorgeht, so es Eins und daßelbige ist mit der gänzlichen Hingebung des Herzens an den der uns früher fremd war, dann muß es die Vorwürfe des Gewißens ganz befestigen mit unauflöslichen Ketten, daß sie sich nicht mehr erheben können, und der Seele auch nur auf Einen Augenblik Unruhe verursachen, dann müßen alle Bilder früherer Irrthümer und Vergehungen nicht verschwinden – nein denn das Vergeßen ist auch hier eben | so wenig eine Tugend und Vollkommenheit wie dort – aber als ein Fremdes müßen sie uns erscheinen, als einem fremden Leben angehörig welches nicht mehr ist; und so oft der Mensch sie erblikt muß er von inniger Dankbarkeit ergriffen niederfallen und Gott danken, nicht etwa daß er beßer ist als dieser oder jener, sondern daß er ein andrer geworden ist, eine neue Kreatur nach Khristi Ebenbild, ein neues Geschöpf seines Geistes, und nicht mehr der sündige Mensch, der Übertreter des göttlichen Worts. So war die Kraft des Glaubens in dem Apostel, das war sein Gefühl der Vergebung, als er nicht scheute das Angesicht derer zu sehen, die er vorher so bitter verfolgt | hatte, das war das Gefühl, in welchem er jene denkwürdigen Worte geschrieben hat „o, wer soll mich erlösen von diesem Leibe des Todes! ich danke Gott der mir den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Khristum.“ Das ist der vollkommne Sieg, daß in dem Gefühl der göttlichen Vergebung, und nicht nur der göttlichen Vergebung sondern der lebendigen Gemeinschaft mit Gott, in dem Gefühl daß der Vater mit dem Sohne kommt um Wohnung zu machen in unserm Herzen, der Mensch alle seine frühern Irrthümer und Vergehungen ansehen kann als etwas was nicht mehr ist, in gleicher Reihe mit allen andern Begebenheiten in der Natur und in der menschlichen Geschichte, deren | sich Gott der Herr nach seiner Weisheit bedient zur Erreichung seiner heiligen Zweke, bald auf eine Art daß wir es begreifen, wie es 25–26 Vgl. 2Kor 5,17; Gal 6,15 36 Vgl. Joh 14,23

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hier der Fall ist bei dem Apostel, bald auf eine solche die uns zwar verborgen bleibt, aber von der wir glauben müßen, daß dies alles bestimmt ist nach der Anordnung deßen der mit ewiger Weisheit und unerschütterlicher Macht alles regiert und leitet. Darum, m. g. F., sehen wir auch nicht, daß Paulus im geringsten gezögert habe, sondern wie Barnabas kam so folgte er ihm, und sah es an als einen Wink und einen Beruf Gottes, sich mit denen am innigsten und festesten zu verbinden zum Dienst des Herrn, die er früher verfolgt | und gequält hatte. Und dieser Muth, m. g. F., in dem Dienste des Herrn überall auch denen unter die Augen zu treten, auch denen die Hand zu reichen zum gemeinsamen Werk, denen unsre früheren Fehler nicht nur nicht verborgen sind, sondern die selbst unter denselben gelitten haben, auch den brauchen wir alle, wollen wir treue und wahre Diener des Herrn sein. Denn, m. g. F., hier war es ein wunderlicher Fall, daß der Herr diejenigen welche Paulus verfolgt hatte in die Ferne trieb, und beide schienen ganz von einander getrennt zu sein, der Verfolger und die welche er verfolgt hatte, der Beleidiger und der Gegenstand seines Eifers; und eben hier in der Ferne und Fremde fügte sie Gott zusammen, und vereinigte | sie wieder in Einer Liebe und in Einem Geiste. Aber das Natürliche ist dies, daß diejenigen, die am meisten leiden unter unsern Fehlern und Irrthümern, die nächsten sind, diejenigen mit denen wir im Leben am innigsten verbunden sind; und das Natürliche ist auch daß wir mit ihnen verbunden unsern Weg wandeln. Haben wir den Muth nicht solchen unter die Augen zu treten, und mit ihnen nachdem wir ihnen vorher entgegen gewirkt haben zusammen zu wirken, sind wir kleinmüthig und fürchten, ein so gestörtes Verhältniß könne nicht mehr geheilt werden, ja dann steht es schlimm um die Förderung und Befestigung des Reiches Gottes auf Erden, dann hat der Unglaube, indem er die menschliche Schwachheit | erhöht, einen großen Sieg erfochten über das was uns zur lebendigen Gemeinschaft mit unsern Brüdern führen soll. O diesen Unglauben an die Macht des Geistes und der Liebe in unsern Brüdern, diesen Zweifel an der göttlichen Gnade und Vergebung unsrer früheren Vergehungen, diese Feigherzigkeit laßt uns ausrotten; und so gewiß wir wißen, daß wir Gottes Vergebung haben durch unsern Herrn Jesum Khristum, so gewiß wir diejenigen, mit denen wir leben und auf die wir wirken sollen, als seine Jünger ansehen von seinem Geiste beseelt, so gewiß müßen wir auch über diese Schwachheit siegen, und sie soll uns nicht abhalten uns immer ihnen zu nahen in dem Gefühl | auch ihrer Vergebung, sie soll uns nicht abhalten, daß unser Muth auch sie nicht fürchte, wie Paulus zu denen hinging, die er früher verfolgt und gemißhandelt hatte. III. Aber es ist uns noch eins zurük, m. g. F., nicht weniger merkwürdig in dieser Beziehung, das ist das Verhältniß des Barnabas und Paulus. So wie dieser

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vergeßen mußte die frühern Störungen, deren Ursach er gewesen war, so mußte jener entweder nicht ahnen oder mit vollkommener Ruhe ansehen die künftigen Vorzüge deßen, den er herbeiholte in Beziehung auf das gemeinsame Werk. Sollen wir glauben, Barnabas habe den Saulus nicht erkannt, es sei ihm unbekannt | geblieben, wie sie beide sich gegen einander verhielten, er sei nicht getroffen worden von der ausgezeichneten Größe der geistigen Kraft, die Gott in diesem seinem Jünger niedergelegt hatte? Das können wir nicht glauben; zu nahe hatten sich beide schon sonst gestanden, und es scheint eine ganz eigene, bewunderungsvolle Liebe zu sein, die den Barnabas dem Saulus nahte. Er war der erste, der ihn mit den Aposteln befreundete in Jerusalem, die nicht glaubten daß er ein Jünger wäre, und obgleich der Ruf schon dahin erschollen war daß er das Khristenthum angenommen und in Damaskus gelehrt habe, doch noch zaghaft waren, ihn in ihre Gemeine aufzunehmen; da trat Barnabas auf und führte ihn unter die Jünger, ihnen | erzählend wie der Herr selbst sich ihm geoffenbart habe. Und was war es anders, als eben daßelbe Gefühl von der ausgezeichneten Kraft, die in diesem Manne ruhte, was ihn jezt zu dem Gedanken brachte jenen von Tarsus zu holen zu seinem Gehülfen, zum Haupt der Gemeine, zu einem künftigen Werkzeug der Verbreitung des Evangeliums in ferne Gegenden? Er kann nicht anders als gefühlt und gewußt haben, zu welch einem außerordentlichen Rüstzeug der Herr den Paulus ausersehen habe. Und keine Spur von Eifersucht, von Mißgunst, keine Scheu sich neben ihn zu stellen, obgleich das ihm ahnen mußte, daß der der jezt noch sein Schüzling war, bald so weit über ihn hervorragen | würde. O hohe Tugend der khristlichen Liebe! o wahres Vorbild der ächten Demuth! Ja, m. g. F., leicht ist es nicht und gewöhnlich was wir da lesen, und was in einem so einfachen Ton erzählt wird, daß wir es für etwas Alltägliches halten möchten. Es sollte auch etwas Alltägliches sein, wenn der Geist Gottes schon in uns den Sieg gewonnen hätte über das Fleisch. Aber es ist es nicht. O wie viel irgend eine unreine Gesinnung, irgend eine leise Mißgunst, irgend eine Eifersucht, deren sich der Mensch oft selbst kaum bewußt ist, gegen ausgezeichnete Gaben welche Gott diesem oder jenem verliehen, wie viel diese Nachtheil bringt der menschlichen Gesellschaft, wie weit sie diejenigen aus einander hält die sich vereinigen sollten in der treuesten Liebe – das | ist wohl einem jeden klar. Ja wir dürfen es nicht leugnen, auch in der khristlichen Kirche, auch unter den Lehrern des göttlichen Worts können wir jene menschlichen Schwächen finden, die immer gleich nachtheilig und verderblich sind. So ist es; selten ist noch immer die reine Hingebung und die gänzliche Verleugnung seiner selbst, selten ist es noch immer, daß es dem Menschen lieber ist das Gute geschieht in einem höheren Grade und vollkommner durch andre, als es geschieht etwas weniger, aber durch ihn selbst; selten ist diese wahre Verleugnung seiner selbst, und sie sollte doch sein das erste Kennzeichen aller derer die sich Jünger

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Khristi nennen: denn hat er es nicht selbst gesagt „wer sich nicht selbst verleugnet und mir nachfolgt, der ist meiner | nicht werth?“ Und wie wahr ist dies. Denn wenn wir betrachten allen Ruhm, alle Ehre, alle Bewunderung, die der Mensch für sich gewinnen kann, der überall sucht sich selbst hervorzuheben, wenn wir dies betrachten und bedenken, wie doch der größte Theil der Menschen ihm sucht wieder zu entziehen was er für sich erworben hat, und wie Recht die haben welche sagen, das hätte der nicht zu Stande bringen können, wenn ihm nicht dies und jenes wäre zu Statten gekommen, und wie die Wahrheit doch darin liegt, das Große und Herrliche in der Welt nicht als das Werk eines Einzelnen sondern als das gemeinsame Werk derer die der göttliche Geist ergriffen hat zu betrachten, wenn wir das bedenken: so müßen wir wohl sagen, es sollte uns leicht sein immer und überall uns selbst zu verleugnen, wenn wir erwägen, diese vergängliche auf das | Ungewiße gestellte Ehre vor der Welt, wie wenig das schlechte Gefühl, womit wir uns selbst beehren indem wir auf die Stimme des Erlösers nicht zu achten verstehen, wie wenig das ist gegen das Gefühl von dem inneren Frieden und der inneren Seligkeit, wenn der Mensch nichts sich aber alles der göttlichen Gnade zuschreibt, wenn er nicht sein persönliches Leben hat sondern nichts sein will als ein Glied der lebendigen khristlichen Gemeinschaft, und wenn er nichts was er gethan sich selbst beilegt sondern alles dem Einen Geist der die Gaben vertheilt, dem Einen Gott von dem die Kräfte kommen, dem Einen Herrn der jedem nach dem Maaße seiner Kräfte sein Amt und seinen Beruf in der Welt anweiset. O, m. g. F., wie viel weiter würden wir in der Welt kommen, wenn diese Störungen, die aus der merklichen Eitelkeit | und Selbstsucht der Menschen entspringen, nicht immer wieder das gute Werk des göttlichen Geistes hemmten. Bedenkt einmal die raschen Fortschritte jener ersten khristlichen Zeit. Jezt werden die Jünger des Herrn weit aus Jerusalem vertrieben und zerstreut; in wenig Jahren haben sie gesammelt jene gläubige und herrliche Gemeine; dann kommt der Verfolger mit umgewandtem Sinn und erleuchtet durch das Licht der göttlichen Gnade, und bereitet sich für den Herrn zu leben und zu sterben; dann geht das Wort von der Wahrheit in eine große Streke von Ländern, und gewonnen sind nun die aus Einer Quelle schöpfen das wahre Leben, früher Juden und Heiden, jezt alle Glieder an dem Leibe Khristi, umgewandt zu der Wahrheit des Evangeliums, und erfüllt von demselben Geist des Glaubens und der | Liebe, der über sie ausgegoßen ist. O wie langsam und träge wäre es gegangen, wenn nicht jene herrliche Selbstverleugnung, jene alles überwindende Liebe die Herzen aller Verehrer des Kreuzes ergriffen, und in ihnen erstikt hätte alle Regungen der Selbstsucht, und sie getrieben in gemeinsamer Kraft zu dem gemeinsamen Werk. Fragen wir, was uns 1–2 Vgl. Mt 10,38 Eph 5,30

21–23 Vgl. 1Kor 12,4–6

34 Vgl. 1Kor 6,15; 12,12.27;

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lähmt, was uns zurükhält, wenn wir glauben, wir dürfen große Fortschritte erwarten, und hat der Herr ein Zeichen gegeben, das uns mit der Hoffnung erfüllt, etwas Schönes und Herrliches werde den Menschen kommen: o das ist es, daß wir zu jener reinen Gewalt der Liebe nicht durchdringen; welche die ersten Bekenner Khristi beseelte, daß wir uns nicht zu jener Größe erheben können, | daß nichts ist als Gott und seine Gaben, die da walten sollen. Könnten wir das, o dann würde kein Hinderniß mehr sein was uns jezt noch stört, und gern würde jeder, sei er hoch oder niedrig, den Beistand suchen den er bedarf; und sollte er ihn nicht finden in der Gemeine des Herrn, wo doch sein Geist immer lebt und wirkt? Und wenn jene kleinlichen Mißhelligkeiten nicht wären, jenes trübe Zurükdenken an vergangene Zeiten, an Irrthümer und Vergehungen, deren wir uns schuldig gemacht, oder durch welche andre uns gestört haben; so wir fest ständen im Glauben und bereit wären mit demüthigem Herzen einer dem andern die Hand zu reichen: um wie viel weiter müßten wir gekommen sein als wir jezt sind. Darum möge | uns dieses große und herrliche Beispiel, welches diese übrigens so einfache und schlichte Erzählung uns giebt, nicht vergeblich vor unsre Seele treten. Laßt uns einmüthig jeder in der Tiefe seines Herzens fragen, woran es ihm fehle, daß wir ihm noch nicht nachgekommen sind, und dann nacheifern allen denen mit allen Kräften die uns vorangegangen sind auf der Bahn des Glaubens und der Liebe. Amen.

[Liederblatt vom 3. September 1820:] Am 14ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Ach Gott und Herr etc. [1.] Mein Freund ist mein, und ich bin sein, / Ihm hab ich mich ergeben; / Ich bin bereit in Glück und Freud’, / O Jesu, dir zu leben! // [2.] Ich glaub an dich, an dir halt ich / Und will dich auch nicht lassen, / Und immer wirst du Lebensfürst / Mich gnadenreich umfassen. // [3.] Dein ganz Verdienst ist mein Gewinnst, / Dein Leben und dein Sterben / Hat mich versöhnt, ja gar gekrönt / Zum rechten Himmelserben. // [4.] Die Kreuzeslast, die du Herr hast / So gern auf dich genommen, / Hat mich befreit von allem Leid, / Das sonst wär auf mich kommen. // [5.] Einst werd ich gleich in deinem Reich / Den frohen Engeln werden, / Wo ich forthin verwahret bin / Vor störenden Beschwerden. // [6.] Drum, o Herr Christ, du einer bist / Mein höchster Schatz auf Erden; / Ach laß mich nicht, mein Lebenslicht, / Von dir geschieden werden. // (Anna Soph. Landgr. zu Hessen.) Nach dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Des Herrn Gesetz verkündet den Gemeinen, / Es soll euch Lieb und Friede hier vereinen, / Daß unter Einem Hirten Eine Heerde / Aus Allen

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werde. // [2.] Wir sind mit Einem Opfer Gott erkaufet, / Wir alle sind auf Eines Tod getaufet, / Daß jeder nun mit gleichem Ernst und Triebe / Den Bruder liebe. // [3.] Wie dürfte wol, die Einen Herrn bekennen, / Der Streit, wer mehr Erkenntniß habe, trennen? / Was dürfte, die sich Eines Heilands freuen, / Lieblos entzweien? // [4.] Wenn wir wie Brüder bei einander wohnen, / Und, irrt ein Bruder, seiner Schwäche schonen: / Dann werden wir, Gott ähnlich schon auf Erden, / Dort selig werden. // [5.] Der danke, der mehr Licht hat; er sei weise, / Nicht sich nur zu gefallen, Gott zum Preise / Sei er’s den Brüdern; und an Einsicht größer / Sei er auch besser. // [6.] Er hoffe gläub’ger, weil er weiß, die Sonne / Naht erst im Morgenroth, eh’ sie zur Wonne, / Wenn nun ihr Mittagslicht die Erde schmücket, / Das Aug’ entzücket. // [7.] Er liebe brünstiger, daß, wer irrt, durch Liebe / Gewonnen, freier sich im Forschen übe, / Und gern zum Lichte, frei vom Bruderhasse, / Sich leiten lasse. // [8.] Durch Liebe wollen, Herr, wir zu dir dringen, / Und harren auf des großen Werks Vollbringen, / Daß unter Einem Hirten Eine Heerde / Aus Allen werde. // (Cramer.) Nach der Predigt. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] O möchten alle Zungen preisen, / Und alle Herzen fühlen dich! / Auf tausendmal zehntausend Weisen / Freun deine Menschen deiner sich, / Der alle Guten einst vereint, / Wenn der Vollendung Tag erscheint. // [2.] O Jesus, Hirte deiner Heerde, / Laß uns wie du gesinnet sein! / Dann flieht die Zwietracht von der Erde, / Die sanfte Duldung stellt sich ein. / Du bist die Wahrheit, bist das Licht, / Wer treu dir folget, irret nicht. //

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15. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Jerusalemskirche zu Berlin Mt 6,24–34 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 75, Bl. 148r–168v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 100, Bl. 47r–59v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 42r–43v; Gemberg Keine

Predigt am fünfzehnten Sonntage nach Trinitatis 1820, am zehnten Herbstmonds, gesprochen in der Jerusalemer Kirche. |

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Es ist, meine a. F., ein leider sehr allgemeiner Irrthum unter vielen Khristen verbreitet, daß es in dem menschlichen Leben so mancherlei gebe, wobei unser inneres Gefühl von Gott und überhaupt das Verhältniß des Menschen zu Gott in gar keine Betrachtung komme, sondern was gleichsam neben dem Reiche Gottes auf Erden und außer demselben seinen eigenen Gang gehe. Und dahin wird gewöhnlich alles dasjenige gerechnet, was sich auf die äußern Bedürfnisse oder auf die Vergnügungen und Erheiterungen des menschlichen Lebens auf Erden bezieht. Aber gefährlich ist dieser Irrthum. Denn es läßt sich eine solche Trennung nicht machen, es greift alles im menschlichen Leben in einander auf eine wunderbare | Weise ein, und nur zu oft ist das Größte von demjenigen was scheinbar das Kleinste und Geringfügigste ist abhängig. Daher hat der Mensch ein doppeltes Gesez dem er folgt, so kommt er auch früh oder spät in einen bedauerns würdigen Zwiespalt mit sich selbst, so kann es nicht anders sein als daß auch sein Herz getheilt ist zwischen dem Einen und dem Andern; und wenn dann solche Augenblike kommen, wo auf eine unverkennbare Weise dasjenige was scheinbar nur als das Irdische angesehen werden konnte, in das Allergeistigste eingreift, oder dieses jenes bedarf, dann offenbart sich der traurige Zustand des innern Zwiespalts, dann wird es aber zu spät gefühlt, wie nothwendig dem Menschen jene Einfalt sei, die alles nur auf Ein Ziel hinrichtet | und nach Einem Geseze ordnet. Hierüber, m. g. F., finden wir in unserm heutigen Sonntagsevangelium und zwar in Hinsicht auf einen bedeutenden und wichtigen Theil des menschlichen Lebens eine Anweisung unsers Herrn

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selbst, wodurch das was ich eben gesagt in ein helleres Licht gesezt wird. Zu dieser Betrachtung erbitten wir uns den Segen des Herrn.

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Tex t. Matthäi VI, 24–34. Niemand kann zween Herrn dienen; entweder er wird einen haßen und den andern lieben, oder er wird einem anhängen, und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Darum sage ich euch, sorget nicht für euer Leben, was ihr eßen und trinken werdet; auch nicht für euern Leib, was ihr anziehen werdet; Ist nicht das Leben mehr | denn die Speise, und der Leib mehr denn die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an, sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen, und euer himmlischer Vater nähret sie doch; seid ihr denn nicht vielmehr denn sie? Wer ist unter euch der seiner Länge eine Elle zusezen möge, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen, sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht; ich sage euch, daß auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist als derselben eins. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute stehet, und morgen in den Ofen geworfen wird; sollte er das nicht vielmehr euch thun? O ihr Kleingläubigen! Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: was | werden wir eßen? was werden wir trinken? womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allen trachten die Heiden; denn euer himmlischer Vater weiß, daß ihr deß alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den andern Morgen, denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen; es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe. Hier, m. g. F., ist die Rede von der Sorge für die Herbeischaffung unsrer äußern Bedürfniße, es ist die Rede von allen demjenigen was wir am allermeisten gewöhnt und genöthigt sind als das Irdische anzusehen, von demjenigen, wovon auch das ahnende Wort des Herrn selbst | uns sagt, daß in jenem Leben, in welchem wir schauen werden seine Herrlichkeit, in welchem das Verwesliche wird angezogen haben das Unverwesliche, von allen diesen äußern Bedürfnißen von allen diesen Zuständen unsers jezigen Lebens und den Beschäftigungen mit den Dingen um uns her, von aller dieser mannichfaltigen Abhängigkeit unsers eigenen Daseins nicht mehr die Rede sein wird. Und darum ist es natürlich genug, daß so viele Menschen dieses nicht ansehen als etwas was auch zu dem Reiche Gottes gehört und geistig 33 Vgl. 1Kor 15,53

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müße gerichtet sein, sondern sie meinen, dies eben das dürfe man nur weltlich üben. Ganz anders nun unser Erlöser, denn indem er in den verlesenen Worten seinen Jüngern und mit ihnen uns allen – denn es steht darin | nichts was sich auf ihren besondern Beruf in der Welt bezieht – indem er, sage ich, ihnen und mit ihnen uns allen alles Sorgen für unsre äußern Bedürfniße untersagt, so sehen wir, es ist dies dabei sein Hauptgedanke, daß dies mit unserm Dienst in dem Reiche Gottes nicht bestehen könne. Und eben dies wird uns gewiß in seinem ganzen Zusammenhang deutlich werden, und dadurch das was ich vorhin schon gesagt habe eine größere Festigkeit erlangen, wenn wir die Gründe, aus denen der Erlöser den Seinigen alle Sorgen für ihre äußern Bedürfniße untersagt, noch näher mit einander erwägen. Es sind deren aber, wie aus unserm Evangelium hervorgeht, vorzüglich drei: zuerst nämlich schärft er uns ein, | daß dies ein andrer Dienst sei als der Dienst Gottes, dann zweitens daß wir uns dabei auf etwas verlaßen, worauf wir uns nicht verlaßen können, und drittens daß es eine auffallende und unleugbare Verschlimmerung unsers ganzen irdischen Lebens in sich schließt. Laßt uns diese drei Punkte jezt in nähere Betrachtung ziehen. I. Der Erlöser will offenbar zuerst uns dieses einschärfen, daß indem wir für unsre äußern Bedürfniße sorgen, wir in einem andern als dem Dienste Gottes uns befinden. Denn er fängt seine Rede damit an, daß niemand zweien Herren dienen könne, daß wir nicht Gott dienen können und dem Mammon, und deßhalb sagt er sollen wir nicht sorgen was wir eßen und trinken, | und womit wir uns kleiden werden. Und freilich wohl, m. g. F., als einen Zustand der Freiheit etwa wird niemand das fühlen und erkennen, wenn uns die Sorge hinterhertreibt, sondern ein Dienst ist es, aber gewiß auch ein andrer als der Dienst Gottes. Denn zuerst, m. g. F., ist es doch die Furcht, was den Menschen sorgen läßt, es ist das bange Bild der Zukunft, welches ihm vor Augen steht und ihn treibt, es ist die traurige Ahnung einer Beschränkkung seines Daseins, eines gefährlichen Mangels, der ihn in der nahen oder fernen Zukunft treffen könne. Das alles ist Furcht; der Mensch aber, der sich fürchtet, der ist gewiß nicht frei. Denn das wäre wohl das Erste was sich ein jeder Mensch, | wenn er die Einsicht hätte und die Macht, wünschen würde, daß er hinwegwerfen könnte die Sorgen als einen Theil der Furcht, in welcher ein jeder sich befangen und beschränkt auf alle Weise fühlt. Aber noch viel weniger ist das, wozu uns die Furcht treibt, ein Dienst Gottes. Denn das ist ja die schöne von dem Herrn uns offenbarte nicht nur sondern auch mitgetheilte Einsicht auf der einen Seite und das innere Gefühl auf der andern Seite von unserm Verhältniß zu Gott, daß, so wie er die Liebe ist, so auch sein Dienst nichts anders ist und sein soll als

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das lebendige Wirken der Liebe, daß aber die völlige Liebe die Furcht austreibt. Je mehr wir also Gott dienen, um desto weniger vermögen wir uns zu | fürchten, und mit der Furcht schwindet die Sorge, die an jener hängt. So viel noch Sorgen und Furcht in unserm Leben ist, so viel ist noch in demselben was dem Dienste Gottes nicht gehört, weil es von dem Gefühl seiner Liebe ausgeschloßen ist. Und wie wahr das auch in dieser Beziehung ist, deßen können wir uns noch auf eine andre Weise bewußt werden, wenn wir uns aufrichtig fragen, ob nicht ein jeder, der sorgt für seine äußern Bedürfniße, dadurch in demjenigen, was auch er für den ihm obliegenden Dienst Gottes erkennt, gestört und auf mancherlei Weise gehemmt wird. Ja das werden wir uns, wenn wir uns in solche Augenblike unsers Lebens zurükversezen, wenn wir auf diejenigen sehen, in denen uns die | Gewalt der Sorge recht groß erscheint, das werden wir uns nicht ableugnen können. Zu dem Dienst Gottes, der uns allen obliegt, gehört doch gewiß dies, daß jeder in dem Kreise seines Berufs und seines Wirkens seiner innern Ueberzeugung von dem was seine wirklich überdachte Kenntniß von dem Willen Gottes im Leben und an ihn ist, immer und unverbrüchlich folge; zu dem anerkannten Dienst Gottes, der uns allen obliegt, gehört doch gewiß dies, daß wir überall in allen unsern Verhältnißen der Wahrheit die Ehre geben, daß wir unser Gefühl für das was Recht und für das was Unrecht ist nicht unterdrüken und gewaltsamer Weise zum Schweigen bringen. Und laßt uns nur bei diesen beiden Punkten stehen bleiben und uns fragen, wie steht es um den der | sorgt? O wie stark und gewaltig wirkt in dem auf sein ganzes Handeln der Unterschied zwischen Menschen die Macht und Ansehen in der Welt haben, und zwischen denen, denen es daran noch weit mehr fehlt als ihm selbst. Gegen jene strekt sich der hülfsbedürftige Arm des Sorgenden aus, auf sie ist sein Auge gerichtet, und kommt es darauf an der Wahrheit die Ehre zu geben, für Unrecht zu erklären was Unrecht ist, auch wenn diejenigen es thun, denen eben so viel entscheidende Macht und Ansehen in der Welt übertragen ist, kommt es darauf an unsre eigene Ueberzeugung zu vertheidigen und ihr Recht zu verschaffen, so viel in unsern Kräften steht, auch wenn die Mächtigen die Gewaltigen die Begüterten der Erde eine entgegengesezte Überzeugung | haben: wie sehr werden sich dann diejenigen unterscheiden die sorgen, und die welche der Sorge Lebewohl gesagt haben! wie freimüthig werden die leztern auftreten, und wie zaghaft die erstern! wie herrlich wird sich die Wahrheit und das Recht durch den Mund der leztern verkündigen, und wie schwankend werden die erstern dastehen, so daß man oft nicht zu entscheiden vermag, ob sie es redlich meinen mit dem was gut ist und recht und wahr, oder ob sie übergetreten sind auf einen verkehrten Weg! Und das, m. g. F., das wird 1–2 Vgl. 1Joh 4,18

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wohl nicht weniger einem jeden begegnen, der da sorgt für den morgenden Tag und für das nächste Jahr und für die ganze Dauer seines Lebens, wovon er leben, was er eßen und trinken und womit er sich kleiden soll, | und was alles anderes dem noch ähnlich ist. Darum, m. g. F., faßt man auch so gar nicht richtig den Sinn des Erlösers bei diesen Worten auf, wenn einer, wie es gewöhnlich geschieht, denkt, der Erlöser will nur eine ängstliche Sorge den Seinigen verbieten, es giebt aber eine müßige Sorge die man sich wohl erlauben dürfe. Davon weiß der Erlöser nichts, und in seinen Worten ist nichts, was auch nur auf eine entfernte Weise jene Meinung veranlaßen könnte sondern geradezu sagt er „sorget nicht.“ Und wenn wir überlegen wollen was ich vorhin im Allgemeinen von der Sorge gesagt habe, so werden wir gestehen müßen, es ist zwischen der ängstlichen Sorge und zwischen der mäßigen kein anderer Unterschied als der zwischen dem Mehr | und Weniger. Wer nicht so ängstlich sorgt als ein andrer, den wird nicht bei so unwichtigen und kleinen Gelegenheiten sondern nur bei wichtigen und großen die Sorge stören in der Erfüllung seines Dienstes gegen Gott. Wer noch ängstlicher sorgt als ein andrer, den wird die Sorge in seinem Dienst für Gott bis in das Geringste begleiten, und ihm von allen Seiten hemmend entgegentreten. II. Nun kann es freilich scheinen, wenn man alles Sorgen für die äußeren Bedürfniße des Lebens aufheben wollte, daß man den Menschen dadurch außer Stand sezt seine Thätigkeit in der Welt auf eine richtige Art fortzusezen, so kann es scheinen als ob man ihn verweisen wollte auf etwas Wunderbares, dem Gang der Natur und der menschlichen Dinge | zuwiederlaufend. Aber wie es damit steht, m. g. F., sagt uns der Erlöser in den Worten unsers Evangeliums zweitens, daß gerade der welcher sorgt sich auf etwas verlaße, worauf in der That kein Verlaß ist, derjenige aber der nicht sorgt eben das Zuverläßigste in der Welt für sich habe. Und das ist es, was ich in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung deutlich zu machen suchen werde. Der Erlöser führt uns hier in seiner Rede auf das Beispiel unvernünftiger und zum Theil lebloser Geschöpfe, und sagt uns „sehet die Vögel unter dem Himmel an, die nicht säen und ernten, und nicht in die Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater nähret sie doch; schauet die Lilien auf dem Felde, | wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht, ich sage euch selbst Salomon ist in allem Glanze der Pracht und Herrlichkeit, die ihn umgab, nicht geschmükt gewesen wie sie.“ Wodurch denn, wenn wir uns fragen, entsteht den Vögeln unter dem Himmel ihre Nahrung? wie kommen die Lilien des Feldes zu jener äußern Schönheit, die keine menschliche Schönheit übertrifft? Es geschieht beides durch die Geseze der Natur, die das Werk Gottes ist, es geschieht durch die Übereinstimmung zwischen allen verschiedenen Theilen seiner Welt, die er geordnet hat, es geschieht

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durch das Zusammenwirken aller der verschiedenen Kräfte, die der Spiegel sind seiner ewigen und unvergäng|lichen Macht. An diese Geseze der Natur sind die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe gewiesen, in ihnen und durch sie bestehen sie. Aber der Mensch[,] sorgt denn Gott für den so wie er für die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe sorgt? findet er seine Nahrung gereicht ohne daß er die Hand an den Pflug legt? wird er bekleidet ohne daß menschliche Arbeit und Thätigkeit es ihm bereitet? Nein freilich; und so scheint das Beispiel des Erlösers unzwekmäßig zu sein. Aber nein; indem er uns auf der einen Seite das Gesez der Natur vorhält, wo die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe ihre Sicherheit finden, so hält er uns auf der andern Seite vor das große | Gesez der menschlichen Gesellschaft, wo die vernünftigen Wesen in dieser Welt ihre Sicherheit finden. Denn unmittelbar nachdem er dies uns vorgehalten hat sagt er „ihr nun trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“ Wohlan denn, trachten wir nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so haben wir das große Gebot des Apostels vor Augen, daß jeder seine Gaben verwenden soll zum gemeinen Nuz. Trachten wir nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wißen wir wie ein jeder angewiesen ist auf sein | beschieden Theil, so wißen wir wie in dem großen Werk Gott auf Erden der welcher der Herr ist die Ämter ausgetheilt hat, wie der welcher der Urquell des Lebens ist die Kräfte ausgetheilt hat, und wie der Geist es ist, der alles vernünftige Leben zur Förderung des Reiches Gottes zusammenhält, und der seine Gaben nach dem Maaße der menschlichen Empfänglichkeit vertheilt hat, dem einen dieses, dem andern jenes. Hat nun jeder so gefunden in der Menschheit das Amt, welches seinen Kräften gemäß ist, und ist ein jeder von der niedern Stufe, worauf auch der Mensch sich ursprünglich gestellt sieht, erhaben durch den göttlichen | Geist zu einer Gott wohlgefälligen Wirksamkeit im Reiche Gottes, und ausgerüstet mit seinen herrlichen Gaben auf diese oder auf jene Weise zur Erfüllung seines Willens in dem Zusammenwirken menschlicher Kräfte und Gaben für Einen großen Zwek; ist eben dadurch, daß nur in der Vereinigung mit denen, die von demselben Geist getrieben das Reich Gottes auf Erden zu erbauen suchen, der eine in diesem der andre in jenem Kreise wirkt, der eine dieses der andre jenes Amt versieht, ist dadurch ein jeder gelangt zu dem was ihm in dem äußern Leben Noth thut – denn die ursprüngliche Bestimmung, die Gott dem Menschen | gegeben hat, daß er soll ein Herr sein über alles was auf Erden lebt, und über alle Kräfte dieser Welt so weit er sie durch seine Vernunft in seine Botmäßigkeit bringen kann, diese ursprüngliche Bestimmung des Menschen geht in dem Reiche Gottes auf Erden, welches Khristus gestiftet hat, nicht verloren, 20–21 Vgl. 1Kor 12,4–6

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sondern ist der erste Grund, worauf alles Weitere und Höhere, was dasselbe in sich schließen soll, erbaut werden muß aber indem wir unsre Kräfte und Gaben dazu benuzen die von Gott uns verliehene Gewalt auch zur Befestigung seines Reiches und so zur Bestimmung der Menschen durch Khristum | anzuwenden, indem wir so zum Nuz und zur Förderung der menschlichen Gesellschaft unsern Beruf erfüllen: – so ist das freilich etwas ganz anderes als wenn wir für die Herbeischaffung unsrer äußern Bedürfniße sorgen wollten, so werden uns alle Thätigkeiten, wodurch diese Herbeischaffung nicht allein für uns geschieht sondern für die Gesellschaft, der wir angehören, ein Theil des Dienstes den wir Gott leisten, indem wir das ursprüngliche Gebot, welches er dem Menschen gegeben hat, erfüllen, und das werden und können wir thun mit aller Treue ohne daß die Sorge in unser Gemüth einzugehen braucht. Und das Gesez der menschlichen Gesell|schaft, sagt der Erlöser, das Gesez des göttlichen Reiches auf Erden, das ist das Einzige worauf wir uns verlaßen können, eben so wie die unvernünftigen und leblosen Geschöpfe ihre Sicherheit finden in dem Reiche der Natur. Trachtet nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, wozu die Erfüllung aller eurer Pflichten in der menschlichen Gesellschaft gehört, so wird euch das übrige alles von selbst zufallen, d. h., es giebt nichts anders wodurch ihr euch sicher stellen könnt, daß ihr zu der Befriedigung der äußern Bedürfniße des Lebens gelangen werdet, als eben den Gehorsam gegen dieses göttliche Gesez. Freilich die Vögel unter dem Himmel, sie leiden | auch bis weilen Mangel, und bei großen Verheerungen in der Natur, bei außerordentlichen Ereignißen in dem Spiel dieser leblosen Kräfte, da sehen wir oft auch sie, für welche der himmlische Vater, wie der Erlöser in unserm Evangelio sagt, so treu gesorgt hat durch das Gesez der Natur, da sehen wir auch sie Mangel leiden und Hungers sterben. Und die Lilien des Feldes mit ihrer schönen Pracht und Herrlichkeit geschmükt, o es giebt auch äußere Umstände, unter denen die Pracht ihrer Farben verblühte, und unter denen sie das Haupt senken ehe die natürliche Zeit ihres Bestehens gekommen ist. Dadurch zeigt der Herr seine Macht, aber auch eine Macht der nichts widerstehen kann. Und freilich | auch die menschliche Gesellschaft, wie treu sie jenes Gesez befolge, welches der Erlöser in jenen Worten aufstellt „trachtet nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“, sie ist noch nicht zu der Vollkommenheit gediehen, daß wir sagen könnten, was auch für Zerrüttungen sie treffen mögen von außen, wie viel auch Fehler, nicht Fehler des Willens und der Gesinnung sind, sondern nur menschliche Schwachheiten sind, dennoch steht dieses göttliche Gesez so unumstößlich fest, daß nie einer Mangel leiden könne an seinen Bedürfnißen, der dasselbe befolgt, und also den Kreis seines Berufs vermittelst der ihm verliehenen Einsicht und Kraft auszufüllen strebt. Aber was sagt der Erlöser, wenn wir ihm entgegenkommen mit diesem Einwurf? „Wer unter euch | kann seiner Länge einen Elle zusezen, obgleich er darum sor-

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get?“ Geht ihr mit eurem eingeschränkten Gedanken über die Gränzen hinaus, in denen euch das große Gesez des Rechts und der Sittlichkeit in der menschlichen Gesellschaft euer Bestehen sichert, umfangt ihr mit euren stumpfen Bliken jenes freilich immer sparsamer werdende Gebiet der Unsicherheit, was hilft euch euer Sorgen? Was jenes große Gesez der Natur nicht ausrichten kann durch die gewaltige Vereinigung ihrer Kräfte, will das ein Einzelner ausrichten durch sein Sorgen, das zeigt uns der Erlöser als leer und vergeblich am deutlichsten an dem was er zum Beispiel nimmt. Aber werden wir nicht sagen müßen, das ließe sich eben so gut auf alles | andre anwenden? Hast du das nicht in deiner Gewalt, daß du durch die treue Erfüllung deines Berufs dir die irdischen Bedürfniße verschaffst, auf welche Weise kannst du sie dir durch dein Sorgen verschaffen? wie könnte dein Sorgen dahin reichen wohin jenes Gesez nicht reicht? Jenseits dieser Sicherheit aber giebt es, das will der Erlöser in jenen Worten sagen, gar keine, sondern da giebt es nur das Verlaßen auf diejenige Barmherzigkeit Gottes, die seiner Weisheit gleich ist und Eins und dasselbige mit ihr. Läßt er uns Mangel leiden, ohnerachtet wir uns an jenes Gesez allein gehalten, ohnerachtet wir nicht durch Sorgen unser Gemüth bekümmert und unsern Blik getrübt, ohnerachtet wir uns nicht von dem Ziel unsrer Thätigkeit | entfernt haben, läßt er uns, sage ich, doch Mangel leiden: wohlan so ist es sein heiliger Wille, wodurch er uns und andere die Unvollkommenheit der menschlichen Dinge kund giebt, und einen neuen Sporn zur Vervollkommnung aller gesellschaftlichen Einrichtungen in uns legt. Wenn unsre Zuversicht darauf nicht gerichtet ist, wenn wir nicht zu jenem großen Worte des Erlösers „trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen,“ dies hinzunehmen, daß denen die Gott lieben alle Dinge in der Welt zum Besten gereichen müßen, auch das wenn sie selbst müßen ein trauriges Beispiel abgeben von der Unvollkommenheit aller menschlichen Weisheit und Ordnung, wenn dies nicht von uns geschieht, was gewinnen wir durch unser Sorgen? Wir | haben keine Erfüllung derselben in unsrer Gewalt, sondern alles was wir können ausrichten wollen außerhalb deßen, was jenes große Gesez der menschlichen Ordnung für uns thut, das kann nur mit jenem Gesez streiten, das kann nur unser Leben verwirren, und uns mehr Übles zufügen als das vorübergehende Gute ist was wir dadurch vielleicht erlangen, das muß uns nothwendig machen zu Feinden Gottes und seiner Gerechtigkeit, indem es uns auf einen Weg leitet, der den Gesezen derselben zuwider ist. Aber indem wir die Erfüllung nicht in unsrer Gewalt haben, aber wohl wißen daß das Böse davon unzertrennlich ist, so kommt noch hinzu, wie der Erlöser 26–27 Vgl. Röm 8,28

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III. Das drükt er aus in den Worten „sorget nicht für den morgenden Tag, denn der wird für das Seine sorgen; es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigenen Plage habe.“ Ja das giebt er uns zu, daß jeder Tag des irdischen Lebens seine eigene Plage und sein eigenes Elend hat. Sorgen wir nun noch für den morgenden, so fügen wir noch ein neues hinzu, und indem das Sorgen, hat die Sorge einmal den Weg gefunden in unser Gemüth, nicht aufhört, wie wir denn finden, daß diejenigen, die am meisten gesichert scheinen in Beziehung auf ihre irdischen Bedürfniße, eben so sehr Knechte der Sorge sein können wie die welche am stärksten angefochten werden von den Bedürfnißen des Lebens, und den morgenden Tag zu übersehen | nicht im Stande sind, hat aber die Sorge sich einmal in unser Gemüth eingeschlichen: so fügen wir jedem Tag zu seiner eigenen Plage und zu seinem eigenen Elend neues hinzu, und werden so Schöpfer unsers eigenen Unheils. Wenn aber nun, wie der Erlöser sagt, es die große Regel des menschlichen Lebens ist, daß denen die nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachten, alles andere zufällt, was ist dann die eigene Plage welche jeder Tag hat? Damit kann der Erlöser nicht gemeint haben die Sorge für die Herbeischaffung der irdischen Bedürfniße desselben Tages. Was hat er denn damit gemeint? Die Plage, m. g. F., welche dem Menschen nicht fern bleibt auch indem er nur nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit trachtet; das | ist die bittere Plage, das ist das unvermeindliche Elend eines jeden Tages, welches er uns recht will fühlen laßen, damit wir dadurch um so sicherer abgehalten werden die Plage durch das Sorgen nicht zu vermehren. Und was ist das für eine Plage, m. g. F., die auch dem nicht fern bleiben kann, der frei bleibt von der Sorge für seine irdischen Bedürfniße, der nach nichts anderem trachtet als nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit? Sollen wir darnach nicht trachten mit freudigem Gemüthe? sollen wir nicht alle unsre Pflichten in der Welt erfüllen mit fröhlichem Herzen? sollen wir nicht erfüllt und gesättigt werden von diesem herrlichen Frieden, der sicher das Reich Gottes von allen Seiten umfängt und denen zuströmt die in dem|selben wohnen? Wohlan das ist das Beispiel unsers Erlösers, der selbst während seines ganzen irdischen Lebens fröhlichen Herzens gewesen ist, das ist das Beispiel aller Helden des Glaubens, das ist das Beispiel der treuesten Diener Gottes und aller Zeugen für die Wahrheit. Und doch sagt der Erlöser hat jeder Tag seine eigene Plage? Ach das ist die Plage, über die auch er oft ergrimmte im Geist, über die auch er oft geseufzt hat, und die seine Augen zu Thränen bewegte, es ist die Plage der Sünde in uns selbst und um uns her, die Plage von alle dem was das Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtig-

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keit hindert, es ist das Gefühl der menschlichen Unvollkommenheit unsrer eigenen und der fremden, die uns auf jedem Schritt, den wir im Leben thun selbst trachtend nach dem | Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, entgegen kommt. Das ist die Plage eines jeden Tages, von welcher niemand frei bleibt, wie sehr er auch sein Gemüth dem himmlischen Lichte der Gnade Gottes geöffnet haben mag. Fühlen wir, welch eine Bedeutung diese Plage hat, fühlen wir wie tief sie das Herz des liebenden Menschen am meisten trifft, fühlen wir welches herrliche Maaß von den Gaben des göttlichen Geistes dazu gehört, damit wir unter dieser jeden Tag neu wiederkehrenden Plage das fröhliche Herz und die freudige Zuversicht zu Gott festhalten: o wie sollten wir uns den Genuß des Lebens in dem Gefühl der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater so verkümmern, daß wir zu dieser Plage noch die Sorge um die irdischen Bedürfniße | hinzufügten. Denn so, m. g. F., so ist es nicht mit jener Plage, die hat Gott nicht vergeblicher Weise dem Menschen beigelegt; uns soll die Unvollkommenheit aller Dinge fühlbar sein, damit das Trachten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit und das Rennen auf der Bahn der Vervollkommnung immer rege und lebendig erhalten werde. Und diese Plage hat ihren Erfolg, sie führt ihren Stachel bei sich, aber keinen andern, wie der Herr selbst sagt als das Böse in der Welt zu überwinden durch das Gute. Und indem so die Plage jedes einzelnen Tages unsre Betrübniß über unsre eigene und der Welt Sünde ist, indem so auch das Gemüth desjenigen, der am meisten zu einer trüben Ansicht des Lebens geneigt ist, seine volle Befriedigung schon darin findet, sollen wir nun noch mehr Plage suchen in jener Sorge für die irdischen Dinge? | und wie unwürdig würde sich diese ausnehmen neben jener? Und das ist es besonders gewesen, worauf uns der Herr auch durch die Worte „es ist genug, daß ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe,“ hat aufmerksam machen wollen. Derjenige, der die rechte Plage eines jeden Tages zu fühlen vermag, o der wird dadurch schon unfähig werden der Sorge einen bedeutenden Einfluß auf sein Gemüth zu verschaffen. Die Sorge für seine irdischen Bedürfniße sie tritt in Schatten, wenn das dunkle Bild der Sünde vor ihn hintritt, und als ob jene keine Gewalt über den Menschen hat, so muß die Sorge und die Furcht deßen, der nach dem Reiche Gottes trachtet, auf nichts als auf die Sünde und die geistige Unvollkommenheit sich richten, daß diese nicht immer weiter | um sich greife, sondern je länger je mehr überwunden werde. So ist es, m. g. F., das ist der Sinn des Gebotes unsers Herrn und Meisters. Und gehen wir nun zu seinen ersten Worten zurük „ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon“, und fragen uns, wem dient der Mensch also, wenn er seiner Sorge dient, da sie doch ein Dienst Gottes nicht ist, und da, indem die Sorge ihm auch nicht den geringsten Erfolg verspricht, sie auch nicht sein eigener Dienst ist? wem dient er also? O er dient den dunkeln Mächten, den blinden und unersättlichen sinnlichen Begierden, die den Menschen nicht nur selbst

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zum Knechte machen, indem sie ihm das schwere Joch der Sorge auflegen, sondern die ihm wie vortheilhaft sie sich ihm auch stellen mögen, die Sorge für die Förderung | der Wahrheit und Tugend, die Sorge für die höheren Gegenstände alles menschlichen Strebens, mit der Gewalt jener ungezügelten Leidenschaften stören, die ihn unfähig machen zu erfüllen was Gott wohlgefällig ist, und ihn verketten in die Gemeinschaft der Sünde, deren Plage er jeden Tag fühlen soll. O so laßt sie uns hinwegwerfen diese erniedrigende, diese des Wesens, welches fähig ist nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu trachten, ganz unwürdige Sorge für die Bedürfniße des äußern irdischen Lebens, unwürdig deßen der der menschlichen Gesellschaft seinen ganzen Dienst schuldig ist, und sich selbst vernachläßigen soll um ihretwillen, unwürdig noch weit mehr deßen der sich selbst schon gefunden hat im Reiche Gottes, in | welchem der Geist des Herrn mit seinen herrlichen Gaben waltet, in welchem eine Fülle von geistigen Freuden dem Menschen aufgethan ist, in welchem die Gewalt der Liebe ihn über jenes Tichten und Sinnen nach den irdischen Dingen erheben soll. Ja laßt uns unser Leben nicht so verschlimmern, daß wir der eiteln Sorge dienen, sondern an das Wort des Erlösers uns halten „trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“ Und was euch der Herr versagt, das versagt er euch zu eurem Heil; denn denen die ihn lieben müßen alle Dinge in der Welt zum Besten gereichen. Amen.

21–22 Vgl. Röm 8,28

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16. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,27–30 Nachschrift; SAr 76, Bl. 1r–24r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 129–144 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 43v–45v; Gemberg Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am sechszehnten Sonntage nach Trinitatis 1820, am siebenzehnten Herbstmonds. | Tex t. Apostelgeschichte XI, 27–30. In denselbigen Tagen kamen Propheten von Jerusalem gen Antiochia; und einer unter ihnen mit Namen Agabus stand auf und deutete durch den Geist eine große Theurung, die da kommen sollte über den ganzen Kreis der Erde, welche geschah unter dem Kaiser Klaudio. Aber unter den Jüngern beschloß ein jeglicher nach dem er vermochte zu senden eine Handreichung den Brüdern, die in Judäa wohnten: wie sie denn auch thaten, und schikten es zu den Ältesten durch die Hand Barnabä und Sauli. Wir lesen hier, m. a. F., daß bei der Ahnung einer großen Noth, die, man wußte freilich nicht, wie bald bevorstand und wie weit sich erstreken | würde, eine allgemeine Bewegung unter den Khristen jenes Orts entstand, um ihren Brüdern in Judäa für diesen Fall der Noth zu Hülfe zu kommen. Das war, m. g. F., das erste Beispiel einer solchen weit hin sich verbreitenden Handreichung, es war nicht ein Gesez, welches ausgesprochen oder gegeben wurde, aber es war ein allgemeiner Beschluß, welcher als ob es verabredet gewesen, oder als ob ein Gesez darüber vorhanden gewesen, in allen gleichmäßig entstand. Und, m. g. F., etwas anderes als dies haben wir ja überhaupt nicht zu erwarten, wenn wir nach demjenigen fragen, wodurch die khristliche Kirche zuerst gegründet worden, und wodurch sie sich immer mehr befestigt und gestärkt hat. Ein Gesez, welches in Worten ausgesprochen | wird, ein Grundsaz wozu die Menschen sich bekennen, das ist an und für sich wenig; aber die Bewegung der Gemüther, die das was an und

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für sich nur ein kaltes Wort war zur That macht, diese ist so wie überall so ganz vorzüglich in dem Gebiet des Khristenthums alles. Was derselbe Geist, der von oben herab kommt, um das Wort und das Wesen Khristi unter den Seinigen zu verklären, was der am meisten in allen auf eine und dieselbe Weise ausspricht, das ist auch die theuerste und wichtigste khristliche Wahrheit; wozu derselbe Geist alle auf die übereinstimmendste Weise treibt, das ist das heiligste und unverbrüchlichste khristliche Gesez. Und so wurde nun in diesem Falle zuerst das Khristenthum eine große Vereinigung der Brüder zur gegenseitigen | Unterstüzung und Handreichung; und wie sich nun hier in dem zuerst vorkommenden Falle die innere Gesinnung der Khristen gegen einander offenbarte, aber lange vorher schon in dem Wesen und dem Geist des Khristenthums lag, so hatte sich auch daßelbe nachher in ähnlichen Fällen immer wieder aufs neue gezeigt, und wir müßen es ansehen als etwas zum Wesen des Khristenthums Gehöriges, daß in der khristlichen Kirche überall eine solche Vereinigung zur gegenseitigen Unterstüzung und Handreichung entstand. So laßt uns diesen ersten gleichsam bestimmenden und gesezgebenden Fall für die ganze Folgezeit der khristlichen Kirche genau mit einander erwägen. Es kommt dabei zuerst darauf an, daß uns die Abzwekung dieses Vereins, der sich | damals bildete, recht deutlich werde, und zweitens darauf daß wir den Umfang deßelben richtig ins Auge faßen. Dies seien die beiden Gegenstände unsrer heutigen andächtigen Betrachtung. I. Was zuerst die Abzwekung dieses Vereins zur gegenseitigen Unterstüzung betrifft, der sich damals bildete: so scheint es freilich auf den ersten Anblik als seien die Gemüther der Khristen vorzüglich, aufgeregt worden durch die Ahnung oder das Vorgefühl des äußerlich bedürftigen Zustandes, in welchen ihre Brüder in Judäa gerathen würden, wenn der Ausspruch jenes Propheten, der von dort zu ihnen gekommen war, in Erfüllung gehen würde. Aber, m. g. F., um dieses | Bewegtwerden des menschlichen Herzens durch das Vorgefühl oder Mitgefühl einer äußerlichen Noth ist es eine eigene und in mancher Hinsicht eine bedenkliche Sache, und nicht leicht sollen wir uns eine khristliche That, und am wenigsten eine so allgemeine nur aus diesem äußern Beweggrunde erklären. Wie? ist es denn die äußere Noth, die für den Khristen, der nicht an dem zeitlichen sondern an dem ewigen Leben hängt, eine so große Bedeutung haben soll? Wißen wir es denn nicht, daß ein jeder Einzelne für sich betrachtet eben so sehr durch die Noth gefördert werden kann zu größerer khristlicher Vollkommenheit als durch das äußerliche Gelingen und Wohlbefinden? Ist nicht vielmehr vorhergesagt durch den Mund des Herrn selbst, daß Noth und Trübsal aller 40–1 Vgl. Mt 24,9

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Art seine Jünger | erwarte unter allen Umständen? war es nicht das allgemeine Gefühl derselben vorzüglich in jenen Zeiten des beginnenden Khristenthums, daß wir anders nicht denn durch Trübsal in das Reich Gottes kommen möchten? So brauchen wir denn gar nicht daran zu denken, daß, wenn allein von der äußerlichen Noth die Rede gewesen wäre, zumal da die Vorhersagung jenes Propheten in Beziehung auf ihren Umfang so unbestimmt war, daß man glauben konnte, er habe etwas geweißagt was den ganzen bewohnten Theil der Erde betreffen werde, und daß es die natürliche Folge gewesen wäre, daß jede khristliche Gemeine gedacht haben würde, es wäre gut, für diese Zeit der Noth eine Veranstaltung zu treffen unter | sich selbst, ehe das Wohlwollen der andern zu Hülfe kommen möchte, und es jeder andern zu überlaßen daßelbe auf die zwekmäßigste Weise für sich zu thun – daran sage ich dürfen wir nicht denken, daß dies das Natürlichste gewesen wäre, wenn die Sache nur von dieser Seite wäre angesehen worden; sondern es genügt uns dies, daß der rechte khristliche Sinn der Brüder diese Weissagung jenes Propheten, wenn er sie bloß auf die äußerliche Noth bezogen hätte, auf eine ganz andre Weise hätte ansehen und behandeln müßen, vertrauend auf den, der auch durch Noth und Trübsal die Seinigen zu dem Heile führen will, zu welchem er allein den rechten und besten Weg kennt, und | vertrauungsvoll, wie sich, wenn die Noth eintreffen würde, als dann die Stärke des khristlichen Geistes, die Kraft der Liebe und des Glaubens vor den Augen der Welt auf eine ganz andre als die gewöhnliche Weise verherrlichen werde, und hoffend ja gewiß überzeugt, daß was der Herr den Seinigen zuschiken werde immer eben so sehr eine Gabe seiner Liebe als eine Führung seiner Weisheit sei. So, m. g. F., scheint das Khristenthum, indem es den Menschen über das Sinnliche erhebt, und sein ganzes Tichten und Trachten auf ein höheres geistiges Leben richtet, ihn eben so sehr für andre, die er zu lieben berufen ist wie sich selbst, als für sich selbst gegen allen irdischen Wechsel und auch gegen das Leiden | und Ungemach des Lebens gleichgültig zu machen. Daher eben haben wir uns auch die allgemeine Bewegung, die in der Gemeine der Khristen jenes Orts entstand, nicht daraus allein zu erklären, sondern wenn wir sie recht verstehen wollen, so ist das was hier geschah nur der zweite Theil zu dem, was wir vorher gelesen, und was neulich der Gegenstand unsrer andächtigen Betrachtung gewesen ist. Nämlich die Gemeine der Khristen zu Jerusalem als sie hörte, wie das Wort des Herrn sich ausgebreitet habe gen Antiochia, und wie dort eine neue und in vieler Hinsicht freiere Gestalt des khristlichen Gottesdienstes und der khristlichen Erkennt29 sich selbst] so SW II/10, S. 132; Textzeuge: andre 3–4 Vgl. Apg 14,22 Apg 11,22–23

34–35 Vgl. oben 3. September 1820 vorm.

35–3 Vgl.

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niß | entstanden sei, sandte sie den Barnabas zu ihnen, der sie ermahnte und stärkte, und ihnen auf alle Weise zuredete fest zu halten an der Liebe und an dem Glauben an unsern Herrn und Erlöser. Von dieser geistigen Mittheilung und Annäherung und von den segensreichen Folgen derselben waren die Gemüther der Khristen in Antiochia natürlicher Weise erfüllt, und ihre Fürsorge für die Brüder in Judäa auf den Fall jener allgemeinen Noth, die hatte gewiß ganz vorzüglich den Sinn, daß sie von Herzen wünschten, es möge die große segensreiche Thätigkeit, die von dort ausgegangen sei, die Bemühungen das Wort Gottes weiter zu verpflanzen, die Anstrengungen, welche die Gemeine jener Gläubigen | gemacht, um nach allen Seiten ihre Brüder zu senden theils um erst das Wort Gottes zu verkündigen und so die Gemeine des Herrn zu gründen, theils wo sich schon ein Häuflein der Khristen fände vereinigt zur Anbetung Gottes auf das Wort des Erlösers im Geist und in der Wahrheit, sie zu stärken und zu befestigen, daß dies nicht möge durch die äußere Noth unterbrochen und gehemmt werden. So wie sie geistig empfangen hatten, und sich selbst bedürftig fühlten immer noch geistig zu empfangen, und wie ihnen von dort her zuerst ursprünglich von denen die das Khristenthum unter ihnen gepflanzt und dann von denen | welche die Gemeine in Jerusalem zu ihnen gesandt hatte, wie ihnen von dort her Nahrung und Kraft des Geistes gegeben war, so nun fühlten sie sich selbst angeregt nun auch von ihren leiblichen und irdischen Gütern dorthin zu senden, damit es der geistigen Kraft nicht an den nothwendigen äußeren Mitteln fehlen möge. Das, m. g. F., das ist das Wesen jenes khristlichen Vereins zur gegenseitigen Unterstüzung und Handreichung, der sich damals zuerst bildete, und weit mehr dies als die Abhülfe der äußeren Noth an und für sich war die Abzwekung deßelben. Was die Khristen zu Antiochia thaten, das thaten sie weit mehr um das geistige Bestreben ihrer Brüder in Judäa zu unterstüzen; denn | eben darum, weil von dort jene geistige Kraft ausgehend auch über sie ging, machten sie ja vorzüglich die Brüder in Judäa zum Gegenstand ihrer Unterstüzung. Und das, m. g. F., das ist überall das Wesen der khristlichen Vereinigung zur gegenseitigen Handreichung und Unterstüzung. So wie ein jeder immer und überall bereit sein soll aus dem guten Schaz seines Herzens geistige Gaben mitzutheilen so weit er kann, so soll auch jeder eben deßwegen bereit sein von seinen Brüdern das Leibliche zu empfangen, so weit es ihn fähig macht und ihm die Mittel an die Hand giebt seine geistige Wirksamkeit in dem Reiche des Herrn immer weiter zu verbreiten, und in demselben Maaße | als jeder von der ganzen Gemeine des Herrn und von den Einzelnen die dazu begabt sind und ausgerüstet, geistige Gaben empfängt, und es fühlt daß er nur bestehen kann in der Kraft und Unabhängigkeit 13–14 Vgl. Joh 4,24

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seines geistigen Lebens durch dieses Band der Liebe und durch diese gegenseitige Mittheilung geistiger Gaben, wie jeder sich seiner Seits fühlt geistig gehoben und gefördert, so soll er auch wiederum bereit sein das Leibliche hinzugeben, damit es sich da kräftig erweise wo es am meisten wirken kann zur Unterstüzung der geistigen Gaben und zu ihrer Mittheilung und Verbreitung in dem Reiche des Herrn. Da, m. g. F., da ist nicht etwa die Rede von einer Vergeltung des Geistigen durch das Leibliche – das wißen wir wohl daß dies nicht möglich ist – aber was gewinnen wir für eine Ansicht von allen leiblichen | Gaben und Kräften der Menschen, soweit wir aufgenommen sind in die Gemeine unsers Herren, als daß alles Leibliche dem Geistigen dienen soll, daß alles Irdische nur Werkzeug sein soll für das Höhere und deßen rechte und so weit als möglich sich erstrekende Verbreitung, und daß, wenn uns das alles gegeben ist als ein von Gott dem Herrn des Weinbergs, in welchem wir alle zu arbeiten berufen sind, uns anvertrautes Pfund, wir auch keine andre Rechenschaft davon werden zu geben haben – aber gewiß ist dies die höchste – als wie wir alle leibliche und irdische Gaben in dem Dienste seines Reiches angewendet haben. Darum ist der Khrist nur recht zufrieden mit seiner und seiner Brüder Art | die leiblichen Dinge zu verwalten, wie sie überall und unter allen Umständen doch zu nichts anderm gebraucht werden als dadurch das geistige Wohl der Menschen zu fördern, und wie alles was als Verschönerung und Erheiterung des irdischen Lebens angesehen wird, in einen natürlichen und lebendigen Zusammenhang gebracht wird mit dieser großen und heiligen Abzwekung, mit der Verbreitung des wahren Wohls der Menschen. Und, m. g. F., so und nicht anders soll noch immer alle khristliche Milde und Wohlthätigkeit beschaffen sein. O laßt uns wenig damit zufrieden sein wenn wir nur bewegt werden von einem sinnlichen Mitgefühl für unsre leidenden Brüder, denn was für ein Zeugniß legt dies für uns selbst | ab als eben dies, daß auch wir fähig sind auf eine sinnliche Weise bewegt zu werden, als daß auch wir streben uns zu befreien von dem unangenehmen Eindruk, den, weil der Mensch einmal ein geselliges Wesen ist, das Leiden des andern auf ihn macht? kein anderes Zeugniß legen wir dadurch ab, als daß, wenn wir selbst in einen leidenden Zustand kommen, wir auch nichts anderes für uns wünschen und nach nichts anderem streben werden, als unbedingt und ohne an den höheren Zwek des Lebens zu denken aus dem leidenden Zustand erlöst zu werden. Wollen wir sagen, daß das etwas Khristliches sei, was sich so ganz in dem Gebiet des äußeren sinnlichen irdischen Lebens bewegt? Nein die khristliche Milde | und Wohlthätigkeit ist nur die, welche wie es hier in unserm Texte in der Gemeine zu Antiochia der Fall war, bei dem Leiblichen an das Geistige denkt, und alles Leibliche, das Angenehme sowohl als das Widrige, nur auf das Geistige bezieht. Darum überall ist das zuerst die wahre khristliche Milde und Wohlthätigkeit, die auf alle Weise darauf bedacht ist, daß die lebendige Kraft des Geistes, die von der khristli-

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chen Kirche ausgeht, die sich in ihr selbst immer mehr befestigen und von einer Zeit zur andern immer herrlicher erneuern soll, die aber auch von ihr aus immer mehr um sich greifen soll, um das Reich des Herrn nach außen hin immer weiter auszudehnen, daß diese Thätigkeit nicht unterbrochen und gelähmt werde, sondern nicht nur in der Kraft und Stärke | bleibe, zu der sie die vorigen Zeiten gebracht haben, sondern auch sich immer weiter ausbreite und immer herrlichere Früchte bringe dazu beizutragen, daß das Wort Gottes überall sich kräftig regen könne wo es schon die Seinigen gefunden hat, und daß es weiter vordringe auch dahin, wo ein großer Theil des Menschen noch im Dunkeln wandelt, und nicht in der erwünschten Erkenntniß die Segnungen des göttlichen Wortes genießt, die ihnen als Khristen zukommen. Das ist die wahre khristliche Milde und Wohlthätigkeit, die das als ein großes Leiden fühlt, wenn so viele unsrer Brüder genöthigt sind, nur um ihre und der Ihrigen | Bedürfniße zu befriedigen, alle ihre Zeit und Kräfte dem Joche irdischer Arbeiten zu opfern, daß sie weder die Reife noch äußeren Mittel und die Muße haben selbst an diesen das Herz stärkenden und erhebenden Versammlungen der Khristen Theil zu nehmen, und sich mit uns vergeßend die Noth der Erde an dem gemeinsamen Wort des Herrn zu erquiken und zu erbauen, und sich so recht innig zu erfreuen der Gemeinschaft die alle in Khristo zusammenhält, und sich zu erkennen als lebendige Glieder an seinem Leibe – die das als ein großes Leiden fühlen, wenn selbst mitten in dem Khristenthum ein nicht unbedeutender Theil der Jugend heranwächst in Unwißenheit und Irrthum, ohne daß es den Eltern über der | Sorge für das tägliche Brot möglich wäre ihre Kinder Theil nehmen zu laßen an der Unterweisung in der Wahrheit, und sie anzuhalten zur Ausbildung aller ihrer Kräfte und Gaben, um der menschlichen Gesellschaft brauchbare Mitglieder zu werden, und das Reich des Herrn bauen zu helfen. Nur das ist die wahre khristliche Milde und Wohlthätigkeit, die sich auf das tiefste verlezt fühlt, wenn, sei es durch die Schuld äußerer Schikungen sei es durch den Haß und die Verkehrtheit der Menschen, solche die auf eine kräftige Weise in dem Dienst des Herrn wirksam waren, auf einmal ihren Wirkungskreis verlieren, und dem nicht mehr thätig leben können, der sie ausgestattet hat, daß sie für das kräftig wirken sollen, | was der Gemeine aufgegeben ist, die Gott der Herr mit geistigen Gaben gesegnet hat. Und darum ist das auch immer das erste und höchste Ziel der khristlichen Wohlthätigkeit, zuerst abgesehen von dem was einzelne Menschen für sich thun können, dasjenige worin die gemeinsame Kraft des göttlichen Geistes liegt, nämlich das Wort des Herrn zur gemeinsamen Kenntniß und zum Nuz aller auf eine lebendige Weise immer weiter zu verbreiten, überall immer fester und sorgsamer zu gründen die Veranstaltungen für die künftigen Geschlechter, damit keine von den geistigen Gaben, die der Herr uns schon 21 Vgl. 1Kor 6,15; 12,12.27; Eph 5,30

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gegeben hat, ihnen verloren gehe, | und endlich gegen alle Einzelnen in Beziehung auf ihre Thätigkeit in dem Reiche Gottes das durch vereinte Kräfte wieder gut zu machen, was vielleicht der Irrthum oder das Uebelwollen Einzelner an ihnen verschuldet hat; und alles andre, was sich mehr auf die äußerliche Noth bezieht, das ist nur insofern ein würdiger Gegenstand der khristlichen Wohlthätigkeit, als wir von dem Gefühl durchdrungen sind, daß alles Irdische und Weltliche ein Werkzeug nicht nur ist, sondern sein kann und soll zur Erfüllung des Zwekes, der das höhere geistige Leben der Menschen ausmacht. II. Aber nun laßt uns auch zweitens | unsre andächtige Aufmerksamkeit richten auf den Umfang des Vereins, der sich damals unter den Khristen bildete. Wir haben schon früher gesehen, m. g. F., wie, sobald die Gemeine, die erste Gemeine der Khristen in Jerusalem sich bildete und befestigte, der Dienst der Gemeine zur Unterstüzung der Leidenden und Bedürftigen, und um die gemeinschaftliche Gastfreiheit auszuüben gegen Mitglieder der Khristen von ferne her, auch zugleich ausgebildet und in Ordnung gebracht war, und wir haben gesehen, wie es eine wesentliche Stufe der Vervollkommnung in der Einrichtung der khristlichen Gemeine war, daß dieser äußere Dienst der Handreichung getrennt wurde von dem Dienst des Worts und | der Lehre. Aber das war nur die Verbindung derjenigen, die an einem und demselben Ort lebten, die sich in leiblicher Gegenwart nahe waren, so daß nothwendig die Aufmerksamkeit des einen sich auf den andern wenden sollte. Dazu nun, m. g. F., ist das was wir heute mit einander betrachten, der Zweite Theil, daß ich mich so ausdrüke[,] die höhere Vollendung. Wenn die khristliche Liebe noch sinnlicher Art und Natur ist, so hat sie sich auch noch nicht vollkommen offenbart, wenn sie nur in sinnliche wahrnehmbare Gränzen eingeschloßen ist, wenn man leicht denken kann, daß es das Sinnliche ist was ihr zu Hülfe kommt, was sie trägt und unterstüzt. Darum war es nothwendig, daß, so wie das Wort des Herrn sich weiter verbreitete, so wie auch in andern Gegenden und Ländern | Gemeinen von Gläubigen an unsern Herrn und Erlöser entstanden, nicht nur jede für sich eine solche gegenseitige Unterstüzung und Hülfleistung einrichtete, sondern auch ein großer Bund unter ihnen entstand; und laßt uns nun an dem Beispiel unsers Textes sehen, was wohl der eigentliche und natürliche Umfang dieses großen Bundes ist. Es war freilich damals fast die ganze einigermaßen gebildete und gesittete Welt unter ein und daßelbe bürgerliche Regiment gestellt, der römische Name umfaßte und verschlang alles andre; und wenn auch bis weilen der eine oder andre Theil des jüdischen Landes, in welchem sich die khristliche Kirche zuerst bildete, ein von jener großen Macht unabhängiges Bestehen hatte, so war das doch mehr ein äußerer Schein als etwas Wahres, 26 Liebe noch] so SW II/10; S. 138; Textzeuge: Liebe nicht

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denn er durfte nichts anders | thun als was von jener einen großen Theil der Welt leitenden Macht nach ihren Vorschriften gut geheißen war. Gewißermaßen können wir daher sagen, es habe der Bund der gegenseitigen Unterstüzung und Hülfleistung der Khristen sich nicht weiter erstrekt als unter denjenigen, die unter einem und demselben bürgerlichen Gesez lebten, und derselben großen Gemeinschaft angehörten in Beziehung auf den bürgerlichen Zwek. Aber auf der andern Seite müßen wir auch sagen, auch jene Einheit der damaligen gebildeten und gesitteten Welt unter dem römischen Namen und Gesez war in vieler Hinsicht ein bloßer Schein; das ungeheure Ganze drohte schon damals aus einander zu fallen, mancherlei Versuche es zu theilen und zu trennen wurden gemacht, und die Ahndung von dem | Umsturz deßelben hatte sich der Gemüther schon bemächtigt. Daher denn der Zusammenhang unter den verschiedenen Theilen dieses Reiches nachgerade sehr verschieden war: manche waren durch gleiche Sitten, Gewohnheiten und Religion näher mit einander vereinigt, manche aber vergeßend ihr gewaltsames Zusammengedrängtsein unter ein und der selben Macht hatten in ihrem Innern genährt das vom Vater auf den Sohn vererbte Gefühl ihrer frühern feindseligen Verhältniße gegen einander, welches sich durch diese lose Verknüpfung zu Einem Ganzen nicht verlor. Und gerade so standen gegen einander Jerusalem und Antiochia. Denn es war noch nicht lange her und nicht aus dem Gedächtniß | der Menschen verschwunden, daß eben von dort aus dem syrischen Lande grausame Verfolgungen des göttlichen Gesezes und der Ordnung unter dem jüdischen Volk und gewaltsame Unterdrükungen seiner natürlichen Unabhängigkeit ausgegangen waren, und daß, indem eine überlegene Macht sich des Landes bemächtigt hatte, und ein übermüthiger Herrscher forderte, daß die Verehrung des Jehovah sollte eingestellt werden auf seinen Altären geopfert und vor seinem Bilde angebetet, viele feste und gläubige Gemüther eines gewaltsamen Todes gestorben waren. Und nicht hatte es auf der andern Seite gefehlt an Versuchen des jüdischen Volks sich zu rächen für die erlittene Bedrükung. Das war also das natürliche und in den Gemüthern | der meisten Menschen gewiß noch nicht erstorbene Verhältniß jener beiden Länder und Städte gegen einander, welches nur schwach zurükgehalten wurde durch die große äußere Macht; aber auch das hatte nicht den mindesten Einfluß die khristliche Liebe in ihren Äußerungen zu hemmen. Und so können wir sagen, m. g. F., jener khristliche Bund und Verein zur gegenseitigen Handreichung und Unterstüzung, um alle äußeren Gaben und Kräfte in dem ganzen Umfange des Khristenthums beweglich zu machen für die Liebe zum Dienst des Reiches Gottes, damit sie da wirken wo sie am meisten 20–31 Anspielung auf den Seleukidenherrscher Antiochus IV. Epiphanes (Regierungszeit 175–164 v. Chr.), dessen Unterdrückungsmaßnahmen in Jerusalem den Makkabäeraufstand auslösten.

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Noth thun, dieser khristliche Bund und Verein, der hat den weitesten Umfang, welcher nur gedacht werden kann. Denn dabei | kommt es nicht an auf die Entfernung der Örter sondern auf die Entfremdung der Gemüther, wie viel oder wie wenig Vorschub der Liebe dadurch entsteht. Und eben der war hier so groß als möglich, die größten Hinderniße, die dort Statt finden, waren hier zu überwinden für die khristliche Liebe; und sie überwand sie ohne allen Widerstand durch den gemeinsamen Antrieb des Geistes, des Glaubens und der Liebe, der sich der Brüder bemächtigt hatte. Und gewiß, m. g. F., wir dürfen uns des Gedankens nicht entschlagen, daß eben dies gar sehr zu dem innersten Wesen und zu der wahren göttlichen Bestimmung des Khristenthums gehört. O wie vieles giebt es nicht was die Menschen trennt! Wie waren damals gegen einander im | Allgemeinen erbittert Juden und Heiden! Aber der Herr vernichtete die Scheidewand und riß sie nieder, welche zwischen beiden bestand. Juden und Samariter – aber der Herr machte schon in den Tagen seines irdischen Lebens die leztern zu einem Vorbilde wahrer Liebe für die erstern, und ging wo er nur konnte in ihre Städte, um sie in den Bund des Reiches Gottes aufzunehmen; Juden und Syrer unversöhnliche Feinde von alten Zeiten her – und jezt umschlang sie Ein Band der Liebe; der da hatte den Ueberfluß der geistigen Gaben und Kräfte, der theilte mit dem bedürftigen Bruder, und der gesegnet war mit leiblichen Gütern der theilte auch mit, damit der Strom des geistigen Lebens nicht gehemmt würde. Und dieser khristliche Bund und Verein | der soll soweit gehen als das Khristenthum selbst geht, und alles was sonst die Menschen trennt, das soll durch dieses Bestreben aufgehoben oder in engere Grenzen zurükgewiesen werden. Freilich so herrlich und so göttlich uns das erscheint, wenn wir es recht überlegen – ein herrlicher Sieg muß es uns erscheinen über die Beschränkung der menschlichen Natur, wenn wir bedenken jenen rohern Zustand des Menschen, wo er jeden für seinen Feind und Widersacher hält, der nicht seines Stammes ist oder seine Sprache redet, oder wo er schon weiter in der gesammten Ausbildung seiner Natur vorgerükt weit entfernt ist nähere Verhältniße einzugehen mit dem, der nicht deßelben Volkes ist, wenn wir denken an die engherzige Art, wie unter den Juden das Gebot | des Herrn „du sollst deinen Bruder lieben als dich selbst“ nur bezogen wurde auf diejenigen, die im leiblichen Sinn Abrahams Kinder waren; wenn wir bedenken, wie schwer es ist, in der sich immer weiter verbreitenden Gemeinschaft der Menschen, die Vorurtheile zu überwinden, welche Menschen von verschiedenen Sitten und Gebräuchen und Einrichtungen, und deren Weisheit und Kunst nicht aus derselben Quelle geschöpft ist, gegen einander hägen; wenn wir das alles überlegen und betrachten, das soll nun überwunden werden durch den 13–14 Vgl. Eph 2,14 15–16 Vgl. Lk 10,25–37 Joh 4,4–5 33–34 Vgl. Lev 19,18

16–17 Vgl. Lk 9,52; 17,11;

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einigenden Geist der khristlichen Liebe, und diejenigen die Eins geworden sind im Glauben an denselben Herrn und Meister und hingegeben in seinen Dienst, für sie sollen alle diese Schranken | verschwinden, und in dem Fernsten und Fremdesten sollen sie den Bruder erkennen, den sie lieben wie sich selbst, und dem sie zu dienen bereit sind um des gemeinsamen Herrn willen; wenn wir das alles überlegen: so erscheint es uns als der größte und herrlichste Sieg über alles Beschränkende und Irdische in der menschlichen Natur – aber auch daraus ist dem Khristenthum ein Vorwurf gemacht worden, und statt es zu loben hat man es ihm zur Last gelegt. Denn, sagt man, was soll daraus werden in dem gegenwärtigen Zustand des menschlichen Geschlechts, wo es noch so oft nöthig ist, daß ein Volk gegen das andre vertheidigt seine Rechte mit der Schärfe des Schwerts? wo soll | in solchen Fällen der tapfere Gehorsam gegen das Gesez herkommen, wenn diejenigen, gegen welche das Schwert geführt wird, eben die sind, mit denen sie schon lange in brüderlicher inniger und gemeinschaftlicher Mittheilung gestanden haben? muß da nicht der Eifer für die angefochtenen Rechte, muß da nicht das Gemeingefühl vermindert werden? ist es nicht natürlich, daß überall derjenige am meisten gewinnt, in dem diese Kraft des khristlichen Glaubens und der khristlichen Liebe am wenigsten verbreitet ist, sondern der in solchen Fällen am meisten der Stimme und dem Triebe der leidenschaftlichen Selbstsucht Raum giebt? Das wird häufig gesagt, und es ist wahr, daß etwas daran | ist was wir nicht widerlegen und leugnen können. Ja, werden wir sagen, es ist wahr, der Geist der khristlichen Liebe strebt darnach, daß blutige Streitigkeit nicht bestehen soll zwischen khristlichen Völkern, er strebt darnach, daß wo sie doch unvermeidlich ist auch in dem Zustand des Krieges und des Kampfes der Geist der Liebe nicht ersterbe, daß auch dort jeder Einzelne in jedem Einzelnen den Bruder erkenne, und die Übel selbst lindern die er veranlaßt hat. Das ist die natürliche Wirkung dieses khristlichen Vereins, und soll sie sein. Aber geben wir uns dem Gefühl hin, daß gegenwärtig auch die khristlichen Völker | noch nicht bestehen können, wenn nicht ein Schwert das andre in der Scheide hält, und daß es leider noch oft gezogen werden muß, damit es die Kraft habe in der Zeit des Krieges in Schranken zu halten was feindlich entgegenstrebt, überlegen wir das, so können wir getrost sagen, diejenigen welche die Völker zu regieren haben, brauchen nicht bange zu sein, daß ihnen nicht in demselben Maaße als ein Zustand des Streites entstanden ist, der Gehorsam deßen sie bedürfen in seinem ganzen Umfang kommen werde. Denn woher kommt es, daß ein solcher Zustand des Streits noch nothwendig ist, als weil Liebe und Vernunft noch nicht das sind was sie sein sollen, | noch nicht so tief in die Gemüther eingedrungen sind, daß alle Handlungen aus ihnen hervorgingen und nach ihnen abgemeßen würden, und daß einem jeden seine Rechte gesichert blieben. Aber nun ist jenes Verkennen einmal in einem Volke oder in einer Gesellschaft von Menschen entstanden, dann wird eben

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dieser, da einmal leider Gottes entstanden ist die Nothwendigkeit zum Kampf, dann wird dieser Eifer für irdische Güter, diese leidenschaftliche Verblendung auch die Streitsucht hervorbringen welche Noth ist, und den Muth der Noth ist, und den Gehorsam der Noth ist, weil die Menschen fühlen, | es sind ihre Zweke die erreicht, es sind ihre Wünsche die befriedigt werden sollen. Aber so gewiß als es khristliche Obrigkeiten und Regenten sind, die über khristliche Völker gebieten, so gewiß sollten sie sich freuen, daß auch diese Äußerung des khristlichen Vereins zur gegenseitigen Unterstüzung und Handreichung offenbar wird und sich immer weiter verbreitet, weil sie fühlen sollten, daß dadurch immer näher geführt wird die Zeit einer reinen Friedfertigkeit, die Zeit einer ungestörten Gemeinschaft unter den Völkern, weil sie fühlen sollten, daß jemehr sich die Menschen als Diener fühlen deßelben Herrn und Meisters, als Kinder des Einen himmlischen Vaters, um destoweniger | sie in den Fall kommen werden, mit Aufopferung der Liebe die ihnen das Heiligste ist einen unrechtmäßigen Vortheil zu suchen, daß sie geneigt sein werden unter allen Verhältnißen jeder sich in die Stelle des andern zu sezen, und wie sie ihre Rechte wollen geehrt haben so auch der andern Rechte nicht verlezen werde – kurz eben dieser alle bürgerlichen Schranken durchbrechende Verein der Khristen zur gegenseitigen Unterstüzung und Mittheilung ist die beste Vorbereitung, um jenen Zustand vorübergehenden Hasses und Streites immer mehr zu beschränken, und die Willkühr auf Geseze zurükzuführen, und je länger je mehr solche Veranstalt|ungen herbeizuführen, wodurch der gemeinsame Geist in Stand gesezt werden kann, die einzelnen Ausbrüche der Selbstsucht auf eine friedfertige Weise im Zaume zu halten. Darum, m. g. F., wollen wir uns demselben Triebe des Geistes überlaßen. O möchten sie immer unsre Vorbilder bleiben jene Brüder in dem Herrn, die sich so zuerst aus der Ferne begrüßten mit geistigen und leiblichen Gaben[.] O möge unter uns immer mehr und immer kräftiger die Theilnahme sich offenbaren, welche die Gemeine zu Jerusalem beseelte, als sie hörte von dem was der Geist des Herrn zu Antiochia gebildet hatte; und möchte uns immer mehr auch jener Geist der äußern Mittheilung und Hülfleistung beseelen, der diese antrieb, als nur die Ahnung einer Noth entstand, die dem Dienst des göttlichen Wortes nachtheilig werden konnte, da gleich alle | ihre Kräfte zu vereinigen, um ihren fernen Brüdern Hülfe zu leisten. Ja möge sich immer allgemeiner und herrlicher offenbaren troz allem was die Menschen äußerlich sondert und scheidet, der alles umfaßende, und alles vereinigende Geist der khristlichen Liebe, damit alles was ihm widersteht immer mehr beschränkt werde und gereinigt. Dann erst wird die Gemeine des Herrn so gebaut sein wie er sie bauen will, dann erst wird sie dem Zustande nahe sein, daß sie ihm kann dargestellt werden als eine reine und unbeflekte Braut; und mögen wir dahin gelangen, daß wir uns über nichts so freuen als über das, was jeder nicht etwa allein sondern im Verein mit seinen Brüdern in der Welt thun

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kann, um den Sieg der | Liebe über alle hemmenden Kräfte zu befördern. Das verleihe uns der Herr, und laße uns auch dazu den Beistand und den innern Trieb seines Geistes immer reichlicher erfahren. Amen.

[Liederblatt vom 17. September 1820:] Am 16ten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Unser Herrscher etc. [1.] Gott der große Himmelskönig, / Abrahams und Jakobs Gott, / Der ist unsre Hülf und Stärke, / Unsre Zuflucht in der Noth, / Wie sie auch sich mächtig thürme, / Und gewaltig auf uns stürme. // [2.] Nichts kann seine Kinder schrecken, / Wenn auch schon die ganze Welt / Hie und da und aller Orten / Droht, daß sie zusammen fällt; / Will das Meer auch überwallen, / Wollen auch die Berge fallen: // [3.] Dennoch bleibt die Stadt des Höchsten, / Die der Lebensstrom durchrinnt, / Wo die heilge Wohnung Gottes, / Immer froh und frei gesinnt. / Gott hilft ihr und wohnt darinnen, / Wer will ihr was abgewinnen. // [4.] Kommt und schauet wie der Höchste / Aller Feinde Macht zernicht’t, / Wie er allem Unheil steuert, / Wie er Schild und Bogen bricht, / Wie der Stolzen Bau muß fallen, / Läßt er seine Stimm’ erschallen. // [5.] Drum bleibt ruhig und erkennet / Wie er eure Hülfe sei, / Wie er Ehre will gewinnen, / Wenn er euch steht mächtig bei, / Wie sein Name soll auf Erden / Immer mehr verherrlicht werden. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Alle Menschen müssen etc. [1.] Die ihr eines Leibes Glieder, / Eines Vaters Kinder seid, / Laßt uns lieben, meine Brüder, / Lieb ist Himmelsseligkeit; / Wo wir Menschen nur erblicken, / Laßt uns wohlthun und beglücken, / Alle lieben und erfreun, / Jedem Gottes Engel sein. // [2.] Aus der Höll’ ist Haß geboren, / Liebe stammt vom Himmel her, / Der hat Gottes Bild verloren, / Der nicht liebet so wie er. / Konnt’ er mehr uns etwa geben? / Opferte nicht selbst das Leben, / Tief verkannt voll Schmach und Hohn, / Für die Brüder einst der Sohn? // [3.] Wehe dir, der bei den Zähren / Seiner Brüder fühllos ist! / Kann in Noth dich Gott erhören? / Ist der Harte wohl ein Christ? / Willst denn du von seinen Gaben / Ungenügsam alles haben? / Ist die Erde denn nur dein, / Und dein Gott dein Gott allein? // [4.] Drücke bei des Bruders Klagen / Mitleidsvoll ihn seine Hand! / Halb nur wird die Last getragen, / Wenn man Menschenherzen fand. / Findet er dein Herz schon offen; / Was wird er von Gott erst hoffen, / Da im Himmel Jesus Christ / Mehr als du voll Mitleid ist. // [5.] Beugt es auch das Herz dir nieder, / Wenn dein Bruder, dich verkennt, / O die Zukunft knüpfet wieder / Was der enge Sinn getrennt. / Siehe wie du Sanftmuth übest, / Auch die ungleich richten liebest ! / Trage wie dein Mittler trug, / Den man selbst ans Kreuze schlug. // [6.] Alles reicht sich einst die Hände, / Wenn wir jenseits bei ihm sind, / Wo aus aller Erden Ende / Freund und Feind vereint sich find’t. /

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Wie wird man in jenen Hütten / Dort sich lieben, ab sich bitten, / Wenn uns Allen Jesus Christ / Alles und in allem ist. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun danket alle etc. O heilige du selbst, / Herr, unsrer Seelen Triebe, / Durch deine Lieb und Furcht / Zu wahrer Bruderliebe; / Wer nicht dem Nächsten hilft / Geht nicht zum Himmel ein, / Laß diese Wahrheit, Gott, / Uns stets vor Augen sein. //

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18. Sonntag nach Trinitatis (Erntedank), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Kor 8,14–15 Nachschrift; SAr 76, Bl. 24v–48r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 100, Bl. 60r–73r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 45v–47r; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 74r–77v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis 1820. oder am Erntefest, den ersten Weinmonds. |

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M. a. F. Die bekannte Reihe von Betrachtungen, in denen wir begriffen sind, wird heute unterbrochen durch ein fröhliches Fest. In dem ganzen Umfang unsers Landes vereinigen sich heute die khristlichen Gemeinen, Gott dem Herrn Dank zu sagen für den Segen, den seine Güte auch in diesem Jahre den Menschen aus dem Schooße der Erde hat hervorwachsen laßen. Aber, m. g. F., es wird uns doch leicht, wenn wir uns erinnern was wir neulich mit einander geredet haben, auch das heutige Fest in einen Zusammenhang zu bringen mit dem was wir gemeinsam als die Grundlage der ganzen khristlichen Kirche betrachten. | Wir haben neulich gesehen, wie eine Hungersnoth welche verkündigt war für das ganze Land, die erste Veranlaßung gegeben Khristen zu einer gegenseitigen Unterstüzung auch für ihre äußeren Bedürfniße auf eine engere Weise zu vereinigen. Und wie? sollte es nur die vorausgesehene, die mitgefühlte Noth sein, die diesen Geist der Vereinigung erregte und belebte? sollte die von dem Geistigen und Ewigen zwar ausgehende aber auch auf das Äußere und Irdische sich hinwendende Liebe nicht anders bestehen können als unter der Gestalt des Mitleidens, keine andre Äußerungen haben als eben die | Regungen eines mitverlezten Herzens und Gefühls und was daraus hervorgeht? sollte es wahr sein, daß auch für die welche das Reich Gottes bauen, die Noth und nur die Noth die

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3 ersten] achten 4.12–15 Vgl. oben 17. September 1820 vorm.

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Erfinderinn alles Guten und Schönen sei? Nein, auch der Segen des Herrn, deßen wir uns heute dankbar erfreuen, fordert uns eben so sehr auf, seine Gaben als etwas Gemeinsames das er uns allen verliehen aus seiner Hand zu empfangen, und als ein gemeinsames Gut zu verwalten, fodert uns eben so dringend auf das was er uns nach seiner Milde gegeben auf eine ihm wohlgefällige Weise eben dadurch zu genießen, | daß es gewürzt wird durch die Liebe, veredelt durch sie und für sie, damit sich auch darin spiegle unsre Gemeinschaft mit dem der die Liebe ist. Darauf denn, m. g. F., sei unsre heutige Betrachtung gerichtet, um uns zu einer Gott gefälligen Dankbarkeit für den Segen, den er uns und allen unsern Mitbürgern abermals verliehen, aufzufodern. Wir bitten ihn zu dieser Betrachtung um den Segen des Herrn. Tex t. 2. Korinther VIII, 14–15. So diene euer Ueberfluß ihrem Mangel, auf daß auch ihr Ueberfluß hernach diene euerm Mangel, und geschehe das gleich ist, wie | geschrieben steht: der viel sammelte hatte nicht Überfluß, und der wenig sammelte hatte nicht Mangel. Diese Worte des Apostels beziehen sich auf dieselbe oder eine ähnliche Unterstüzung, welche bei den verschiedenen khristlichen Gemeinen gesammelt wurde für ihre dürftigen Brüder in dem jüdischen Lande. Der Apostel stellt uns in diesen Worten dar, wie die irdische Habe der Khristen von ihnen angesehen werden soll als ein gemeinsames Gut. Denn wenn je nachdem es die Umstände erfordern der Überfluß des einen dem Mangel des andern dient, dann ist auf die höchste und erfreulichste | Weise denen die so gegen einander stehen alles gemein. Der Apostel erinnert dabei an eine merkwürdige Begebenheit in den alten Schiksalen des jüdischen Volks während seines Zuges durch die Wüste, da in einer Zeit des allgemeinen Mangels der Herr sie auf eine wunderbare Weise speisete von oben herab; da wird erzählt, wer von diesem Manna das vom Himmel gefallen viel gesammelt, habe deßwegen doch nicht mehr gehabt als was er bis auf die bestimmte Zeit bis es wiederkam bedurfte, und wer wenig gesammelt habe deßwegen doch keinen Mangel gelitten. Sehet da, was damals durch eine uns unbegreifliche wunderbare göttliche | Fügung geschah, das soll eben in Beziehung auf die natürliche Art, wie wir alle zu den Gütern des Lebens gelangen, das Werk der khristlichen Liebe sein. Denn das ist die natürliche Art, daß als dann wer noch so viel sammelt durch die göttliche Güte und Milde keinen Ueberfluß hat, weil er es verwendet zum besten seiner Brüder, und wer wenig sammelt der doch keinen Mangel hat, weil es ihm zugeführt wird durch die Liebe seiner Brüder, und sein früherer Mangel nur dazu 25–32 Vgl. Ex 16,1–36; besonders Vers 18

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dient, die herrliche Kraft derselben nicht im Stich zu laßen. Was kann uns also mehr als diese Worte auffodern, indem wir heute mit unsern Brüdern und Mitbürgern | Gott danken für den abermaligen Segen der Ernte und einer größtentheils reichlichen und erfreulichen Ernte, das was uns seine Milde bescheert hat nicht in Beziehung auf uns allein und nicht als ob es jedem für sich gegeben wäre, sondern als die gemeinsame Gabe Gottes für alle zu betrachten, und eben dadurch gewiß ihm wohlgefällig zu sein, daß wir es nicht als ein eigenes sondern als ein gemeinsames Gut verwalten. Das ist es also, wozu ich euch heute als Brüder in dem Herrn auffodern will, alle irdische Habe nicht anders zu betrachten als daß sie sei ein gemeinsames Gut. Ich sage alle, weil es nichts giebt, diene es nun zu den | unmittelbaren Bedürfnißen, oder diene es zur Verschönerung und Erheiterung unsers irdischen Lebens, was nicht mehr oder weniger zusammenhängt mit dem Segen, für den wir heute besonders Gott danken, mit dem was er den Menschen hervorwachsen läßt aus dem Schooße der Erde. So laßt uns denn zuerst die Beweggründe betrachten welche wir haben, allen irdischen Besiz als ein gemeinsames Gut anzusehen, und dann zweitens überlegen, auf welche Weise wir denn auch wirklich können nur so und nicht anders damit handeln. I. Wir dürfen aber, m. g. F., was das Erste betrifft, nämlich die Be|weggründe dazu alle irdische Habe nur als ein gemeinsames Gut anzusehen, wir dürfen, sage ich, nur darauf achten, wie der Mensch denn gelangt zu dem Segen, für welchen wir heute Gott mit einander danken, um zu fühlen, wie dies die einzig richtige Art ist ihn anzusehen und zu behandeln. Zuerst nämlich sind dazu wirksam die herrlichen Kräfte, welche Gott in den Schooß dieser unsrer Erde und in ihren Zusammenhang mit dem ganzen übrigen Reiche der Schöpfung gelegt hat. Was auch der Mensch für Mühe und Fleiß anwenden möchte, wenn diese nicht wirksam wären, stimmten ihre Wirkungen nicht | zu einem erfreulichen Ende zusammen, sondern störten und vernichteten sich gegenseitig, so wäre alle menschliche Mühe und Arbeit umsonst. Aber diese herrlichen Kräfte der Natur, dieser Segen des erwärmenden Lichts der Sonne, die in den kalten Schooß der Erde befruchtend dringt, dieser Thau und Regen, der vom Himmel herabfällt, und die erfrischenden Winde, die das Leben und Wachsthum und Gedeihen erhalten – bezieht sich das alles auf irgend einen Einzelnen allein? oder sind es nur über eine besondre Menge von Menschen waltende Kräfte? O gedenkt, m. g. F., an das Wort unsers Herrn der da sagt „unser Vater | im Himmel der läßt seine Sonne scheinen über Gute und Böse, und giebt Frühregen und Spatregen 38–1 Vgl. Mt 5,45; zu Frühregen und Spatregen vgl. Dtn 11,14; Jer 5,24; Joel 2,23

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den Gerechten und Ungerechten.“ Hätte der Herr es so geordnet und gewollt, daß die Kräfte der Natur sich auf den einzelnen Menschen beziehen sollten, so würde er es auch so eingerichtet haben, daß an ihren Wirkungen der Unterschied bemerkbar würde, den wir zwischen den Guten und Bösen in Beziehung auf sein heiliges Wohlgefallen noch immer werden machen müßen. So ist es nicht, sondern gemeinsam walten sie über Gute und Böse, über Gerechte und Ungerechte. Wo sie ein Land segnen, da trifft dieser Segen auf gleiche | Weise diejenigen, die sich die Wohlthaten des Herrn verdient haben durch eine ihm wohlgefällige Gesinnung und ein ihm geweihtes Leben, und die welche noch unter seinem Mißfallen stehen; und wo sie nicht segnen und keine reichliche Wirkung hervorbringen, wo sie den Menschen fühlen laßen seine Abhängigkeit von einer Kraft, über die er nicht gebieten kann, wie sehr sich auch seine Weisheit und seine Macht befestigt haben mag, da trifft dieses Gefühl der Demuth eben so gemeinsam die Weisen wie die Unverständigen, die Guten wie die Bösen. Aber sehen wir eben auf den Wechsel in den Wirkungen dieser Kräfte der Natur, so müßen wir sagen, wie | denn wiederum die Erde selbst, aus welcher der Herr dem Menschen erwachsen läßt was er bedarf für sein irdisches Leben, von mannichfaltiger Beschaffenheit ist, so ist auch das was dem einen segensreich ist und erwünscht, dem andern traurig und seine Hoffnung zerstörend; worüber der eine sich freut das sehen wir den andern fürchten, und ist es gekommen darüber seufzen. Liegt nicht darin eben so sehr wie in jenem eine Auffoderung, das was der Herr uns auf diese Weise giebt nicht als Eigenthum des Einzelnen sondern als gemeinsames Gut anzusehen? ist das nicht die einzige Art, wie wir Sicherheit finden | können gegen den Unbestand in diesen Wirkungen der Natur, und wie die Furcht auch in dieser Hinsicht verschwinden kann, die überall verschwinden muß, wo die Liebe in dem Gemüthe der Menschen wohnt, und alle Bewegungen ihres Lebens bestimmt. Wird der eine durch das gesegnet was dem andern ein dürftiges Loos bereitet, wohlan so theile er mit; denn das ist der größte Beruf, der ihm aus diesem Verhältniß der Ungleichheit in den Wirkungen der natürlichen Kräfte entsteht. Und hat irgend einer oder der andre zu fürchten, ihm werde ein dürftiges Loos zu Theil werden durch die Art wie der Herr den Wechsel der Witterung ordnet und leitet, o so möge | er sich in dem Bunde der Liebe darauf verlaßen, daß sein Mangel werde ersezt werden durch diejenigen welche den Segen Gottes erfahren durch reichliche Gaben. So fodern uns die natürlichen Kräfte, welche wirksam sind in diesem großen Geschäft den Menschen die Bedürfniße ihres Lebens zu verschaffen, dazu auf sie anzusehen und zu behandeln als ein gemeinsames Gut. Aber eben so sehr werden wir uns dazu ermuntert fühlen, wenn wir sehen wie auch menschliche Arbeit und menschlicher Fleiß daran[,] daß uns die Bedürfniße des Lebens werden[,] ihr beschiedenes Theil haben. Der

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Mensch, m. g. F., würde nicht der Herr der | Erde sein, sondern wie vergnüglich auch sein Dasein sein könnte[,] doch nur ihr Knecht und Geschöpf, wenn ihm was er zu seinem irdischen Leben bedarf ohne sein Zuthun würde. Und denken wir uns den Zustand der ersten Menschen auf diese Weise, wie wir es freilich müßen, weil nur allmälig die Kräfte des Menschen, indem er den Kräften der Natur folgt, sich entfalten können, so müßen wir fühlen, das war ein Zustand der nicht dauern konnte und sollte. Denn zu dem freudigen Bewußtsein hat Gott den Menschen erschaffen, daß in der Reihe von Kräften, welche | thätig sein müßen um ihn selbst zu erhalten und auszubilden und immer vollkommner zu machen, auf seine eigene nicht nur mitgerechnet ist sondern auch so, daß sie je länger je mehr als die übrigen beherrschend und leitend hervortreten soll. Jemehr nun das menschliche Leben reich wird und mannichfaltig auf allen Seiten, jemehr die Kunst dem Boden der Erde seine Früchte abzugewinnen, und alle die schon gewonnen sind zur Erweiterung und Verschönerung des Lebens zu benuzen, sich entwikelt und vervollkommnet, um desto mannichfaltiger ist es auch eine gemeinsame menschliche Thätigkeit, | welche erfordert wird damit der Segen des Herrn aus der Erde hervorsprieße. Und bedenken wir, was für Werkzeuge der Mensch bedarf, um den Segen der Erde hervorzubringen und zu seinen Bedürfnißen zu verarbeiten, bedenken wir wie viel er wieder hingeben muß, wenn er deß allen froh werden soll: so müßen wir sagen, die Frucht der Erde ist nicht das Werk derjenigen allein die unmittelbar den Boden der Erde bauen, sondern nicht nur tausendfältige Hülfe bedürfen sie von andern die ihnen in die Hände arbeiten, und aus ihren Händen empfangen um zuzubereiten was sie bedürfen, sondern auch alle Ordnungen welche die menschliche Arbeit sichern | sind nothwendig, wenn freudig der der den Boden der Erde baut sein Geschäft treiben soll. Aber nicht nur ist es eine gemeinsame Arbeit, durch welche die Frucht der Erde hervorgebracht wird, sondern noch weit mehr ist es die wechselseitige Thätigkeit der Menschen, die ihr ihren Werth giebt. Denn wie einen andern Werth hat doch der Segen dieser göttlichen Wohlthat in einem Lande, wo nur sparsam die Menschen auf den Boden der ihnen angewiesen ist zerstreut sind; und wie einen andern Werth hat derselbe in einem Lande, wo eine größere Entwiklung ihrer Thätigkeit, eine größere Mannichfaltigkeit des Erwerbes und Genußes sie enger zusamm|engeführt hat. Sowohl um sie hervorzurufen als um ihr ihren Werth zu geben ist die gemeinsame Thätigkeit der Menschen eben so nothwendig als die gemeinsamen Kräfte der Natur. So fühlt ein jeder, welchen Antheil auch er hat an dem großen Beruf der Menschen die Erde zu beherrschen, so fühlt ein jeder wie er nur begriffen ist in einem gemeinsamen Werk, wobei alle andern eben so nothwendig sind als er selbst, und wie nur das freudige Zusammenwirken alle dem was er selbst 1 vergnüglich] vergänglich

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durch die ihm verliehenen Kräfte ausrichtet seinen rechten und höchsten Werth geben kann. – Wie sehr, m. g. F., widerstrebt diese Betrachtung aller eigenliebigen Behandlung deßen was wir heute als eine gemeinsame Gabe der göttlichen | Liebe und Güte mit freudigem Herzen umfaßen; wie sehr müßen wir uns aufgefordert fühlen, eben indem wir in diese Tiefe der göttlichen Ordnung schauen, die Gaben seiner Liebe so wie sie geworden sind, d. h., als ein gemeinsames Werk und Gut anzusehen und zu verwenden. II. Und so laßt uns zweitens darauf sehen, wie dies in derjenigen Lage der menschlichen Gesellschaft, in der wir uns befinden, geschehen kann und soll. Von den ersten Khristen, m. g. F., wird gesagt, sie hätten alles auf eine solche Weise gemein gehabt, daß jeder sich aller seiner besondern Habe und seines besondern | Besizes entäußert habe, und daß alles zusammengeworfen sei in einen gemeinsamen Schaz, aus welchem jeder empfangen habe was er bedurfte. Das war eine Einrichtung entstanden aus dem reinen sich gleichsam überbietenden Eifer der Liebe, vielleicht auch gemacht durch eine gemeinsame Noth, aber eine Einrichtung, von der wir kaum einsehen können, wie sie zu Stande gekommen sei, und noch weniger wie sie sich erhalten habe, wie denn auch deutlich in der Geschichte der Apostel die Spuren sind, daß man bald von dieser ersten Gestaltung der irdischen Güter abgegangen ist. Und es mag wohl in Beziehung auf diesen Gegenstand kein tieferes Gefühl geben, als daß in einer schon | zusammengesezten Gestalt des menschlichen Lebens das etwas Unerlaßliches sei, daß jeder sein Eigenthum für sich habe. Denken wir uns den Menschen selbstsüchtig und sinnlich, so ist es diese Einrichtung allein, welche die Beßern schüzen kann gegen die Gewaltsamkeit und gegen die habsüchtigen Begierden der Schlechtern. Denken wir uns den Menschen geistig, das Irdische dem Höheren unterordnend, so erscheint uns diese Einrichtung eben so nothwendig, um dem nachtheiligen Einfluß einer zu großen Schüchternheit und Zurükhaltung vorzubeugen. Denn das müßen wir gestehen, wenn es ein so gemeinsames Gut gäbe, dann würde jeder Beßere immer zaghaft sein | in den Ansprüchen, die er selbst machen kann. Darum habe jeder sein Eigenthum um frei damit zu schalten, aber eben dies behandle jeder als ein gemeinsames Gut; er habe es, aber er wiße und fühle daß eben so wenig er es durch sich erworben hat[,] er es auch für sich gebrauchen und verwenden soll. Und wie das Eigenthum eines jeden Einzelnen nur ein unendlich kleiner Theil ist von dem göttlichen Segen, auf welchem heute mit froher Dankbarkeit das Auge unsers Geistes ruht, so erhebe sich auch unsre Betrachtung von diesem Kleinen und Einzelnen, das die Beziehung auf uns 11–15 Vgl. Apg 4,32–35

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selbst belebt, zu einem Höheren und Umfaßenden[.] | Wie das Leben des Einzelnen, m. g. F., täglich eines Ersazes bedarf der verlorenen Kräfte; wie jeder gute Hausvater, indem er gegen einander abwägt was er hat und was er verbraucht, auf den täglichen Gebrauch auch des länger währenden Besizthums rechnet: so ist der jährliche Ertrag der Früchte des Bodens der allgemeine Ersaz der verlorenen Kräfte und Hülfsmittel für alle die nach gemeinsamen Gesezen die Erde bauen und beherrschen. Wie der Pulsschlag, der das Blut unsers Lebens von dem Herzen aus in die größern und von dort in die kleinern Gefäße treibt, doch weder für das Herz allein ist noch für diese Gefäße sondern wie in jedem liegt ein Theil | des Ersazes der verlornen Kräfte unsers Lebens: so ist das ganze Geschäft den Boden der Erde zu bauen, die Früchte zu sammlen, nicht für diejenigen die unmittelbar dabei thätig sind, sondern jede Gott gefällige Handlung ist eine gemeinsame That aller, die berufen sind und verbunden das Reich des Herrn auf Erden zu fördern, der allgemeine Pulsschlag unsers bürgerlichen Lebens und Daseins, deßen wir uns erfreuen, und von welchem wir fühlen, wie viel verbrauchte Kräfte und Hülfsmittel dadurch ersezt sind. Was nun jeder empfängt von diesem göttlichen Segen mittelbar oder unmittelbar, davon hat er sich zu betrachten freilich als den Inhaber, weil es sein ihm von der Gesellschaft und von den Gesezen derselben gewordenes Eigenthum ist; | aber als Khrist kann und soll er sich nur betrachten als Haushalter der göttlichen Gaben, für deren Anwendung er dem Herrn Rechenschaft schuldig ist, kann und soll er sich nur betrachten als denjenigen, der die Regel befolgen soll welche der Apostel uns in den Worten unsers Textes giebt, daß das Maaß eines jeden den andern bedenke, damit das Erfreuliche dadurch entstehe, daß wer viel sammelt doch nicht Ueberfluß habe, und wer wenig sammelt keinen Mangel leide, deßen sich der andre schämen müße. So sehe sich jeder nun auch durch die diesjährige Ernte wieder in den Besiz gesezt von einem Vorrath irdischer Güter, die ihm wenn auch nicht unmittelbar | in der Lage selbst, worin die Früchte der Erde gesammelt werden, so doch mittelbar durch die weitere Verbreitung derselben in allen Zweigen der bürgerlichen Gesellschaft gegeben sind von Gott, damit er sie verbrauche zum gemeinen Nuz. Jeder wiße, was ihm auf diese Weise wird, daran sei gewiesen vorzüglich seine Sorge für die seinigen die ihm Gott gegeben hat, daß er sie erziehe zu wirksamen Mitgliedern der Menschheit und zu treuen Dienern in dem Reiche unsers Herrn; aber jeder fühle auch, daß was er für diese bedarf[,] er empfängt aus den gemeinsamen Schäzen der Gesellschaft, und daß er es für die Seinigen nur so verwenden soll, wie es dem | zur gemeinsamen Ordnung hinstrebenden und diese bewahrenden Geiste angemeßen ist; aber jeder fühle auch, daß sein Eigenthum nur ist und sein soll ein Durchgang seiner Seele, damit auch ihm und seiner freien Thätigkeit ein Theil zukomme eben dadurch daß alle wieder gesättigt und unterstüzt werden, und alle aus dem Ihrigen beitragen, um den erfreulichen

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Zustand der Gesellschaft, in welche uns Gott gesezt hat, zu erhalten. Ist das, m. g. F., nun das Gefühl, von dem wir beseelt sein müßen, der Trieb, von dem wir ausgehen müßen, o so wird uns die Gott gefällige Ausführung deßelben nicht schwer werden. – Wir sind damit zunächst gewiesen | an alle die großen Anstalten, wodurch die menschliche Wohlfahrt gesichert, und die Entwiklung unsrer geistigen Kräfte bewirkt wird. Der bürgerlichen Ordnung verdanken wir es, daß wir im Stande sind jeder sein Feld zu bauen, jeder sein Gewerbe zu treiben in einem würdigen Grade menschlicher Sicherheit; der bürgerlichen Ordnung verdanken wir es, daß gegen alle gemeinsamen Gefahren auch gemeinsame Kräfte geleitet werden mit – so müßen wir wenigstens glauben – immer steigender Weisheit und Reinigkeit des Herzens. Aber was verdanken wir ihr noch Größeres? Auch daß auf eine zwekmäßige Weise zusammengeleitet werden alle Schäze menschlicher Weisheit, und daß was die Vorfahren | erkundet haben sich fortpflanzt auf die künftigen Geschlechter. Aber was uns noch näher liegt an diesem Ort, wir sind damit vorzüglich gewiesen an die khristliche Kirche, an sie, der ein jeder einen Theil an dem göttlichen Geist der Liebe verdankt, die uns auf dieselbe Weise mit unsern Brüdern, als Jüngern deßelben Herrn und Meisters einigt. Ihr verdanken wir es, wenn wir immer weiter darin gedeihen alles Irdische auf unser geistiges Vaterland und auf unsern Wandel in demselben zu beziehen, ihr verdanken wir es, wenn unter uns immer weniger gehört wird von anderweitigem Umsturz jener bürgerlichen und zwekmäßigen Ordnung | der Dinge, und jeder immer gern bereit ist das eigene Wohl dem gemeinsamen aufzuopfern und unterzuordnen. Sehet da, was wir verwenden, damit die khristliche Kirche bestehe, und ihre Segnungen immer weiter ausbreite, was wir verwenden, damit die bürgerliche Ordnung unter uns ruhig und ungestört ihren Gang gehe, darin zeigen wir uns zunächst als Haushalter der Gaben Gottes nach seinem heiligen Willen, und dadurch bekommen wir das freudige Gefühl und das stärkende Bewußtsein, daß wir unser Eigenthum behandeln und betrachten als ein gemeinsames Gut. Auch | hier gab es in früherer Zeit und giebt es auch noch hier und da eine einfache Gestaltung der menschlichen Dinge, die dies dem menschlichen Auge versinnlicht. Wenn die Früchte der Erde gesammelt sind, und die bürgerliche und kirchliche Gesellschaft vereint im voraus wegnehmen einen Theil deßen was der Herr gegeben hat; dann sieht jeder vor seinen Augen, wie das Eigenthum des Einzelnen sich verwandelt in ein gemeinsames Gut, und soll daran nicht ein betrübtes sondern vielmehr ein erfreuliches Gefühl haben, und soll was der Herr wieder wachsen ließ durch den Dienst derer die das Feld bebauen und durch den | Segen von oben herab so ansehen, daß es entgegen wächst dem gemeinsamen Brauch für die heiligsten und größten Zweke, die er mit dem menschlichen Geschlecht hat. Aber auch wo diese einfache Gestalt der Dinge dem Zustande des menschlichen Geschlechts nicht mehr gemäß ist, da sehen wir doch wie

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unter andern augenscheinlichen Gestalten daßelbe geschieht. Haben wir nur den Sinn, zu welchem ich heute besonders auffodere, alles als ein gemeinsames Gut zu betrachten und zu behandeln, und gern mit dem eigenen Ueberfluß nicht nur die Mängel des Einzelnen sondern noch mehr die gemeinsamen Mängel zu bedeken: o so werden wir nie mit | unwilligem sondern immer mit freudigem Herzen geben, was das gemeinsame Wohl der khristlichen und bürgerlichen Gesellschaft, der wir angehören, von uns verlangt, so werden wir es nicht ansehen als etwas was wir uns selbst entziehen, sondern als das dem Herrn wohlgefällige Opfer, wodurch erst geheiligt wird alles Uebrige was wir zu unsern eigenen Zweken verbrauchen, dann werden wir es nicht ansehen als eine Last die uns drükt, sondern es betrachten als dasjenige, wodurch wir das erfreuliche Gefühl bekommen nicht für uns allein zu stehen in der Welt, nicht unsere eigene | Sache zu treiben, und unsern eigenen Frieden zu gründen, sondern einer großen und mannichfach in einander geschlungne Gemeinschaft der Menschen anzugehören. Aber nicht nur den gemeinsamen sondern auch den Mangel des Einzelnen soll der Ueberfluß des Einzelnen deken. Haben wir nur jenen Sinn, zu dem der Apostel uns auffodert, und in welchem allein wir Gott dem Herrn eine würdige Dankbarkeit beweisen können für den Segen den er uns verliehen: o so müßen wir uns freuen nicht darüber m. g. F., daß es auch im Einzelnen so viele Thränen zu troknen giebt, so viele Schmerzen zu mindern, so viele Mängel zu deken, nicht darüber, aber darüber daß die | Ordnung der bürgerlichen und vorzüglich der khristlichen Gesellschaft uns in den Stand sezt die Seufzer derer zu vernehmen, die unsrer Hülfe bedürfen, und was wir allein nicht vermögen durch mannichfache zu Gott gefälligen Zweken entstehende länger oder kürzer dauernde Vereinigung der Kräfte auf eine würdige Weise zu besorgen, würdig nicht nur deßwegen, weil durch den Verein der menschlichen Kräfte mehr ausgerichtet werden kann als durch die noch so sehr sich anstrengende und aufopfernde Liebe des Einzelnen, sondern würdig auch deßwegen, weil was jeder durch den Verein der Kräfte empfängt ihm nicht das Gefühl der Abhängigkeit | und der Dankbarkeit gegen Einzelne auflegt, sondern auch ihm auf mancherlei Weise das Gefühl belebt, einer großen Gemeinschaft, deren Grund Liebe und Gerechtigkeit ist, anzugehören, und von ihr gehalten und getragen zu werden. O, m. g. F., betrachten wir den Segen der Erde, den wir auch in diesem Jahre der Güte Gottes unsers himmlischen Vaters verdanken, aus diesem Gesichtspunkt: so wird das, was ich vorher nur flüchtig und vorübergehend erwähnt habe, auch für uns alle eine nicht minder wichtige Betrachtung, nämlich wie reichlich oder dürftig der Segen dieses Jahres gewesen. Ist er reichlich gewesen – wohl desto reichlicher kann sich die Liebe erweisen; ist er dürftig gewesen – wohl desto | inniger kann sich die Liebe vereinigen, die alle menschliche Uebel überwindet. Sind wir dieses Sinnes voll, dann sind wir

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gewiß auch am weitesten davon entfernt zu fragen und zu meßen, wie viel der eine empfangen hat und wie viel der andre von den Gütern der Erde, wie günstig dem einen und wie ungünstig dem andern dieselben Umstände und Verhältniße gewesen sind. Das große Gesez, der Überfluß des einen deke den Mangel des andern, wer viel sammelte hatte nicht Ueberfluß, und wer wenig sammelte hatte nicht Mangel, das verbannet alle solche kleinliche Fragen, und befreit uns eben so sehr von kleinlicher Freude wie von kleinlichem traurigem Schmerz. Noch weiter aber | werden wir davon entfernt sein, was freilich das Unnatürlichste ist und Unkhristlichste, wiewohl es leider auch nicht selten unter Khristen erscheint, die da wißen, daß sie sich vereinigen werden mit ihren Brüdern, um Gott zu danken für seine Güte, ich meine, daß es Menschen giebt welche klagen, daß Gott der Herr einen zu reichen Segen habe hervorgehen laßen aus dem Schooße der Erde, weil ihr eigener kleiner Vortheil dadurch vermindert wird. Des gemeinsamen Gutes, m. g. F., können wir nie zu viel haben, denn groß ist die Aufgabe, welche die Menschen zu lösen haben auf Erden, und weit sind sie davon entfernt dieselbe schon | gelöst zu haben; des gemeinsamen Gutes können wir nie zu viel haben, denn immer wird es gelten Gutes zu schaffen und zu wirken für diejenigen, die nichts sein wollen als treue Haushalter der Gaben Gottes. Die werden sich freuen darüber, wenn nicht ihnen sondern dem gemeinsamen Wesen recht viel anvertraut ist durch die Güte des Herrn damit durch den gemeinsamen reichlichen Segen auch um so mehr gefördert werden könne das gute Gott gefällige Werk. Sind wir dieses Sinnes voll, so werden wir endlich auch am wenigsten den Unterschied fühlen und durch ihn gestört werden, der da besteht zwischen der mittelbaren und unmittelbaren Theilnahme der Menschen an dem Geschäft, | auf welches sich das heutige Fest bezieht. Die wenigsten unter uns, m. g. F., bauen ihr Feld oder auch nur ihren Garten, die meisten sind fern von der unmittelbaren Theilnahme an dem ursprünglichen Beruf des Menschen die Erde zu beherrschen. Aber sehen wir die Früchte derselben an als ein gemeinsames Gut, woran alle sicher den vollen Antheil erhalten werden, fühlen wir es, wie auch die zusammengesezteste Beschaffenheit der menschlichen Gesellschaft, in welcher es oft scheint, als ob andre menschliche Geschäfte wichtiger wären als diese, doch darauf beruht, daß wenn nicht hier so doch dort wenig hervorgehen muß aus dem Schooße der Erde, damit die | Menschen in dem großen Verein neben einander bestehen und mit einander wirken können: o so müßen wir eben so sehr als wenn wir unmittelbar die Erde bauten an dem Gedeihen dieses großen und heiligen Geschäfts Theil nehmen. Aber näher als andre sind wir an der lebendigen Quelle des gemeinsamen Geistes, näher steht uns vor Augen, wie alle verschiedene Thätigkeiten in einander greifen, und wie groß der Verein der Kräfte ist, dem wir alle angehören; daher auch wir vorzüglich uns müßen berufen fühlen zu dieser höheren Betrachtungsweise der menschlichen Dinge, und wir unseren Brü-

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dern darin müßen vorzüglich mit einem Gott gefälligen und lehrreichen Beispiel khristlichen | Sinnes vorangehen. Und das werden wir dadurch geben, wenn wir bereit sind beizutragen, was die menschliche Ordnung bedarf um zu bestehen, wenn wir fortfahren uns auf liebevolle und brüderliche Weise zu vereinigen, aller Noth unter den Menschen in der Nähe und in der Ferne so weit wir mit unsern Kräften reichen können zu steuern, vorzüglich aber mehr der geistigen Noth und den geistigen Mängeln ein Ende zu machen durch die gemeinsamen Anstrengungen der Kräfte, damit weit umher die Menschen erwekt werden zu dem Sinne, den wir heute gesucht haben in uns zu befestigen, und erwekt zu der Liebe, in welcher alle diejenigen, die sich fühlen als gemein|same Kinder des Einen Herrn und Vaters, auf die höchste Weise vereint sind. Der Herr hat uns das leicht gemacht durch den Ort, an den wir gestellt sind; tausendfältig werden wir dazu aufgefordert, und wo wir die Augen hinwenden, da finden wir Beweise, daß nur in dieser Liebe Heil ist den Menschen, und daß wir uns immer mehr sammeln müßen zu dem, der diese Liebe uns gelehrt hat. Ja so, m. g. F., so laßt uns das Höchste und Himmlischste anknüpfen an das Zeitlichste und Irdischste, von dem Segen der Erde hinaufsehen zu dem Segen, welcher von dem kommt, der von der Erde mußte erhöht werden, auf daß | er alle gewönne sein Reich zu bauen nach seinem Wohlgefallen. Dazu wollen wir vereint sein und bleiben, und dadurch heiligen, was der Vater im Himmel, der seinen Sohn gesandt hat zu unsrer Seligkeit, uns von irdischen Segnungen spenden und schenken wird. Dann sind wir ein khristliches Volk, und dann werden wir erfunden werden als treue Haushalter mit den Gaben Gottes unsers himmlischen Vaters. Amen.

[Liederblatt vom 1. Oktober 1820:] Am Erndtefest 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle Wälder etc. [1.] Wir wollen dankbarn Muthes / Genießen all des Gutes, / Das unser Gott uns schenkt. / O preist, ihr Christen, preiset / Den Vater, der uns speiset, / Und unser Herz mit Freuden tränkt! // [2.] Er ruft herab, es werde! / Und Segen schwillt die Erde, / Verjüngt stehn Wald und Flur; / Es webt und lebt auf Triften, / In Wässern und in Lüften, / Erfreut ist jede Kreatur. // [3.] Es sammeln von dem Segen, / Soviel sich lebend regen, / Geschöpfe sonder Zahl. / Vom Menschen bis zum Wurme, / In Sonnenschein und Sturme / Herrscht Freud und Wohlsein überall. // [4.] Und gnädig hört von oben / Der Vater, die ihn loben / Mit freudigem Gesang. / Aus allen ird’schen Wesen / Ist nur der Mensch erlesen. / Der tönt in tausend Sprachen Dank. // [5.] Lobsingt

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denn Gottes Namen, / Und strebt den nachzuahmen, / Des Huld ihr nie ermeßt. / Wie gern muß der nicht segnen, / Der selbst den Bösen regnen / Und seine Sonne scheinen läßt. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Wir alle, Menschenvater, bringen / Dir heute festlich frohen Dank! / Das Alter und die Jugend singen / Dir heute frohen Lobgesang. / Gekrönt hast du mit deiner Milde / Rings um uns her das ganze Land; / Dein Segen floß auf die Gefilde / Aus deiner ofnen Vaterhand. // [2.] Du schenktest Sonnenschein und Regen / Für jede Frucht zur rechten Zeit, / Und gabst dem Samen Kraft und Segen, / Den Menschenhände ausgestreut. / Für Millionen deiner Kinder / Reicht deiner Gaben Reichthum hin; / Du nährst den Frommen, nährst den Sünder / Mit ewig treuem Vatersinn. // [3.] Wer kann die Güte ganz ermessen, / Die weiter als die Wolken reicht! / Wer undankbar der Treu vergessen, / Die nie von uns im Staube weicht. / Selbst unser Undank, unsre Sünden / Ermüden deine Liebe nicht; / Wir sehen, schmecken und empfinden, / Was uns dein göttlich Wort verspricht. // [4.] Was du uns gabst wohl anzuwenden, / Verleih nun Weisheit und Verstand! / Nicht um es üppig zu verschwenden, / Empfingen wir’s aus deiner Hand; / Die Gaben sollen wir genießen, / Doch mäßig uns und dankbar freun; / Und mild, wie du, Herr, dich erwiesen, / Soll jeder der Beglückten sein. // [5.] Auch für den Armen wuchs der Segen, / Den deine Hand uns reichlich gab; / Wir wollen seiner liebreich pflegen, / Er trockne seine Thränen ab! / Er danke heute mit uns Allen, / Frohlocke laut und bete an, / Daß du nach deinem Wohlgefallen / So viel, o Gott, an uns gethan. // (Meister.) Unter der Predigt. – Mel. Lobe den Herren etc. Herr du erneutest auch dies Jahr die Kräfte der Erde, / Herrlich erwies sich der Segen des Machtworts es werde! / Gieb nun auch Kraft / Dem, was dein Geist in uns schafft; / Segne das Volk deiner Heerde! // Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend wird etc. Ich preise dich, Fels meiner Stärke, / Gott meine Zuflucht, mein Panier! / Wenn ich auf deine Führung merke, / Wie weis’ und göttlich ist sie mir! / Die mächtgen Seile treuer Liebe, / Ziehn mich zu dir, o Vater, hin, / Daß ich dir weihe meine Triebe, / Wie ich von dir geliebet bin. //

Am 15. Oktober 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 13,1–3 Nachschrift; SAr 76, Bl. 48v–72r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 145–159 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 100, Bl. 73v) Nachschrift; SAr 52, Bl. 47v–50r; Gemberg Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1820. am fünfzehnten Weinmonds. |

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Tex t. Apostelgeschichte XIII, 1–3. Es waren aber zu Antiochia in der Gemeine Propheten und Lehrer, nämlich Barnabas und Simon, genannt Niger, und Luzius von Kyrene, und Manahen, mit Herode dem Vierfürsten erzogen, und Saulus. Da sie aber dem Herrn dieneten und fasteten sprach der heilige Geist, sondert mir aus Barnabam und Saulum zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe. Da fasteten sie und beteten, und legten die Hände auf sie, und ließen sie gehen. Schon oft, m. g. F., hat in der Reihe von Betrachtungen, in der wir jezt begriffen sind, die Rede sein müßen von der immer weitern Verbreitung des Evangeliums; | aber was wir jezt gehört haben das unterscheidet sich doch von allem Bisherigen sehr merklich. Die Apostel in Jerusalem verkündigten das Wort im Tempel, der zur gemeinsamen Belehrung bestimmten heiligen Stätte, bei Gelegenheit andrer täglichen Gebete und Opfer, indem sie Rechenschaft gaben von dem was sie in Jesu von Nazareth Namen thaten, und indem die Lehrbegierigen sich von selbst um sie her versammelten. Zu Kornelius wurde Petrus gerufen durch von ihm eigens dazu abgeschikte Leute, und von dem Geiste getrieben und angewiesen widersetzte er sich nun nicht dem Wunsche der ihm entgegen kam. Und die welche zuerst an den Ort kamen, von wo jetzt Barnabas | und Saulus ausgingen, die kamen dahin getrieben von der äußern Gewalt, indem sie der Verfolgung ihrer Dränger und Feinde aus dem Wege gingen. Und so hatte bisher

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überall die weitere Verbreitung des Evangeliums sich angeknüpft an die natürlichen sich von selbst ergebenden Verhältniße des Lebens. Ganz anders nun erscheint es uns hier; Barnabas und Saulus werden genannt, wie wir es denn auch schon aus unsern frühern Betrachtungen wißen, als Lehrer der antiochenischen Gemeine. Da hatten sie einen Beruf und ein großes Feld für die Verkündigung des Evangeliums, welches gewiß auch damals noch nicht | erschöpft war. Aber der Geist berief sie zu einem Werke ganz andrer Art, zur Verkündigung des Evangeliums in fernen Gegenden unter Menschen, mit denen sie in gar keinem früheren Verhältniß standen, und zu denen sie auch auf keine andre Weise als durch diesen Trieb des Geistes jemals gelangt sein würden. Dies nun ist allerdings etwas von ganz andrer Art, etwas Großes und höchst Wichtiges; und eben von diesem Trieb unabhängig von den äußern Verhältnißen des Lebens das Evangelium zu verkündigen, laßt uns nach Anleitung unsers Textes jetzt miteinander reden. Ich werde dabei zu zeigen haben erstens, wie natürlich dieser Trieb der | khristlichen Kirche ist und immer sein muß, aber dann auch zweitens, was dabei der Einzelne zu beobachten hat, wenn er eben so sehr will den Regeln der khristlichen Weisheit folgen, als auch seiner Theilnahme an dem großen und allgemeinen Werk des Khristenthums genügen. I. Was nun das Erste betrifft, wie natürlich auch dieser fromme Trieb, unabhängig von allen früher bestehenden und an das Aeußere sich anknüpfenden Verhältnißen des Lebens das Evangelium zu verkündigen, wie natürlich dieser der khristlichen Kirche sei, so ist das wohl im Ganzen klar genug und leicht einzusehen. Wenn wir uns in jene ersten Zeiten des | entstehenden Khristenthums zurükversezen, so wißen wir ja, wie weit geringer damals die Gemeinschaft der Menschen, verschiedener Völker und von einander entfernter Gegenden der Erde war, und wie langsam, wenn jede Verkündigung des Evangeliums sich hätte an die äußern und natürlichen Verhältniße der Khristen anschließen sollen, das Werk des göttlichen Geistes würde von Statten gegangen sein. Das erste was die Khristen in eine weite Entfernung von der ursprünglichen Heimath und der Wiege des Glaubens brachte, das war die blinde Verfolgung der Feinde des Kreuzes Khristi. Und allerdings ist es der göttlichen Weisheit gemäß, daß sich der Herr auch dieser bedient, um zu zeigen, wie er darin immer | und in alle Ewigkeit derselbe sei, dasjenige zum Guten zu wenden was die Menschen in der Verblendung und in der Verkehrtheit ihres Herzens böse meinten. Aber können wir glauben, es würde auch seiner Weisheit angemeßen gewesen sein, sich ganz und gar auf dieses Mittel zu beschränken, so daß, wenn die Menschen nicht mit blinder Wuth dem Evangelio widerstanden hätten, wenn das Kreuz des 40–1 Vgl. 1Kor 1,23

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Herrn ihnen nicht ein Ärgerniß und eine Thorheit gewesen wäre, alsdann das Heil, welches Gott den Menschen durch seinen Sohn bereitet hat, langsamer und sparsamer in der Welt würde verbreitet sein? Nein; und eben deswegen war | es nothwendig, daß außer jener noch eine andere Weise das Evangelium in ferne Gegenden zu bringen in der khristlichen Kirche entstand; und von dieser ist das was wir gelesen haben das erste Beispiel. Es war die Veranlaßung jener großen Reisen des großen Apostels, zuerst indem er als Begleiter des Barnabas auftrat, und hernach für sich allein, durch welche das Evangelium zuerst in dem größern Theile von Kleinasien und in den jüdischen Städten deßelben verkündigt wurde, und hernach auf diesem Wege in unsern Welttheil überging, und bald genug die Size unsrer Väter einnehmen konnte. Aber nicht nur erscheint dies unter den damaligen | Umständen nothwendig und zur Verbreitung des Evangeliums heilsam, sondern wir müßen es dem innersten Geist des Khristenthums gemäß und unmittelbar aus demselben hervorgehend erkennen. Denn, m. g. F., darauf gründete sich ja dieser ganze Beruf der Apostel, und nicht der ihrige allein sondern aller Khristen jener Zeit, die mehr oder minder daran Theil nahmen, daß der Herr zu ihnen gesagt hatte, wie mich der Vater gesandt hat so sende ich euch auch. Er hatte ihn aber gesandt nicht nur daß er sich derer annehmen sollte, die sich von selbst zu ihm finden würden, nicht nur daß er warten sollte, wo der allmälig zum Guten sich öffnende | Sinn der Menschen von selbst das Göttliche in seinen Worten und in seinem Wesen erkennen würde, sondern wie er selbst sagt, der Vater habe ihn gesandt zu suchen und selig zu machen was verloren ist. Und so mußte auch in denen die ihn liebten und ihm ihr Leben geweiht hatten, und die durch das Wort seines eigenen Mundes von ihm gesendet waren wie der Vater ihn gesandt hatte, in ihnen mußte sich jener heilsame Beruf und Trieb verklären, auch zu suchen und selig zu machen was verloren war; und so konnten sie sich nicht begnügen nur unter solchen das Licht des Glaubens zu entzünden, und die Flamme | der khristlichen Liebe hervorzurufen und zu beleben, die ihnen durch das Band der Natur und durch die Beziehungen des geselligen Lebens zugeführt wurden, sondern wie der Herr alle geliebt hatte um sie alle zu sich zu ziehen, so umfaßte der Bund ihrer Liebe und ihres glühenden Eifers das ganze Geschlecht der Menschen, so weit sie es zu erreichen vermochten, und jemehr das Evangelium sich verbreitete, desto gewißer fühlten sie es, daß es bestimmt war das ganze Geschlecht der Menschen zu ergreifen, und seine himmlischen Segnungen über daßelbe auszugießen. Und darum als sie dem Herrn dienten mit Gebet, sprach | der Geist „sondert 9 welche] so SW II/10, S. 148; Textzeuge: welchen Textzeuge: Mund 18–19 Joh 20,21

23–24 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10

33 Bund] so SW II/10, S. 148;

32–33 Vgl. Joh 12,32

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mir aus Barnabam und Saulum zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe.“ Was nun so, m. g. F., aus dem innersten Geist und Wesen des Khristenthums hervorgeht, was die unmittelbare Nachahmung unsers Herrn und Meisters selbst ist, deßen Umherziehen im jüdischen Lande von einem Ort zum andern auch nichts anders war, als daß er so weit der Kreis seiner Sendung ging, suchen wollte und selig machen was verloren war, das kann auch niemals in der khristlichen Kirche ganz untergehen. Allerdings je mehr sich seitdem die Gemeinschaft der | Menschen erweitert hat, je mehr die khristlichen Völker, von denen in der folgenden Zeit alle sittliche und geistige Bildung der Welt mittelbar oder unmittelbar ausgegangen ist, in Berührung kamen mit allen Geschlechtern der Menschen, um desto mehr konnte für die Verbreitung des Evangeliums geschehen auf jenem natürlichen Wege, indem sie sich ganz und gar an die schon bestehenden und gegebenen Verhältnisse des Lebens anschloßen. Aber ersterben konnte und sollte jener freie Trieb, auch unabhängig von den äußern Verhältnißen und Beziehungen des Lebens das Evangelium zu verbreiten, in | der khristlichen Kirche nicht. Und in der Reihe von Jahrhunderten, die seitdem verflossen sind, daß der Herr sich eine Gemeine auf Erden sammelte, finden wir ihn abwechselnd bald mehr zurüktreten und schwinden, dann aber mit neuer Gewalt viele gläubige Gemüther ergreifen und antreiben, um zu solchen Geschlechtern der Menschen, wohin es noch nicht gedrungen war, die Stimme des Evangeliums, den Ruf zur Buße und zu einem neuen Leben der Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater durch den Sohn zu bringen. Aber auch im Innern | der khristlichen Kirche finden wir auf gleiche Weise beides neben einander. Nicht nur über und in einem großen Raum soll sich das Licht des Evangeliums verbreiten, sondern auch von einer Zeit fortgepflanzt werden auf die andre, es soll, wo es schwächer zu scheinen sich erweiset, stärker hingetragen und mächtiger hingeleitet werden; und darum ist es der allgemeine Beruf der khristlichen Kirche in ihren Gränzen selbst das Licht des Evangeliums zu sichern den künftigen Zeiten und Geschlechtern, und es immer heller und herrlicher in die Seelen derer | hineinscheinen zu laßen, die von demselben noch ferner stehen als sie in ihr geboren und erzogen und lebend in der Gemeinschaft mit khristlichen Gemüthern, stehen sollten. Das ist derselbe Beruf der Verbreitung des Evangeliums, dem die ersten Jünger des Herrn alle Kräfte ihres Lebens widmeten; und freilich ist er mit Recht größtentheils an die übrigen natürlichen Verhältniße des menschlichen Lebens geknüpft. Jeder der etwas in dieser Hinsicht thun kann, ist zunächst gewiesen an diejenigen die ihm der Herr zur Seite gesezt hat, an die Seinigen, an die, mit denen er in Verhältniß tritt durch die natürliche Gemeinschaft | und den natürlichen Verkehr des Lebens, an diejenigen, die sich durch eigenen Trieb zu ihm hingezogen fühlen, um Rath und Stärkung und Erleuchtung von ihm zu erlangen. Aber auch auf diesem Gebiet finden wir hierneben das Andre, finden Beispiele davon bald mehr bald

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weniger, finden hier und da im Ganzen zwar nur in geringer Zahl Khristen aufgeregt, wo sie nur hinkommen ohne sich an die äußern Verhältniße des Lebens zu kehren, durch Wort und That das Evangelium zu verkündigen, die verstokten Gemüther, wenn sie auch sonst ihnen entgegen treten, zu ergreifen | und aufzuregen, die Schwachen, wenn sie sich auch nicht von selbst ihrer Leitung hingeben, zu stärken; und das ist, so es recht geschieht, ganz daßelbe was nach den Worten unsers Textes ein Werk des Geistes war an und in Barnabas und Saulus. Aber, m. g. F., je mehr etwas erscheint als selten und nur in wenigen erwachend und wenigen anvertraut, um desto mehr pflegt es Schwieriges und Bedenkliches an sich zu haben; und das ist auch der Fall mit diesem frommen und Gott gefälligen Trieb. Und darum laßt uns in dem zweiten | Theil unsrer Betrachtung zusehen, was der Einzelne zu beobachten hat, wenn die khristliche Liebe und die khristliche Weisheit in diesem Geschäft sollen gleichen Schritt gehen. II. Auch hierzu, m. g. F., geben uns die Worte unsers Textes eine hinreichende Anleitung. Barnabas und Saulus mit noch mehreren andern, wie unser Text sagt, waren Lehrer und Propheten in der dortigen Gemeine; sie hatten also ihren Beruf, sie konnten ruhig fortfahren denselben zu erfüllen, und er würde auch in Zukunft wie vorher, nicht fruchtlos gewe|sen sein in einer so volkreichen Stadt, wo Menschen aus allen Himmelsstrichen zusammenkamen. Erscheint es also nicht auf den ersten Anblik als ein Heraustreten aus den natürlichen und wohlgeordneten Verhältnißen des Lebens? erscheint es nicht als eine Ungenügsamkeit mit einem schönen und herrlichen Wirkungskreise, der ihnen schon angewiesen war? Und so, m. g. F., erscheint es freilich auch oft, und dieser Schein wird fast immer fallen auf einen so über die natürlichen Verhältniße des Lebens hinausgehenden Trieb, | die Sache des Evangeliums zu fremden und entfernten Menschengeschlechtern zu bringen. Wo es nun nicht nur so scheint sondern wirklich so ist, ja da wäre es auch kein Gott gefälliges Werk, und da wäre es auch kein Ruf und keine Stimme des göttlichen Geistes gewesen, die den Menschen dazu aufgeregt hat, sondern eine Täuschung, die er sich selbst macht. Jeder, der auch in späteren Zeiten und jezt noch seine Heimath verläßt, um in fernen Landen das Evangelium zu verkündigen, hat denselben Schein gegen sich und soll eben deßwegen zur Gewißheit | kommen, daß es nur ein Schein und also etwas Ungegründetes sei, und daß er in der That und Wahrheit einer Stimme des göttlichen Geistes in seinem Innern folge. Gar oft haben die natürlichen Verhältniße des Lebens für den Menschen das Befriedigende nicht was er sucht, und es treibt ihn der Durst sei es nach etwas Größerm und Höherm, sei es nur nach etwas Anderm, es treibt ihn das Verlangen des Menschen nach dem Neuen und Wechselnden aus der ihm angeordneten Bahn seines Lebens heraus. Ob er | da etwas Anderes

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thut von einem solchen Triebe bewegt, oder zur Verkündigung des Evangeliums greift, das dürfte nur einen geringen Unterschied machen. Und fragen wir, warum doch so manches dem Anschein nach mit großem Eifer und unter den schönsten Vorbedeutungen begonnene Werk dieser Art wenige oder gar keine Früchte gebracht hat, so möchte in den meisten Fällen der Grund darin zu finden sein, daß diejenigen die es übernahmen es nicht thaten mit einem reinen Gemüth und von wahrhaft ungefärbtem | Eifer getrieben. Darüber also muß das Herz zur Gewißheit kommen. Diese Gewißheit konnten Barnabas und Saulus sehr leicht haben, denn es hatten sich durch den natürlichen Lauf der Begebenheiten der einsichtsvollen eifrigen im Glauben kräftigen und an khristlicher Gottseligkeit reichen Männer allmälig mehrere angesammelt als das Geschäft der Führung und Leitung jener Gemeine und der Verkündigung des Evangeliums in ihrem unmittelbaren Kreise erforderte, und der gleichsam überfließende Reichthum strebte natürlicher Weise hinaus, um ein reiches Maaß von Früchten auch | einem andern Wirkungskreise bringen zu können. Darüber konnten sie allso ruhig sein, daß sie nichts im Stiche ließen was ihnen anvertraut war, und sie konnten das Gefühl haben, daß das Werk Gottes an dem Ort, wo sie bisher gewirkt hatten, eben so kräftig würde gefördert werden, auch wenn sie der Stimme des Geistes folgend ihn verließen. Aber zweitens auch, Barnabas und Saulus waren Propheten und Lehrer. Damit, m. g. F., will ich nicht etwa gesagt haben, als ob immer alle diejenigen, die sich dem großen und heiligen Geschäft weihen, das Evangelium in ferne und fremde Gegenden zu tragen, wo es noch nicht hingedrungen | ist, aus dem in der geordneten khristlichen Kirche eigens eingesezten Stande der Lehrer und Diener des göttlichen Worts sein müßten; vielmehr hat es sich oft anders gezeigt, und es ist dieser auch nicht so zahlreich, daß die Glieder deßelben irgendwo überfließend vorhanden wären. Aber so war es auch damals noch nicht in der khristlichen Kirche, einen so abgeschloßnen Stand bildeten damals die Diener des göttlichen Worts noch nicht. Aber Lehrer und Propheten in der khristlichen Gemeine konnten nur diejenigen sein, in denen sich die Kraft des Evangeliums schon besonders kräftig erwiesen hatte; und das ist es was für alle Zeiten und für alle Umstände daßelbe bleiben muß. Nur diejenigen, die reif sind an Einsichten in das Wesen des Khrist|enthums, nur die deren eigenes Herz schon fest geworden ist nach allen Seiten hin, nur die welche sicher sind, daß sich in ihrem ganzen Leben die Kraft des Evangeliums und die Gnade Gottes in Khristo zeigen wird, sie mögen kommen wohin sie wollen, und unter was für noch so fremden und ungünstigen Umständen, nur die können denselben Ruf des göttlichen Geistes wie Barnabas und Saulus in ihrem Herzen fühlen. Und nun, m. g. F., laßt uns eben dies auch anwenden auf dasjenige was uns allen dabei das Nächste ist, nämlich auf die Verbreitung des Evangeliums nicht gerade in entfernten Gegenden, sondern in dem äußern Um-

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fang der khristlichen Kirche selbst, wo wir auch, wie ich schon | vorher gesagt habe, beides unterscheiden müßen, eine solche Wirksamkeit zum Dienst des Evangeliums die sich mehr an die bestehenden Verhältniße anschließt, und eine solche, die mehr mit jenem freien Triebe den der göttliche Geist in Barnabas und Paulus entzündete, zu vergleichen ist. Zuerst also werden wir niemals erwarten können, daß das Bestreben, unerleuchtete Gemüther zu erleuchten, verstokte Herzen zu erweichen, solche die noch Feinde des Kreuzes Khristi sind demselben unterthan zu machen, von dem göttlichen Segen begleitet sein könne und werde, wenn es nicht reiner Eifer ist, Liebe aus | ungefärbtem Glauben, die dazu antreibt; wenn es mehr das Werk ist eines in seinem natürlichen Beruf unbefriedigten Gemüths, wenn es mehr ein Hin- und Herfahren ist eines selbst noch unstäten und unsichern Herzens. Aber noch weniger wird es sein können, wenn die sich schon damit befaßen wollen, andern das Khristenthum selbst lieb und werth zu machen, die selbst noch Neulinge sind in der Gnade, und noch bedürfen durch die lautere Milch des Evangeliums genährt zu werden, damit sie selbst allmälig erstarken und ihr Herz fest werde in der Kraft des Glaubens. Aber eben dies, m. g. F., ist eine Erscheinung nicht | fremd allen solchen Zeiten, in denen gleichsam ein neues Leben der Frömmigkeit in der menschlichen Gesellschaft entsteht, und nicht das gewöhnliche, es ist eine Erscheinung, die wir häufig genug auch unter uns sehen, und auf deren Bedeutung und Mängel wir aufmerksam sein müßen. Ja sie sind nicht selten, solche Gemüther, die eben erst durch eine vielleicht ihrem Herzen besonders zusagende Wirkung des göttlichen Worts aus dem Strudel weltlicher Bestrebungen und Vergnügungen herausgerißen, mit dem Erlöser und mit dem Werk seiner Erlösung eben erst bekannt gemacht, alsdann nichts so eifrig thun zu müßen glauben, als nicht etwa leise und im Vertrauen denen, die | Gott ihnen zugeführt hat zu sagen was in ihrem Herzen vorgegangen ist, nicht etwa denen lehrbegierig sich anzuschließen, die in der Nähe und Ferne ihnen leuchten als Vorbilder des khristlichen Glaubens und der khristlichen Liebe, nicht etwa, so sie sich mehr befestigt fühlen, die Schwachen, die ihnen nahe gestellt sind und durch natürliche Bande mit ihnen verbunden, selbst zu befestigen, und sie zu sich empor zu ziehen an das Licht der Wahrheit, welches ihnen geworden ist durch die Liebe des himmlischen Vaters, nein sondern gleichsam auf den Straßen umherzugehen, und denen die ihnen sonst fremd sind das Werk der göttlichen Gnade an ihren Seelen zu verkündigen, und die Erfahrungen ihres Innern, das Verborgene ihres Herzens laut und offenbar zu | machen vor aller Welt. O gewiß ist das nicht selten nur eine Fortsezung jenes unstäten Treibens welches vergebens Befriedigung gesucht hat in den Dingen dieser Welt, die 16 Vgl. 1Petr 2,2

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Fortsezung eines in sich selbst noch nicht festgewordenen Herzens. Wo eine solche heilsame Bewegung des Herzens entstanden ist, läßt man ihr freien Lauf, so führt sie den Menschen zunächst in die Stille seines eigenen Herzens zurük, daß er lerne sich selbst kennen und richten, daß der Geist des Glaubens und der Einfalt fest werde im Gemüth, daß das Auge des Innern geöffnet und frei werde. Dann würden sie nicht ängstlich glauben, wie sie es größtentheils thun, daß | der khristliche Glaube und die khristliche Wahrheit nur da sei, wo mit demselben Buchstaben, der sie zuerst ergriffen hat, unter denselben Formen, unter denen sich ihnen das Göttliche offenbart hat, das Wort des Herrn verkündigt und Anleitung gegeben zur khristlichen Weisheit und khristlichen Gottseligkeit, dann würden sie nicht schwach wie sie selbst sind sich berufen fühlen das Reich des Herrn zu verbreiten, wodurch sie nur ihrer eigenen ihnen vielleicht verborgenen Eitelkeit fröhnen, wodurch sie nur abgeführt werden von dem Werk der Heiligung, welches sie fleißig in sich selbst treiben sollen; | damit immer freudiger in ihnen werde das Bewußtsein der göttlichen Gnade, wodurch sie nur hindern, daß der Geist Gottes so schnell wie es sonst geschehen könnte und geschehen sein würde, sein Werk in ihnen zur Reife bringe. Nicht die ersten die besten in der Gemeine waren es, die der Geist trieb das Evangelium in fremde Gegenden zu bringen, sondern diejenigen die schon lange dem Evangelium gedient hatten, solche, die wie Saulus schon vorher den reichsten Schaz von Erfahrungen gesammelt hatten über die Geheimniße des menschlichen Herzens, deren Herz selbst fest geworden war durch die Gnade | Gottes, und die mit allen Einsichten ausgerüstet waren, welche der Geist auf mancherlei Weise gebrauchen konnte zur Verbreitung des in Khristo erschienenen Heils! Solche waren es, und solche nur dürfen es immer sein, in denen der Trieb dem Worte Gottes zu dienen so stark ist, daß sie gleichsam nicht genug finden in ihren natürlichen Lebensverhältnißen um ihn zu befriedigen, und daß sie sei es in die Ferne hinaus sei es zu den ihnen nicht unmittelbar Angehörenden getrieben werden. Aber, m. g. F., wie es nun wahr ist, daß es immer nur wenige sind, in denen der Geist Gottes selbst diesen Trieb erregt, und daß jeder, indem er in ihm | entsteht, wohlthut sich selbst zu prüfen, ob es ein Wort und Werk des göttlichen Geistes in ihm sei: so fragt sich, wie vermag der Mensch dies selbst zu erkennen? Zuerst indem er sich keines andern Beweggrundes bewußt werden kann, wenn er sein Herz erforscht, indem er findet, daß nichts darin ist was ihm irgend eine andre Befriedigung gewähren kann, daß er weit entfernt ist irgend einen Ruhm zu suchen, irgend ein Aufsehen zu erregen in der menschlichen Gesellschaft, und daß ihm für dasjenige was er zu thun und zu treiben wünscht, die größte Verborgen|heit und Stille das Liebste 23–24 Vgl. Hebr 13,9

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ist; aber dann auch vorzüglich, wenn sich aus andern Zeichen ergiebt, daß es die Stimme und das Wort des Geistes allein ist, welches ihn zu einer solchen außerordentlichen Verkündigung des Evangeliums antreibt. Nämlich hier, m. g. F., in der Erzählung unsers Textes waren es die Lehrer und Propheten in der Gemeine die jenen großen Beruf übernahmen, es war die Versammlung derer, welche die eifrigsten ausgezeichnetsten und reichsten unter den Khristen waren. Und wenn wir hören, indem sie beteten sprach der Geist, sondert mir aus Barnabam und Saulum zu dem Werk, dazu | ich sie berufen habe: was heißen wohl diese geheimnißvollen Worte, der Geist sprach, sondert mir aus Barnabam und Saulum? Nicht sprach er es – denn das wird nicht gesagt – zu dem Barnabas und Saulus allein, oder in dem Barnabas und Saulus allein, sondern die gemeinsame Bewegung in allen die war es, welche erregt wurde durch das Gebet zu Gott, in aller Herzen ertönte daßelbe, und es war also der die khristliche Kirche überall belebende und beseelende göttliche Geist, der sich in dieser Uebereinstimmung der Gemüther in demselben Wunsche und auf dieselben Personen hinweisend aussprach. Und so ist es und muß | es, m. g. F., überall sein. Der Mensch vermag gar wenig und oft in den bedeutendsten Fällen und Beziehungen des Lebens am wenigsten über sich selbst ein reines Urtheil zu fällen; auch sollten wir demselben mißtrauen. Aber wo haben wir die Bestätigung desselben zu suchen? In dem gemeinsamen und übereinstimmenden Urtheil und Gefühl unsrer Brüder. Wenn nicht wir nur es sind sondern auch sie, die uns die Kraft des Geistes und Herzens zuschreiben, auf diese Weise das Evangelium unter ferne Brüder zu bringen, wenn nicht nur wir sondern auch sie daßelbe denken, daß dieser Trieb in uns nicht etwas von menschlicher thörichter Eitelkeit oder von irdischem Sinne ausgegangenes ist, sondern auch sie uns das Zeugniß geben eines treuen Eifers eines festen Glaubens und einer ungefärbten Liebe | aus reinem Herzen: dann ist es der Geist welcher spricht, sondert mir aus diese zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe. Und hieraus, m. g. F., sehen wir auch was in dieser Beziehung uns allen obliegt. Denn eben dies ist, wie jenes selbst, jener freier Trieb das Evangelium in fernen Ländern und unter uns fremden Menschen zu verkündigen der Natur der Sache nach nur das Werk weniger sein kann, dies ist das Werk aller, zuerst daß indem wir uns als Brüder lieben und zu dieser Liebe berufen sind, jeder es auch für seine Pflicht achtet, ein richtiges Bild von denen, die mit ihm demselben Herrn dienen, in sein Herz aufzunehmen, und daß so viel als möglich das Urtheil | über diejenigen, welche der Herr auf eine ausgezeichnete Weise berufen hat zu seinem Werk, das heißt das Urtheil über den verschiedenen Grad ihrer khristlichen Reinheit, ihrer khristlichen Weisheit und Kraft, in uns allen daßelbige werde. Davon freilich sind wir noch sehr weit entfernt, und je weiter wir davon entfernt 14 daßelbe] so SW II/10, S. 157; Textzeuge: derselbe

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sind, desto größer ist auch natürlicher Weise die Unsicherheit des Einzelnen über sich selbst, und desto leichter die Vermischung falscher Bewegungsgründe und eines auf das Irdische und Vergängliche gerichteten Triebes mit dem was das Heiligste ist im Menschen. Aber warum sind wir so fern davon? Weil der Sohn uns noch nicht alle so frei gemacht hat wie er | es verheißen hat, weil der eine so der andre anders gebunden ist in seinem Gewißen, weil wir noch nicht alle rein und ausschließend von der Kraft des göttlichen Geistes selbst sondern von diesem und jenem geführt und geleitet werden, weil der eine so der andre so gefangen liegt in den Banden des Irdischen, und es noch nicht überwunden hat durch die Kraft der göttlichen Gnade. Je reiner wir alle nichts anderes wollen werden, als daß das Reich des Herrn wachse und gedeihe, desto reiner und übereinstimmender wird auch unser Urtheil werden über die die dem Herrn dienen können und wollen. – Aber dann zweitens, ist es auf diese Weise das | gemeinsame Urtheil und das gemeinsame Gefühl, welches gesprochen hat, sondert mir diese aus zu dem Werk, dazu ich sie berufen habe: so muß auch die gemeinsame Theilnahme, wie hier erzählt wird in unserm Texte, einen jeden zu dem Werk, welches ihm von Gott angewiesen ist, begleiten und segnen. Denn so geschah es, daß der Herr sich durch den Geist den Barnabas und Saulus berufen hatte zu Werkzeugen, sein Reich auch dahin zu verbreiten, wo es bis jezt noch nicht gegründet war, da fasteten sie und beteten und legten die Hände auf sie, und ließen sie gehen. Und so wie von der gemeinsamen Ueberzeugung aller daß sie ein Gott wohlgefälliges Werk in dem rechten Geiste begönnen, | so auch von der lebendigsten Theilnahme aller begleitet gingen sie in die weite Ferne, um den Weinberg ihres Herrn zu pflanzen, und nach dem Maaße ihrer Gaben ihm reiche Früchte zu bringen. Aber, m. g. F., fern oder nahe giebt es nichts, was den Menschen, der immer nur ein schwaches Werkzeug bleibt für den göttlichen Geist, was ihn so unterhält, was ihn so unterstüzt und kräftigt als die lebendige Theilnahme derer, die seine Brüder sind in dem Glauben und in dem Bekenntniß deßelben Herrn und Meisters. Je gewißer wir dieser Theilnahme sind, um desto freudiger geht jeder an sein Werk, es sei welches es wolle. Und indem wir nicht alle auf gleiche | Weise das Werk des Herrn treiben können, zu welchem wir alle berufen sind, und da nicht jeder unmittelbar wie damals Barnabas und Saulus, die der Geist sich wählte zu seinen Werkzeugen, daran arbeiten kann, die Gemeine des Erlösers zu fördern, in der wir alle leben, und aus der unsre Seligkeit fließt: so giebt es kein anderes Mittel dies zu ergänzen, als auf der einen Seite der fromme Wunsch, der die tüchtigen Werkzeuge des Herrn überall aufsucht und anfeuert, und dann auf der andern Seite der fromme zu Gott dem Haupte seiner Gemeine aufsteigende Wunsch, der sie begleitet 5–6 Vgl. Joh 8,36

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wenn sie an das Werk gehen. Dadurch können wir alle auf eine wirksame Weise den Beruf derer theilen, die das Werk des | Herrn treiben sei es in der Nähe sei es in der Ferne, und es wird dadurch allein was es sein soll und wie es gedeihen kann, ein gemeinsames Werk aller. Denn es ist derselbe Gott der alles in allem wirkt; es ist derselbe Herr, deßen Reich nur gebaut werden kann, wenn alle, wie verschieden sie auch sein mögen an Sitten an Bildung und Denkungsart, zu demselben Ziele hinstreben; und die Gemeine des Herrn ist nur was sie sein soll, sein heiliger und geistiger Leib, durch das Verhältniß inniger Liebe, in dem alle verschiedenen Mitglieder deßelben zu einander stehen. Daraus geht hervor die Einheit des Lebens und die Kraft, in welcher | der Herr seine Gemeine immer erhalten, und zu der er sie immer mehr fördern wolle durch die Kraft seines Geistes. Amen.

[Liederblatt vom 15. Oktober 1820:] Am 20sten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – In bekannter Mel. [1.] Es woll uns Gott genädig sein, / Und seinen Segen geben; / Sein Antlitz uns mit hellem Schein, / Erleucht zum ewgen Leben, / Daß wir erkennen seine Werk’, / Und was sein Will’ auf Erden, / Und Jesus Christus Heil und Stärk / Bekannt den Heiden werden, / Und sie zu Gott bekehren. // [2.] So danken Gott und loben dich / Die Heiden überalle; / Und alle Welt die freue sich, / Und sing mit großem Schalle, / Daß du auf Erden Richter bist, / Der nicht läßt Sünde walten. / Dein Wort die rechte Weide ist, / Die alles Volk erhalten, / In rechter Bahn zu wallen. // [3.] Es danke Gott und lobe dich / Das Volk in guten Thaten, / Das Land bring Frucht und beßre sich, / Dein Wort laß wohl gerathen! / Uns segne Vater und der Sohn, / Uns segne Gott der heilge Geist, / Dem alle Welt, die Ehre thut, / Vor ihm sich fürchtet allermeist, / Nun sprecht von Herzen, Amen. // (Luther.) Nach dem Gebet. – Mel. Eine feste Burg etc. [1.] O Jesu, einig wahres Haupt / Der heiligen Gemeine, / Die an dich ihren Heiland glaubt, / Und nur auf dir alleine / Als dem Felsen steht, / Der nie untergeht, / Wenngleich die ganze Welt / Dereinst in Trümmer fällt: / Erhör’, erhör’ uns Jesu. // [2.] Laß dir das treue Häufelein, / Das sich zu dir bekennet, / Auch ferner anbefohlen sein, / Erhalt es unzertrennet! / Wort, Tauf, Abendmahl, / Laß in rechter Zahl / Und erster Reinigkeit / Bis an den Schluß der Zeit / Uns zum Trost verbleiben. // [3.] Hilf daß wir dir zu aller Zeit / Mit reinem Herzen dienen! / Laß uns das Licht der Seligkeit, / Das uns bisher 4–5 Vgl. 1Kor 12,6

8–9 Vgl. 1Kor 12,27; Eph 1,23; Kol 1,18.24

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geschienen, / Zur Buß kräftig sein, / Und zum hellen Schein, / Der unsern Glauben mehrt, / Der Sünden Macht zerstört, / Und fromme Christen machet. // [4.] Laß uns beim Evangelio / Gut, Blut und Leben wagen! / Mach uns dadurch getrost und froh, / Das schwerste Kreuz zu tragen! / Gieb Beständigkeit, / Daß uns Lust und Leid / Von dir nicht scheiden mag, / Bis wir den Jubeltag / Bei dir im Himmel halten! // [5.] Vermehre deine Christenheit, / Noch überall auf Erden, / Beschüze sie, daß auch im Streit / Sie mög’ erhalten werden. / Dem Aergerniß wehr, / Was dich haßt, bekehr! / Was sich nicht beugt, zerbrich! / Mach endlich seliglich / Auch aller Noth ein Ende. // [6.] Ach, Jesu, ach wir bitten dich, / In deinem heilgen Namen, / Hör deine Kirche gnädiglich, / Sprich selber Ja und Amen! / Du willst Heiland sein, / Wir sind Jesus dein, / Halt du dein Jesuswort, / Wir wollen hier und dort, / Darüber dir lobsingen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. O Ewigkeit etc. Wie Gottes Blize geh das Wort / Bis an der Erde Grenzen fort, / Die Nacht weich vor dem Lichte. / Einst beten alle Völker an, / Ihn, von dem wir die Kron’ empfahn, / Wenn er kommt zum Gerichte. / Schaff’ immer mehr zu Jesu Ruhm, / Geist Gottes, alle Herzen um. //

Am 22. Oktober 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

21. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Jak 3,1–5 Nachschrift; SAr 52, Bl. 51v–52r; Gemberg Keine Keine Teil der laut Tageskalender vom 23. April 1820 bis zum 3. Dezember 1820 gehaltenen Homilienreihe über den Jakobusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.)

Am 21. Sonntag n. Trin. Nachm. Schleiermacher 1820. Dreif. Jacobus cap. 3, v. 1–5. (Fortsetzung in der Interpretation des Jakobus) 5

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1. Durch die Kraft des Wortes hält Christus den Leib, d. h. die ganze Gemeine im Zaum, indem sein Geist in allen Gläubigen ist, und er ihnen (nach cap. 2) auch sich wirksam erweist. Jeder soll, was er als recht erkennt, und wenn er stark durchdrungen ist, in seinen Kreisen, wenn auch nur durch sein Beispiel wirksam, darstellen und mittheilen. Aber drum soll sich nicht jeder unterwinden, Lehrer zu sein, weil solcher mehr Urtheil empfängt, d. h. mehr Verantwortung auf sich lädt. Denn wer still in seinem Kreise das Bessere thut und wirkt, hat weiter keine Verantwortung: wer ihn mißdeutet, trägt selbst die Schuld, wiewohl er nicht ohne alle Verantwortung ist. Aber mehr noch der, welcher auftreten will unter seinen Brüdern als der, der die Wahrheit im eigenen Leben darstellt und in Begriffen. Wir fehlen alle, aber besonders im Worte, nur Christus war ohne Irrthum. Wer lehren will, auf den blicken alle, er macht den Anspruch desjenigen, der ohne Irrthum und Unlauterkeit das Wort der Gnade verkündigt durch Wort und Leben. Des könnte sich auch keiner unterwinden, wenn er nicht Anerkennung fände in der Gemeine, welche ihn wählt nach der bestehenden Ordnung, und welche darin ausspricht, daß sie ihm zwar eine besondre Tüchtigkeit für das 4 Von den wahrscheinlich dreizehn Homilien über den Jakobusbrief (vgl. Einleitung, I.4.A.) ist außer der vorliegenden nur die vom 18. Juni 1820 über Jak 1,9–12 überliefert. 6–7 Vgl. Jak 2,26

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Hohe Amt, das | jeder zu üben hat, zutraut, aber doch auch seine menschliche Beschränktheit ertragen kann. 2. Die Kraft des Wortes, wie sie die Gläubigen regiert, so soll sie alle Lebensverhältnisse beherschen. Das deutet v. 3–5 an: Der Zaum hält das Pferd, das Ruder das sturmbewegte Schiff, so die Zunge, die große Dinge vermag, d. h. alles beherschen. Sie ist das Werkzeug für den Verstand, dieser wirkt auf den Willen und leitet den, der wiederum auf der Freiheit unserer geistigen Natur beruht. Ein Wille ist es im Staate, der den Gesammtwillen der Einzelnen leitet und ihnen die Einsicht giebt, aber dieser Gemeinwille wie jener einheitliche Wille, beide sollen von der Kraft des Wortes frei beseelt sein, die Gehorchenden Vertrauen hegen zu dem Gebietenden, und, versteht sich, freiwillig seine Herrschaft im Einzelnen und Ganzen anerkennen, und die Gebietenden ihr Amt nicht mißbrauchen, und die freien Regungen der Gehorchenden zur wirksamen Einheit befassen und lenken. Das zeigt sich im Kriege, aus dem wir diese Tage den 18. Okt. 1813 feierten: da war der Gemeinwille des Volkes, das Vaterland frei zu machen, und der Fürsten, den Willen zum Ziele zu führen. Die Feier mag uns dieses nothwendige Verhältniß recht klar erkennen lassen. Amen.

10 der] dem 15 Anspielung auf die Feier des 7. Jahrestages der Völkerschlacht bei Leipzig (16.–19. Oktober. 1813)

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22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 15, 22–31 Nachschrift; SAr 76, Bl. 72v–96r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 160–176 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 52v–54r; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 78r–84r; Woltersdorff Teil der vom 11. Juni 1820 bis zum 12. November 1820 gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1820. |

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Tex t. Apostelgeschichte XV, 22–31. Und es dauchte gut die Apostel und Ältesten samt der ganzen Gemeine, aus ihnen Männer zu erwählen und zu senden gen Antiochiam mit Paulo und Barnaba, nämlich Judam mit dem Zunamen Barsabas, und Silan, welche Männer Lehrer waren unter den Brüdern. Und sie gaben Schrift in ihre Hand also: wir die Apostel und Aeltesten und Brüder wünschen Heil den Brüdern aus den Heiden, die zu Antiochia und Syria und Cilizia sind. Dieweil wir gehört haben, daß etliche von den unsern sind ausgegangen, und haben euch mit Lehren irre gemacht und eure Seelen zerrüttet, und sagen | ihr sollt euch beschneiden laßen und das Gesez halten, welchen wir nichts befohlen haben: hat es uns gut gedaucht einmüthiglich versammelt Männer zu erwählen und zu euch zu senden mit unsern liebsten Barnaba und Paulo, welche Menschen ihre Seelen dargegeben haben für den Namen unsers Herrn Jesu Khristi. So haben wir gesandt Judam und Silan, welche auch mit Worten daßelbige verkündigen werden. Denn es gefällt dem heiligen Geist und uns, euch keine Beschwerung mehr aufzulegen denn nur diese nöthige Stüke: Daß ihr euch enthaltet vom Gözenopfer und vom Blut und vom Erstikten und von Hurerei, von welchem so ihr euch enthaltet thut ihr Recht. Gehabt | euch wohl. Da diese abgefertiget waren kamen sie gen Antiochiam, und versammelten die Menge und überantworteten den Brief. Da sie den lasen, wurden sie des Trostes froh.

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Dies, m. a. F., war das Ende das fröhliche Ende eines sehr bedenklichen Ereignißes, welches dem Khristenthum gleich in seinem ersten glüklichen Anfang eine große Zerrüttung drohte. Es kamen nämlich die vorher erwähnten Männer nach Antiochien aus der Gemeine zu Jerusalem, welche behaupteten, auch die die aus den Heiden gesammelt wären zum Glauben an den Erlöser, müßten dennoch verpflichtet werden zur Haltung des mosaischen Gesezes. Darüber wurden, wie die Apostel sagen in jenem Briefe, die Seelen | zerrüttet; und was wir mit einander gelesen haben war die glükliche und beruhigende Entscheidung der Sache. Schon damals zeigte es sich, wie der Apostel Paulus es denn so schön in seinen Briefen ausdrükt, daß das Khristenthum in seiner großen Bestimmung alle Geschlechter der Menschen zu erleuchten und zur Seligkeit zu führen vielen vielerlei werden müße, um überall welche zu gewinnen; und so hat es sich seitdem gezeigt: nicht nur kann es nicht überall dieselbe Gestalt annehmen unter weit von einander gestellten Völkern von ganz verschiedenen Sitten und Gemüthsarten, sondern auch mehr unter einander gemischt bei der großen Mannichfaltigkeit der Gemüther | ist es auch unter denen die brüderlich unter einander leben sollen, nicht allen dasselbe. Und oft haben wir gesehen Streitigkeiten wie die, von denen hier in unserm Texte die Rede ist, sich erneuern; aber nicht immer sind auf eben diese Weise die Gemüther beruhigt, Friede und Eintracht wieder hergestellt worden in der khristlichen Kirche. Darum wie nur auf diesem Wege damals die Kirche erhalten werden konnte in der Einheit und in der Kraft, die zur weitern Ausbreitung des Reiches Gottes nöthig war, so fühlen wir es alle, wie jede Zerrüttung und jeder Zwiespalt in derselben die Kraft des göttlichen Wortes schwächt, und eben dasjenige, wodurch nur damals die Kirche des Herrn | konnte fest gegründet werden, und bald darauf über einen so großen Theil der Erde sich verbreiten, muß sie auch erhalten, und uns wie damals jenen Aposteln und Aeltesten in der Gemeine zu Jerusalem muß alles daran gelegen sein, daß Zerrüttung und Zwiespalt verhütet werde. So laßt uns mit einander achten auf das Beispiel, welches uns in der Erzählung, von der ich das Ende verlesen habe, gegeben wird von einer drohenden Zerrüttung in der khristlichen Kirche, um daraus die Handlungsweise zu entwikeln, durch welche der Zwiespalt in einer jeden Zeit und bei den verschiedenartigsten Veranlaßungen | kann vermieden werden. Es ist dabei zweierlei worauf wir mit unsrer andächtigen Betrachtung zu achten haben: das Erste ist das Betragen der in die Sache verwikelten verschiedenen Theile, und das Zweite die Grundsäze, nach welchen die streitige Frage damals entschieden wurde. I. Was das Erste betrifft, m. g. F., so können wir wohl nicht anders als von einem wehmüthigen Gefühl erfüllt werden, wenn wir auf diejenigen sehen, 3–7 Vgl. Apg 15,1

11–13 Vgl. 1Kor 9,19–21

41–2 Vgl. Apg 15,1

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die aus Jerusalem nach Antiochiam kamen, und den dortigen Khristen auflegen wollten die Verpflichtung zu dem ihnen ganz fremden Gesez Mosis – nicht so wohl deßwegen, m. g. F., weil sie wollten, jene sollten dasselbe beobachten was sie zu beobachten gewohnt waren; | das ist vielmehr menschlich, und wenn es nicht weise ist, so ist es doch verzeihlich und leicht zu entschuldigen: denn es ist gewiß, daß wir leicht gestört werden in dem ruhigen freudigen Genuß der Liebe, wenn uns in Gegenständen die uns wichtig sind etwas ganz Fremdartiges auffällt; und es gehört eine große Festigkeit des Gemüths, es gehört ein freier Blik und Sinn dazu, wenn der Mensch über diese Schwachheit ganz soll erhoben sein. Aber hier, m. g. F., war ein andrer Fall. Jene Khristen aus dem jüdischen Lande kamen in eine Stadt groß[,] volkreich und angesehen, wo wie sie wußten bisher alles bis auf das kleine Häuflein der Bekenner des jüdischen Gesezes | selbst, wo sonst alles erlag unter der Finsterniß des Heidenthums; und nun fanden sie einen großen zahlreichen Haufen von Bekennern Gottes und von Verehrern des Erlösers, den auch sie als den Heiland nicht nur ihres Volks sondern der Welt gläubig angenommen hatten. Wie? sollte nicht eine so seltene und große Freude die Gemüther ganz anders bewegt haben als es unter den gewöhnlichen Umständen des täglichen Lebens zu geschehen pflegt? wie? sollten sie nicht ganz aufgelöset gewesen sein in Dankbarkeit und Preis Gottes, der durch die Treue seiner Diener so große Dinge ausgerichtet hatte? wie? sollte nicht unter solchen Umständen gar vieles in ihrem Gemüthe | zurükgetreten sein, was ihnen sonst nahe lag? wie? sollten sie nicht geneigt geworden sein, alles dasjenige liebevoll zu übersehen, wovon sie sonst meinten es gehöre zur Vollkommenheit des khristlichen Lebens, da ihnen derselbe Glaube an den himmlischen Vater und an seinen Sohn unsern Herrn und Heiland, da ihnen dieselbe Kraft des Geistes und der Liebe, die auch sie ergriffen hatte, entgegentrat? Da können wir nicht umhin es als eine Härte des Herzens zu finden, daß anstatt sich ganz der reinen Freude über den Erfolg des Reiches Khristi und über die Macht des Glaubens hinzugeben, sie gleich darauf denken konnten, wie sie die Gläubigen alle | in die genaueste Ähnlichkeit mit ihrem Sinn und Leben auch in äußern geringfügigen und doch so beschwerlichen Gebräuchen führen könnten. Daßelbe wiederholte sich nachher, wie früher in unserm Texteskapitel erzählt wird, in Jerusalem selbst. Denn als Paulus und Barnabas über diese Frage hinkamen nach Jerusalem und der versammelten Gemeine Bericht erstatteten über den großen Erfolg, den das Evangelium unter den Heiden gehabt, so heißt es standen einige auf aus der Sekte der Pharisäer, 24 geworden] so SW II/10; S. 163; Textzeuge: worden 35–2 Vgl. Apg 15,4–5

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die da waren gläubig geworden, und sprachen, man muß ihnen gebieten zu halten das Gesez Moses. Da wiederholte sich in Menschen von derselben Denkart auch dieselbe Verstoktheit des Gemüths. Diese | sahen zwar nicht, aber sie hörten doch aus dem aufrichtigen und von dem Preis der göttlichen Gnade erfüllten Mund seiner Diener, was der Herr durch sie ausgerichtet hatte, und welche Schaaren von Menschen aus der Finsterniß des Heidenthums gebracht worden waren zu dem Lichte des Evangeliums. Dagegen laßt uns auf der andern Seite auch nicht unbemerkt laßen die Vorsicht und Weisheit in dem Betragen der Apostel Paulus und Barnabas. Durch ihren Dienst vorzüglich war die Gemeine gegründet worden; Barnabas war dorthin gesandt gewesen, wie auch früher erwähnt ist, durch die Apostel und die Gemeine von Jerusalem selbst, um | das Band der Liebe und der Gemeinschaft zwischen ihnen und den neuen Gemeinen jener Gegenden fester zu knüpfen; er hatte sich den Paulus, der schon früher von den Aposteln als Gehülfe war anerkannt worden, geholt um ihm beizustehen in diesem Geschäft, zu welchem er bestimmt war in jenen Gegenden. Konnten sich also nicht beide berufen auf ihr Ansehen und ihren Auftrag? konnten sie nicht sagen, was sie gelehrt und eingerichtet hätten, sei eben so gut als wäre es von den übrigen Aposteln gekommen, und sei mit ihrer Zustimmung geschehen? konnten sie nicht jene, die aus Jerusalem gekommen waren, als Friedensstörer zum Schweigen bringen, die kein | Recht hatten, sich in die Angelegenheiten und Einrichtungen der neuen Gemeine zu mischen, als solche die nicht kamen den Frieden zu bringen nach dem Geiste und Willen ihres Herrn und Meisters, sondern Hader und Zwietracht auszustreuen in die neuen noch wenig befestigten Gemüther? Aber nein; von dieser Anmaßung waren sie weit entfernt; sie wollten nicht daß diese große Frage gestellt würde auf ihre Person auf ihren Glauben, sie wollten nicht in dieser wichtigen Angelegenheit das Ansehen haben, als gedächten sie die Gewißen zu beherrschen; sondern ließen es sich gern gefallen gesandt zu werden von der Gemeine gen Jerusalem, | damit in dieser ersten Gemeine der Khristen berathen würde, was das Wohl der Khristenheit erfordere, und was der Wahrheit des Evangeliums gemäß sei; und so stellten sie sich selbst in den Hintergrund, vorzüglich damit vermieden würde, daß sie nicht erschienen als das Haupt einer Gemeine der Khristen, und dadurch das Gefühl der Zerrüttung und der Spaltung noch größer würde. Das, m. g. F., das war gewiß ein großer Beweis nicht allein der Mäßigung von so angesehenen Lehrern des Khristenthums, von so auserwählten Rüstzeugen des göttlichen Geistes, sondern es zeigt sich auch darin die tiefste Einsicht in die | eigentliche Natur des Khristenthums und in die eigenthümliche brüderliche Liebe, die es gestiftet hat. So wie es vorzüglich darauf gegrün10–16 Vgl. Apg 11,22–26

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det war, daß jenes große Wort der Verheißung in Erfüllung gegangen war, daß der göttliche Geist sollte ausgegoßen werden über alles Fleisch, so fühlten sie auch, wie wesentlich es sei, daß jeder zwar nach dem Maaße seiner Kräfte und nach dem Maaße des Glaubens den Gott ihm verliehen sich hingäbe dem Dienste seiner Brüder und derjenigen, die noch in dem Dunkel der Unwißenheit und des Heidenthums wandelten, aber daß keiner hervortreten sollte als Haupt | der andern, keiner als Anführer und Muster des Glaubens – denn wir haben nur Einen Anführer und Ein Muster unsers Glaubens, Jesum Khristum den Herrn, der da ist der große Anfänger und Vollender unsers Glaubens – so fühlten sie auch, daß alles was jemals streitig werden könne in der Gemeine der Khristen, nicht durch das Ansehen eines Einzelnen sollte ausgeglichen werden, und es nie das Ansehen haben sollte, daß, wenn ein angesehener Mund geredet, dadurch etwas könne entschieden sein, sondern daß dann nur das gemeinsame Zusammentreten aller derer, denen der Herr | verheißen hat, wo sie versammelt sein würden in seinem Namen da würde er mitten unter ihnen sein, daß nur die vereinigte Berathung derer, die gewohnt waren in Sachen des Evangeliums das Wehen des göttlichen Geistes unter sich zu fühlen, daß daraus nur die Entscheidung und die richtige Leitung der khristlichen Angelegenheiten hervorgehen könnte. O wäre das immer geschehen! wären dieser demüthigen Bescheidenheit treugeblieben alle Lehrer des Evangeliums! und wichen doch alle, auf welche ein größerer oder kleinerer Theil der Khristen hinzusehen pflegt als auf die ihnen besonders theuern und werthen Ausspender des göttlichen Worts, nie von diesem Wege! Aber wo wenn die Khristenheit | in Gefahr ist in innere Zerrüttung zu gerathen, einer sich hinstellt als das Haupt, da ist zu befürchten, daß nicht auf diesem sanften Wege wie hier geschah, die Gemüther können beruhigt werden und der Friede erhalten in der Gemeine! Ja noch Eins, wenn gleich an sich gering kann ich mich nicht enthalten zu bewundern in dem Betragen jener beiden Apostel. Als nämlich in der Versammlung der Apostel und Ältesten die große Frage war beantwortet worden, und der Entschluß gefaßt nach dem Bericht des Jakobus, und der Brief aufgesezt den wir gelesen haben: So begnügten sich Paulus und Barnabas nicht damit | die Ueberbringer dieses Briefes zu sein, und was sie selbst bisher gethan und gelehrt hatten bestätigen zu laßen durch das Ansehen derjenigen, die nicht mehr waren in dem Dienst des Evangeliums als sie selbst; sondern sie beobachteten auch genau jene äußere Form, daß die Gemeine zu Jerusalem mit ihnen noch ein paar andere Männer sandte, um durch ihr Wort zu beglaubigen was Paulus und Barnabas von dem Hergang der Sache erzählen möchten. So sehr fügten sie sich in jene Form, wodurch 1–2 Vgl. Apg 2,17 Mt 18,20

6–9 Vgl. Mt 23,8.10

9–10 Vgl. Hebr 12,2

15–16 Vgl.

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die Angelegenheit ihr Gewicht erhielt, so wenig hielten sie für sich zu gering alles treu und genau zu befolgen, damit sie denen die ihre | Widersacher waren in den gemeinsamen Angelegenheiten, auch nicht die geringste Veranlaßung geben möchten sie mit Einem Worte zu tadeln, oder auch nur den Schatten eines Verdachts auf sie [zu] werfen. Wie sehr laßen sie indem sie so handeln das Gefühl ihres großen Ansehens zurüktreten! welche Ehrerbiethung zeigen sie gegen alles auch das Äußerlichste, was wie jede Gesellschaft so auch die der Khristen zusammenhalten muß! wie sehr ist es ihnen nur um die Förderung und Ausbreitung des Evangeliums zu thun! wie vermeiden sie sorgfältig alles wodurch sie scheinen könnten als suchten sie | das Ihrige! Und wie wichtig, m. g. F., ist auch dies für jedes gemeinsame Leben, besonders wenn nicht alles den ebenen ruhigen Gang geht, besonders in solchen Zeiten wie damals, wo es leicht ist, das so eben Beruhigte wieder aufzuregen und einen Vorwand herzugeben zu neuen Streitigkeiten und Zerrüttungen! Aber auch die Gemeine zu Jerusalem, die Versammlung der Apostel und Aeltesten belehrt uns durch ihr Betragen in dieser Angelegenheit. Denn auch sie vergönnten denen freie Äußerung ihrer Meinung, die es mit jenen hielten, welche die Gemeine in | Syrien beunruhigt hatten durch ihre Foderungen; sie hielten ihnen entgegen nicht nur die Erzählung des Paulus und Barnabas, sondern auch frühere Verhandlungen in der Gemeine selbst. Aber wie mild und sanft sie sie auch behandelten, so bestimmt sagten sie sich doch los in ihrem Briefe von allem Antheil an denen, welche die Angelegenheiten der Khristen in Antiochia hatten auf einen andern Fuß sezen wollen; so schrieben sie „da wir hören, daß etliche von den Unsern sind ausgegangen, und haben euch mit Lehren irre gemacht und eure Seelen zerrüttet, und sagen, ihr sollt euch beschneiden laßen und das Gesez halten, welchen wir nichts befohlen haben.“ | Und das, m. g. F., war freilich eine heilige Pflicht, damit jene Gemeine Gelegenheit hätte zu scheiden was die Meinung einiger weniger gewesen war, was aus dem unverständigen blinden Eifer eines kleinen Theils hervorgegangen war, von dem gemeinsamen Sinn und Urtheil des Ganzen. Da war also auf der einen Seite freilich Schonung der Schwachen selbst, um auch sie zu einer beßern Einsicht und zur Einstimmung in das was die Apostel gethan hatten zu bringen; aber auf der andern Seite auch offene und freie öffentliche Anerkennung deßen was sie gefehlt hatten, und Zurükweisung aller einzelnen | Glieder in die ihnen obliegenden Schranken. Und gewiß waren es nicht Männer ohne Ansehen gewesen die von Jerusalem nach Antiochia gekommen waren, und sich herausgenommen hatten jene Forderung aufzustellen, gewiß waren es solche die ihr Wort wohl zu führen wußten. Aber diese Anmaßung mußte gerügt werden ohne alles Ansehen der Person, und der Apostel, der hier das Wort führte, 1–2 sie ... gering] so SAr 59, Bl. 80r; Textzeuge: sie sich selbst für gering

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und derjenige der den Brief aufsezte, scheuten nicht das Ansehen, in welchem ein Einzelner stand, sondern dekten auf den Fehler, den er sich hatte zu Schulden kommen laßen. Und so, m. g. F., muß auch was der Einzelne sich herausnimmt, und was zur Störung des Friedens und zur Verleitung | von dem Einfluß des Evangeliums wirkt, gerügt und gebeßert werden in der Gemeine der Khristen, auf daß nichts gelte in derselben als der lautere Sinn der ungefärbten Liebe und das kräftige Wort des reinen Glaubens. So sehen wir denn, m. g. F., wie hier überall die Milde sowohl als die strenge Weisheit auf der Seite derer war, die es mit der lautern Wahrheit des Evangeliums hielten, und ihm das Fremdartige nicht beimischen wollten, und wie hingegen diejenigen, die das was ihnen eigenthümlich war und nicht aus der Wurzel des khristlichen Glaubens entstanden, sondern aus der eigenthümlichen Art ihrer Bildung und ihres früheren Lebens in ihre Ansicht und Behandlung des Khristenthums herübergekommen war, wie in denen | die dies gemeinsam machen und andern aufdringen wollten, sich überall die geringere sittliche Kraft, das leidenschaftliche Wesen, der Mangel an Ruhe an Besonnenheit und Festigkeit zeigt; und so werden wir freilich überall und zu allen Zeiten der Khristenheit diejenigen, die den Frieden und das Wohl der Gemeine des Herrn suchen, von denen die aus Mißverstand Zwiespalt und Zerrüttung erregen, wir werden sie wenn wir nur recht darauf achten, an ihren Früchten erkennen können. II. Und nun laßt uns in dem zweiten Theile unsrer Betrachtung noch sehen auf die Grundsäze, nach denen jener Streit damals entschieden wurde, | und nach denen ähnliche Streitpunkte zu allen Zeiten entschieden werden müßen, wenn der Friede und das Wohl der Gemeine Khristi nicht gefährdet werden soll. Zuerst die Foderung derer, welche verlangten, alle auch die aus den Heiden gesammelten Khristen sollten verpflichtet werden auf das Gesez Mosis, hatte für sich ein großes Ansehen des Alterthums. Es ist gewiß, das Khristenthum hätte nicht gegründet werden können so wie es geschehen ist durch die Erscheinung unsers Erlösers, wenn nicht in dem jüdischen Volk bald schwächer bald stärker erhalten worden wäre, aber doch immer fortgeglimmt hätte die Hoff|nung auf einen Retter und Wiederhersteller. Von diesem waren auch die Aussprüche der Propheten nur so zu deuten, daß sein Licht leuchten sollte weit über die Gränzen des Volkes Israel hinaus, und nicht nur dieses sondern alle Geschlechter der Menschen Theil haben an dem innern Frieden und an der Seligkeit die er bringen werde. Aber nicht anders dachten es sich die Menschen jenes Volks und Geschlechts als 20–21 Vgl. Mt 7,16.20

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so, daß die Heiden, wenn sie Theil nehmen wollten an diesem Lichte, auch einverleibt werden müßten dem Volk, von welchem es ausging, unter welchem es entstanden war. Das war das alte Ansehen, worauf diese Khristen aus dem jüdischen Lande ihre Forderung gründeten. | Was stellten aber die Apostel in ihrer Berathung diesem entgegen? das allgemeine Gefühl der Unerträglichkeit des mosaischen Gesezes, indem sie sagten, da Gott selbst schon in früheren Jahren Heiden, welche überzeugt davon, daß Jesus der Khrist sei, die Gabe des göttlichen Geistes mitgetheilt und ihr Herz gereinigt habe durch den Glauben, ohne daß sie übergegangen wären zu dem jüdischen Volk, wie sie denn Gott könnten versuchen wollen und diesen auflegen die Last des jüdischen Gesezes, die weder sie noch ihre Väter hätten ertragen können. So stellten sie dies gegen einander, woraus der Grundsaz hervorgeht, daß auch das was durch ein großes Ansehen des Alterthums geheiligt zu sein scheint, | doch nicht kann und soll durchgeführt werden, wenn es als unerträglich und auf keine Weise förderlich gefühlt wird. Wenn wir, m. g. F., auf den einzelnen Fall selbst sehen, so hat freilich diese Entscheidung für uns keine Wichtigkeit mehr; unmöglich kann diese Forderung jezt in der khristlichen Kirche wiederholt werden. Aber auch in ihr giebt es manches theils in dem Buchstaben der Lehre theils in der Gestaltung des khristlichen Lebens, was eben so ein großes Ansehen des Alterthums für sich hat; aber nachdem alle Verhältnisse auf denen es beruht sich geändert haben, nachdem der geistige Blik der Menschen sich erweitert hat, nachdem die Gemüther und das Leben von mancherlei lästigen Schranken frei geworden sind, so wird | daßelbe dann auch als unerträglich und nicht fördernd gefühlt. Und so ist das die Lehre, die wir uns für alle Fälle der Art aus der Entscheidung der Apostel nehmen müßen, daß dasjenige, was einem großen Theil der Khristen unerträglich ist niemals kann Bestandtheil sein der Wahrheit des Glaubens und der Reinheit des khristlichen Lebens. Wie oft, m. g. F., ist nicht gestritten worden in der khristlichen Kirche um irgend einen Buchstaben der Lehre geheiligt durch Ansehen, um eingesezte Gebräuche die das Zeugniß vieler Jahrhunderte für sich hatten! Aber wenn das Eine oder das Andre einem großen Theil der Khristen, solchen wie die Apostel es bezeugten in ihrer Rede von denen, die aus den | Heiden gläubig geworden waren, die durch nichts anders als durch die Gnade Khristi hofften selig zu werden, die die Gabe des Geistes empfangen und durch den Glauben ihr Herz gereinigt hatten, wenn es solchen sich unverträglich zeigt mit ihrem inneren Gefühl, so daß sie ihren Glauben nicht daran anknüpfen und darin aussprechen können, so daß es 5 Berathung] so SW II/10; S. 170; Textzeuge: Betrachtung 6–12 Vgl. Apg 15,8–10

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sie im Leben nicht mehr fördert sondern überall hindert und stört: so kann es zum Wesen des Khristenthums nicht gehören; nicht daß es um deßwegen sollte ausgerottet werden – denn auch die Apostel verboten denen die aus dem jüdischen Volke abstammten, und denen die es freiwillig übernehmen wollten, keinesweges die Beob|achtung des jüdischen Gesezes – aber zu einer Bedingung der khristlichen Gemeinschaft konnte und sollte es nicht gemacht werden, weil es allen die durch die Gnade unsers Herrn Jesu Khristi allein selig werden wollten, als etwas Unerträgliches erschien. Und so sehen wir denn zweitens, wie die Apostel und die Gemeine in Jerusalem keinesweges geleitet wurden in ihrer Entscheidung durch den Grundsaz, daß man der Schwachen schonen müße. Allerdings bewiesen sie diese Schonung in der ganzen Behandlung derselben, aber sie hatten auf der andern Seite Festigkeit genug, nicht die ganze Schaar der Gläubigen dem Gefühl der Schwachen im Glauben aufzuopfern. | Es ist gar leicht gesagt, daß es demjenigen deßen Herz fest geworden ist in einer freien Überzeugung, doch nicht schwer werden könne manches mitzumachen, sich manches gefallen zu laßen, manchem Zwange sich zu unterwerfen; um denen die schwach sind keinen Anstoß und kein Ärgerniß zu geben. Aber was anderes geschieht dadurch, wenn man dies zur Regel der Entscheidung in den großen Angelegenheiten des Khristentums machen will, als daß das Unvollkommne siegt über das Vollkommnere, das Schlechte über das Beßere. Denn ein Zwang den wir uns auflegen, ein Gebrauch den wir ohne Ueberzeugung mitmachen, ein Wort das wir als heilig aussprechen, ohnerachtet es keinen Werth | hat für uns, es giebt unserm ganzen Bekenntniß durch Wort und That und Leben eine Beimischung des Unwahren. Aber die Kinder Gottes sollen frei werden zur vollständigen Erkenntniß und zum reinen Bekenntniß der Wahrheit. Je mehr sich nun den Schwachen die Starken aufopfern, sie nicht nur zu schonen und zu tragen in ihrer Schwachheit, sondern sich ihnen auch ähnlich zu stellen, damit sie nicht verlezt werden, so wird alsdann die freie Wirkung des göttlichen Geistes, so wird alsdann die Kraft des Glaubens und der Liebe gefährdet. Denn diese ist dann schon getrübt, weil die Starken es sich zutrauen sollen, andre Schwache liebreich | zu tragen, sie liebreich zu erschüttern und zu sich zu ziehen, was aber nicht möglich ist, wenn anstatt sie zu leiten sie sich von ihnen leiten laßen. Davon war die Versammlung der Apostel fern, und begehrte nicht andern eine Last aufzulegen um der Schwachen willen, sondern diese mußten lernen, indem ihnen niemand zumuthete ihre Überzeugung aufzugeben, die Starken neben sich zu ertragen, und dieselbe keinem anfzudringen, der durch nichts anders als durch die Gnade unsers Herrn Jesu Khristi selig werden wollte. Aber fragen wir, was eigentlich der Hauptpunkt der Entscheidung 32–33 Vgl. Röm 15,1

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gewesen ist, so ist es unstreitig der, daß aus der Erzählung des | Paulus und Barnabas, und aus dem was Petrus erwähnte von der Bekehrung des Hauptmanns Kornelius und seines ganzen Hauses, und aus der Zeit wo in der Landschaft Samaria das Khristenthum Eingang gefunden hatte, hervorging, daß überall der Geist Gottes sich in den neuen Khristen geschäftig bewies durch mancherlei Gaben, ohne daß sie die Verpflichtung, die Vorschriften des mosaischen Gesezes zu halten, auf sich genommen hatten. Was war also der einzige und lezte Entscheidungsgrund der Apostel? Wo die Früchte des heiligen Geistes sind, da ist auch das Wesen des khristlichen Glaubens, und das|jenige neben welchem man alles Uebrige der eigenen Ueberzeugung und der allmäligen Entscheidung und Wirksamkeit des göttlichen Geistes überlaßen muß. O, m. g. F. möchte man niemals in der khristlichen Kirche abgewichen sein von dieser Regel! möchte das immer der Grundsaz derselben geblieben sein, da die Gemeinschaft des Glaubens anzuerkennen, wo die Gemeinschaft des Geistes ist? Aber die Früchte des Geistes, sagt der Apostel, sind Liebe Freude Friede Freundlichkeit und Gütigkeit; die Früchte des Geistes sind da, wo gut Regiment ist im Hause, herzliche Liebe gegen die Brüder, strenge Treue gegen die gemeinsamen Verhältniße denen wir alle angehören; das sind die Früchte des Geistes. Die Früchte | des Geistes und die Gaben deßelben sind da, wo mit Wort und Leben die Gläubigen die Gnade Gottes in Khristo Jesu, der ihnen den Vater offenbart hat, preisen; da sind die Früchte des Geistes, wo der Mensch zu erkennen giebt, daß alle gute Gabe von oben herabkommt von dem Vater des Lichts, welcher denjenigen gesandt hat, der uns Licht und Leben und Unsterblichkeit gebracht hat. Da sind die Früchte des Geistes. Wo die sind, da ist das Wesen des Glaubens, und da mag jeder zu seinem Bruder sagen, so dir sonst noch etwas fehlt, da wird Gott der Herr es dir schon offenbaren, wie Paulus der Apostel es selbst zu denen sagte, die nicht überall in allen Punkten der khrist|lichen Lehre mit ihm übereinstimmten. Aber möchte man sagen, es wurde doch etwas aufgelegt den Khristen, die aus den Heiden waren gläubig geworden; und auch das war nur eine heilsame und nothwendige Ergänzung der fröhlichen Entscheidung die sie empfingen. Aber was war es? Es war wenn wir auf das Wesen der Sache sehen, eine Anweisung nicht nur in allem was an sich bedeutend ist sondern auch in scheinbar gleichgültigen und unbedeutenden Dingen den strengsten Abscheu zu erkennen zu geben gegen alles unchristliche und abgöttische Wesen. Denn darauf gehen alle Vorschriften hinaus, die die 18–19 Verhältniße] so SW II/10, S. 173; Textzeuge: Bedürfniße SW II/10, S. 174; Textzeuge: abgöttliche 3–7 Vgl. Apg 8,5–6.14–17; 11,15–18; 15,3 24 Jak 1,17 27 Vgl. Phil 3,15

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Apostel in den ver|lesenen Worten unsers Textes den Khristen geben. Das Heidenthum hatte die Menschen gleichgültig gemacht in gar vielen Punkten des menschlichen Lebens, und gegen diesen Leichtsinn warnt der Brief der Apostel und Ältesten in jenen Äußerungen, und verpflichtet die Khristen, so wie sie auf der einen Seite in ihrem ganzen Leben zeigen sollten, daß sie auf das Gesez Mosis keinen Werth legten, und nur gerechtfertigt werden wollten vor Gott durch den Herrn, so sollten sie sich auch auf der andern Seite entfernt halten von aller Unreinigkeit, die nur heidnische Menschen sich erlauben konnten, denen das Licht des Evangeliums noch nicht aufgegangen war, aber nicht solche die in diesem | Lichte wandelten; aber dann sollten sie auch ihren Widerwillen und ihren Abscheu gegen alles abgöttische Wesen zu erkennen geben in gleichgültigen Dingen. Denn der Apostel Paulus, der so sehr übereinstimmt mit der Ansicht in diesem Briefe, sagt an einem andern Ort „wir wißen daß ein Göze nichts ist, und das Gözenopfer nichts”; und so kann ich ohne Beflekung meines Gewißens eßen was den Gözen geopfert ist; aber in dem der den Gözen glaubt errege ich die Meinung, als ob ich dadurch in die Gemeinschaft mit jenen Gözen, die an sich nichts sind, getreten wäre; und so mögt ihr, wenn euch jemand von den Ungläubigen ladet, alles eßen, was euch vorgetragen wird, und forschet nichts; aber damit | die Gewißen verschont bleiben, und die Schwächern dadurch nicht geärgert werden, so sagt er, gebe ich den Rath, daß wo jemand zu euch sagen würde, das ist Gözenopfer, ihr nicht eßet um deßwillen, der es anzeigt. Und das ist es meine g. F., was jeder, der stärker und freier ist im Khristenthum seinem schwächern Bruder schuldig ist. Wo er in einem Wort oder in einer That finden möchte einen Anklang zu dem was jenen nicht fördert, wovon seine Seele fern ist, und was ihn ärgern und zweifelhaft machen könnte über seinen Glauben, da soll er sich deßen enthalten, so lange wenigstens bis er Gelegenheit hat seinen Bruder darüber zu unterrichten; und überall in gleichgültigen Dingen, | wo weder durch das Thun noch durch das Unterlaßen irgend eine heilige Pflicht verlezt werden kann, auf die Schwachen zu sehen, das war die heilige Pflicht, welche die Apostel den Khristen auferlegten. Wenn m. g. F., auf diese Weise überall, wo Streit entsteht in der khristlichen Kirche, diejenigen die sich freier dünken den Schwachen entgegen kommen, und sie tragen und dulden, und wenn dies immer mit dem Bestreben der Liebe verbunden ist, auch ihnen das hellere Licht vor das geistige Auge zu führen; und wenn auf der andern Seite die ängstlichen Gemüther, die wir denen vergleichen mögen, welche die Beobachtung des mosaischen Gesezes von den | Khristen foderten, für sich zwar ihrer Ueberzeugung treu bleiben, aber der Anmaßung entsagen zu verlangen, daß sich alle ihnen gleich stellen sollen, sondern gern diejeni14–23 Vgl. 1Kor 8,4–13

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gen, die mit ihnen in solchen Punkten nicht einer Meinung sind, welche auf die Reinheit des Herzens und auf die Vollkommenheit der khristlichen Gesinnung keinen Einfluß haben, die aber darin mit ihnen übereinstimmen, daß sie durch nichts anders als durch den Glauben an Khristum selig werden wollen, daß sie diese ihres Glaubens leben laßen: o dann geht jene Reinigung des khristlichen Lebens ihren sicheren ruhigen Gang, und bei aller Verschiedenheit | der Sitten und Meinungen bleibt die Einheit des Glaubens und die Treue der Liebe unverlezt. Möchten wir uns immer an dieses apostolische Beispiel der Kirche halten, und jeder sich daßelbe zur Richtschnur nehmen an seinem Plaz. O dann würde der Friede in der khristlichen Kirche viel weniger getrübt werden, und jede Einsicht und jede Kraft, die Gott der Herr in dieselbe gelegt hat, weit mehr zu ihrem Nuzen wirksam sein. Dazu denn wolle er seine Kirche immer mehr läutern und heiligen durch seinen Geist. Amen.

[Liederblatt vom 29. Oktober 1820: Am 22sten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] O Vater aller Geister! Ehre / Sei dir von deiner Kinder Schaar, / Dir, Herr der hohen fernen Heere, / Bring jeder Mund Anbetung dar! / Ja, Vater, allen Kindern gieb / Dich recht zu preisen reinen Trieb. // [2.] Dem rufst du lauter, jenem leise, / Es ist ein Gott der dich erschuf! / Nur der ist froh und gut und weise, / Der folgsam hört auf diesen Ruf; / Und deine Vaterhuld erhört / Das Flehen, das dich kindlich ehrt. // [3.] Doch von den Millionen Keiner / Verehrt dich, Vater, würdiglich! / Wo ist ein Frommer, Weiser, Reiner, / Der sagen darf, ganz kenn’ er dich, / Und ehr’ im Geist, der Wahrheit voll, / Dich, Gott, wie er dich ehren soll? // [4.] Kein Erdensohn hat andre Pflichten, / Als treu zu folgen seinem Licht; / Und du wirst den nicht strenge richten, / Dem noch der hellre Schein gebricht! / Du Gott begnadigst gern auch den, / Der wagte dir zu widerstehn. // [5.] So, heil’ger Vater, darf der Sünder / Getrost sich deinem Throne nahn; / Dein Vaterohr hört ihn nicht minder / Als deine Seraphinen an. / Dem Schwachen lächelt deine Huld, / Den Starken trägst du mit Geduld. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Gott ist mein Lied etc. [1.] In aller Welt / Aus jedem Volk auf Erden / Gefällt dem Herrn, wer gern belehrt will werden, / Und sein Gebot von Herzen hält. // [2.] Des Herrn Gebot / Erfüllt wer liebend lehret; / Wer dünkelsvoll vom Irrenden sich kehret, / Der der verlezt des Herrn Gebot. // [3.] Auf finstrer Bahn / Gehn irr, von Gott verlassen, / Die Andrer Lehr und Sitte frevelnd hassen, / Ihr Glaub ist nur ein schnöder Wahn. // [4.] Der Glaube soll / In uns die Liebe stärken; /

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Wer Glauben hält, der zeigt in Wort und Werken, / Er sei der wahren Liebe voll. // [5.] Wer Jesum kennt, / Der kennt der Eintracht Segen. / Nie dürfen drum wir Christen Zwietracht hegen, / Durch Stolz und Eigensucht getrennt. // [6.] Es ist ein Gott / Auf den wir alle hoffen, / Ein Mittler ist, Ein Himmel steht uns offen, / Und Ein Gericht einst nach dem Tod. // [7.] Wir richten nicht! / Der Herr wird selbst einst richten. / Wer viel empfing, der übe seine Pflichten / Getreuer bei des Glaubens Licht. // [8.] Danksagt dem Herrn, / Der seinen Geist gegeben! / Aus dessen Kraft entströmet Licht und Leben, // Von euch auf Andre nah und fern. // [9.] So baut sein Reich / Gerührt von seiner Treue! / Daß Jeder sich des geistgen Lebens freue, / O Christen liebt und helfet euch! // [10.] Stimmt alle ein! / Singt frommer Eintracht Lieder! / Der Erdkreis soll ein Aufenthalt für Brüder, / Ein Tempel selger Eintracht sein. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Wer Jesu dich als Herrn bekennet, / Der baue gern der Liebe Reich; / Und wo ungläubger Haß entbrennet, / Mach er die Herzen mild und weich; / Daß jeder Jünger Jesu frei / Vom Geiste der Verfolgung sei. // [2.] Erweck uns Fürsten, gieb uns Lehrer, / Voll reiner Lieb und Freundlichkeit! / So, Herr, entwaffne den Zerstörer, / Der lieblos frommer Liebe dräut. / Er fühl’, erhellt von deinem Licht, / Von dir komm blinder Eifer nicht. //

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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 20,22–25 Nachschrift; SAr 76, Bl. 96v–117v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 177–192 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 54r–54v; Gemberg Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 28r–38r Ende der vom 11. Juni 1820 an gehaltenen Predigtreihe zur Entstehung und anfänglichen Entwicklung der christlichen Kirche (vgl. Einleitung, I.4.A.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am vierundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1820. | Tex t. Apostelgeschichte XX, 22–25. Und nun siehe, ich im Geist gebunden fahre hin gen Jerusalem, weiß nicht was mir daselbst begegnen wird, ohne daß der heilige Geist in allen Städten bezeuget und spricht, Bande und Trübsal warten meiner daselbst. Aber ich achte deren keins, ich halte mein Leben auch nicht selbst theuer, auf daß ich vollende meinen Lauf mit Freuden, und das Amt das ich empfangen habe von dem Herrn Jesu, zu bezeugen das Evangelium von der Gnade Gottes. Und nun siehe, ich weiß daß ihr mein Angesicht nicht mehr sehen werdet, alle die durch welche ich gezogen bin und geprediget habe das Reich | Gottes. M. g. F., Wir endigen heute die bisherige Reihe unsrer Betrachtungen über jene wichtigsten Grundsäze und Handlungsweisen, auf denen die Gründung der khristlichen Kirche beruhte, und auf denen auch jezt noch das glükliche Fortbestehen derselben beruht; und ich wußte aus allem was sich noch darbot in jener uns allen so theuern und wichtigen Geschichte nichts was so bedeutend war, um es noch euer Aufmerksamkeit zu empfehlen als das eben Gelesene, nicht aber nur wenn wir uns fragen, wie können wir uns denn mitten im Leben und am Ende deßelben den Trost sichern, den 18 In der Parallelüberlieferung Nl. 481, Bl. 28v findet sich in Schleiermachers Anknüpfung an die eben verlesenen Worte des Bibeltextes der Hinweis auf das Lied vor dem Gebet (unten Anhang nach der Predigt) „daß wir aus denselben den Muth und die Kraft, deren wir bedürfen, wenn Leiden und Gefahren uns bedrohen, und um welche wir Gott in demselben eben gesungenen Liede anrufen, entnehmen möchten“.

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wir uns eben in unsern khristlichen Versammlungen vorge|halten haben, unter den Leiden und Widerwärtigkeiten, die nicht ohne einen Antheil unsrer eigenen That uns im Leben widerfahren und drohen, sondern auch wenn wir uns die große Frage vorlegen, wie können wir, wie es denn auch der Apostel in den Worten unsers Textes ausspricht, unsern Lauf freudig vollenden, und Rechenschaft ablegen von dem Amt, welches auch wir empfangen haben in dem Reiche Gottes und in Beziehung auf sein Werk; und in dieser Frage liegt ja auch zugleich die, worauf der glükliche Fortgang aller khristlichen Angelegenheiten beruhe; denn der muß ja gesichert sein, wenn jeder freudig seinen Lauf vollendet, und bereit ist Rechenschaft abzulegen von dem Amt, | welches er empfangen hat. Wenn wir uns also diese Frage beantworten wollen, so weiß ich keinen herrlicheren Rath, als laßt uns dem Beispiel des Apostels folgen; und kein herrlicheres Bild khristlicher Weisheit und khristlichen Glaubens stellt sich uns dar als eben dieses – ich meine aber daßelbe, m. g. F., was schon aus den verlesenen Worten sich ein jeder wird vorgerükt haben, daß nämlich der Khrist, wenn er sich gebunden fühlt im Geist, sich durch keine Vorstellung von dem was ihm begegnen möchte, durch keine Warnung, die ihm nachtheilige Erfolge in der Zukunft entgegenhält, selbst durch keine Ermahnungen und Bitten geliebter Menschen soll abschreken | laßen, sondern getrost und unerschroken, wie der Apostel des Herrn, das thun wozu er sich gebunden fühlt im Geist. Um die Wahrheit und die große Wichtigkeit dieser Sache recht einzusehen, laßt uns zuerst den Fall näher erwägen, und dann zweitens daraus die allgemeine Anwendbarkeit und Nothwendigkeit dieser Handlungsweise uns ins Licht sezen. I. Es sind nämlich die verlesenen Worte genommen aus der Rede, welche der Apostel Paulus an die Ältesten der Gemeine von Ephesus hielt, die er zu sich berufen hatte nach Miletos auf seiner Reise nach Jerusalem, um sie noch einmal zu sehen. Da sagte er zu ihnen diese Worte, er | fühle sich gebunden im Geist, obgleich der heilige Geist in allen Städten nicht müde werde zu bezeugen, daß Bande und Trübsal seiner daselbst warteten. Diese Reise nach Jerusalem, m. g. F., sie war kein zufälliger Einfall des Apostels, sondern sie lag im Allgemeinen in dem Kreise seines Berufs, öfters pflegte er sie zu wiederholen, seitdem er der Verkündiger des Evangeliums unter den Heiden verschiedener Gegenden und Länder geworden war, und wichtig und nothwendig war dies, um das Band der Gemeinschaft zwischen 3 widerfahren] so SW II/10, S. 178; Textzeuge: widerstehen 27–30 Vgl. Apg 20,17–35

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jener ersten aus Mitgliedern des jüdischen Volks gestifteten Gemeine und jenen andern aus Heiden und Juden mannichfach zusammengesezten und über einen großen Theil der gebildeten Erde verbreiteten | Gemeinen in der Reinheit des Glaubens und in der rechten Stärke khristlicher Liebe zu erhalten. Aber eben sowenig kann man auch sagen, daß der Apostel eine bestimmte Verpflichtung gehabt habe gerade in dieser Zeit nach Jerusalem zu gehen. Als Jude war er verpflichtet in dem Heiligthum des Tempels zu erscheinen, um nach der Weise der Väter und nach den Vorschriften des Gesezes Gebete und Opfer darzubringen, und niemals hat er sich ganz von dieser Verpflichtung losgemacht, sondern auch als er nach Jerusalem kam sie erfüllt; aber sie war schon an sich minder streng für diejenigen, welche ihr Beruf in einer gewißen Entfernung von der heiligen Stadt hielt. Und so war kein Entschluß nach dem Gesez, der den Apostel band, gerade jezt | nach Jerusalem zu reisen. Eben so wenig war er auf eine bestimmte Weise verpflichtet in seinem Verhältniß als Khrist. Sich mit den andern Aposteln und seinen übrigen Brüdern in dem großen Amt der Verkündigung des göttlichen Worts bisweilen zu besprechen, die innige Gemeinschaft des Herzens zu erneuern, gegenseitige Erfahrungen in ihrem Beruf einander mitzutheilen, und dadurch zu gewinnen an Festigkeit des Geistes und an Kraft des Willens, entstandenen Mißverständnißen abzuhelfen, und den künftigen vorzubeugen, welche etwa unter der Gemeine hätten ausgestreut werden können: das war allerdings ein wichtiger Zwek, der ihn bewegen konnte nach Jerusalem bisweilen zu reisen, aber ein solcher, der an keine | bestimmte Zeit gebunden ist. Und so könnten wir sagen wäre es ja natürlich gewesen und leicht zu entschuldigen, wenn der Apostel – kamen ihm solche Warnungen entgegen, daß Bande und Trübsal seiner dort warteten, mußte er besorgen, daß wenn er diese Reise unternähme er in seinem Beruf unterbrochen, oder der Fortgang deßelben gehemmt und er selbst vielleicht auf immer verhindert werden würde das Evangelium zu verbreiten – es wäre leicht zu entschuldigen gewesen, wenn er seinen Vorsaz aufgegeben oder ihn aufgeschoben hätte auf eine spätere gelegenere Zeit, wo mehr günstige Umstände ihn auf seinem Wege begleitet hätten. Und die Warnungen, die ihm überall entgegen kamen, m. g. F., es waren nicht etwa die | Besorgniße einzelner ängstlicher und furchtsamer Gemüther, nicht etwa entgegengesezte hier aufmunternde und dort wieder zurükhaltende Stimmen Einzelner; und der Apostel selbst war keines weges schwankend über den Werth, den er ihnen beizulegen hätte, sondern er erkannte sie selbst für Stimmen des Geistes; es war die in dem Heiligthum der khristlichen Kirche wiedererwachte Gabe der Weißagung, die sich auf menschliche Weise an den verschiedensten Orten auf gleiche Art vernehmen ließ über den Ausgang seiner Reise. Und diese Stimmen des Geistes zu ehren, sollten wir denken, dem was ein Wort der Weißagung war zu folgen, dazu hätte er sich ja um so mehr aufgelegt fühlen sollen. Und bedenken | wir das, so

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möchten wir sagen, nicht etwa natürlich und zu entschuldigen wäre es gewesen, wenn er seine Schritte zurükgelenkt und sein Unternehmen aufgegeben hätte, sondern man möchte denken, es wäre seine Pflicht gewesen dem zu folgen was er selbst für die Stimme prophetischer Vorhersagung, die durch den göttlichen Geist den Khristen gegeben war, hielt. Aber nein sagt er, ich gehe hin gen Jerusalem, und weiß nicht was mir daselbst begegnen wird, nur daß der Geist mir überall weißaget daß Bande und Trübsal meiner warten; aber ich bin gebunden im Geist. Und dieser Stimme des Geistes in ihm, durch die er sich gebunden fühlte, diesem Antrieb, der so mächtig war, dem folgte er auch gegen die Stimmen des weißagenden Geistes, die um | ihn her ertönten. Sehet da, m. g. F., das ist das Wesentliche des einzelnen Falles, der uns hier vorliegt. Laßt uns nun überlegen, wie denn auch wir davon in unserm Leben die Anwendung zu machen haben, und daraus wird sich dann gewiß ergeben, daß dies für alle Khristen und für alles was irgend, es sei groß oder klein, zur Förderung des Reiches Gottes auf Erden geschieht, ein Grundsaz sei, von dem wir uns nicht entfernen dürfen, wenn wir nicht in Unsicherheit gerathen, wenn wir nicht den Vorwurf auf uns laden wollen, nicht nach unsern Kräften und in dem Geist des Erlösers thätig gewesen zu sein, nicht genug uns selbst verleugnet und allein gesucht zu haben was droben ist. II. | Es kommt hierbei, m. g. F., gewiß vorzüglich darauf an, daß wir uns das in Beziehung auf unser eigenes Leben und auf das was sich in uns und mit uns ereignet, klar machen, was der Apostel unter dem Ausdruk verstehe, er fühle sich gebunden im Geist. Laßt uns beginnen mit dem, was davon am weitesten entfernt aber doch uns allen nicht fremd ist. Wenn Gedanken in unsrer Seele aufsteigen, die wenn wir sie vollbrächten die Sünde in uns gebären würden, dann fühlen wir, daß uns etwas binden will, aber es ist das Fleisch, welches uns binden will, und welches immer mit der Macht der Sinnlichkeit die höheren Vermögen unsers Geistes zu unterjochen sucht, und der Geist in uns regt sich dagegen, und stellt dem Gesez welches unsre Glieder | beherrschen will, das heilige Gesez, das in ihm selbst niedergelegt ist, entgegen. Und wohl uns dann, wenn wir dem Geiste folgen und uns nicht binden laßen von dem verderbten Fleisch. Solchen Gedanken also zu folgen gegen irgend eine Warnung in uns oder außer uns, dazu können wir uns wohl niemals ermuntern wollen. Aber dann wie in dem äußern Leben uns gar vieles begegnet, deßen Zusammenhang und Grund wir nicht begreifen, und was wir also durch den Ausdruk des Zufälligen dieses irdischen Lebens zu bezeichnen pflegen, so steigen auch oft Gedanken zu künftigen 28–30 Vgl. Röm 7,14

31–32 Vgl. Röm 7,23

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Thaten und Unternehmungen in der menschlichen Seele auf, die wir als zufällige Erscheinungen | derselben betrachten müßen, weil wir gewöhnlich nicht wißen, woher sie uns kommen, und wohin sie zielen. In solchen regt sich der Geist, das ist nicht zu leugnen, sie gehen hervor aus der innern Kraft des Lebens und des Wirkens; aber indem sie bald und leicht wieder verschwinden ohne sich festzusezen in dem Gemüthe, als dann aber auch wieder diese Gedanken einander entgegengesezt sich gegenüber stellen: so fühlen wir in diesem Falle zwar den Geist, aber wir fühlen uns nicht gebunden im Geist, und in diesem Zustand sind wir mit Recht empfänglich jedem Rath, sei er ermunternd oder warnend und abhaltend, den entweder unser | eigener Verstand giebt, oder der uns von andern wohlmeinenden Gott treu ergebenen Herzen kommt, zu folgen, um das noch schwankende und ungewiße Gemüth zu einem festen Entschluß zu bringen. Wenn aber irgend etwas sich uns darstellt als eine Pflicht, die wir nicht umgehen können, als nothwendig vermöge der Geseze unter denen wir stehen, vermöge der Versprechungen die wir gegeben, vermöge der Werke, zu denen wir uns anheischig gemacht haben: dann fühlen wir uns gebunden; und es versteht sich von selbst, daß, wo wir uns so gebunden fühlen, wir uns auf keine Weise sollen oder dürfen abwendig machen laßen, was uns auch drohen | möge, und wofür wir auch mögen gewarnt werden. Und das dürfen wir nicht übersehen, je leichter es in irgend einer menschlichen Verbindung – und so geschieht es auch wohl hie und da in der Gesellschaft der Khristen – je leichter es damit genommen wird, daß der Einzelne in einzelnen Fällen sich von seiner Pflicht entbindet, wenn mit der Erfüllung derselben größere Gefahren für ihn verbunden zu sein scheinen, als dasjenige aufzuwägen im Stande ist, was dadurch bewirkt werden kann, und je leichter sich der Einzelne in solchen Fällen der allgemeinen Entschuldigung der menschlichen Schwach|heit versichert halten kann, um desto geringer ist in einer solchen Gesellschaft die Kraft des Geistes, der allein das Leben regieren soll, und in einem desto üblern Zustande befindet sich dann das gemeinsame Streben nach dem was das gemeinsame Wohl zu erhalten und zu fördern vermag; und wie können wir uns wundern, wenn die Angelegenheiten einer so gesinnten Gesellschaft, da sie eben von keinem mit Aufopferung seiner selbst gehalten und geschirmt werden, bei wichtigen Gefahren zertrümmert werden, und auch schon bei geringern aufhören mit Weisheit und Kraft geleitet zu sein. Aber, m. g. F., wo wir uns gebunden fühlen durch das heilige Wort der Pflicht, da sind wir zwar gebunden aber nicht im Geist, sondern es ist der Buchstabe des Gesezes | was uns bindet, welches freilich, wenn es werth ist das zu sein was es ist, ein Werk des Geistes sein kann, welches uns, indem wir uns demselben unterwerfen, mit der Kraft des Geistes ergriffen hat; aber in dem einzelnen Falle, wo es uns vorschreibt eine gewiße Pflicht, da ist es doch der bestimmte Buchstabe der uns bindet, aber nicht unmittelbar der Geist selbst, von dem er ausgegangen ist; und

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so wird jeder darin übereinstimmen, daß er sich da gebunden fühlt, aber nicht im Geist, sondern durch des Gesezes Wort. Wann also tritt der Fall ein in einem jeden Leben, in welchem sich der Apostel jezt befand? Wenn ein Antrieb in unsrer Seele entsteht, der wie der des Apostels zwar im Allgemeinen in dem Umkreise unsers Berufs liegt, | aber nicht so in den Buchstaben eines Gesezes gefaßt werden kann, daß wir uns dadurch gebunden fühlen eine bestimmte That in einer bestimmten Zeit zu vollbringen, wenn ein Antrieb in uns entsteht, deßen Gegenstand etwas Gutes ist und Löbliches, aber der nicht wie ein flüchtiger Einfall kommt und wieder verschwindet, oder mit einem entgegengesezten auch guten und löblichen in dem Inneren der Seele in Kampf geräth, sondern ein Antrieb ist der sich fest sezt in der Seele und laut wird, den wir, wie es auch der Apostel that, den Freunden und Gleichgesinnten und die mit uns nach Einem Ziele ringen, mittheilen, und der in dieser Mittheilung nur wächst und immer fester wird – dann fühlen wir uns gebun|den im Geist, und dann sollen wir das was auf solche Weise in der Seele entstanden ist, davon sollen wir nicht laßen, mag sich auch was für eine Vorstellung von Gefahren, womit dasselbe begleitet sein könne, entweder in unsrer eigenen Seele darneben stellen, oder uns von außen vorgehalten werden. Wenn so ein Entschluß in der Seele entstanden ist und so in derselben sich festgesezt hat, dann fühlen wir uns gebunden im Geist, und dann soll auch, wie auch andre uns warnen mögen vor einem unglüklichen Ausgang, auf welche Weise uns auch Bedenklichkeiten mögen entgegentreten, es soll uns ergehen wie es dem Apostel erging, der Entschluß soll immer fester werden in der Seele, und fühlen wir | uns gebunden im Geist, so sollen und dürfen wir nicht mehr wanken, und dann werden wir auch erleben was der Apostel erlebte: nämlich die Frommen unter den Brüdern, zu denen er kam, warnten ihn weil sie gebunden werden durch die Stimme des Geistes, und wollten ihn zurükhalten von dem Vorhaben, deßen traurigen Ausgang sie ahneten, aber als sie sahen er ließe sich selbst durch die weißagende Stimme nicht erschüttern, und er wäre gebunden im Geist, so theilte sich auch ihnen dieser Geist mit, und sie schwiegen und empfahlen die Sache dem Gott, der allein alles leitet nach seinem unveränderlichen Rathschluß, und alles zum Besten kehrt. Und nun, m. g. F., wird es uns | nicht schwer werden einzusehen, wie wesentlich und nothwendig dieser Grundsaz ist für den glüklichen Fortgang des Reiches Gottes auf Erden. Wie schon gesagt, meine Theuersten, dann fest zu bleiben, wenn uns der bestimmte Ruf der Pflicht ertönt, das soll einem jeden rechtschaffenen Menschen, wie viel mehr einem jeden wahren 18 womit dasselbe begleitet sein könne] so SW II/10, S. 184; Textzeuge: die damit begleitet sein können 38 ertönt] so SW II/10, S. 185; Textzeuge: ertönt hat 27–33 Vgl. Apg 21,10–14

32–34 Vgl. Röm 8,28

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Khristen leicht sein, und mit dem löblichen Beispiel der pünktlichsten Strenge soll er darin einem jeden um so mehr vorangehen, je mehr vielleicht der herrschende Geist seiner Zeit zu einer leichteren Ansicht geneigt ist. Aber laßt uns fragen, wie wenig ist es doch was so durch den bestimmten Buchstaben der Pflicht fest steht, und wenn wir uns nur da sollten gebunden halten wo uns das Gesez gebietet, ach | wie wenig Gutes würde geschehen in der Welt überhaupt, aber noch mehr in dem Umfang und in Beziehung auf das eigenthümliche Wesen und Geschäft der khristlichen Kirche selbst. Was war denn, m. g. F., der Beruf der Apostel selbst das Evangelium zu verkündigen? Mehrere unsrer früheren Betrachtungen schon haben von selbst die Richtung genommen uns aufmerksam darauf zu machen, wie leicht sie sich hätten ganz und gar entschuldigen können bei sich und bei der Welt, wenn sie nichts anders gehabt und gekannt hätten was sie leitete als die Stimme der Pflicht, wie leicht es ihnen dann würde geworden sein mit Recht das ganze Geschäft aufzugeben. Aber sie fühlten sich gebunden im Geist; ein mächtiger | Antrieb von oben war über sie gekommen, und dem folgten sie nun unter allen Gefahren, die ihnen entgegentraten, zum Troz und mit Ueberwindung aller Warnungen schwacher und ängstlicher Seelen. Und nur durch diese unwandelbare Treue, nur durch dieses nicht zu erschütternde Festhalten an dem Gebundensein im Geist konnte die khristliche Kirche gegründet werden, konnte sie sich erhalten und verbreiten bis dahin, wo auch unsre Väter ihrer Segnungen theilhaftig wurden. Und der große Apostel, deßen Beispiel wir uns hier vorgehalten haben, wie hätte er in diesem Falle sich selbst untreu werden müßen, er deßen ganzes erfolgreiches und gesegnetes Leben nicht etwa eine Kette war von pflichtmäßigen durch irgend ein Gesez ihm vorgeschriebenen | Handlungen, eine Reihe von menschlichen Einflüßen, sondern ein Gebundensein im Geist, wie hätte er sich selbst untreu werden müßen, wenn er jezt auf die Warnungen und Bitten andrer hätte ein Gewicht legen, wenn er jezt der Weißagung des Geistes, daß Bande und Trübsal seiner in Jerusalem erwarteten, hätte folgen wollen, da er sich gebunden fühlte im Geist zu dem Werk welches er vorhatte. Das, m. g. F., was uns in dem menschlichen Leben warnen kann und abrathen, wenn wir uns irgend gebunden fühlen im Geist zu der Vollbringung eines Werks, es ist nicht die weißagende Stimme des Geistes – denn in jener Schärfe und mit der unmittelbaren Gewißheit, mit welcher sie damals sich aussprach, läßt sie sich nicht mehr hören – es ist die ahnende | Stimme der treuen Freundschaft und Liebe, es ist die tiefgefühlte Stimme der Weisheit und der ernsten Ueberlegung. Das ist das Beste und Größte was uns warnen kann, aber doch immer weit zurükstehend an Sicherheit und reinem Ursprung hinter jener Stimme des Geistes. Und doch hielt der Apostel sie nur für eine Prüfung, ob er treu genug sein würde der Stimme des Geistes der ihn band, und ob er sich durch die Gefahren, welche sein irdisches Leben bedrohten, und die ihm durch den weißagenden Geist,

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der der khristlichen Kirche für die Zeit ihres Entstehens geschenkt war, in der Entfernung aber mit Gewißheit gezeigt wurden, ob er sich durch diese nicht abschreken ließe zu thun nach dem Gebot, welches sein Inneres umfaßte und leitete. | Und wie es damals erging, m. g. F., so auch späterhin. Laßt uns zunächst an das denken was nach der ersten Gründung der khristlichen Kirche für uns alle das Wichtigste ist, an jene gesegnete Zeit der Reinigung und Beßerung der khristlichen Lehre von Menschensazungen und Irrthümern, der unsre evangelische Kirche ihren Ursprung verdankt. Als jenes treue und herrliche Werkzeug Gottes, Martin Luther, auf den Reichstag gefordert ward gen Worms, um dort zu bekennen oder zu widerrufen was er gelehrt hatte, da warnten ihn einstimmig ehe er hinging, seine treuesten und besten Freunde; und auf dem Gange in die hehre Versammlung tönten ihm ehrwürdige Stimmen der Fürsten des deutschen Volks entgegen wieder umzukehren, | indem sie ihm wohlmeinend die Folgen vorhielten, die ein Beharren auf seiner Lehre für ihn haben könnte; aber er fühlte sich gebunden im Geist. Hätte er jenen Warnungen gefolgt, hätte er bei sich selbst gedacht, der treffliche Mann Gottes, der als ein Opfer seiner Ueberzeugung und seines Bekenntnißes in den Tod ging, habe zwar geweißagt, nach hundert Jahren werde einer kommen und den Menschen ein Licht bringen, welches das Verderben nicht wieder auszulöschen vermöchte, aber auf ihn sei darin nicht gewiesen, und es möchte wohl im Laufe der Jahrhunderte ein andrer kommen, der stärker sei und mehr von Gott ausgerüstet als er mit den Gaben des Geistes zu dem Werke der Reinigung – aber diese alte längst verhallte | Weißagung stellte sich ihm in eine weite Ferne hinaus, und ihr entgegen die neuen Stimmen treuer und einsichtsvoller Freunde – hätte er sich so bereden laßen: wie wäre die Kirche entstanden, die sich eines reinern Lichtes im Glauben und in der Lehre erfreut. Da war von keiner bestimmten Pflicht die Rede, die er hätte zu erfüllen gehabt, von keinem äußern Gesez, deßen Wort ihm auferlegt hätte so und nicht anders zu handeln, sondern allein von dem Gebundensein im Geist. Aber zu so Großem freilich, m. g. F., sind auch nur wenige berufen, und so Großes kehrt 18–22 Anspielung auf Jan Hus (vgl. SAr 52, Bl. 54v), der nach Luthers Aussage eine Vorhersage getroffen haben soll: „wie er ihnen verkündiget hat im Geist, da er sprach: Ueber hundert Jahr sollt ihr Gott und mir antworten. Item: sie werden eine Gans braten (Huß heißt Gans,) es wird ein Schwan nach mir komen, den werden sie nicht nicht braten.“ Vgl. Luther, Sämtliche Schriften, ed. J. G. Walch, Bd. 6, 1472–1473; WA DB, XI/2, 88. In der „Glosse auf das vermeinte kaiserliche Edikt“ von 1531 bezieht Luther diese Aussage auch auf sich: „St. Johannes Huß hat von mir geweissaget, da er aus dem Gefängniß in Böhmerland schreibt: Sie werden jetzt eine Gans braten (denn Huß heißt eine Gans;) aber über hundert Jahr werden sie einen Schwanen singen hören, den sollen sie leiden, da solls auch bey bleiben, ob Gott will.“ Luther, ed. Walch, Bd. 16; 2061–2062; WA 30, III, 387

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nur selten wieder in dem Wechsel der Jahrhunderte. Laßt uns hinabsteigen in das alltägliche Leben, in welchem wir alle | den Kreis unsrer Thätigkeit finden. O sagt es, m. g. F., wo irgend einem von euch jemals die Befriedigung geworden ist, einen Bruder der im Begriff war zu straucheln und zu fallen, zurükzuhalten durch das Wort der Ermahnung, wo ihr irgend einen befestigt habt auf dem Wege des Guten, auf welchem Sicherheit und Frieden ist, wo ihr irgend einem angezündet habt durch Mittheilung das Licht des Geistes, der befangen war in einem verkehrten, verderblichen Irrthum: ist das je eine bestimmte Pflicht gewesen, deren Buchstabe uns bindet? Nein, aber wir fühlen uns gebunden im Geist gewöhnlich nicht durch lange vorhergegangene Ueberlegung und sorgsame Berathung aller Umstände in uns selbst, sondern wir fühlen uns | angetrieben durch eine plözliche Stimme unsers Innern, die sich nicht mehr zum Schweigen bringen läßt; und das ist der Geist, der Geist der überall in der khristlichen Kirche waltet, der den einen aufregt wo es noth thut, und dann wieder kräftig entgegen wirkt dem, der hartnäkig besteht auf seiner Weise. Aber wie viel Bedenkliches giebt es nicht in jedem einzelnen Falle der Art, wie leicht können wir besorgen, daß wir das Heilige vor einen Unwürdigen werfen, der nicht fähig ist es richtig zu beurtheilen und zu ehren, wie leicht können wir befürchten, statt freundlich aufgenommen nur herbe zurükgestoßen zu werden, und durch einen Augenblik vielleicht das ganze Verhältniß zu zerstören, welches uns lieb und werth war, | und von dem wir in der Folge noch viel Gutes hätten erwarten können. Was würde aber geschehen, wenn wir dem warnenden und bedenklichen Geiste folgen wollten; wie viel Gutes würde dann unterbleiben, wie wenig dem Bösen und Ungöttlichen entgegengewirkt werden. Wo wir uns daher gebunden fühlen im Geist, da werden keine Warnungen gehört, da machen keine Bedenklichkeiten irgend einen Eindruk auf uns, der Geist will daß ihm gefolgt werde. Und selbst das, m. g. F., das so oft unter uns wiederkehrende Geschäft der öffentlichen Lehre und der Auslegung des göttlichen Worts, es ist gebunden durch den Buchstaben der Pflicht an eine bestimmte Zeit und in | mancher Hinsicht auch an eine bestimmte Art und Weise und an eine äußere Einrichtung der Verehrung Gottes. Aber was ist es, was den Diener des göttlichen Wortes treibt, heute gerade dieses und dann wiederum jenes aus dem reichen Schaz, deßen Verwaltung ihm anvertraut ist, aus dem ganzen Umfang khristlicher Weisheit und Erfahrung, zu der sich die erleuchteten Augen der Bekenner des Herrn erheben, denen die um ihn her versammelt sind vorzutragen? Das Wort soll von Herzen kommen, daß es zu Herzen gehe; aber es kommt nur von Herzen, wenn er sich gebunden fühlt im Geist, wenn er einen Antrieb hat nicht von Menschen, sondern allein von der Kraft des göttlichen Wortes in ihm. Dann ist die ganze | Seele ergriffen, dann nur ist er sicher auf seinem Wege, dann nur hat er nach der Verheißung unsers Herrn, daß wo 42–1 Vgl. Mt 18,20

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zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen er mitten unter ihnen sei und ihnen seinen Geist den Tröster senden werde, der sie in alle Wahrheit leite, dann nur hat er nach dieser Verheißung reiche Früchte seiner Bemühungen zu erwarten, indem das von Herzen zu Herzen geht, was der Geist in ihm angeregt hat. So, m. g. F., mögen wir sehen auf das Große oder auf das Geringe, mögen wir sehen auf das selten Wiederkehrende oder auf das Alltägliche: o wohl dem, müßen wir ausrufen, der sich bei jeder Gelegenheit, wo er nicht schon durch den | Buchstaben der Pflicht gebunden ist, gebunden fühlt im Geist; der allein geht sicher seinen Weg! Aber eben deßwegen wo wir uns so fühlen, wo wir frei sind von jedem Schwanken und von jeder Unsicherheit in uns, o da laßt uns dem Beispiel des Apostels treu bleiben; und wäre es selbst der weißagende Geist, wäre es selbst die ernste und heilige Stimme, die uns Trübsal und Bande und Verfolgung aller Art verkünden wollte; wer sich gebunden fühlt im Geist, der tritt selbst dem Geist in der Kraft des Geistes entgegen; und wo wir davon weichen da verfehlen wir unsers Berufs, da verlieren wir jene Festigkeit des Herzens, die den Jüngern des Herrn in der Unsicherheit und in den Stürmen des irdischen Lebens | nothwendig ist, wenn sie ihm dem Herrn und Meister treu bleiben und seinem Vorbilde gemäß wandeln wollen; und indem wir einen Augenblik untreu sind und uns abwendig machen laßen der Stimme des Geistes, die uns binden wollte nicht zu folgen, so verlieren wir die Festigkeit in der Uebung der Treue für jeden künftigen immer mehr. Ja, m. g. F., vom Kleinsten und Alltäglichen laßt uns wieder zurükkehren zum Größten. Die Ähnlichkeit zwischen dem Fall, den wir uns jezt vorgehalten haben, und dem was das Ende unsers Erlösers, was seinen heilbringenden erlösenden Tod herbeiführte, sie ist gewiß auffallend. Dem Apostel wurden geweißagt durch die Stimme des Geistes Bande und Trübsal, die ihn erwarteten; und er fand sie, er gerieth | in die Hände seiner Feinde, er wurde abgeführt in die Kaiserstadt nach langer Gefangenschaft, und wir wißen nicht hat er schon damals den Tod gelitten für das Evangelium, oder ist es ihm noch einige Jahre vergönnt gewesen für das Reich seines Herrn und Meisters segensreich zu wirken. Dem Erlöser ertönte die Stimme des Geistes, die den Apostel warnte, in seinem Innern selbst, er vernahm es nicht von außen, aber er weißagte und sagte seinen Jüngern „wir gehen hinauf gen Jerusalem, und des Menschen Sohn wird überantwortet werden den Hohenpriestern und Schriftgelehrten, und sie werden ihn verdammen zum Tode, und es wird Alles vollendet werden.“ Aber so klar er | dies einsah, so fest war er gebunden im Geist, ohnerachtet er sich auch hätte Entschuldigungen machen können, die wohl bestanden hätten mit dem Buchstaben der Pflicht, daß er den Samen der Lehre, den er ausgestreut in die Herzen 2–3 Vgl. Joh 15,26; 16,13 Mk 10,33 37 Lk 18,31

28–29 Vgl. Apg 28,16–17

34–37 Mt 20,18;

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seiner Anhänger, erst müße zur Reife bringen, ehe er die Welt verlaßen und zurükgehen könne zu seinem Vater; aber er wußte, wie schon ehe er hinkam auf dem Feste seiner geharrt, und wie gefragt worden ob er wohl den Muth haben würde auch diesmal zu erscheinen, und nichts scheuen um seines Berufes willen, oder ob er sich verbergen würde vor seinen Widersachern. Da war er gebunden im Geist diesen Augenblik seinen Beruf geltend zu machen. Und die Bande | die seiner warteten, und der Tod der seiner wartete, waren das Heil der Welt. Und wie wir ihm von ferne nachfolgen sollen aber festen Schrittes auf seiner Bahn, und wie er selbst sich nicht schämt uns Freunde und Brüder zu heißen, und geweißagt hat, daß wir auch uns unter einander so nennen sollen, daß es den Jüngern nicht beßer ergehen werde denn dem Meister, und daß wie die Welt ihn gehaßt und verfolgt hat so auch die Seinigen leiden würden um seines Namens willen: so mögen wir uns deßen trösten, daß, wenn wir nur bleiben wo wir uns gebunden fühlen, und dem Geiste der uns binden will nicht widerstreben, warten unser auch Bande und Trübsal, es wird auch ein wenn gleich nur | geringer Theil sein an der Weiterförderung des Heils der Menschen, und aus dem was uns Uebeles begegnet, wird Gott, der Alles vor allem aber das Reich seines Sohnes auf Erden mit ewiger Weisheit leitet, Gutes herbeizuführen wißen. Und so kommt uns aus jenem der herrliche Trost, daß denen die Gott lieben und der Stimme seines Geistes treu sind, Alles zum Besten gereichen muß, eben deswegen weil sie nur das Heil und das Beste der Welt in ihrem Herzen tragen. Amen.

[Liederblatt vom 12. November 1820:] Am 24sten Sonntage nach Trinitatis 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. [1.] Ich komme Friedensfürst zu dir; / Erbarmend rufest du auch mir / Den Frieden zu empfangen; / Der Sünden Last ist mir zu schwer, / O laß mich nicht von Troste leer, / Laß mich zur Ruh gelangen. / Sieh an mein tiefgebeugtes Herz, / Sieh meiner Seele Angst und Schmerz! / Wer tröstet mich als du allein? / Wer macht mich sonst von Sünden rein? / Herr Jesu Christ, / Mein Trost mein Licht, mein Trost mein Licht, / Verwirf mein sehnlich Flehen nicht. // [2.] Du du bist meine Zuversicht! / Durch dich komm ich nicht ins Gericht, / Du tilgest meine Sünden; / Durch dich kann ich dem Fluch entgehn, / Und mich mit Gott vereinigt sehn, / Durch dich das Leben finden. / 2–6 Vgl. Joh 7,11–13 9–10 Vgl. Joh 15,14–15 Mk 13,9–13; Lk 21,12–17 20–22 Vgl. Röm 8,28

11–13 Vgl. Mt 10,17–25;

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Dein Tod ist der Verlornen Heil; / Sein Segen werd’ auch mir zu Theil! / Er sei auch mir Beruhigung, / Erwecke mich zur Heiligung! / Herr Jesu Christ, / Ich hoff’ auf dich! ich hoff’ auf dich. / Du giebst mir Trost, du stärkest mich. // [3.] Mein ganzes Leben preise dich! / Erlöst, o Mittler, hast du mich, / Dein Eigenthum zu werden. / Bin ich nur dein, so fehlt mir nichts; / Nichts einst am Tage des Gerichts, / Und nichts schon hier auf Erden. / Auf dieser Bahn ins Vaterland / Entzeuch mir niemals deine Hand; / Zu allem Guten stärke mich, / Und laß mich siegen einst durch dich! / Herr Jesu Christ, / Mein Trost und Licht! mein Trost und Licht / Bleibst du, auch wenn mein Herz mir bricht. // (Sturm) Nach dem Gebet. – Mel. Jesu der du meine etc. [1.] Muthig, muthig! bald errungen, / Ist das Ziel von jeder Pein! / Bald ist jeder Schmerz verschlungen, / Von der Freude frei zu sein, / Frei von Sorgen und Gefahren, / Die mir oft zu drückend waren. / Unaussprechlich zärtlich liebt / Er, der uns durch Leiden übt. // [2.] Ich will harren, hoffen, schweigen; / Mein Erbarmer ist mir nah. / Betend soll mein Geist sich beugen; / Wo ich leide, Gott ist da! / Im Verborgnen wo ich weine, / Bleibt von meinen Thränen keine, / Dem der mich in Schwachheit stärkt, / Meinem Vater unbemerkt. // [3.] Seine Vateraugen blicken / Sanften Trost auf mich herab; / Und die Lasten, die mich drücken, / Nimmt er einst gewiß mir ab. / Bis zum lezten trüben Tage / Stärkt er mich, daß ich sie trage; / Wenn mein Herz verschmachten will, / Ruft er, Kind, sei froh und still. // [4.] Jesus Christus trug im Staube / Muthig seines Leidens Last; / Und auch mich erhebt der Glaube, / Der die Ewigkeit umfaßt. / Gott, mein Vater, sieht mein Leiden / Gott, mein Vater, sieht die Freuden, / Die das Leiden mir gewährt, / Wenn mein Herz ihn duldend ehrt. // [5.] Fließet denn, ihr stillen Thränen, / Gott im Himmel zählet euch. / Er bemerket all mein Sehnen, / Er ist gnädig und ist reich, / Naht sich freundlich meinem Herzen, / Reinigt es durch Angst und Schmerzen, / Lenkt und reißet meinen Sinn / Ganz zu seiner Liebe hin. // [6.] Bald erscheint die letzte Stunde, / Meiner Thränen lezte, bald! / O dann heilet jede Wunde, / Und der Gnade Stimme schallt, / „Ueberstanden, überstanden, / Sei erlöst von allen Banden, / Sei befreit von jeder Pein, / Treue Seele komm herein.“ // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Es ist das Heil etc. Wie Gott mich führt so will ich gehn, / Durch Freuden oder Leiden; / Hier kann ich nicht sein Antlitz sehn, / Dort schau ich’s, und voll Freuden! / Dort seh ich, daß sein Vaterrath / Mich treu und wohl geführet hat. / Dies sei mein Glaubensanker. //

Am 26. November 1820 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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26. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Thess 4,13–14.18 Nachschrift; SAr 76, Bl. 117v–134r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 100, Bl. 74r–84r; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 54v–56r; Gemberg Nachschrift; SAr 51, Bl. 63r–66v; Maquet (Andrae) Nachschrift; SAr 54, Bl. 53r–62v; Schirmer Nachschrift; FHDS 34, 105 (ediert bei Bauer) Druck; Ungedruckte Predigten, ed. Bauer, 1909, S. 9–16 Zur Überlieferung vgl. Einleitung, II.3.G. Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am sechsundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1820 am Totenfest am sechsundzwanzigsten Reifmonds. | Tex t. 1. Theßalonicher IV, 13, 14, 18. Wir wollen euch aber lieben Brüder nicht verhalten von denen die da schlafen, auf daß ihr nicht traurig seid wie die andern, die keine Hoffnung haben. Denn so wir glauben daß Jesus gestorben und auferstanden ist, also wird Gott auch die da entschlafen sind durch Jesum mit ihm führen, und werden also bei dem Herrn sein allezeit. So tröstet euch nun mit diesen Worten unter einander. M. a. F., Wir dürfen diese Worte nur vernommen haben, um es alle zu fühlen, daß es ein schönes und willkommnes Fest ist, welches noch neu unter uns und erst seit einigen Jahren in unsrer Kirche eingeführt, | uns am Ende 1 1820] 1821 1820.

4 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Predigt am Todtenfest

9 Der durch den Textzeugen mitgeteilte Bibeltext enthält den Schluss von V. 17. Dadurch wird die Aussage wie in der Predigt direkt auf die Entschlafenen bezogen. 12– 13 König Friedrich Wilhelm III. hatte, zuächst veranlasst durch die Toten der Befreiungskriege, in Preußen durch Kabinettsorder vom 24. April und vom 17. November 1816 ein „Allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen am letzten Sonntag des Kirchenjahrs“ eingeführt.

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eines jeglichen Kirchenjahres vereint zu dem Gedächtniß derer, die unter uns entschlafen sind – ein willkommnes Fest nicht nur denen, die noch eben bedürfen getröstet zu werden mit diesen Worten und aufgerichtet in ihrer Seele, daß ihre Traurigkeit nicht gleiche der Traurigkeit derer die keine Hoffnung haben, sondern auch willkommen denjenigen unter uns, und das sind ja die meisten, die der gnädige Wille Gottes in dem vergangenen Jahre verschont hat, daß sie nichts vermißen aus dem Kreise ihrer Geliebten; denn indem auch sie aufgefordert werden zu jener hoffnungsvollen Traurigkeit, werden sie geweckt zum Mitgefühl mit dem ungünstigeren | Loose ihrer Brüder und Schwestern, und eben dadurch bereitet, was sie selbst andern lindern mögen mit dem Balsam khristlicher Liebe, auch selbst eben dieser Liebe und des Glaubens, auf den sie gebaut ist, würdig zu tragen, wenn der Herr es verhängt – willkommen endlich auch denen muß es sein, denen eine Wunde geschlagen ist, die vielleicht schon anfängt zu vernarben; und wir dürfen es nicht fürchten, ihr Gefühl und ihren Schmerz aufs neue aufzuregen, denn er soll, wird er auch erneuert, zugleich veredelt werden eben durch die Kraft der herrlichen Worte, mit denen wir uns untereinander aufrichten. Denn das, m. g. F., ist nicht die Meinung des Apostels, daß wir nicht trauern sollen, diejenigen verloren zu haben aus unsrer Mitte, | die der Herr abrief; aber unsre Traurigkeit soll nur nicht gleichen der Traurigkeit der andern, die keine Hoffnung haben. Denn diese, so wie sie auf der einen Seite leidenschaftlicher bewegt werden und durchschauert, wenn irgend in ihrer Nähe und sie selbst mahnend der Tod ein menschliches Leben abschneidet, so endet, wie eine jede leidenschaftliche Bewegung des Gemüths, auch diese in ein dumpfes Gefühl innerer Leere, und wie es nur das Bewußtsein ist von dem zerrütteten Zustand der menschlichen Natur, welches ihnen die Hoffnung raubt; so endet auch ihre Traurigkeit immer wieder aufs neue in das Gefühl der Unwürdigkeit des Menschen und eben deßhalb der Nichtigkeit aller menschlichen Dinge. Vor dieser Traurigkeit sollen wir | bewahrt werden, und was irgend in unsrer Empfindung noch eine Ähnlichkeit mit ihr hätte, das soll hinweggenommen werden durch die tröstlichen und aufrichtenden Worte des Apostels. Aber worin, m. g. F., worin sieht er denn den Trost und die fromme ermuthigende Linderung für den edelsten menschlichen Schmerz? Darin daß er uns vorhält, daß diejenigen die entschlafen sind in dem Herrn bei ihm sein werden allezeit. Und auf diese khristliche Weise laßt uns, m. g. F., heute gedenken unsrer Entschlafenen, und es uns zu Gemüthe führen, wie uns die Gewißheit trösten muß, daß sie bei dem Herrn sein werden allezeit. Was ist es aber, was wir selbst wißen von dem Herrn, seit er verlaßen | hat den Schauplaz seines menschlichen irdischen Lebens? Er selbst hat gesagt, er gehe zurük zu sei40–1 Vgl. Joh 20,17

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nem Gott und unserm Gott, zu seinem Vater und unserm Vater; und seitdem spricht die Kirche herrlich und triumphirend, er size zur Rechten Gottes, von dannen er wieder kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten. Er selbst sagt, er bleibe bei uns alle Tage bis an der Welt Ende. Und eben dieses beides also, m. g. F., haben wir anzuwenden auf diejenigen, die in dem Herrn entschlafen sind: sie werden bei dem sein der erhöht ist zur Rechten Gottes; sie werden bei dem sein, welcher unter uns ist alle Tage bis an der Welt Ende.

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I. Zuerst also, m. g. F., wenn wir es uns tröstend wiederholen, der Herr | ist aufgefahren und sizet zur Rechten Gottes, und seine Toten werden bei ihm sein allezeit, wie beschäftigt das aber ohne sie zu befriedigen unsre in das Unendliche hinausschweifenden Gedanken. Aber, m. g. F., kein Wort verführe uns nach der Weise begeisterter Seher in den lebendigsten Bildern ausgesprochen, keine Darstellung im Vertrauen darauf, daß wir doch wißen, es gäbe kein Bildniß und kein Gleichniß von dem ewigen Wesen, hingeworfen vor das menschliche Auge, keines verführe uns zu dem Gedanken, als ob wir uns hierunter irgend etwas Leibliches und Sinnliches zu denken haben. Fleisch und Blut kann Gott nicht schauen, auch nicht das verklärteste, auch nicht das herrlichste, denn Gott ist ein Geist und er hat keine Stätte, | wo er wohne vor der andern, sein Thron ist überall in dem weiten Gebiet seiner Schöpfung, und überall auch seine Rechte. Und wie der Herr selbst seine Jünger immer zurükwies, wenn sie fragten nach Zeit und Stunde der Aufrichtung seines Reiches oder seiner fröhlichen Wiederkehr, so laßt auch uns, m. g. F., uns nicht verführen, irgend Zeit und Stunde unterzulegen jenen tröstlichen Worten des Apostels, daß unsre Entschlafenen bei dem Herrn sein werden allezeit. Denn so wie für ihn selbst es einen Zwischenraum gab zwischen seiner Ueberwindung des Todes und seiner Rükkehr zum Vater, in Beziehung auf welchen er selbst sagt, ich bin noch nicht aufgefahren zu meinem und zu eurem Gott: so wirft auch der Apostel | in dem Zusammenhange unsers Textes einen unbestimmten Zwischenraum zwischen den Augenblik, wo der Mensch hinweggerafft wird nach dem menschlichen Schiksal von dem Tode, und zwischen den, von welchem er auch bildlich uns sagt, die Todten würden mit denen, die da überblieben von der Zukunft des Herrn an bei ihm sein allezeit. Wie? so sind es also auch nur dunkle unbestimmte Worte, mit denen der Apostel uns tröstet, 22 seine Rechte] so SAr 54, Bl. 55r; FHDS 34, 105, S. 5; Textzeuge: sein Recht 2–4 Vgl. das Apostolische Glaubensbekenntnis Mt 24,3–4; Mk 13,3–5; Lk 21,7–8; Apg 1,6–7 35 Vgl. 1Thess 4,17

4 Vgl. Mt 28,20 22–25 Vgl. 29–30 Vgl. Joh 20,17 34–

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und mit denen wir uns unter einander trösten sollen? so dürfen wir uns und können uns also kein erfreuliches Bild, wie es dem sinnlichen Menschen am tiefsten haftet in der Seele, entwerfen von jener Theilnahme auch unsrer Todten an dem Sizen zur Rechten Gottes? und wißen auch hier nicht eben so wenig Art und Weise als Zeit und Stunde? Ja so ist es; aber diese Unwißenheit | soll uns nicht traurig machen gegen den Sinn des großen Apostels, der zum Trost aller Gläubigen für alle Zeiten diese Worte niedergeschrieben hat. Denn sizet der Herr zur Rechten Gottes, und werden seine Entschlafenen bei ihm sein allezeit, so wißen wir doch dies, daß eben in jenem ausgedrükt ist jene enge und innige Beziehung, die der Sohn hat zu dem Vater, jene Herrlichkeit, von der er selbst sagt, er habe sie bei dem Vater gehabt ehe denn der Welt Grund gelegt war, und eben dieses Sein unsrer Entschlafenen bei dem Herrn, es ist also eine Theilnahme an dieser innigen Beziehung deßelben mit Gott, den auch er so tröstend unsern wie seinen Vater nennt. Sizet er zu seiner Rechten, und sind sie bei ihm alle|zeit: o so ruhen nun auch sie in dem Schooße nicht nur der göttlichen Allmacht, sondern der Liebe, mit welcher der Vater den Sohn liebt, und um seinetwillen alle diejenigen, die er ihm darstellt als die Seinigen, als die von Gott ihm anvertrauten und von ihm zu dem Vater hingezogenen. Darum in diesem Glauben ruhend wollen wir uns nicht ihn verderben, indem wir den gnädigen Verheißungen Gottes zusezen irgend welche seien es nun Klügeleien menschlicher Weisheit oder vorwizige Gebilde sinnlicher Gedanken und Darstellungen, sondern in diesem Glauben sind wir erhaben über den Zustand derer, die da trauern als solche, welche keine Hoffnung haben. Aber, m. g. F., auch nur in diesem Glauben, denn der Apo|stel selbst weiß für denselben keinen andern Grund als den weil Jesus ist gestorben und auferstanden von den Todten, so wird der Herr diejenigen welche in ihm gestorben sind auch mit ihm führen, und werden sie bei ihm sein allezeit. Was war es, meine theuren Freunde, um die menschliche Hoffnung in dieser Hinsicht, ehe der Sohn des ewigen Vaters Unsterblichkeit an das Licht gebracht hat? O es fühlte wohl der Mensch in sich etwas eines höheren Schauplazes als dieser Erde würdig, etwas eines höheren Ursprungs als alles was um uns her vergänglich ist und der Zerstörung geweiht, er fühlte es und mancherlei sehnsüchtige Ahnungen durchzogen seine Brust, und begeisterten | seine Seele zu hoffnungsvollen Bildern bald heller und in prächtigen Farben ausgemahlt, bald sich bescheidener verlierend in trübe Vorstellungen und dunkle Schatten; aber er fühlte auch zugleich, je tiefer er in das Innere seines zerrütteten Zustandes eindrang, je mehr er Zeugniß geben mußte von dem Siege des Fleisches und von der Ohnmacht des Gesetzes, welches er in seinem Geiste fühlte, um desto mehr müßte er sich bewußt 11–12 Vgl. Joh 17,5.24 40 Vgl. Röm 7,23.25

14–15 Vgl. Joh 20,17

30–31 Vgl. 2Tim 1,10

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werden, daß er keine Ansprüche habe, die er geltend machen könne, und daß er selbst befangen sei in dem vergänglichen Wesen dieser Welt. Und darum muß man es als eine würdige Demuth denen anrechnen, die es nicht wagten weder jene | hoffnungsvollen Bilder sich zuzueignen, noch auch mit jenen trüberen Vorstellungen sich vertraut zu machen, sondern meinten es sei genug, daß das ewige Wesen erhalte die Kraft, welche immer wieder neue Geschlechter der Menschen hervorruft, denen alle Schäze des Guten ach leider auch mit dem unverweslichen Keime des Bösen wieder übergeben werden, und daß ein solches Leben auf das andre folge, soweit wir in die Zukunft schauen können. Und in diesem Wogen zwischen Hoffnung und Furcht bewegten sich die Geschlechter der Menschen und hätten sich immer bewegen müßen, wenn nicht Jesus gestorben wäre und auferstanden von den Todten. Denn er, m. g. F., das fühlen wir, er hat | Ansprüche über die Vergänglichkeit dieses Lebens hinaus, nachdem das Wort Fleisch geworden ist, und er wie andre Menschenkinder Fleisch und Blut angenommen hat, er der Abglanz des göttlichen Wesens und das Ebenbild seiner Herrlichkeit; nun fühlen wir es und wißen, welcher Einigung mit dem höchsten Wesen die menschliche Natur fähig ist, und weil wir uns gläubig an ihn von ihm nicht trennen können, o so dringt mit dem frohen Bewußtsein, daß er ewig ist und unvergänglich der Sohn Gottes, das herrliche Wort, daß wo er ist er auch will, daß alle die Seinigen sein sollen, in unser Herz, und vertreibt aus demselben alle bange Sorgen, und wie wir es fühlen, daß wir keine Ansprüche haben könnten an Unsterblichkeit und ewiges Leben, wenn | es der menschlichen Natur nicht von Ewigkeit bestimmt gewesen wäre, den Sohn Gottes in sich aufzunehmen, so gewiß wißen wir nun, daß auch unser ist seine Unsterblichkeit, und daß wir Theil haben sollen an allen seinen ewigen Gütern, an seiner Gerechtigkeit und Herrlichkeit. Darum genügt es uns mit dem was er und was seine heiligen Apostel gesagt haben, und unsere Todten, die in dem Herrn entschlafen, wir übergeben sie der sterblichen Hülle nach mit sammt dem Schmerze dem Schooße der Erde, dem unsterblichen Geiste nach mit frohem gläubigem Vertrauen den Händen des ewigen Vaters, in welche der Herr selbst seinen Geist empfohlen hat, als er von hinnen schied. | II. Aber, m. g. F., laßt uns nun zurükkehren von dem Himmel auf die Erde, und eine menschliche Rede von menschlichen Dingen auch menschlich endi30 sammt dem Schmerze] so SAr 54, Bl. 58r; FHDS 34, 105, S. 11; Textzeuge: sanften Schmerzen 14–15 Joh 1,14 Lk 23,46

16–17 Vgl. Hebr 1,3

21 Vgl. Joh 17,24

32–33 Vgl.

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gen, indem wir nun auch daran noch gedenken und uns deßen trösten, daß, wie der Herr bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende, so sind also auch diejenigen welche vor uns hingegangen sind, aber bei ihm sein werden allezeit, mit ihm auch bei uns. Denn das ist ja das Tröstliche was uns gesagt ist von der ewigen Herrlichkeit des göttlichen Sohnes, daß er nur leiblich von uns geschieden ist, aber in der Kraft seines Geistes, in dem Einfluß auf unsre Seelen und auf die Gemeinschaft derselben, die | der Leib des Herrn ist und er das Haupt daran, bei uns ist alle Tage bis an der Welt Ende. Und so gewiß es wahr ist was der Apostel sagt, daß die in dem Herrn entschlafen sind bei ihm sein werden allezeit, so gewiß muß es auch wahr sein, daß sie jeder nach seinem Maaße theil haben an dieser belebenden Gegenwart, mit welcher er selbst der Sohn Gottes unter uns waltet und wohnt. Nach dem Maaße, sage ich, wie jeder mit ihm selbst vereint gewesen ist, wie jeder in seinem Wirken auf Erden für das Reich Gottes und in demselben ihm nahe gestanden hat. Der Herr, m. g. F., der ist alle Tage bis an der Welt Ende unter uns und also auch | unter denen, die ihn nie mit leiblichen Augen geschaut haben; aber er könnte es nicht sein, wenn nicht unter uns wäre und wohnte sein Wort, wenn nicht seine Jünger uns aufbewahrt hätten die Züge seines Bildes, deren Vergegenwärtigung, die holden Worte seines Mundes, deren lebendige Erinnerung zu Hülfe kommt verbindend unterstützend und wirkend allen inneren geheimen und verborgenen Wirkungen seiner unsichtbaren Nähe, seiner geistigen Gegenwart. Und so sind also auch diejenigen unter uns alle Tage uns nahe und in lebendiger Kraft uns gegenwärtig, die eben jene Züge seines Bildes und jene Worte seines Mundes uns aufbehalten haben jeder nach seiner Art und nach seinem Maaße. | Und so manche von seinen treuen Dienern, deren Wort auch noch nicht verhallt ist, deren Gedächtniß in einer langen Reihe von Jahrhunderten noch nicht untergegangen ist in der Geschichte der khristlichen Kirche, wo das Kleinere vom Größeren immer von neuem verschlungen, und nur das Größere und Größte hinübergetragen wird in die ferne Reihe der Jahrhunderte; und jene Männer die nach manchem Jahrhunderte der Finsterniß und der Verunreinigung in dem Umfange der khristlichen Kirche von dem Wort des Herrn gerufen, von seinem Geiste belebt, das Licht des Evangeliums aufs neue entzündet haben, für deßen hellen Schein wir Gott danken in jeder unsrer gemeinsamen Zusammenkünfte, – auch sie | sind sie nicht immer noch unter uns und wirken fort mit ihrem lebendigen Geiste, daß ihren Zügen ähnlich und durch ihr Wort befriedigend dargestellt 29 Größeren] so SAr 54, Bl. 59r; FHDS 34, 105, S. 13; Textzeuge: Kleinerem 2.15–16 Vgl. Mt 28,20 7–9 Vgl. Eph 1,22–23; Kol 1,18; Mt 28,20 35 Vgl. Kirchen-Gebethe, Berlin 1741, S. 3–8, hier S. 4

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der Geist khristlichen Lebens und Glaubens sich unter uns gestaltet, und ihr Wort wie das Wort des treuen Dieners immer weiter getragen, und immer frischer zugeführt wird den heilsbedürftigen und heilsbegierigen Seelen. So abwärts und immer abwärts, o welche Fülle lebendiger Gegenwart selig entschlafener Geister! Wie einer Großes gewirkt hat im Reiche Gottes, in demselben Maaße ist er auch noch wirksam lange nachdem er von hinnen geschieden ist. Wie er beigetragen hat das Licht zu scheiden von der Finsterniß, der Wahrheit Bahn zu machen unter dem Geschlechte der Menschen, und das Bild des Erlösers lebendig zu erhalten unter | denen, die sich nach seinem Namen nennen, in demselben Maaße bleibt jeder gegenwärtig manche Reihe von menschlichen Geschlechtern. Wir aber, m. g. F., wir begnügen uns, wie es uns geziemt, wenn auch wir einst dahingegangen sind, gegenwärtig zu bleiben denen die unmittelbar mit uns gelebt haben, und auf nähere Weise unser Dasein theilten, und so auch erfreuen wir uns an dem Gedächtniß der lebendigen Gegenwart derer die der Herr von uns genommen hat, und fühlen es, wie sie uns werth gewesen sind, wie sie im lebendigen Zusammenhange unter uns gelebt haben, wie sie Eins gewesen sind mit den ihnen vertrauten Herzen, so bleiben sie uns auch gegenwärtig und nahe, bis wir selbst wiederum von ihren leisesten Einwirkungen getragen | dieses irdische Leben verlaßen. Und, m. g. F., allgemein ist dieser herrliche und erquickende Trost, und von allen kann es gesagt und soll es gefühlt werden, die wahrhaft in dem Herrn entschlafen sind – nicht nur von denen, die jeder von uns als Leitsterne seines Lebens, als vorangehende Vorbilder geliebt und geehrt hat, nein wie wir es mit einander gesungen haben, auch die, welche früh und kaum entwikelt den Schauplaz des Lebens verlaßen mußten, auch sie ruhen in dem Frieden Gottes, der wie überhaupt der wahre Friede Gottes das Herz erquikt und stärkt. Auch unsrer Kleinen in dem Herrn Entschlafenen Gedächtniß ist eine unser Leben erfrischende Kraft. In mancher freudigen Erinnerung kommen uns die Züge der Gestalten, die uns | verlaßen haben, entgegen; jede Ahnung des noch nicht entwikelten göttlichen Keimes in ihrer Seele gebiert uns eine stärkende Hoffnung, und hält uns an dem Wege fest, der hinauf geht bis dahin wo der Erlöser zur Rechten des Vaters sizt. Ja auch diejenigen, wie man auch von den Todten neben dem Guten das Wahre denken und empfinden soll, auch diejenigen, welche uns mit dem Bilde khristlichen Glaubens und khristlicher Liebe hinterlaßen haben das Bild noch unbesiegter menschlicher Schwachheiten, auch sie sind uns auf eine belehrende, auf eine heil32 Wege] so SAr 54, Bl. 60v; FHDS 34, 105, S. 15; Textzeuge: Ringe 24–25 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet: „Laßt sie ruhn in Gottes Frieden, / Sie, die, hier begrüßet kaum, / Frühe schon hinüberschieden / Aus des Lebens Morgentraum“ (unten Anhang)

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bringende Weise nahe und gegenwärtig in treuem Gedächtniß, so gewiß sie uns lieb und werth, so gewiß sie Gegenstände unsrer khristlichen Sorge, unsrer zärtlichen Theilnahme | und vielleicht auch unserer liebenden Weisheit gewesen sind. Und keiner, keiner ist ausgenommen von dieser herrlichen Theilnahme an dem Weilen und Wirken des göttlichen Sohnes auf Erden. Denn der Tod, m. g. F., wie er gewöhnlich die Züge der sterblichen Hülle verklärt, so verklärt er auch in der Seele das Bild des Dahingeschiedenen, und was wir zurükbehalten, das ist das Gefühl von der Kraft des Geistes, die sich noch herrlicher würde bewährt haben in dem Siege über alle menschliche Schwachheiten, wenn ihr noch mehr Raum wäre vergönnt gewesen in dem irdischen Leben. Und wie alles was wir beklagen als menschliches Verderben in der menschlichen Natur, wie sie aus der Hand Gottes gekommen ist, einen guten schuldlosen zum Wesen des Menschen unerlaßlichen Grund hat, | so verklärt sich auch im Bilde der Entschlafenen alles leicht, was noch die Spuren des Unvollkommenen an sich trägt, in die Einigung alles deßen was natürlich rein und gut ist mit dem lebendigen Geiste von oben. Und so segnet uns das Andenken unsrer Entschlafenen mit der Hoffnung, daß eben diese Kraft auch in uns immer mehr besiegen werde alles dasjenige was noch nicht geeinigt ist mit unserm Herrn und noch nicht durchdrungen von seinem Geist. So, m. g. F., verschwinden uns denn in dieser menschlichen Betrachtung die dunklen Schatten, welche jene höhere noch zurükließ. In diesem lebendigen Walten und Wirken der Entschlafenen in und mit unserm Herrn fühlen wir, wie beides Eins ist in ihm Himmel und Erde, die streitende Kirche | hier und die siegende dort, beide von Einem Geiste durchdrungen, von Einem Haupt regiert, und in dem Walten dieses Hauptes, in dem Wirken dieses Geistes Ein unzertrennliches Ganze vor Gott und Eins im lebendigen Glauben durch den Herrn getrösteter und aufgerichteter und befestigter Gemüther. Unmerklich geht aus dieser Welt in jene ein Geschlecht der Menschen nach dem andern hinüber; und wie wir heute jeder in der Stille seines Herzens manches Gedächtniß begehen, der in dem nun bereits abgelaufenen Jahre Entschlafenen, so sind, ja es sind gewiß auch unter uns manche, die in dem Jahre, welchem wir nun entgegen gehen, der Herr abrufen wird aus diesem irdischen Leben. O was kann uns mehr am Herzen liegen nach dieser tröstlichen Betrachtung, an der wir uns mit | einander gestärkt haben, als daß wir es denen die wir zurüklaßen werden, leicht machen mögen unser Andenken fest zu halten im Herzen, daß sie nicht viel mögen umzugestalten haben und wegzuwischen, um ein immer erfreuliches und stärkendes Bild 3 liebenden] so SAr 54, Bl. 61r; FHDS 34, 105, S. 15; Textzeuge: leitenden 29 Welt] Ergänzung aus SAr 54, Bl. 61v; FHDS 34, 105, S. 17 31–32 Entschlafenen] so SAr 51, Bl. 66r; Textzeuge: entschlafen ist 37 im Herzen] so SAr 54, Bl. 62v; FHDS 34, Nr. 105, S. 17; Textzeuge: in Segen

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in ihrer Seele zurükzubehalten, und daß die Festigkeit des Glaubens, die ungefärbte Treue gegen unsern Herrn und Erlöser, und die reine Liebe, mit der wir ihm und der Gemeinschaft seiner Gläubigen zugethan sind, auch dann noch wenn wir diese Erde verlaßen haben leitend wirken möge von dem Schauplaz dieser Welt hinüber zu dem Bewußtsein und dem frohen Gefühl der Theilnahme an der Herrlichkeit, die noch nicht erschienen ist, aber offen|bart werden soll an allen denen, welche den geliebt haben der da ist der Anfang und das Ende. Amen. Heiliger barmherziger Gott und Vater, nicht im traurigen Gefühle der Nichtigkeit alles Irdischen gedenken wir bei dem Ablauf eines Jahres derer die du aus diesem Leben abgerufen hast, sondern dir dankend dafür, daß du sie und uns aufgenommen hast in die Gemeinschaft deines Sohnes, der Leben und Unsterblichkeit an das Licht gebracht hat; dankend dir für alle Gnade und Barmherzigkeit, die du auch ihnen erwiesen durch die Wirkungen deines Wortes, durch das Walten deines Geistes in ihren Herzen, und durch den mannichfaltigen Segen, den du ihnen geschenkt in ihrem Beruf auf Erden und in dem ganzen Verlauf ihres irdischen Daseins; dankend dir dafür, daß | dein Sohn für alle die an ihn glauben den Stachel des Todes hinweggenommen hat, und daß er uns nichts ist als der Durchgang zu der innigeren und näheren Gemeinschaft mit dir. O erhalte du uns in lebendiger Hoffnung durch die Kraft deines Geistes in der Gemeinschaft mit dem, der alle Tage unter uns sein will bis an das Ende der Welt, und in der lebendigen Gemeinschaft des Geistes mit allen denen, die uns vorangegangen sind zu ihm, und die im Glauben an ihn entschlafen sind. So segne denn in dieser Gemeinschaft und durch sie die Gemeine deines Sohnes, die noch hier wallet. Laß überall unter uns, wie wir dir dafür danken in dem nun abgelaufenen Jahre, so auch in Zukunft gesegnet sein die Verkündigung, deines Wortes und die Darreichung der | Gnadenmittel, welche dein Sohn seiner Gemeine zurükgelaßen hat, daß alle dadurch gestärkt werden in dem lebendigen und seligmachenden Glauben. Schaffe aber auch deiner Kirche treue Pfleger und Versorger an allen Obrigkeiten Fürsten und Königen khristlichen Völker. Vor allem laß deine Gnade und Barmherzigkeit groß sein über unserm theuern geliebten König und über dem ganzen königlichen Hause; unter deinem Schutz und Schirm sei es uns immer ein erfreuliches Beispiel eines wahrhaft khristlichen Wohlergehens. Dem Könige aber erhalte zu seiner Regierung den Beistand deines Geistes; umgieb ihn mit treuen Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen was recht und wohlgefällig ist vor dir. Erhalte ihm treue und gehorsame Unterthanen in dem 6–8 Vgl. Kol 3,4; Offb 1,8; 21,6; 22,13

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ganzen Umfange seines Reiches, damit wir unter seinem Schutz und Schirm | des Namens eines khristlichen Volkes würdig werden, und eine deinem Sohn wohlgefällige Gemeine seiner Gläubigen darstellen mögen. Dazu, gütiger Gott und Vater, segne einen jeden unter uns in dem Kreise seines häuslichen Lebens und seines bürgerlichen Berufs, und laß es keinem fehlen an den Beweisen deiner Gnade und Treue, damit jeder erfahre, daß er sei ein von dir gesegneter Arbeiter in deinem Weinberge. Nimm du dich aller derer an die in den Trübsalen und Widerwärtigkeiten dieses Lebens ihre Zuflucht zu dir nehmen. Tröste du alle die du getrübt hast in dem abgelaufenen Jahre, und laß das Gefühl seliger Gemeinschaft mit den Gläubigen welche dahingeschieden sind, den Schmerz über den Tod besiegen, daß wir so immer reichlicher die Er|fahrung machen, wie allen denen wohl ist, die auf dich vertrauen, und wie allen denen die dich lieben, auch alles was du ihnen sendest eine Gabe des Friedens ist, und ihnen gereicht zum Heil. Amen.

[Liederblatt vom 26. November 1820:] Am Todtenfest 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Ich hab mein Sach etc. [1.] Dein sind wir Gott in Ewigkeit / In Deiner Hand steht unsre Zeit, / Du hast der ganzen Menschenschaar / Ihr Todesjahr / Bestimmt, als keine Zeit noch war. // [2.] Wenn nun zu der gesezten Frist / Auch unser Lauf vollendet ist, / So hilf uns in der Todesnoth, / Herr unser Gott! / Ein sanfter Schlaf werd’ uns der Tod! // [3.] Nimm nach vollbrachtem Lebenslauf / In deine selge Ruh uns auf! / Verwirf, wenn unser Auge bricht, / Verwirf uns nicht, / H[err] Herr, von deinem Angesicht! // [4.] Drückt uns der Krankheit herber Schmerz, / So stärke das beklommne Herz, / Daß es auch in der Schmerzen Wuth / Mit starkem Muth / In deiner weisen Fügung ruht. // [5.] Gieb Hofnung zu der ewgen Ruh, / In unsern Herzen wirke du, / Geist Gottes, daß wir glaubend traun, / Und ohne Graun / Hin in die Nacht des Todes schaun. // [6.] Hilf unsrer Schwachheit, Geist des Herrn! / Zeig uns den Himmel dann von fern. / Laß uns, wenn wir zum Vater flehn, / Getröstet sehn, / Wie der uns liebt, zu dem wir gehn. // (Klopstock.) Nach dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr, o etc. [1.] Laßt sie ruhn in Gottes Frieden, / Sie, die, hier begrüßet kaum, / Frühe schon hinüber schieden / Aus des Lebens Morgentraum; / Und die erst nach langer Quaal / Aus der Erde dunklem Thal / Mit zerrißnen Herzen schieden – / Alle ruhn in Gottes Frieden! // [2.] Die sich still nach Liebe sehnten, / Wie der Mensch dem Menschen giebt, / Einsam ihren Pfad bethränten / Ach ver-

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kannt und ungeliebt; / Und von deren treuer Hand / Kaum Ein Herz den Druck verstand, / Und die dennoch segnend schieden, / O gewiß sie ruhn in Frieden. // Chor. Siehe wie der Rechtschaffene stirbet, und niemand nimmt des zu Herzen! Fromme werden begraben, und niemand achtet darauf! Vom Angesicht der Ungerechten entfernt ist der Fromme, und sein Gedächtniß bleibt ewig in Friede; im Reich des Friedens ist seine Stätte, und auf Sion hat er seine Wohnung. // Drei Stimmen. Nach der Trennung Schmerzen bringen wir, o Gott, Lob, Preis und Ehre Dir! Nimm Du sie an für alle Entschlafnen, deren heute wir gedenken vor Dir o Herr, daß Du sie leitest vom Tode zum Leben, zum ewigen Leben. // Chor. Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben! Sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach. // Gemeine. [3.] Die nach irdischem nicht strebten, / Ewig Glück in Hofnung sahn, / Treu dem Rufe Gottes lebten, / Auch auf dornenvoller Bahn; / Die wie groß das Opfer war, / Stets es freudig brachten dar, / Ungern drum vom Wirken schieden, / O sie ruhn in süßem Frieden. // [4.] Alle Geister, die voll Klarheit, / Unverblendt von eitlem Ruhm, / Wurden Märtyrer der Wahrheit, / Streitend für das Heiligthum; / Die die Geister aufgeweckt / Nie von Menschenfurcht geschreckt, / Und als Sieger Gottes schieden, / Ruhen in gerechtem Frieden. // [5.] So auch ihr, o theure Seelen, / Die ihr unsrer Tage Glück / Bei des Lebens Drang und Quälen / Trugt in eurer Liebe Blick, / Dort noch danken wir es euch / In des Vaters selgem Reich, / Wohin ihr voran geschieden, / Ruhet all’ in Gottes Frieden! // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun laßt uns den etc. Nichts als den Leib zerstört der Tod, / Die Seele geht hinauf zu Gott, / Das ist des Christen Zuversicht, / Drum trauern wir die Todten nicht. //

Am 23. Dezember 1820 mittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Samstag vor dem 4. Advent, 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,13–16 Bericht; SAr 52, Bl. 57v–58r; Gemberg Keine Keine Vorbereitung mit Konfirmation Tageskalender: Einsegnung von 8 Kindern

Am 4. Adventsonntage (24. Dez.) 1820 genoß ich in der Dreifaltigkeitskirche bei Schleiermacher das heilige Abendmal. Tags zuvor war Vorbereitung, verbunden mit der Einsegnung mehrerer Kinder beiderlei Geschlechts, deren Namen in der Vorbereitungspredigt, womit nach dem Gesang begonnen wurde von der Kanzel herab, genannt wurden. In dieser Predigt redete Schleiermacher über die Worte Christi in der Bergpredigt an die Jünger: „ihr seid das Salz der Erde und das Licht der Welt“. Schleiermacher zeigte, wie auch wir das sein müßten, wenn wir die höhere Segnung der Erlösung im Gemüth empfangen. Es sei nicht viel, wenn wir bei unsrer Vorbereitung zum Sakrament bloß bei uns stehn blieben, | wir würden nicht viel aus uns selber erfahren, wie fern wir vorgeschritten wären. Ein wichtigerer Maaßstab sei das Fortschreiten des Ganzen, in dem wir leben. Sind hier auffallende Gebrechen, so tragen wir die Schuld mit, da wir gar auch einen wenn auch noch so engen Kreis um uns her haben, in dem wir wirksam sein könnten aus der Fülle des Glaubens. Ist das Leben der Menschen stumpf, träg, unschmackhaft, so sollen wir es läutern, es reinigen als das Salz durch die Kraft des heiligen Geistes, besonders sollen wir auf die heranwachsende Jugend sehn, da ists leichter, einzuwirken und sträflicher eine Nachlässigkeit. Darauf hielt Schleiermacher im Kreise der vor dem Altar versammelten Kinder eine kurze schöne Anrede, erinnert sie an die Worte des Evangeliums, die er ihnen ausgelegt, an seine bisherige Lehre, in der sie fortgehen sollten sich selbst weiterbildend, wozu sie nun fähig geworden, ermahnt zum Bibellesen und zum Kirchenbesuch, ertheilt ihnen die Rechte christlicher Glieder, die Rechte des Sakraments, der Pathen, des öffentlichen Eides, nachdem sie die Taufformel beschworen, durch Mund und Handschlag, und segnete sie einzeln ein.

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4. Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1 Joh 3,2 Nachschrift; SAr 76, Bl. 135r–150r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SN 622; Bl. 1r–2r; Crayen Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. 1. Johannes III, 2. Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder, uns ist noch nicht erschienen was wir sein werden; wir wißen aber wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen wie er ist. M. a. F., Wir haben uns neulich in unserer ersten Adventbetrachtung darüber unterhalten, wie eben deßhalb, weil der Mensch in seinem natürlichen Zustand immer wieder umhergetrieben ist zwischen dem Gesez und der Sünde, die milden Verheißungen der Liebe und des Segens, welche Gott über das menschliche Geschlecht ausgesprochen hat, nicht anders in Erfüllung gehen konnten als durch die Erlösung in seinem Sohn. Darin also ist die Nothwendigkeit | begründet derselben, in diesem beständigen Befangensein zwischen Gesez und Sünde, woraus sich in dem Menschen der Wunsch entwickeln muß: wer wird mich erlösen von diesem Zusammenhang des Todes. Und dieser Wunsch, der in dem Menschen aufsteigt, das ist der Anfang der Erlösung, dadurch wird es möglich daß er die Wirkungen derselben erfahren kann. Aber was ist nun das Ende derselben? Diese Frage schwebt uns eben so gewiß vor, als wir mit dem Apostel in unserm Text sagen müßen, Gottes Kinder sind wir zwar nachdem jener Wunsch in unserm Herzen aufgegangen, nachdem der der Erlösung bedürftigen Seele der Erlöser wirklich erschienen ist, Gottes Kinder sind wir zwar mit ihm seitdem wir ihn aufgenommen haben, aber es ist noch nicht erschienen | was wir sein werden. Und diese Frage nun, was ist das Ende, das höchste 1 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Adventspredigt 1820

5–10 Am 10. Dezember 1820 vorm., Pred. Slg. 5, 1826, S. 28–53 (vgl. KGA III/2) 13–14 Vgl. Röm 7,24 20–21 Vgl. Joh 1,12

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Ziel der Erlösung? durch deren Beantwortung uns auch die Herrlichkeit und die Macht des Erlösers erst recht kund werden kann, diese Frage beantwortet uns der Apostel in den Worten unsers Textes: wenn es erscheinen wird, dann werden wir ihm gleich sein, denn wir werden ihn sehen wie er ist. Überraschend und gewiß allem was wir uns selbst überlaßen erwarten können weit voraneilend ist diese Erklärung des Jüngers, der in dem Schooße seines Meistes lag, und der am besten wißen mußte was er vorhabe mit dem menschlichen Geschlecht, von jenem beständigen Umhergetriebensein zwischen Gesez und Sünde, diesem Leibe des Todes, von dem wir so gern erlöst wären, bis zur Gleichheit mit ihm, mit dem der eben so sehr über alles Gesez | als über alle Sünde erhaben ist, mit dem in welchem statt allen solchen Gegensazes die Fülle der Gottheit leibhaftig wohnt – dem sollen wir gleich werden, sagt der Apostel, weil wir ihn sehen werden wie er ist. Aber, m. g. F., sollen wir uns nun dieses denken als eine Verheißung, die irgendwann mit dem Beginn des künftigen Lebens oder in demselben auf einmal sollte in Erfüllung gehen? ist eine Kluft zwischen dem „es ist noch nicht erschienen was wir sein werden,“ und zwischen dem „wenn es erscheinen wird, dann werden wir ihm gleich sein, weil wir ihn sehen werden wie er ist“? Nein, m. g. F., alles ja alles in der Welt, jeder göttliche Rathschluß der in dem endlichen Leben erfüllt werden soll, der erfüllt sich nur allmälig in der Zeit. „Es ist noch nicht erschienen was | wir sein werden,“ das ist die Stimme des Herzens, welches noch immer größeren Schäzen der Seligkeit, die in Khristo aufgethan ist, begierig ist; „es wird erscheinen,“ das ist die schöne Verheißung, die den Gläubigen aus dem Munde des Erlösers in diesem wechselvollen Leben entgegentönt. Aber jemehr wir in dem Herrn leben, desto weniger soll beides aus einander sein, was erschienen ist und was erscheinen wird; und was wir uns als unsre höchste Vollendung denken in der Ewigkeit, dazu müßen wir in allmäliger Annäherung schon hier hinanreifen. Sind wir Gottes Kinder durch die Erlösung, so sind wir Brüder deßen der von sich selbst sagt, daß er und der Vater Eins sind, und der für uns bittet nicht etwas was erst in jenem Leben wirklich sein soll, daß wir in ihm sein sollen und er in uns. Wohlan, so laßt | uns denn in der heutigen Stunde unsrer Andacht, die als eine würdige Vorbereitung auf die Feier der Erscheinung unsers Herrn auf Erden dazu bestimmt sein muß, uns mit dem Gefühl seiner Herrlichkeit und Macht und des ganzen Umfanges seiner Wohlthaten zu erfüllen, laßt uns betrachten diese Vollendung der Erlösung, die uns der Apostel in den verlesenen Worten darstellt, als dasjenige was wir durch seine Gnade und durch den kräftigen Bestand seines 20 erfüllt] erfült 6–7 Vgl. Joh 21,20

30 sind] ist 9–10 Vgl. Röm 7,24

11–12 Vgl. Kol 2,9

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Geistes auch in diesem Leben schon von einem Tage zum andern immer gewißer und immer herrlicher in unserm Innern erfahren sollen. Laßt uns zuerst Acht geben auf den Zusammenhang, den der Apostel feststellt zwischen dem „ihm gleich werden“ und dem „ihn erkennen wie er ist“; und daraus wird es uns zweitens um so leichter sein, den Inhalt von | beiden in dieser innigen Verbindung zu erkennen. I. Denn das ist nun erstens der Zusammenhang, den der Apostel darstellt in dem Fortschreiten und in der Vollendung der Erlösung „wir werden ihm gleich sein, denn wir werden ihn erkennen wie er ist.“ Dadurch giebt er uns zu erkennen, daß unsre Gleichheit mit dem Erlöser abhängig ist von unsrer lebendigen Erkenntniß deßelben. Wenn wir dies, m. g. F., vergleichen mit dem was uns sonst in dem menschlichen Leben begegnet, wo es uns auf Erkenntniß und auch Ähnlichkeit ankommt, so verhält sich die Sache gewöhnlich so. Wenn wir einem andern ähnlich sein sollen, und diese Ähnlichkeit wirklich als einen Besiz haben, d. h., nicht auf eine unbewußte Art, sondern so, daß wir es fühlen und uns deßen erfreuen: so hängt solche Ähnlichkeit allerdings ab von der Erkenntniß deßen, dem wir auf diese Weise ähnlich sein sollen, | und wir können nicht fühlen und nicht wißen daß wir einem andern ähnlich sind, wenn wir ihn nicht erkennen wie er ist. Und gewiß, m. g. F., darin sind wir alle einig, unsre Ähnlichkeit mit dem Erlöser wollen wir haben als einen Besiz, den wir wirklich haben, und deßen wir uns erfreuen. Und auf diese Weise also begreifen wir allerdings, wie das Bewußtsein der Ähnlichkeit mit dem Erlöser von der Erkenntniß deßelben abhängt. Aber der Apostel sagt mehr, denn er stellt uns die Erkenntniß dar als den Grund unsrer Ähnlichkeit mit dem Erlöser; und dies verhält sich sonst im menschlichen Leben anders, ja entgegengesezt. Denn wenn wir es näher untersuchen werden wir bekennen müßen, daß alle lebendige Kenntniß von irgend einem andern Wesen – und eine lebendige Kenntniß, eine solche die uns das | Innere aufschließt, und in unserm Gemüth eine rege Kraft wird, soll doch gewiß die des Erlösers sein – jede solche Kenntniß hängt ab von der Ähnlichkeit zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten. Davon giebt unser Leben und unsre Erfahrung ein genügendes Zeugniß. Denn je fremder uns ein Mensch ist seinem Wesen nach, desto weniger vermögen wir ihn zu erkennen wie er ist. Wir sehen was er thut, wir vernehmen seine Gedanken, wir ahnen den Ausdruk seiner Empfindungen; aber wie das alles in seinem Inneren entspringt, in welchem Zusammenhang es steht mit den Regungen und Thätigkeiten seines geistigen Lebens, das bleibt uns in dem Maaße verborgen, als er seinem Wesen nach von uns getrennt ist, und die Richtungen seiner Seele mit der unsrigen nicht über40 der] die

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einstimmen; und die klare Kenntniß geht immer aus | von der Ähnlichkeit, die zwischen dem Erkennenden und dem Erkannten Statt findet. Denn auch das Höchste in dem menschlichen Gemüth was sich uns offenbart, vermögen wir nur zu begreifen, wenn wir einen sei es auch nur schwach sich regenden Keim davon in unsrer Seele finden. Aber auch auf der andern Seite, das Verhaßte und Verworfene verstehen wir nur, sofern wir uns über leisen Berührungen, über vorübergehenden Anklängen deßelben ergriffen haben. So ruht die Erkenntniß nicht nur auf der Ähnlichkeit, sondern auch die Ähnlichkeit auf der Erkenntniß überall in dem menschlichen Leben. Aber nirgends auch, m. g. F., kommen wir zu einem solchen Maaße von beiden; und das ist es was uns der Apostel in Beziehung auf den Erlöser verheißt: Nichts in der Welt vermögen | wir zu erkennen ganz wie es ist, ja nicht einmal über uns selbst sind uns die Augen geöffnet, so daß wir uns selbst verständen mit jedem Gedanken unsers Verstandes, mit jedem Gefühl unsers Herzens, mit jeder Richtung unsers Willens, mit jedem Einfluß unsers inneren Wesens auf unser äußeres Thun und Treiben; und auch keinem andern in der Welt werden wir ganz gleich und wollen es nicht. Denn das ist eben der Grund der Beschränkung unsrer Erkenntniß von andern Wesen und unsrer Ähnlichkeit mit ihnen, daß der andre nicht vermag sich uns so zu eröffnen und hinzugeben, daß wir seine ganze Natur mit dem Auge des Geistes durchdringen könnten, und ihn ganz erkennen wie er ist, und dazu kommt noch auf der andern Seite, daß auch wir selbst nicht begehren einem andern gleich zu sein, sondern wie viel uns auch andre in mancher Hinsicht vortrefflicher erscheinen als | wir, wie sehr wir auch andre bewundern wegen der Höhe des geistigen Daseins und der Gesinnung, auf welcher sie uns weit hinter sich zurükgelaßen haben, wir wollen doch wir selbst bleiben, und nicht das Leben eines andern an die Stelle des unsrigen sezen, wir wollen doch der Gleichheit mit andern Gränzen sezen, über welche wir niemals hinauszugehen wagen, damit wir über der Bewunderung, über der Verehrung und Nachahmung andrer unser eigenes Wesen nicht verlieren. Wäre es eben so, m. g. F., mit dem Erlöser, dann müßte ewig wie jezt und jezt wie immer unsre Erkenntniß von ihm Stükwerk bleiben, und unsre Ähnlichkeit mit ihm etwas Unvollkommnes. Aber hier, m. g. F., hier ist es anders, und die beiden Gränzen die uns sonst in allen andern Beziehungen, wo es auf das Erkennen und auf die darauf | gegründete Ähnlichkeit ankommt, aufhalten, die sind hier verschwunden, sobald die Liebe zum Erlöser uns durchdringt, ja sobald nur der erste Keim derselben in unserm Gemüth aufgegangen ist. Denn er selbst er will sich nicht zurükhalten; und er hat auch die Macht sich uns ganz hinzugeben. Wie er die Macht hat das Leben zu laßen und das Leben zurükzunehmen, so auch hat er die Macht dieses heilige Leben mitzutheilen und in unser Inneres zu versenken, daß es da 24 vortrefflicher] vertrefflicher

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sei und wohne, und alle Bewegungen deßelben läutere und heilige. Und wie er gekommen ist sich hinzugeben für uns, da wir noch Sünder waren, so ist es auch seine Bestimmung jezt nicht, da er erhöht ist von der Erde zur Rechten Gottes auf den Thron der Majestät, es ist seine Bestimmung nicht für sich allein zu sein irgend wie, und alle Seligkeit für sich zu genießen, sondern das ist sein | wahres und höchstes Leben, daß er in uns und unter uns sei alle Tage bis an der Welt Ende, und daß er selig mache alle die an ihn glauben und in der Liebe sich ihm weihen. Er also kann sich und will sich uns ganz hingeben, daß wir ihn haben und uns seiner erfreuen können, wie wir uns selbst besizen und uns unsrer selbst freuen. Und wir, m. g. F., sollten wir irgend eine Gränze kennen in unserm Verlangen nach der Ähnlichkeit mit dem Erlöser in der lebendigen Erkenntniß und Gemeinschaft seines Geistes? Nein – sondern wie er für uns betet zu seinem himmlischen Vater, daß wir in ihm sein sollen und er in uns, so auch ist das unser innigstes Begehren, daß wir nicht mehr in uns – denn das hieße nichts anders als in der Sünde – sondern allein in ihm leben und er in uns. | So wie wir ihn kennen gelernt haben, ist in uns aufgegangen das Verlangen nach seiner Gemeinschaft, welches nicht eher Befriedigung findet als bis er sich ganz in unser Inneres gesenkt hat und ganz wir geworden ist, und bis auch wir kein eigenes selbstständiges Leben mehr haben, sondern mit unserm ganzen Bewußtsein aufgehen in dem Gefühl, daß wir in ihm leben und sind. Und, m. g. F., dem angemeßen ist die Fähigkeit des Menschen, der an der Erlösung durch Khristum Theil nimmt. Das ist hier wahr wie dort und dort wie hier. Wir vermöchten den Erlöser nicht zu erkennen, wenn nicht eine Ähnlichkeit zwischen ihm und uns wäre auch ehe wir mit Bewußtsein ihn in uns aufgenommen haben, und so die seinigen geworden sind wie er der unsrige. Denn sollte das göttliche Wort die Welt erlösen, so konnte es wie dort geschrieben steht | nicht der Engel Natur annehmen, sondern Fleisch und Blut wie die Menschenkinder haben. Und in dieses gekleidet stellt er sich uns überall dar als der Menschensohn, der unser Bruder geworden ist, und indem wir es in der Tiefe unsers Herzens fühlen, daß es keine Befriedigung giebt und geben kann weder für den einzelnen Menschen, wenn er sich für sich selbst hinstellt, noch auch für den Menschen in der Verbindung mit allen andern seines Geschlechts, fehlt an dieser lebendigen Gemeinschaft nur der Eine, der ihr innerstes Wesen ist und ihr Gleichgewicht in dem beständigen Wechsel zwischen Freiheit und Knechtschaft, zwischen Leben und Tod, fühlen wir daß es keine Befriedigung für uns giebt in dem Gebiete des Gesezes und der Sünde: o dann fällt das sehnsüchtige | Auge des Menschen auf den Menschensohn, und sucht die innersten Züge seines Wesens zu durchforschen. Und wie einer 6–7 Vgl. Mt 28,20 Hebr 2,14.16–17

7–8 Vgl. Joh 3,16

13–14 Vgl. Joh 17,21

28–29 Vgl.

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ihn mit dem Auge des geistigen Verlangens erkennt, so theilt er ihm mit aus den heiligen Schäzen seiner Kraft und Herrlichkeit, so stellt er ihm dar sich selbst in der unendlichen Aufgabe ihn zu erkennen, und durch die Erkenntniß ihm ähnlich zu werden; dann verkündet er der Seele, die so nach ihm verlangt, wer ihn erkennt der erkenne den Vater, dann verkündet er der Seele, er sei nicht ein Prophet, der nur in erhöhten Augenbliken des Bewußtseins die menschlichen Gemüther auf das Ewige hinrichten könne, und immer wieder von neuem der göttlichen Mittheilung bedürfe, er sei nicht der Vorläufer irgend eines andern, der noch erst | kommen soll, um die vollen Segnungen der göttlichen Liebe dem menschlichen Geschlecht zu bringen, sondern er sei der Sohn des Höchsten zum Heil der Menschen verordnet, die für alle Zeiten genügende Quelle des geistigen Lebens. Und so wie hiervon nur der erste Funken lebendiger Sehnsucht in der Seele des Menschen aufgegangen ist, und sie zu sich selbst sagen kann, dahin und zu keinem andern willst du gehen um das Heil zu erlangen, da sind die Worte des ewigen Lebens, da ist die Erkenntniß des göttlichen Willens und die wirksame Kraft zum Guten: dann entwikelt sich in ihm das sehnsüchtige Verlangen alle die ihn so suchen zu sich zu ziehen, und indem er sich uns zu erkennen giebt als den mächtigen und | liebevollen Erlöser, sie sich selbst ähnlich zu machen, dann spricht er zu der verlangenden Seele, das hat dir nicht Fleisch und Blut geoffenbart, sondern es ist der Zug des himmlischen Vaters, der dich zu dem Sohn hinführt; und dann sagt er zu ihr, folge mir nach, von Stund an sollst du mit mir Menschen fangen. Denn so wie dieses eben dasjenige ist was seine ganze Seele erfüllt, und worin sich seine ganze Bestimmung ausdrükt, zu suchen und selig zu machen was verloren ist; so ist auch das die erste Offenbarung unsrer anfangenden Ähnlichkeit mit ihm, daß wir das Verlangen in uns tragen, die Seligkeit, von der wir den Anfang geschmekt haben in der ersten Offenbarung des Vaters durch den Sohn, zu verbreiten unter den Menschen unsern Brüdern. Und das ist der erste Anfang | unsrer Ähnlichkeit mit ihm, und aus dieser geht hervor eine immer genauere Erkenntniß seiner höheren Würde und der in ihm wohnenden Fülle der Gottheit; und diese lebendige Erkenntniß ist eine nachahmende und nachbildende, die ihn immer vor Augen habend nichts eifriger sucht als die Züge nachzubilden, welche in ihm niedergelegt sind, und die so den Menschen zu einer stets wachsenden Ähnlichkeit mit ihm führt; und die größere Ähnlichkeit gedeiht zu immer größerer Erkenntniß.

27 tragen] trachen 5 Vgl. Joh 14,7 11 Vgl. Lk 1,32 15–16 Vgl. Joh 6,68 20–22 Vgl. Mt 16,17 23 Mt 9,9; Mk 2,14, Lk 5,27; 9,59 23 Vgl. Lk 5,10 25– 26 Vgl. Lk 19,10 31–32 Vgl. Kol 2,9

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Das ist der Beginn, das ist der Fortschritt, das ist die Vollendung der Erlösung.

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II. Aber um nun indem wir diesen Zusammenhang begriffen haben, genauer einzusehen was uns der Apostel durch diese Worte verheißen will, wir werden ihm gleich sein, | weil wir ihn sehen werden wie er ist, so laßt uns nun noch zweitens den Inhalt dieser Verheißung näher mit einander betrachten. Weniger, das ist gewiß, können wir das begreifen, dass wir ihm gleich sein sollen, weil zu tief in uns eingewurzelt ist das Bewusstsein des unendlichen Abstandes zwischen ihm und uns; eher möchten wir also das begreifen und müssen damit anfangen, dass wir ihn sehen werden wie er ist. Was heißt das? wie ist dem? Wer vermöchte sich diese Frage anders zu beantworten als mit seinen eigenen Worten? und wie können wir glauben, daß wir diese ganz verstehen werden, wenn wir nicht schon ihm gleich geworden sind? O darum, m. g. F., konnte uns der Apostel des Herrn nichts anders geben als diese kurzgefaßte Ahnung der künftigen Herrlichkeit, der wir näher kommen sollen, und darum | können wir auch nichts anders thun, als daß wir sie uns lebendig vergegenwärtigen aus den Worten des Erlösers selbst. Zwei aber sind es, die wie mir scheint am meisten alles dasjenige in sich begreifen, was wir von seinem Wesen auf uns beziehen und auf uns übertragen können. Das eine ist dies, daß er von sich sagt „der Sohn kann nichts thun von sich selber, sondern was er den Vater thun sieht das thut er.“ Das ist sein innerstes Wesen, wie er es auch anderwärts so ausdrükt: das ist meine Speise, d. h., das ist die Nahrung, das ist das Fortbestehen meines Wesens, daß ich erfülle den Willen deßen der mich gesandt hat. Aber laßt uns das recht ins Gemüth faßen, er kann nichts anders thun als den Willen seines Vaters. Auch wir, m. g. F., sind wir wirklich Gottes Kinder geworden durch | ihn, so bestreben auch wir uns den Willen seines und unsers Vaters im Himmel zu thun. Aber wie freundlich er uns auch zuruft, mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht, o wir fühlen es als eine Aufgabe, der wir niemals genügen, und immer bleibt die That hinter unserm Bestreben zurük. Warum? Darum weil wir noch etwas anderes kennen als den Willen Gottes, weil noch in uns ist dasjenige was nach etwas anderem zielt als darnach, unser ganzes Thun nach dem Vorbilde des göttlichen Handels einzurichten, weil wir außer dem Gesez in unserm Geiste noch fühlen das Gesez in unsern Gliedern. Sind wir davon durchdrungen, daß dies uns auf mancherlei Weise hindert, den Willen seines und unsers himmlischen Vaters so zu erfüllen wie wir gern möchten nach der Offenbarung seines Geistes | in unserm 22–23 Vgl. Joh 5,19 24–26 Vgl. Joh 4,34 31 Mt 11,30 36–37 Vgl. Röm 7,23

26 Vgl. Joh 5,30; 6,38

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Herzen: so werden wir eine Ahnung bekommen davon, wie das die höchste Würde und die herrlichste Vollkommenheit ist der menschlichen Natur, aus welcher allein der Sohn Gottes jene herrlichen Worte sprechen konnte, daß wir nichts anders vermögen als den Willen Gottes erfüllen. Ja wenn alles andre kein Recht mehr hat in dem Menschen zu begehren und zu fordern, wenn alles in ihm darauf zurükgeführt ist überall das Gute zu schaffen, und immer bereit zu sein zum Dienst derer, denen die Stimme der Wahrheit noch fremd ist, damit sie auch in ihr Inneres dringe, wenn alles in ihm zum Schweigen gebracht ist gegen das unauslöschliche Treiben des göttlichen Geistes, das Reich seines Herrn und Meistes mit allen Kräften, die er aus der Fülle seiner | Gnade empfangen hat, zu bauen, wenn wir nichts anders könnten als das – wir fühlen es, dann würden wir ihm gleich sein und ihn sehen wie er ist. Und so kannten wir ihn; denn so ist er, das ist das Höchste und Würdigste in ihm. Das Zweite aber ist dies, daß er sagt „wie der Vater das Leben hat in ihm selbst,” d. h., die belebende die erregende die lebendigmachende Kraft, „so hat er auch dem Sohn gegeben das Leben zu haben in ihm selbst.” Wir, m. g. F., wir rühmen uns deßen, daß wir ohne ihn mitten im Tode liegen würden, daß wir unser Leben nur in ihm suchen und finden, und daß wir dieses Leben mit keinem andern vertauschen wollen, und in diesem schönen Bekenntniß fühlen wir die Seligkeit des sündigen aber erlösten | Menschen, immer zu schöpfen aus der unendlichen Fülle, die sich uns in ihm darbietet, und immer reichere Kräfte des Lebens zu nehmen von dem, dem da gegeben ist das Leben zu haben in ihm selber. Aber wie das ja, wie ich vorhin schon gesagt, die erste wahre lebendige Annäherung unsrer Ähnlichkeit mit ihm ist, daß das Leben, welches durch ihn in uns aufgegangen ist, wir auch streben in andern zu erregen: so müßen wir, indem wir dieses Wort vernehmen, die Sehnsucht fühlen, das Leben auch zu haben in uns selbst, damit der befruchtende Keim deßelben durch uns in andre verpflanzt werde, von ihm zu empfangen von dem Waßer, welches zu einer lebendigen Quelle wird in dem Menschen selbst, die bis in das | ewige Leben fließt, so daß er nicht nur nimmermehr durstet, sondern auch um sich her erquiken kann alles was da verlangt nach der unvergänglichen Nahrung. Und so fühlen wir es, wenn auch wir das Leben hätten in uns selbst, wie es der Erlöser in sich trägt, wenn auch wir vermöchten gleich ihm alles Todte mit unsrer Stimme zu erweken, und das aufkeimende Leben zu schäzen und immer weiter zu fördern: dann wären wir ihm gleich und würden ihn sehen wie er ist. Und so ahnen wir es und empfinden es, daß 13 kannten] könnten 14–15 Joh 5,26

16–17 „so ... selbst.“] so ... selbst. 30–32 Vgl. Joh 4,14

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er das Leben hat in sich selbst, das ist das Innerste seines Wesens, das ist die in ihm wohnende Fülle der Gottheit, die ihn so hoch über uns erhebt. Aber wenn wir dieses beides recht verstehen | könnten, wenn in uns lebendig werden könnte was es heißt, nichts können und nichts wollen als den Willen des Vaters im Himmel, wenn wir ganz auffaßen könnten was es heißt, alles Todte nicht nur von sich geworfen, sondern auch das Leben, welches er gebracht hat, in uns ergriffen zu haben, so daß wir auch so das Leben in uns haben, wie er die ewige Fülle deßelben in sich trägt, weil der Vater in ihm ist und er in dem Vater, wenn wir das erkennen könnten, wenn wir ihn erkennen könnten in dieser Unfähigkeit irgend etwas anderes zu thun als den Willen seines himmlischen Vaters, in dieser Macht alles Leben zu haben in sich selbst, | und wie er eben deßwegen die Macht hat das Leben darzureichen allen die im Schatten des Todes ihr sehnsüchtiges Auge zu ihm erheben, die Macht das ganze Geschlecht der Menschen aus dem Zustand der Sünde zu ziehen, und indem er die Kräfte des Lebens überall ausgieße daßelbe so zu fördern, daß alle hindurchdringen zur lebendigen Erkenntniß des göttlichen Willens, daß alle die an ihn gläubig geworden sind getrieben werden von dem Geist, den er im höchsten Maaße besaß, und daß in jeder Seele sich spiegelt das ewige Wort, welches in ihm Fleisch geworden ist – dann würden wir ihm gleich sein, dann würden wir nichts weiter bedürfen, dann | würde es wahr sein, daß alle Thränen getroknet, dass alle Seufzer gestillt sind, und daß kein Geschrei gehört wird unter denen, die nach nichts trachten als nach der lebendigen Gemeinschaft mit Gott und nach dem Leben aus ihm, welches in seinem Sohn wohnt. Wer solche Hoffnung hat, sagt der Apostel unmittelbar nach den Worten unsers Textes, der reiniget sich selbst, gleich wie er auch rein ist. Und wozu könnten wir uns unter einander einladen und ermuntern, indem wir im Begriff sind die Feier seiner Erscheinung auf Erden zu begehen, als daß wir uns reinigen gleich wie auch er rein ist, damit uns würdig finde dieses Fest und jedes folgende, | welches wir durch Gottes Gnade noch begehen werden, eingeführt zu werden in eine immer größere Ähnlichkeit mit ihm, der unser Bruder geworden ist, damit es uns gereinigt finde eingeweiht zu werden in die verborgnen Keime seiner Ähnlichkeit, der sich so gern offenbaren will allen denen die nach ihm verlangen. Amen.

2 Vgl. Kol 2,9 1Joh 3,3

19 Vgl. Joh 1,14

21–22 Vgl. Offb 21,4

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[Liederblatt vom 24. Dezember 1820:] Am vierten Advent-Sonntage 1820. Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich etc. [1.] Du Herr bist zu uns kommen / In der Erfüllungszeit, / Und hast an dich genommen / Des Fleisches Niedrigkeit! / Damit uns würd’ erwecket / Die herrlichste Gewalt, / Hast du dich überdecket / Mit armer Knechtsgestalt. // [2.] Dein Geist woll’ uns entfernen / Von allem falschen Schein, / Daß Alle von dir lernen / Von Herzen niedrig sein. / Die Richtschnur unsres Lebens / Sei das, was du geliebt; / Denn alles ist vergebens / Wenn man nicht Demuth übt. // [3.] Die Demuth ist die Kerze, / Das wunderschöne Licht, / Wodurch uns in das Herze / Die rechte Weisheit bricht, / Die uns kann unterweisen / Wie man die Welt verschmäht, / Und die uns lehret preisen / Des Höchsten Mäjestät. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun danket alle Gott etc. [1.] Was hat, o Heiland, dich / Von Anfang doch bewogen? / Was hat vom Himmel her / Dich in die Welt gezogen? / Ach deine große Lieb’ / Und unsrer Sünde Noth / Hat deine Glut entflammt / Zum Leben und zum Tod. // [2.] So komm du göttlich Wort! / Sprich auch zu meiner Seelen, / Daß mirs in Ewigkeit / Nicht soll an Troste fehlen! / Im Glauben wohn’ in mir / Und weiche nimmer nicht, / Laß mich auch nicht von dir / Mich trennen, selges Licht! // [3.] Gieb daß mein ganzes Herz / Sich deinem Dienst ergebe, / Und ich zu deinem Preis / Allein auf Erden lebe! / O bilde du mich um / Nach deiner Aehnlichkeit, / Und bis zum Tode sei / Ich dir allein geweiht. // [4.] Damit nichts in mir sei, / Was du nicht hast geschaffen, / Rott’ alles Unkraut aus, / Und brich des Feindes Waffen! / Was bös’ ist nicht von dir, / Das hat der Feind gethan; / Du aber führst mein Herz / Auf rechter Himmelsbahn. // [5.] Das Leben ist in dir / Und alles Licht des Lebens; / Auch mir sei dieser Glanz / Vom Himmel nicht vergebens. / Wie du das Licht der Welt, / So sei mein Lebenslicht, / O Jesu, bis mir dort / Dein volles Licht anbricht. // (L. Laurentii.) Nach der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir etc. O Jesu, du sieghafter Held, / Der du durch Leiden in der Welt / Den Streit hast ausgeführet. / Komm, theil’ uns aus des Sieges Beut, / Den ganzen Schaz der Seligkeit, / Der uns nunmehr gebühret. //

Am 26. Dezember 1820 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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2. Weihnachtstag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,5–7 Nachschrift; SAr 76, Bl. 151r–164v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine SAr 52, Bl. 58v–59v; Gemberg Keine

Nachmittagspredigt am zweiten Weihnachtstage 1820. am sechsundzwanzigsten Khristmonds. | Tex t. Philipper II, 5–7. Ein jeglicher sei gesinnet wie Jesus Christus auch war, welcher ob er wohl in göttlicher Gestalt war hielt er es nicht für einen Raub Gott gleich sein, sondern äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward gleich wie ein ander Mensch und an Gebehrden als ein Mensch erfunden. M. a. F., Was uns hier in den Worten des Apostels als ein allgemeines Vorbild vor Augen gestellt wird, daß ein jeglicher gesinnet sein soll wie Jesus Khristus auch war, das kann in dem Erlöser selbst unmöglich etwas Unbedeutendes und Zufälliges gewesen sein, nämlich daß er Knechtsgestalt annahm. Es ist aber eben dies dasjenige was uns mit der tiefsten Bewunderung über die göttlichen | Veranstaltungen erfüllen muß, daß derjenige, dem wie der Apostel hernach sagt, der Herr einen Namen gegeben hat der über alle Namen ist, so daß alle Knie sich vor ihm beugen sollen und alle Zeugen bekennen daß er der Herr sei, daß aber derjenige sein Werk nicht anders vollenden und seiner Bestimmung genügen konnte, als indem er Knechtsgestalt annahm. Und was wir auf diese Weise bei dem Erlöser selbst als unbegreiflich auf der einen Seite aber als nothwendig auf der andern finden, das fodert nun der Apostel von uns allen; das ist das Gesinnetsein wie Jesus Khristus auch war, was er uns zumuthet, daß jeder wie der Erlöser selbst soll Knechtsgestalt annehmen. Wir können das Fest der Geburt des Erlösers gewiß nicht begehen, ohne daß dabei die ganze 15–17 Vgl. Phil 2,9–11

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Eigenthümlichkeit seines irdischen | Lebens, die Verhältniße unter denen er es begann, die Art und Weise wie er es durchführte, uns vor Augen steht, und so sind wir gewiß in diesen festlichen Tagen von dem Gefühl der Knechtsgestalt des Erlösers durchdrungen. Laßt uns darüber indem wir sie als ein uns allen gegebnes Vorbild, dem wir nachstreben sollen, betrachten, in der gegenwärtigen Stunde nachdenken. Ich werde zuerst die allgemeinen Gründe von dieser nothwendigen Knechtsgestalt des Erlösers und aller Seinigen zu entwikeln suchen, und dann zweitens darauf aufmerksam machen, wie sie sich in ihm geäußert hat, und wie sie sich dem gemäß in uns allen äußern soll. I. Was unser Erlöser, m. g. F., auf die Erde brachte, das war eine rein geistige Kraft und Gewalt, was | wir von ihm empfangen, das ist eben so eine rein geistige Kraft und Gewalt. Eine solche aber ist allemal unmittelbar oder mittelbar ein Ausfluß und ein Geschenk des Höchsten selbst; und so sagt auch der Erlöser von sich, daß er alles nur thue was ihm der Vater gegeben habe zu thun, daß der Vater ihm zeige was er thun solle, überall stellt er seine eigene geistige Kraft dar als einen Ausfluß von der seines Vaters; und das will auch das große Wort sagen, daß in ihm die Fülle der Gottheit leibhaftig gewohnt hat. Inwiefern er nun in menschlicher Gestalt auftrat, so war diese Fülle der Gottheit etwas was er empfangen hatte, wie aber unsrer Seits wir nehmen nur aus seiner Fülle, und alles was wir von geistigen | Kräften empfangen ist Gnade um Gnade, die wir aus seinem unermeßlichen Schaze schöpfen. So tritt also, m. g. F., mit dieser geistigen Kraft der Mensch nie auf als Herr, er hat sie nicht als seinen eigenen Besiz, sondern sie ist ein ihm Gegebnes und ihm Anvertrautes. Was wir uns sonst erwerben, das erscheint uns selbst und andern als unser eignes Werk, es ist die Frucht unsrer Mühe, unsrer Arbeit; aber die himmlischen geistigen Gaben Gottes – das bekennen wir alle – sie kann kein Mensch durch Thun erwerben, sondern sie sind und bleiben ein Geschenk der göttlichen Gnade, und als ein solches sind sie zuerst nicht ein Eigenthum und ein Besiz, über den wir schalten könnten nach Belieben, sondern sie sind ein anvertrautes Pfund, für deßen Verwaltung wir dem Herrn Rechenschaft schul|dig sind. So sagt auch der Erlöser von sich selbst, daß er gekommen sei nicht um nach eigenem Belieben zu wirken und zu schalten, sondern um den Willen seines himmlischen Vaters zu thun; und so sagt er zu seinen Jüngern, daß wie sein Vater ihn gesandt habe so sende er auch sie, damit sie nicht das Ihrige suchten, sondern sein Werk in seinem Namen förderten. Und so hat er das mit uns gemeint, daß er, wiewohl es die Fülle der Gottheit war die in ihm 34–36 Vgl. Joh 6,38

36–37 Vgl. Joh 20,21

39–1 Vgl. Kol 2,9

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wohnte und ihm zu Gebote stand, eben wie wir die wir aus seiner Fülle nehmen, in dem Besiz der geistigen Gaben Gottes erschien nicht als Herr oder als ein solcher, der nach eigener Willkühr schalten kann, sondern der in Beziehung auf Gott nur da ist, der nur seine Befehle | vollzieht, und der Vollbringung seines Auftrages sich ganz weiht. Aber wenn der Apostel sagt „der Erlöser nahm Knechtsgestalt an,“ so meint er dies nicht nur in Beziehung auf Gott, sondern auch in Beziehung auf die Menschen, unter denen er lebte und wandelte, und auf die er wirkte und handelte[.] Aber auch in dieser Beziehung verhält es sich eben so. Die geistigen Gaben, sagt der Apostel in seinem Briefe an die Korinther, damit sie sich anweisen zum gemeinen Nuz. Und daßelbe müßen wir von dem Erlöser sagen. Abgesehen auch von den äußern Verhältnißen, in denen er lebte, und wenn wir nur auf die Fülle seiner geistigen Kraft, auf den Geist ohne | Maaß achten, der in ihm war, und ihn beseelte, so hatten sich diese geistigen Gaben ausgebildet, nicht für ihn selbst, nicht um damit zu prangen und die Augen der Menschen dadurch auf sich zu ziehen, nicht um sie für einen Raub anzusehen, mit welchem er sich denn brüsten könnte und sich selbst Gott gleich stellen in dieser Hinsicht, sondern nur zu dem Zweke hatten sie sich in ihm entwikelt, wie er der Erlöser selbst sagt: „des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen laße, sondern daß er diene.“ Wer nun so mit allem was in ihm ist nur zum Dienste andrer da ist, und nur dadurch seine Bestimmung erfüllen kann, daß er sich überall bereit fühlt andern zu dienen, von dem mögen wir wohl mit Recht sagen, daß er Knechtsgestalt an sich trage. Aber noch mehr werden wir dies ins Auge | fassen, wenn wir betrachten, was der Erlöser durch seine geistige Gewalt und seine himmlischen Gaben wirkte und sollte. Er sagt selbst, daß er gekommen sei, um die Menschen frei zu machen; und darum ist ja auch der zärtliche Name, den ihm von Anfang an alle die an ihn gläubig geworden, beigelegt haben, und mit welchem wir ihn besonders heute an dem frohen Feste seiner Geburt begrüßen, daß er Heiland ist und Erlöser. Wer aber andre frei macht, wer ihnen zum Besiz und zum Genuß ihrer Seligkeit – denn die besteht doch in der wahren Freiheit – verhilft der erscheint als ihr Diener. Denn, m. g. F., was ist das Wesen aller Dienste, die einer dem andern leistet, als eben dies, daß wir andern dadurch zu einem ausgedehnteren | Gebrauch ihrer Kräfte und Vermögen verhelfen, daß sie mehr auf eine unbeschränkte Weise mit ihren Kräften schalten können. Wer also ganz dazu da ist und dahin wirkt, andre zu diesem Besiz zu führen, und sie immer mehr in demselben zu befestigen, der kann nichts anderes sein als ihr Diener. Betrachten 14 ihm] ihn

20 sich] ihm

9–11 Vgl. 1Kor 12,7

27 darum] Ergänzung aus SAr 52, Bl. 59r

19–20 Mt 20,28; Mk 10,45

26–27 Vgl. Joh 8,31–32.36

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wir aber noch dies, wie der Erlöser für die Menschen thun wollte und mußte, was sie selbst nicht zu thun verlangten und begehrten, wozu sie selbst eben so wenig Lust und Vermögen hatten: so mögen wir sagen, daß ist es, was das Bild der Knechtsgestalt, die er annahm, vollkommen macht; denn wer für andre thut was sie selbst nicht thun mögen, der ist im eigentlichen Sinne ihr Diener; auf wen wir das niederlegen können, was wir selbst nicht verrichten mögen, oder wozu es uns an der | nöthigen Kraft mangelt, der ist unser Diener und Knecht. Das war der Erlöser, und eben deswegen heißt es von ihm er habe Knechtsgestalt angenommen. Und eben dasselbe, m. g. F., gilt von allen denen die wahrhaft die Seinigen geworden sind. Denn indem wir ihm folgend auf dem Wege den er uns vorangegangen ist nichts anderes begehren als sein Reich auf Erden zu fördern, und den Weinberg zu bauen, den er gepflanzt hat, indem wir die geistige Freiheit der Menschen auf alle Weise zu vernehmen suchen, indem wir zu ihrem Heile arbeiten und wirken was sie selbst nicht wollen oder mögen: so gehen wir ein in die geistige Knechtsgestalt des Erlösers, und sind da nicht um uns dienen zu laßen sondern um selbst unsern Brüdern zu dienen. Und auf eine andre Weise also konnte er sein Werk auf Erden nicht führen, | und in einem andern Sinne als in diesem können auch wir nicht in seinen Geboten wandeln, und indem wir sein Reich unter den Menschen immer und überall im Auge haben unser Leben in die Aehnlichkeit mit ihm gestalten. Überall kommt es darauf an, daß wir mit demjenigen was Gottes Geist in uns gewirkt hat, nicht für uns selbst sind, daß wir es nicht benuzen wollen um unsrer eigenen Ehre und Wohlfahrt willen, sondern daß wir es nur haben wollen für andre, daß wir ihnen damit helfen wollen in allem was sich auf das Heil ihrer Seele bezieht, und sie hinführe zu Christo, der Einzigen Quelle aller Seligkeit der Menschen, damit so der Wille deßen geschehe, der seinen Sohn in die Welt gesandt hat, damit er die Welt frei mache, dadurch daß er sich selbst erniedrigte und Knechtsgestalt annahm. Und auf eben diese Weise müßen auch wir | dazu beitragen die Menschen immer mehr frei zu machen von allen Banden, unter denen sie noch jetzt gefangen gehalten werden, und überall das für sie thun, was sie selbst weder zu thun im Stande sind noch zu thun begehren, eben indem wir sie zu entreißen suchen den Banden des Irrthums und dem verkehrten Wesen dieser Welt, indem wir sie unterstützen wo sie schwach sind, und ihnen das Wort des Herrn nahe bringen wo es ihr Herz noch nicht ergriffen hat, und wo sie selbst noch nicht fühlen, daß es die einzige Quelle des Seegens und der Freude ist für alle die Wohlgefallen daran haben. Und so ist denn, m. g. F., diese Knechtschaft nothwendig in dem Reiche des Herrn; sie war es für ihn, und anders nicht als daß er auf diesem Wege die Menschen frei machen 16–17 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

28 Vgl. Joh 8,31–32.36

28–29 Vgl. Phil 2,8

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konnte er ihr aller Herr werden; und eben so ist sie es für uns, die er in die Welt gesandt hat nicht | auf eine andre Weise und unter anderen Bedingungen, sondern wie der Vater ihn gesandt hat. II. Und so laßt uns nun zweitens darauf sehen, wie diese Knechtsgestallt sich bei ihm geäußert hat, und wie sie sich demgemäß auch bei uns äußern muß. Zuerst m. g. F. werden wir es wohl alle fühlen und darüber einverstanden sein, es war nothwendig, daß dem Erlöser in seinem großen Werke auf Erden keine Art von äußerer Gewalt und kein äußeres Ansehen zu Statten kam, nicht einmal dasjenige, welches – ich will nicht reden von einer irdischen und äußeren Gewalt, die ihm den Weg durch das Leben leicht gemacht und ihn bei seinen Unternehmungen unterstützt hätten, die er aber weder selbst gesucht, noch wo seine Zeitgenoßen im Begriff waren sie in seine Hände zu geben jemals angenommen hat – | aber nicht einmal dasjenige Ansehen kam ihm zu Statten, welches alle Lehrer seiner Zeit genoßen, indem sie von der Gesellschaft sowohl als auch von den Leitern des Volks anerkannt waren in ihrem Beruf; auch das durfte der Erlöser nicht, ohne die Knechtsgestallt abzulegen, in welcher er auftrat, sondern sie mußten sich wundern, wie er lehren konnte, da er doch die Schrift nicht gelernt hatte, und nicht auf dem gewöhnlichen Wege das Amt eines Lehrers erlangt hatte. Und m. g. F. eben dies müßen wir von uns allen sagen überall wo wir wahrhaft als Christen und nur als Christen in dem Namen des Herrn thätig sind. Es muß geben das äußere Ansehen der Obrigkeit und was damit entfernter oder näher zusammenhängt, es muß geben auch in andrer Hinsicht ein anerkanntes Ansehen derjenigen, die zu einer ausgezeichne|ten Stufe der Weisheit und der Erkenntniß gelangt sind als andre, das muß es geben in der menschlichen Gesellschaft, wenn ihre Ruhe sicher gestellt, und die Erhaltung und Vermehrung ihrer Güter begründet sein soll. Und seitdem die menschliche Gesellschaft eine Christliche geworden ist, müßen es Christen sein, die das Eine oder das Andere ausüben; und es ist Schwärmerei gewesen, wenn hie und da in der Christlichen Kirche die Frage aufgeworfen wurde; ob es den Christen gezieme Theil zu nehmen an der Gewalt der Obrigkeit. Allerdings würde dies der Fall sein wenn irgend einer sich ein solches Ansehen durch menschliche Kunst erschmeicheln wollte; aber indem wir das alles rechtmäßig besizen und gebrauchen, so sollen wir damit als | Christen handeln und es zählen zu dem uns von Gott anvertrauten Pfunde. Aber wenn wir rein in dem Namen des Erlösers und nur als seine Jünger auftreten und handeln, so sollen wir wie er uns deßen entäußern; wo 37 Vgl. Lk 19,11–27

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es darauf ankommt sein Reich unmittelbar zu fördern, sein Wort in die menschlichen Seelen zu pflanzen, die Liebe zu ihm und seinem großen Werk in denselben zu wahren, und jegliche Liebe zur Welt aus denselben herauszutreiben, da gilt es daß wir uns aller irdischen Gewalt entäußern. Jenes kann auch jetzt nicht geschehen vermittelst eines Ansehens und einer äußern Macht, sondern nur in der reinen Knechtsgestalt eines Jüngers Christi. Wer dabei etwas Anders zu Hülffe nehmen wollte als diese Knechtsgestalt begründet durch die Kraft der Wahrheit selbst, | der würde gewiß nie etwas Richtiges und Gott Gefälliges bewirken, der würde gewiß keinen wahren sondern nur einen scheinbaren Erfolg hervorbringen. Wie der Erlöser kein äußeres Ansehen haben wollte, damit sein Werk den Erfolg sähe eine geistige Gewalt aufzurichten in den Herzen derer, die Gott der himmlische Vater ihm gegeben, und eben weil alles Gute was wir für sein Reich auf Erden thun nur möglich wird durch seinen Geist, den er uns nie versagt wenn wir ihn gläubig darum bitten: so müßen auch wir uns aller äußern Mittel entschlagen in diesem großen Geschäft; und wer etwas sein will für die Seele seines Bruders, wer in dem Namen seines Herrn auf sie würken will, und sie hinführen zur Gemeinschaft | des Glaubens an ihn und der Gerechtigkeit die vor Gott gilt, der möge nur vorher ablegen alle Gewalt die ihm angehört, sei es die bürgerliche Gewalt, sei es die welche auf geistiger Bildung und auf Gelehrsamkeit beruht, und er möge nur rein in der Knechtsgestalt eines Jüngers auftreten, sonst wird er nichts erreichen was wahrhaft fördern kann. Das Zweite, wodurch sich die Knechtsgestalt des Erlösers in seinem Leben äußerte, war dies, daß deßwegen, weil er kein äußeres Ansehen in der Welt hatte, auch seine ganze Wirksamkeit nicht bestimmt war durch einen äußeren Beruf. | Nun musste sie ihm aber irgendwie bestimmt werden; wodurch denn wurde sie ihm bestimmt? Willkührlich konnte er nicht handeln, sonst wäre das nicht wahr was er von sich selbst sagt, dass er nur thue, was er von dem Vater gesehen, und nur rede was er von ihm gehört habe, denn in Gottes heiligem Thun kann keine Spur von Willkühr sein. Sie konnte ihm also nur bestimmt werden durch die Bedürfniße der Menschen. Er war aufgestellt als die Stimme Gottes in der Welt, aber er wandte sich dahin wo ein Bedürfniß war ihn zu hören; und wie er seine wunderthätigen Kräfte in der Regel nur denen zum Besten äußerte, die ihm nicht nur unmittelbar auf dem Wege seines Lebens entgegentraten, um seine Hülfe zu empfangen, sondern sich mit Vertrauen an ihn anschloßen, so wurde seine geistige Wirksamkeit | auf die Gemüther der Menschen nur bestimmt durch ihren Wunsch und durch das Bedürfniß, wovon sie ahndeten, daß er es zu befriedigen im Stande wäre. Darum war er zum Dienste bereit allen Gliedern seines Volks, unter denen er lebte; wenn sie verlangten die Worte der 14 seinen] sein

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Weisheit und der Gottseligkeit von ihm zu hören, dann redete er; wenn sich einer an ihn anschloß, so kam er mit Liebe entgegen. Und eben dies, m. g. F., überall nicht nach eigener Willkühr handeln sondern allein nach dem göttlichen Willen, die Bestimmungsgründe der Handlungen nicht in sich selbst finden, sondern den Bedürfnißen der Menschen dienen, und jederman bereit sein, der eine wohlthätige Wirkung begehrt, das ist die vollkommenste Knechtsgestalt. Und diese geziemt | auch in dieser Hinsicht uns allen eben so wie der Erlöser sie trug. Wir sind ihm nicht völlig gleich in dieser Hinsicht; wir haben und jeder muß haben in der menschlichen Gesellschaft seinen bestimmten Beruf, und jeder lebt auch in den Verhältnißen des häuslichen Lebens genauer bestimmt als der Erlöser; und viel Gutes liegt uns zu thun ob in diesen Verhältnißen. Aber wenn wir nur als Khristen und nur in dem Namen unsers Herrn handeln wollen, so können wir uns nur durch die Bedürfniße der Menschen und durch ihr Verlangen bestimmen laßen. Wer es sich zum Ziel sezen wollte irgend da und dort zu wirken mit seinen geistigen Gaben wo es ihm einfällt, der würde sich gewaltig irren in der Bestimmung seines Lebens, weil | es gegen die Ordnung ist, welche überall im Reiche Gottes Statt finden soll; der würde als Herrscher auftreten, aber das Reich Gottes läßt sich nur in der Knechtsgestalt, wie es durch dieselbe gestiftet ist, so auch fördern. Das ist die rein sich hingebende Liebe, die dem Khristen geziemt, und in der er allein das selige Gefühl haben kann für die große Sache seines Herrn zu leben und zu handeln. Da und nur da wirksam sein wollen, wo unsre Wirksamkeit begehrt wird, das ist die Weise des Khristen; aber auch da mit aufopfernder Liebe, mit ganzer Kraft, mit geistigem Triebe wirksam sein, wo sich ein Bedürfniß der Menschen zeigt, das ist es wodurch sich die wahre geistige | Kraft in treuer Knechtsgestalt bewährt. Und das ist der gesegnetste Gang des Lebens, das ist das rechte und wahre Sichhingeben und Gesättigtsein von Khristo, sich eben so wie er jeder andern fremden Hülfe entsagen, und nur in der treuen Knechtsgestalt eines solchen einhergehen, der überall wo er die Zeichen bemerkt, unter denen es geschen kann, den Willen seines Vaters im Himmel erfüllen, und das Reich seines Herrn und Meisters bauen will. Und so pflanzt sich diese Knechtsgestalt, welche der Erlöser angenommen hat, und die allein das Werk Gottes fördert, von ihm fort durch alle Zeiten; und alles was nach äußeren Gesezen und Ordnungen an der Kirche Khristi hängt, das ist auch nur das äußere Unvollkommne; der wahre Segen in | dem Hause Gottes geht hervor aus dem sich alles Anderen entäußernden rein dienenden Werke derer, die nur begehren daß sie da sind nicht um sich zu dienen zu laßen, sondern daß sie selbst dienen überall wo sie wirken und schaffen können für den, dem sie sich gelobt haben. Darum, sagt der Apostel unmittelbar nach den Wor7 vollkommenste] volllkommensten

21 dem] den

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ten unsers Textes, weil er sich selbst erniedrigt hat und gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz, hat ihn Gott erhöhet, und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist, in welchem sich beugen sollen aller Knie im Himmel und auf Erden. Und wiewohl wir es sind, deren Knie sich vor ihm beugen, und wir Gott danken, daß wir ihn erkannt haben, daß er es ist, der uns geworden ist zum Heil, und | gern unsre Knechtsgestalt angenommen hat: so sind wir es doch auch die an seiner Knechtsgestalt Theil nehmen, so sind wir es doch, die nichts begehren, als die Menschen frei zu machen durch den Sohn, so sind wir es doch die ihre geistigen Wünsche und Bedürfniße theilen, so sind wir es, die indem sie sich selbst entäußern und aufopfern an seiner Herrlichkeit Theil haben. Denn die rein sich selbst entäußernde Liebe die ist es was überall Gewalt ausübt, die ist es der eine innere göttliche Kraft einwohnt; denn es ist ja das Wesen Gottes selbst der die Liebe ist, und nur deßhalb allmächtig ist, weil die Liebe rein die Liebe nicht sein könnte ohne eine überall wirksame Kraft. So laßt uns beides mit einem und demselben Blik zusammenfaßen: die Knechtsgestalt | deßen der gehorsam ward bis zum Tode am Kreuz, und die Herrlichkeit und Macht, die ihm gegeben ist bis der lezte Feind besiegt ist; und laßt uns aufrichtig an beiden Theil nehmen, nichts Anderes begehrend als in Knechtsgestalt einherzugehen wie er in dieser Welt, aber auch fühlend die Herrlichkeit die ihm verliehen ist, und an der er Theil nehmen läßt alle diejenigen welche seine Glieder sind, und die er als das Haupt vom Himmel herab regiert und zu sich zieht. Ja laßt uns ihm folgen in der Knechtsgestalt, so werden wir die Kraft seiner Herrlichkeit und Macht überall fühlen, und nicht mehr wir sondern er in uns und wir in ihm leben. Amen.

14 allmächtig] allmähtig 1–4 Vgl. Phil 2,8–10 16–17 Phil 2,8 18 Vgl. 1Kor 15,26 Joh 17,22; Röm 8,17–18 21–23 Vgl. Eph 4,15–16; Joh 12,32

20–21 Vgl.

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Sonntag nach Weihnachten, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Thess 5,18 Nachschrift; SAr 76, Bl. 165r–184v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 60r–61v; Gemberg Nachschrift; SAr 59, Bl. 102r–108r; Woltersdorff Nachschrift; SN 602/2/1; Bl. 1r–7v Keine

Predigt am Sonntage nach dem Khristtage 1820, am lezten Tage des Jahres, den ein und dreißigsten Khristmonds. Eine Nachmittagspredigt. | Tex t. 1. Thessalonicher V, 18. Seid dankbar in allen Dingen; denn das ist der Wille Gottes in Khristo Jesu an euch. M. a. F. Indem wir heute zum leztenmale in diesem Jahre hier mit einander versammelt sind an dem Ort unsrer gemeinsamen Andacht, so konnte mir, indem ich zu euch reden sollte, nicht entgehen, wie verschieden wohl die Empfindungen sein mögen, womit der eine und womit der andre das zu Ende gehende Jahr des Lebens beschließt, wie verschieden der Zustand, in welchem wir uns befinden, und die Erwartungen die wir hägen. Da war denn allerdings mir etwas Tröstliches ein solcher | Auspruch der Schrift, der alle diese Unterschiede, von welcher Art sie auch sein mögen, aufhebt, und allen Eins und daßelbige gebietet. Der Apostel schreibt an eine zahlreiche Gemeine von Khristen, an solche die auch schon um des Herrn und seines Wortes willen Leiden getroffen hatten. Aber gewiß hatten diese Leiden nicht alle getroffen, und er mußte voraussetzen, daß in der Gemeine in dem Augenblik, wo sein Brief an dieselbe gelangen würde, sich befinden würden Fröhliche und Trauernde, solche die mit Muth und Freudigkeit in die Zukunft schauten, und solche die mit den Trübsalen und Widerwärtigkeiten dieses Lebens kämpfend dem Herrn sein Kreuz nachtragen. Und doch sagt 17–18 Vgl. 1Thess 1,6; 2,14

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er darüber | allen ohne Unterschied „saget Dank in allen Dingen, denn das ist der Wille Gottes in Khristo Jesu an euch.“ Aber wenn es mich auf der einen Seite freute solche allgemeine und alle gleichmachende Worte des Apostels gefunden zu haben, so bedachte ich doch auf der andern Seite, daß sie mehr eine schöne und liebliche Rede wären als daß es ernstlich mit ihnen gemeint sei. Denn wenn es auch der Glaube ist, von dem wir uns nicht trennen sollen, daß denen die Gott lieben alle Dinge zum Besten gereichen müßen, so müßen wir doch gestehen, wenn wir uns selbst fragen und prüfen, es ist nicht immer das lebendige und unmittelbare Gefühl, was wir in der Gegenwart haben, es ist nicht dasjenige, was uns antreiben kann wie der Apostel | sagt, dankbar zu sein in allen Dingen, sondern warten möchten wir mit dem Dank in allen Dingen, bis es sich bewährt hat und wir finden, daß auch das Gottes Wille sei, wovon wir nur Unangenehmes und Schmerzliches voraussahen, und daß es sich für uns umgestaltet habe in einen erfreulichen Genuß. Dann fühlen wir uns fähig Dank zu sagen; aber nicht für Alles und in allen Dingen, was uns der gegenwärtige Augenblik bringt, und womit wir einen Zeitraum des Lebens beschließen, sind wir geneigt dem Herrn zu danken. Aber ernst hat es der Apostel genommen; und deßhalb wollen wir tiefer in den Sinn seiner Worte eingehen. Worauf | es beruht, daß wie der Apostel sagt es der Wille Gottes in Khristo Jesu an uns ist, dankbar zu sein in allen Dingen, das wird sich ergeben wenn wir betrachten, worin denn die Danksagung besteht. Es gehört nämlich zweierlei dazu, was nicht kann von einander getrennt werden, zuerst daß wir das wofür gedankt werden soll, auch in einem guten Gedächtniß bewahrt haben, und zweitens, daß wir alles was unser Herz beschäftigt und erfüllt als gut ansehen; denn nur wenn beides verbunden ist kann die Danksagung von uns gebracht werden, die der Wille Gottes in Khristo Jesu an uns ist. I. Also zuerst es ist der Wille | Gottes in Khristo Jesu an uns, daß wir alles was uns Gott in dieser Welt begegnen läßt, in einem feinen Herzen wohl bewahren, damit wir überall im Stande sind dem Herren Dank zu sagen in allen Dingen. Wenn wir, m. g. F., das menschliche Leben auf eine natürliche Weise betrachten, so können wir zweifeln, ob es beßer sei zu behalten oder zu vergeßen. Es könnte uns einer hinweisen auf unsre Kinder, und uns fragen ob sie nicht die glüklichsten Menschen sind? und wenn wir ihm dies bejahten, so könnte er dann uns weiter fragen, ob dies nicht größtentheils daher kommt, weil sie leicht und schnell vergeßen, und über dem unmittelbaren Genuß in der Gegenwart | nicht dazu kommen den vergangenen Augenblik 7–8 Vgl. Röm 8,28

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in der Erinnerung festzuhalten; und er könnte uns daran erinnern, wie jeder der eine Zeitlang des Lebens Mühen und Beschwerden ertragen hat, auch voll davon ist, daß das Leben nicht beßer kann bezeichnet werden als daß es sei eine Last, die wir uns noch erschweren indem wir das Bild der Vergangenheit der Seele vorhalten, daß des Unangenehmen und Widrigen im Einzelnen sowohl als im Großen mehr sei als des Angenehmen und Erfreulichen, und daß es daher beßer sei das Eine über dem Andern zu vergeßen, als das Eine mit dem Andern zu behalten. | Denn habe man einmal vergeßen, so habe man auch für die Zukunft keinen Maaßstab in der Vergangenheit, und könne mit demselben heitern Sinn alle dem was da kommen wird entgegen gehen, wie die Kinder nur in dem fröhlichen wechselreichen Spiel der gegenwärtigen Augenblike begriffen sorglos und ohne es selbst zu wißen der Zeit entgegenrüken, die noch nicht die ihrige ist. Wogegen freilich wiederum auch von derselben Betrachtung aus ein andrer sagen könnte, wenn man das Leben, welches hinter uns liegt, vergißt, so sei es eben so gut als ob es gar nicht dagewesen wäre, und das Vergeßen dem Behalten vorziehen hieße | den Tod dem Leben vorziehen. Man solle also behalten was sich nur immer aus der vergangenen Zeit der menschlichen Erinnerung einprägt, und dabei vertrauen auf die bekannte und fröhliche Erscheinung, daß der Mensch im Ganzen wenigstens leichter das Unangenehme und Widrige vergißt, das Erfreuliche aber und Gefällige behält, daß jenes in der Erinnerung seinen bittern Geschmak und seine herbe Farbe verliert, und dieses von allem Unangenehmen was ihm noch anklebt befreit wird. Das ist der Streit des natürlichen Frohsinnes und des natürlichen Trübsinnes der Menschen, der nicht leicht ist zu entscheiden, aber auch nicht braucht entschieden zu werden. Denn wenn der Apostel sagt „es ist der Wille Gottes in | Khristo Jesu an uns, daß wir dankbar seien in allen Dingen,“ so giebt er dadurch zu erkennen, daß die Regel die er uns giebt sich nicht bezieht auf die natürliche Betrachtung des Lebens der Menschen, sondern auf das Leben in Khristo Jesu, auf diejenige Betrachtung der Dinge, welche in denen die herrschende sein muß, die in Khristo Jesu und in der Gemeinschaft mit ihm sein Reich auf Erden zu bauen suchen. Und nehmen wir die Sache so, m. g. F., so müßen wir fühlen, daß uns nicht geziemen könne irgend etwas zu vergeßen, sondern wünschen müßen wir alle Führungen unsers Lebens in einem feinen guten Herzen zu bewahren, | und uns so viel und so gut es nur immer sein kann die ganze Vergangenheit für jede Zukunft, die uns der Herr noch bestimmt hat, aufzusparen. Denn in Khristo Jesu verschwinden alle die mannichfaltigen Unterschiede des Angenehmen und des Unangenehmen, der Lust und der Unlust, des Erhebenden und des Niederschlagenen im Leben; und was bleibt übrig davon? Zweierlei, das Zunehmen der Seele in der Gemeinschaft mit dem Erlöser, und wo dies nicht geschehen ist das Gefühl und das Bewußtsein menschlicher Schwachheit und menschlichen Verderbens. Alles was uns in dieser Welt begegnet, von welcher Be-

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schaffenheit es immer sein mag, es | geht in diesen beiden auf für denjenigen, der in Khristo Jesu ist, und sein ganzes Leben nur in Beziehung auf ihn betrachtet; alles hat ihm entweder zu dem Einen gereicht, oder es hat sich ihm das Andre darin kund gegeben. Wie könnten wir irgend etwas vergeßen wollen, was uns zur Zunahme gereicht hat in der Gemeinschaft mit dem Erlöser, worin sich uns seine versöhnende Liebe, die Milde, mit der er von oben herab seinen irdischen Leib, die Gemeine derer, die an ihn glauben, regiert, die Freudigkeit, womit er allen ihn suchenden Gemüthern nahe kommt, kund gethan hat – wie könnten wir irgend etwas hierhin Gehöriges vergeßen wollen? | Aber auch das sollen wir nicht vergeßen wollen, m. g. F., worin sich uns die menschliche Schwachhheit und das menschliche Verderben kundgegeben hat; denn das zu behalten das ist uns lehrreich und heilsam, daran wird uns jede wahrhafte und reine Erinnerung ein herzliches Gebet um die göttliche Vergebung, welches nicht ohne reichen Segen zu dem Herzen, von welchem es ausgegangen ist, zurükkehrt; sondern es mit der wahren inneren Kraft des Geistes Khristi erfüllt, damit daßelbe von dem Verkehrten sich wegwendend mit gestärktem Muth und in reiner Liebe zu dem Erlöser nichts anders begehre als sein Reich in dieser Welt zu bauen, und alles was hier | mit zusammenhängt allein auf ihn zu beziehen, der da ist der Anfang und das Ende. Ja nicht nur das sollen wir nicht vergeßen was uns an unsre eigene Schwachheit und an unser eigenes Verderben erinnert, sondern auch nicht einmal das wodurch sich uns die Schwachheit und das Verderben unsrer Brüder offenbart. Ganz scheint das was ich so eben sage entgegen zu sein dem wahren Wort, man solle vergeben und vergeßen, welches zu besagen scheint, daß für alles was wir selbst Bitteres Kränkendes Störendes und Falsches in dem Laufe des Lebens von unsern Brüdern erfahren haben, die Vergebung | nur dann vollkommen sei, wenn wir die Sache selbst vergeßen haben. Aber das Vergeßen, m. th. F., kann niemals irgend etwas Gutes und Vollkommenes sein, weil es ja doch eine Schwachheit der menschlichen geistigen Kräfte in sich schließt; und so müßen wir nur von jenem Worte den wahren Sinn aufzufaßen suchen. Das vergebende Vergeßen ist ein solches Vergeßen, daß dasjenige was der andre uns Nachtheiliges und Kränkendes zugefügt hat, auf unsre Handlungsweise gegen ihn keinen Einfluß hat, daß es uns wohl einfällt und lebhaft vor der Seele steht in Beziehung auf uns selbst, aber nicht in | Beziehung auf ihn, so daß es unserm endlichen Bestreben, ihm überall wo er unsers Beistandes bedarf durch Wort und That zu helfen, ihm liebreich unter die Arme zu greifen, wo er selbst zu wanken anfängt auf dem Weg eines Gott gefälligen Lebens, und bedeutende Schwierigkeiten sich ihm entgegen stellen, um ihm zu einer immer deutlicheren Erkenntniß des göttlichen Wil20 Vgl. Offb 1,8; 21,6; 22,13

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lens zu verhelfen, daß es diesem Bestreben keinen Einhalt thue. Aber in Beziehung auf uns sollen wir auch das nicht vergeßen. Denn auch alle Kränkungen und Beleidigungen von unsren Brüdern, sie mögen nun mit oder ohne ihren Willen uns zugefügt sein, | sie mögen sich auf einen Mißverstand von ihrer Seite gründen, oder ein Herz verrathen, welches ohne Liebe ist, alle gereichen uns auch zu dem Einen oder zu dem Andern, entweder giebt sich uns darin kund ein Zunehmen in der Gemeinschaft mit dem Herrn und in der treuen Erfüllung seines Willens, wenn wir jeder so wie er seine Feinde und Widersacher behandeln, oder wenn wir hinter seinem Ebenbilde weit zurükbleiben, gelangen wir zu einer vollständigeren Kunde unsers eigenen Verderbens, indem wir die Wirkungen, welche das Verderben andrer auf uns macht, dann deutlicher als in andern Fällen des Lebens kennen lernen. Das ist gewiß, | in Khristo Jesu sollen wir nichts vergeßen, sondern alles in dankbarer Erinnerung tragen, wodurch sich die lebendige Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe offenbart, in der wir mit ihm stehen, und zu der uns sein Geist erhoben hat, mit welchem er immerdar bei uns zu sein verheißen hat, und alles in heilsamer Erinnerung bewahren, wodurch sich unsre eigene Schwachheit und unser eigenes Verderben kund giebt, damit wir wißen wie wir selbst beschaffen sind, und woran es uns noch fehlt, und uns dadurch aufgeregt fühlen zeitig unsre Zuflucht zu dem zu nehmen, der allein uns heiligen kann und uns ihm wohlgefällig machen. | II. Aber nun laßt uns zu dem zweiten Theil unsrer Betrachtung übergehen, daß wie wir auf der einen Seite nicht vergeßen sollen, sondern in einem feinen Herzen bewahren alle Führungen Gottes mit uns in dem vergangenen Leben, wenn auch wir wie der Apostel sagt Gott Dank sagen sollen in allen Dingen, d. h., für Alles, es mag angenehm gewesen sein oder unangenehm, so sollen wir auf der andern Seite alles was unser Herz beschäftigt und erfüllt als gut ansehen. Und es scheint nach dem Vorigen, daß hierüber nur Weniges noch hinzuzufügen sei um das Gemüth beim Schluße des Jahres in diejenige Stimmung zu versezen, in | welcher es fähig ist dem Herrn für alles Dank zu sagen. Denn daß wir ohne Unterschied Gott danken werden für alles was uns gereicht hat zur Förderung unsers Seelenheils und zur Zunahme in der Gemeinschaft mit unserm Erlöser, gleichviel ob es nach der natürlichen Betrachtungsweise der Menschen etwas Angenehmes und Erfreuliches gewesen ist oder etwas Widriges und Niederschlagendes, gleichviel ob es uns Anfangs viel Besorgniß verursacht und manchen schweren Kampf und manche heiße Thräne gekostet hat, oder ob uns leicht und ohne Verlust auf der äußern Seite unsers Lebens | das geistige Gut daraus entstanden ist, daß wir für das Eine so wie für das Andre Gott Dank sagen werden, darüber ist

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nicht nöthig etwas hinzuzusezen, denn es versteht sich von selbst. Aber nun ist auf der einen Seite im menschlichen Leben die große Menge des Zweifelhaften und Unentschiedenen, und auf der andern Seite, wir wollen hoffen nicht so zahlreich, dasjenige, worin sich einem jeden der gegenwärtige Zustand und die daran haftende Gebrechlichkeit der menschlichen Natur kund gethan hat. Was das Erste betrifft, m. g. F., so sollte jeder, der schon zum Preise Gottes die Erfahrungen der göttlichen Güte gemacht hat in seinem Leben, und es inne geworden ist, daß | der Gott, von welchem er sich selbst abhängig weiß, in allen seinen Wegen die Liebe ist, und jeder der die menschliche Geschichte im Großen mit frommem Herzen betrachtet und gesehen hat, wie Gott der Herr im Großen und Allgemeinen alles dazu lenkt, daß der menschliche Geist immer mehr der großen Erkenntniß Gottes seines Schöpfers und seines Erlösers, zu der er sich berufen fühlt, nicht unwürdig werde, sondern sie auch immer weiter in sich ausbilde, jeder der so das menschliche Leben beschaut hat, von dem sollten auch in Beziehung auf dasjenige was ihm noch zweifelhaft und unentschieden ist, alle Zweifel entfernt sein, und | er sollte im voraus bereit sein, dem Herrn Dank zu sagen für alles deßen Ausgang für das Reich Gottes auf Erden noch zweifelhaft sein kann, und das sollte er in dem festen Vertrauen, daß so er selbst nur nicht weicht von dem lebendigen Glauben an den Herrn und von der Treue in der Gemeinschaft mit ihm, er auch alles für ihn zu einem guten Ausgang und zu einem herrlichen Ziel führen werde. Aber so ist es nicht – das lehrt uns die tägliche Erfahrung; und in den meisten Fällen sind wir noch zu schwach, um das was uns noch unentschieden scheint, und deßen völlige Entwiklung wir erst in der Zukunft sehen werden, für dieses Gott Dank zu sagen nicht nur | mit den Lippen sondern mit einem gefühlvollen Herzen, welches das Zeugniß ablegen möge von der Innigkeit jenes Glaubens – dazu fühlen wir uns in den meisten Fällen zu schwach. Fragen wir woher das kommt? so liegt die Antwort nicht weit. Das Verwirrende und Zerstörende in solchen Ereignißen ist dasjenige was wir vor Augen haben, was uns schon jezt auf mannichfaltige Weise berührt; aber die Wendung derselben zu dem eigenen oder allgemeinen Wohl die liegt in der Ferne, und wir können sie nicht bestimmt einsehen, weil der Herr uns nicht vergönnt hat in die Zukunft zu schauen. Indem nun dies ein unbestimmter Eindruk ist, | jenes aber ein in die Sinne fallender und die äußere Seite unsers Lebens treffender Einfluß, so werden wir von jenem hingerißen, dies aber verschwindet. Aber eben weil wir uns in dieser Hinsicht schwach fühlen, hat der Apostel den Khristen die Ermahnung gegeben, sagt Dank allezeit für Alles; denn das ist der Wille Gottes in Khristo Jesu an euch. Wenn wir diese Ermahnung auch in Beziehung auf diesen nicht unbedeutenden Theil des menschlichen Lebens können annehmen wollen, so ist klar, wie wir es anfangen müßen, daß uns das Heilbringende nicht etwas Fernes sei, sondern als nahe erscheine. Und, m. g. F., das soll doch wohl von allen |

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wahr sein die in Khristo Jesu sind. Denn was schon jenes herrliche Wort im alten Bunde sagt, das Wort Gottes und das Gebot Gottes seien uns nicht fern, daß einer erst sagen müßte, wer will in den Himmel hinaufsteigen, und es uns herabbringen, und wer will über das Meer sich erheben, daß wir seine Stimme vernehmen, sondern es ist in unserm Munde und in unserm Herzen: das nämliche können und sollen wir fühlen von allen Ereignißen des menschlichen Lebens, sofern sie ein Wort Gottes an die menschliche Seele sind, daß wir sie nicht erst brauchen in der Ferne zu suchen, sondern das Heilbringende derselben muß uns nahe sein, und unmittelbar | unser Inneres einnehmen. Denn alles was uns lebhaft berührt, befestigt uns entweder in der Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe zu unserm Erlöser, oder es ist eine Offenbarung unsers menschlichen Verderbens und unsrer menschlichen Schwachheit. Und das müßen wir fühlen überall, wo die Begebenheiten, deren Segen und Einfluß auf die Förderung des Wahren und Guten auf Erden uns noch unbekannt ist, uns berühren. Geschieht es so, dass wir alles dabei aus unserm Herzen vertilgen können, was Mangel ist an Ergebung in den göttlichen Willen, geschieht es so daß wir keinen Haß faßen gegen diejenigen, welche Gott zu Werkzeugen gebraucht hat bei | dem was uns unangenehm erregt, geschieht es so daß wir uns selbst ansehen als solche, denen der Herr durch alle Ereigniße des Lebens die Augen des Geistes gnädig öffnen will für die Erkenntniß seines Willens, geschieht es so daß wir den Sinn immer darauf gerichtet haben, daß wir unsers Muthes Herr bleiben, und daß wir uns zu nichts verleiten laßen, um etwa den Ausgang der Begebenheit auf eine heilsame Weise zu lenken, und uns sicher in den Besiz des daraus erwachsenden Gutes zu sezen, daß wir uns zu nichts verleiten laßen noch in irgend etwas der Art willigen, was uns nothwendig aus der Gemeinschaft | mit unserm Erlöser entfernen müßte dann fühlen wir die Stärke und die Kraft des Erlösers in uns, und wenn wir sie in uns fühlen, so haben wir zugleich die Stärke Gott Dank zu sagen in allen Dingen; dann wißen wir daß diese Stärke wirken werde in allen denen, die mit wahrer Treue und Liebe an unserm Erlöser hängen; dann ist das Nahe und Gegenwärtige hinreichend genug um uns aufzuregen, daß wir Gott Dank sagen in allen Dingen, daß wir ihm das Ferne und Zukünftige anheimstellen, überzeugt daß wir in jedem Augenblik so etwas haben werden, woran wir erkennen können, daß wir unter seiner weisen Obhut | stehen, und daß wir ihm angehören wie er unser Herr und Vater ist. Wenn es aber anders ist, wenn die ungewißen und zweifelhaften Dinge dieses Lebens uns zu irgend einer Art des Murrens gegen Gott bewegen, wenn sie uns irgend eine Art von Furcht und Besorgniß einflößen, die deßen nicht würdig ist, der voll ist des Vertrauens, daß die Gemeine des 2–6 Vgl. Dtn 30,11–14

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Herrn alle Pforten der Hölle nicht überwältigen werden, o wenn sie uns zu etwas verleiten, was die Liebe zum Nächsten in unserm Herzen trübt: so verkündigt sich darin unsre eigene Schwachheit und unser eigenes Verderben. Aber welche | Wohlthat ist das nicht schon für uns, daß wir deßen inne geworden sind; und soll unser Verderben uns nicht bewegen umzukehren, und das Gemüth wieder zuzuwenden dem himmlischen Vater, und Vergebung bei ihm zu suchen? So ist es in Allem wenn unser eigenes Herz uns verführt hat, und ohne eine überwiegende Veranlaßung von außen auf dem gewöhnlichen Wege unsers Lebens uns kund geworden ist etwas von den uns anklebenden Fehlern und Unvollkommenheiten, von der Macht der Sünde in allen selbst den geheimsten Gedanken und Gefühlen der menschlichen | Seele; auch da ist der Wille Gottes in Khristo Jesu an uns, daß wir ihm danken. Denn überall ist das der erste Anfang wie von vorn herein so auch der Fortschritt in der Heiligung, daß der Mensch sich selbst recht erkenne, und er hat Ursach Gott zu danken für jede Gelegenheit, die sich ihm dazu darbietet, in die Tiefen seines Herzens zu bliken; und beßer ist es, wenn die Schiksale des Lebens uns dazu führen, als wenn wir still in uns selbst hineingehen und uns enthüllen das Böse, welches in uns ist; denn das Leztere giebt der Heiligung ein tieferes Leben, das Erstere beschleunigt sie. | Und was kann uns mehr antreiben Gott Dank zu sagen, als wenn uns die Augen über uns selbst geöffnet werden, und wir Veranlaßung haben unser Inneres in dem Spiegel der Wahrheit zu beschauen. Aber freilich, m. g. F., so wahr wir dieses Wort des Apostels finden, und anwendbar auf einen Tag wie der heutige, wo wir zum leztenmal einen bedeutenden Abschnitt des Lebens vor Gott überdenken, wie es ist der Wille Gottes in Khristo Jesu, Gott Dank zu sagen in allen Dingen: so müßen wir es fühlen, daß es nur in Khristo Jesu geschehen kann, daß wir nur durch den, der uns den Weg zur Erkenntniß des Vaters | und zur Erfüllung seines Willens gezeigt hat, eine solche Ansicht des menschlichen Lebens gewinnen können, in welcher wir alles was uns begegnet als eine Aufforderung zur Danksagung ansehen, und daß wir nur durch ihn, durch seine Hülfe und unter dem Beistand seines Geistes das Werk unsrer Heiligung wirken können, und den Muth faßen einen solchen Gang des Lebens zu gehen. Wenn wir also, m. g. F., im Stande sind, am Ende des Jahres der Ermahnung des Apostels zu folgen, wenn wir hintansezen alle irdische Ansichten von dem, was jeden von uns einzeln und in der großen | Gemeinschaft der Menschen berührt, um Alles nur zu beziehen auf das Eine was Noth thut, auf das Heil der Menschen in Khristo Jesu; wenn wir Glauben und Vertrauen genug haben, und was so wesentlich damit verbunden ist Einfallt und Wahrheit des Herzens genug, um Gott Dank zu sagen in allen Dingen: so müßen wir bekennen, auch das ist nicht unser sondern unsers Erlösers Werk an uns; und so kann es nur in ihm der Wille Gottes an uns sein. Erst müßen die Menschen

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zu ihm gesammelt sein, der der Weg ist, die Wahrheit und das Leben, erst müßen sie durch die Wahrheit frei geworden sein, ehe das der Wille Gottes an ihnen | sein kann, im Laufe des Lebens, wo nichts feststeht und sicher ist von den menschlichen Dingen, und wo das schon ausgemachte Gut sich so oft in eine weite Ferne hinausschiebt, Gott Dank zu sagen für Alles. Das kann nur der Wille Gottes an denjenigen sein, die durch Khristum seine Kinder geworden sind, die durch ihn den großen Beruf bekommen haben sein geistiges Reich auf Erden zu bauen, und darin ihre ganze Bestimmung und ihre ganze Seligkeit zu finden. Dazu nun sind wir berufen in ihm; und ihn laßt uns auch dafür mit einander preisen, daß er uns eine solche Ansicht des menschlichen Lebens aufgedekt | hat, und daß er auch der ist, in welchem wir Gott Dank zu sagen fähig sind. Denn von ihm allein und von der Kraft seines Wortes und dem Beistand seines Geistes ist alles gekommen, was ein jeder von uns in dem vergangenen Jahre zugenommen hat in der Gnade, in der Gemeinschaft seiner Liebe und in der Treue gegen Gott den Vater, der ihn in die Welt gesandt hat zu unserm Heil; und ihm haben wir es zu danken, wenn jede Begebenheit des Lebens uns nicht gereicht hat zur Muthlosigkeit sondern zur festen Treue gegen sein Wort und seinen Willen, uns immer mehr tränken zu laßen von seiner Kraft, und Alles seinem Regiment in der Seele zu unterwerfen. Sei es | viel oder wenig – das ist dankenswerth in dem verfloßnen Jahre; und von allem andern mag es gleichgültig sein, ob wir es vergeßen oder behalten: aber für alles was Wahrheit ist in Khristo Jesu, dafür laßt uns Gott danken jezt und immerdar. Amen.

1–2 Vgl. Joh 14,6

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Predigten 1821

Nachschrift der Predigt vom 2. Juli 1820 vormittags, SAr 52, Bl. 41v; Gemberg – Faksimile.

Am 1. Januar 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Neujahrstag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Kol 4,2–6 Nachschrift; SAr 77, Bl. 1r–18r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 61r–64r; Gemberg Beginn der vermutlich bis zum 25. Februar 1821 gehaltenen Predigtreihe zu Christi Beispiel (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liedangabe (nur in SAr 52) Tageskalender: „Erste Frühpredigt”

Frühpredigt am Neujahrstage 1821. |

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Tex t. Koloßer IV, 2–6. Haltet an am Gebet, und wachet in demselbigen mit Danksagung; und betet zugleich auch für uns, auf daß Gott uns die Thür des Worts aufthue, zu reden das Geheimniß Khristi, darum ich auch gebunden bin, auf daß ich dasselbige offenbare, wie ich soll reden. Wandelt weislich gegen die die draußen sind und schiket euch in die Zeit. Eure Rede sei allezeit lieblich und mit Salz gewürzet, daß ihr wißet, wie ihr einem jeglichen antworten sollt. M. a. F. Es ist eine schöne Sitte vieler Khristen gleich in der ersten Morgenstunde ihr Auge zu werfen auf irgend ein kräftiges Wort | der Schrift, und dasselbe zum Leitstern zu haben für den Tag den sie beginnen, und gewiß geht dies aus innerer Erfahrung und Erleuchtung, und um uns zu bewahren vor dem, was uns sonst wider den göttlichen Willen bestechen könnte, hervor. Wie wir uns nun heute hier in der frühen Morgenstunde eines neuen Jahres mit einander bewillkommnen, so habe ich uns dieses kräftige Wort des Apostels ausgewählt zum Wahlspruch für unser ganzes Thun und Trei1 Frühpredigt ... 1821.] darunter auf der Mitte der Seite Notiz von Schleiermachers Hand zum Umfang der ihm hier vorliegenden Nachschriften: bis Anfang der Passionszeit 2 IV, 2–6] IV, 1–6 1 Liedangabe in SAr 52, Bl. 61r: „Lied: Helft mir Gottes Güte preisen“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Nr. 685 (Melodie von „Von Gott will ich nicht lassen“)

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ben in dem Jahre, welches wir jezt beginnen. Es scheint zu viel darin zu sein; aber es greift alles genau zusammen, und von dem Größten bis zu dem Kleinsten läßt sich nichts trennen. Denn | das Erste bezieht sich auf die geistige Gemeinschaft der Khristen untereinander: Gebet und Danksagung und Verkündigung des göttlichen Worts. Das Andre scheint freilich wenn wir lesen, „wandelt weislich gegen die die draußen sind“ eigentlich nur zu gehen auf das Leben der Khristen, welche keine sind. Solche nun haben wir unter uns und unter andern nicht mehr, wie es in der ersten Zeit der Verkündigung des Khristenthums der Fall war, und ihr wißt es ist nicht meine Art die Zahl der Gläubigen auf ein kleines Häuflein zu beschränken, sondern alle, die den Namen unsers Herrn Jesu Khristi bekennen, die sind hier, | und ist auch etwas in ihren Gedanken und in ihrem Leben, was uns mit dem Bilde welches wir haben von dem Zustande des Menschen, der durch den Sohn die Kindschaft mit dem Vater erlangt hat, nicht zu stimmen scheint, so sehen wir sie an als schwache Brüder, die wir in Liebe tragen sollen, und hoffen zu Gott, er werde ihnen je länger je mehr das Wahre offenbaren, und ihnen aufschließen immer mehr die reine Erkenntniß seines Willens nicht nur, sondern sie auch befestigen in der Erfüllung derselben, damit so immer mehr aus ihrem Leben weiche, was noch nicht durchdrungen | ist von seinem Geist. Aber in dem Leben auch der Khristen ist vieles was sich nicht so unmittelbar auf ihre geistige Gemeinschaft bezieht. Freilich können wir auch hier keine bestimmte Gränze ziehen; und alles in unserm Leben sollen wir geistig behandeln nach dem Ausspruch, daß hier schon unser Wandel im Himmel ist. Aber doch giebt es in unserm Leben im Verkehr und Handeln mit andern vieles, wobei es keinen Unterschied machen würde, ob sie Khristen sind oder nicht; und darauf müßen wir die zweite Hälfte der Rede des Apostels beziehen. Dies beides zusammen umfaßt unser ganzes Leben. Laßt uns | in das neue Jahr unsers Lebens schauen: was wir darin thun können wird zu Einem von beiden gehören. Und so haben wir hier ein Wort des Apostels, woran wir gedenken können alle Tage unsers Lebens, und so wollen wir es in dieser Stunde der Andacht mit einander erwägen. I. Zuerst in Beziehung auf die khristliche Kirche sagt der Apostel „haltet an am Gebet und wohnet in demselbigen mit Danksagung“. Gebet und Danksagung, m. g. F., ist wie der beständige Pulsschlag, wie das Ein- und Ausathmen in dem geistigen | Leben des Khristen, empfangend und nachdem wir was wir empfangen verarbeitet wiederfühlend, daß wir bedürftig sind; das ist der beständige Wechsel zwischen Gebet und Danksagung in unserm Leben. Gott ist es, zu dem wir beten und dem wir Dank sagen, unser Herr 15–16 Vgl. Röm 15,1

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Khristus ist es, in deßen Namen wir zu Gott beten und ihm Dank darbringen für Alles; und beide sollen uns in Allem, wodurch der Sohn uns zu dem Vater zieht, und wodurch der Vater das Bild des Sohnes in uns verklärt, gegenwärtig sein im Innern. Und wie nicht nur alle guten Gaben von oben herabkommen von dem Vater der Liebe, sondern wir auch fühlen, daß alles was von oben kommt, | gute Gabe ist und ein Strahl des Lichtes, das unsre Seele erleuchten soll, und sie Gott immer näher bringen: so ist alles was uns in unserm Leben begegnet, ja auch alles was wir zu thun berufen werden durch die Stimme des Geistes, ein Gegenstand des Gebets wenn es beginnt, der Danksagung wenn es vollendet ist, und unser erstes Gefühl soll sein dieser beständige Wechsel zwischen Gebet und Danksagung; das heißt was der Apostel sagt: „haltet an am Gebet“. Aber er ermahnt auch die Khristen, an welche er schreibt „wachet in demselbigen mit Danksagung“. Und wir fühlen, daß wir auch diese Ermahnung nöthig haben; denn es beschleicht uns oft in diesem Leben | mit Gott und dem Erlöser der Schlummer. In jedem Augenblik wo wir scheinen andern Menschen am thätigsten zu sein, wo unsre Thätigkeit am größten ist und sich am weitesten verbreitet, aber wo wir die Dinge betrachten ohne Beziehung auf Gott; da ist die Wachsamkeit aufgehoben, da nähert sich die Seele dem Schlummer, der die Nacht ist, wo sie nicht wirken kann was aus Gott ist, und seinem heiligen Willen entspricht. Wer aber im Begriff ist einzuschlummern, der kann sich nicht lange wach erhalten. Aber eben deßhalb stehen wir nicht einzeln in diesem Leben, sondern sind Glieder Eines Leibes, und alle verbunden durch die Beziehung | auf das gemeinsame Haupt, welches Khristus der Herr ist. Und wenn der Apostel sagt „und wachet in demselbigen mit Danksagung“ so meint er, daß jeder der wachsam ist den hüten soll der schlummern will; den soll er erweken nachdem ihm Gott Gnade giebt; und so soll das ganze Leben der Khristen eine gemeinsame Wachsamkeit sein, so soll der eine dem andern beistehen, daß das wahre Gebet des Herzens und die lebendige Danksagung gegen Gott nie aufhöre. O möchten wir uns so das neue Jahr unsers Lebens denken und gestalten können, wäre es nicht die Gemeine der Vollendeten droben, in der auch | Gebet und Danksagung nicht erstirbt? Aber wohl betrachtet können wir uns das Anhalten des Gebets alleine nicht denken das Leben eines geistigen Wesen wie wir sind ausfüllend, aber mit dem thätigsten Wirken in dem Reiche Gottes, mit der treusten Erfüllung des göttlichen Willens kann das Gebet begleitet sein; und so soll dies nicht etwa ein Bild sein, welches wir in die Ewigkeit hinausrüken, und dem wir dort erst nachstreben werden, sondern hier in dem gegenwärtigen Leben ist es, wo wir beständig Dank zu sagen haben Gott für alle Führungen und Leitungen. Und wenn der Apostel hinzufügt „und betet zugleich auch für uns, daß Gott uns die Thür des Wortes aufthue, 4–6 Vgl. Jak 1,17

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damit wir das Geheimniß | Khristi reden, darum wir auch gebunden sind, und dasselbige offenbaren wie wir reden sollen“ – so ist das, m. g. F., zunächst ein Wunsch für alle diejenigen, welche in der Gemeine der Khristen den Dienst der Verkündigung des göttlichen Wortes versehen; und wer wohl mehr als sie bedürfte des gemeinsamen Gebets aller Khristen, damit sie ihren heiligen Beruf in dem Sinn und Geist unsers gemeinschaftlichen Herrn und Meisters führen mögen, und das Amt des Wortes nie aufhöre in reichem Segen zu stehen. Aber es ist nicht ein Wunsch für diese allein, sondern wie derselbe Apostel an einem andern Ort sagt, in Beziehung auf das heilige Mahl des Herrn, welches | wir alle theilen „so oft ihr von diesem Brot eßet und von diesem Kelch trinket, sollt ihr des Herrn Tod verkündigen bis daß er kommt“, und ja doch die Verkündigung seines heilsamen Todes das Größte und Herrlichste ist von aller Verkündigung des Worts: so sieht der Apostel die Verkündigung des Worts nicht an als ein abgesondertes Geschäft einzelner weniger sondern als das gemeinsame Geschäft aller Khristen. Und gewiß das muß unser gemeinsames Geschäft sein; denn es sind nur wenige Stunden des Jahres, in denen die Diener des Wortes das Wort des Herrn verkündigen auf die ihren Beruf ausnehmend eigenthümliche Weise; sie sollen es nicht nur da sondern überall | in ihrem Leben verkündigen, aber da nicht anders als alle Khristen es sollen, die mit ihnen Einen Herrn erkennen, und durch ihn zur Gemeinschaft mit dem himmlischen Vater zu gelangen suchen. Und wir können, wenn wir den Worten des Apostels nachgehen „leben wir so leben wir in dem Herrn; und alles was ihr thut das thut zur Ehre Gottes“, so müßen wir unser ganzes Leben in allen Beziehungen desselben ansehen als eine Verkündigung des göttlichen Wortes. Ueberall liegt es uns ob, in demselben den Herrn zu preisen, und seinen Namen dadurch zu verherrlichen, daß wir durch Wort und That es bezeugen, | wie alles Gute was wir hier genießen sein Werk ist, ja wie von ihm nur kommen kann was wahrhaft gut ist und förderlich in Beziehung auf unser Heil. Was aber das Nächste in den Worte des Apostels betrifft, so ist es ein herrlicher Wunsch wohl geziemend allen denen, die darauf gewiesen sind anzuhalten an Gebet und in demselbigen mit Danksagung zu wachen, daß so wie diese das Innerste ihres Lebens mit Gott und mit dem Erlöser ausmacht, so auch der Herr ihnen Gnade geben möge, und ihnen aufthue die Thür des Wortes, damit sie mit ihrem ganzen Leben von dem Geheimniß Khristi zeugen. Aber der Apostel, m. g. F., der redet von einer besonderen Art und Weise | das Wort zu verkündigen „damit wir von dem Geheimniß Khristi reden, darum ich auch gebunden bin, auf daß ich dasselbige offenbare wie ich soll reden“. Wie sollen wir von dem Geheimniß Khristi reden? O, m. g. F., wie könnten wir das schöner beschreiben als mit den Worten des Propheten, die auch einer von den Evangelisten des Herrn auf ihn ange10–12 1Kor 11,26

23–24 Vgl. Röm 14,8; 1Kor 10,31

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wendet hat „er wird das geknikte Rohr nicht zerbrechen, und das glimmende Docht nicht auslöschen; er wird nicht schreien und zanken, und man wird sein Geschrei nicht hören auf den Gaßen.“ Das, m. g. F., ist die rechte Art, wie wir alle unsern Herrn und Meister ehren, und ihm treu nachfolgend sein Wort verkündigen, und das Geheimniß Khristi offenbaren, | wie wir reden sollen, nicht mit Zank und Geschrei, nicht mit öffentlichem Lärm und Aufsehen, sondern in der Stille eines Gott ergebenen Gemüths, in der treuen Erfüllung des Gott gefälligen Willens und alles deßen was das gemeinsame Leben ausmacht. Denn eben deßwegen ist die Gemeine der Khristen eine so große und herrliche Versammlung von Seelen, damit so wie der kirchliche Gesang seinen Wohllaut erst bekommt in einer zahlreichen Gemeine eben dadurch, daß man in der heiligen Musik die Stimme der innern Andacht erkennt, welche jedes einzelne Herz erfüllt, so weil auch ihrer viele sind und ein großes Heer, die ihre Knie beugen vor dem Erlöser, | dem Gott alle Gewalt gegeben hat im Himmel und auf Erden, es hinreicht, wenn jeder in der Stille Khristum bekennt, und dann erst, wenn vermieden wird alles Geschrei, der ganze Wohllaut des khristlichen Lebens und Denkens in dieser Verkündigung des Geheimnißes Khristi offenbar werde. Wo am meisten Ruhe ist, wo jeder still hervortritt mit den Gaben die ihm der Herr verliehen hat, ohne irgend ein Aufsehen machen zu wollen, wo jeder in Sanftmuth und Demuth zeugt von Khristo und von dem was sein Geist in der Welt und in allen einzelnen an ihren gläubigen Herzen wirkt: da ist das was der Apostel will, daß wir das Geheimniß Khristi offenbaren | sollen, das ist das was der Herr in seinem Leben nicht nur so oft empfohlen sondern auch öffentlich durch sein eigenes Beispiel dargestellt hat. Und dann o daß durch uns nie ein gekniktes Rohr zerbrochen, nie ein glimmendes Docht erlöscht werde, daß wir nicht durch rasches heftiges unüberlegtes Hin- und Herfahren irgend ein schwaches Gemüth verführen, sondern überall das aufrichten was kraftlos hingesunken, das tragen was noch keine Selbstständigkeit gewonnen hat, denen zu Hülfe eilen, die unsrer Hülfe bedürftig sind, damit wir wie es uns obliegt das Geheimniß Khristi reden. Wie der Herr sagt, daß er gekommen sei zu suchen und selig zu machen was verloren war, so soll jede Verkündigung des göttlichen Wortes in dem Leben | seiner Verehrer dazu beitragen, daß gesucht und gefunden werde was verloren ist, daß geleitet werde, was allein den Weg nicht finden kann, und durch die gemeinsame Kraft gestärkt und unterstüzt was für sich selbst erliegen würde. Und wenn so beides zusammenkommt, das Anhalten am Gebet und an der Danksagung, und die gemeinschaftliche Unterstüzung 22 ihren] ihr 1–3 Vgl. Jes 42,2–3 (zitiert in Mt 12,19–20) Mt 18,11; Lk 19,10

15 Vgl. Mt 18,18

32–33 Vgl.

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mit allen Kräften, die uns durch die Gnade des Herrn zu Theil geworden sind: dann ist das innere Leben der khristlichen Kirche das was es sein soll nach dem göttlichen Willen, und dann wird auf die herrlichste und segensreichste Weise überall in der Welt das Geheimniß Khristi offenbart.

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II. | Und nun laßt uns zweitens auch den Ausspruch des Apostels betrachten in Beziehung auf dasjenige, was sonst noch zu dem menschlichen Leben gehört. Da sagt er „wandelt weislich gegen die die draußen sind“; und dies weislich wandeln erklärt er durch zwei Worte: „schiket euch in die Zeit; und eure Rede sei lieblich und mit Salz gewürzet, daß ihr wißet was ihr einem jeglichen antworten sollt”. Das Erste, m. g. F., bezieht sich mehr auf das, was in unserm Leben von uns selbst unmittelbar ausgeht; das Andre auf die Art, wie unser Leben und Dasein in das Leben und Dasein unsrer Brüder eingreifen soll. Von dem Ersten sagt der Apostel, „schiket euch in die Zeit“. Das ist freilich ein oft gemißbrauchtes Wort. Aber | wenn wir den Apostel kennen, diesen muthigen Verkünder des göttlichen Worts, diesen nie zaghaften Helden des Khristenthums: so können wir über den Sinn desselben nicht zweifelhaft sein. Es ist auch in dem gemeinsamen Leben welches wir führen, ein Nichttheilnehmen für jeden, dem es am Herzen liegt nach Gottes Willen zu handeln; viel giebt es da zu schaffen des Guten, zu beßern des Unvollkommnen, auszutreiben des Bösen und Verkehrten; und das alles umfaßt der Mensch Gottes mit innigem und regen Eifer. Aber vermögen wir alles? Können wir alles thun und leisten, was unser Auge sieht, und wozu uns auch die Kräfte gegeben sind? Nein; und darum sagt der Apostel eben „schiket euch in die Zeit“; | das heißt nichts anderes als, von allem was ihr Gutes und Gottgefälliges thun möchtet, thut das was am meisten die Zeit, in welcher ihr lebet, gebietet, was am meisten mit den Bedürfnißen der Menschen, unter welche ihr gestellt seid, übereinkommt, von allem Guten und Gottgefälligen thut das was ihr am wenigsten müßt mit einem hartnäkigen Eigensinn gegen die Menschen durchsezen. Der Apostel will in unserm ganzen geschäftigen Leben durch dieses Wort uns warnen wie auf der einen Seite war der Trägheit des menschlichen Herzens, so auf der andern war der eigensinnigen Willkühr und der thörichten Hartnäkigkeit. Schiket euch in die Zeit, das heißt | das Eine eben sowohl als das Andre: thut das wozu ihr am meisten aufgefordert werdet durch die Verhältniße und Bedürfniße des menschlichen Lebens, und wobei euch die Zeit am meisten zu Hülfe kommt; greift aber auch kräftig ein in die Zeit; wo ihr wirken könnt, da thut das, wobei euch die Unterstüzung andrer zu Hülfe kommt, und wobei ihr sicher rechnen könnt auf die Empfänglichkeit derer, auf die ihr wirken wollt. Wenn wir so handeln, dann werden unsre Bemü9 und] um

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hungen immer weniger fehlschlagen, und wir werden wenn auch nur einiges Erfolgs | derselben uns zu freuen haben, und dann wird in einem Abschnitt des Lebens wie der heutige ist des Guten am meisten geschehen. Versäumen wir aber diese große Regel khristlicher Weisheit uns in die Zeit zu schiken, sezen wir uns nur eigensinniger Weise auf dasjenige, dem die Richtung der Menschen entgegensteht, und wollen wir demjenigen unsre Kräfte in thätiger Liebe nicht widmen, was sich als ein tiefgefühltes Bedürfniß der Menschen, an welche wir mit unsrer Wirksamkeit gewiesen sind, ausspricht: so wird eben dadurch der Lauf des gemeinsamen Lebens gehemmt. Was aber zweitens die Art betrifft, wie unser Leben und | Thun in das Leben und Thun andrer eingreift, so sagt der Apostel: „eure Rede sei allezeit lieblich und mit Salz gewürzet, daß ihr wißet, wie ihr einem jeglichen antworten sollt.“ Freilich spricht er hier nur von der Rede; aber, m. g. F., zwischen Rede und That ist ein so großer Unterschied nicht wie wir oft meinen, sondern nur wo das menschliche Leben verkehrt ist stellt sich dieser Unterschied ein; aber sonst ist jedes lebendige und wahre Wort eine That, und alle That wird in dem menschlichen Leben am meisten vermittelt durch die Rede, und alles Eingreifen in das Leben andrer ist eine Antwort | auf dasjenige was in ihnen angefangen hat. Und in diesem Sinne laßt uns das Wort des Apostels in das neue Jahr, welches wir jezt beginnen, hinübernehmen „eure Rede sei lieblich und mit Salz gewürzet, daß ihr wißet wie ihr einem jeglichen antworten sollt“. Das Antworten, m. g. F., sollen wir nie unterlaßen. Wo ein befreundetes Gemüth uns anfragt, da soll es eine Antwort geben in uns, eine Antwort sei es durch Rath in den schwierigen Verhältnißen des Lebens, sei es durch Belehrung bei seinen Irrthümern, sei es durch Beistand wo seine eigene Kraft gebunden ist, sei | es durch Trost in der Stunde der Trübsal, sei es durch Erhebung zum Ewigen unter dem Druk der irdischen Dinge. Und wir wißen, wie wir antworten sollen das hängt davon ab, daß unsre Rede lieblich sei; lieblich aber das heißt überall verkündigend, daß sie hervorgeht aus einem liebevollen zum Helfen bereiten Herzen, und immer mehr durch das Innere des Bruders hervorgelokt sei, damit wir genau erfahren können, was in jedem Falle seinen Bedürfnißen angemeßen ist, und seinen reinen Wünschen entspricht. Aber auch mit Salz soll unsre Rede gewürzt sein, das heißt durch|drungen von der Kraft, durch welche alle Jünger des Herrn das Salz der Erde sind. O welch ein erfreuliches und schönes Leben, welch ein Zusammenschließen der Gemüther, die nach dem Willen des Herrn sich verbinden sollen für seine Sache, welch ein Gelingen aller Gott gefälligen Handlungen, welch eine Belebung und Kräftigung des innersten Daseins würde daraus hervorgehen, wenn überall es so wäre wie der Apostel sagt! Aber das Eine wie das Andre, sich schiken in die Zeit, und 35–36 Vgl. Mt 5,13

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durch eine allezeit liebliche und mit Salz gewürzte Rede wißen wie wir einem jeden antworten sollen, hängt davon ab, daß wir selbst erfüllt | sind von Wahrheit und Liebe, daß der Geist der Liebe uns überall belebt und leitet, daß die Kraft der Wahrheit uns tief durchdringt, daß der Geist der Wahrheit uns überall frei gemacht hat von Allem was uns hindert bei unsern Bemühungen für das Reich Gottes auf Erden. Und so führt uns das Ende unsrer Betrachtung auf den Anfang derselben zurük. Denn wo nehmen wir das her als allein aus der Fülle deßen, in dem wir die Herrlichkeit des Ewigen schauen, als allein aus der Fülle deßen, von dem wir nehmen können Gnade um Gnade. Und wohin führt uns dieses Wort zurük als zum | Gebet und zur Danksagung? Wohlan so laßt uns betend mit einander uns Gott nahen. Ja Herr segne und schüze du auch in diesem Jahre die Gemeine deines Sohnes auf Erden, und wohne reichlich unter ihr mit aller Kraft deines Geistes. Segne du die Verkündigung seines Wortes und die Offenbarung des Geheimnißes Khristi so wie die Darreichung der Sakramente in seiner Kirche, und stelle sie unter uns als ein Zeugniß, welches jeder von uns täglich überbringen soll von unserm Herrn und Meister deinem Sohn. Segne den König in seinem Regimente und in seinem Hause; umgieb ihn mit treuen und redlichen Dienern, erhalte ihm treue und gehorsame | Unterthanen: damit alle vereint zu einem dir wohlgefälligen Leben immer mehr erkennen mögen und vereint ausführen was recht ist vor dir. Vor allem gütiger Gott segne die Erziehung der Jugend in der Zucht und Vermahnung zu dir, damit in dem künftigen Geschlecht das Geheimniß deines Wortes und die Kraft deines Geistes noch wirklicher wohne als unter uns. Dir empfehlen wir unser gemeinsames Leben für das neue Jahr, in welches wir jezt eingetreten sind. Segne uns nach deiner Weisheit; und wenn freilich auch in diesem Jahr deine Wege uns oft unerforschlich sein werden, o so befestige uns dem Glauben, daß alles was du uns schikst und verordnest | eine Gabe deiner Liebe ist. Und alles was die Menschen treffen möge von gemeinsamer Noth und Gefahr, du wirst es alles leiten zu ihrem ewigen Wohl. Aber laß uns auch den Glauben daran und das Vertrauen auf den Beistand deines Geistes nie in unserm Herzen untergehen. Und so stärke du in diesem Jahre des vergänglichen Lebens alle die du niederdrükst, und segne mit deutlicher und heilsamer Selbsterkenntniß alle die du erhebst, und laß alle mit einander dich preisen, damit unser ganzes Leben sei ein Wachen zum Gebet und zur Danksagung. Amen.

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8–9 Vgl. Kol 2,9

9–10 Vgl. Joh 1,16

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1. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 2,1–10 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 314–327 (Titelblatt der Vorlage in SAr 77, Bl. 18v; Slg. Wwe. SM, Andrae) Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 404–415; 21844, S. 155–166 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 330–339 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 53, Bl. 57r–66v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 1r–6r; Woltersdorff Besonderheiten: Beginn der bis zum 4. März 1821 gehaltenen Predigtreihe in Fortsetzung von Weihnachten (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) auch eingeheftet in SAr 53, Bl. 58r–v

Die Sehnsucht nach dem Besseren.

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M. a. F. Es ist dessen nur wenig, was in unserm Evangelisten zunächst an die Erzählung von der Geburt unseres Herrn und Erlösers sich anschließt, und unsere Aufmerksamkeit auf die früheren Tage seines Lebens heftet; aber dieses Wenige ist so reich an Bedeutung, daß ich gesonnen bin, es auch in diesem Jahre wieder, bis die Zeit kommt, die besonders dem leidenden Erlöser gewidmet ist, zum Gegenstande unserer vormittäglichen Betrachtungen zu machen. So ist denn auch die eben verlesene Geschichte von manchen Seiten sehr bedeutend, von der ich heute nur Eine herausheben will. Es kamen, erzählt unser Text, Weise des Morgenlandes, sich zu erkundigen nach dem neugeborenen Könige der Juden, indem sie sagten: daß sie den Stern desselben gesehen hätten, der sie denn auch dahin führte, wo sie den Erlöser fanden. Wenn wir uns fragen: wie doch diese dazu gekommen waren? so ist offenbar unsere Erzählung nicht geeignet, uns darüber einen befriedigenden Aufschluß zu geben. Wir erfahren weder genau, wer sie waren, noch woher sie kamen, noch wie sie auf eine so ausgezeichnete Weise begnadigt wurden, den Erlöser der Welt, ihre Heimath verlassend, zu suchen. Aber Eines wissen wir doch: der Stern hätte mögen am Himmel stehen lange Zeit, der für sie eine so große Bedeutung hatte, und es wäre vergeblich gewesen, wenn sie ihre Blicke nicht

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zum Himmel gerichtet hätten. Und fragen wir weiter: wie sie wohl dazu gekommen? o so erkennen wir leicht jene weit | verbreitete Neigung, welche den Menschen treibt, sein Auge bald zum Himmel zu richten, bald es nach den fernsten Gegenden des irdischen Schauplatzes hinzulenken, nämlich die Sehnsucht nach dem Besseren, die unauslöschlich ist in der Seele des Menschen. Sie richtet seinen Blick gen Himmel, bald um sich an dem Schauplatze einer ewigen Ordnung zu trösten für die Verwirrungen dieser irdischen Welt, bald um, sey es auch nur in geheimnißvollen Andeutungen, eine Zeit für die Menschheit zu erschauen, und die Zeichen einer bessern Zukunft zu erforschen. Diese Sehnsucht war es, die auch das Auge jener Männer zum Himmel hinlenkte, daß ihnen der Stern sichtbar wurde. Der aber führte sie zu dem Erlöser, dem einzig wahren und würdigen Ziele dieser dem Menschen eingepflanzten Sehnsucht. Von dieser nun laßt uns eben in Beziehung auf die verlesene Geschichte in der gegenwärtigen Stunde reden. Wir wollen sie aber zuerst an und für sich betrachten, dann aber auch in ihrer Beziehung auf Christum, unsern Erlöser. I. Zuerst also, m. g. F., die Sehnsucht nach dem Besseren an und für sich ist etwas in der menschlichen Seele nicht Auszutilgendes, und wo wir uns hinwenden mögen, überall finden wir die Spuren davon. Wie wir auch denken mögen von dem Verderben der menschlichen Natur durch die Sünde, und wie tief wir es selbst empfinden, so können wir doch nicht denken, daß es jemals so weit überhand genommen haben sollte, bis auch die Sehnsucht nach dem Besseren ganz verschwunden wäre. Denn wäre dieses geschehen, so hätte auch die göttliche Gnade in Christo auf keine Weise einen Anknüpfungspunkt finden können in den Seelen der Menschen. Denn so hat Gott den Menschen erschaffen, daß ihm das Gute dargeboten werden kann von Außen; angehören aber kann es ihm nur vermittelst eines inneren Verlangens und in Verbindung mit seiner eigenen Thätigkeit. Es giebt keinen Menschen, der sich in irgend einer Beziehung | ganz leidend verhalten könnte; ja könnte Einem irgend etwas so kommen, wäre dies in keinem Sinne sein eigen, weil sein Leben und Seyn nur im Thun besteht. Allerdings fühlen wir die große Wahrheit des Wortes: daß wir selbst nicht vermögen, ohne den Beistand des göttlichen Geistes zu vollbringen, was Gott wohlgefällig ist; ja noch mehr, auch das Wollen schon des Guten, wenn es wahr seyn soll und rein, sehen wir mit Recht an als ein Werk der göttlichen Gnade in unserm Innern, wohl wissend und fühlend, 16 sich] sich

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daß der Mensch, sich selbst überlassen, nicht zu einem endlichen und bestimmten Schluße kommt in dem Schwanken zwischen dem Gesetze Gottes und der Sünde. Aber weit jenseits des Vollbringens und des Wollens liegt die Sehnsucht nach dem Besseren, das Verlangen, etwas schauen und Wollen zu können, das anders sey und höher, als was der Mensch in sich und um sich her findet. Und so weit konnte es der Herr nicht kommen lassen mit dem Verderben der Menschen, daß auch diese Sehnsucht nach dem Besseren in ihren Seelen erloschen wäre. Wie hätte es aber auch geschehen können, m. g. F.? Ein Paradies konnte nicht verloren gehen, ohne daß eine, wenn auch nur schwache, Erinnerung daran in der Seele zurückblieb, und vom Vater auf den Sohn, von einem Geschlechte auf das andere vererbte sich das Andenken an einen verlorenen seligen Zustand. Gott konnte nicht gewandelt haben unter den Menschen, wie wir uns auch diesen Ausdruck der Schrift deuten mögen, ohne daß Erinnerung an diese selige Gemeinschaft und Sehnsucht nach ihr unauslöschlich zurückgeblieben wäre. Daher finden wir auch bei allen Geschlechtern der Menschen, selbst bei denen, die fern sind von jedem Zusammenhange mit den uns überlieferten göttlichen Offenbarungen, dennoch die Spuren solcher Sehnsucht auf überraschend ähnliche Weise ausgedrückt. Alle haben Erzählungen von einer besseren Zeit, deren sich die früheren Geschlechter der Menschen zu erfreuen gehabt; und wollten wir auch sagen, eben weil so abgerissen aus allem Zusammenhange mit den göttlichen Offenbarungen in der heiligen Geschichte, konnten jene Erzählungen nichts weiter seyn, als ein | Werk menschlicher Dichtung: – wohl, was hat solche Dichtungen hervorgebracht, als das innerste tiefste Bewußtseyn, vermöge dessen der Mensch fühlt, der Zustand, in welchem er ist, drücke das Höhere und Göttliche seiner Natur nicht aus, und vermöge dessen er sich streckt nach dem Besseren, nur daß er ungewiß ist, ob er es suchen soll in einer Vergangenheit, die er, als für sein Daseyn mit allen ihren Gütern verschwunden, nur beklagen darf, oder ob er sich schmeicheln darf mit einer Zukunft, die er auf irgend eine Weise erreichen kann. Aber freilich, ohnerachtet diese Sehnsucht nie ganz verlöschen kann in der menschlichen Seele, schlummern kann auch sie, und eben dies ist das traurigste Bild, welches wir uns entwerfen können von einem menschlichen Zustande. Wenn sich der Mensch in düsterem Stumpfsinne genügen läßt bei seinem geistig-dürftigen Leben; wenn sich kein Verlangen in ihm regt, die Kräfte seiner eigenen Natur weiter zu entwickeln, und die Natur um sich her, wie es ihm gebührt, zu beherrschen; wenn wir ihn herabgewürdigt sehen bis zu einer schauervollen Aehnlichkeit mit den niedrigeren Geschöpfen der Erde, oder wenn er gar sich selbst darüber

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freut, daß er das Höhere seiner Natur in Unwahrheit und Fabeln verkehrt, und das innere Bewußtseyn des Einigen Gottes sich verwandelt hat in eine Menge von verworrenen Gestalten, die ihm Veranlassung geben, unter dem Scheine, als ob er ein Höheres verehre, allen verkehrten Neigungen seiner irdischen Natur zu fröhnen: das ist der traurigste Zustand der menschlichen Natur. Aber die sich in diesem Zustande befinden, sind auch immer, menschlichem Ansehn nach, am Weitesten entfernt von dem Besitze und dem Genuß der göttlichen Gnade. Welche Wege aber auch Gott mit ihnen gehe, ob er sie erst in das Elend des Verderbens noch tiefer hineingerathen läßt, bis endlich das Gefühl der Nichtigkeit ihres Wesens ihnen unerträglich wird, und sie ausrufen: „Ich Elender, wer wird mich erretten von diesem Leibe des Todes1“; oder ob er sie lockt durch irgend einen unerwarteten | Anblick eines höheren menschlichen Zustandes: immer können sie zu keinem Besitze gelangen im Reiche Gottes, bis der Schlamm, in dem sie versunken sind, sie anekelt, die Sinne sich ahnungsvoll einer unbekannten Ferne zuwenden, und das Auge zum Himmel emporschaut, von welchem allein Hülfe kommen kann. Und dieß eben, m. g. F., ist das Wesen dieser Sehnsucht nach dem Besseren an und für sich. II. Aber laßt uns nun Zweitens unsre Aufmerksamkeit vorzüglich lenken auf die unmittelbare Beziehung dieser Sehnsucht auf den Erlöser; daß er selbst sich immer an diese Sehnsucht wendet, und die Bewahrung seiner ewigen Liebe an nichts Anderes in der menschlichen Seele anknüpft, das wissen wir aus seinem eigenen Munde. Oder ruft er nicht diejenigen zu sich, welche mühselig und beladen unter der Last seufzen, welche ihnen in dem unvollkommenen Zustande ihres Lebens, ihrer geistigen Kraft, ja ihrer ganzen Natur überhaupt, aufgelegt ist? Verheißt er nicht allen diesen Befreiung, und sagt er nicht, daß er gekommen sey, zu suchen und selig zu machen, was verloren war? Aber das Verlorene, um selig gemacht zu werden, muß sich selbst unselig finden; und dieses Gefühl und die Sehnsucht nach dem Besseren und Vollkommenen ist Eines und Dasselbe. Eben dieses nun ist auch eigentlich die tiefere Bedeutung unserer verlesenen Geschichte. Die Sehnsucht nach dem Besseren hatte das Auge jener Männer gen 1

Röm. 7, 24

36 Röm. 7, 24] Röm. 1–5 Vgl. Röm 1,23–25

25–30 Vgl. Mt 11,28; 18,11; Lk 19,10

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Himmel gewendet, wo sie den bedeutungsvollen Stern erblickten, und wie sie ihn gesehen, ließ es ihnen fürder keine Ruhe, sie mußten ihre Heimath und ihre gewohnten Beschäftigungen verlassen, und der geheimen Gewalt dieses himmlischen Zeichens folgen dahin, wo sie ahneten, daß sie es noch gleichsam näher und bestimmter schauen, und in seiner ganzen Bedeutung verstehen würden. So zog es sie nach sich, und gestillt wurde ihr Verlangen erst, und Ruhe war erst für sie vorhanden, als der Stern oben über stand, wo das Kindlein lag. So ist es auch im Allgemeinen mit der menschlichen Seele. | Ist die höhere Sehnsucht einmal in ihr erwacht, ist sie aus der trägen Ruhe in dem gewohnten Kreise irdischer Beschäftigungen herausgerissen: so findet sie die selige und lebendige Ruhe nicht eher, als bis sie da angekommen ist, wo sich ihr die innere Ahnung ganz löset, und sie das himmlische Zeichen, das sie zuerst aufregte, in seiner ganzen Bedeutung versteht; nicht eher, als bis sie den, in welchem die Fülle der Gottheit auf Erden wohnte, und in der innigen Gemeinschaft mit ihm, die volle Erlösung und Befriedigung gefunden hat, der ist ihr natürliches Ziel, und nur in Beziehung auf dieses hat Gott solche Sehnsucht in sie gelegt und mitten unter allem Verderben bewahrt und verschlossen erhalten, bis der Glaube könnte offenbart werden. Ob aber geraden Weges jene Weisen geleitet wurden aus ihrer Heimath nach Betlehem, oder ob sich ihnen der freundliche Leitstern oft wieder verbarg in dunkeln Nächten, daß sie des nächsten Weges verfehlten, ja ob sie nicht vielleicht oft wissentlich weite Umwege machten, um scheinbar beschwerliche Wüsten zu vermeiden, und lieber auf gebahnten, durch die Nähe der Menschen freundlichen, Wegen zu wallen: das wissen wir nicht. Das aber wissen wir wohl, daß Gott der menschlichen Seele, betrachte man nun den Einzelnen, oder sehe man auf die verschiedenen Völker im Großen, beiderlei Wege nach seiner unerforschlichen Weisheit zugetheilt hat. Wie viele Völker – und unsere Vorfahren gehören auch dazu – die in fernen Schatten des Todes wohnten, außer dem Bereich derer, welche sich ein seliges Geschäft daraus machten, das Evangelium des Friedens zu verbreiten, wurden zu verschiedenen Zeiten, wir wissen nicht von welchem himmlischen Zeichen, gelockt, von welchem geheimnißvollen inneren Zuge getrieben, verließen ihre angestammte Heimath, und wurden jenen Gegenden näher gebracht, wo schon länger die Stadt des Herrn, die sich nicht verbergen soll, auf heiligen Höhen gebaut war. Und als sie diese Stätte gefunden, und dem Erlöser der Welt gehuldigt hatten: da stillte sich ihr unruhiges Verlangen, und sie baueten mit an dem Tempel des Herrn, ein Gebäu, welches noch steht, und | in welchem sich das Licht des Evangeliums 15–16 Kol 2,9

30–31 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79

37–38 Vgl. Mt 5,14

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immer schöner entzündet hat, so oft es auch durch Fahrlosigkeit und Irrthum verdunkelt war. Aber Manche gelangten bald zu diesem herrlichen Ziele, und lernten, noch Kinder nach dem Maßstabe menschlicher Entwickelung, doch schon das Beste und Höchste, sich der Segnungen des Erlösers erfreuen. Die Führung Anderer glich dem langsamen, mühevollen, durch Entbehrungen aller Art bezeichneten, und durch schaudervolle Verirrungen befleckten Zuge jenes alten Bundesvolkes durch die Wüste, von dem auch erst das zweite Geschlecht an dem Ziele der Wanderung ankam. Andere bedurften, daß ihnen das Licht entgegengebracht wurde; trägeren Sinnes und zufrieden, wenn sie in ihrem gewohnten Gange nicht gestört wurden, wollten sie gesucht seyn von den Herolden des Glaubens, und die in der Tiefe des Herzens schlummernde Sehnsucht erwachte nicht eher, bis sich ihnen das rechte Ziel des Lebens zeigte in dem Zustande erlöster und von dem Geiste Gottes erfüllter Seelen. Und nur, wenn so Beides zusammenschlägt, ganz oder theilweise die Völker anfangen, das Bessere zu wünschen, und zugleich das Evangelium von dem verkündigt wird, welcher Alle, die ihn suchen, zu sich ziehen will, erwirbt sich das Wort vom Kreutze einen neuen Wohnsitz. Andere Völker sind noch immer vom falschen Wahne befallen, und achten einen Menschen, der aus des alten und neuen Bundes Schätzen zusammengerafft, höher als den Erlöser, wiewohl sie auch dessen Namen kennen und ehren, und indem sie den Verheißungen eines Gesetzes trauen, welches der Sinnlichkeit des Menschen eine ewige Krone verspricht, befehden sie den, der, den Glauben fordernd, ein Leben im Geist, das ewig ist, eröffnet. Aber auch sie sind immer noch unterweges, und auch für sie wird die Stunde schlagen, da sie erkennen werden, wohin ihr Stern deutet, und wo über er stehen bleibt. Sehen wir auf den Einzelnen, wie zeitig bemerken wir nicht dieselbe Sehnsucht in den zarten Seelen unserer Kinder! Nicht nur die Welt reitzt sie, die sie umgiebt, nicht nur dem sichern Wissen und Handeln in dem Gebiete der Erfahrung stre|cken sie sich immer mehr entgegen, sondern voll neugierigen Verlangens wenden sie sich besonders zu Allem, was ihnen von ungewöhnlichen Kräften der menschlichen Seele, vom Umgange mit höheren Wesen und von deren Einflüssen auf die Menschen aus menschlichen Dichtungen erzählt wird, und schon hierin zeigt sich, daß sie eine verborgene Welt suchen, und über das Bekannte und Alltägliche hinausstreben. Aber ganz anders finden wir doch oft noch das Verlangen, mit welchem sie von dem Erlöser der Welt erzählen hören, und alle Geschichten aus seinem Leben auffassen, die irgend ihrer kindlichen Seele nahe gebracht werden kön18 Vgl. Joh 12,32

19 1Kor 1,18

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nen, was denn auch besonders von der unsrigen gilt. Da zeigt sich denn das wahre Ziel ihrer Sehnsucht; denn schon in dieser ersten Entwickelung stillt sie sich immer mehr hiervon allein, und läßt das Andere hinter sich. Aber nicht bei Allen geht dies allmählig und ungestört immer weiter, bis die Zeit kommt, wo sie so ganz mit dem Erlöser eins werden, daß sie in ihm leben, und er in ihnen, sondern gar Manche vergessen das, wenn die Jahre der Kindheit vorüber sind, mit den übrigen Geschichten, die sie sich früher so gern einprägten, und glauben, daß die Sehnsucht, deren sie sich immer klarer bewußt werden, auf etwas Anderes deuten müsse, als was ihnen in der Kindheit schon nahe getreten war. So erinnern sie sich, schwanken mit ihrem Sinne in der Ferne umher, und kehren in das bekannte Gebiet der gewöhnlichen Thätigkeit zurück, ergreifen bald Dieses, bald Jenes, und lassen es wieder fahren. Aber mögen sie sich in menschliche Weisheit am Emsigsten vergraben haben, oder mögen sie in den sinnlichen Genuß am Tiefsten versunken seyn, – die alte Stimme verstummt nicht gänzlich, sondern Augenblicke eines tieferen Bewußtseyns legen das bestimmte Zeugniß ab, daß sie sich täuschen, wenn sie glauben, in jenen Dingen befriedigt zu seyn. Nicht eher gelangen sie zur Ruhe der Seele, bis sie das schlechthin Vollkommene, das Göttliche in der menschlichen Natur in der Person des Erlösers gefunden haben. Dann ist das Land des Leidens ihr Vaterland geworden, und sie haben | ihr Theil an dem Himmel auf Erden, den Christus in sich trug, und den er auch den Seinigen eröffnet hat. So bleibt es denn wahr, daß wie jener Stern nicht eher still stand, als über dem Orte, wo der neugeborene Erlöser innen lag: so auch die Sehnsucht in dem Innern des Menschen nicht eher ruht, bis sie ihn gefunden hat. Aber wie nun die Beschäftigung der Weisen mit dem Kindlein erst anging, und sie ihm ihre Ehrfurcht bewiesen und ihre Gaben darbrachten, dann aber gewiß nicht unterlassen haben werden, zu fragen: was es für eine Bewandniß habe mit seinem Königthum, und wie sie die Verhältnisse, unter welchen sie ihn fanden, damit reimen sollten: eben so kommt auch die Sehnsucht der Seele, wenn sie den Erlöser gefunden hat, nur insofern zur Ruhe, als sie nun nicht mehr umherzuschweifen braucht, sondern sich ihres Gegenstandes bemächtiget hat, keinesweges aber, um zu erlöschen, sondern um, in Bezug auf diesen, immerfort zu währen, immer innigere Vereinigung mit ihm zu suchen, und ein sich immer mehr erweiterndes Verkehr mit demselben anzuknüpfen und fortzuführen. Der leitende Stern, der die Seele zu dem Erlöser geführt hat, bleibt immer stehen über seinem Orte, und hält sie dort fest, daß sie sich aller andern Kleinode gern entäußert, welche mit diesem köstlichen Edelsteine nicht können zusammengefaßt werden in einen und denselben Schmuck, diesen aber

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über Alles hoch hält. Wie könnten wir uns auch wohl wieder mit andern Gegenständen beschäftigen, ohne danach zu fragen, wie sie sich zu seinem Königthume und Herrscherrechte verhalten, und sie dem gemäß zu behandeln, jede ältere Liebe der neuen und einigen unterordnend und aneignend? Wie könnten wir des Erlösers Bild uns vergegenwärtigen und sein Wort zu Herzen nehmen, ohne daß wir inne würden, wie weit unser ganzes Daseyn noch davon entfernt ist, für ein würdiges Abbild des seinigen gelten zu können, das Wort seiner Weisheit zu erschöpfen, und die Kraft seiner Rede und seines Verdienstes darzustellen. Darum nährt sich die Sehnsucht selbst an der Vergleichung des Unvollkommenen mit dem Vollkommenen, und bleibt immer neu, | das Unvollkommene hinter sich lassend, wie auch in demselben Sinne jener große Apostel des Herrn sagt: „Nicht, daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sey, sondern ich sehne mich darnach, hinter mir lassend das Vergangene, und mich streckend nach jenem Kleinod, welches vor mir liegt.“ Durstig bleiben wir immer, und müssen immer wieder zu der Quelle eilen, die allein den Durst der Seele löschen kann. Denn wenn der Erlöser sagt: „Wer von diesem Wasser des Lebens trinkt, den wird nimmermehr dürsten,“ so meint er nur, den wird nie nach etwas Anderem dürsten. Bedürftig müssen wir uns immer fühlen der Worte des Lebens, und immer wieder zu dem hingehen, bei dem allein wir sie finden. So ist die sich immer erneuernde Sehnsucht nach ihm und die Stillung dieser Sehnsucht durch ihn, Beides zusammen, der beständige Pulsschlag des geistigen Lebens, dessen wir durch ihn theilhaft geworden sind. Wenn dem nun aber so ist, was können wir Heiligeres haben, m. g. F., als diesen göttlichen Funken auch überall zu pflegen und zu schirmen, indem wir auf der einen Seite alle diejenigen, welche die Befriedigung ihrer Sehnsucht noch anderwärts suchen, durch unser Zeugniß, und auf unsere Erfahrung uns berufend, zum Erlöser hinweisen, auf der andern Seite aber auch jede Sehnsucht nach dem Besseren, auf welchem Gebiete des Lebens sie sich auch zeige, nach unserm Vermögen fördern und ihrem besonderen Ziele zuleiten. Das Erste wird immer der natürliche Trieb jedes christlichen Gemüthes bleiben. Wenn wir Menschen sehen, welche, den Frieden und das Heil der Seele durch Christum vernachlässigend, sich selbst noch anderwärts zu befriedigen glauben, mögen sie nun fest an einen Gegenstand sich heften oder von einem zum andern schweifen: wie sollten wir sie nicht warnen, daß sie die innere Stimme des Herzens noch unrichtig deuten; und wie sollten wir ihnen nicht die einzige richtige Deutung mitzutheilen, und ihnen begreiflich zu machen suchen, worauf sie alles 13–16 Vgl. Phil 3,12–14

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Andere beziehen, und womit sie es in Verbindung bringen müssen, wenn es wenigstens einen Theil ihrer wahren Befriedigung soll begründen helfen! Aber auch | das Andere ist nicht minder wichtig, und wird, wir müssen es gestehen, leider nur zu sehr übersehen und verabsäumt. Wenn wir erfahren, daß unter Völkern, zu denen das Evangelium noch nicht gedrungen ist, das Verlangen nach dem Besseren sich bald hie, bald da, besonders hinlenkt: so freuen wir uns ja und denken, daß jedes Verlangen nach dem Besseren auch das ist, was den Menschen seiner Natur gemäß früher oder später auf seine ewige Bestimmung führt und zum Erlöser hinzieht. Weil aber auch bei denen, welche den Erlöser schon gefunden haben, die Sehnsucht sich immer erneuern muß, so dient ihr eben so auch für diese Erneuerung jedes Verlangen nach dem Besseren, jedes sich Strecken nach dem, was noch vor uns liegt, zur Unterlage und zur Befestigung. Denn jedes solches Verlangen vermehrt auch die Selbsterkenntniß. Das erfahren wir gewiß Alle gar vielfältig, und besonders müssen wir jetzt erfüllt davon seyn, da wir erst vor Kurzem einen neuen Abschnitt unseres Lebens angefangen und uns dabei gewiß Alle unsere Verhältnisse lebendig vergegenwärtigt, und alles Unvollkommene und Mangelhafte darin gefühlt haben. Gewiß haben wir dadurch die Ueberzeugung gewonnen, daß je mehr einzelne Theile unseres Lebens noch in sich unvollkommen sind, schlecht geordnet, und der allgemeinen Bestimmung des Menschen in dieser Welt nicht genügend, um desto weniger bildet auch unser Leben so ein Ganzes, und ist so zusammenhangend in sich, wie es seyn sollte. Ganz zusammenstimmen kann es aber nur, wenn Alles darin von Einem Mittelpunkte ausgeht, und mit dem Einen Grundtone zusammenstimmt. Dahin also deutet und darauf führt alle einzelne und zerstreute Sehnsucht nach dem Besseren, die sich unter uns aufthut, und so bedingt sie die Fortwirkung der göttlichen Gnade in der menschlichen Gemeinschaft, und die immer innigere Verbindung jedes Einzelnen mit dem Erlöser. Wo irgend eine Seite des menschlichen Lebens dem Menschen nicht genügt, da läßt sich die Stimme des göttlichen Geistes in seinem Innern vernehmen, welche ihm zuruft, was noch vereinzelt stand, und eben deßhalb so leicht in Mißgestalt überging, in | Verbindung zu bringen mit dem Einen Nothwendigen. Darum sollen wir kein solches Verlangen verachten, vielweniger anfeinden, wo und in welcher Gestalt es sich auch zeigen möge, und dürfen es, wenn es sich auch bisweilen verirrt und vergreift, dennoch nicht unterdrücken, sondern uns liegt nur ob, es von Mißgriffen abzuhalten, und in den rechten Weg zu lenken. Die aber anders handeln, sind Feinde des Erlösers und seines Heils, das bewährt sich überall und zu allen Zeiten. Wer das Streben nach dem Besseren in den Menschen unterdrückt, der stört auch das, was, wenn

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ihm seine natürliche Wirksamkeit gelassen wird, Alle immer inniger mit dem verbinden muß, in welchem sie allein die gesuchte Vollendung ihres Lebens finden. Ja es wäre vergeblich, den Erlöser offen vor der Welt zu bekennen und sein Wort frei verkündigen zu lassen, wenn dabei die natürliche Neigung unterdrückt würde, das Leben in allen seinen Theilen immer besser und herrlicher zu gestalten, weil eben diese das Bedürfniß der göttlichen Hülfe in Christo immer rege erhält, und also auch die Liebe zu ihm anfacht und steigert, wogegen die Kraft des göttlichen Wortes unwirksam werden muß, wenn der Mensch gewöhnt oder genöthigt wird, mit Allem, auch dem Unvollkommensten, wie es eben ist, zufrieden zu seyn. Darum kann es nicht mit einander bestehen, auf der einen Seite an Den glauben und ihm anhangen, welcher uns Alle zu Einem geistigen Leibe vereinigen will, den er als dessen Haupt von Oben regiert, über den er allen seinen Reichthum ausgießen will, – auf der andern Seite aber das menschliche Leben in der unvollkommenen Gestalt lassen, in der es doch gewiß von dem Lichte der Erlösung noch nicht ganz durchdrungen, und seine irdische und weltliche Seite des Geistigen und Himmlischen noch nicht würdig ist. Nein, heilig laßt uns jedes solches Bestreben halten, und es ansehen als ein gnädiges Zeichen, das uns der Himmel giebt, welches uns Sicherheit gewährt, daß wir nicht in den Schlamm der Trägheit und Gleichgültigkeit versinken sollen, sondern daß es auch wirklich immer besser mit uns werden, und Er sich immer mehr unter uns verklären wird. Und in | dieser Zuversicht können wir alle kleinlichen Besorgnisse fahren lassen. Mißversteht sich diese Sehnsucht hier und da: das Licht des Evangeliums ist da, sie zu berichtigen, und das Geschäft gegenseitiger Belehrung geht unter uns seinen ungestörten Gang. Ist nun so viel brüderliche Freude an der Mittheilung, wie unter Christen seyn soll: so wird durch Prüfung bald der rechte Weg gefunden werden. Vergreift sie sich unglücklicher Weise so weit, daß sie ihr Ziel auf einem verkehrten, Ruhe und Ordnung störenden, Wege erreichen will: die christliche Liebe und Weisheit ist da, um zu warnen, die öffentliche Gewalt ist da, um allem Unrecht, so wie es sich wirklich zeigt, zu wehren. Unterdrücken wir sie hingegen, und weisen sie mit ihren Ansprüchen zurück: so nehmen wir auch dem göttlichen Gnadenwerke seine Stütze, und arbeiten dem großen Zwecke des Erlösers entgegen. Denn das ist es eben, was Er selbst immer gesagt hat von denen, die zu seiner Zeit das Volk, unter dem er lebte, auf einen anderen Wege leiteten, als den er es führen wollte, „sie hätten die Schlüssel des Himmelreichs, aber weder gingen sie selbst hinein, noch ließen sie Andere hineinkommen,“ weil nämlich ihr Trachten ganz 13–14 Vgl. Eph 1,22–23; 4,12.15; Kol 1,18

39–41 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52

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dahin ging, die Menschen fest zu halten bei allen alten Ueberlieferungen und Satzungen, jede Sehnsucht nach einer besseren Zukunft in ihnen zum Schweigen zu bringen, und sie allein auf die längst verfallene Herrlichkeit einer alten Welt hinzuweisen. Und eben diesen Gegensatz zwischen der freiwaltenden Sehnsucht nach dem Besseren, und dem Bestreben, sie zu unterdrücken, zeigt uns auch unser Text an den Weisen des Morgenlandes und dem Könige Herodes. Unsere Weisen trieb die Sehnsucht aus ihrer Heimath nach Bethlehem, Herodes aber, dem es weit näher lag, den zu kennen, der da kommen sollte, und der mit seinem ganzen Volke den Wunsch hätte theilen sollen, daß die Zeit des Heils nahe seyn möge, war so vertieft in die Herrlichkeit seines irdischen Besitzes, und so ausschließend darauf bedacht, nur diesen noch bis auf späte Zeiten seinen Nachkommen zu erhalten, daß auch das nur ein leeres und lügenhaftes Wort war, welches er zu den Weisen | sagte: „Forschet fleißig nach dem Kindlein, und wenn ihr es findet, so saget es mir wieder, auf daß ich auch komme und es anbete.“ Denn bald brach seine Feindschaft gegen das Kindlein aus, und die Verstellung muß ihr Ende nehmen. Und ihm ähnlich sind alle diejenigen, welche der Sehnsucht nach dem Besseren so viel möglich das Ziel suchen aus den Augen zu rücken, und welche, damit nur ja alle weltlichen Verhältnisse so bleiben mögen, wie sie immer gewesen sind, den König scheuen, dessen Reich nicht von dieser Welt ist, sondern ein Reich der Wahrheit. Denen aber, welchen es ein Ernst ist, ihn anzubeten, und welche wahrhaft wünschen, daß sein Reich komme, denen sey auch Alles, wodurch dasselbe gefördert wird, und also auch alle Erscheinungen des in die menschliche Natur gepflanzten Verlangens nach dem Vollkommneren, heilig, und in dem bunten Wechsel des mannichfaltig bewegten Erdenlebens nichts so willkommen und erfreulich, als was hierher gerechnet werden kann; und fest bleibe in ihnen der Glaube, daß Alles, was wahrhaft aus dieser Quelle entspringt, das Reich des Herrn mehrt und fördert, und Alle immer inniger mit dem verbindet, bei dem allein volle Genüge ist. Amen. Schl.

17–18 Vgl. Mt 2,16

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[Liederblatt vom 7. Januar 1821:] Am ersten Sonntage nach Epiphanias 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gottes etc. [1.] Dir Jesu tönt vom Staube / Mein Lied hinauf zum Thron, / In dir erblickt mein Glaube / Des Vaters ewgen Sohn! / Du Glanz der Herrlichkeit, / Um unser Heil zu gründen, / Zu retten uns von Sünden / Erschienst du in der Zeit. // [2.] Wer reicht an deine Größe? / Im weiten Schöpfungsreich / Fühlt jeder seine Blöße, / Fühlt keiner dir sich gleich. / Du warst eh Meer und Land, / Eh Sonne, Mond und Erde / Durch jenes Machtwort, Werde, / Zu Gottes Preis entstand. // [3.] Du kamst und Nächte schwanden / Es glänzte keines Licht, / Die Sterblichen empfanden / Nun ihre Würd’ und Pflicht, / Erkannten hocherfreut / Den Vater auf dem Throne, / In dir, dem ewgen Sohne, / Des Menschen Göttlichkeit. // [4.] Dein ist das Reich der Wahrheit, / Wo sich, von Sünden rein, / In immer höh’rer Klarheit / Die Deinen ewig freun. / Wie selig macht dein Licht! / Dich lieben, dich verehren, / Treu üben deine Lehren, / Sei stets uns heilge Pflicht. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t etc. [1.] Nun ist die Finsterniß entflohn, / Die Heiden sehn den Morgen schon, / Und finden den Erretter! / Er, den Gott in die Welt gesandt, / Besiegt mit seiner Allmacht Hand / Die Heere falscher Götter. / Er wird selbst Hirt seiner Heerde, / Himmel, Erde, / Sehn mit Freuden / Gottes Sohn die Menschen weiden. // [2.] Der Gottheit Fülle wohnt in dir; / Durch dich, mein Heil, kommt Gott zu mir, / Und schenkt mir seine Liebe. / O daß ichs nur bewundern kann, / Du nahmst mein sterblich Wesen an, / Daß ich nicht hülflos bliebe. / Dankvoll, Herr, soll mein Gemüthe / Deine Güte / Hoch erheben, / Du mein Heiland bist mein Leben. // [3.] Ein Herz, das deine Wahrheit liebt, / Und dir sich willig übergiebt, / Das kannst du nicht verschmähen. / Wer deine Gotteslehre schäzt, / Und sich an deinem Wort ergözt, / Den will dein Arm erhöhen. / An dich glaub ich troz dem Spötter, / Sonst kein Retter / Ist auf Erden, / Durch den Sünder selig werden. // [4.] Mein Glaube sei mein Dankaltar, / Hier bring ich mich zum Opfer dar, / Dir der Verlaßnen Tröster. / Ich bete demuthsvoll dich an; / Wer ist, der mich verdammen kann, / Ich bin ja dein Erlöster. / Von dir strömt mir Gnadenfülle, / Ruh und Stille, / Licht und Segen, / Bringt mir deine Lieb’ entgegen. // [5.] Versichre mich durch deinen Geist, / Daß du für mich erhöhet seist, / Und Seligkeit mir schenkest. / Dein Wort, das meine Seel erfreut, / Zeigt mir dann jene Herrlichkeit, / Zu der du Herr mich lenkest. / Für mich kann ich nichts vollbringen, / Hilf mir ringen, / Freund der Seelen! / Ich will deinen Ruhm erzählen. // (Heeren.) Nach der Predigt. – Mel. Lobt Gott etc. [1.] Gieb dich ihm selbst zum Opfer dar, / Mit Geist und Leib und Seel, / Und singe mit der Engel Schaar, / Hier ist Immanuel. // [2.] Dann geh fortan den rechten Weg, / Er ist dir nun bekannt, / Den stillen Ruh und Friedenssteg / Zum ewgen Vaterland. //

Am 21. Januar 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

3. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,28–35 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 229–240 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 432–441 SW II/4, ²1844, S. 484–493 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 353–361 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 53, Bl. 70r–77v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 8r–14v; Woltersdorff Besonderheiten: Teil der vom 7. Januar 1821 bis zum 4. März 1821 gehaltenen Predigtreihe in Fortsetzung von Weihnachten (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt auch eingeheftet in SAr 53, Bl. 69r–69v (vgl. Anhang nach der Predigt)

Was unsere Wehmuth erregt bei der Entwickelung der heilsamen Rathschlüsse Gottes. Text. Luc. 2. V. 28–35. 5

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M. a. F. Auch jene Geschichte, schon aus der Kindheit unsers Erlösers, die wir neulich zum Gegenstande unserer Betrachtung machten, hatte zugleich bei dem Erfreulichen etwas Wehmüthiges, wie nemlich schon die erste Frage nach dem neugeborenen Könige der Juden, indem die Nachricht von seiner Erscheinung auf Erden Einige erfreute und beglückte, und Anderen zu unerwarteter Verwunderung gereichte, auch Einem zur Sünde ausschlug. In dieser Erzählung aber, von der ich nur einen Theil, um sie ganz in euer Gedächtniß zurück zu rufen, vorgelesen habe, in dieser bricht nun das Wehmüthige, was überall durch die ganze Geschichte des Christenthums den Fortgang der Erlösung begleitet, mitten in der Freude und in der Andacht des Herzens auf die unverkennbarste Weise hervor. Wie freuet sich der begnadigte Greis, den göttlichen Heiland, das Licht welches in die Welt gekommen war, zu erblicken! wie freuet sich die jungfräuliche Mutter, den erstgeborenen Sohn dankgerührt darzustellen in dem Tempel des 4–10 Vgl. oben 7. Januar 1821 vorm. über Mt 2,1–10

10–12 Vgl. Lk 2,1–40

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Herrn! Aber mitten aus der Freude und der Andacht klingt es uns hervor, daß er gesetzt sey zum Falle Vieler, und zum Widerspruche, und daß ein Schwerdt durch die Seele derer gehen solle, die ihn am Innigsten verehrte, und der er am Nächsten war. Dies Wehmüthige, m. g. F., welches vom Anfange des göttlichen Heils auf Erden an die ganze Entwickelung desselben begleitet, die|ses laßt uns jetzt zum Gegenstande unserer Betrachtung machen. Laßt uns zuerst sehen, worin es besteht; zweitens, wer es am Meisten und am Tiefsten zu empfinden pflegt; und endlich drittens, wie wir uns darüber zu trösten haben. I. Was das Erste betrifft, so ist unsere Frage beantwortet in denjenigen Worten unseres Textes, an die ich euch jetzt wieder erinnert habe: „Dieser ist gesetzt zum Falle und zum Auferstehen Vieler in Israel,“ sagt Simeon; und zur Maria besonders sagt er, „und auch durch deine Seele wird ein Schwerdt gehen.“ So war es damals, m. g. F. Der Erlöser erschien, das Licht, gesandt vom Himmel, alle Völker zu erleuchten, und zum Preise des Hauses Israel, welches keinen größeren Ruhm haben konnte, als daß nach dem Fleische von den Vätern Christus der Herr herkomme; aber kaum war er öffentlich aufgetreten, und hatte verkündigt, daß er gesandt sey von dem Vater, den Willen desselben zu erfüllen, kaum hatte er angefangen, die Menschen von dem Leiblichen auf das Geistige, von dem Vergänglichen auf das Ewige hinzuweisen, als auch schon Viele von denen, die ihm eine Zeitlang mit tiefer Bewunderung und freudigen Erwartungen gefolgt waren, wieder hinter sich gingen und ihn verließen, weil die Rede ihnen zu hart war. Und wo nachher durch das Amt seiner Jünger das Evangelium weiter verkündigt ward, immer mehr zeigte es sich zwar als das Licht, welches alle Völker erleuchten sollte: aber wenn das Wort erschallte: „Die Zeiten der Unwissenheit hat Gott übersehen, nun aber gebietet er allen Menschen Buße zu thun, indem er ihnen vorhält den Glauben,“ ja, wenn dieses Wort erschallte, dann gereichte es auch zum Falle allen denjenigen, die nicht fähig waren, bis in das Innerste ihres Herzens hinein Buße zu thun. Die Zeiten der Unwissenheit, die übersieht Gott, und rechnet sie den Menschen nicht zu; wenn aber das Licht in die Finsterniß scheint, und die Finsternisse nehmen es nicht auf, wenn den Menschen vorgehalten wird ihre höhere Bestimmung, und ihnen gepriesen und ihrem Herzen nahe gebracht die ewige Liebe des Vaters, die er | uns erzeigt hat in seinem Sohne, und auch dann bleiben ihnen die vergänglichen Dinge dieser Welt lieber, 20–26 Vgl. Joh 6,27–66 35–36 Vgl. Joh 1,5.11

29–31 Vgl. Apg 17,30–31

33–34 Vgl. Apg 17,30

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als das himmlische Vaterland, und auch dann mögen sie lieber, wie bisher, den eiteln Götzen dienen, als im Geiste und in der Wahrheit Den anbeten, der ein Geist ist: dann ist die Finsterniß gerichtet, und eben die Erscheinung des Lichtes gereicht dann denen zum Falle, die vorher in dem verborgenen Schatten der Unwissenheit noch ungerichtet fortwandelten. Eben so nun ist es auch jetzt noch. Sehen wir nach außen, m. g. F., so können wir uns nicht verhehlen, wir leben in einer schönen Zeit, in welcher die Sehnsucht, das Evangelium auch zu denen Geschlechtern der Menschen zu bringen, die noch in dem Schatten des Todes sitzen, freudiger erwacht ist, indem es viele treue und von heiligem Eifer ergriffene Seelen giebt, die Vater und Mutter und Vaterland verlassen für den gewinn- und ruhmlosen Dienst des Evangeliums unter denen, die fern wohnen; aber auch jetzt noch ist es in dieser Beziehung eben so. Gesegnete Früchte bleiben nicht aus, das Licht ergreift hier und da Mehrere oder Wenigere, und führt sie dem zu, vor welchem sich beugen sollen die Kniee aller derer, die auf Erden wohnen: aber das Verderben, welches in dem menschlichen Herzen wohnet, der Trotz und die Verzagtheit desselben, die es entfernt halten von seinem Schöpfer und Herrn, offenbaret sich auch jetzt in denen, welche, den göttlichen Ruf von sich stoßend, uns für die Zeit erscheinen als Kinder des Zorns. Sehen wir auf das Innere der christlichen Gemeinschaft, so laßt uns zurück gehen, m. g. F., in jene herrliche Zeit, der unsere evangelische Kirche ihre Entstehung verdankt. Wie hell schien da das Licht in eine tiefe, dicke Finsterniß hinein, welche fast die ganze christliche Kirche ergriffen hatte, und wie Viele freuten sich des herrlichen Scheines, erkannten die Kraft des Glaubens, und ließen sich hinüber ziehen von den todten Werken zu der Freudigkeit der Kinder Gottes, die da frei gemacht sind durch den Sohn. Aber wie Vielen gereichte auch jene herrliche Zeit zum Falle, denen nun auch, denn das Licht war da, die Unwissenheit nicht länger übersehen werden konnte, wenn sie sich | nun entscheiden sollten, was sie lieber mochten: den schnöden Gewinn behalten, den sie noch länger davon haben konnten, wenn die Seelen der Menschen in der Finsterniß des Aberglaubens und der Unwissenheit gelassen wurden, oder, alles Andere fahren lassend und Allem entsagend, selbst die Fackel ergreifen, welche die dicke Finsterniß erleuchtete. Ach wie Vielen, die zu einer solchen Entscheidung kamen, gereichte jene herrliche Zeit zum Falle! Und so, m. g. F., wie es immer war, wird es auch bleiben. Die Kirche des Herrn ist gegründet, aber sein Werk ist noch lange nicht vollendet, 2–3 Vgl. Joh 4,24 9–10 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79 16–17 Vgl. Ps 22,30 17– 18 Vgl. Jer 17,9 20–21 Vgl. Eph 2,3 27 Vgl. Hebr 9,14 28 Vgl. Joh 8,36 30–31 Vgl. Apg 17,30

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das fühlen wir, und bekennen gerne demüthig, wie Alles auch unter uns noch Stückwerk ist und unvollkommen, wie sich immer noch erneuert jener ursprüngliche Kampf zwischen Licht und Finsterniß, den zu entscheiden der Heiland der Welt gekommen ist. Er hat ihn auch entschieden, der Glaube hat die Welt überwunden, das Licht hat die Finsterniß vertrieben; aber nur inwiefern die Seinigen immer noch mit den Waffen des Geistes kämpfen, um sein herrliches und himmlisches Reich, und wissen und fühlen, daß sie es nicht zu thun haben mit Fleisch und Blut, sondern mit den gewaltigen Mächten der Finsterniß, welche leider noch immer nicht ganz gedämpft sind. Wo nun irgend ein neues Licht aufglänzt, und den Menschen vorgehalten wird: o da merken wir die gesegneten Früchte bald. Aber jeder neue Fortschritt in dem Werke der Erlösung, eben weil er Viele zuerst herausreißt aus einem Zustande gleichgültiger Unwissenheit, und ihnen oft plötzlich eine neue Entscheidung abdringt zwischen dem reinen Gehorsam gegen den göttlichen Willen, und zwischen dem mancherlei meistens scheinbar Guten und Erfreulichen, was irgend wie mit dem ihnen bisher gewohnten Unvollkommenen und Verkehrten zusammenhängt, so gereicht auch jeder solcher merkwürdiger Entwickelungspunkt in den Wegen der Vorsehung Vielen zum Falle. Und eben deßwegen, weil es so ist, und immer so seyn wird, fehlt auch das niemals, was Simeon der Maria zuruft: „und ein Schwerdt wird durch deine Seele gehen.“ O, m. th. F., wie könnten wohl diejenigen, die sich selbst der Segnungen | der Erlösung freuen, die Gott danken für die Gnade, welche er ihnen erwiesen hat in Christo Jesu, wie könnten die wohl ungerührt bleiben in ihren Herzen, und nicht zerrissen und verwundet seyn eben darüber, daß es so ist, wie wir uns eben erinnert haben. Denn wenn wir nun neben uns und um uns her in der Nähe und in der Ferne diejenigen sehen, denen jene herrliche Erscheinung des göttlichen Heiles zum Falle gereicht, wir, die wir fühlen, daß auch wir ihre Brüder sind in der Schwachheit, daß niemals in der menschlichen Seele der Keim des Verderbens ganz erstickt, wir, die wir gern bekennen, daß es nicht unsere frühere Würdigkeit war, welche gemacht hat, daß uns das Licht erleuchtet, und daß wir seinem Scheine gefolgt sind: wie sollte, m. g. F., nicht unsere Seele zerrissen seyn über der Verwirrung in dem Herzen unserer Brüder! Aber nicht dies allein; sondern wenn die Erscheinung des Herrn, und der weitere Fortgang seiner Lehre denen, welche die Finsterniß mehr lieben, als das Licht, zum Falle gereicht, dann ergrimmen sie gegen die Kinder 7 um] und 5 Vgl. 1Joh 5,4

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des Lichtes, und weil sie klüger sind in ihren Wegen, und ihnen auch die Kräfte der Finsterniß zu Gebote stehen, mit denen die Kinder des Lichtes nichts zu theilen haben: so fügen sie diesen leicht so viel Schmerz und Leid zu, als sie nur gelüstet, und es geht den Jüngern nicht besser, als dem Meister. Denn als Simeon diese Worte zur Maria sagte, war gewiß in der Seele des begeisterten und von Gott erleuchteten Sehers eine Ahnung davon, daß auch der Herr nicht anders, als durch Trübsal und durch Gehorsam bis zum Tode am Kreutz, in seine Herrlichkeit eingehen sollte; und in dieser Ahnung sprach er jene Worte, welche so schmerzlich in Erfüllung gingen. Denn wenn gleich der Erlöser selbst oft gesagt hatte, daß er nur eine kleine Zeit auf Erden bleiben würde, und dann wieder zurückkehren zu Dem, der ihn gesandt hatte; und sich deß gewiß auch seine Mutter tröstete, als sie schmerzensreich unter seinem Kreutze stand: doch durchbohrte gewiß ein Schwerdt ihre Seele. Und so geht es auch uns, und wird es immer gehen. Nothwendig ja müssen wir uns freuen über jede Kraft des Glaubens und des | Gehorsams, in welcher treue Jünger und Diener des Herrn, sowohl jeder für sich, als auch durch die gleiche Liebe und den gleichen Zweck auf mannigfaltige Weise unter einander verbunden, alle jene Schmerzen und jedes Trübsal dieser Welt nicht achtend, das Amt redlich zu erfüllen trachten, welches ihnen aufgetragen ist von dem Herrn. Aber so oft es dann wieder scheint, als würde das Licht, unterdrückt zwar nicht, aber doch zurückgedrängt wenigstens von der Finsterniß, so oft die Diener des Herrn, geistig zwar nicht, aber leiblich, bluten unter dem Schwerdte ihrer Verfolger: denen, die das nicht trifft, durchbohrt dann ein Schwerdt die brüderliche Seele, und Beides, sowohl das Verlangen, denen gleich zu seyn, die da gewürdigt werden um des Herrn willen zu leiden, als auch der Schmerz darüber, daß jene eben das Leiden ihrer herrlichen Wirksamkeit entzieht, Beides durchbohrt die liebende Seele. Das, m. g. F., das ist das Wehmüthige in der Geschichte der Erlösung, welches den ganzen Fortgang derselben immer begleiten wird, bis dahin, wo kein Schmerz mehr seyn wird, und keine Thräne, und wo kein Seufzer gehört wird. II. Aber nicht gleichmäßig, und wohl uns, daß es so ist, nicht gleich sind diese Schmerzen vertheilt, auch nicht unter denen, die dem Herrn wahrhaft anhangen in reiner Liebe und in ungefärbtem Glauben; und so laßt uns zweitens sehen, wer denn am Meisten und am Tiefsten diese Wehmuth empfindet. Nicht klein, m. g. F., war die Gesellschaft, in welche uns die Erzählung unsers Textes hineinführt. Ein Mann wie Simeon, ausgezeichnet an Frömmigkeit, begünstigt durch 4–5 Vgl. Mt 10,24; Joh 15,20 7–8 Phil 2,8 Joh 7,33; 12,35 32–33 Vgl. Offb 21,4

8–9 Vgl. Lk 24,26

11–13 Vgl.

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Stimmen und Zeichen von oben, angesehen im Volke, war gewiß nicht allein, wo er erschien, um in dem Tempel des Herrn zu beten, sondern Viele werden sich um ihn her versammelt haben; und auch Maria und Joseph werden begleitet gewesen seyn, wenn auch nur von einer kleinen Zahl teilnehmender Freunde, indem sie ein heiliges Werk zu vollbringen hatten, den Erstgeborenen darzustellen in dem Tempel, und die Gelübde der Mutter zu lösen. Aber von keinem wird uns erzählt, daß seine Seele so bewegt | gewesen sey, als von Simeon und von der Mutter des Herrn, die diese Worte in ihrem Herzen bewegte. Unser Text erwähnt noch einer Prophetinn, die auch da gewesen sey, und vernommen habe, wie Simeon das Kind, welches in dem Tempel dargebracht ward, erklärte für den Heiland der Welt; und es wird gesagt, sie habe davon geredet zu Allen, die in Jerusalem auf die Verheißung Gottes warteten. Aber daß sie an diesem wehmüthigen Gefühle Theil genommen, und von demselben durchdrungen gewesen sey, das wird nicht erzählt. Wohlan, wer sind denn diejenigen, die diesen heiligen Schmerz am Tiefsten und am Meisten empfinden? Es sind auf der einen Seite solche weit hinschauende Seher, wie Simeon es war, denen, weil sie die Noth der Erde dem Herrn oft und viel im Gebete vortragen, weil sie an Weisheit über Andere hervorragen, so auch an innerem Berufe zu einer geistigen Wirksamkeit Andere weit übertreffen, eben deßwegen auch eine weitere Zukunft sich erschließt, als anderen Menschen. Denn solchen geziemt es, daß sie auch von dem stärksten und heiligsten Eindrucke nicht auf eine solche Weise entzückt und hingerissen werden, daß sie nicht klar und besonnen alle bedeutenden Verhältnisse der Menschen, unter denen sie leben, durchschauen, und also die ganze Gestalt der Zeit erkennen sollten. Denen bricht dann mitten in der Freude des Herzens, daß sie ein herannahendes Heil Gottes geschaut haben, die Wehmuth aus über alle bevorstehende Kämpfe und Leiden, gleichviel, ob sie selbst sie noch erleben werden, wie eben hier Simeon erklärt, daß er es nicht erwarte, der Maria aber das Gegentheil weissagt. Wie wir nun ohne Schmerz mit ungetrübter freudiger Ehrfurcht zu dem frommen Greise in unserem Texte hinaufschauen: so wollen wir überhaupt für Menschen dieser Art nicht traurig seyn, wenn sie auch über die Gegenwart wie über die Zukunft gleichsam für unser Theil mit Schmerzen fühlen, die uns nicht so sehr berühren. Denn sie haben durch Gottes Gnade, was diese wehmüthigen Empfindungen aufwiegt: ihnen ist dabei auch früher, und in einem höheren Grade als Anderen, das herrliche Bewußtseyn gegeben, daß sie geschauet haben den Heiland Got|tes, ihnen ist auch die Auszeichnung geworden, daß, wo Andere noch nichts sehen und hören, ihnen schon Augen und 10–14 Vgl. Lk 2,36–38

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Ohren immer geöffnet sind, und daß sie durch alle Verwirrungen der Welt hindurch himmlische und erfreuliche Stimmen vernehmen, und wie Simeon in dem neugeborenen Kinde, so sie in mancher Erscheinung, die an den Meisten unerkannt vorübergeht, dasjenige schauen, was Andern noch lange verborgen bleibt, das sich immer weiter entwickelnde göttliche Heil. Nächst diesen aber sind es auch jene stillen, tiefen Gemüther, wie Maria eines war, nicht bestimmt zu einer unmittelbar großen tief in den Gang der Welt eingreifenden Wirksamkeit, aber die doch, eben wie Maria, den Sohn Gottes im Herzen tragen und nähren, und wo sie es dann vermögen, im Einzelnen wenigstens, auch mit Schmerz ihn an’s Licht gebären, um ihn Anderen darzustellen und zu empfehlen, diese stillen ruhigen Zuschauer der Wege Gottes, die, wie Maria neben allen Schicksalen ihres Sohnes, neben allen seinen Kämpfen gegen die Leiter und Führer des Volks, ruhig und still die Liebe zu ihm und die Verehrung gegen ihn im Herzen bewahren, und sich für ihr bescheiden Theil sättigen an den Worten der Weisheit, die aus seinem Munde gehen, und an dem Bewußtseyn ihrer innigen Vereinigung mit ihm. Solche stille Seelen, selbst wenn sie am Weitesten entfernt sind von dem Geräusch und dem Getümmel der Welt, und in einen kleinen und beschränkten Beruf zurückgezogen, dennoch wenn sie recht erglühen von Liebe zu dem Erlöser und zu seinem großen Werke, wenn sie bedenken, daß derselbige Erlöser, der in den stillen Augenblicken der Andacht ihre Herzen zum Genuß eines wunderbaren Friedens beseelt, auch gekommen ist, daß er die ganze Welt frei mache und erlöse, aber nur unter schweren Kämpfen gegen das Böse und gegen dessen Gewalt: dann trifft auch sie wohl am Meisten jener Schmerz, wenn sie, mitten in ihrem stillen Frieden aufschreckend, bewegt werden von allen Verwirrungen, die der Kampf zwischen Licht und Finsterniß in der Welt erregt, wenn sie oft unerwartet auch in diesem Sinne unter dem Kreutze des Erlösers stehen, ganz | nahe an denjenigen hinaufsehend, die von der Feindschaft, von dem Hasse und der Verblendung der Welt gegen die Diener des Herrn leiden, und den Schmerz derselben mitfühlend, ohne daß sie selbst gewürdigt wären, um des Herrn willen zu leiden. Aus jenen und aus diesen, m. g. F., muß das Reich Gottes auf Erden bestehen und sich bilden. Viele freilich stehen in der Mitte zwischen Beiden, und indem sie auf der einen Seite nicht so viel Ruhe und Stille haben, um von dem, was sie selbst nicht trifft, gleich den Einen bewegt zu werden, und auf der andern Seite durch ihre eigene Thätigkeit nicht so tief verflochten sind in den großen Gang des menschlichen Heils, als die Anderen: so sind auch ihre Empfindungen mannichfaltiger, und der ganze Gang ihres Lebens bewegter, und doch

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nicht so bewegt. O wenn es Viele gäbe, die, sicheren Ganges zu dem gemeinsamen Ziele fortschreitend, von jenem Schmerze über alle gewaltsamen Hemmungen und Widersprüche mit Recht nicht erregt zu werden brauchten; o wenn es viele stille Zeiten der Ruhe gäbe, aus denen selbst begeisterte Seher nicht mehr in eine trübe und verworrene Zukunft hinausschauten, und in welchen die stillen Gemüther von nichts Anderem, als von dem ruhigen Frieden des Herrn erfüllt würden, – das wäre der freudigste, der wohlthuendste Gang, den die Sache des Evangeliums, und alles menschlichen Heils, welches in demselben seinen Grund und Ursprung hat, gehen könnte. So ist es aber nicht, und Der, welcher selbst gesagt hat, er sey nicht gekommen, den Frieden zu bringen, sondern das Schwerdt, läßt uns noch immer mannichfaltig die Wahrheit dieses Wortes empfinden.

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III. Wohlan, so laßt uns denn drittens noch sehen, wie wir uns über dieses wehmüthige Gefühl zu trösten haben. Es ist ein wunderbares Wort, m. g. F., womit Simeon seine Rede schließt, und gleichsam die Maria darüber trösten will, was er ihr gesagt: „und durch deine Seele wird ein Schwerdt gehen;“ wenn er nämlich hinzufügt: „auf daß vieler Herzen Gedanken offenbar werden;“ und doch ist dies Wort, wie wunderbar und dunkel es anfänglich erscheinen möge, in der That der ernste | Trost, an den wir uns halten müssen bei diesem wehmüthigen Schmerze. O wahr ist es freilich, daß wenn das Licht, welches von Oben gekommen ist, Einigen zum Auferstehen, Anderen aber zum Falle gereicht, alsdann der Herzen Gedanken offenbar werden. Die Zeit der Unwissenheit und der Dunkelheit, verhüllt sie des Menschen Innerstes, daß man nicht sieht, was sich in demselben bewegt; wenn aber die großen Punkte der Entscheidung kommen, wenn irgend wie ein bedeutender Augenblick eintrifft, wo gewählt werden muß auf lange Zeit wenigstens zwischen Licht und Finsterniß, zwischen Geist und Fleisch, zwischen dem himmlischen Vaterlande und dem vergänglichen Wesen der Welt, zwischen der Freiheit der Kinder Gottes und dem eiteln Dienste der Sünde: dann werden der Herzen Gedanken offenbar. Aber soll uns das ein Trost seyn, daß wir auf’s Neue Gelegenheit bekommen, in die tiefen Falten des menschlichen Herzens, aus welchem arge Gedanken aller Art entstehen, einen wenig erfreulichen Blick zu thun, wenn wir auf’s Neue, und stärker als sonst, gewahr werden, welch ein trotziges und verzagtes Ding es ist, soll das ein Trost seyn? So sagt dennoch jener herrliche Greis, dem selbst ein himmlischer Trost geworden war, und der erfüllt vom Geiste Gottes 11–12 Vgl. Mt 10,34 30 Vgl. Hebr 11,16 Mt 15,19 37 Jer 17,9

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34–35 Vgl.

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redete; und wahr muß es also auch seyn. Wahr ist es auch, m. g. F. Denn wie im Allgemeinen Gott die Zeiten der Unwissenheit vorher zwar übersieht, verschwinden aber die Unwissenheit selbst nicht eher kann, als wenn Gott das Reich der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe bauen will: so ist es auch mit dem einzelnen Menschen. In Beziehung auf diesen nämlich ist das am Meisten die Zeit der Unwissenheit, wenn Einer nicht weiß, was in dem Herzen des Anderen ist, eine Zeit, die wir leider kaum zu übersehen vermögen; denn da ist an kein großes gemeinsames Werk, an kein festes Zusammenhalten zur einträchtigen Erfüllung des göttlichen Willens, an kein inniges Band der Liebe, an keinen zuverlässigen Glauben des Einen an den Andern zu denken. Nur erst wenn die Herzen der Menschen offenbar werden, dann allein werden die großen und heiligen Güter zugänglich, die aus einer | treuen und innigen Gemeinschaft entsprießen, und darin gedeihen. Wissen wir, was in dem Herzen des Menschen ist, dann können wir eben so sicher und ruhig unser Werk in der Welt erfüllen, wie eben deßhalb der Herr allein das Reich Gottes auf Erden gründen konnte, weil er wußte, was in dem Menschen war. Und so wie Er nicht nur am Ende seiner Laufbahn gegen seinen Vater sich rühmen konnte: „hier sind Die, die du mir gegeben hast;“ sondern auch noch während derselben beständig sagen konnte: „Ich bin ein guter Hirte und erkenne die Meinen, und sie werden meine Stimme hören;“ so auch wir. Wissen wir erst, wo in der Seele des Menschen das Licht waltet, und wo die Finsterniß, wissen wir, welchen wir uns zuwenden können, und ihnen die Bruderarme öffnen, und sie einladen zu dem gemeinsamen Werke, gehalten von ihnen, wo wir straucheln, und eben so auch unserseits sie aufrichtend und stärkend durch unsere Gesinnung und die ganze Kraft unseres Lebens; wissen wir hinwiederum auch, vor welchen wir uns zu hüten haben, weil ihre Seele voll Tücke ist und voll Falsch, und welchen glatten Worten wir nicht trauen dürfen, weil sie grimmige Wölfe sind, in Schaafskleidern einhergehend, – wenn in dem Scheine der Wahrheit die Herzen vieler Menschen so offenbar geworden sind, und ihre innersten Gedanken, und die Unwissenheit gewöhnlicher Zeiten verschwunden ist: dann giebt es ein festes Vertrauen, dann sind die Schritte der sonst wankenden und irrenden Liebe sicher, dann täuscht sich Keiner mehr in dem Andern, oder bauet vergeblich auf Sand, und dann läßt sich fest schürzen das Band Derer, die Einem Herrn und Meister folgen, nichts Anderes erkennend und begehrend, als sein Reich in dieser Welt zu bauen, durch die Kraft des Glaubens die Welt überwindend, und alle Trübsal derselben nicht achtend, um ihm zu folgen zu der Herrlichkeit, welche er hier schon 20 Vgl. Joh 17,12

21–22 Joh 10,14.16

31 Vgl. Mt 7,15

37 Vgl. Mt 7,26

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bereitet hat Denen, die ihm wahrhaft angehören. Und so, m. g. F., hiermit uns tröstend, wie Simeon die Maria tröstete, mögen wir denn in festem Glauben, wie Jener, zu der Herrlichkeit unsers Herrn emporschauen. Denn gereicht er auch Vielen zum Falle, und | zu jeder Zeit nur Einigen zum Auferstehen: so bleibt das doch wahr, daß Er es ist, dem alle Gewalt übergeben ist im Himmel und auf Erden, so zeigt es sich doch täglich immer mehr, daß Er das Licht ist, gekommen, zu erleuchten alle Völker. Und so mögen wir denn auch die, welche jedesmal fallen in einer solchen Zeit der Entscheidung, und wären es tausend zur Rechten, und zehntausend zur Linken, dem gnädigen Erbarmen Dessen für die Zukunft überlassen, der die Beute seines Sohnes, den er zur Herrlichkeit geführt hat, zahllos machen will, wie den Sand am Meere und wie den Thau der Morgenröthe. Amen. Schl.

[Liederblatt vom 21. Januar 1821:] Am dritten Sonntage nach Epiphanias 1821. Vor dem G[ebet.] – Mel. Wie schön leucht’t etc. [1.] Mein Jesu, meines Herzens Lust, / Mir ist nichts auf der Welt bewußt, / Das meine Seele stillet! / Nur deine Huld so köstlich ist, / Daß seiner selber gern vergißt, / Wen du mit ihr erfüllet. / Zeuch mich kräftig durch der Liebe / Reinste Triebe / Von der Erde, / Daß ich ganz dein eigen werde. // [2.] Ja wer dich fest im Glauben hält, / Der kann des Himmels Freudenwelt / Im Vorgenuß schon schmecken. / Denn pflegst du gleich zu mancher Zeit / Bei großer Herzenstraurigkeit / Dein Antliz zu verdecken. / Pflegt doch dein Joch all den Deinen / Leicht zu scheinen, / Frei von Plagen, / Welche sünd’ge Seelen nagen. // [3.] Doch weiß ich auch aus deinem Wort, / Daß du mein Heiland und mein Hort / Dich ewig nicht verhüllest. / Du thust es, treuer Heiland, du, / Auf daß mit desto größrer Ruh / Du mich hernach erfüllest. / Wenn ich treulich dir mich gebe, / In dir lebe / In dir sterbe, / Bin ich deines Himmels Erbe. // (Brem. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] Entreiße dich, mein Geist, der Welt / Um dem, der Gott ward dargestellt, / Auch dich nun darzustellen. / Er ist das Licht, drum sei gewiß, / Er wird auch deine Finsterniß / Durch seinen Glanz erhellen. // [2.] Ja stell, mein Herz, dich ganz und gar / Dem großen Himmels-Herren dar / Und laß zurück 6 Vgl. Mt 28,18 11–12 Vgl. Jes 53,12 10,22) 12–13 Vgl. Ps 110,3

12–13 Vgl. Röm 9,27 (Zitat aus Jes

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die Sünden! / Verlaß die Welt und all ihr Thun, / Und suche nur in ihm zu ruhn, / So wirst du Gnade finden. // [3.] Er macht dich hell und glänzend rein, / Um dich zum Leben einzuweihn, / Zum gottgefäll’gen Leben. / Er schenkt die Kraft, die dir gebricht, / Und stärket deine Zuversicht / Zu Gott dich zu erheben. // [4.] Wer dich begehret, Gottes Sohn, / Vom Geist erweckt wie Simeon, / Zu seinem Heil zu haben. / Wer voll des heilgen Geistes ist, / Und wartet auf den Herren Christ, / Der opfert ächte Gaben. // [5.] Wer auf das Wort der Wahrheit baut, / Im Glauben seinen Heiland schaut, / Kann einst in Frieden fahren. / Der Herr erfüllt, was er verspricht, / Er wird sich dort in seinem Licht / Ihm herrlich offenbaren. // [6.] Ich komme, Herr, mich dir zu weihn, / O mache mich von Sünden rein, / Und laß mich heilig leben, / Bis du auch mich, wenn dir’s gefällt, / Im Frieden wirst aus dieser Welt / Zu deiner Wonn’ erheben. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Gelobt seist du, o Freund der Seelen! / In deiner Huld wie wohl ist mir! / Was kann, wenn du mich liebst, mir fehlen? / Ich finde jedes Heil in dir. / In meiner Pilgerschaft Beschwerden / Hab ich den Himmel schon auf Erden, / Denn du bist durch den Glauben mein. / Ich darf, ich will nicht ängstlich klagen; / Wer kann, wo Jesus ist, verzagen? / Mein Freund ist mein und ich bin sein. //

Am 28. Januar 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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4. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 6,6–11 Nachschrift; SAr 60, Bl. 15r–18r; Woltersdorff Keine Keine Teil der vom 1. Januar 1821 vermutlich bis zum 25. Februar 1821 gehaltenen Predigtreihe zu Christi Beispiel (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Am 4. Sonnt. nach Epiphan. Lucas 6. v. 6–11 „Es geschah aber auf einen andern Sabbath“ – pp. Auch aus dieser Erzählung gehet die christliche Weisheit, zu welcher wir uns nach dem Beispiele des Erlösers beim Anfange des neuen Jahres ermuntert, und deren Wesen wir uns in unserer letzten Morgenbetrachtung vorgehalten haben, hervor. So laßt uns denn heute von dem Erlöser lernen 1. Wie wir weislich wandeln sollen gegen die die da draußen sind. 2. Wie die mit Salz gewürzte Rede auch lieblich sein soll.

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[1] 1. Sie hielten auf ihn, ob er die Gebote am Sabbath verletzen würde – weil sie wußten, daß er von sich gesagt: „des Menschensohn ist Herr des Sabbaths –“ 2. Sie gaben acht auf welche Weise er diese Wunder verrichten würde – er aber beobachtete in seiner Handlungsweise die höchste Einfachheit. Als der Erlöser ihre Gedanken sahe – wendete er sich fragend an sie – ihnen zu Gemüthe zu führen, daß er nie das Gute unterlassen könne. | Als sie nun nichts erwiderten, that er ungesäumt was der Geist Gottes von ihm forderte. Auch in unserm Leben werden uns von den Kindern der Finsterniß oft solche Fallstricke gelegt, unser Wirken und Treiben ist ihnen zuwider, sie nehmen allerlei Aergerniß daran, und möchten es gern vernich4–5 Vgl. oben 1. Januar 1821 früh 6 Die Frühpredigt vom 14. Januar 1821 über Lk 5,33ff aus der am 1. Januar 1821 begonnenen Predigtreihe zu Christi Beispiel ist nur durch den Tageskalender belegt. 9 Vgl. Kol 4,6 11–12 Lk 6,5

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ten. Wenn wir dann frei von Furcht vor sie treten, wenn sie sehen, daß wir uns nicht stören lassen in unserm Wirken, daß wir den Anforderungen des Geistes Gottes in uns Genüge leisten müssen, den Beruf erfüllend, der uns von Gott angewiesen, – dann haben wir gethan was Recht ist vor Gott, und was uns obliegt. Gelingt es ihnen dann unser Wirken zu hemmen, so sollen wir uns der Hoffnung getrösten, daß es nicht eher geschehen konnte, bis Gott der Herr es zugelassen, und daß er gleich andere ausrüsten werde die seine Sache weiter führen, und daß er den Menschen, auf unserm Auge verschlossenen Wegen, Heil bereiten kann. Als treue Arbeiter des Herrn müssen wir, so lange es uns vergönnt ist, mit | dem uns gegebenen Pfunde wuchern – auf daß auch an uns einst ergehen mögen die Worte: „du frommer und getreuer Knecht – du bist über Weniges getreu gewesen, ich will dich über Vieles setzen“. – Der Erfolg ist immer des Herrn Werk, – von uns fordert er nur, daß wir treu und ganz der Stimme seines Geistes in uns folgen – leben nicht wir in uns sondern nur Christus in uns, so werden wir beharren, (wie er über uns verhängt hat) – wissend daß er der Allein-Mächtige ist, der Alles lenken kann zu seiner Ehre, und daß er es ist der den Menschen Prüfungen schickt, auf daß sie geläutert, und von der Welt zu ihm geführt werden. [2.] Einfach war die Rede und Handlungsweise des Erlösers – so mag auch unsere Rede sein, wenn die Stimme der Widersacher an uns ergehet. Das Einfache ist immer das Natürlichste. Aus den einfältigen geheiligten Tiefen des Herzens, gehet die Kraft der mit Salz gewürzten Rede hervor. | Sorgen aber sollen wir, daß solche Rede auch lieblich sei – . Wie die Milde sich so ganz verträgt mit der Kraft lernen wir hier von dem Erlöser. Als die Schriftgelehrten schwiegen und verstummten – schonete er sie, von Angesicht zu Angesicht ihnen gegenüber stehend – und that still was sein Gott ihn lehrete. Hätte er ihre Beschämung genutzt, um mit Worten das im Menschen liegende Gute, dessen sie sich schämten und in ihnen erwachte, hervor zu heben, so hätte dies eine Bitterkeit der Rede erzeugen können – die weit entfernt zu erweichen, immer mehr entfernt. Eh ich aber diese Betrachtung schließe, laßt mich noch einige Bemerkungen hinzufügen. Es war an einem Sabbath, und schon damals Gebrauch daß außer daß der Tag durch Stille geheiligt wurde, er bestimmt war zur Unterweisung in dem Worte Gottes. Auch der Erlöser war gekommen um zu lehren. – Daß nun weder die Heilig|keit des Orts, noch die Heiligkeit der 1 sie treten] ihnen getreten 9–11 Vgl. Lk 19,16–17 24 Vgl. Kol 4,6

19 werden.] Im Manuskript folgt kein Absatz. 11–13 Mt 25,21.23

15 Vgl. Joh 15,5; Gal 2,20

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Sache geachtet wurde, sondern seine Verfolger auch bis hieher zu ihm drangen, mußte dem Erlöser doppelt schmerzlich sein, und wir haben hierin einen Beweis seines rein menschlichen Gefühls – unterdrückend den Schmerz darüber, stellete er ihrer Bosheit und List, Milde und Wohlthat gegenüber: „Sie aber ergrimmten – “ Wie deutlich er nun auch sah, daß eben dies sie noch mehr aufbrachte – konnte er nicht einen Augenblick unwürdig und unthätig vor ihnen stehen, handeln mußte er wie der Geist Gottes ihm gebot, – und wenn gleich sie immer noch erbitterter auf ihn wurden – so erreichte er doch den Zweck, sich eine freie Bahn der Wirksamkeit dadurch zu erhalten, – und in den Seelen der Gläubigen zu bewirken was er wollte, nehmlich: sein Reich in ihnen zu gründen. – Das Amt welches ihm von Gott angewiesen, | erfüllete er, solange es ihm vergönnt war, unter Menschen zu wirken – was nun weiter darnach folgen mochte, dafür sorgte er nicht – war sein Werk auf Erden vollbracht, so konnte er hoffen daß sein Vater andere zurüsten würde, die es weiter ausbreiteten und vollendeten. – Viel giebt es noch zu tun, das erkennen wir demüthig – ohne Besorgniß der möglichen Gefahr, wollen wir frei und froh ausüben, was die Zeit von uns fordert, und nicht um ängstlicher Sorge willen, den Augenblick vorübergehen lassen, ungenutzt, welcher sich als geschickt darbietet, zum Einwirken und Ausbreiten für das Reich Gottes auf Erden. – Des endlichen Besitzes können wir fest versichert sein – so lange wir aber hier auf Erden stehen, bedürfen wir die volle Kraft des Glaubens um uns zu entwinden | den Mächten und der Gewalt der Finsterniß, und das Wort Gottes zu erfüllen, wie er es von uns fordert.

15 Vgl. Apg 13,49

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Am 28. Januar 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Friedrichswerderkirche zu Berlin Mt 8,23–27 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 52, 64r–65v; Gemberg Keine Keine Tageskalender: „über das Evangelium“

Evang. am 4. Sonntag nach Epiphan. Schleiermacher in Friedr. Werder. K. Perikope Matth. 8, 23–27

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M. and. F., des Menschen Herz ist ein trotzig und verzagtes Ding, so spricht der Herr, trotzig in der frischen Lust der Sünde, verzagt in dem Unglauben. Beides aber finden wir hier nicht. Hier ist auf der einen Seite der Muth des Erlösers, auf der andern die Kleinmüthigkeit seiner Jünger. Aber ihr Kleinmuth ist nicht jene ungläubige Verzagtheit, | daher sie der Herr auch sanfter rügt. Betrachten wir itzt den Muth und die Kleinmüthigkeit, wie sie im Text einander gegenüberstehen und auf einander einwirken. Wir finden aber beides in den zwei Haupttheilen unsrer Erzählung, 1. Der Herr schläft und die Jünger klagen: wir verderben. Es war der anmuthige See Galiläas, dessen frisches Wasser von Bergen hoch und niedrig umschlossen war, wo der Sturm, wie häufig bei Landseen, ausbrach. Die Fluthen schlugen über das Boot zusammen, und der Herr schlief. Sehn wir auf den Schlaf des Jonas, um in diesem den Muth zu erblicken. Jonas entfloh dem Herrn, und verbarg sich in das Unterste des Schiffes, als er sich hinwegwandte von dem Orte, wo zu reden die innere Stimme ihn aufgefordert hatte. Da schlief er, und da er geweckt ward, konnte er nicht beten, und als das Loos ihn getroffen, über Bord geworfen zu werden, sagte er: so muß es sein, denn ich entwich dem Herrn. Anders war der Schlaf Christi. Er war mehr der Schlaf des unschuldigen Kindes, das mit Gefahren nicht vertraut ist. Er, damit vertraut, fürchtete sie nicht, wissend, daß seine Stunde noch nicht gekommen, und schlief. Aber Kleinmuth war in den Jüngern. Sie hatten solche Angst, daß sie die Ehrfurcht gegen den Meister verletzten 4 Jer 17,9

16–21 Vgl. Jona 1,3–12

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und ihn weckten und riefen | Herr, wir verderben! Aber auf das Wir achten wir. Sie bezeichnen nur sich, und lassen unbestimmt, ob auch der Herr dabei untergehn werde. Dunkel mußte der Gedanke in ihnen sein: der Vater werde den Eingeborenen wohl schirmen. Aber sie fühlten, daß sie und mit ihnen die gute Sache verloren gehen möchte, für die sie doch wirkten. So Jonas, der auch meinte, er allein sei aufbehalten, die Wahrheit zu predigen. Das ist kleinmüthig. Sie mußten Gott vertrauen, durften für sich nicht bangen, und noch weniger für den Sieg der göttlichen Wahrheit. Doch waren sie nicht, wie Petrus einmal, der sprach: Herr, schone deiner – das war wirkliche Verzagtheit des Herzens, daher des Herrn harte Rede: wende dich weg, Satan, du redest Ungöttliches. Wenn wir so den Sieg des Wahren in der Welt aufgeben durch unsern Unglauben, so sündigen wir arg, wir sollen nicht einmal um unser Leben zagen, wenn wir freilich fühlen, daß dadurch der guten Sache endliche Kräfte entzogen würden. Der Herr kann aus diesen Steinen dem Abraham Kinder erwecken, er wird auch Werkzeuge für seinen heiligen Willen auferwecken. 2. Der Herr bedrohet den Wind und das Meer, da ward es ganz stille. Der Herr rügt erst die Kleingläubigkeit auf sanfte Weise, dann beruhigt er die Elemente. Hier erreichen | die Menschen ihn nicht, aber den Muth, mit dem er den tobenden Elementen zusieht und nichts fürchtet, dem Vater anheimgegeben, den sollen wir bewahren.

21 bewahren.] Darunter die Notiz des Nachschreibers: (Das Letzte zu spät aufgeschrieben) 9 Mt 16,22

10–11 Mt 16,23

14–15 Mt 3,9

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Am 4. Februar 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

5. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 2,16–18 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 241–256 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 442–455; ²1844, S. 494–507 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 361–372 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 65v–66r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 20r–26v; Woltersdorff Besonderheiten: Teil der vom 7. Januar 1821 bis zum 4. März 1821 gehaltenen Predigtreihe in Fortsetzung von Weihnachten (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Bild des Frevels, welcher die Fortschritte des Christenthums aufzuhalten sucht. Text. Matth. 2, V. 16–18.

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M. a. F. Wie bedeutungsvoll erscheint uns bei näherer Betrachtung Alles, wie wenig es auch sey, was uns von den ersten Begebenheiten gemeldet wird, sowohl welche den Erlöser selbst bei seiner Erscheinung auf Erden getroffen, als auch welche sich nur irgend wie auf ihn und seine Erscheinung beziehen. Zuerst sprechen sich die herrlichen Erwartungen, daß das Volk Gottes sollte errettet und gesammelt werden, in den Lobgesängen aus, mit denen Maria und Elisabeth noch vor der Erscheinung des Herrn einander begrüßten. Bestätigt werden sie uns bei der Geburt des Erlösers selbst durch die Verkündigung der himmlischen Heerschaaren. Nicht nur auf das alte Volk Gottes sich beziehend, sondern zugleich auch aus der Ferne diejenigen, die eine Ahnung von der Nothwendigkeit eines neuen Heils erfüllte, herbeilockend, erscheint uns die Ankunft des Erlösers, indem die Weisen aus dem Morgenlande kamen, ihn zu verehren und ihm ihre Gaben darzubringen. Ahnungsvoll von den Kämpfen des Reiches Gottes auf 8–11 Vgl. Lk 2,39–55

12–13 Vgl. Lk 2,9–14

16–18 Vgl. Mt 2,1–11

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Erden, redet der fromme Greis, auf dessen Worte wir erst kürzlich unsere Betrachtung gerichtet haben; und wie bald ging das Wort in Erfüllung: „Dieser wird gereichen nicht nur zum Aufstehen, sondern auch zum Falle Vielen in Israel!“ Denn dies erfüllte sich zuerst in der schauervollen Geschichte, die wir so eben gelesen haben; sie ist uns überliefert als der An|fang von dem großen Trauerspiele des Christenthums, und alles Wehmüthige, alles Empörende, wovon die Fortpflanzung und Entwickelung desselben bis in die neuesten Jahrhunderte abwechselnd begleitet gewesen ist, kann sich uns an diese Begebenheit anknüpfen. Wir mögen sie ansehen als ein Bild alles Frevels, der in dem Laufe der Zeit begangen worden ist, um die Fortschritte des Christenthums und alles Guten, was mit demselben verbunden ist, aufzuhalten. Und so wollen wir sie in dieser Stunde näher mit einander betrachten. Zweierlei Gemüthsbewegungen aber, die uns dabei erfüllen, erfordern eine zwiefache Behandlung der Sache. Laßt uns zuerst fragen: wie wir uns zu beruhigen haben über das Schmerzliche, was darin liegt? – dann aber auch zweitens uns selbst recht deutlich machen den Abscheu vor dem Verkehrten und Verwerflichen darin, der uns erfüllt. I. Was das Erste betrifft, m. g. F., so ist wohl nicht zu leugnen, diese Geschichte ist in vieler Hinsicht trauriger und niederschlagender, als das meiste Aehnliche, was sich in dem Verlaufe der Gründung und Ausbreitung, so wie der inneren Entwickelung und Reinigung des Christenthums von Zeit zu Zeit ereignet hat. Denn sehen wir in der Folge die Zeugen des Glaubens, bald einzeln, bald in ganzen Haufen, ihr Blut für denselben vergießen: so ist dem Schmerze, den wir darüber empfinden, unmittelbar etwas Erhebendes beigemischt. Alle diese waren thätig in ihren Leiden; es entwickelte sich dabei die Stärke ihrer Seele, die Festigkeit ihres Muthes, die Freudigkeit ihres Glaubens; und indem uns ihr Tod betrübt und wir trauern, daß diejenigen zu früh der Erde entrissen wurden, die, mit so herrlichen Kräften ausgestattet, des Guten noch viel hätten stiften können, so können und dürfen wir uns auf der anderen Seite nicht leugnen, treu nachfolgend Demjenigen, der auch sein Werk auf Erden dadurch krönte, daß er für die sündige Welt starb, haben auch sie das Größte, was sie konnten, gethan, indem sie zeugten und zeugend starben. Hier hingegen, m. g. F., sehen wir auch nicht das leiseste Bild eines Kampfes, aus dem etwas Gutes hervor|gehen könnte, keine Spur eines Widerstandes, in welchem sich edle Kräfte entfalteten. Das Schwerdt der Gewalt trifft die Schwäche, welche sich weder zu helfen und zu retten weiß, noch 1 Vgl. Lk 2,25

1–2 Vgl. oben 21. Januar 1821 vorm.

3–4 Lk 2,34

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auch das Ende des eben erst angefangenen Lebens durch irgend etwas Denkwürdiges zu bezeichnen im Stande ist; es trifft eben die zarte Jugend, auf welche der Erlöser in den Tagen seines Wandels auf Erden mit der größten und zärtlichsten Hoffnung hinsah, diejenigen, die sich erst noch entwickeln sollten zur Blüthe ihres Lebens, und hernach schöne Früchte zu tragen bestimmt schienen, eben weil sie als Zeitgenossen des Erlösers geboren wurden. Gewiß also ist der Schmerz, der uns hierüber erfüllt, ein solcher, der wenigstens keinen Trost irgend einer Art bei sich selbst führt, sondern anderswo, nicht in der Sache selbst, müssen wir uns nach Trost umsehen. Aber wo, m. g. F.? Wenn wir uns fragen: wie konnte doch Gott zulassen, daß so zartes unschuldiges Blut vergossen wurde, daß diejenigen geopfert werden durften, von denen Jeder auf das Deutlichste überzeugt ist, sie konnten nichts begangen und nichts verschuldet haben, sondern sie litten und starben bloß, um den geheimen frevelhaften Absichten eines Mächtigen zu dienen, ja sogar dazu umsonst, indem diese ja doch nicht erreicht wurden? wenn wir uns diese Frage vorlegen: wohl, so laßt uns zuerst nur ja nicht vergessen, daß uns ein für allemal nicht gegeben ist, in das Geheimniß der göttlichen Anordnung einzudringen, und am Wenigsten solcher, welche wir gewohnt sind, am Liebsten nur mit dem Namen göttlicher Zulassungen zu bezeichnen. Wenn uns nun in dieser Hinsicht kein Licht leuchtet und aufgeht, sondern wir Gott den Allmächtigen allein müssen walten lassen über die menschlichen Dinge: so müssen wir uns begnügen, wenigstens zusehen, ob uns irgendwo der Schimmer einer wahren und fröhlichen Ergebung aufgehe, und müssen dasjenige aufsuchen, was uns bei diesen und ähnlichen Begebenheiten, wenn so Schauderhaftes sich ereignen kann, wahrhaft zu beruhigen vermag. Das, worauf wir hauptsächlich zu sehen haben, ist wohl dieses: daß Gott schon in die allgemeinen Ordnungen der Natur | so viel Zerstörendes gelegt hat, daß dasjenige, was aus den Freveltaten der Menschen hervorgeht, nur Weniges hinzuthut. Alle Verwüstungen des Krieges vermehren nur um ein Geringes die Zahl der Sterblichen, welche Jahr aus Jahr ein als Opfer des natürlichen Todes fallen. Und so finden wir es überall. Denken wir an diese Kinder, die durch einen Wink der rohen Gewalt aus dem Leben hinweggerissen wurden: welch ein großer Theil von denen, die zweijährig sind und darunter, wie diese es waren, wird nicht immerfort durch die Ordnung der Natur dem Leben entrissen! Der Herr will das menschliche Daseyn, in seiner kürzesten Dauer, wie in der längsten, deren es seiner inneren Einrichtung nach fähig ist, uns vor Augen stellen; und gewöhnt sind wir an diesen Anblick, und erfahren es, wie Viele, ehe noch der Keim des Lebens sich in ihnen entfaltet hat, schon sterben müssen, damit die

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Anderen übrig bleiben. Aber freilich in das Unvermeidliche lernen wir allmählig uns fügen, der Schmerz, den uns die Natur verursacht, verliert früher oder später seinen Stachel; aber auf dieselbe Weise scheinen wir uns nicht beruhigen zu können, wenn der natürliche Schmerz sich mit dem bitteren Gefühle verbunden hat, daß nur durch Feindschaft gegen das Gute, nur durch unnatürlichen Frevel Schmerz und Leiden entstanden sind. – Freilich wahr, m. g. F.! Aber laßt uns zunächst bedenken, daß für den Herrn auch die rohesten Leidenschaften der Menschen nichts Anderes sind, als nur Aeußerungen einzelner Zweige eben jener noch ungebändigten und unvergeistigten Kräfte der Natur; und das Er, der Sturm und Blitz zu seinen Dienern macht, wo er zerstören will, eben so auch den Zorn und die blinde Wuth irregeleiteter oder böser Menschen so lenkt, daß, was sie auch Böses meinen, sie doch durch die That immer nur seinen, uns vor dem Ausgang der Sache so oft verborgenen, Willen erfüllen müssen. Und wie der Erlöser uns damit beruhigt, daß kein Sperling, wenn auch zwecklose Mordlust ihn niederschießt, vom Dache fällt, und kein Haar, wenn auch empörter Zorn es gewaltsam ausrauft, von unserem Haupte, ohne den Willen unseres Vaters im Himmel: so sollen wir immer mehr lernen, auch | das Gewaltsame als natürlich ansehen und empfinden, und als unter der Leitung derselben Allmacht stehend, welche allein Leben und Tod, Freude und Schmerz gegen einander abzuwägen weiß. Wir sollen lernen, uns ganz eben so, wie über das Unnatürliche, auch über die Schmerzen zu trösten, die Gott den Menschen zufügen läßt durch die Hand ihrer Brüder, da wir ja genug wissen, daß, so lange die Menschen nicht von dem göttlichen Geiste der Liebe durchdrungen sind, die verderblichen Ausbrüche ihrer heftigen Leidenschaften eben so zu dem Unvermeidlichen gehören, wie die Zerstörungen, welche die Natur unmittelbar ausübt. Aber zweitens, m. g. F., so wie die allgemeinen Gesetze der Natur auch durch ihre zerstörenden Wirkungen doch keinesweges gar nichts Anderes ausrichten, als daß sie dem Menschen sein Leben verkümmern und seine Werke vernichten, sondern je öfter und je tiefer sie ihm wehe thun, um desto mehr auch allmählig seine Kräfte entwickeln und aufregen zu erfolgreichem Widerstande; und wie er selbst nur auf diesem Wege des Streites gegen feindselige Kräfte den großen Beruf erfüllen kann, zu welchem Gott ihn in die Welt gesetzt hat, nämlich, daß er nicht beherrscht werde, sondern selbst ein Herr sey auf Erden, und sich allmählig Alles, was lebt, und alle lebenden und zum Leben mitwirkenden Kräfte zur Dienstbarkeit unterwerfe; so wie auch dieses Gesetz der Natur, Kraft dessen jährlich eine große Menge 11 Vgl. Ps 11,6; Sach 9,14

16–19 Vgl. Mt 10,29–30; Lk 12,6–7

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unserer Neugeborenen den Schauplatz der Welt wieder verlassen, nicht besteht, ohne daß der menschliche Verstand und der menschliche Wille einen, wenn gleich noch nicht sehr bedeutenden Einfluß darauf ausübt, indem wir immer mehr lernen, auch von der zarten Kindheit manche Uebel, die ihr drohen, hinwegzunehmen und abzuwenden, die Gewalt mancher Krankheiten, die sonst über dieses Alter geherrscht haben, zu brechen und zu zähmen: eben so, m. g. F., ist auch alles Schmerzliche, was aus dem Unrecht und der Gewaltthätigkeit hervorgeht, nicht nur da, um eben so gut als möglich ertragen zu werden. Nein, nicht nur leidend und duldend sollen wir uns darüber trösten, und uns | still in den Willen des Herrn ergeben: sondern deß eingedenk seyn, daß jeder Wille des Herrn, der an uns ergeht, jeder Wink, den er uns giebt durch das, was vor unseren Augen vorgeht, auch ein Gebot von ihm an uns in sich schließt, auf daß der Mensch wahrhaft und in dem höchsten Sinne lebe von jedem Worte, was aus dem Munde Gottes geht. Und das gilt denn vorzüglich, m. Th., auch von allen Uebeln, die unmittelbar aus den Ausbrüchen der Sünde entspringen. Denn das ist ja das größte Gebot des Herrn an uns, daß wir alles Böse überwinden sollen mit Gutem. Sollen wir es aber überwinden, so muß es uns zum Streite aufgeregt haben; soll es uns aufregen, so müssen wir es wahrgenommen haben; sollen wir es wahrnehmen, so muß es aus dem Inneren des Menschen, in welches wir so selten einzudringen vermögen, hervorgetreten seyn; es muß in äußere That übergegangen seyn, nicht etwa nur durch leise Andeutungen, die uns selten stark genug ins Auge fallen, um uns kräftig aufzuregen, sondern auch in Frevelthaten und Greueln wie diese, damit wir die Tiefe des menschlichen Verderbens erkennen, und für uns selbst, wie für Andere, um desto inniger, schneller und kräftiger unsere Zuflucht nehmen zu der Quelle alles Guten. Und eben dieses ist der heilige Wille Gottes, der uns über alle solche, auch die schauderhaftesten Ereignisse zur vollkommenen Beruhigung gereicht, der Wille Gottes nämlich, daß auf diesem Wege überall aus dem Bösen das Gute hervorkommen soll. Durch den so bewirkten Einfluß derer, welche diesen Befehl des Herrn vernehmen, und ihm durch den Beistand seines Geistes Folge zu leisten bereit sind, dadurch soll es geschehen, daß, was die Menschen übel gemeint haben, der Herr wieder gut macht. Denn er macht es nur gut durch den Dienst seiner treuen Knechte auf Erden. Damit also deren Kräfte erweckt werden, damit sie desto tiefer durchdrungen werden von der anschaulichen Erkenntniß des menschlichen Verderbens: darum läßt der Herr geschehen, daß es hervorgelockt werde 14–16 Vgl. Dtn 8,3 (zitiert in Lk 4,4) 36 Vgl. Gen 50,20

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aus dem Inneren auf mancherlei Weise, und in den verschiedensten Abstufungen. Wenn wir nun sehen, daß das Böse noch in | der Gestalt schauderhafter und alles Gefühl empörender Gräuel hervorbricht: sollen wir der göttlichen Weisheit weniger zutrauen, als der menschlichen? Denn überall, wo menschliche Gesetzgeber noch harte und rohe Strafen verhängen, sind gewiß die Völker noch ungeweckt für den Unterschied zwischen dem Guten und Bösen; je mehr aber der Sinn dafür geschärft wird, um desto mehr wird auch die Härte der Strafen als überflüßig gemildert. So dürfen wir auch gewiß vertrauen, wo Gott noch Unerhörtes geschehen läßt, da konnte um einen geringeren Preis nicht zur Anschauung gebracht werden, in was für einer Tiefe des Verderbens die Gesellschaft noch krank liegt, und wie wenig sie noch von besseren Gefühlen und Grundsätzen durchdrungen und bewegt ist. Das gilt nun auch besonders von dem vorliegenden Falle. Denn wir können wohl gewiß nicht anders, m. g. F., als da einen höchst erniedrigenden Zustand der menschlichen Gesellschaft erkennen, wo solche Dinge geschehen dürfen, wie an jenem Tage verübt wurden, wo die Gewalt mit Beiseitsetzung aller Schaam und mit Verachtung auch des ursprünglichsten Rechtes der Menschen willkührlich eingreifen, und offenbar schuldloses menschliches Leben ohne alle Form, ja ohne irgend eine Darlegung, ohne irgend einen Vorwand des Rechtes, zerstören darf. Aber die Geschichte des jüdischen Volkes ist voll von ähnlichen Gräueln, wie denn auch der Erlöser demselben die Menge des unschuldig vergossenen Blutes vorwirft. Und sie mußten sich wiederholen, um endlich bei einem Theile wenigstens das Gefühl zu erwecken, daß ihm etwas Anderes Noth thäte, als das alte Gesetz, da solche Unthaten auch von denen ausgehen konnten, welche den Gott des Gesetzes bekannten, und die besonderen Aufseher und Beschützer seines Heiligthums waren. Und wie abgestumpft ist nicht oft lange Zeit hindurch das Gefühl des größten Theils der Menschen für eben so unwürdige Zustände! Soll dies Gefühl geweckt werden, so müssen Thaten geschehen, die schlimm genug sind, um auch auf die abgestumpften Gemüther zu wirken, und die fast erstorbenen Gefühle allmählig wieder für ein besseres Leben in menschlichen Herzen zu | beleben. Diejenigen also, die auf solche Weise leiden, oder gar ihr Leben lassen, machen zwar nicht den erhebenden Eindruck auf uns, den die heiligen Zeugen der Wahrheit, den die für die Sache des Guten blutenden Kämpfer zurücklassen; aber haben wir nur erst der Sache die rechte Seite abgewonnen, so beruhigt sich doch unser Herz; denn auch sie dienen, aber durch das, was sie leiden, der gemeinsamen Sache des menschlichen Geschlechts, auch sie opfern ihr Leben, wenn 23–24 Vgl. Mt 23,35

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auch willenlos und unbewußt, dem besseren Heile der Zukunft. Und Keiner unter uns, das wissen wir, kann etwas Besseres thun, und Keinem etwas Größeres begegnen, als eben dies. Beides fanden wir neben einander im Anfange des Christenthums, und eben so hat sich Beides nachher in der weiteren Geschichte desselben oft wiederholt. Neben denjenigen, die unmittelbar als Zeugen des Evangeliums litten und starben, finden wir immer Viele, welche Opfer wurden von den verkehrten Absichten und frevelhaften Unternehmungen derer, die den Lauf der göttlichen Wahrheit in Ungerechtigkeit aufzuhalten wähnten, und mittelbar oder unmittelbar, bald auf diese, bald auf jene Weise, die Verbreitung des Christenthums zu hemmen suchten. Und wie aus beiderlei Leiden alle die Güter hervorgegangen sind, in deren sicheren Besitz die christlichen Völker sich jetzt glücklich wissen: so dürfen wir auf dieselbe Weise auch alles dasjenige ansehen, was sich Aehnliches bei der allmähligen Entwickelung und weiteren Ausbildung des menschlichen Geschlechts fast unter allen Völkern ereignet, indem überall nur unter mancherlei Kämpfen und Streitigkeiten ein unvollkommener Zustand der Dinge einem vollkommneren weichen zu können scheint. Wissen wir uns aber nun so im Allgemeinen zu trösten und zu beruhigen über die Art, wie Gott die menschlichen Angelegenheiten leitet: so müssen wir auch, in dem Vergangenen uns spiegelnd, immer gefaßt seyn, und getrosten Muthes bei Allem, was uns selbst, was Anderen neben uns, was den künftigen Geschlechtern nach uns noch Aehnliches begegnen mag. | II. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch zweitens die andere Seite unseres Gegenstandes betrachten. Tief durchdrungen von Abscheu fühlt sich gewiß ein Jeder, wenn er sich diese Frevelthat in das Gedächtniß zurückruft. Aber auch in solchen Gefühlen, m. g. F., mischt sich gar oft das Menschliche unter das Göttliche, das Sinnliche unter das Heilige; und es ist unsere große und theure Pflicht als Christen, daß wir vor allen Dingen auch unseren Widerwillen gegen das Böse reinigen vor Gott, damit eben in das Bestreben, wozu er uns auffordern soll, das Böse nämlich zu überwinden durch Gutes, sich nichts einmische, was der heiligen Sache des Erlösers unwürdig wäre. So laßt uns denn jetzt in dem zweiten Theile unserer Betrachtung sehen, was denn die eigentlichen Gründe des Abscheu’s sind, den wir über diese That empfinden. – Ich beginne bei dem, was sich zunächst an das zuletzt Gesagte anschließt. Ein solcher herabgewürdigter Zustand der menschlichen Gesellschaft, wo sich die Willkühr eines untergeordneten Herrschers, wie Herodes war, im Ue33–34 Röm 12,21

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bermuthe einer schlecht erworbenen Gewalt, und im Vertrauen auf den sicheren Schutz eines eben so ungerecht waltenden Herrschers, Alles erlauben zu dürfen meint, wie sehr sich auch jedes menschliche Gefühl dagegen empöre, wie deutlich auch ein gänzliches Erdrücktseyn alles menschlichen Gefühls bezeuge in dem, welcher dergleichen zu thun vermag, sich dadurch ausspricht, – ein solcher herabgewürdigter Zustand einer menschlichen Gesellschaft, sage ich, ist niemals ohne eine gemeinsame Schuld, er beweist deutlich genug, daß in der ganzen Masse von Menschen, unter welcher so etwas nicht nur geschehen darf, sondern auch leicht genug hingenommen wird, wie es bei dieser ungerechten That des Herodes der Fall war, da sie gar kein großes Aufsehen gemacht zu haben scheint, indem unsere Erzählung, die sonst in den einzelnen Umständen ziemlich genau und ausführlich ist, nichts erwähnt von einer unruhigen Bewegung, die daraus unter dem Volke entstanden wäre, es muß, meine ich, in einer solchen Gesellschaft das Gefühl für Recht, es muß die Ehrfurcht vor dem menschlichen Daseyn selbst | abgestumpft und erstorben seyn; und wir mögen es allerdings als eine allgemeine Regel feststellen, daß in dieser Beziehung, so bald wir nur die menschlichen Schicksale im Großen betrachten, und unseren Blick nicht auf dem Einzelnen ruhen lassen, den Menschen nicht leicht etwas begegnet, was sie nicht verdient haben. O die Mütter jener Kinder, die ein Opfer wurden von der blinden Wuth des Herodes, mögen es wohl tief gefühlt haben, was der Herr über sie hatte kommen lassen, sie mögen wohl richtig empfunden haben, wie es in dem Gemüthe dessen aussehen mußte, von dem ein so grausamer Befehl ausgehen konnte. Aber Frauen waren auch damals in der Regel am Weitesten entfernt nicht nur von aller Theilnahme an öffentlichen Angelegenheiten, sondern auch von der genauen Kenntniß des bürgerlichen Zustandes ihres Landes. Nur da aber, wo solche Thaten geschehen können, und diese war nur ein kleines und geringes Beispiel von der Grausamkeit, die sich Herodes erlauben durfte, – ohne daß überall das menschliche Gefühl mit Abscheu erfüllt wird, ohne daß Väter und Mütter nicht nur, sondern ein Jeder, den auch Aehnliches persönlich gar nicht treffen kann, dennoch das Geschehene fühlt, wie seinen eigenen Schmerz und wie sein eigenes Leiden; kurz nur da, wo im Allgemeinen bewegliches inniges Mitgefühl noch fehlt, nur da können überhaupt solche Gräuel verübt werden, in denen sich alles Mitgefühl verläugnet; und wo solche geschehen können und hingenommen wurden, da ist ein wahres Mitgefühl nicht. Denn ist einmal irgend etwas menschlich Gutes in der großen Masse einer verbundenen Gesellschaft fest gewurzelt, sollte dann auch ein von dem Herrn bestimmtes und geordnetes Schicksal es fügen, daß an der Spitze der Gesellschaft Einer stände weit zurück-

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geblieben hinter den Andern an menschlichem Gefühl und an Erkenntniß des Rechts: so wird doch das allgemeine Gefühl, von welchem Alle beherrscht sind, sich seiner bemeistern, und er wird nicht wagen, was er gern wagen würde, wenn das Gute in der ganzen Masse eben so erstorben wäre, als in ihm. Insofern also mögen wir allerdings sagen, es begegnet im Großen einer Masse von Menschen | nicht leicht etwas, was sie nicht in einem gewissen Sinne verdient haben. Und dies nun ist das Erste, daß in der Frevelthat des Einzelnen sich uns allemal ein allgemeines Verderben abspiegelt. Wie aber überhaupt diese Allgemeinheit des Verderbens dem Einzelnen keinesweges zur Entschuldigung gereicht, oder unsere Empfindung über ihn mildert, vielmehr er uns immer als derjenige hervortritt, in welchem das That geworden ist, was in den Andern nur unterdrückte Lust blieb und verborgene Begierde: so kommt in dem vorliegenden Falle zur Vermehrung unsers Abscheues gegen die That noch dieses hinzu, daß wir darin den unverantwortlichen Mißbrauch sehen, den der Stärkere von der Gewalt macht, die ihm über die Schwächeren zusteht, daß wir sehen, wie derjenige, der über allen Uebrigen stehen sollte, das Nothwendige und Schickliche am Besten einsehend und am Meisten geneigt, es zu üben, zu derselben niedrigen Stufe herabgewürdigt, sich zur Befriedigung seiner Begierden das zu Nutze macht, daß Alle nicht besser gesinnt sind, als er. Denn jede menschliche Gewalt, m. g. F., von der natürlichsten an, der väterlichen und mütterlichen, bis zu derjenigen, die auf einer künstlichen Entwickelung der menschlichen Gesellschaft beruht, jede soll ihrer Natur nach schützend seyn, jede soll fördern und erbauen, aber nicht zerstören. Und es liegt auch in der Natur der Sache, daß, sowie die Väter einsichtsvoller sind, als die Kinder, so auch Keiner zum Genuß irgend einer Gewalt und irgend eines Ansehens in der menschlichen Gesellschaft gelangen kann, es sey denn, daß er bald mehr durch ein Uebermaß natürlicher Gaben und erworbener Tugenden sich auszeichnet vor Anderen, bald mehr durch seine Lage in Stand gesetzt und verpflichtet ist, hervorzuragen über diejenigen, über welche er Gewalt ausübt. Denken wir uns an der Stelle des Herodes einen wohlwollenden und menschenfreundlichen Herrscher: würde dieser es nicht für seinen höchsten Beruf gehalten haben, in dem Volke, welches er leiten sollte, und welches er gegen eine entfernte, aber immer drohende, und bei Weitem stärkere Macht so gut und lange als möglich zu schützen hatte, die | theils noch nicht gehörig entwickelten, theils wieder unterdrückten und erstorbenen Gefühle für Recht und menschliche Würde zu erwecken und zu beleben, damit er ein Würdiger über Würdige herrsche, und damit seine Gewalt unter denen, über welche sie ausgeübt werden sollte, tüchtige und erleuchtete Werkzeuge fände. Wo nun, so wie in der Tyrannei des

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Herodes das seiner Natur nach wohlthätige und für alle menschliche Entwickelung höchst Bedeutende zum allgemeinen Nachtheil gewendet und in sein Gegentheil verkehrt wird, wo die schützende Gewalt zerstörend wirkt, und diejenigen, welche geistig leiten sollen, vielmehr die geistige Verworrenheit und Verdunkelung eines scheinbaren Vortheils wegen erhalten, und durch ihre ganze Handlungsweise noch vermehren: da fühlen wir uns mit Recht ergriffen von einem tiefen Abscheu gegen den frevelhaften Mißbrauch eines von Gott anvertrauten Gutes, gegen die Verhöhnung alles menschlichen, gegen die gewaltsame Umkehrung aller natürlichen und sittlichen Ordnung. Aber nicht nur dies, sondern laßt uns nun auch noch fragen: was hatte denn Herodes für einen Grund, mit Hintansetzung alles dessen, was ihm hätte natürlich und heilig seyn sollen, so zu handeln, wie er gehandelt hat? Viel verworfener erscheint er uns, als selbst die Hohenpriester und Obersten des Volks, welche an dem Tode unsers Herrn Ursache wurden. Denn diesen können wir doch noch in unserem Herzen die Entschuldigung zu Theil werden lassen, daß sie von einer irrigen Ueberzeugung geleitet wurden, indem sie in dem Wahne standen, das Heil des Volks solle immerwährend und für alle Zukunft auf dem Zustande der Dinge beruhen, den sie überkommen hatten, und den fortzusetzen sie sich berufen fühlten. Nun hatte sich schon wirklich vor ihren Augen entwickelt der erste Anfang von dem Unternehmen des Erlösers, seinem Vater zu sammeln, wie er sagt, daß er begehre, Anbeter im Geist und in der Wahrheit, die Unternehmung, eine geistige Gemeinschaft unter den Menschen zu stiften; und wenn sie ihren ererbten Sitten und Ansichten nach unfähig waren, sich eine rein geistige Gemeinschaft zu denken, | die nicht doch weltlich würde, und sich mit weltlicher Macht verbände, wenn das wirklich Wahrheit für sie war, was sie in ihrem Rathe sagten, daß, wenn man fort gewähren ließe, was einen solchen Anfang genommen hatte, dann die Römer kommen würden, und ihnen das Land gänzlich nehmen: so können wir sie gewissermaßen entschuldigen, wenn auch nicht über ihre irrige Ueberzeugung, – denn sie hätten ganz vorzüglich sollen ergriffen worden seyn von der göttlichen Weisheit des Erlösers, – weil aber diese irrige Ueberzeugung einmal vorausgesetzt, haben sie eine Entschuldigung für das, was sie ihr gemäß thaten. Wie kann aber dem Herodes in unserem Urtheil irgend eine Ueberzeugung zu statten kommen, die wir ihm beilegen könnten? Denn das wollen wir ihm gerne zugestehen, daß, wie die Hohenpriester glaubten, auf der Erhaltung des Tempeldienstes und allen Segnungen desselben beruhe das Heil 25 Vgl. Joh 4,23–24

30–32 Vgl. Joh 11,47–48

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des Volkes, eben so gut auch er geglaubt haben kann, daß seine und seines Hauses Macht der einzige vermittelnde Schutz sey für sein Volk; aber wie wollen wir hieraus seine Handlungsweise erklären? Die Weisen aus dem Morgenlande waren gekommen, und hatten ihm von einem neugeborenen Könige der Juden geredet, und wie sie gekommen wären, ihn anzubeten. Da verstand er recht wohl, das würde der lange erwartete Messias seyn. Wie aber in Zukunft dieser, und das, was er in der Welt ausrichten sollte, sich zu seinem oder seiner Nachfolger weltlichem Regimente verhalten würde, darüber konnte er nur unbestimmte und unzureichende Vorstellungen haben, auf jeden Fall aber mußte er dieses wissen, daß irgend Jemand, wahr oder falsch, als Messias nur auftreten konnte im männlichen Alter. Aus welchem Grunde nun wüthen gegen das neugeborene Kind, welches er ja konnte beobachten lassen auf allen Schritten? Ohne alle Ueberzeugung also hat er gemordet, ohne daß er sich sagen konnte, dies sey das unentbehrliche oder das einzig sichere Mittel zur Sicherstellung der eigenen Herrschaft, oder zur Rettung des Volkes. Das hat ihn also zu seiner That getrieben? Offenbar hat er aus nichts Anderem gehandelt, als aus jenem verworrenen Gefühle, | welches sich schon von weitem vor allen Aenderungen und Neuerungen in dem Laufe der Dinge scheut und erschrickt, und um jeden Preis lieber das Alte behalten will, damit nur nicht etwas Neues zur allgemeinen Geltung und Anerkennung gelange. Hätte sich Herodes die Sache nur irgend so weit ernsthaft überlegt, als nöthig gewesen wäre, um eine Ueberzeugung zu gewinnen, darüber, was nun für ihn das Beste sey, in Bezug auf dieses Kind: würde er dann wohl etwas Anderes beschlossen haben, als zuerst nur das bedeutungsvolle Kind selbst auszumitteln und es im Auge zu behalten, um, wenn sich seine Bedeutung wirklich zu entwickeln anfing, den Umständen gemäß zu handeln? Ja wenn ihm auch dieses kurze schauderhafte Mittel eingefallen wäre: würde er sich nicht haben sagen müssen, daß, wollte er gegen jede gleich entfernte Gefahr gleiche Mittel ergreifen, er sein ganzes Reich zerstören müßte? Aber dieses Handeln auf Gerathewohl, ohne alle Ueberzeugung, dieser gänzliche Mangel an Umsicht und Besinnung, schon bei geringeren Dingen, noch mehr aber, wo es auf die Vergießung unschuldigen Blutes ankam, ist eine Rohheit, welche uns um so verwerflicher erscheint, als derjenige, welcher so handelte, an der Spitze öffentlicher Angelegenheiten stand. Doch dies ist noch nicht Alles, sondern es kommt auch noch dieses hinzu. Als die Weisen zu Herodes kamen und ihn fragten: wo der neugeborene König der Juden sey? so ließ er die Schriftgelehrten vor 3–6 Vgl. Mt 2,1–2

6–7 Vgl. Mt 2,4

40–3 Mt 2,2–5

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sich kommen, und fragte sie, wo doch den Propheten gemäß der Messias sollte geboren werden? Da antworteten sie ihm: zu Bethlehem im jüdischen Lande. Indem er so darnach fragte, so setzte er nicht nur voraus, das neugeborene Kind sey der Messias, sondern er glaubte auch der Weissagung, die sich in den heiligen Büchern fand; denn nur dieser Glaube konnte ihn bewegen, die Schriftgelehrten zu fragen, und die Weisen gen Bethlehem zu senden, mit dem Befehle, fleißig nach dem Kindlein zu forschen; ja von eben diesem Glauben konnte auch nur der grausame Befehl ausgehen, alle Kinder in Bethlehem und der Umgegend zu tödten, um damit zugleich auch | den künftigen Messias zu treffen. Welch eine tiefe Verwirrung des menschlichen Gemüths giebt sich uns dabei zu erkennen, wie müssen wir von dem Gefühle durchdrungen werden, daß alles Böse sich immer selbst widerspricht, so thöricht ist es, und so verworren, Beides von Seiten des Herzens sowohl, als des Verstandes betrachtet. Oder ist es ohne die tiefste Verwirrung des Verstandes möglich, daß derselbe Mensch den Weissagungen der heiligen Bücher glauben konnte, und dennoch meinen, der Gegenstand dieser Weissagungen heiliger Männer, welche getrieben vom göttlichen Geiste geredet hatten, stehe so wenig unter der göttlichen Obhut, daß es einem schwachen Werkzeuge des Zornes gelingen könne, das geheiligte Werkzeug der göttlichen Gnade, ehe es seine Bestimmung erreichen konnte, zu vertilgen und auszurotten! Gewiß muß der scheinbare Glaube an göttliche Offenbarungen und Verheißungen nur Wahn und dumpfer Aberglaube gewesen seyn, in einer Seele, welche sich zugleich so vermessenem Dünkel hingeben konnte. Denn wie können Glauben und offenbarer bewußter Ungehorsam mit einander bestehen! Welcher Ungehorsam aber auch! welches Aufhalten der Wahrheit in Ungerechtigkeit! welche Verkehrtheit des Herzens, sich demjenigen, was er selbst als eine göttliche Anordnung erkannte, was nur, insofern es durch einen göttlichen Rathschluß fest bestimmt war, so hätte geweissagt werden können, wie er selbst es glaubte, dem sich mit menschlicher Gewalt widersetzen zu wollen, und so die göttliche Verheißung auf Spott zu ziehen! Ja diese bewußte Empörung gegen den selbst erkannten göttlichen Willen, dieses frevelhafte Bestreben, aus selbstsüchtigen Absichten das dafür anerkannte Werk Gottes zu hemmen, ist unstreitig das tiefste Verderben! Dieses irgendwo wahrnehmen – und oft genug wiederholte es sich! – dieses sehen, und von dem innigsten Abscheu durchdrungen werden, über welchen hinaus es keinen größeren geben kann für eine fromme Seele: das muß wohl für uns Alle Eins und Dasselbige seyn. 5 Vgl. Mi 5,1 (zitiert in Mt 2,6)

7–8 Vgl. Mt 2,7–8

27–28 Vgl. Röm 1,18

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O m. g. F., laßt uns hierbei denken an das theure Wort des Erlösers: „Ist dein Auge licht, so wird dein ganzer Leib | licht seyn, ist aber dein Auge dunkel, so wandelt auch dein ganzer Leib in Finsterniß.“ O daß doch alle Menschen immer mehr durch das Licht erleuchtet würden, welches Gott von Oben gesendet hat, durch eben denjenigen meine ich, der so die Kraft des Lichtes beschrieben hat, und der, weil er uns zum Lichte und zur Wahrheit werden sollte, nicht durfte ausgerottet werden durch die blinde Wuth seiner Feinde, bis sein Werk wirklich vollendet war, und seine Stunde geschlagen hatte. O daß seinem Lichte immer mehr die geistigen Augen aller Menschen sich öffnen möchten, um in ihm die ganze Gnadenfülle der göttlichen Liebe zu schauen: so würden sie auch alle im Lichte wandeln, und alles Dunkle und Trübe, was wir uns jetzt vor Augen gestellt haben, würde verschwinden. Denn sind die Augen des Geistes einmal den Strahlen der göttlichen Liebe und Weisheit geöffnet; hat die Seele das Bild des eingeborenen Sohnes wahrhaft in sich aufgenommen: so kann sie auch nicht mehr anders als Dem dienen, den der Vater gesandt hat, daß er unser Herr sey, und daß Aller Kniee sich vor ihm beugen. In seinem Dienste aber kann Keiner, woraus doch zuletzt alle jene traurigen Irrungen entstehen, das Seinige suchen, sondern Jeder nur das Wohl derer, denen der Herr gekommen war, zu dienen und zu helfen. Möge nur dieser Sinn immer mehr erweckt werden, und hindurchdringen, wie es der Herr jedesmal giebt, von den Oberen zu den Unteren, oder von den Unteren zu den Oberen, und Alle gelehrt von ihm, und erleuchtet durch ihn, das gemeinsame Heil suchen auf dem einzig wahren Wege seiner Nachfolge. Amen. Schl.

2–3 Vgl. Mt 6,22–23; Lk 11,34 17–18 Phil 2,10–11 24 Vgl. Jes 54,13 (zitiert in Joh 6,45)

19–21 Vgl. Phil 2,4

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Am 4. Februar 1821 vormittags

[Liederblatt vom 4. Februar 1821:] Am fünften Sonntage n. Epiphanias 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Jesu meine Freude etc. [1.] Wenn mit Angst und Plagen / Sich mein Herz muß tragen, / Und mein Jammer schwillt; / Wenn der Brüder Leiden / Mir das Herz zerschneiden / Wo kein Helfen gilt; / Wenn vor Qual ich manches Mal / Ruh und Schlaf muß von mir treiben, / Und nicht weiß zu bleiben: // [2.] Dann schütt’ ich mein Leiden / In den Quell der Freuden, / Gottes Herz, hinein; / Senk in sein Erbarmen / Alle rathlos Armen, / Bis für alle Pein, / Die mich quält, kein Trost mir fehlt, / Und in Gottes heilgem Willen / Ich mein Herz kann stillen. // [3.] Wenn die Fluthen dräuen, / O wie lern ich schreien, / Großer Gott, zu dir! / Du verjagst die Wellen, / Reißest von der Höllen / Mich zur Himmelsthür! / Dort sprichst du mir freundlich zu, / Und giebst mitten in dem Leiden / Ueberfluß der Freuden. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O wie selig sind etc. [1.] Was will doch der Völker Toben / Und der Leute stolze Reden, / Die nur gehen in den Wind? / Wider Gott den Höchsten droben / Wollen streiten, fechten, kämpfen, / Die doch arme Menschen sind. // [2.] Kaiser, König sich empören, / Und die Mächt’gen mit einander / Sind auf schlimmen Rath bedacht; / Lassen sich so sehr bethören, / Daß sie Gott bestreiten wollen, / Und den Er zum Christ gemacht. // [3.] Doch es wird sie Furcht befallen, / Wenn er einst mit ihnen rechtet, / Und beendet allen Streit. / Drohend spricht er dann zu allen, / „Seht ich habe Zions König / Eingesetzt in Ewigkeit.“ // [4.] Allen werd’ auch nun verkündet / Diese herrlich neue Weise, / Wie er spricht von seinem Thron: / „Auf dich wird mein Reich gegründet. / Dich hab ich gezeuget heute, / Du bist mein geliebter Sohn!“ // [5.] So laßt euch denn unterweisen, / O ihr Fürsten und ihr Richter / Auf der Erden allzugleich! / Hebet an den Herrn zu preisen, / Und mit Fürchten ihm zu dienen, / Und mit Zittern freuet euch. // [6.] Küßt den Sohn, sein ist das Erbe, / Daß er nicht erzürnet werde, / Und ihr plötzlich geht zu Grund! / Wer da sucht wie er nicht sterbe, / Muß sich ihm allein ergeben, / Auf ihn hoffen alle Stund. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. [1.] Hilf den Deinen und bekehre / Der Verfolger blindes Heer, / Und daß wir nicht straucheln, wehre / Der Versuchung um uns her! / Nimm dich der Bedrängten an! / Leit’ auch die auf rechter Bahn, / Die noch jezt durch Satans Lügen / Selbst sich um ihr Heil betrügen. // [2.] Laß uns recht und redlich handeln, / Und in Einfalt stets vor dir / Heilig und gelassen wandeln, / Und dabei uns klüglich hier / Schicken in die böse Zeit, / Und vor falscher Heiligkeit, / Auch der Feinde List und Wüthen / Uns mit frommer Weisheit hüten. //

Am 11. Februar 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

6. Sonntag nach Epiphanias, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 17,20–21 Nachschrift; SAr 60, Bl. 27r–31v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 106, Bl. 1r–4v; Crayen Teil der vom 1. Januar 1821 vermutlich bis zum 25. Februar 1821 gehaltenen Predigtreihe zu Christi Beispiel (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Aus der Predigt am 6. S. nach Eph. 1821. Luc. 17 v. 20. 21.

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Auch das ist ein gar weises und schönes Wort unsers Erlösers womit er zugleich seine Gegner, denn das waren die welche sie ihm spöttischer Weise vorlegten, mit ihrer Frage zurückwies und seinen Jüngern eine weise Lehre gab. Als nemlich die Pharisäer den Herrn fragten: Wann kommt das Reich Gottes: so bezog sich das auf den Zuruf der Jünger des Herrn: Thut Buße das Reich Gottes ist nahe herbeikommen: in diesem folgten sie den Jüngern des Johannes, nur mit dem Unterschiede, daß dieser nur auf unbestimmte Weise von der Nähe des Reichs Gottes redet, und auch als er Christus erkannte als den Stifter desselben doch als solchen ihn nur denen nannte die ihm ganz vertraut waren. Aber die Jünger des Herrn zeigen öffentlich auf ihn hin und er selbst nennt sich oft den Gottgesendeten. Die ihn nun fragten wann es denn nun wirklich kommen werde antwortet er: es ist mitten unter euch: – daß in unsrer deutschen Bibel es heißt: es ist inwendig in euch: das ist ein kleines Mißverständniß; denn zu denen die ihn fragten kann er das | nicht gesagt haben, weil es diejenigen waren welche die Schlüssel des Himmelreichs hatten und ließen niemand hinein, die die Menschen davon ableiteten statt sie hinzuleiten. – In dieser Antwort finden wir also 1. die weise Behandlungsart der Gegner des Herrn. – 7 Vgl. Mk 6,12 7–8 Mt 3,2 10–12 Vgl. Joh 1,35–36 13 Vgl. Joh 8,18.26 15–16 Die Lutherübersetzung „das Reich Gottes ist mitten unter euch“ lautete bis zur Revision 1984 „das Reich Gottes ist inwendig in euch“. 16–18 Vgl. Mt 23,13

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Das Reich Gottes kommt nicht mit äußerlichen Geberden: Das war die Vorstellungsart des Volks, daß das Reich Gottes kommen werde mit großer Herlichkeit. Dagegen sagt der Herr es kommt nicht mit äußren Geberden, und indem er hinzufügt: es ist schon mitten unter euch: sagt er es brauche nicht erst zu kommen, sondern es sei schon da. Wo war es also? – Der Herr hatte ein klein Häuflein um sich her gesamlet, seine Jünger hingen ihm mit fester Liebe an, wissend und fühlend daß er die Worte des ewigen Lebens habe: mit diesen war er bald hie bald da, hätte er nun sich mit den Jüngern nur das Reich Gottes genannt, so würde er nicht gesagt haben: es ist nicht, bald hie und bald da: – Sich allein konnte er eben so wenig gemeint haben, denn er ist zwar das Haupt des Reichs Gottes aber nicht das Reich Gottes selbst das er regiert. Was hat er also gemeint, wenn er sagte: „es ist nicht bald hie bald da.“ | An jenes kleine Häuflein schlossen sich noch viele Menschen an, fest und lose, treu und wankelmüthig, – viele gingen hinter sich, aber viele waren durch keine Gewalt von ihm abzubringen der ihr Licht war und ihr Leben, sie theilten den Glauben den Petrus so herlich aussprach: „Du bist der Sohn des lebendigen Gottes –“ und „du hast Worte des ewigen Lebens“, ihnen war jedes Wort das sie von ihm hörten und jede seiner Thaten wovon sie erfuhren, eine Quelle des lebendigen Wassers das sie von heilger Sehnsucht getrieben immermehr in sich aufnahmen und andre damit tränkten die auch anfingen den Durst darnach zu fühlen. Diese Durstenden und Hungernden sollten gesättigt werden, sie sollten geleitet und geschützt werden (regiert) sie waren also das Reich Gottes und genossen alle geistigen Güter desselben, so daß die Stärkeren die Schwächeren damit erfüllten wenn es ihnen Noth that. Das ist es was der Erlöser meint, wenn er sagt, vom Reich Gottes: „man kann nicht sagen es ist hie oder da“: Und das ist gewiß: von solchem Verein kann | man nicht sagen er sei hie oder da. So hatte er in diesem Gebiete recht; er deutete darauf hin daß wem das geistige Auge nicht geöffnet sei, der erkenne es gar nicht. Und indem er ihnen sagt: es ist mitten unter euch so versucht er nach seiner weisen Liebe, ob er den Blinden könne das Auge öffnen. Mit dieser Zuversicht weiset er zugleich ihren Spott ab; es muß ihnen bei dem Worte zu Muthe gewesen sein, als ob er sagte: ihr habt ganz unrecht, daß ihr glaubt was ich nicht gesagt habe, ich habe immer nur von geistigen Dingen gesprochen, ihr aber erwartet äußerlichen Erfolg von meiner geistigen Wirksamkeit, ich habe auch gesagt: „mein Reich ist nicht von dieser Welt“: – Da waren sie selbst auf den Grund des Irrthums in ihrer Verkehrtheit zurückgeführt. Sie waren blinde Leiter aber sie waren es dem gegenüber der das Licht anzündete wogegen sie blind waren. Sie hatten Unrecht ihn aufmerksam zu machen auf das Mißlingen seiner Arbeit. Er | zeigt ihnen dagegen das höchste 7–8 Vgl. Joh 6,68 17 Vgl. Mt 16,16; Joh 6,69 19 Joh 4,10.14 36 Joh 18,36 37–38 Vgl. Mt 15,14

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Vertrauen auf den Erfolg seines Werks und indem er ihnen sagt, das Reich sei schon gegründet und mitten unter ihnen so giebt er ihnen auch freundlich und mild zu verstehen daß es da sei um auch sie in jedem Augenblick auf zunehmen, wenn sie nur hinein wollten. Das ist die Stärke und Schärfe seiner gewürzten Rede, damit er erschüttert und zur Erkenntniß bringt, aber der es auch nicht fehlt an der Lieblichkeit damit er die Mühseelgen zu sich einladet und sie tröstet mit himmlischem Trost. – 2. Laßt uns erwägen wie dies Wort eine Lehre war für die Jünger die es hörten, und es auch für uns sein kann und muß. – Die Jünger fragten ihn auch oft, wann er sein Reich aufrichten werde in der Welt, bald sagte er ihnen darauf das gebühre weder ihm noch ihnen zu wissen, Zeit und Stunde habe der Vater allein sich vorbehalten, – bald gab er ihnen allerlei Kennzeichen des Reichs Gottes an. – Indem sie nun hörten wie der Herr die Frage der Pha|risäer behandelte, so mußten sie auf ihre eigne zurükgeführt werden und das was der Herr ihnen geantwortet hatte besser verstehn und den Sinn der in beiden Antworten lag unterscheiden lernen. Alle Beschreibungen von dem Reich Gottes die der Herr ihnen machte sind solche, daß er sagen konnte: hie und da ist es. So müßten sie ihn nun so verstehen: es werde sich auch Äußres gestalten aber sie sollten auf alles Äußerliche einen geringen Werth legen da es unwesentlich sei und nur Hülle des Geistigen. Das Reich Gottes sei schon da und an nichts anderm zu erkennen als an dem Frieden in den Seelen und an der brüderlichen Liebe. Wo das ist da ist auch das Reich Gottes: es ist also gar nichts Zukünftiges sondern es ist schon da; so sollten sie es verstehn. Das Band welches sich knüpfte zwischen dem Erlöser und seinen Gläubigen und ihnen untereinander das war das Reich Gottes. – So wie aus seiner Fülle ein Strahl ausging erleuchtend und belebend, so bestand | es, aus welchen Gliedern aber und wie es und wo es bestand das konnte niemand wissen; denn welche Seelen nun erleuchtet und belebt und verbunden wurden und wie die Strahlen des göttlichen Geistes sich ausbreiteten, das war ihren Augen verborgen. Vor Christi Erscheinen bestand das geistige Reich Gottes nicht; da waren die Seelen nicht verbunden durch den belebenden Glauben daß nur in Einem Heil ist und Leben, da konnte nicht die brüderliche Liebe walten, weil sie nicht aus einer Quelle schöpften und einander mittheilten und keine Seele die andre kannte; aber von dem Augenblick an, da Christus anfing seine göttliche Kraft auszuströmen, da war die Sehnsucht der Herzen gestillt, da war nichts Wesentliches mehr zu erwarten, weshalb sich hätte auf die Zukunft verweisen lassen. Das sagte der Herr in seiner Antwort, und für die Jünger war diese Lehre eben deswegen heilsam weil sie doch fragten wann es kommen werde, es war ihnen also das völlige Bewußtsein noch nicht 11–12 Vgl. Apg 1,7

12–13 Vgl. Mk 4,26.31

32–33 Vgl. Apg 4,14

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aufgegangen von dem was sie schon hatten, durch das Wort des Herrn aber wird es ihnen gewiß aufgegangen sein und im Bewußtsein des himmlischen Be|sitzes werden sie nicht mehr gefragt haben; denn darin hatten sie die Bürgschaft daß es überall so bestehen könne. Auch wir fragen zuweilen so als ob wir an den äußern Gestalten des Reiches Gottes halten, es ist freilich mehr: es kann nichts Inneres sein was nicht auch mit Äußerm zusammenhinge. So konnte damals das Reich Gottes nicht sein außerhalb der Grenze des jüdischen Landes wohin das Wort des Herrn nicht gedrungen war, und in so fern ist es auch jezt hie und da. Aber das war die Frage der Pharisäer nicht, sondern wo es im jüdischen Lande sei; denn da wollten sie es sehen, daß aber der Erlöser sagte es ist nicht hie und da: dadurch wollte er die Jünger abhalten es im Äußern zu suchen; denn alles Äußre was nothwendig ist ist nicht die Sache selbst: das Äußre kann todter Buchstabe geworden sein und leere Form, und eben deswegen weil das Äußre sein kann ohne Innres so müssen wir nicht nach dem Äußern fragen wenn wir das Reich Gottes sehen wollen. – Wie viele giebt es jezt | die das Reich Gottes im Äußern suchen und eben darum es nicht finden, denn so bald wir es binden an bestimmte Weise es vorzustellen oder auszudrücken, so ist uns schon der wahre Gesichtspunkt entschwunden; denn das Geistige kann nur geistig gerichtet werden. Wer sich nun anmaßt zu sagen: wo dies und das Äußre anders sich gestaltet da ist das Reich Gottes nicht: der ist weit entfernt von dem Worte des Herrn ergriffen zu sein, welches das innre Leben und Band der Seelen ist; ja das göttliche Wort verbindet die, welche es, auf wie verschiedne äußre Weise es auch sei, geistig trift und ob sie nie sich sehen, nie an gleichem Ort sich versammlen um es zu hören, doch ist ihre Liebe untereinander, fest und ewig in der Liebe zu Christo – der also uns geliebt – . Freilich bleibt auch uns wie den Jüngern damals vieles zu wünschen übrig für die Ausbreitung des Reichs Gottes aber das herliche Wort: „sehet das Reich Gottes kommt nicht mit äußern Geberden“ sollen wir alle fühlen und uns darin trösten und erfreuen. Schon weit ist das Heil verbreitet, und weit ist das Buch gedrungen dem es entströmt. So weit wir reichen mit unserm geistigen Auge da ist es mitten unter uns. | O möge uns das recht einleuchten: Wo das Wort verkündet wird, da wirkt der göttliche Geist, alles andre außer dem Wirken des Worts ist unwesentlich; so sagt der Erlöser Das Fleisch ist kein nütze, aber die Worte die ich rede die sind Geist und sind Leben: So wollen wir denn das Heil immer nur suchen in dem beseelenden Worte und dagegen alles was zu äußern 4 könne.] Im Manuskript folgt eine Leerzeile. 14 Vgl. 2Kor 3,6

36–37 Joh 6,63

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Gebräuchen gehört als geringfügig achten, dann werden wir die rechte Freudenfülle haben. – Ueberall wo der Name des Herrn ist, da ist das Reich Gottes und erbaut sich, darum sollen wir uns als seine wahren Jünger immer freier machen von aller engherzigen Absonderung und immer zurückgeführt werden auf das Band der Liebe durch welches das Reich Gottes immer herlicher gestaltet und zu erkennen giebt, wie der Herr gesagt: daran wird jedermann erkennen daß ihr meine Jünger seid so ihr Liebe untereinander habt! –

7–8 Joh 13,35

Am 11. Februar 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

6. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Domkirche zu Berlin Mt 17,1–9 (Sonntagsperikope) Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 234–252 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 338–352; ²1844, S. 388–402 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 276–288 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 66r–68r; Gemberg Besonderheiten: Keine

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Ueber die Verklärung Christi. Text. Matth. 17, 1–9. Und nach sechs Tagen nahm Jesus zu sich Petrum und Jakobum und Johannem, seinen Bruder, und führte sie beiseits auf einen hohen Berg, und ward verkläret vor ihnen, und sein Angesicht leuchtete wie die Sonne, und seine Kleider wurden weiß, als ein Licht. Und siehe da erschienen ihnen Moses und Elias, die redeten mit ihm. Petrus aber antwortete und sprach zu Jesu: Herr, hier ist gut seyn; willst du, so wollen wir hier drei Hütten machen, dir eine, Mosi eine, und Elia eine. Da er noch also redete, siehe da überschattete sie eine lichte Wolke, und siehe, eine Stimme aus der Wolke sprach: dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören. Da das die Jünger hörten, fielen sie auf ihr Angesicht und erschraken sehr. Jesus aber trat zu ihnen, rührte sie an, und sprach: stehet auf und fürchtet euch nicht. Da sie aber ihre Augen aufhoben, sahen sie Niemand, denn Jesum allein. Und da sie vom Berge herabgingen, gebot ihnen Jesus und sprach: ihr sollt dies Gesicht Niemand sagen, bis des Menschen Sohn von den Todten auferstanden ist.

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M. a. F., dieses Ereigniß gehört zu den geheimnißvollsten Augenblikken in dem Leben unsers Erlösers. Vergeblich bemühen wir uns, einen Zweck desselben uns bestimmt vorzustellen; wir wissen weder, was dieser Augenblick für den Erlöser selbst | unmittelbar gewesen ist, und was in demselben seine Seele vorzüglich bewegt und durchdrungen hat, noch in welchem Zusammenhange er stand mit dem großen Berufe, welchen zu erfüllen der Herr auf Erden erschienen war. Aber

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daß diese Geschichte den Jüngern des Herrn, wenn gleich auch ihnen so geheimnißvoll, daß sie uns keine nähere Erklärung darüber mittheilen konnten, doch zugleich höchst bedeutend gewesen ist, davon zeuget der ganze Ton der Erzählung. Auch der Herr stimmt dem bei; denn wäre die Sache etwas Gleichgültiges und Unbedeutendes gewesen: so würde er die Jünger nicht ermahnt haben, sie sollten das, was hier auf dem Berge mit ihm vorgegangen, in der Stille bei sich bewahren und es Niemand eher kund thun, bis er werde auferstanden seyn von den Todten. Daß nun dieser bedeutende Augenblick den Aposteln, die Zeugen davon waren, zu flüchtig erschien, und zu schnell vorüberging, daß sie da Hütten zu bauen wünschten, wo sie so Außerordentliches geschaut hatten, das müssen wir für einen ganz natürlichen Wunsch halten. Aber der Erlöser gewährt ihn nicht, sondern übergeht ihn ganz mit Stillschweigen; und ohne ihn zu gewähren, führt er seine Jünger von dem Berge der Verklärung herab. Eben dieses nun, daß das Verweilen an dem Orte der Verklärung ein vergeblicher Wunsch war, und Christus die drei Jünger von der Verklärung sogleich wieder in die Thäler des Lebens zurückführte: das ist für uns der angemessenste Gesichtspunkt, aus welchem wir die verlesene Geschichte mit einander betrachten mögen. Laßt uns aber dabei so zu Werke gehen, daß wir zuerst erwägen, was für die Jünger die Verklärung des Herrn gewesen ist, und dann zweitens auf die großen Erscheinungen sehen, von denen dieselbe begleitet war. I. Wenn Johannes in dem Eingange seines Evangeliums sagt1: „wir sahen seine Herrlichkeit als des eingebornen Soh|nes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit:“ so meint er damit nicht solche vorübergehenden Augenblicke einer höheren äußerlich erscheinenden Verklärung, wie sie sich in dem Leben des Erlösers hie und da finden, sondern er redet von der ganzen Zeit, in welcher er und seine Genossen aus der Fülle dessen, in dem das Wort Fleisch geworden war, und durch ihn aus der Fülle seines himmlischen Vaters, nahmen Gnade um Gnade. Wenn Christus betet2: Vater, die Stunde ist hier, daß du deinen Sohn verklärest, so zeigt der Zusatz: „auf daß dich dein Sohn auch verkläre“ deutlich genug, daß er ebenfalls nicht solche einzelne Erscheinungen meint, sondern vielmehr ist diese Verklärung des Sohnes das ewige Leben, welches er Allen denen giebt, die der Vater ihm gegeben hat. Verklärt, in diesem Sinne des Wortes, war der Erlöser seinen Jüngern immer, seitdem sie gelernt hatten, in ihm den Vater zu schauen, 1 2

Joh. 1, 14. Joh. 17, 1.

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seitdem ihnen alle Worte, die er redete, nicht nur Geist und Leben, sondern wahrhaft Worte des ewigen Lebens geworden waren. Aber jetzt sahen sie ihn in einer besonderen Verklärung, äußerlich und sinnlich tritt ihnen seine Herrlichkeit entgegen, sein Angesicht leuchtet, wie die Sonne, und sein Kleid ist weiß, wie das Licht. Woher dieser Lichtglanz kam, der ihn umgab, das wissen wir nicht. Ganz von außen ist dem Herrn die Verklärung wohl nicht gekommen; weder so, daß sie ein Widerschein irgend eines äußeren irdischen Lichtes gewesen wäre, noch so, daß sich der Glanz anderer himmlischen Erscheinungen an ihm abgespiegelt hätte. Denn in beiden Fällen wäre es nicht seine Verklärung, und die Erscheinung in Bezug auf ihn nur etwas Unbedeutendes gewesen. Was ihn aber in dieser Stunde so besonders von innen heraus verherrlichte: ob die nahe Aussicht auf sein Leiden, von welchem er kurz zuvor angefangen hatte mit Zuversicht zu reden, und das sich ihm darstellte als ein Durchgangspunkt zu seiner Herrlichkeit; ob der feste Entschluß, sein Leben hinzugeben für die Welt, der sich bei herannahender Entscheidung auf’s Neue | tief in seine Seele senkte, und herrlich wie die Sonne aus seinem Angesichte hervorbrach; oder ob irgend etwas Anderes in ihm – wir wissen es nicht. Aber da die Jünger es sahen: ohnerachtet der beständigen geistigen Verklärung, in welcher das ganze Daseyn ihres Herrn aufging, und die sie ununterbrochen in ihm wahrnahmen, – wer kann es ihnen verdenken, daß sie wünschten diesen Augenblick festzuhalten, in dessen Herrlichkeit ihre Seele eingetaucht hatte, daß sie Hütten bauen wollten, um einen so himmlischen Eindruck, dessen Flüchtigkeit sie ahneten, wo möglich länger festzuhalten, jedenfalls aber ihn zu verwahren gegen Alles, was ihn stören könnte? Es war ein natürlicher Wunsch; aber kaum ausgesprochen, so verschwand die ganze Erscheinung vor ihren Augen, und eine lichte Wolke umschattete sie. Auch wir, m. g. F., theilen mit den ersten Jüngern des Herrn diesen großen Vorzug, daß der Erlöser in unserm Herzen immer verklärt ist. Alle, die durch den Glauben sein Eigenthum geworden sind; Alle, an denen das theure Wort der Verheißung schon in Erfüllung gegangen ist: daß er mit seinem Vater kommen werde, um Wohnung zu machen in den Gemüthern der Menschen; Alle, denen er in ihrem Innersten offenbar worden ist, als der Weg und die Wahrheit und das Leben, und die sich nun gern beschauen in dem Spiegel des göttlichen Wortes, welches er geredet hat; Alle, die sich von der Liebe mitentzündet fühlen, mit welcher er das sündige Geschlecht der Menschen bis in den Tod geliebt hat: diesen Allen ist er immer verklärt; und so oft sie in die Gefahr kommen, sich von seinem Wege zu verirren, steht liebreich 1 Joh 6,63

34–35 Vgl. Joh 14,23

35–36 Vgl. Joh 14,6

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warnend und leitend sein heiliges Bild vor den Augen ihres Geistes. Außerdem aber giebt es auch für uns Alle, die wir seine leibliche Erscheinung auf Erden niemals geschaut haben, dennoch Augenblicke, in denen sich seine geistige Gegenwart in der Seele zu der gewöhnlichen eben so verhält, wie sich zu seinem gewöhnlichen Aussehen die Art verhielt, wie er nach der Erzählung unsers Textes in dieser Stunde erschien. Paulus hatte, seitdem der Erlöser sich | ihn erworben, ihn auch immer gegenwärtig in seiner Seele; aber als es ihm in Jerusalem geschah, daß er ihn sah, und daß Christus zu ihm sprach: gehe von hinnen, denn ich will dich zu den Heiden senden; als er in der Entzükkung war, nicht wissend, ob er in dem Leibe sey, oder außer dem Leibe: das waren Augenblicke einer solchen höheren und geheimnißvollen Erscheinung Christi im Innern der Seele. Und ähnlich diesen giebt es für alle Christen, für jeden auf seine Weise und nach seinem Maß, Augenblicke einer innigern, sich bis zum Außerordentlichen steigernden Andacht, die auch uns innerlich und geistig die Gestalt des Erlösers in einem ungewöhnlichen himmlischen Lichte vergegenwärtigt: Augenblicke einer höhern Erhebung des Herzens über das Irdische und Vergängliche, in denen der Sohn Gottes als Stifter seines geistigen Reiches auf eine besondere Weise in uns verklärt ist; Augenblicke des stilleren und tieferen Sinnens und Nachdenkens, während deren uns Alles, was Christo angehört, und in einer Beziehung zu seinem Reiche steht, auf eine göttliche Weise erleuchtet erscheint. Oft, ja vielleicht größtentheils, wissen wir nicht, wie wir in diesen Zustand gekommen sind, und sehen uns vergebens nach etwas um, wodurch derselbe vorbereitet worden sey. Auch die Jünger wußten das nicht, als der Herr sie bei Seite auf den hohen Berg führte; ja, wie uns eine andere Erzählung bemerklich macht, sie waren von den Geschäften und Mühen des vorigen Tages erschöpft und schlaftrunken, als sie plötzlich geweckt wurden durch das herrliche Gesicht. Und so geht es auch uns. Es giebt in dem Gemüthe des Menschen ein geheimnißvolles Walten des Erlösers, der von Oben herab die Gemeinde der Gläubigen regiert, und wie er den verlornen Schaafen einzeln nachgeht, so auch die innere Führung einer jeden gläubigen und ihm angehörigen Seele im Zusammenhange mit dem Ganzen seines Reiches besonders leitet; es giebt ein geheimnißvolles Walten des Erlösers, durch welches sich oft plötzlich in der Seele herrliche Keime beleben, welche in sie gelegt wurden, ohne besonders von ihr bemerkt zu werden, durch welches halb ver|gessene Eindrücke plötzlich zusammentreten, und so Augenblicke einer tieferen innigeren Gemeinschaft mit Christo und einer besondern Verklärung seines Bildes in unsrer 7–12 Vgl. Apg 22,17–18.21; 2Kor 12,2

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Seele uns unverhofft zu Theil werden; selten, wenn wir besonders darnach trachten, nicht selten, wenn auch wir, wie die Jünger, ermüdet sind von den Dingen dieser Welt, und von den verschiedenen, auch heiligen, Geschäften und Pflichten unsers Berufs uns in das stillere Gebiet des Lebens zurückziehen. Da kann der Herr plötzlich stärkend und erleuchtend vor die Seele hintreten, sie unverhofft erleuchtend mit dem himmlischen Lichte der Wahrheit, deren unendliche Fülle er selbst in sich trägt; da kann er auf eine besondere Weise in ihr lebendig machen das Gefühl der seligen Gemeinschaft, in welcher sie durch ihn mit Gott steht. – Aber wenn auch wir, die Flüchtigkeit des Augenblicks ahnend, wünschen, ihn fest zu halten, wenn auch wir Hütten bauen möchten auf dem Berge der freieren Erhebung des Herzens, und dort wohnen bleiben, damit uns der himmlische Eindruck geschützt bleibe gegen das irdische Walten und Treiben, in welches auch wir auf mannigfaltige Weise verflochten sind – kaum ist der Wunsch ausgesprochen, so ist der herrliche Augenblick auch schon vorüber, und es umschattet uns eine Wolke, daß wir, wie auch die Jünger erschraken, fast erschrecken über den plötzlichen Wechsel des Höchsten mit dem Gewöhnlichsten, ein Wechsel, dessen die menschliche Seele nicht nur fähig ist, sondern der ihrer Natur sogar ein Bedürfniß zu seyn scheint. Ja, unbegreiflich und fast schauderhaft kann es uns seyn, daß gerade das Herrlichste und Höchste, was sich unseres Gemüthes bemächtigt und es hoch erhebt, so flüchtig, ja dem Anscheine nach oft fast spurlos, an uns vorübergeht, und daß die Seele, wenn sie eben gewürdigt worden ist, in seiner ganzen Verklärung, in seinem reinsten Glanze den Erlöser der Welt gegenwärtig zu haben, doch auch so leicht wieder umschattet wird von den Wolken, welche die Dünste der irdischen Welt erzeugen. Aber wenn uns deßhalb bange werden will für die Wahrheit unserer frommen Gemüthsbewegungen, weil auch das aus unserem Bewußtseyn so plötzlich wie ganz verschwin|den kann, wovon es in den Augenblicken der seligsten Vereinigung mit dem Höchsten so ganz und ausschließend erfüllt war: dann tritt der Erlöser hinzu, und wie er zu jenen Jüngern sprach: „stehet auf und fürchtet euch nicht“, so beruhigt er uns selbst darüber, daß ein so stärkender und entzückender Genuß der innigsten und heiligsten Gemeinschaft mit ihm so schnell vorübergeht. Fürchten sollen wir uns nicht auch vor einem solchen Wechsel der Zustände in der menschlichen Seele; aber der Erlöser ist es auch allein, der zu einem so betrübten Herzen sagen kann: „stehe auf und fürchte dich nicht“. Wenn wir nur vor dem Wechsel bewahrt bleiben, ihn etwa ganz aus den Augen zu verlieren; wenn wir ihn nur so festhalten, wie er sich immer in jedem gläubigen und ihn liebenden Gemüthe offenbart, wenn uns nur das einmal für immer bleibt, daß er gekommen ist mit dem Vater, um

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Wohnung zu machen in unserm Herzen; wenn wir nur ihm in seinem Worte unter allen Umständen des Lebens nahen, nur in allen Bewegungen der Seele seine heilige Gegenwart fühlen, und immer seine, als unsers Oberhauptes, Befehle vernehmen können: dann können wir uns in den Wechsel zwischen lebhafteren und schwächeren Empfindungen wohl finden, und dürfen die Flüchtigkeit auch der stärksten und reinsten nicht bedauern. Bleibt nur jene wesentliche Verbindung mit dem Erlöser sich immer ziemlich gleich: so wird sie uns bewahren, daß wenn ein solcher beseligender Zustand einer frischeren Begeisterung oder einer höheren Erleuchtung vorübergegangen ist, die Wolke, welche uns vielleicht dann bald wieder umschattet, wenigstens keine dunkle sey, sondern eine lichte, aus welcher uns dann seine herrliche Gestalt wieder tröstend und stärkend entgegentritt, daß wir seiner immer wieder froh werden mit allen seinen Gläubigen, und uns an seiner sich immer gleichen milden Schönheit erquicken. – Ja, auch uns ist es nicht vergönnt, auf dem Berge der Verklärung Hütten zu bauen; einzelne Augenblicke sind es, in denen das Gefühl der geistigen Gemeinschaft mit dem Erlöser auf eine besondere geheimnißvolle Weise in unserm Innern hervortritt, und die uns einer noch höhern | Bedeutung die Wahrheit des Wortes bestätigen, daß er bei uns ist bis an das Ende der Tage; nur einzeln sind sie und schnell vorübergehend: aber segensreich gräbt sich die Erinnerung an sie jedem Gemüthe ein, welches an seinem Worte und an seiner Liebe festhält. Und wie das himmlische Bild, welches die Jünger auf dem heiligen Berge gesehen hatten, ihnen ein Trost blieb, als nun die Leiden des Todes über ihren Herrn und Meister kamen: so wollen auch wir solche Erinnerungen in uns aufbewahren zum Trost und zur Nahrung für bedürftige Zeiten, in denen sich uns die Quelle der Seligkeit in unserm Innern nicht so leicht aufschließt. Denn nicht umsonst war es, daß die himmlische Erscheinung, deren der Herr jene Jünger würdigte, zusammentraf mit der Zeit, da er angefangen hatte, bestimmter zu ihnen zu reden von den Leiden, durch welche er sein großes Werk zum Heile der Welt vollenden sollte; sondern er führte sie nun herab von dem Berge der Verklärung, um mit ihnen in die heilige Stadt zu eilen, und dort allen Gefahren entgegen zu gehen, welche seine Widersacher ihm bereitet hatten. So wollen denn auch wir, wenn wir solcher flüchtigen, aber seligen Augenblicke gewürdiget werden, sie uns eine Stärkung seyn lassen für Alles, was da kommen kann, und wollen schon aus diesem Vorschmack der Herrlichkeit, die uns bereitet ist, lernen, wie wenig die Leiden dieser Zeit derselben können gegenüber gestellt werden. Denn ein solcher Vorschmack sind diese Gemüthszustände. Wie die 20–21 Mt 28,20

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Jünger vorzüglich durch die Auferstehung des Herrn an diese Begebenheit sollten lebendig wieder erinnert werden, weil ihnen dann einfallen mußte, daß er damals schon gewesen sey, wie ein Erstandener: so erfahren auch wir an solchen höheren Beseligungen ganz vorzüglich die Unabhängigkeit unsers geistigen Lebens von den Bedingungen des zeitlichen Daseyns, werden aber auch zugleich nicht nur erinnert, sondern bereitwillig gemacht, mit ihm der Verherrlichung auch auf dem Wege entgegen zu gehen, daß wir sein Kreutz auf uns nehmen. | 242

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II. Aber nun laßt uns zweitens noch einen Blick werfen auf die herrlichen Gestalten, die den Erlöser umschwebten in jener Stunde der Verklärung. Es war ein alter Glaube unter dem Volke des Herrn, gestützt auf einen weissagenden Ausspruch in den heiligen Büchern des alten Bundes1, daß, wenn der Messias kommen sollte, Elias, der stärkste und kräftigste unter den Propheten des Herrn, vor ihm hergehen werde; Andere wieder glaubten, Moses, der ehrwürdige Gesetzgeber des Volks, werde erscheinen, um sich selbst zu beugen vor dem, der, größer als er, treu war, nicht als ein Knecht, sondern als ein Sohn im Hause seines Vaters, und der das im Geiste vollenden sollte, was er im Buchstaben angefangen hatte. Da nun der Herr zu den Jüngern davon geredet hatte, daß sie nun hinaufgingen gen Jerusalem, wo er werde Vieles leiden müssen, und überantwortet werden von den Obersten des Volks in die Hände der Heiden, und gekreutzigt und getödtet: so war es natürlich, daß sie sich, theils um gleichsam zu versuchen, ob das, worauf Christus deutete, wohl in so kurzer Zeit geschehen könnte, theils um sich seine kurzen Worte weiter auszumahlen zu einem lebendigen Bilde, alle Weissagungen der heiligen Schrift, hellere und dunklere, sichere und unbestimmtere, in’s Gedächtniß zurückriefen, welche nur von dem neuen Reiche des Gesalbten und von den großen und furchtbaren Tagen des Herrn zu handeln schienen. Dachten sie nun, nach den Aeußerungen Christi müsse Alles, was von ihm geschrieben stehe, in der Kürze vollendet werden, und sahen zugleich um den verklärten Erlöser her eben jene Gestalten eines hehren Alterthums, welche eine eben so bedeutende Stelle einnahmen in den Bildern, welche ihre Seele erfüllten; erblickten sie solchergestalt neben der neuen Offenbarung Gottes, die ihnen in dem eingebornen Sohne des Vaters während seines | ganzen Lebens mit ihnen immer deutlicher entgegentrat, zugleich die erhabensten Helden der älteren Offenbarung, jenen Gesetzgeber, der zuerst mit starker Hand ein gemeinsames Band um das Volk geschlungen hatte, und 1

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jenen großen Propheten, mächtig ebenfalls in Wort und That, der in allen seinen Lehren auf den großen Vorgänger zurückgegangen und ihm treu geblieben war auch zu einer Zeit, wo alles Volk sich aus der von ihm vorgezeichneten Bahn entfernt hatte und versunken war in die Abgötterei der heidnischen Völker: so fanden sie natürlich in diesem freundlichen Vereine der neuen vollendeten Offenbarung mit den gesegnetesten Werkzeugen Gottes aus der ältern Zeit die freudigste und sicherste Gewährleistung für die Herrlichkeit der Zukunft, deren Hoffnung in ihnen lebte. Was Wunder also, daß Petrus Hütten bauen wollte an dem Orte der Verklärung, Eine dem Herrn, dem Moses Eine, und Eine dem Elias! Gesehen hatten die Jünger die großen Gestalten, die den Herrn umgaben, und gehört, daß sie mit ihm redeten; aber was der Inhalt war dieses Gesprächs, das blieb ihnen verborgen. Durften sie Hütten bauen in diesem Augenblick; durften sie hören, was jene Beiden vernahmen in der lebendigen Berührung mit dem Herrn; durften sie zu einem klaren Bewußtseyn darüber kommen, wie aus dem Zusammenhalten der Vergangenheit, deren glänzendste Bilder ihrem Gemüthe eingeprägt waren, und der Gegenwart, die in ihrer höchsten Erscheinung vor ihnen stand, die tiefe Anschauung und das deutliche Gefühl der Zukunft sich entwickeln könne, das sie dann auch gewiß für immer fest gehalten haben würden: welche Seligkeit und welcher Gewinn wäre das für sie gewesen, welche herrliche Vorbereitung auf das, was sie selbst für das Reich Gottes bald sollten zu wirken haben. Aber der Herr schien den Wunsch gar nicht zu vernehmen, und, eingehüllt in die Wolke, entzogen sich die herrlichen Gestalten ihren Blicken. Dergleichen nun, m. gel. Fr., begegnet uns nicht, oder wenn es Einem begegnet, so sind wir ungewiß, ob wir ihn sollen für einen Begnadigten halten oder für einen Träumer, der | durch eine allzulebhafte, aber ganz willkührliche, bildende Thätigkeit seiner Seele getäuscht wird, und enthalten uns ganz unseres Urtheils. Und dennoch möchte ich sagen, für solche Augenblicke frommer Begeisterung und eines erhöhten Gefühls von der geistigen Gegenwart Christi ist es erst das recht entscheidende gute Zeichen, wenn uns dabei etwas Aehnliches begegnet. Denn Christus hat sich uns nicht einzeln verheißen, sondern bei der Gesammtheit seiner Jünger will er seyn bis an das Ende der Tage. Wie wir nun auch mit ihm nicht für uns allein leben sollen, sondern Jeder für das ganze Reich Gottes: so dürfen auch jene seltenen Zustände erhöhter frommer Begeisterung nicht etwas für uns allein seyn, nicht den Erlöser uns allein verklären, nicht nur unsern eignen Gemüthszustand erhöhen, sonst sind sie, wie geistig auch, doch immer selbstsüchtig, und werden auch um desto leichter einen gefähr1–5 Vgl. 1Kön 18,21–22

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lichen geistlichen Hochmuth hervorbringen, und zu einer dem christlichen Leben nichts weniger als förderlichen Absonderung und Verschlossenheit führen. Auch solche Augenblicke also dürfen nicht uns allein, sie müssen unserm Leben in dem großen Reiche Gottes angehören; und je mehr dies der Fall ist, um desto mehr wird uns der Erlöser, daß ich so sage, nicht allein erscheinen, sondern große Bilder der Vergangenheit werden ihm zur Seite stehen, durch die er uns in die Zukunft hineinführte. So war es auch hier. Moses und Elias konnten nicht neben Christo gesehen werden, als nur, wie alle Frommen unserer Zeiten, ihm huldigend und ihn verehrend. Moses, dem huldigend, der das Gesetz vollenden sollte, indem er nämlich der Herrschaft des Buchstabens ein Ende machte, und den Gläubigen den Geist mittheilte, der ihnen den Willen des Vaters verklärte, und sie zum lebendigen Dienst Gottes im Geist und in der Wahrheit bereiten konnte, übergab die geistige Leitung seines Volkes, als der treue Diener des Vaters, nun dem Sohne, der in seinem Hause schalten sollte, und deutete auf das Ende des alten Jerusalems in der Herrlichkeit des neuen. Elias war der gewaltige Kämpfer für Jehovah gegen die Götzen, und der unerschrockene strenge Prediger der Buße | und er mußten erscheinen, dem zu danken, der, indem er den Vater in die Herzen der Menschen hineinführte, aller, auch der feinsten, Abgötterei ein Ende machen konnte, und unter dessen erquicklicher Herrschaft die ernste Strenge der Buße endlich gedeihen sollte zur Freudigkeit des Glaubens und zum ungestörten Genuß des Friedens. So war es, als Paulus in Jerusalem den Herrn sah, und dieser ihm, dem bisher so sorgfältigen Beobachter des Gesetzes, gebot, unter die Heiden zu gehen: mußte ihm da nicht erst die ganze Vergangenheit anders erscheinen, als er sie bis dahin zu sehen gewohnt war? Da mußte Abraham, der Gesegnete Gottes, erst aufhören, ihm bloß der Stammvater seines Volks zu seyn, damit er ihm gleichsam nicht zürne, wenn er von nun an alle Kräfte seines Geistes den Heiden widmete. Schon damals mußte der Erzvater ihm erscheinen, wie er ihn uns in seinen herrlichen Briefen darstellt, als der Gläubige, der den Segen des Glaubens empfängt, er mußte ihn sehen, wie er die göttliche Verheißung, daß in seinem Samen alle Völker den Segen des Glaubens empfangen sollten, in sein gläubiges Herz aufnahm, ihm mußte anschaulich werden, dies sey der Augenblick gewesen, von dem auch der Herr bezeugt, daß Abraham seinen Tag gesehen, und sich dessen gefreut habe, und so erst blickte der Apostel selbst in die ganze Tiefe dieser Verheißung. Eben so nun, m. a. Fr., ist 11 Mt 5,17 11–13 Vgl. 2Kor 3,6 13–14 Joh 4,23–24 24–26 Apg 22,17.21 31–35 Vgl. Röm 4,3 (Zitat aus Gen 15,6); Gal 3,8 (Zitat aus Gen 12,3) 37– 38 Joh 8,56

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es auch mit uns. Leben wir wirklich in dem Reiche Gottes, und für dasselbe, sind wir mit allen unsern Geistesgaben dessen Werkzeuge und in dessen Dienst: wie könnte es wohl fehlen, daß uns nicht gar oft in den Augenblicken des innigsten Gebetes und der sehnlichsten Begeisterung die Glorien der großen Vergangenheit erschienen! Denn wenn wir auch nicht die kleinmüthige Ansicht derer theilen, welche meinen, wie auch Elias einmal that in den Tagen seines Fleisches, daß die Anzahl derer, welche mit aufrichtigem Herzen an den Herrn glauben, und ihm in treuer Liebe ergeben sind, zusammengeschmolzen sey auf Erden, und kaum noch ein kleines Häuflein solcher noch übrig; wenn wir auch nicht meinen, alle Strafreden der alten Propheten, daß das Volk sich | nur mit Lippen und Händen dem Herrn nahe, sein Herz aber fern von ihm sey, träfen die ganze Christenheit unserer Tage, die sich theile zwischen Gleichgültigkeit und Heuchelei: doch müssen wir Mängel und Unvollkommenheiten genug anerkennen, und können nicht leugnen, daß manche Verkehrtheit leider verbreitet genug sey, und manches Verderben sich mächtig befestige, und dem Guten schade. Wie vorzüglich sind aber nicht wir Christen veranlaßt, mit unsern Gedanken in die vergangene Zeit zurückzugehen, so oft uns so etwas entgegentritt. Denn weil uns alles Verderben in der christlichen Kirche als eine Verschlimmerung erscheint, welche die steigende Erweckung unserer Seligkeit unterbricht: so müssen wir voraussetzen, daß das Bessere schon einmal da gewesen ist, von dem wir nur leider wieder abgewichen sind; weil alles Heil von dem Einen kommt, der uns zur Heiligung gemacht ist, so müssen wir auch glauben, daß die reinsten und größten Wirkungen von ihm selbst unmittelbar ausgegangen sind. Darum hangen wir mit so freudiger Sehnsucht an den schönen Bildern von der Reinheit der ersten christlichen Kirche, von der heiligen Lauterkeit des Sinnes, womit sie den Glauben empfing und bewahrte, und von der ungefärbten Liebe, welche die Herzen der Christen durchdrang. Darum, wenn uns ein Verderben unserer Zeit schmerzlich bewegt, suchen wir, rückwärts blickend, eine frühere Zeit, welche frei davon war. Wie oft gedenken wir in diesem Sinne, mitten unter einem verkünstelten Geschlechte, an die edle Einfalt früherer Zeiten! Wie oft erquicken wir uns an dem unerschütterlichen Muthe, den die Märtyrer des Glaubens in dem Bekenntniß der christlichen Wahrheit bewiesen! Wie oft segnen wir die erhabene Kraft, welche die Christen früherer Jahrhunderte in ihrem Wirken für die höchsten Angelegenheiten der Welt entwickelten, die eiserne Beharrlichkeit, mit welcher sie das heilige Geschäft der Verbreitung des 7–10 Vgl. 1Kön 19,10.14.18 25 1Kor 1,30

11–13 Vgl. Jes 29,13 (zitiert in Mt 15,8; Mk 7,6)

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Christenthums betrieben. Wie gern möchten wir mit der Reinheit und dem Heldensinne, mit der Tapferkeit und der Treue alter Zeiten die Gegenwart befruchten und erneuern. Natürlich also, daß uns dies Alles er|höht vor die Seele tritt, wenn wir in begeisterter Innigkeit Gebet und Flehen vor Gott bringen, wenn die Liebe zu Christo und seinem Reich uns mit besonderer Gewalt ergreift, und die Seele über ihren gewöhnlichen Zustand erhebt! Von welchen würdigen Gestalten sehen wir da den Erlöser begleitet, der sich in der Seele verklärt. Wie entzückte Maler ihn uns oft darstellen, umgeben von Gläubigen aus ganz verschiedenen Zeiten: so erscheint er der Seele, mitten unter den Erstlingen der Vollendeten, welche ihr Blut vergossen für seinen Namen, unter den Lichtern der Kirche, welche zugleich Vorbilder der Heerde waren, geschmückt in wahrer Demuth mit allen Früchten des Geistes, unter den auserwählten Werkzeugen, welche nach langer Finsterniß das Licht des Evangeliums wieder vor Aller Augen hingestellt haben, daß es seinen Glanz weit umher verbreiten konnte. Und nicht die Vergangenheit an und für sich ist es, mit der sich unsere Seele beschäftiget, sondern die Sorge für die Zukunft ist es, was uns jene so vergegenwärtigt. Wie das Leben der Christen sich reinigen und erfrischen, und neuer Eifer in fast erstorbene Glieder zurückkehren, wie viel Dunkelheit verschwinden würde, und in welchem Maße die Schätze der Weisheit sich mehren würden, und lebendige Erkenntniß der Wahrheit die Gemüther frei machen, kurz welche selige Verwandlung mit uns vorgehen könnte, wenn so die alte Zeit sich mit der neuen verbinden, und jene theuren Gestalten noch einmal auftreten könnten, um das Werk, welches sie in frühern Zeiten vollbracht haben, in der unsrigen noch einmal zu vollbringen: das ist es, was uns in solchen Augenblicken der Betrachtung am Meisten aufregt. Und so ist es auch recht und gut; dadurch erst erhebt sich die Klarheit des selig erfüllten, an Entzückung grenzenden Bewußtseyns über den Zustand geistiger Träumerei, der dem schlaftrunkenen Selbstvergessen näher ist, als der wahren Besonnenheit; dadurch erst werden solche Aufregungen des Geistes erst für uns selbst fruchtbar und segensreich, so wie wir nur dadurch im Stande sind, wie auch das Beispiel der Jünger uns zeigt, auch hernach noch heilsam und erbaulich über solche Ver|gegenwärtigungen der Vergangenheit Gespräch zu führen, und sie auch für Andere in treuem Gedächtniß aufzubewahren. Aber wenn wir nun mehr verlangen, wenn wir die segensreiche Ahnung in eine sinnlichere oder prophetische Gewißheit zu verwandeln streben; wenn wir etwas Genaueres wissen möchten über die bevorstehende Gestaltung der Dinge, und die Helden der Vergangenheit gleichsam ausführlicher vernehmen über das, was der Gegenwart Noth thut, und wie sie es aus derselben hervorrufen würden; wenn wir zu dem

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Ende Hütten bauen möchten auf einer solchen Höhe der Verklärung, und länger verweilen in dem Gebiete der freien geistigen Beschauung, um die herrlichen Gestalten gleichsam mit Händen zu greifen, und so erst recht zu besitzen: dann entschwinden sie auch uns in der lichten Wolke. Warum aber? Gewiß, m. gel. Fr., um uns desto fester davon zu überzeugen, daß, was einmal gewesen ist, nach der ewigen Ordnung Gottes so nicht wiederkehrt, daß es nicht die lebendigen Gestalten der Vergangenheit selbst sind, sondern außer ihren Schriften und Werken, welche ihr ursprüngliches eignes Leben fortsetzen, nur ihr Geist, der in einer fernen Zukunft wiederkommen kann, aber nicht in derselben, sondern in einer andern lebendigen Gestalt. Auch Elias war nicht selbst wieder gekommen zu den Zeiten des Messias, wie das Volk glaubte und hoffte; aber der Geist des ersten Predigers der Buße lebte wieder auf in dem strengen Zeitgenossen und Vorläufer des Erlösers, in dem Johannes, der, auch ein Mann der Wüste, nicht aß und nicht trank, und so den Ruf seiner Unabhängigkeit vor sich hertragend, mit gleicher Unerschrockenheit, wie Elias, auch vor die Mächtigen der Erde hintrat, um sie ihrer Uebertretungen zu zeihen, der, ein neuer Elias, auch jede geistige Abgötterei bekriegte, um der wahren Erkenntniß des Vaters, die uns der Sohn bringen sollte, vorzuarbeiten. Auch Moses erschien nicht selbst wieder, wie Einige gehofft hatten; aber der gebietende, zusammenhaltende Geist des alten Gesetzgebers, seine Geduld und seine Treue, lebten wieder auf in den ersten Jüngern des Herrn, welche von ihm die hei|ligen Ordnungen empfingen, welche sie seiner Kirche gaben. Er lebte auf in Petrus, der des kleinen Häufleins Wortführer war vor den Hohenpriestern, wie Moses seines Volkes vor Pharao, und immer wieder drang auf die Freiheit, zu predigen im Namen Jesu von Nazareth; in Paulus, der, jenem Gesetze abgestorben durch das Gesetz, und nur in Christo lebend, gleich Moses, der der ägyptischen Weisheit entsagt hatte, um nur auf die Stimme Jehova’s zu hören, eben so unter schweren Kämpfen mit heftig widerstrebenden Rotten doch endlich aus Juden und Heiden unter dem Gesetz des Glaubens Ein Volk des Herrn zusammenfügte, das gewiß wäre, durch das Gesetz der Werke würde kein Fleisch gerecht vor Gott; – er lebte wieder auf in Johannes, jenem Lieblinge des Herrn, der nicht müde ward, das große Gesetz seines Herrn, daß seine Jünger, sich unter einander lieben sollten, mit der Liebe, womit er sie geliebt 28 Nazareth] Nazarath 15–16 Mt 11,18; Lk 7,33 17–18 Vgl. Mt 14,3–4; Lk 3,19–20 25–26 Vgl. Apg 4,8 26–27 Vgl. Ex 5,1 28–29 Gal 2,19 34–35 Röm 3,20; Gal 2,16 36–1 Joh 3,20

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habe, nicht nur mit lieblicher Rede zu wiederholen, sondern auch, was der höchste Triumph eines Gesetzgebers ist, durch sein ganzes Wesen den Geist desselben der Schaar der Christen einzuhauchen. Dasselbe nun gilt auch von allen ausgezeichneten Werkzeugen Gottes in der christlichen Kirche, von diesen Aposteln selbst, welche der Herr würdigte, Zeugen seiner Verklärung zu seyn, bis zu den jüngst hingeschiedenen Dienern desselben, die wir gemeinschaftlich mit treuer Anhänglichkeit verehren und mit wohlmeinender Sehnsucht zurückwünschen. Der göttliche Geist wirkt und bildet für eine jede Zeit besonders nach seinem unerschöpflichen Reichthum. Der fromme Wunsch, daß das Alte wiederkehren möge, wird nie buchstäblich erfüllt; es kann immer nur wiederkommen in einer neuen Gestalt. Darum gelingt es uns eben so wenig, als jenen Jüngern, die großen Männer der Vergangenheit, deren Bilder in den reichsten Augenblikken des Lebens in unserer Seele lebendig aufsteigen, nach ihrem ganzen eigenthümlichen Wesen in die Gegenwart oder in eine künftige Zeit bestimmter hineinzudenken, so daß wir sie darin gleichsam leben und handeln sehen, sondern über diesem Bestreben verschwinden sie, und der gleiche Wunsch wird uns eben so versagt, wie der Herr ihn seinen Jüngern versagte. | Aber dasselbige Bessere und Größere, was ihnen begegnete, wird auch uns im gleichen Falle nicht fehlen. Als sie nämlich den vergeblichen Wunsch ausgesprochen hatten, tönte ihnen, statt der Gewährung desselben, aus jener lichten Wolke, in welcher die heiligen Gestalten zu ihrem Leidwesen verschwanden, die Stimme entgegen: „das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe, den sollt ihr hören!“ So auch uns, m. a. Fr. Darin muß jede fromme Betrachtung der Vergangenheit, jeder geistige Umgang mit unsern großen Vorgängern im Glauben nothwendig enden, daß sie uns noch im Verschwinden mit himmlischer Stimme dasselbe zurufen, und daß, so wie wir sie in frommer Betrachtung nur in der Begleitung des Erlösers erblicken, so sie uns auch mit allen unsern guten Wünschen für die Zukunft auf den Einen zurückweisen, auf dem allein unmittelbar das göttliche Wohlgefallen ruht. Nicht von ihrer Wiederkehr, sondern von der Gewalt, die diesem gegeben ist im Himmel und auf Erden, sollen wir unser und unseres Geschlechtes Heil erwarten; Alles, was erscheint und vorübergeht, und, ist es einmal verschwunden, auch in beseligender Erinnerung nicht lange kann festgehalten werden, soll uns auf den Einen zurückführen, der nicht verschwindet, sondern bei uns bleibt bis an der Welt Ende. Von dem sollen wir nicht nur Alles erwarten, sondern den sollen wir vornehmlich auch hören, damit wir nicht etwa 34–35 Mt 28,18

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mitten unter den besten Wünschen doch das Unsrige bei der Entwikkelung der Zukunft versäumen. Und er, wenn wir nur hören wollen, hört nicht auf, zu uns zu reden in seinem Wort und durch seinen Geist, der ihn und das seinige verklärt. Wie Er selbst, nicht mehr der überirdisch Glänzende und Verklärte, sondern wie sie gewohnt waren, ihn täglich zu sehen, mit seinen Jüngern herabstieg von dem Berge der Verklärung: so geleitet Er auch uns von den Höhen der Andacht und der Betrachtung in die Thäler des Lebens zurück, und seine beseligende geistige Gegenwart bleibt uns, wenn auch jene Verklärung des Augenblicks verschwunden, und unsere Seele in ihren gewohnten Zustand zurückgekehrt ist. Und so wie er erst | unten im Gespräch seinen Jüngern einigen Aufschluß gab über das, was sie gesehen hatten: so wird er auch uns am Meisten erst in dem gewöhnlichen Verlauf unseres Lebens, wenn wir nur fromm und treu an ihm halten, je nachdem wir es bedürfen, Eines nach dem Andern enthüllen von dem göttlichen Rathschluß, und uns immer mehr über Alles verständigen, was uns Geheimnißvolles ist vergönnt worden. Laßt uns aber ja nicht vergessen, m. Br., daß eben diese geistige Gegenwart des Erlösers, die nicht flüchtig vorübergeht, sondern uns immer bleiben kann, für uns Alle die Hauptsache ist, und jene höheren Verklärungen des Erlösers vorzüglich dazu dienen sollen, diese zu beleben, und uns, in Bezug auf sie, gegen den nachtheiligen Einfluß irdischer Eindrücke zu sichern. Darum ist auch die tägliche Gegenwart des Erlösers das Gut, welches uns Allen ohne Unterschied verheißen ist, und dessen Besitz uns immer gewiß bleiben muß. Jene Verklärungen aber zu schauen, das wird nicht Allen gegeben, wie auch der Herr nicht alle seine Jünger mitnahm auf den Berg, sondern nur dreie wählte er aus dazu. Wenn aber auch nicht Alle unmittelbar jene höheren Erregungen des Geistes erfahren, sondern nur Einige von uns ihrer gewürdigt werden: so sind sie doch ein gemeinsames Gut, dessen Werth wir Alle richtig müssen zu schätzen wissen, damit wir weder durch Wahn und Täuschung verführerischer oder verschrobener Menschen uns täuschen lassen, noch auch freventlich verwerfen, was eine ausgezeichnete Gabe des Höchsten ist. Denn der Herr befahl jenen drei Aposteln Stillschweigen; aber nur bis zu seiner Auferstehung, dann sollten sie Zeugniß geben von dem, was sie gesehen und gehört hatten. So wird natürlich auch Jeder, dem Aehnliches gegeben wird, die außerordentlichen Erfahrungen seines Gemüthes anfangs in heiliger Stille verwahren; aber doch nur bis der Segen davon in ihm selbst zur Reife gekommen ist, und eine Zeit gekommen, wo sie | auch Andern verständlich seyn, und zum Segen gereichen können. So möge denn jede höhere Verklärung des Erlösers in einer einzelnen Seele recht Vielen gereichen zur Erleuchtung des Geistes, zur Befestigung

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des Herzens, und zur Belebung des treuen Eifers für das gesegnete Reich unseres Herrn. Schl.

Am 18. Februar 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Septuagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 2,13–15 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 6, 1829, S. 301–320 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 749–764; ²1844, S. 802–817 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 613–626 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 68r–69r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 33r–40r; Woltersdorff Besonderheiten: Teil der vom 7. Januar 1821 bis zum 4. März 1821 gehaltenen Predigtreihe in Fortsetzung von Weihnachten (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Die erste merkwürdige Rettung des Erlösers.

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Text. Matthäi 2. V. 13 –15. Da sie aber hinweggezogen waren, siehe da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traume und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir, und fliehe in Aegyptenland und bleibe allda, bis ich dir sage; denn es ist vorhanden, daß Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen. Und er stand auf, und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich bei der Nacht, und entwich in Aegyptenland; und blieb allda bis nach dem Tode Herodis, auf daß erfüllet würde, das der Herr durch den Propheten gesagt hat: aus Aegypten habe ich meinen Sohn gerufen. Unter den wenigen Geschichten aus der ersten Kindheit unseres Erlösers, m. a. Z., die uns in den heiligen Schriften aufbewahrt sind, und die wir gewiß Alle im Herzen bewahren, ist diese die letzte, und gewiß nicht minder als die vorhergehenden Allen geläufig, theils wegen ihres genauen Zusammenhanges mit jener beabsichtigten grausamen Verfolgung des Erlösers in seinen ersten Lebenstagen, welche wir erst kürzlich zum Gegenstande unserer Betrachtung gemacht haben, theils auch, weil sie von jeher nicht minder als die Anbetung der Weisen und 19 Vgl. oben 4. Februar 1821 vorm.

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die Vorstellung im Tempel den Augen der Gläubigen oft und vielfältig darge|stellt worden ist in den Werken der christlichen Kunst. Wir betrachten sie als die erste denkwürdige Lebensrettung des Erlösers, der von seiner ersten Erscheinung bis zu der ihm von Gott bestimmten Stunde, eines besonderen göttlichen Schutzes bedurfte gegen die ihn bedrohende feindselige Gewalt; ja wir dürfen es zugleich als den ersten Anfang seines Leidens ansehen, daß er schon als Kind fliehen mußte aus seinem Vaterlande. Laßt uns diese Errettung des Herrn mit einander aus einem zweifachen Gesichtspunkte betrachten; zuerst nämlich in Beziehung auf die göttliche Fürsorge, die dabei gewaltet hat, aber dann auch, wie es uns überall geziemt, wo bei einem wichtigen Ereigniß freie menschliche Handlungen mitgewirkt haben, – laßt uns zweitens darnach fragen: ob auch Gottseligkeit und Rechtschaffenheit überall dabei beachtet worden ist? I. Das versteht sich für uns überall von selbst, daß der Erlöser damals unmöglich von der grausamen Hand des Feindes, der ihn tödten wollte, ohne ihn zu kennen, wirklich hätte erreicht und getroffen werden können. Denn gar manche freilich unter der großen Zahl der Menschenkinder, die durch besondere Unfälle schon zeitig aus diesem Leben hinweggenommen werden, mögen geistig so ausgestattet seyn, daß sie Treffliches und Großes für die menschliche Gesellschaft hätten leisten können; aber andere treten an ihre Stelle, und alles Gute, was der Herr beschlossen hat, geschieht doch. An Christi Stelle aber konnte Niemand anders treten, sondern nur allein durch ihn der ewige Rathschluß Gottes zu unserer Erlösung in Erfüllung gehen. Aber, könnte man denken: weßhalb mußte nun der Erlöser, um seiner künftigen Wirksamkeit aufgespart zu werden, schon in seiner Kindheit solche Schicksale erfahren, die doch nicht einmal zu seiner Entwickelung etwas beitragen konnten, das ihm sonst nicht gekommen wäre? Warum mußte gerade er schon so zeitig sein Vaterland meiden, da er demselben so innig ergeben war, daß in der Folge er selbst niemals irgend einer Gefährlichkeit wegen sich aus den Grenzen desselben entfernte, vielmehr | immer bezeugte, sein persönlicher Beruf beschränke sich lediglich darauf, die verlorenen Schafe aus dem Hause Israel zu sammeln und selig zu machen? Hätte nicht die mächtige Hand Gottes auch auf irgend eine andere Art so über ihn walten können, daß ihn die Hand seines Feindes nicht gefunden hätte? Mit ähnlichen Fragen, m. g. Fr., sind wir bei dergleichen Fällen gar leicht bei der Hand; aber schwierig sind sie immer, und wir dürfen keinesweges erwarten, die göttlichen Führungen überall so im Einzelnen zu verste1 Vgl. Lk 2,22–35

33–35 Vgl. Mt 15,24; 18,11; Lk 19,10

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hen, daß wir angeben könnten, warum es bei erfolgreichen Ereignissen gerade so und nicht anders hergegangen ist, warum sich bedeutende Menschen gerade unter solchen Umständen und in solcher Lebensordnung entwickeln mußten. Indessen gerade bei unserem vorliegenden Falle findet sich zweierlei, worauf Jeder bei einigem Nachdenken leicht verfällt, und was bei jener Frage zu einiger Befriedigung dient. Das Erste ist dieses: daß doch Alles, was unmittelbar zur Erhaltung des Erlösers geschehen mußte, wenn nicht doch etwas Trübes davon zurückbleiben sollte, frei seyn mußte von Schuld und gerechtem Vorwurf. Es war unstreitig eine sehr ähnliche Begebenheit in der früheren Geschichte des alten Volkes Gottes, als der König von Aegypten befahl, weil jenes Volk sich zu sehr mehrte, daß eine Zeitlang alle Knäblein, die geboren wurden, sollten getödtet werden, wobei es auch galt einen Moses zu retten, der zum Gesetzgeber seines Volkes bestimmt war. Aber wie schlau er verborgen ward und der Tochter Pharao’s zugeführt, dabei war doch eine solche Verheimlichung und Absichtlichkeit, die schon in Täuschung hineinspielt, und es mußte doch ein Ungehorsam begangen werden gegen einen freilich widernatürlichen und grausamen, aber doch über das Recht des Herrschers nach damaligen Begriffen nicht hinausgehenden Befehl. Soviel aber unser Erlöser höher ist als jener Knecht Gottes, er, der in dem Hause Gottes nicht als Diener, sondern wie ein Sohn in dem Hause seines Vaters waltet, und nicht nur bis etwas Besseres komme, sondern immerdar; und so viel reiner seine Seele war, als die Seele eines Mannes, dem die | Züchtigung gebührte: das gelobte Land zwar zu sehen, aber nicht hineinzukommen, eben so viel weniger durfte nun des Erlösers Lebensführung abhängig seyn von dem günstigen Einflusse solcher menschlicher Handlungen, die einem gerechten Tadel unterliegen. Sondern die Sünde sollte ihm zwar zum Tode gereichen, nicht aber durfte er ihr seine Erhaltung und sein Leben verdanken. Darum ließ der Herr den Joseph warnen durch seinen Engel im Traume, und gebot ihm fortzugehen mit dem Kinde und seiner Mutter, so lange es noch erlaubt war und kein menschliches Ansehen dadurch gefährdet wurde, damit weder er noch die Mutter des Kindes nöthig hätten, seinetwegen über eine Unwahrheit zu erröthen. Wie wir es aber würdig finden, daß Christus auf solche Weise ohne Flecken und Tadel dieser ersten Gefahr entrissen wurde, konnte er auch so nur gerettet werden in ein fremdes Land: so haben wir dieses billig auch anzuwenden auf alles Bedeutende, wovon wir glauben, es solle unmittelbar das Werk und Reich Gottes auf der Erde 12–14 Ex 1,15–16

15–17 Ex 2,1–10

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fördern. Ja wir können eben dieses zum sichern Zeichen nehmen, ob ein Ereigniß von dieser Art sey oder nicht. Haben Sünde und Unrecht sich erst in ein menschliches Unternehmen eingeschlichen und es verunreinigt: so hat auch die Welt ihren Theil daran, und es ist in demselben Maße nicht mehr geschickt, sie zu überwinden. Was dazu gemeint ist, unmittelbar das Gute und Wahre zu fördern, das darf nicht selbst geschützt und gefördert worden seyn durch Ungerechtigkeit und sündliches Wesen. Denn das ist Gottes heiliger Wille: was in seinen Tempel, in das Gebäude des Heils selbst eingefügt werden, nicht etwa ihm nur zu einem Gerüste dienen soll, welches wieder weggenommen wird, das darf nicht auf sündlichem Boden gewachsen seyn. Das, m. g. F., das ist die Gestalt, welche die geistige Erlösung, die der ewige Gegenstand unseres Preises und unserer Dankbarkeit ist, von Anfang an immer an sich getragen hat, und deßhalb ist auch dieß der feste und unerschütterliche Grundsatz aller wahren Christen, daß wir nie dürfen auch das geringste Böse wissentlich thun, in der Ab|sicht, etwas Gutes solle desto besser von Statten gehen; denn wer Böses thut, der hat dadurch schon aufgehört, mit seinem Vorhaben Gott und dem Herrn zu dienen. Darum laßt uns bei Allem, was zur Ehre Gottes unternommen wird, sey es nun Großes oder Kleines, mit Bitten oder Flehen vor Gott treten: daß, so wie unser Sinn dabei rein ist und ihm wohlgefällig, er es auch bewahren möge, daß nicht Eitelkeit und unreines Wesen, daß nicht Unwahrheit und Ungerechtigkeit von außen hinzutrete und es verderbe. Das Zweite aber, m. g. F., ist dieses: daß wie der Erlöser ein Gegenstand des Glaubens seyn und nur durch den Glauben wirken sollte, so nun auch die göttliche Weisheit billig Sorge dafür trug, daß der Glaube an ihn von Anfang an rein seyn konnte und ungefärbt. Auffallende Zeichen, glänzende Vorbedeutungen, das wissen wir Alle wohl, sind nur zu gefährlich für die menschliche Schwachheit, nur zu sehr geeignet, das Urtheil zu trüben und das Gefühl zu bestechen. Solche bedeutende Zeichen hatten die Geburt des Erlösers begleitet, und wenn diese unstreitig seinen Eltern und allen denen heilsam und erwecklich waren, die ihn pflegen und leiten sollten zu einer Zeit, wo sie an ihm selbst die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater noch nicht erkennen konnten, so hatten sie zugleich hier und dort die Aufmerksamkeit bedeutender Menschen auf das Kind geweckt, welches schon bei seiner Geburt und seiner Darstellung im Tempel so ausgezeichnet und verherrlicht worden war. Wenn nun nichts dazwischen getreten wäre, sondern der Erlöser von den ersten Tagen seiner Kindheit an immer ununterbrochen unter denselben Menschen gelebt hätte, zu denen der Ruf von diesen Zeichen gedrungen war, oder die unmittelbar Zeugen derselben gewesen waren: so hätte sich die Kunde

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dieser Begebenheiten, die wir zur Zeit seines öffentlichen Auftretens ganz verschollen finden, natürlich erhalten müssen, und hätte immer weiter um sich gegriffen, so wäre dann vielleicht schon die Unbefangenheit des Erlösers gestört worden durch eine unzeitige äußere Verehrung, und je näher die Zeit seines öffentlichen Auf|tretens heranrückte, um desto weiter verbreitet schon würde ihm ein ungeduldig erwartender Glaube vorangegangen seyn, der wohl bei den Wenigsten rechter Art, ich meine der Geistigkeit seines Zieles entsprechend gewesen wäre. Und sage Niemand etwa, wenn der Erlöser einen solchen Glauben und eine solche Quelle desselben ganz verschmäht hätte, so hätte er auch nicht dürfen Wunder thun. Das wäre ganz richtig, wenn er jemals solche Wunder gethan hätte, wie der Versucher ihm vorschlug! Die seinigen aber waren Werke der hülfreichen Liebe; und wenn die Leute Gott priesen, der solche Kräfte dem Menschen gegeben: so konnten sie diese Kräfte nicht trennen von der Gesinnung, durch welche sie in Bewegung gesetzt wurden. Aber einem von aller eigenen Richtung des Gemüths unabhängigen Erstaunen über äußere begleitende Zeichen, einer dadurch aufgeregten und also natürlich auch überwiegend auf etwas Aeußerliches gerichteten Neugierde, durfte der Erlöser, als er seine Wirksamkeit beginnen konnte, seine Anerkennung als derjenige, der da kommen sollte, oder auch nur irgend einem günstigen Vorurtheile nicht zu verdanken haben. Denn eine solche Stimmung hat an und für sich zu wenig Verwandtschaft mit dem Bedürfnisse des Herzens, welches allein dem seligmachenden Glauben zur Grundlage dient, der sich die geistige Kraft, die von Christo ausgeht, aneignet, und in dieser Kraft die Welt überwindet. Darum, scheint es, mußte der Erlöser baldmöglichst dem Schauplatze wieder entrückt werden, wo seiner Erscheinung sehr bedeutungsvolle Zeichen vorangegangen waren, und auch nach seiner Rückkehr aus Aegypten anderwärts in seinem Vaterlande aufwachsen, wo, als er hernach lehrend dort auftrat, keine anderen Erinnerungen geweckt wurden, als die an einen stillen, äußerlich unbedeutenden Familienkreis. So konnte es denn geschehen, daß, als zuerst Johannes durch ein solches Zeugniß auf ihn aufmerksam machte, welches ihn ausschließend als einen Retter aus geistigem Elende bezeichnete, hier und da Einige in diesem wahrhaften Sinne sagten: Wir haben den Messias funden! daß die, welche ihn so erkannt hatten, sich auch ohne al|les Zeugniß hielten an die Worte des Lebens, die er ihnen darreichte und an die allmählige Entfaltung der Werke, welche sein Vater ihm aufgegeben hatte zu vollbringen. Hieran, m. th. Fr., sind nun auch wir gewiesen, und je kräftiger nun die Geschichte an allen Enden der Erde 14–15 Mt 9,8

36–37 Joh 1,41

39–40 Joh 5,36

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davon zeugt, was der vom Vater Gesendete bewirkt hat, um desto natürlicher finden wir es auch gewiß, daß alles Wunderbare nun gänzlich zurückgetreten ist; und wir vermissen es wohl nicht, daß wir dergleichen nicht selbst erfahren, sondern es nur aus den einfachen treuen Berichten jener ersten Zeugen kennen. Aber wie in den Tagen seines Fleisches dem Erlöser gewiß nichts erfreulicher war, als wenn recht Viele sagten: nicht um des Zeugnisses willen glauben wir, welches uns zuerst angelockt hat, sondern um deßwillen, was wir selbst von ihm gesehen und gehört haben: so will Gott, daß auch wir Alle nicht an das, wenn auch noch so überwältigende Zeugniß der Geschichte mit unserem Glauben angereiht bleiben, sondern dieser soll auf der eigenen Erfahrung des Herzens und Lebens ruhen. Doch um zu unserem eigentlichen Gegenstande zurückzukehren, so wird wohl Jeder einsehen, wie wohlthätig es gewesen sey, daß die Einbildung einer durch Druck hervorgerufenen Sehnsucht nach äußerer Freiheit und äußerem Glanze keine Nahrung weiter fand, und der Gegenstand derselben ihr so weit entrückt ward, daß sie ihn vergessen mußte. Aber wenn nun Simeon und Hanna, in dem edelsten Sinne Solche, welche auf das Heil des Herrn warteten, eben weil selbst zu betagt, um noch die Erfüllung zu schauen, nur um so gewisser zu gleich Gesinnten von ihren Erwartungen geredet hatten; wenn es in Bethlehem, der Stadt Davids, nicht fehlen konnte an Solchen, die die prophetischen Verheißungen von der Ewigkeit seines Stuhles auf eine würdige Weise deuteten: sollen wir die nicht bedauern, die von der Verkündigung der Engel in jenen Zeiten gehört und sich schon gefreuet hatten, daß der Heiland der Welt geboren sey, denen der anbetende Zug jener Weisen bekannt geworden, oder denen Hanna von Simeon erzählt, und die schon | mit ihm Gott gepriesen hatten, daß durch dieses Kind Israel auf’s Neue solle ein Licht der Heiden werden, – sollen wir diese Alle nicht bedauern, daß ihr Vorsatz, die weitere Entwicklung dieses Kindes der Verheißung mit der aufmerksamsten Andacht zu begleiten, durch sein plötzliches Verschwinden so bitter getäuscht wurde? Und wenn sie nun lange auf seine Rückkunft vergeblich geharrt, werden sie nicht zuletzt geglaubt haben: alle jene wunderbaren Erscheinungen seyen doch nur Täuschungen gewesen, oder Betrug? Und wie manches damals noch jugendliche Gemüth mag späterhin, wenn es von Jesu von Nazareth hörte und sich zu ihm hingezogen fühlte, und auch bei sich überlegte: ob er nicht Christus sey? einen schweren Kampf zu kämpfen gehabt haben, wenn es noch an jenen Erinnerungen hing, auf die Wiederkehr des damals Angekün7–9 Joh 4,42 30 Lk 2,32

18–21 Lk 2,25–38

25–26 Lk 2,9–14

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digten hoffend, weil es ja nicht auf den Gedanken kommen konnte, daß Jesus eben derselbe sey? Was sollen wir anders hierzu sagen, m. Gel., als daß sie also gleich damals, da sie gesprochen wurde, jene Weissagung, schon anfing in Erfüllung zu gehen, daß der Herr Vielen in Israel werde zum Falle gereichen und Vielen zum Aufstehen? Diejenigen, welche jene Verheißungen in ihrem wahren geistigen Sinne ergriffen hatten, die glaubten, und diese werden in demselben Frieden ihrer Heimfahrt geharrt haben, wie Simeon. Und wenn sie nun deßhalb hernach Verdacht gegen die Wahrheit jener prophetischen Zeugnisse geschöpft haben, weil sie den geistigen Erretter, auf den sie nicht aufhörten zu hoffen, nicht kommen sahen, so wird ihnen Gott das nicht zurechnen. Und wenn solche Gemüther hernach Jesum sahen oder von ihm hörten, so konnte es kein zerstörender Kampf seyn, den sie zu bestehen hatten zwischen dem Eindrucke der prophetischen Zeugnisse und dem der unmittelbaren Gegenwart, und immer konnten solche Augen nicht gehalten werden, daß sie ihn nicht erkannt hätten. Mochten sie dann vermuthen: er sey derselbe, oder mochten sie, der eigenen Erfahrung vertrauend, es dahin gestellt seyn lassen, was für eine Bewandtniß es mit jenen Zeugnissen gehabt: in beiden Fällen haben sie sich der göttlichen | Gnade erfreut, so daß nur denen jene Zeichen zu einem Zeugniß wider sie gereichten, welche die Verheißung zwar aufnahmen, aber nachdem ihnen die Wahrheit des Heils vor das Gemüth getreten, ihrer doch hernach nicht geachtet haben, sondern zurückgebracht sind zu dem eitlen Ruhme an ihrer Geburt und an dem Gesetze. Aber solche Prüfungen waren unzertrennlich von der Erscheinung des Erlösers. Wie oft hat nicht auch, nachdem er schon öffentlich aufgetreten war, die schwachgläubige Ungeduld gefragt: Warum zögerst du? bist du es, oder sollen wir eines Anderen warten? Ja, an solchen Prüfungen fehlt es uns Allen nicht, und wohl denen, welche sie glücklich bestehen! Ihr Alle, die ihr der Aufforderung des Erlösers gemäß schon seit lange her gesucht habt, die Zeichen dieser Zeit zu verstehen, wie oft ist es euch nicht geschehen, daß ihr im Lichte der Wahrheit erkannt habt, was diesem Geschlechte noth thue, und daß euch wie mit einem Schlage ein Zeichen geschah: es sey nun nahe! Und wie oft verbarg sich nicht die Sonne wieder, von der ihr glaubtet: sie werde nun durchbrechen, und der Himmel bezog sich mit trübem Gewölk! Wohl denen, die dann doch, wenn sie sich auch bescheiden müssen, ihr Verlangen habe sie irre geführt, was Zeit und Stunde betrifft, das Zeichen sey nur ein Vorzeichen gewesen und die Erscheinung selbst habe noch aufgespart werden müssen für eine 4–5 Jes 8,14 (zitiert in Lk 2,34) 38–39 Vgl. Apg 1,7

7–8 Lk 2,29

28–29 Mt 11,3; Lk 7,19–20

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bessere und förderlichere Zukunft, doch fest vertrauen, es werde erscheinen, was wir seyn sollen, und es werde zur rechten Zeit nicht mehr aufgehalten werden können durch die Feinde des Guten. Wohl denen, die noch das, was sie einmal im Lichte der Wahrheit erkannt haben, in ihrem Inneren festhalten, und indem sie die Weisheit des Herrn verehren, welcher mit seiner Hülfe noch verzeucht, doch weit entfernt sind, sich wieder verflechten zu lassen in den Unflath der Welt und einer Zeit, von welchem sie durch jene Erkenntniß schon gereiniget waren; damit es ihnen nicht ergehe wie dort der Apostel sagt1, daß das Letzte mit ihnen ärger werde als das Erste! | Wohl denen, welche in allen solchen Prüfungen Nachfolger derer werden, die durch Glauben und Geduld die Verheißung ererbt haben.2 Aber außer diesen beiden Hauptpunkten giebt es doch in unserer Geschichte, sofern wir sie als göttliche Fügung betrachten, noch einen Umstand, den schon selbst nicht leicht Jemand übersehen wird, nämlich: daß der Engel des Herrn dem Joseph ausdrücklich befahl, er solle hinfliehen nach Aegypten. Die Macht des Herodes reichte nicht so weit, daß die Fliehenden nicht schon viel eher ihre Schritte hätten aufhalten können und doch wären in Sicherheit gewesen mit dem ihnen anvertrauten Kinde. Wenn wir also gerade Aegypten so bestimmt als das Ziel der Reise nennen hören, so können wir darin das Bedeutsame nicht übersehen, wie es auch unser Evangelist nicht übersehen hat, welcher eben deßhalb das prophetische Wort hier in Anwendung bringt: Da Israel jung war, hatte ich ihn lieber und rief ihm meinen Sohn aus Aegypten.3 So lauten die hier angeführten Worte des Propheten, und sie gehen also offenbar genug auf das Volk des alten Bundes und auf den Ursprung jener Einrichtungen und Gesetze, an deren Stelle nun etwas Vollkommneres treten sollte. Aber so groß die Neigung dazu auch ist, m. gel. Fr., so ist es doch immer etwas sehr Bedenkliches, bei wichtigen Ereignissen ein solches Zusammentreffen aufzusuchen. Denn wenn sich auch dergleichen findet, und die Seele also darüber zur Ruhe kommt: so ist es doch immer nur etwas Außerordentliches, und auf dergleichen viel zu halten, ist eine kleinliche Ansicht, die nur zu leicht von dem Wichtigeren abführt. Finden wir nun aber trotz aller Bemühungen nichts dergleichen: wollen wir dann im Ernste glauben: irgend ein Ereigniß sey minder wichtig, weil es nicht mit irgend einem ähnlichen in solchen äußerlichen Verhältnissen 1 2 3

2. Petr. 2, 22. Ebr. 6, 12. Hos. 11, 1.

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zusammentrifft? Ist aber das nicht, nun so haben wir auch keine Ursache, wo sich | dergleichen findet, darauf an und für sich einen großen Werth zu legen. Ganz etwas Anderes aber ist es, wenn ein solches Zusammentreffen zugleich Gedanken aufregt, welche das Gemüth auf eine verwandte und heilsame Weise bewegen. Wer denkt nicht dabei, daß der Erlöser in jenes Land der Knechtschaft seines Volkes floh, nur um so lebhafter daran, daß auf dieser Erde, in welche er herabkam, Alle vor ihm aus Furcht des Todes Knechte waren? Wer denkt nicht daran, wie der Erlöser selbst die von ihm gestiftete geistige Befreiung durch sein heiliges Gedächtnißmahl in die engste Verbindung gebracht hat mit der Befreiung seines Volkes aus Aegypten. Dieß, m. a. Fr., ist bei diesem Umstande das Erfreuliche und Erhebende, was wir uns nicht sollen entgehen lassen. Aber erinnert euch auch, daß unsere heiligen Schriftsteller sehr oft, wenn sie Stellen aus den Schriften des alten Bundes im Sinne haben, nur den Anfang anführen, in der guten Zuversicht, daß ihren Lesern das Weitere einfallen werde. Und was sagt jener Prophet weiter? Als Israel jung war, da rief ich meinen Sohn aus Aegypten; jetzt aber, wenn ich sie rufe, hören sie nicht, sondern dienen den Baals. Das ist die wehmüthige Erinnerung an die Undankbarkeit, mit welcher von jeher viele Menschen die göttlichen Gnadenbeweise von sich gestoßen. Tönt uns nun diese Rede so besorglich aus dem Munde des Evangelisten entgegen: so muß es uns um so schmerzlicher bewegen, daß gerade auch die Flucht des Erlösers nach Aegypten nicht wenigen solchen zum Fallstrick geworden ist. Denn schon die alten Widersacher des Christenthums unter den Heiden, welche an das Licht der durch Christum mitgetheilten Erkenntniß des Vaters nicht kommen, sondern lieber fortfahren wollten, den Götzen zu dienen, wenn man ihnen die Wunder des Herrn vorhielt und sie aufforderte, sie möchten doch erklären: woher diesem solche Kraft komme? beriefen sich darauf, daß er ja nach Aegypten geflohen sey. Das sey ja der alte Sitz seltener und tiefer Weisheit und so auch geheimnißvoller und blendender Künste, sagten sie, und da sey denn der Erlöser, oder, | wenn ihnen einfiel, daß er noch zu jung gewesen, die Seinigen, die es ihm hernach mitgetheilt, unterrichtet worden in solcher Weisheit und solchen Künsten, und so habe er hernach, aus solcher Schule gekommen, nicht nur reden gekonnt, wie kein Anderer in seinem Volke, sondern auch mit allen jenen Thaten, welche man einer 8 Hebr 2,15 9–11 Mt 26,18; Mk 14,14; Lk 22,8.11 17–19 Hos 11,1–2 25– 2 Vgl. Origenes, Contra Celsum I, 28.38, Opera omnia, ed. C. Delarue, Bd. 1, 148.356; GCS, Bd. 1, 79–80.89–90; dort nimmt Origenes gegen den Vorwurf Stellung, Jesus habe, arm und unehelich geboren, als Tagelöhner in Ägypten Zauberkräfte erlernt, aufgrund derer er sich nach seiner Rückkehr als Gott bezeichnet habe.

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eigenen ihm einwohnenden Fülle göttlicher Kraft zugeschrieben, sey Alles auf diese Weise ganz natürlich zugegangen. Wenn man also freilich sagen kann, daß er auch hierdurch schon Einigen zum Falle gereicht hat: so ist doch daran nicht Schuld, daß Joseph gerade nach Aegypten gewiesen wurde; denn wir sehen ja noch täglich, wie leicht diejenigen, welche nicht glauben wollen, eine Entschuldigung finden, und geht es damit gerade so, wie der Erlöser von dem Volke sagt in Beziehung auf ihn und Johannes, indem sie von des Letzteren Strenge sagten: er habe den Teufel, und von des Ersteren Milde: er sey ein Fresser und Weinsäufer. So auch hier. Würden keine Wunder von ihm erzählt, so hätten sie ihn für nichts gehalten, als einen wackern volksmäßigen Lehrer; soll er Wunder gethan haben, so glauben sie schon viel zu thun, wenn sie nicht sagen: er habe die Menschen getäuscht, sondern: sie hätten sich selbst getäuscht. Darnach also, wie der Unglaube, der kein Bedürfniß eines Erlösers kennt, die Begebenheiten in dem Leben desselben auffassen würde und beurtheilen, darnach konnte die göttliche Weisheit mit ihren Fügungen sich nicht richten; sondern wenn, was in der Ausstattung des Erlösers und in den Führungen seines Lebens bedeutend war und das menschliche Maß überschritt, mit falschem und schielendem Geistesauge angesehen wird: so gereicht das solchem Unglauben durch seine Schuld zum Fallstrick und zum Verderben.

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II. Aber nun laßt uns auch Zweitens, indem wir die Rettung des Erlösers betrachten als eine menschliche That, darauf sehen, in wiefern dabei, wie nach meiner vorigen Rede dieses allein der Weisheit des Höchsten gemäß ist, alle Gesetze der Rechtschaffenheit und der Gottseligkeit sind beobachtet worden. Denn, m. g. Fr., gewiß, es können uns dagegen mancherlei | Zweifel einfallen. Oder wäre es nicht bedenklich, wenn wir uns hieran ein Vorbild nehmen wollten, bei jedem Anscheine von Gefahr flüchtig zu werden, unseren Aufenthalt zu ändern, unsere Lebensweise zu verlassen, eine Menge von segensreichen Verhältnissen mit anderen Menschen plötzlich abzubrechen: wahrlich, das gehört zu der schmählichsten Knechtschaft aus Furcht des Todes! Nun flüchtete freilich Joseph nicht aus irgend einer Besorgniß für sich selbst, sondern für das ihm anvertraute verhängnißvolle Kind. Aber muß nicht ein Vater auch seine Kinder Gott befehlen, und darf sich nicht durch eine Sorge für sie bestimmen lassen, wenn die Frage davon ist: ob er auch ferner seines Glaubens leben, seinem Gotte dienen, seinem Gewissen folgen solle oder nicht? Unser Erlöser nannte auch seine Jünger seine Brüder und Schwestern, auf ihnen be8–10 Mt 11,18–19; Lk 7,33–34

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ruhete die Verbreitung seines Wortes; aber so wie er wußte, wie nöthig ihnen eben deßhalb seine Gegenwart war, doch sein selbst nicht schonte, so ließ er auch sie alle Gefahren mit bestehen. Sie waren bei ihm, als man ihn vor Herodes warnte, als ob dieser ihm thun wolle, wie er dem Johannes gethan hatte; aber er entgegnete ganz keck und zuversichtlich: Siehe, ich treibe Teufel aus und mache gesund heute und morgen; am dritten Tage aber gedenke ich ein Ende zu machen. Ja späterhin warnten sie selbst ihn und sprachen: Jenesmal wollten sie dich steinigen, und du willst wieder in Judäam ziehen? Er aber ließ sich nicht irre machen und entgegnete: Wer des Tages wandelt, der stößt sich nicht, denn er siehet das Licht dieser Welt. Und doch ahnte es ihm, daß bald für ihn die Nacht kommen würde, da Niemand wirken kann, und doch hatte er keinen festen Sitz, und Niemand hatte bestimmte Ansprüche an ihn zu machen, daß er hier seyn sollte oder dort! Sollte nun nicht Joseph eben so gehandelt haben? Sollte er nicht der Vorschrift eingedenk gewesen seyn, die schon allen Menschen in das Herz geschrieben ist, die aber seinem Volke noch besonders gegeben war: Bleibe im Lande, welches dir der Herr, dein Gott, angewiesen hat, daß du es bewohnest? Hätte er | nicht nur um so stärkeres Vertrauen zu Gott haben sollen, weil ihm ein solches Kind auf eine so wunderbare Weise war geschenkt worden? Sollte er nicht gedacht haben, der Herr wird wohl wissen zu helfen und seinen Sohn zu retten, auch ohne daß mein Fuß weicht? Und, m. Geliebten, daß wir uns ja nicht alle Bedenken dieser Art, die in unserer Seele aufsteigen mögen bei der Betrachtung dieser Geschichte, sogleich durch den Gedanken beschwichtigen wollen: es sey ja der Engel des Herrn gewesen, der dem Joseph den Befehl zur Flucht von Oben brachte, und da habe also eigenes Nachdenken und eigene Ueberzeugung für nichts gegolten. Das würde gar nicht mit der Lehre übereinstimmen, welche uns die Schrift giebt. Wenn diese sagt: es dürften auch die Engel der Finsterniß sich anstellen, wie Engel des Lichts, so fordert sie uns auf, wohl zuzusehen, ehe wir Einem vertrauen. Wenn derselbe Apostel Paulus sagt: ,,und wenn ein Engel vom Himmel käme, und predigte euch ein anderes Evangelium, als das, welches unter euch verkündigt ist, so dürft ihr ihm nicht glauben“, so regt er also unsere Vernunft auf auch in Beziehung auf das, was uns ein Engel gebieten könnte, daß wir zuvor wohl untersuchen sollen, ob ein solches außerordentliches Gebot auch nicht in Widerspruch stehe mit dem göttlichen Wil4–5 Lk 13,31 6–7 Lk 13,32 8–9 Joh 11,8 10–11 Joh 11,9 12–13 Joh 9,4 13 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58 19–20 Vgl. Ps 37,3; Dtn 11,31 31–32 Vgl. 2Kor 11,14 34–36 Vgl. Gal 1,8

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len, den wir bereits auf ordentlichem Wege erkannt und uns ihm verpflichtet haben. So war es also allerdings auch hier die Sache des Joseph, bei sich selbst zu prüfen, ob es auch wirklich ein Engel des Herrn gewesen, der ihm den Befehl gebracht, oder ob ihn leere Furcht in einem eiteln Traumgesicht getäuscht habe. Ja wenn er auch ein sicheres Kennzeichen hatte, um Beides zu unterscheiden, durfte er doch dem Engel nur folgen, sofern er keine Uebertretung eines göttlichen Gebotes von ihm forderte. Und freilich wie der Erlöser uns auch in dieser Beziehung ein Vorbild gegeben, das uns nicht so leicht erlaubt, von der Stelle zu weichen, die unserer Thätigkeit angewiesen ist, um dort das Werk des Herrn zu treiben: so müssen wir wünschen, daß sein Leben nicht sey durch eine Handlungsweise erhalten worden, die er selbst her|nach nicht könnte gebilligt haben. Aber, genau betrachtet, hat Joseph auch nicht dagegen gehandelt. Der Erlöser, den zu pflegen und gemeinschaftlich mit dessen Mutter menschlicherweise auszubilden, sein heiligster Beruf war, blieb auf lange Zeit von allen Einflüssen Anderer ausgeschlossen und dem Vaterhause allein anempfohlen. Für ihn also war es so lange gleichgültig, wo Joseph wohnte, bis er für den gemeinsamen Unterricht in der Schrift reif war und an dem öffentlichen gottesdienstlichen Leben seines Volkes Theil nehmen konnte. Und wir dürfen zuversichtlich voraussetzen, um diese Zeit würde Joseph doch mit dem künftigen Retter dieses Volkes in das Land desselben zurückgekehrt seyn, wenn auch der Engel des Herrn ihn nicht dazu aufgefordert hätte. Und was den Beruf Josephs in der bürgerlichen Gesellschaft betrifft: so war er eines von jenen ehrenwerthen Geschäften, die sich auf wesentliche Bedürfnisse, wenn auch nur des äußerlichen und leiblichen Lebens, beziehen. Und weil Joseph einen solchen Beruf hatte, so war er um desto freier, auch seinen Aufenthalt im Falle der Noth zu ändern. Denn Jeder, der solcher Hülfe und solcher Werke bedarf, fand gar leicht einen Anderen, der ihm dasselbe leistete; und so auch konnte Joseph mit seiner Kunst nicht minder auch im fremden Lande nützlich seyn, und war vielleicht dort nicht minder willkommen, als er auch willkommen zu günstiger Zeit wieder zurückkehrte. So erscheint denn auch hier keine heilige Pflicht, kein menschliches Verhältniß verletzt; mit keiner verwerflichen Schwäche steht die Errettung des Erlösers in Verbindung, sondern frei von allem Tadel konnte Joseph dem Rufe des Herrn folgen und auf einige Zeit sein Vaterland verlassen und seines göttlichen Schützlings wahrnehmen. Aber freilich, wenn ich doch Alles sagen soll, so kann ich auch nicht läugnen: wäre Joseph schwerer zu diesem Entschlusse gekommen, hätte er seinen Beruf in der menschlichen Gesellschaft anders angesehen, als ich es oben dargestellt, hätte er seine Stellung unter seinen Mitbürgern an dem Orte, wo er wohnte, höher angeschlagen,

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und dabei festen Vertrauens auf den Schutz des Höchsten, der | unter allen Umständen und gegen jede menschliche Gewalt seinen Auserwählten würde zu bewahren wissen, weniger Werth auf das gelegt, was ihm doch nur im Traume begegnet war, weil er nicht sicher seyn konnte, wie viel oder wenig Antheil seine eigenen und Anderer sorgenvollen Gedanken daran gehabt hatten; hätte er sich noch dringender rufen lassen und mehr als einmal den Ruf sich wiederholen lassen, bis er endlich, ergriffen von einem bestimmten Gefühle der Unwiderstehlichkeit dieser Warnung, keinen Zweifeln mehr hätte Raum geben können: ich würde auch dann weit entfernt gewesen seyn, ihn als hartgläubig oder ungehorsam zu tadeln. Wie also, möchte hier wohl Jemand sagen, so giebt es denn wirklich im menschlichen Leben und zwar nicht nur, wo es sich von unbedeutenden Kleinigkeiten handelt, sondern auch bei großen Dingen, solche Fälle, und wer weiß, wie mancherlei es dann seyn mögen! – wo nicht eine von Allen gemeinsam anerkannte Regel des Rechten auch Alle gleichförmig leitet? Und jemehr uns vergönnt ist, in das Innere der Gemüther einzudringen, um desto öfter sollen wir sagen müssen, der so gehandelt, sey nicht zu tadeln, aber wir dürften auch den nicht verurtheilen, der gerade das Entgegengesetzte gethan? Ja wohl ist das kein kleines Gebiet, auf welchem für verschiedene Gemüther auch nicht dasselbige recht seyn kann; aber wir können uns dabei ruhig eines jeden Frommen freuen, dessen Herz fest ist in dem, was er thut! – Kann aber nicht überall, wo es an einer allgemeinen Regel fehlt, auch Jeder ungewiß seyn und schwankend in sich selbst? und verbreitet sich von hieraus nicht eine beklagenswerthe Schüchternheit und Unsicherheit über das ganze Leben? – Freilich wohl ist es oft nichts Leichtes, daß das Herz fest werde! und glücklich wollen wir Jeden preisen, dem, jemehr die streitigen und bedenklichen Fälle mit seiner Arbeit am Reiche Gottes in Verbindung stehen, dann wie dem Joseph der Engel des Herrn erscheint und den Ausschlag giebt in dem schwankenden Gemüth! wohl ihm, weil er hernach, es gehe, wie es wolle, sich dessen getrösten kann, daß er dem ge|folgt ist, was ihm als ein Ruf Gottes gewiß wurde! Und laßt uns dieß nicht etwa nur als einen seltenen Vorzug weniger Auserwählten ansehen, die wir nur glücklich preisen könnten, ohne Aehnliches für uns hoffen zu dürfen. Nein, m. gel. Fr., der Herr ist nahe allen Denen, die ihn suchen! Und wie er in der leiblichen Welt auch Flammen und Stürme zu Engeln macht, die seinen Willen vollstrecken: so fehlt es ihm auch in der geistigen Welt niemals, daß er nicht bald unter dieser, bald unter jener Gestalt Engel senden könnte, um seinen Willen zu verkündigen. Sey 28 Hebr 13,9

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es das Fremdeste und Sonderbarste, was sich als merkwürdiges Beispiel einer göttlichen Weisung auf Kind und Kindeskind forterzählt; sey es das Natürlichste und Befreundetste: immer kommt es nicht darauf an, woher oder auf welche Weise, sondern nur daß uns, wenn wir ernstlich darnach ringen in schwierigen Fällen, zu erfahren, was der wohlgefällige Wille Gottes sey, wenn wir aufrichtig nichts Anderes begehren, als nur diesen zu thun, was auch rechts und links begegnen möge, daß uns dann eine Gewißheit werde, in der unser Herz sich freudig beruhigt: so ist diese immer eine himmlische Lichtgestalt, welche das Dunkel der Ungewißheit vertreibt, daß wir dann am Lichte des Tages wandeln. Doch laßt uns noch einmal zu unserer Geschichte zurückgehen. Als nun Joseph sich entschlossen hatte, mit dem Kindlein und seiner Mutter das Vaterland verließ und sein Angesicht nach Aegypten wendete: wie mancherlei Beschwerden und Gefahren werden ihn nicht bedroht haben auf der weiten und unvorbereiteten Reise in einer unruhigen Zeit und durch zum Theil unwirthbare und ungastfreundliche Gegenden! Aber es ist gewiß im höheren Sinne wahr, was ihr oft werdet kindlicherweise dargestellt gesehen haben, daß die Engel ihm mit den Seinigen Ruhe und Erquickung bereitet haben auf der Flucht. Und das werden wir auch erfahren, wenn die mit solcher freudigen Ueberzeugung eingeschlagene Bahn auch schwierig ist und rauh. Freundliche Tröstungen, die auch von oben | stammen und dem himmlischen Rufe verwandt sind, werden uns nicht fehlen; denn wer die Gewißheit festhalten kann, daß er den Willen Gottes thut, der wird sich auch in den rauhen Wüsteneien des Lebens und auf wild verwachsenen Pfaden von erquickenden Engeln umgeben finden. Laßt uns jedoch nicht vergessen, daß wir nicht bestimmt sind, hierbei stehen zu bleiben. Denn wie beschreibt der Erlöser die Zeit, welche eigentlich die seinige ist? Als eine solche, wo der Himmel offen ist, und beständig Engel Gottes herabsteigen und hinauf. Das galt ihm auch in dieser Hinsicht. Er that nichts Anderes, als die Werke, die sein Vater ihm zeigte, also Alles mit derselben inneren Sicherheit; so wußte er, was im Menschen war, so wie er ihn behandeln müsse; so wußte er zu reden, so zu schweigen, so zu bleiben, so zu gehen. Aber das Seinige soll auch das Unsrige werden; immer mehr soll sich sein Leben in der Fülle der männlichen Kraft und Vollkommenheit in uns gestalten. Wie verschieden auch die Menschen, mit denen wir in Gemeinschaft gestellt sind, uns gleich und ungleich gesinnt seyn mögen, wie mannichfaltig sich auch die Verhältnisse des Lebens oft scheinbar plötzlich verwickeln und verwirren können, das Alles war bei dem Erlöser auch der Fall, und wie rein und sicher hat er Alles entschieden. 29–30 Joh 1,51

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Warum anders, als weil er ganz der Reine war! Wenn uns der ganze Kreis unseres Lebens und Wirkens nicht klar genug vor Augen steht, so daß wir noch oft schwanken, was das Rechte sey, und so erst eines besonderen entscheidenden Rufes bedürfen: so laßt uns nur immer glauben, daß die Schuld daran zum Theil, und wer weiß, ob nicht zum größten Theil, an der Unlauterkeit unserer Gesinnung liegt; daß wir nebenbei wenigstens noch etwas für uns oder irgend noch etwas Anderes wollen, als den Willen Gottes thun. Denn dann hat das Auge sein ursprüngliches Licht verloren und der Blick ist getrübt. Je mehr wir gesinnt sind, wie Jesus Christus auch war, uns selbst nicht beachtend, sondern nur auf das uns anvertraute | Werk Gottes sehend: um desto sicherer und schneller wird, wenn ja eine Statt findet, unsere Beratschlagung seyn, um desto reifer und kräftiger unser Entschluß, um desto reiner und segensreicher die Ausführung. Und nach diesem Ziele immer eifriger zu streben, dazu fordert uns auch die Geschichte, die wir heute betrachtet haben, auf eine eigenthümliche Weise auf. Denn wenn wir uns freuen, daß in der zarten Kindheit des Erlösers, als er selbst noch nicht bestimmen konnte, was zu thun sey und also Andere für ihn handeln mußten, sein Leben aus einer dringenden Gefahr auf solche Weise gerettet wurde, daß uns dabei auf der einen Seite eine besondere göttliche Führung deutlich in die Augen fällt, dabei aber auf der anderen Seite auch Alles so zugegangen ist, wie es wohl lautet vor Gott und Menschen, ohne daß etwas versäumt worden, ohne daß sich irgend ein unreiner Bewegungsgrund eingemischt: so laßt uns bedenken, daß das Reich Gottes auf Erden unerachtet seiner langen Dauer und seiner weiten Ausbreitung doch auch in diesem Sinne noch immer in der Kindheit ist, daß nicht Alles darin von selbst geht, sondern bald dieser, bald jener Einzelne, bald dieser, bald jener größere Theil der Gemeinschaft, zugreifen muß, um zu schützen, abzuwehren, sicher zu stellen. Und sind solche Zeiten eingetreten: welcher wahre eifrige Christ nähme nicht, auf irgend eine Weise, Theil an dem, was geschieht. Möchte nur dann auch immer Alles eben so geschehen, wie hier, und nicht anders! Das Walten einer höheren Hand hat die christliche Kirche zu allen Zeiten so erfahren, daß der Glaube, dieses Reich Gottes könne durch nichts überwältigt werden, sich immer auf das Herrlichste bewährt hat. Aber freilich, daß man sich immer gehütet hätte, Böses zu thun, damit Gutes herauskomme, das können wir, so deutlich sich auch das Wort Gottes hierüber ausspricht, doch nicht rühmen. Daß man sich nie erlaubt hätte, um der Sache Gottes willen menschliche Verhältnisse zu verletzen, sey es nun im Eifer des Angriffs oder in der | Angst der 10 Vgl. Phil 2,5

35–36 Vgl. Mt 5,18

37–38 Röm 3,8

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Vertheidigung, menschliches Recht zu beugen und hintanzusetzen, es wäre sehr schön, wenn wir das betheuern könnten. Laßt und aber nur zugleich gestehen, daß, wo wir solche Mängel finden, auch unsere Freude an der göttlichen Hülfe, wie herrlich sich diese auch offenbare, nothwendig getrübt wird. So lasset uns denn sorgen, daß Alles ohne Flecken sey und ohne Tadel, was wir für den geistigen Leib Christi und seine Bewahrung thun mögen, auf daß der Herr unsere Opfer annehme mit Wohlgefallen. Amen. Schl.

[Liederblatt vom 18. Februar 1821:] Am Sonntage Septuagesimä 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft etc. [1.] Herr wir singen deiner Ehre, / Erbarm dich unser und erhöre, / Nimm gnädig unser Loblied an! / Herr wir danken voll Entzücken, / Wo ist ein Gott, der so beglücken, / So lieben und so segnen kann? / Der Gott, den wir erhöh’n, / Er, dessen Heil wir sehn, / Ist die Liebe / Schon vor der Zeit; in Ewigkeit / Ist Gott ein Gott, der benedeit. // [2.] Als wir von der Sünde Plagen / Gequält in unserm Elend lagen, / Und Nacht des Todes uns umfing; / Da geschah’s, daß deine Gnade / Uns hinwies auf der Wahrheit Pfade, / Indem dein Sohn voran uns ging. / So rief dein Vaterblick / Vom Tode uns zurück; / Von der Sünde / Und ihrer Nacht sind wir erwacht, / Und schauen Deines Reiches Pracht. // [3.] Preist nun Ihn, ihr Jubellieder! / Zur Erde stieg sein Sohn hernieder, / Ward Mensch und starb der Sünder Tod. / Christus hat den Tod bezwungen, / Ein Loblied werde ihm gesungen, / Uns segnet und begnadigt Gott. / Wir sind mit ihm versöhnt! / Ihr Lobgesänge tönt, / Tönt zum Himmel! / Erschallt schon hier! Einst knieen wir / An deinem Thron, und danken dir. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O wie selig sind etc. [1.] Wunderanfang, herrlich Ende, / Wie der weise Rathschluß Gottes / Führt die Seinen ein und aus! / Wunder wirken seine Hände, / Wunderbar sind seine Thaten; / Und du fragst: wo will’s hinaus? // [2.] Ob der Anfang seltsam scheinet, / Denke doch, es muß so gehen, / Ihm und dir zur Herrlichkeit. / Denn das End’ ist gut gemeinet, / Was Gott will, das muß geschehen, / Friede folget nach dem Streit. // [3.] Gott hält seinen Pfad verborgen / In dem Dunkel, in dem Dickicht, / Daß ihn keiner finden kann. / So auch auf dem Meer der Sorgen / Steuert er das schwache Schifflein / Ungesehn, der Wundermann. // [4.] Weil der Herr verborgen schaltet, / Müssen wir ihm blindlings trauen, / Glauben wenn wir auch nicht sehn! / Wenn die Furcht noch immer waltet, / Wenn das Ziel wir sehen wollen, / Kann uns keine Hülf’ entstehn. //

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[5.] Menschenwiz kann nichts ersinnen; / Denn die halb gebrochnen Augen / Der Vernunft sind viel zu blind. / Wie man Hülfe mag gewinnen, / Können die ja nicht erspähen, / Die so kurzgesichtet sind. // [6.] Gott muß man in allen Sachen, / Die er heimlich angefangen, / Gang und Ende geben frei; / Er kann alles weislich machen / Und es so zu Ende führen, / Daß es wunderherrlich sei. // [7.] Drum so laß dir nimmer grauen, / Wie es heut und morgen werde, / Halte fest an gutem Muth. / Lerne deinem Gott vertrauen, / Und du wirst am Ende spüren, / Was er thut ist alles gut. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Ein’ feste Burg etc. Auf Christen, die ihr ihm vertraut, / Laßt uns kein Drohn erschrecken! / Der Gott, der von dem Himmel schaut, / Wird immer uns bedecken. / Der Herr, der starke Gott, / Hält über sein Gebot, / Giebt uns Geduld in Noth, / Und Kraft und Muth im Tod, / Was kann uns dann erschrecken? //

Am 4. März 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,41–49 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 231–251 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 265–281; ²1844, S. 313–330 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 216–230 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 69v–71r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 41r–47v; Woltersdorff Besonderheiten: Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt) Besonderheiten: Ende der vom 7. Januar 1821 an gehaltenen Predigtreihe in Fortsetzung von Weihnachten (vgl. Einleitung, I.4.B.)

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Christus im Tempel; ein Vorbild für uns in unsern christlichen Versammlungen. Luk. 2, 41– 49. Dies, m. a. Fr., ist die letzte Erzählung unserer heiligen Geschichtschreiber aus dem Zeitraume der Kindheit und Jugend unseres Erlösers.1 Gewiß gedenken wir Alle dabei der späteren Zeit, wie, als er selbst in dem Hause seines Vaters lehrend Licht und Leben um sich her verbreitete, unter den Bewohnern Jerusalems sowohl, als unter denen, die dorthin wallfahrteten, schon wenn die Zeit der heiligen Feste herannahte, die Frage besprochen ward: was dünket euch, ob er kommen werde auf das Fest? und wie die Lehrbegierigen niedergeschlagen waren, wenn er zögerte. Aber wir können uns diese spätere Zeit nicht denken, ohne daß jene frühere voranging; denn Alles ist nach Einem weisen Rathschlusse Gottes zusammengeordnet in dem Leben unseres Erlösers. Wie Er uns mit Ausnahme der Sünde in Allem gleich seyn sollte: so war ihm auch beschieden, uns darin gleich zu seyn, daß sich die Kräfte seines Geistes nur allmählig entwickelten; daher denn auch, nachdem das Obige berichtet worden, der Zusatz 1 Diesen Zeitraum hatte ich in einer Folge von Predigten behandelt, in der diese die letzte war.

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gemacht wird, Jesus habe zugenommen an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. Und diese | Entwickelung ward auch besonders befördert durch das in unserer Erzählung sich kund gebende, und gewiß in der ganzen Jugendzeit des Erlösers nicht erloschene, innige Verlangen desselben, da zu seyn, wo in dem Hause seines Vaters die Schriftgelehrten bemüht waren, die Bücher des Gesetzes, und die prophetischen Schriften des alten Bundes den Lehrbegierigen verständlich zu machen und an’s Herz zu legen. Dasselbe sollen unsere christlichen Versammlungen vorzüglich thun mit den heiligen Schriften unsers neuen Bundes; und wir werden hieher in unsere Kirchen getrieben von demselben Verlangen, welches den Erlöser damals in den Hallen des Tempels festhielt. Nur daß er nicht über die Zeit seiner Unmündigkeit hinaus durch Belehrungen Anderer über das Wort Gottes etwas gewinnen konnte, uns aber eben dieses beständig ein Bedürfniß bleibt, dessen Befriedigung wir nicht nur augenblickliche Erhebung und Beseligung verdanken, sondern einen großen Theil unseres inneren Wachsthums und Gedeihens. Um so wichtiger muß es uns seyn, Ihn auch in diesem Verhältniß als Zuhörer bei den Lehrvorträgen der Schriftgelehrten zu betrachten, und auch von seiner Jugend zu lernen für unser ganzes Leben. Wollen wir nun seine Art und Weise dabey mit zur Richtschnur für die unsrige nehmen: so laßt uns auf Zweierlei sehen. Erstlich, daß er überhaupt mit solchem Eifer da verweilte, wo Schriftgelehrte und Pharisäer auf dem Stuhle Mosis saßen; und Zweitens, daß er sich dort auf Fragen und Antworten mit ihnen einließ. I. Die Eltern Jesu hatten ihn vorzüglich deßhalb mitgenommen nach Jerusalem auf das Fest, weil er nun das Alter erreicht hatte, mit welchem die Unterweisung in dem Gesetze begann, und also auch eine verständige Theilnahme an den Gottesdiensten möglich ward; und sie hatten ihn gewiß in die Vorträge der Gesetzkundigen und Schriftgelehrten eingeführt, und ihm den fleißigen Besuch derselben während ihrer Anwesenheit em|pfohlen. Der Knabe Jesus aber begnügte sich damit nicht; sondern sein Eifer, an diesen Belehrungen Theil zunehmen, war so groß, daß er darüber die Abreise seiner Eltern versäumte. Hiebei fällt gewiß uns Allen zunächt ein, wie ganz entgegengesetzt der seinigen doch die Handlungsweise derjenigen ist, welche unsere christlichen Versammlungen entweder ganz verlassen, oder sie nur zufällig und sparsam besuchen. Thun nun Viele dieses deßhalb, weil ihnen der Zweck unserer Versammlungen fremd ist, und der Gegenstand derselben gleichgültig: so müssen wir solche für jetzt übergehen, weil auf sie das Beispiel des Erlösers keinen besonderen Eindruck machen kann, indem sie eines anderen Weges gehen wollen, als den er

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selbst gegangen ist, und uns gezeigt hat. Andere aber giebt es, welche unsere Versammlungen deßhalb für überflüssig halten, weil sie glauben, denselben Endzweck besser und sicherer zu erreichen, und sich mit demselben Gegenstande fruchtbarer beschäftigen zu können durch einsame Betrachtung des göttlichen Wortes, und dessen, was fromme und kundige Männer darüber gesagt; und diese sollten sich an dem Beispiel unseres Erlösers spiegeln. Wer hätte wohl mehr Recht gehabt, sich hierin auf sich selbst zu verlassen, als Er? Er, der, wenn wir ihn auch nur ganz menschlich betrachten, wie denn hier auch nur von seiner menschlichen Entwickelung die Rede ist, schwerlich kann unbekannt damit geblieben seyn, unter was für Zeichen und Verheißungen er geboren war, Er, dem doch, auch abgesehen hievon, gar bald eine Ahnung aufgehen mußte von dem Göttlichen in ihm, und diese sich ihm immer mehr bestätigen mußte durch das ruhige Bewußtseyn einer reinen und sicheren Entwickelung! In wem wäre wohl das Vertrauen natürlicher gewesen, daß er auch ohne alle menschliche Hülfe sein Ziel gewiß erreichen werde, als in Ihm, dessen große Bestimmung eben war, Allen ohne Ausnahme selbst zu helfen? Und dennoch war eben Er hiervon so weit entfernt, daß, indem er seiner Mutter zur Antwort gab: Wisset ihr nicht, daß ich in dem seyn muß, was meines Vaters ist? er dadurch ausdrücklich erklärte, | daß auch er sich unterworfen fühle jenem allgemeinen Gesetz: daß sowohl zur Erkenntniß der Wahrheit, als zur Klarheit und Festigkeit des Willens, die menschliche Seele auch vermittelst des geschriebenen göttlichen Wortes doch nur gelangen kann in der mittheilenden und erregenden Gemeinschaft mit Andern. Später mußte der Erlöser in dem Hause seines Vaters seyn, um selbst so mittheilend und erregend auf Andere zu wirken, – jetzt, um so auf sich wirken zu lassen; jenes, um unserer Schwachheit zu Hülfe zu kommen, dieses, weil er selbst theilnahm an jeder menschlichen Schwachheit, welche zusammenhängt mit der Sünde. Wenn nun der Erlöser selbst diesem Gesetze unterworfen war in der Zeit seiner Entwickelung: wie sollte irgend Einer von uns, die wir immer in der Entwickelung begriffen bleiben, sich demselben mit Recht entziehen können? Wenn der Erlöser hernach selbst seine Wirksamkeit auf dieses Gesetz gründete, und dem gemäß verfuhr: wie sollen wir glauben, nach einer andern Ordnung unser Heil besser fördern zu können? Vielmehr wenn die Schrift sagt, Gott habe seinen Sohn in die Welt gesandt, als die Zeit erfüllt war:1 so müssen wir unter diese Erfüllung der Zeit eben dieses ganz vorzüglich mit einrechnen, daß damals unter dem jüdischen Volke diese Art und Weise der Zusammenkünfte in den Synagogen und Schulen schon eingerichtet war, in 1

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welchen die heilige Schrift nicht nur regelmäßig gelesen wurde, sondern auch Aufforderung erging an Jeden, der sich aufgeregt fühlte, sie zur Erbauung der Anwesenden zu erläutern; denn dieses Recht konnte nun auch dem Erlöser nicht bestritten werden, und so erhielt er einen festen Sitz für seine Reden über das Reich Gottes. In diese Schulen ging er, wo er sich eben befand an den Sabbathtagen, und folgte der Aufforderung, zu lehren, um zur Annahme der göttlichen Gnade einzuladen, und durch Worte der Weisheit und Anmuth zu erquicken und zu beseligen, und die Apostel eben so. In den Schulen bewies Stephanus, daß Jesus der Christ sey; in der Halle Salomons, wo auch Jesus | gelehrt hatte, lehrte Petrus mit den andern Aposteln; in den Schulen traten überall zuerst Barnabas und Paulus als Lehrer auf, und verkündigten, daß Jesus von Nazareth der sey, der da kommen soll, und daß man keines Andern warten dürfe. Auf diese Art entstanden die ersten Häuflein gläubiger Seelen, aus denen die christliche Kirche gesammelt und zusammengewachsen ist, vermittelst jener Versammlungen in den jüdischen Schulen, welche der Erlöser selbst, zuerst lernend, dann lehrend, geheiliget hat; und alle vollständige Ausbildung der christlichen Lehre, alle Einsicht in die richtige Gestaltung des christlichen Lebens, ist am meisten ausgegangen von diesen unsern christlichen Versammlungen, welche sich jenen anschlossen, und ihnen ähnlich gebildet wurden. Kann also wohl diese Jemand für überflüssig erklären, ohne sich den Vorwurf mit Recht zuzuziehen, als denke er, Christus habe nicht recht gewußt, wie am Besten das Heil der Seinigen zu fördern sey, sondern er wisse es besser? Doch diejenigen, welche unsern Zusammenkünften die einsame Betrachtung des göttlichen Wortes vorziehen, machen hier gern einen Unterschied geltend, theils zwischen dem göttlichen Wort des alten und des neuen Bundes, theils auch zwischen den ersten Anfängen der christlichen Kirche, und ihrer jetzigen Gestalt. Denn das Wort des alten Bundes sey freilich dem großen Haufen ein verschlossenes Buch gewesen, wovon überhaupt Vieles ohne sachkundige Deutung nicht habe verstanden und aufgefaßt werden können, und noch minder wäre es den Meisten möglich gewesen, ohne Anleitung das Wichtige von dem Minderwichtigen gehörig zu scheiden; besonders aber hätten die leisen Andeutungen des göttlichen Geistes von der Person und dem Reiche des Erlösers nicht können aufgefunden werden, ohne die Aufschlüsse, welche der Erlöser selbst und seine von dem göttlichen Geist erleuchteten Jünger darüber gegeben. Alle dergleichen Erläuterungen aber hätten bei dem damaligen Zustande der menschlichen 9–10 Vgl. Apg 6,8–10.14; 7,55.58 10–11 Vgl. Apg 3,11–26 Apg 9,26–30; 11,25–26 13–14 Vgl. Mt 11,3; Lk 7,19–20

11–12 Vgl.

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Dinge nur mündlich können ertheilt werden; mündlich hätte sie der Schüler von seinem Meister empfangen, | und eben so nur auch seinen Schülern, und, soviel thunlich, dem Volke mittheilen können. Darum seyen dem jüdischen Volke solche Zusammenkünfte nothwendig gewesen, um Glauben und Gottesdienst lebendig zu erhalten, und sie seyen auch nach gnädiger Fügung Gottes den ersten Anfängen der Christenheit trefflich zu Statten gekommen. Ja auch das geben sie zu, ehe die Schriften des neuen Bundes vorhanden gewesen, und in Eins gesammelt, und überall verbreitet, so lange, und also auch in jedem neubekehrten Volke, so lange, als die heilige Schrift nicht in der eigenen Sprache desselben zu lesen gewesen, seyen auch der Christenheit solche Versammlungen unentbehrlich gewesen, um die Lehre Christi zu erhalten, und zu verbreiten. Seitdem aber stehe es anders mit uns; und auch das Beispiel, welches der Erlöser selbst in seiner Jugend gegeben, sey auf unsern gegenwärtigen Zustand nicht mehr anwendbar. Denn darüber seyen wir ja Alle einig, daß die heilige Schrift des neuen Bundes nicht auch wieder ein dunkles, und an und für sich unvollständiges Wort Gottes sey, daß auch diejenigen, die es in unsern Versammlungen zu erklären, und auf unsere Gemüths- und Lebenszustände anzuwenden haben, nur insofern im Segen arbeiten, als sie ihrer Heerde von dem Worte Gottes nichts vorenthalten, und eben so wenig etwas von dem ihrigen hinzuthun. Aller Segen der Erbauung gehe also von diesem Worte Gottes allein aus, und da wir uns eben in diesem Vertrauen eine heilige und süße Pflicht daraus machen, es soviel möglich jedem Christen unmittelbar in die Hände zu geben, da Jeder in seiner Jugend auch schon auf das Heilsamste darin besonders hingewiesen, und im Verständniß desselben unterrichtet wird, da außerdem ein köstlicher Vorrath dessen, was gottselige Männer alter und neuer Zeit über das Wort Gottes gedacht, und auf dessen Veranlassung empfunden, und durch seine Kraft in sich selbst erfahren haben, auch fast Jedem zugänglich sey: so könne man nicht mehr behaupten, daß unsere öffentlichen Versammlungen dem Christen unentbehrlich seyen, sondern müsse es Jedem anheim stellen, ob er seine Förderung in der Gottseligkeit in den öffentlichen Anstalten | der Kirche suchen wolle, oder in der andächtigen einsamen Benutzung des göttlichen Wortes. Und so sollte demnach nicht nur Christus im Tempel, wenigstens nicht so, wie wir es meynen, uns ein Vorbild seyn, sondern auch die Ermahnung der Schrift: verlasset nicht unsere Versammlungen, wie Einige pflegen,1 soll nur jener Zeit gegolten haben, und nicht der unsrigen. Das wollen wir doch so leicht nicht annehmen, m. Lieben, sondern den Verächtern unserer Zusammenkünfte 1

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zunächst das apostolische Wort vorhalten: der Glaube kommt aus der Predigt,1 und die Kraft des Geistes kommt mit dem Glauben. Die Predigt aber ist nicht das stille Lesen, nicht die einsame Betrachtung, nicht das ermüdende und austrocknende Hangen des Auges an dem geschriebenen Buchstaben, sondern die ergreifende Kraft der lebendigen Rede, und dieses ist die ursprüngliche Gestalt des göttlichen Wortes; der geschriebene Buchstabe hingegen ist nur der für sich unzureichende Stellvertreter der lebendigen Rede. Als lebendige Rede an das Volk oder an seine Fürsten und Heerführer unmittelbar gerichtet, erschien das Wort Gottes durch den Mund der begeisterten Männer des alten Bundes, und als das Wort Fleisch ward, da ward der Erlöser der Welt nicht ein Schriftsteller, sondern durch seine lebendige Rede ergriff er die Menschen, und wurden sie inne, daß er gewaltig lehre, und anders als die Schriftgelehrten und Pharisäer, und daß ein Prophet, ja der mehr sey, als ein Prophet, aufgestanden sey in Israel. Was aber schriftlich von ihm aufbewahrt ist, das ist nur aus seiner mündlichen Rede genommen, und was die Apostel des Herrn schrieben an die christlichen Gemeinden, und an einzelne Brüder, das war nur die Fortsetzung und Erneuerung ihres mündlichen Unterrichts, und war auch nur im Zusammenhange mit diesem denen recht verständlich, an die es gerichtet war. Wer konnte also wohl die Schrift lesen, und nicht gestehen müssen, daß der geschriebene Buchstabe immer wie|der der Erfrischung durch die lebendige Rede bedürfe, wie er ursprünglich sein Leben nur durch sie erhalten hat, und nur ein mehr oder minder schwacher Abdruck derselben ist! Wenn uns in unserer Jugend die Schrift überliefert wird, sind wir immer schon vorbereitet durch die lebendige Rede der Gläubigen, und durch die Lehre der Schriftkundigen, und darum lesen wir sie mit Segen. Und wenn es in der Folge darauf ankommt, uns den Glauben zu stärken, oder uns um die Sünde zu strafen, wer sollte wohl die Verblendung des menschlichen Herzens, und die Verfinsterung des Verstandes so wenig kennen, um nicht einzugestehen, daß unser Auge nur zu gern über das hinweggleitet, was sich auf unsere schwache Seite am nächsten bezieht, und daß die Seele für sich allein nur selten den Muth hat, sich der scharfen Schneide des göttlichen Wortes ganz blos zu geben! Wie oft kam nicht der Erlöser in der Folge in den Fall, die Pharisäer und Schriftgelehrten aus der Schrift zu widerlegen, die sie von Jugend auf kannten, aber mit Augen gelesen hatten, welche nicht sahen! Ja wie oft war er nicht 1

Röm. 10, 17.

13–14 Mt 7,29; Mk 1,22 14–15 Vgl. Lk 7,16 37 Vgl. Mt 15,1–9; Mk 7,1–13

34–35 Vgl. Hebr 4,12

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veranlaßt, seine Jünger Thoren und trägen Herzens zu schelten, weil sie das, was die Schrift von ihm sagt, wohl gelesen hatten, aber es nicht in sich aufgenommen. Und wenn wir uns in die Zeit hineindenken, wann die von den Aposteln des Herrn und ihm selbst so gern wiederholte Verheißung des alten Bundes wird in Erfüllung gegangen seyn, daß Keiner mehr nöthig hat, von dem Andern gelehrt zu werden, weil sie Alle von Gott gelehrt sind,1 und wir wollen fragen, wie denn die kommen muß: so können wir doch nicht anders sagen, als daß nicht jede Seele für sich allein eine Gottgelehrte werden kann, und nicht jede in einer abgesonderten Bearbeitung des heiligen Geistes steht, sondern nur vermittelst des Austausches der Einsicht und der Empfindung mit Andern in der lebendigen Gemeinschaft, zu welcher Christus uns Alle verbunden hat. Denn diese Gemeinschaft zunächst, nicht die einzelne Seele für sich, hat sich der Geist Gottes zum Tempel erwählt, | und will diese nur durch jene immer mehr erleuchten und heiligen. Und wie könnte es auch anders seyn! So wie derjenige nur eine geringe Erkenntniß erwerben kann von den großen Werken Gottes, die seine Herrlichkeit verkündigen, und also auch nur von einer gar beschränkten Bewunderung dieser Herrlichkeit und Majestät erfüllt seyn, der sich nur auf den kleinen Theil der Schöpfung beschränken wollte, den er selbst übersieht, und auch die Zeugnisse und Belehrungen derer verschmähen, welche Anderes geschaut haben: so ist es auch auf dem Gebiet der Frömmigkeit. Wer sich durchaus mit demjenigen begnügen will, was er in dem einsamen Verkehr mit dem Worte Gottes in seiner eigenen Seele erfährt, der kann nie zu jenem sicheren und reichen Besitz gelangen, welchen wir nur in der Gemeinschaft der Gläubigen erwerben. Möchten wir Alle es daher immer für einen wichtigen und heiligen Beruf halten, da zu seyn, wo auch der Erlöser so gern und eifrig war, um durch die lebendige Mittheilung und gemeinsame Erwägung des göttlichen Wortes seinen Geist zu nähren und zu bereichern. Aber, m. a. Fr., laßt uns nun auch nicht unbemerkt lassen, wer denn diejenigen waren, zu deren Füßen der Erlöser saß, als ihr aufmerksamer Zuhörer. Es waren dieselben pharisäischen Schriftgelehrten, gegen welche er hernach so oft seine Reden richtete, schärfere Reden, als wir sie irgend sonst von ihm hören, in einem strengen Tone, voll harter und bitterer Vorwürfe, indem er jenen Lehrern sogar Schuld giebt, sie verwalteten die ihnen anvertraueten Schlüssel des 1

Jerem. 31, 33. Joh. 6, 45.

1 Lk 24,25 6–7 Vgl. Joh 6,45 (Zitat aus Jes 54,13 und Jer 31,33–34); 1Thess 4,9 38–2 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52

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Himmelreiches so, daß nicht nur sie selbst nicht hineinkämen, sondern daß sie auch Anderen wehreten, die gern hineingehen würden. Daß ihm aber eben dieses, was er hernach an ihnen tadelte, damals noch gar nicht sollte geahnet haben, können wir wohl nicht glauben. Denn unentwickelt war seine Einsicht in das göttliche Wort nicht mehr in dem Grade, weil ja schon Alle sich über seine Antworten verwunderten; und in einem Irrthum über ihren Werth, daß er damals, wie es wohl oft genug geht, ihn höher ange|schlagen haben sollte, als hernach, kann er wohl auch nicht seyn befangen gewesen. Denn ein solcher Irrthum, wenn wir in Beziehung auf das Göttliche ein Urtheil über einen Menschen fällen, aber ein unrichtiges, kann wohl nicht ohne Sünde seyn, und der Erlöser war uns nur in aller Schwachheit gleich, bis auf die Sünde, und wußte eben deßhalb mit einer uns unerreichbaren Sicherheit und Klarheit, was in dem Menschen sey. Da er nun als Mensch nicht anders, als auf dem Wege der natürlichen Fortschreitung sollte der vollkommenste und allein zuverlässige Dolmetscher des früheren göttlichen Wortes werden: so mußte auch der Sinn für die Wahrheit in Bezug auf dasselbe, und auf Alles, was damit näher zusammenhing sich zeitig und rein in ihm entwickeln. Wie könnte es also wohl anders möglich seyn, als daß auch schon damals, als er diesen Lehrern im Tempel zuhörte, sich in ihm ein Gefühl geregt hat, daß dasjenige nicht das Rechte sey, was sie der wißbegierigen Menge ihrer Zuhörer mittheilten, daß ihre Erklärungen über den göttlichen Willen, und die göttlichen Verheißungen nicht aus den Tiefen des göttlichen Wortes geschöpft, sondern wegen ihrer Oberflächlichkeit und Aeußerlichkeit mehr geeignet seyen, die Aufmerksamkeit der Menschen von dem Einen, was Noth thut, abzulenken, als darauf hinzuwenden. Gewiß müssen wir dies auf alle Weise glauben, und dennoch sehen wir, dieses Gefühl hat den Erlöser keinesweges so beherrscht, daß es ihn gehindert hätte, gern und beharrlich da zu seyn, wo sie das Wort Gottes nach ihrer Weise auslegten. Ja er hielt seine Gegenwart daselbst so wenig für etwas an sich Unfruchtbares und Gleichgültiges, daß er nicht einmal die natürlichste Veranlassung sich zu entfernen ergriff, indem er ja hätte unter den Ersten seyn können in der Reisegesellschaft seiner Eltern. Läßt sich wohl ein stärkerer Gegensatz denken zu der Handlungsweise derjenigen Christen, welche unsere Versammlungen zwar nicht verlassen, aber mit einer eigenmächtigen Auswahl und spröden Unterscheidung dabei zu Werke gehen, indem sie vorgeben, sie könnten sich da keines Segens, weder der Be|lehrung, noch der Erbauung erfreuen, wo, oft sogar nur in geringfügigen und unwesentlichen Dingen, von 27 Lk 10,42

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denjenigen Vorstellungen abgewichen wird, mit denen sie sich vertraut gemacht haben, und andere Ausdrücke gebraucht werden, als die ihnen geläufig sind? Straft nicht das Beispiel des Erlösers, das wir hier vor uns haben, solche Christen, daß sie nicht in seinem Sinne handeln? Ja, dies wird noch deutlicher, wenn wir auch dieses noch bedenken. Jene Schriftgelehrten mußten zugleich für ihr Ansehn unter ihrem Volke reden, und ihr Beruf war zugleich, einen gewissen Zustand der Dinge zu erhalten, der immer mehr zu verfallen drohte. Unter solchen Umständen konnte es ihnen denn leicht begegnen, zu diesem Zweck etwas auch gegen ihre Ueberzeugung, oder ohne dieselbe, zu sagen. Bei uns aber ist der Stand derjenigen, deren Amt darin besteht, den christlichen Gemeinen mit der Lehre zu dienen, so unfruchtbar von dieser Seite, und mit so vielen Mühen und Aufopferungen verbunden, daß wir immer Ursache haben, zu glauben, wer ihn ergriffen habe, der habe es um der Sache selbst willen gethan, und es sey ihm ein Ernst, zu dem Gedeihen des göttlichen Wortes etwas beizutragen. Wo nun die Worte des Herrn selbst und seiner Jünger gehört werden, und in ihrer Behandlung dieser Sinn waltet, da sollte irgend ein Christ, wenn er anders ein andächtiger Theilnehmer seyn will, ungesegnet bleiben müssen? Das wollen wir nicht glauben: wir müßten sonst die ersten und wesentlichsten Einrichtungen tadeln, welche Christus und die Apostel in seiner Gemeine geordnet haben, und von denen die unsrigen abstammen, und wir müßten einen unverhältnißmäßigen Werth legen auf das, was der Diener des Wortes zu demselben hinzubringen kann, daß er, wenn gleich nur irrig und nicht feindselig gegen dasselbe, es dennoch ganz könne verdunkeln und lähmen. Und mag auch häufig genug mit Recht geklagt werden über vielerlei Schwächen nicht nur, sondern auch innere Gesinnungen in denen, welche den Dienst des Wortes versehen: doch predigen sie ja nicht das Unreine; vielmehr muß es am meisten zurücktreten in den Stunden, wo ihre Gedanken nur dem | Worte Gottes folgen dürfen, und von demselben beherrscht werden. Soviel ist allerdings wahr, daß wir nicht Alle einander gleich verständlich seyn können, und gleich zugänglich; daß, wenn Einer etwas von dem Andern in das Innere seines Gemüthes lebendig aufnehmen soll, Beide in einem gewissen Grade müssen zusammenstimmen. Aber, wenn wir denken, je genauer desto besser, so laßt uns ja die Grenzen nicht zu eng stecken; sonst wird am Ende auch der Letzte, der Jedem übrig bleibt, ihm nicht genau genug verwandt seyn. – Solche Grenzen sind übrigens schon gezogen worden, durch göttliche Zulassung, so oft sich eine neue Kirchengemeinschaft in der Christenheit bildete. Wenn wir aber überzeugt sind, daß auch hier schon nicht selten menschlicher Eigensinn getrennt hat, was sehr wohl hätte können ver-

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einigt bleiben: so laßt uns ja nicht noch mehr Trennung veranlassen, und nicht auch hierdurch einer christlichen Versammlung untreu werden, und sie verstümmeln, der wir eigentlich angehören, uns selbst aber immer tiefer in eine Einseitigkeit verstricken, die uns unmöglich förderlich seyn kann. Nicht umsonst meine Geliebten, wird in der Schrift das Wort Gottes in seinem Wesen und seinen Wirkungen mit dem Lichte verglichen. Das Licht der Sonne strahlt farblos und rein auf uns herab, aber aus den irdischen Dingen bricht es nur hervor in dieser und jener Farbe, die indeß alle zu der Schönheit unserer Erde beitragen: wo sie in ihrer natürlichen Ordnung neben einander stehen, und in einander hinüberspielen, da sehen wir den Bogen des Friedens in vollkommener Schönheit prangen, und nur, wenn wir die verschieden gebrochenen Strahlen alle wieder vereinigen, ist das reine und ungefärbte Licht wieder hergestellt. So auch das Wort Gottes. Rein in seinem himmlischen Glanze hat es durch den Sohn Gottes auf der Erde geleuchtet, aber in Jedem wird es sein eigenes Licht, und bricht in eigener Färbung hervor. Die Schönheit der Kirche Christi besteht darin, daß in der Gemeinschaft der Gläubigen alle diese Farben friedlich | vereint sind, alle verschiedenen menschlichen Ansichten und Darstellungen des Einen Heils sanft in einander fließen. Das ist das Wahrheitsuchen in Liebe, und wenn es dann endlich gelingt, daß Jeder Alle versteht, und Alle Jeden, dann ist die Reinheit des himmlischen Lichtes durch das Zusammenfließen alles Verschiedenen ganz wieder hergestellt. II. Aber der Erlöser war nicht nur gegenwärtig in den Schulen der Schriftgelehrten, sondern er nahm auch vor vielen anderen Anwesenden einen genaueren Antheil an ihren Vorträgen, indem er theils fragte, theils zum Antworten sich hergab, und er antwortete so, daß Alle sich darüber verwunderten, weil nämlich aus seinen Antworten hervorging, wie genau er den Lehrern gefolgt sey. Auf die so erworbene genauere Kenntniß nun von ihrer Lehrweise und ihren Ansichten, gründete sich sein nachheriger strenger Tadel. Um nun auch dieses auf uns anwenden zu können, m. gel. Fr., müssen wir nur soviel uns bequemen: daß wir nicht bei der äußern Form stehen bleiben, und es mit dem Fragen und Antworten nicht allzubuchstäblich nehmen: denn so findet es freilich in diesen unsern Versammlungen fast nirgend jetzt statt. Aber was ist denn das Wesen alles Fragens, und zum Antworten sich Hergebens, als das Bestreben, in den Sinn der vorgetragenen Lehre tiefer einzudringen, und zwischen den Gedanken und An5–7 Vgl. z.B. Ps 119,105; 2Petr 1,19

11 Vgl. Gen 9,13–17

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sichten, welche der Lehrende mittheilt, und denen, welche der Hörende mitbringt, Uebereinstimmung und Verschiedenheit genauer zu bemerken, und die letzte wo möglich auszugleichen. Das nun können auch hier bei uns alle aufmerksamen Hörer, indem sie auf der einen Seite bei sich selbst weiter fragen, und sich bemühen, auf die Einwendungen, welche sie machen möchten, die Antwort des Lehrenden aus dem Zusammenhange seiner Gedanken und dem, was ihnen sonst von ihm bekannt ist, sich selbst zu geben, und indem sie auf der andern Seite sich vorstellen, wie er sie wohl fragen | würde über ihre Gedanken, und sich ihm zum Antworten hingeben. Wenn ich nun die Sache so betrachte: so finde ich auch in diesem Betragen des Erlösers das Gegentheil von der Handlungsweise vieler, zum Theil eifrigen, Theilnehmer an unsern Versammlungen, welche nämlich hintennach zwar auch eben so streng und scharf tadeln, wie der Erlöser als Lehrer die Pharisäer tadelte, aber jene thun es, ohne daß sie vorher eben so in dem rechten Sinne gefragt und geantwortet hätten, wie uns von ihm erzählt wird. Freilich können wir nicht von jedem Christen verlangen, daß er tief und gründlich in den Zusammenhang aller vorgetragenen Gedanken eingehe, und den Faden nicht nur eines einzelnen Vortrages, sondern der ganzen Amtsführung eines Lehrers festhalte. Wie sehr wünschten nicht alle Diener des göttlichen Wortes, daß alle ihre Zuhörer dies könnten! aber sie können es eben nicht Alle, und bei weitem nicht immer ist das die Schuld des Lehrers. Diejenigen nun, welche an diesem tieferen Eindringen gehindert sind, sey es nun innerlich oder äußerlich, mögen dies ja keinesweges zum Vorwand nehmen, unsere Versammlungen ganz zu verlassen, denn auch sie werden nicht leer ausgehen, sondern mehr oder weniger Segen davon tragen. Ist es nun mehr, so mögen sie sich dessen freuen, und Gott dafür danken, der sein Wort auf allerlei Weise segnet, und gewiß thun sie recht, wenn sie fortfahren, sich da Erbauung zu suchen, wo sie aus Erfahrung wissen, sie zu finden; aber wenn sie mit dem Bewußtseyn einer unvollkommenen Einsicht in die Meynung und Ueberzeugung des Lehrers, mit dem Bewußtseyn, daß ihnen noch Manches dunkel ist und unverständlich, sich doch befugt halten, ein Urtheil über ihn von sich zu geben, und ihn im Vergleich mit Andern zu loben und zu erheben: so thun sie unrecht, weil gar leicht eben in demjenigen, was sie sich nicht zur vollen Klarheit gebracht haben, etwas seyn kann, was sie mißbilligen würden, und es tadeln, wenn sie es recht kennten. So gab es unter den Zeitgenossen des Erlösers | viele Anhänger und Verehrer der pharisäischen Schriftgelehrten, welche diese Lehrer über Alles erhoben, ohne doch alle die verderblichen Irrthümer zu theilen, welche Jesus an diesen rügt. Aber sie hatten eben nicht gefragt und geantwortet, wie er. Wer aber weniger Segen findet

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bei einem Lehrer, wie es auch gewiß dem Erlöser ging, daß er sich nur in einer gewissen geschichtlichen Kenntniß gefördert fühlte, aber nicht sein Gemüth aufgeregt und belebt, – hat aber nicht Zeit oder Gelegenheit durch Fragen und Antworten auf den inneren Grund zu kommen, der mag einen solchen Lehrer meiden, wenn er kann, und sich einem andern zuwenden, denn Jeder muß für seine Seele sorgen auf das Beste; ein verwerfendes Urtheil aber über ihn zu fällen, hüte sich ein solcher. Denn wie leicht kann es seyn, daß gerade in dem noch nicht Verstandenen und in sich Aufgenommenen die Quelle des Segens sich würde eröffnet haben, wenn er nur tiefer hätte eindringen können. Und laßt uns bedenken, daß auch Christus über die Pharisäer nicht so streng und bestimmt würde abgesprochen haben, wenn er sie nicht durch Fragen und Antworten auf das Genaueste hätte kennen gelernt. Versteht mich also auch keinesweges so, m. a. Fr., als möchte ich gern die Diener des Wortes über allen Tadel erheben, und ihnen die Schrift und das Verständniß derselben gleichsam zum ausschließenden Eigenthum beilegen, oder das Amt der Predigt so hoch stellen, als ob keiner, der es nicht selbst betreibt, ein Urtheil darüber haben könnte, ob es gut oder schlecht verwaltet wird. Denn darüber, ob einer eifrig ist und treu, ob er die Person ansieht oder nicht, ob er sucht Jedem zu dienen, oder ob er herrschen will über die Heerde, ob er das Leben seiner Gemeine, so weit er Kenntniß davon erlangen kann, mitlebt, sich freut mit den Fröhlichen, und weint mit den Weinenden, oder ob er stumpf ist und gleichgültig bei dem, was sich zuträgt in seiner Gemeine, ob er für die ihm anvertrauete Heerde Dank und Fürbitte vor Gott darbringt, und nicht aufhört, sich Segen | zu erflehen für seine Amtsführung, oder ob er nur verrichtet, was sich gebührt, ohne daß sein Herz dabei ist, davon kann Jeder Erfahrung genug machen in Bezug auf den Diener des Wortes, dem er mit den Seinigen anvertrauet ist, und kann seine Erfahrung mit der Erfahrung Anderer vergleichen. Aber über die Reinheit und Richtigkeit einzelner Theile der Lehre in ihrem Zusammenhange mit den übrigen, über den eigentlichen Gehalt einzelner Ausdrücke im Vergleiche mit denen, an welche der Zuhörer sich selbst gewöhnt hat, über die Absichtlichkeit, womit etwas gesagt oder verschwiegen wird, im Vergleich mit der Art wie Andere es heraus heben oder zurückstellen, darüber kann nicht Jeder urtheilen, das leuchtet ein, schon aus der großen Verschiedenheit der Urtheile, welche wir hierüber beständig hören, leidenschaftlich und partheisüchtig 22 herrschen] herschen 21 Vgl. Apg 10,34; 2Chr 19,7 (zitiert in Eph 6,9)

24 Röm 12,15

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die Meisten, sorglos und oberflächlich Andere, und nur Wenige immer, die auf dem sicheren Boden einer genaueren Untersuchung ruhen. Und doch, m. gel. Fr., sind es nicht die Letzteren allein, welche von einem guten Gewissen können begleitet seyn? Müssen nicht alle Andere sich Vorwürfe machen, daß sie, ohne innere Befugniß, und ohne daß sie sich wohlüberlegt das Zeugniß geben können, es in Christi Namen zu thun, auf der einen Seite die Wirksamkeit derer stören, denen das Evangelium anvertrauet ist, und auf der andern Seite die Gewissen verwirren, und den ruhigen Fortgang des göttlichen Wortes in noch unbefestigten Gemüthern aufhalten? Ist wohl die Aehnlichkeit zu verkennen zwischen denen, welche so unbefugt über die Diener des Herrn urtheilen, und denen, welche über ihn selbst absprechen, und die Gemüther von ihm abwendig zu machen suchten, als verstände er die Schrift nicht, und lehre das Wort Gottes nicht recht? – So gewiß aber diejenigen lieber nicht laut und öffentlich über diese Gegenstände urtheilen sollten, welche sich die genauere Kenntniß nicht zu verschaffen wissen, zu der Jesus durch Fragen und Antworten gelangte, eben so sehr haben nun diejenigen, welche sich in diesem glücklicheren Falle befinden, die Pflicht auf sich, ihr Urtheil nicht zurückzuhalten. Wer seiner Sache so gewiß ist, wie der Erlöser es war, das Un|vollkommnere und Verkehrte so anschaulich darzulegen weiß, wie er, und zugleich sich selbst ebenso freimüthig der öffentlichen Prüfung hingiebt, und so siegreich aus derselben hervorgeht, wie er, für den ist es nicht nur ein Recht, welches er wohl befugt ist auszuüben, sondern es ist eine heilige Pflicht für ihn, wie auch der Erlöser sie als eine solche ansah, zu warnen vor denen, die an Kleinigkeiten saugen, aber was wesentlich ist für das Reich Gottes vernachlässigen, oder die auf irgend eine Weise die Schlüssel des Himmelreichs an sich halten, daß, soviel an ihnen ist, Niemand hineingehen kann, oder die Jesum zwar einen Herrn nennen, aber doch mehr sich selbst predigen, als ihn. Eben so eifrig aber sollen sie auch sein gutes Zeugniß ablegen von denjenigen, welche sie durch Frage und Antwort als getreue Haushalter kennen gelernt haben, eingedenk des Wortes Christi: was ihr den Kleinsten unter diesen nicht gethan habt, das habt ihr mir auch nicht gethan. Denn je größer die Zahl derjenigen ist, welche sich selbst des Urtheils begeben, um desto wichtiger sind die Urtheile: lobende sowohl als tadelnde solcher, die einen reiferen Verstand haben vom Worte Gottes, und doch nicht selbst zu denen gehören, welche berufen sind, am Worte zu arbeiten: viel vermögen diese, und sollen sie vermögen in der Gemeine, um sie zu läutern durch die Wahrheit, und zusam25–27 Vgl. Mt 23,23–24 27–29 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52 23; Lk 6,46 33–35 Mt 25,45

29–30 Vgl. Mt 7,21–

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menzuhalten durch die Liebe. So hat Johannes der Täufer Christo Viele zugeführt durch sein Zeugniß; so hat gewiß Christus Viele gerettet vom verkehrten Wege, und für das Reich Gottes zubereitet durch seine strengen Urtheile über die pharisäischen Schriftgelehrten. So hat die Läuterung der Lehre zu den Zeiten der Kirchenverbesserung viel Fortgang gewonnen durch das beistimmende Urtheil verständiger Laien; vor Allem aber durch das frommer und wohlunterrichteter Fürsten; und zu keiner Zeit werden die treuen Arbeiter im Evangelio in unserer Kirche dieser wichtigen Hülfe entbehren wollen. Aber nur solche können sie leisten, die sich lange und reiflich bereitet haben durch Fragen und Antworten im Geist, und redlich bemüht gewesen sind, Allen Alles zu seyn. Denn dieses heißt keinesweges seine eigen|thümliche Ueberzeugung aufgeben, um Anderer willen, davon war Niemand weiter entfernt, als der große Apostel, der jenes Wort gesprochen hat. Wohl aber gehört dazu, daß, wenn Jemand anders denkt, als wir selbst, wir zuerst soviel als möglich er selbst zu werden, und uns in seine eigenthümliche Art und Weise hineinzudenken, und zu fühlen suchen, und dabei voraussetzen, daß unbeschadet der Einen Regel, nach der wir Alle einhergehen wollen, doch verschiedenen Seelen auch verschiedene Darstellungen des Einen Heils förderlich und angemessen sind. So suchte auch der Erlöser sich in die Denkart der Pharisäer hinein zu fragen und zu antworten, darum bewunderten sie seinen Verstand; aber indem er nur hierauf ausging, erkannte er doch um so leichter und sicherer das Verkehrte in ihrer Denkungsart. Eben so nun wird auch zu jeder Zeit nicht nur jedes Urtheil über die Auslegung und Verkündigung des göttlichen Wortes, welches von diesem wohlmeynenden Bestreben ausgeht, sich als verständig geltend machen, sondern diesem Bestreben wird auch dasjenige niemals verborgen bleiben, was nicht auf dem Einen und ewigen Grunde steht, den Christus selbst gelegt hat. Es ist aber noch Eines, m. A., was ich mit wenigen Worten bemerken will, bei Gelegenheit der Fragen und Antworten des Erlösers. Unter den Lehrern, mit denen er sich so einließ, gab es gewiß auch solche, denn keiner Zeit hat es daran gefehlt, welche Meister waren sowohl in der schneidenden Schärfe, als auch in der milden Anmuth der Rede; und wie der Erlöser selbst in der Folge seine Reden sowohl durch scharfe und schneidende Worte belebte, wo es ihm angemessen schien, als auch mit schönen und glänzenden Bildern schmückte, so kann es ihm auch nicht an Gefühl für diese Vollkommenheit der Rede gefehlt haben. Wenn nun aber dieses ihn niemals so bestach und überwältigte, daß er darüber verstummt wäre, und des Fragens und Ant12 1Kor 9,22

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wortens vergessen hätte: so zeigt er sich hierin besonders lehrreich für diejenigen unter uns, seyen es nun Viele oder Wenige, denen bei unsern christlichen Zusammenkünften | eben diese Schönheit und Vollkommenheit der Rede fast die Hauptsache zu seyn scheint. Ich bin weit davon entfernt, diesem Vorzuge seinen Werth streitig machen zu wollen; auch würde ich mich dadurch in Widerspruch setzen mit der ganzen christlichen Kirche, welcher es immer zur Freude gereicht, wenn bei einem Lehrer des Evangelii zu der Erkenntniß und Kraft des göttlichen Wortes auch die äußere Schönheit und Anmuth der Rede sich gesellt. Wie man ehedem diejenigen, die so begabt waren, mit besonderen Beinamen ehrend bezeichnete: so sehen wir auch jetzt noch allgemeine Trauer, wenn ein Mund verstummt, der die Stätten unserer christlichen Erbauung durch eine würdige Wohlredenheit in einem vorzüglichen Grade zierte.1 Aber das dürfen wir niemals vergessen, daß hier die Sprache nur das Mittel ist, dasjenige darzustellen, und auf Andere überzutragen, wovon das Herz erfüllt ist, ein mangelhaftes Mittel – denn wer fühlt es nicht, daß unausgesprochene Seufzer mit denen der Geist sich zu Gott erhebt, oft reicher sind und inhaltschwerer, als die schönste Rede – aber bei allen Mängeln doch ein unentbehrliches, weil wir uns nur durch dieses vernehmlich machen, und weil nur durch den richtigen Gebrauch der Rede unser gemeinsamer Gottesdienst ein vernünftiger wird. Der Inhalt also des menschlichen Wortes, in welchem sich das Göttliche verbreitet, und es durchdringt, ist die Hauptsache; und aller Beredsamkeit bleibt nur der untergeordnete Dienst zugetheilt, die Aufmerksamkeit auf den Inhalt festzuhalten, und einzelne Theile desselben auszuzeichnen; an und für sich aber glänzen, und Bewunderung erwerben soll sie hier nicht. Wer sich aber durch sie so fesseln läßt, daß er den Inhalt darüber vernachlässigt, für den wäre es besser, damit er doch vielleicht die Wahrheit höre, er hörte sie aus keinem beredten Munde. Dem Erlöser, m. a. Fr., gab auch das Volk, unter dem er lebte, das Zeugniß, daß er gewaltig lehre, und ganz anders als die Andern. Dar|unter mögen Manche wohl verstanden haben, jene ungeschwächte und ungetrübte Kraft der Wahrheit und der Liebe in den Reden des Erlösers, denn diese üben allein eine eigentliche Gewalt aus auf die menschliche Seele, Andere aber mögen darunter auch wohl nur die Schönheit und das äußerlich Anziehende gemeynt haben, wodurch sich die Reden 1

Diese Predigt wurde nicht lange nach dem Hinscheiden unsers Hanstein gehalten.

11–14 Anspielung auf das Ableben Gottfried August Ludwig Hansteins (7.9.1761– 25.2.1821), der seit 1805 Propst an der St. Petri-Kirche gewesen war. Vgl. dazu oben Einleitung I.1. 30–32 Vgl. Mt 7,29; Mk 1,22; Lk 4,32

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des Erlösers gleichfalls auszeichneten. Fragen wir uns aber, welche von Beiden wohl mögen seine treuen Jünger geworden und geblieben, welche aber wieder hinter sich gegangen seyn: so werden wir wohl unbedenklich antworten, daß diejenigen gewiß werden am festesten gehalten worden seyn, die gleich anfänglich von dem inneren Gehalt seiner Reden vorzüglich angezogen und gelockt wurden. Denen hingegen, welche nur den anmuthsvollen und glänzenden Redner suchten, kann leicht gerade ihres wesentlichen Inhaltes wegen manche seiner Reden zu hart gewesen seyn, so daß sie ihn wieder verließen. Eben so wird es auch uns immer ergehen. Unser wahres Bedürfniß ist immer dieses, daß uns das Verständniß des unerschöpflichen Wortes Gottes immer mehr aufgeschlossen werde, und wir immer besser lernen in demselben die Richtschnur unseres ganzen Lebens zu finden. Wenn wir nun glauben, daß wir dies Bedürfniß da nicht befriedigen können, wo die Schönheit und der äußere Schmuck der Rede fehlt, so geht uns etwas Anderes und Geringeres über das Eine, was Noth ist; und wenn wir da, wo diese äußeren Vorzüge sich finden, so von denselben gefangen genommen werden, daß wir darüber vergessen, tiefer einzudringen in den Sinn einer Rede, durch welche uns das Wort Gottes soll erläutert werden, so können wir auch nicht, wie der Erlöser in seiner Jugend, mit dem Alter zunehmen an Weisheit, ja wir sind nicht einmal auf dem Wege zu dem Ziele, welches zwar Keiner jemals erreicht zu haben sich rühmen kann, dem wir uns doch aber immer nähern müssen, daß wir nämlich erstarken sollen im Geist zu der Vollkommenheit des männlichen Alters Christi.1 | Und nun, m. g. Fr., laßt mich nur noch Eins hinzufügen. Wie Alles, was ich auf Anlaß der Erzählung unsers Textes gesagt habe, darauf beruht, daß aller Segen unserer Versammlungen, von der Kraft des göttlichen Wortes ausgeht, aber daß auch wiederum diese ganz wesentlich an die Gemeinschaft der Gläubigen gebunden ist: so hängt damit auch dieses zusammen, daß, wenn hier Alles ist, wie es seyn soll, alsdann nicht etwa nur die Hörenden gefördert werden und erbaut, sondern eben so auch der Redende. Wenn ihr euch hier, wie wir ja auch immer zu beten pflegen, durch wahre Andacht gegenseitig unter einander erweckt, so werden auch wir mit erweckt, und in der Kraft der Gemeinschaft ergriffen. Wenn eure andächtige Aufmerksamkeit unserer Erklärung der Schrift folgt, und wir die Erfahrung machen, daß ihr mit Fragen und Antworten im Geist euch beschäftiget, so empfangen wir einen sich immer erneuernden, erfrischenden 1

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Eindruck von eurem Verlangen, welches sich dem göttlichen Wort zuwendet, und dieses drängt und treibt uns dann bei unseren einsamen Beschäftigungen mit dem göttlichen Wort, und wirkt befruchtend auf dieselben ein, weil wir dabei um so mehr unsere Gemeine vor Augen und im Herzen haben. Und so können wir sagen, daß auch wir durch euch immer besser zugerichtet werden zum Dienste des Amtes; wie denn auch die Erfahrung auf der andern Seite genugsam zeigt, daß wenn es einem von uns an diesem Segen der Gemeinschaft fehlt, alsdann auch sein Eifer und seine Tüchtigkeit eher abnimmt. So laßt uns denn immer zum gemeinsamen Leben in treuer Liebe verbunden bleiben, dann werden wir auch mit einander wachsen, wie der Knabe Jesus, an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen. Amen. Schl.

[Liederblatt vom 4. März 1821:] Am Sonntage Estomihi 1821. Vor dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Herzlich lieb hab ich dich, o Herr, / Ich bitte laß mein Herz nicht leer, / Von deiner Gnade Gaben! / Die ganze Welt erfreut mich nicht / Nach Himm’l und Erde frag ich nicht, / Wenn ich nur dich kann haben. / Wenn auch mein Herz im Tode bricht, / Bist du doch meine Zuversicht, / Mein Tröster der mich hat erlöst, / Und auch im Tode nicht verstößt. / Herr Jesu Christ, / Mein Herr und Gott, mein Herr und Gott, / Hilf mir im Leben und im Tod. // [2.] Es ist ja dein Geschenk und Gab, / Mein Geist, mein Leib und was ich hab, / In diesem armen Leben. / Daß ich es deinem Lobe weih, / Dem Nächsten damit nüzlich sei, / Wollst du mir Gnade geben. / Behüt mich Herr vor falscher Lehr, / Daß sie mich nicht von dir abkehr’, / In aller Trübsal stärke mich, / Daß ich sie trage williglich. / Herr Jesu Christ, / Mein Herr und Gott, mein Herr und Gott, / Hilf mir auch in der lezten Noth. // [3.] Laß deinen Engel bei mir sein, / Der mich nach überstandner Pein / Zur Ruh des Himmels trage. / Den Leib laß sanft im Grabe ruhn, / Bis du einst kommst es aufzuthun, / An jenem lezten Tage. / Alsdann vom Tod erwecke mich, / Daß meine Augen sehen dich, / In aller Freud, o Gottes Sohn, / Mein Heiland und mein Gnadenthron! / Herr Jesu Christ, / Erhöre mich, erhöre mich, / Ich will dich preisen ewiglich. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. O daß ich tausend etc. [1.] Den Höchsten öffentlich verehren, / Und in sein Haus mit Freuden gehn, / Um andachtsvoll sein Wort zu hören, / Und ihn lobpreisend zu erhöhn; / Hochheilig sei dir diese Pflicht, / Vergiß, o Christ, vergiß sie nicht! // [2.] Wenn

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du Gott in der Stille ehrest, / Und Jesum deinen Heiland nennst, / Doch Gott nicht öffentlich verehrest, / Nicht Jesum vor der Welt bekennst: / Bist du denn sein? Bist du ein Christ, / Der seinem Heiland dankbar ist? // [3.] Wer sich der Andacht leicht entziehet, / Wer an dem Gott geweihten Tag / Aus Trägheit die Versammlung fliehet, / Sich nicht erbaun mit Brüdern mag, / Entzieht sich einer heilgen Pflicht, / Und sorgt für seine Seele nicht. // [4.] Wie sehr bedarfst du heilger Lehren, / Um ihres Trostes dich zu freun, / Um deine Einsicht zu vermehren, / Dir deines Wegs bewußt zu sein. / Wie leicht erlischt des Glaubens Licht, / Sorgst du für seine Nahrung nicht. // [5.] Wie schwach sind unsres Geistes Kräfte, / Wie schwach Erkenntniß und Verstand ! / Wer sich zum seligen Geschäfte / Der Andacht brüderlich verband, / Fühlt der sich nicht gestärkt in Kraft, / Die Glauben wirkt, der Heil’gung schafft? // [6.] Hat nicht oft hohen Trost empfunden, / Der Christ, der, Herr, dein Wort gehört? / Sind nicht voll Segens ihm die Stunden, / Wo er anbetend dich verehrt, / Und um das Ewige bemüht, / Sich dem Geräusch der Welt entzieht, // [7.] Kommt, fromme Christen, theure Brüder, / Vereint im Geist vor Gott zu stehn! / Kommt wir sind Eines Leibes Glieder, / Kommt unsern Schöpfer zu erhöhn! / Frohlockend preiset Jesum Christ, / Der hierin auch uns Vorbild ist. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Komm o komm etc. Was ich lese laß mich merken, / Was ich höre laß mich thun ! / Wird dein Wort den Glauben stärken, / Laß dabei es nicht beruhn; / Schaff auch daß, von Sünde frei, / Sinn und That ihm ähnlich sei. //

Am 11. März 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Invocavit, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 23,34 Nachschrift; SAr 60, Bl. 49r–53v; Woltersdorff Keine Keine Beginn der bis zum 20. April 1821 gehaltenen Predigtreihe über die letzten Worte Christi am Kreuz (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Am 1. Sonntag in den Fasten Invocavit. Lucas 23. v. 34 Wir beginnen heute die Zeit welche besonders der Betrachtung des leidenden Erlösers geweihet ist. – Ich habe beschlossen in diesen Sonntagen unsere gemeinsame Erbauung aus den letzten Worten des Heilands am Kreuz gesprochen zu entnehmen. Indem wir sie uns der Reihe nach vorhalten wollen, lasset uns heute das Erste betrachten. Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun. Auf den bitteren Spott mit welchem dem leidenden Erlöser begegnet wurde beziehen sich seine Worte. Lasset uns ihren reichen Inhalt so wie es die Kürze gestattet erwägen und 1. Sehen was die Worte: „Vater vergieb ihnen“ in dem Munde des Erlösers sagen 2. den Grund kennenlernen, worauf der Erlöser sagt: „sie wissen nicht was sie thun“. –

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[1.] Wir fühlen alle, daß diese Worte zusammenhängen mit dem Uebel in der Welt, mit der Sünde – und wissen es daß das meiste Uebel hervorgehet aus der | Sünde, die dem menschlichen Geschlechte aufs innigste verbunden. Eben so wissen wir auf der andern Seite daß sie da gesprochen, wo in den einzelnen Gemüthern schon Fragen gekommen. – Der Gewalt der Sünde ist die Strafe, und dem Schmerz der Sünde die Vergebung gegeben. 1 Invocavit] Invocafit

22 gegeben.] Im Manuskript folgt eine Leerzeile.

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Ob bei dem Erlöser nun diese Worte darauf bezogen – ob er bei Gott für die Sünden der Menschen um Vergebung gebeten, damit die Strafe ihnen entginge, das laßt uns aufsuchen. Sein ganzes Bestreben war darauf gerichtet gewesen die Menschen frei zu machen vom Gesetz – sie hinzuführen zum ewigen Leben, ihnen zu zeigen die Liebe Gottes, die sich so reichlich verherrlicht an denen die an ihn glauben. In dem Gefühl dieses ewigen Lebens, welches er selbst hatte, verschwand ihm der Unterschied des äußeren Wohlergehens oder Uebelbefindens – und wie er niemals damals | gestrebt irdisches Wohlergehen zu verbreiten, wie er stets mit Gelassenheit über seinen irdischen Zustand gesprochen, so müssen wir gestehen, eben so wie sein Gefühl gegen sich selbst war, muß auch sein Mitgefühl gewesen sein. – Wer sich selbst auf die rechte Art liebt, der kann auch seinen Bruder nicht anders lieben. Aber weil das ganze Leben des Erlösers darauf gerichtet war, das ewige Leben zu verbreiten – kann er auch nicht der Strafe gedacht haben – daß der Ausbruch des Bösen gehemmt werde – denn das ewige Leben wird durch das Dasein des Bösen nicht geleitet noch gefördert. Indem es im Innern beschlossen wird, auch ohne Ausübung schadet dem Ewigen. So nun können wir in dem Worte des Erlösers weder den Wunsch noch die Bitte finden, – „nimm ihnen die Strafe ihrer Sünden“ – wissend und fühlend daß der Erlöser das ewige Heil der Menschen im Auge gehabt. Wie viel größer ist dieses. – Sollten wir glauben der Erlöser würde bei dem Geringen stehen bleiben? – Sein liebender Sinn hatte oft in die | Zukunft geblickt – seine mitleidige Seele alle umfassen wollen – er hatte sie sammlen wollen, er hatte sie aber nicht aufgenommen. Aber auch sie wollte er so zusammenhalten – indem er sagte: „Vater vergieb ihnen“ flehete er: „verschließ ihnen nicht die Quelle des Heils um ihre Missethat“ – „Indem sie sich wenden von mir laß ihre Seele nicht so ganz verstockt sein, daß sie nicht noch könnten gerührt und ergriffen werden von dem ewigen Ziele, welches der Vater ihnen bereitet in der Sendung des Sohnes.“ Das war der Sinn seiner Worte, und so sollen auch wir flehen. So lange es möglich ist daß sich Menschen können dem Wachsthum des Guten entgegensetzen – daß sie jedes scheinbaren Sieges sich freuen, welchen das Böse über das Gute gewinnt – daß sie eben so triumphiren wie die Freunde des Erlösers – müssen wir sie noch erkennen | als solche die den Herrn nicht erkannt haben. Wer nun wahrhaft sein Leben dem Erlöser gereicht, wer den Glauben an ihn als seinen größten Schatz bewahrt – und so gesinnet ist wie Jesus Christus, der kennt auch für seine Brüder kein größeres Uebel als diese Entfernung vom Heile. Aber nur wenige kommen gerade so wie der Erlöser im letzten Augenblicke des Lebens dahin diese hohe Liebe zu üben – mitten im Laufe des Wirkens oft, im Kampfe des Lichtes und der Finsterniß, tritt sie zu uns diese 8 Uebelbefindens] Uebelbefinden

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Versuchung und Gewalt der Liebe, denn wer sich nicht überwinden läßt sondern das Böse mit Gutem überwindet, und die Macht welche ihm Gott gegeben über die Gemüther – nicht anders anwendet als zur Erbauung seines Reiches auf Erden – o der wird dann nicht nur den Wunsch in sich fühlen: „Vater verschließe ihnen nicht die Quelle des Heils“ – sondern alles beitragen um die zu | gewinnen die noch Freunde des Erlösers sind. Aber wir vermögen nur von dem Zustande der Menschen diese Ansicht zu haben wenn wir die Ueberzeugung gewinnen 2. „sie wissen nicht was sie thun“ – Der Erlöser ist uns nicht nur der Weg, sondern auch das Licht und die Wahrheit. In seinen Worten müssen wir die Wahrheit überall voraussetzen. – Wir pflegen wol es für Etwas Gutes zu halten die Fehler unserer Brüder zu verringern, und vergessen zu machen bei unsern Nebenmenschen, sie leichter darzustellen, daß die welche sich gewöhnt überall streng zu richten[,] ihr Urtheil mildern – und wir thuen recht daran – deshalb weil im entgegengesetzten Falle wir leicht veranlaßt werden über unsere Grenze hinauszugehen. Aber der Erlöser könnte so nicht gehandelt haben – es könnte seine Seele | nur das treffen was wirklich dem Ewigen gehörte. Wir müssen sie also ansehen als die strengste Wahrheit seines Gefühls. – Aber was heißt das? „sie wissen nicht was sie thun“ – wissen sie wirklich nicht was sie thun[,] so hat das Vorstehende „Vater vergieb ihnen“ – wol Beziehung darauf. Manches scheint auch uns aus dem Zustande der Bewußtlosigkeit ergangen zu sein, aber nicht alles aus Verdunkelung des Verstandes. Welches sind die Fälle? Wenn der Mensch gegen sich selbst, indem sein Nächster sündigt, und es uns nicht erscheint als Sünde gegen Gott – ihn entschuldiget, – so kann er mit klarem Bewußtsein das Sündige übersehen –. Sobald wir aber die Sünde erkennen als Sünde gegen Gott – dürfen wir kein Gelingen der Beseitigung erwarten – denn es ist nicht möglich daß der Mensch sich jemals gegen das richten kann | was die Vorsehung beschlossen. Hierin liegt der Irthum der Widersacher – denn ihre Absicht war es die Folgen der Erscheinung des Herrn gänzlich zu verlöschen. Da sie nun den Heiland nicht erkannten als Gottes Sohn, wurde es in ihnen mehr eine persönliche Feindschaft. Aber der Erlöser vermochte nicht, dadurch sich zu trennen von seinem göttlichen Beruf – er betrachtete seine Widersacher in ihrem Verhältniß gegen Gott. Indem der Mensch sich dem entgegenstellt, was der Beschluß des Höchsten ist, so weiß er nicht was er thut – dies muß in uns zur Ueberzeugung werden. Wer sich überredet vollkommen zu 8 gewinnen] Im Manuskript folgt kein Absatz. 1–2 Vgl. Röm 12,21

10 Vgl. Joh 14,6

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sein, wenn er immer das Böse zum Guten führet, der wird noch weit entfernt sein von dem Wahren. Das aber soll unser Bestreben sein alles Böse, was dem Reiche Gottes | zuwider geschieht, anzusehen, als indem Grade aus Unwissenheit ergangen, daß die Menschen den Willen Gottes, die Hand des Allmächtigen nicht darin erkannten. Denn das dürfen wir doch nicht annehmen daß auch nur Einer sich in Feindschaft setzen wollte mit dem Höchsten. Aus diesem Gesichtspunkte laßt uns die Worte betrachten: „sie wissen nicht was sie thun“ – weil wir nur dadurch dem Erlöser ähnlich werden können – von dem Gefühle seiner Liebe durchdrungen, gestärkt zur treuen Nachfolge – daß wir, uns selbst vergessend, den Willen des Herrn den wir erkannt, ohne uns stören zu lassen durch Verkennen, Schmähungen und Kränkungen, ausüben wie sein Geist in uns es fordert! | Was uns dann Widriges geschieht, dürfen wir ansehen, als auch von Gott geschickt zu unsrer Prüfung, und zum Fest-Werden derer die auf uns sehen. Dann werden wir nicht nur den Wunsch der Vergebung in uns fühlen, sondern vom dunkelen zum hellesten Lichte gelangen – mit dem Gebet, die Augen öffnen zu können denen die noch draußen sind. Und dieses Verlangen soll uns geleiten unser Lebelang. Darin hat uns der sterbende Erlöser unterwiesen – und darin sollen wir ihm ähnlich sein – . Wenn wir so ihm nachfolgen dann wird es auch uns vergönt sein, zu vergeben, und so in die menschliche Seele hineinzuschauen.

21 ihm] ihn

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Am 11. März 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Invocavit, 9 Uhr Luisenstadtkirche zu Berlin Mt 4,1–11 (Sonntagsperikope) Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 2, 1824, S. 282–296 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 378–389; ²1844, S. 428–440 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 308–318 Predigten, ed. Urner, 1969, S. 97–100 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 71r–71v; Gemberg Besonderheiten: Keine

Die Versuchung Christi, in Anwendung auf unsern Zustand betrachtet.

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M. a. F. Wir beginnen heute wieder die allen Christen immer besonders gesegnete Zeit des Jahres, die dem Andenken an das heilbringende Leiden unsers Erlösers gewidmet ist. Dieses Leiden nun ist uns Allen nicht etwas Fernes und Fremdes; sondern wie der Herr gesagt hat: „Der Jünger ist nicht über dem Meister, und dem Knecht geht es nicht besser als dem Herrn,“ so ist es auch geschehen, daß, seitdem er gelitten hat, Jeder, der an ihn glaubt, und der sein Reich auf Erden fördern will, auch nach seinem Maße, sey es auch wenig und unbedeutend, zu leiden hat um eben des Guten willen, welches unser Herr und Erlöser gestiftet, und dessen Erwerbung er durch seinen Tod besiegelt hat. Daran hat uns auch unsere heutige Sonntagsepistel1 erinnert, worin der Apostel seiner Leiden für das Evangelium erwähnt, wie er sie denn auch anderwärts die Ergänzung der Leiden Christi2 nennt. Und wir mögen wohl sagen: seitdem der Herr erschienen ist, und, indem er gehorsam war, gelitten hat, theilen sich die Menschen, wie damals, in solche, die in seinem Dienste leben, und, wenn es Gottes heiliger Wille ist, darin auch leiden, und in solche, die, gleich denen, welche die Leiden und den Tod des Erlösers herbeiführten, | das 1 2

2 Cor. 6, 1–10. Kol. 1, 24.

7–8 Vgl. Mt 10,24; Lk 6,40; Joh 15,20

17 Phil 2,8; Hebr 5,8

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Reich desselben auf der Erde hemmen und stören, und Werkzeuge Gottes werden, um seinen Kindern die Leiden zu bereiten, durch welche er sie reinigen will. Damit wir aber nun, wie der Apostel es in unserer heutigen Epistel sagt, auch in dem, daß wir leiden, Niemanden zum Aergerniß gereichen, auf daß nicht unser Amt und Dienst verlästert werde, damit wir, wie er sagt, in allen Leiden erscheinen können als die Traurigen, aber allezeit fröhlich: o so müssen wir durch die Gnade des Herrn uns der Reinigkeit des Herzens zu nähern suchen, mit welcher er seinen Leiden entgegen gehen konnte, und die ihn in denselben stärkte und beruhigte. Diese ist es, m. g. F., die auch von jeher der Seinigen Trost und die einzige Quelle der Freudigkeit für sie gewesen ist; und zu dieser zeigt uns unser heutiges Sonntagsevangelium den Weg, welches uns eben in dieser Beziehung an die Versuchungen erinnert, die unser Herr erst hinter sich haben mußte, um mit fester Zuversicht den ihm vorgezeichneten Weg gehen zu können. Diese Versuchungen laßt uns jetzt mit einander zu unsrer Lehre und Erbauung näher betrachten. Text. Matth. 4, 1—11.

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Als dem Herrn begegnete, was hier erzählt ist, m. g. F., war, wie wir aus dem ganzen Berichte schließen können, Niemand zugegen, sondern er war allein in der Wüste. Es ist uns also auch die Kunde davon nur gekommen durch seine eigne Erzählung an seine Jünger; und wozu sollte er ihnen diese mitgetheilt haben, wenn es nicht gewesen wäre ihnen selbst zur Lehre und zur Warnung, damit sie sehen möchten, wie er in allen Dingen versucht worden ist, gleich wie wir, doch ohne Sünde. Und da der Versucher in allen seinen an ihn gestellten Forderungen, immer mit Hinweisung auf Stellen der Schrift, davon ausging: bist du Gottes Sohn, so thue dies oder das, so können wir, da ja auch wir an dieser Benennung Theil haben, und durch Christum Kinder Gottes sind, schon im Voraus und ohne nähere Betrachtung schließen, daß dies Alles Versuchungen sind, die auch den Kindern Gottes begegnen können, | wie sie dem Einigen Sohn Gottes begegneten. Und wie nun eben dies, daß der Herr den Versucher von sich wies, ohne zu unterliegen, gleichsam die letzte Weihe war zu dem großen Berufe, den er während seines öffentlichen Lebens zu erfüllen hatte, Beides im Lehren und im Leiden: so mögen auch wir uns vorhalten, daß uns gleichermaßen gezieme, Versuchungen dieser Art zu überwinden, damit in unserm Leben und Leiden der Dienst, den wir 18 Matth. 4, 1–11] Matth. 11, 1–11 3–7 Vgl. 2Kor 6,3.10

25–26 Hebr 4,15

38–2 Vgl. 2Kor 6,3

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unserm Herrn und Meister schuldig sind, nicht verlästert werde von den Menschen. So laßt uns denn zu unsrer Lehre und Erbauung diese Versuchung des Herrn betrachten mit Anwendung auf unser Aller Zustand in dieser Welt.

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I. Das Erste also war, daß, als den Erlöser hungerte, der Versucher zu ihm trat, und ihm sagte: Bist du Gottes Sohn, so mache, daß diese Steine Brod werden. Der Erlöser aber wies dies von sich, und antwortete: Der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Worte, das durch den Mund Gottes gehet. In eben diesem Sinne finden wir den Erlöser auch sonst überall handeln. Wie viel in seine Hände gegeben war, und was er, mit wunderbarer Kraft von Gott ausgerüstet, zu leisten vermochte, das wissen wir aus den mancherlei Geschichten, welche uns die Evangelisten aufbehalten haben; aber überall sehen wir, daß er die außerordentliche Macht, die ihm gegeben war über die Menschen und über die irdische Natur, nur zum Besten Anderer gebrauchte, und sie nie für sich allein und zur Befriedigung seiner irdischen Bedürfnisse in Anspruch nahm. Auch noch als die Stunde seines Leidens herannahte, sagte er zu einem seiner Jünger: weißt du denn nicht, daß ich hätte meinen Vater bitten mögen, und er würde mir gesandt haben Legionen Engel, die mir beiständen gegen meine Widersacher? Er hat das Gebet aber nicht gethan, weil er nie etwas Außerordentliches und aus dem gewöhnlichen Laufe der Natur Hinausgehendes zu seinem Vortheil oder zu seiner Erhaltung that oder begehrte. Als nun der Versucher zu Jesu sprach: Mache, daß diese | Steine Brod werden, so müssen wir wohl glauben, er habe gewußt, daß Jesus dies könne, und auch wisse, er könne es? – Bei uns, m. Gel., ist nun dies freilich anders und entgegengesetzt; denn wir wissen, daß wir dergleichen nicht können. Keiner von uns vermag sich selbst in irgend einer irdischen Noth anders zu helfen, als durch die Anwendung des bescheidenen Maßes gewöhnlicher Kräfte und natürlicher Hülfsmittel; und so scheint es freilich, als könnten wir in eine ähnliche Versuchung gar nicht geführt werden. Allein je weniger wir Außerordentliches selbst vermögen, m. g. F., um desto reicher ist in solchen Fällen unser Herz an Wünschen, die gewöhnlich noch abentheuerlicher als erfolglos, immer aber ihrer Natur nach eitel sind, und mit dem Sinne, der sich hier in Christo offenbart, streiten. Nicht nur solche, die mit ihrem ganzen Sinne nur an den Dingen dieser Welt hängen, sondern auch Viele, die wir sonst als wahre und treue Jünger unseres Herrn begrüßen mögen, sind dieser Schwachheit unterworfen, daß, wenn Einem näher oder entfernter irgend ein Lei19–20 Mt 26,53

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den bevorsteht, wovon er fürchtet, er selbst vermöge es durch die ihm zu Gebote stehenden Kräfte und Hülfsmittel nicht abzuwenden, die Seele sich dann mit Vorstellungen von allerlei Art beschäftiget, wie wohl Dieses oder Jenes sich ereignen könnte, um die drohende Gefahr abzuwenden, oder der schwierigen Angelegenheit einen frohen und glücklichen Ausgang zu geben; und je mehr die Seele sich damit beschäftigt, um desto leichter verwandeln sich diese leeren Vorstellungen in immer bestimmter und fester werdende Erwartungen, von denen das alte Sprichwort sagt: daß durch Hoffen und Harren Mancher in Thorheit versinke. Dies erscheint freilich, m. g. F., mehr als ein leeres und müßiges Spiel der menschlichen Gedanken und Einbildungen, als daß wir so leicht Sündliches daran erkennen, und nicht gern mögen wir uns gestehen, daß, wenn uns dies begegnet, wir schon einer von den Versuchungen unterlegen haben, von welchen in unserm Texte Erwähnung geschieht. Dennoch ist dem so, und nicht anders. Denn wenn wir fragen, worauf beruhen denn solche Erwartungen außerordentlicher gött|licher Hülfe, wenn wir uns in irgend einer äußern Noth und Verlegenheit befinden, anders, als darauf, daß wir auf unser eigenes Daseyn, auf unser ungestörtes Wirken in der Welt, einen solchen Werth legen, daß wir meinen, der Herr müsse wohl schon ohne unser Wissen den Lauf der Welt so eingerichtet haben, oder vielleicht gar, denken wir, plötzlich so hineingreifen, daß wir Beschämungen, Störungen, oder was sonst doch Andern nicht selten begegnet, gar nicht zu erfahren bekommen? Sind das nicht Einflüsterungen der Eitelkeit, – nicht Versuchungen der Selbstgefälligkeit, denen wir schon untergelegen haben, wenn solche Vorstellungen herrschend in uns werden? Doch noch mehr muß uns das Sündliche davon einleuchten, wenn wir bedenken, wie oft solche Erwartungen mit der gleichen Zuversichtlichkeit die Gestalt des Gebetes annehmen, und wir also, statt von dem Worte zu leben, was aus dem Munde Gottes geht, lieber durch ein Wort aus unserm Munde erst den göttlichen Rathschluß bestimmen möchten. – Und was ist nun die Folge, wenn solche Erwartungen, ohnerachtet ihrer Nichtigkeit, doch, wie allerdings bisweilen geschieht, erfüllt werden? Nichts Besseres natürlich, als sich von dem Fleische erndten läßt: Thorheit und Verderben, gesteigerte Selbstgefälligkeit und geistlicher Hochmuth. Hingegen, wenn sie getäuscht werden, was anders, als dem gemäß, eine Niedergeschlagenheit des Herzens, die dann eben so groß wird, als die Erwartungen der göttlichen Hülfe kühn und sicher waren, eine Unzufriedenheit mit Gott, durch welche der reine Sinn, in welchem der Christ die Leiden, die 34–35 Vgl. Gal 6,8

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Gott über ihn verhängt, übernehmen und tragen soll, gar sehr getrübt wird, so daß gewiß Jedem, der in ein solches Herz hineinschauen könnte, allerdings ein Aergerniß gegeben, und der Dienst des Evangeliums gelästert wird, indem die Kinder dieser Welt mit Recht sagen können, daß, wer sich zuerst so geschmeichelt hat, und sich hernach so getäuscht fühlt, eben so sehr an den Dingen dieser Welt hängt und von ihnen beherrscht wird, als die, welche offenbar nach nichts Anderem streben, als die | Freuden dieser Welt zu gewinnen, und die Schmerzen derselben zu vermeiden. Wohlan denn, wie entgehen wir dieser Versuchung bei Zeiten, m. g. F.? Indem wir an das Wort des Herrn denken, durch welches er sie abwies: der Mensch lebt nicht vom Brod allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht. Ein Wort aber aus dem Munde Gottes, m. g. F., ist immer ein gebietendes Wort, ein heiliger Wille, dem wir uns zu unterwerfen haben. Und so weist uns also der Erlöser, durch die Art, wie er die Versuchung von sich entfernt, von dem Gefühle unsers Bedürfnisses und der Hülfe, die wir demselben gern geleistet sähen, zurück auf den Willen Gottes an uns, den wir zu befolgen haben. Und an dem, m. g. F., kann es uns niemals fehlen; immer haben wir etwas im Dienste des Herrn zu thun, kein Zustand der Entbehrung kann so bitter, kein Leiden so kränkend seyn, daß wir nicht während desselben und durch dasselbe den Herrn verherrlichen könnten. So wir hierauf sehen bei Allem, was uns in der Welt bevorsteht: so werden sich auch die Gedanken eines frommen Herzens gar bald von der kühnen und unberechtigten Erwartung göttlicher Hülfe hinwenden zu der Betrachtung des göttlichen Gebots und des uns geziemenden Gehorsams, und zu der Bitte um den Beistand seines Geistes, den Gott Keinem versagt, damit wir, was er uns zu leiden auflegt, nicht nur würdig ertragen, sondern auch zu seinem Dienste und zu seiner Ehre verwenden. Und wenn wir so unser Herz zurückhalten von eiteln Wünschen und Erwartungen, und uns hinwenden zu dem göttlichen Willen, in dessen Erfüllung der Friede des Herzens allein ruht: dann werden nach glücklich überstandener Versuchung auch zu uns die Engel Gottes treten und uns dienen, welche hülfreich vom Himmel auf die Erde herniederschwebten zu des Menschen Sohn. II. Die zweite Versuchung in unserer Erzählung bestand darin, daß der Versucher den Herrn in die heilige Stadt führte, und, indem er ihn auf die Zinne des Tempels stellte, zu ihm sprach: „Bist du Got22 während] wärend

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tes Sohn, so laß dich hinab; denn es | stehet geschrieben: er wird seinen Engeln über dir Befehl thun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Soll uns nun deutlich werden, was der Versucher mit dieser Zumuthung wohl eigentlich gemeint habe: so müssen wir bedenken, daß der Tempel in Jerusalem mehrere Male des Tages umlagert war von einer großen Menge von Menschen, und eine solche Tageszeit sollen wir wahrscheinlich im Gedanken haben bei dieser Geschichte. Da würde es allerdings ein Wunder gewesen seyn vor Aller Augen, wenn plötzlich von der höchsten Zinne herab Jesus unbeschädigt zur Erde gekommen wäre. Jedermann würde gesagt haben: das habe nicht anders geschehen können, als durch den mächtigen Arm des Herrn und den Dienst seiner Engel. Durch eine solche That also hätte sich der Herr vor einer großen Menge von Menschen beglaubigen können, und auch die Bedächtigsten würden dann wohl nicht länger gezweifelt haben, für wen sie ihn zu halten hätten. So hatte es der Versucher wohl gemeint, m. g. F.; aber der Herr wies die Genugthuung von sich, und sprach: „Wiederum stehet auch geschrieben: du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen.“ In diesem Sinne nun hat unser Erlöser in seinem Leben immer gehandelt, niemals etwas gethan, was, an sich und unmittelbar ohne Nutzen und ohne bestimmte Beziehung auf seinen heiligen Beruf, nur die Absicht hätte haben können, die Aufmerksamkeit der Menschen auf ihn zu ziehen. Nie hat er sich seines gerechten Vertrauens auf den göttlichen Schutz, das ihn gewiß auch in keinem Augenblick seines Lebens würde im Stiche gelassen haben, dazu bedient, um vor den Augen der Welt mit irgend etwas Außerordentlichem zu prunken. Vielmehr finden wir, daß wenn er auf irgend eine Weise immer, ohne es zu wollen und ohne es zu suchen, die Aufmerksamkeit der Menschen durch etwas Aeußeres auf sich gezogen hatte, so suchte er dem so geschwind als möglich zu entgehen, und sich in die Stille zurückzuziehen. Waren sie ergriffen von seinen wunderbaren Thaten, und rotteten sich zusammen, daß sie ihn zum Könige ausriefen: so verbarg er sich und entzog sich | ihren Augen. Forderten sie aber ein himmlisches Zeichen von ihm, wenn sie seinem Zeugniß von sich selbst glauben sollten, so nannte er sie ein verkehrtes Geschlecht. War er mitten von seinen Feinden umgeben, und sie drängten ihn, daß sie ihn griffen und ihn steinigten: weit entfernt durch irgend eine wunderbare That sie umzustimmen, oder sie seine Gewalt fühlen zu lassen, that er nur, was jeder Andere auch würde 32–33 Joh 6,15 33–36 Vgl. Mk 8,11–12 2 Vgl. Joh 8,59; 10,31.39

35–36 Vgl. Mt 17,17; Lk 9,41

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gethan haben, verbarg sich unter die Freunde, die ihn umgaben, und entzog sich so dem Anblick derer, die ihm drohten. Und so, m. g. F., sollen denn auch wir handeln; wie es denn Keinem unter uns in seinem Leben leicht fehlen kann an ähnlichen Versuchungen, wie die, welche uns hier die Geschichte des Erlösers darstellt. Denn die Möglichkeit, so versucht zu werden, hängt nicht an wunderbaren Kräften, wie des Erlösers, noch auch an einer besondern und ungewöhnlichen äußeren Lage, wie die seinige, sondern auch im alltäglichen menschlichen Leben kommt sie vor. Ja auch nicht einmal nur aus günstigen Umständen gehen solche Versuchungen hervor, sondern es giebt ein Prunken und Lautwerden auch mit Mangel und Noth, mit Schmerz und Leiden. Auch alles dieses können wir, je nachdem unser Sinn gestellt ist, entweder in Stille und Einfalt gebrauchen zum Dienste Gottes, oder wir können uns auch damit sehen lassen und davon Veranlassung nehmen, durch irgend ein Wagestück schmeicheln, die Augen der Welt in unserem Kreise, sey er nun groß oder klein, auf uns zu ziehen. Aber das Wort, an welches der Herr in unserem Texte erinnert: es stehet geschrieben, „du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen,“ das stehe uns dann immer vor der Seele, und gereiche uns zur Warnung, wenn wir selbst versucht werden von der Eitelkeit unseres Herzens. Da es dem Erlöser bei den Wundern, die er nicht that, um vor den Menschen zu glänzen, sondern aus Wohlwollen und Erbarmen, dennoch begegnete, daß die Menschen sagten, „er treibe die Teufel aus, nicht durch Gott, sondern durch den Obersten der Teufel“: dürfen wir glauben, daß sie es einstimmig würden auf Gottes Rechnung geschrieben haben, wenn er nun un|beschädigt von der Zinne des Tempels herabgekommen wäre? Und wenn dies irgend Jemandem gelungen wäre: würde wohl ein reines Herz in einer That ein göttliches Zeichen erkannt haben, die eben, als unnütz, eine Versuchung Gottes gewesen wäre? Nein, den Demüthigen giebt Gott Gnade, aber den Hoffärthigen widersteht er; und wer sich seiner Gaben, welcher Art sie auch seyn mögen, nur bedienen will, um damit vor der Welt zu glänzen und zu scheinen, der kann nicht anders als früher oder später davon die Erfahrung machen, daß der Herr den Hoffärthigen widersteht. Und auch das menschliche Gefühl stimmt hierin ganz mit dem göttlichen Gerichte zusammen. Denn jedesmal, wenn wir sehen, daß Jemand etwas unternimmt, was nicht innerhalb seines Berufskreises liegt, sind wir um so bedenklicher, je größer und schwieriger das Unternehmen ist. Liegt nun ein bedeutender Zweck dabei zum Grunde: nun dann glauben wir auch leichter an einen guten Geist, von dem der Antrieb ausgehe, und versagen nicht unsere guten 23–25 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15

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Wünsche und unsere Theilnahme. Wo sich uns aber der Verdacht immer mehr begründet, es sey mehr darum zu thun, Aufsehen zu erregen, sich selbst wichtig und bedeutend darzustellen: da freut sich auch Niemand des Gelingens; sondern je mehr Schwierigkeiten zu überwinden sind, um desto natürlicher und gerechter finden wir es, wenn, der sich in Gefahr begiebt, in derselben auch Schaden leidet, weil sein scheinbares Vertrauen auf Gott ein unberechtigtes ist, und ein Gottversuchen. Nur, m. Gel., daß das Niemand so verstehe, als wollten wir einer Feigherzigkeit das Wort reden, welche der Leichtigkeit, solchen Versuchungen zu unterliegen, als ein entgegengesetztes Uebel gegenübersteht. Denn gar vielfältig begegnen wir im Leben solchen Feigherzigen, welche, zumal wo es etwas Bedenkliches giebt, wo etwas von dem gewohnten Ansehen oder Wohlstande könnte auf das Spiel gesetzt werden müssen, sich gar zu leicht überreden, dies und jenes läge eigentlich außerhalb ihres Berufes, sie würden sich dadurch in eine fremde Arbeit eindrängen, es würde, von ihnen angefangen, ein Vorwitz seyn, durch | welchen sie nur Gott versuchten. Aber ein Christum liebendes, auf die Förderung des Reiches Gottes und alles Guten und Schönen in demselben gerichtetes Gemüth wird auch auf diesen Abweg nicht gerathen, und nicht, um mich nach einem Gleichnisse Christi menschlich auszudrücken, den Gärtner reitzen, daß er im Unwillen den Baum ausrotten lasse, der auf solche Weise die schönsten und besten Früchte versagt, die er tragen könnte. Ein solches Gemüth entzieht sich nicht dem, was zum allgemeinen Berufe aller Christen gehört, und unter dem Vorwande, daß es nicht zu seinem besonderen gehöre, und leicht unterscheidet es, was ein gottgefälliges Werk ist, wenn auch mit eigener Gefahr verbunden, und was, wenn es auch mit dem größten Vertrauen unternommen und mit Leichtigkeit ausgeführt wird, doch für nichts Anderes zu halten ist, als für leeren Prunk aus eitlen menschlichen Bestrebungen hervorgehend. Wenn wir das Erstere nie versäumen, so wird uns auch überall der Muth des Glaubens unterstützen; so wir aber in das Andere hineingerathen, so wird uns das Gefühl, daß wir auch mit dem Kleinsten, was in diesem Sinne gethan ist, Gott den Herrn versuchen, daß er sich lossage von dem, der nicht aufrichtig vor ihm wandelt, und nicht einfältigen Herzens das Seinige sucht, dieses Gefühl wird uns beschämen und zu Schanden machen, nicht nur vor uns selbst, sondern auch vor der Welt. III. Die letzte Versuchung war die, daß der Herr geführt wurde auf einen hohen Berg, und der Versucher ihm zeigte die Reiche der 5–6 Sir 3,27

21–24 Vgl. Lk 13,3–9

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Welt und ihre Herrlichkeit, und zu ihm sprach: „das Alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest.“ Wenn wir uns nun fragen: wie würde der Erlöser wohl die Gewalt über die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit angewendet haben, die ihm hier angeboten wurde, wenn er sie wirklich erhalten hätte, – so können wir doch nicht anders sagen, als: so, wie es dem Sohne Gottes geziemte, der ja nie aufhören konnte, der ewig treue Hirte zu seyn, der nur das Beste seiner Heerde sucht, und der Sohn, der im Hause seines Vaters schaltet, wie in dessen Namen, so auch in dessen Sinn, also Allen | zum Heile und zum Segen. Kein Anderer also könnte auch nur entfernt einen so wohlthätigen Gebrauch von dieser Gewalt gemacht haben, als er. Demohnerachtet aber, und gesetzt auch, eine irdische Macht hätte ihm auch sonst wünschenswerth seyn können, schon weil sie ihn und seine Jünger aller der schweren Kämpfe würde überhoben haben, welche sie noch in ihrem großen Berufe zu bestehen hatten: dennoch hätte er diese Macht nicht annehmen können aus den Händen des Versuchers, der sie ihm nur geben wollte, unter der Bedingung, daß Christus ihm Ehrfurcht und Huldigung bezeugte, daß er niederfiel und ihn anbetete; sondern zu dem mußte er sagen: „hebe dich hinweg, Satan; denn es stehet geschrieben, du sollst Gott deinen Herrn anbeten und ihm allein dienen.“ Auch bei diesem letzten Theile der Erzählung, m. Gel., steht uns der Erlöser, und was ihm begegnete, nicht so fern, als es auf den ersten Anblick scheint. Wenn uns auch nicht die Reiche der Welt in ihrer Herrlichkeit gezeigt werden: so geschieht es doch nicht selten, daß auch uns auf eine ähnliche Weise mancherlei an sich Wünschenswürdiges dargeboten wird, und Bedingungen vorgeschrieben, unter denen wir es erlangen können. Vermehrung der mancherlei Hülfsmittel, deren Jeder für sein thätiges Leben bedarf, Erweiterung unsers Wirkungskreises, Unterstützung und Förderung derer, welche wir lieben, und welche, gleichgesinnt mit uns, den gleichen Zweck verfolgen: wem sollte das nicht mit Recht wünschenswerth seyn? Wenn es uns aber von solchen Händen angeboten wird, wie hier dem Erlöser die Reiche der Welt: so sollen wir auch nur eben so antworten, wie er. Doch wohlverstanden, m. F., so lange die Kinder des Lichtes noch nicht klüger sind, als die Kinder der Finsterniß, so lange also diese letzteren noch einen großen Theil von den Gütern der Erde inne haben, und sich immer noch einzuschleichen wissen in den Besitz des äußeren Ansehens und die Ausübung der öffentlichen Gewalt: wie sollten wir wohl umhin können, auch von ihnen Unterstützung anzunehmen für die Dürftigen und Leidenden, welche wir zu versorgen 35–36 Vgl. Lk 16,8

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haben? ja wie sollten wir umhin | können, auch aus ihrer Hand anzunehmen, was uns als Wohlthat der Gesetze zukommt, oder was uns zum Besten der öffentlichen Ordnung und des gemeinen Wohls im Namen der öffentlichen Gewalt verliehen wird? Wenn wir das nicht wollten, müßten wir ja lieber aus der Welt gehen! Nur so muß es geschehen, daß das Letzte uns zu nichts verpflichte, als wozu wir schon immer verpflichtet sind, nämlich zur Treue gegen die Gesetze und zum gewissenhaften Gebrauche alles dessen, was sie uns verleihen, und daß das Erste uns zu nichts verpflichte, als zur Erwiederung in solchen Dingen, die wir, wie Gott mit Regen und Sonnenschein thut, den Ungerechten eben so gut zu leisten haben, als den Gerechten. Sobald aber solche, vor denen unser eigenes Gefühl oder das unverwerfliche Zeugniß der öffentlichen Stimme uns warnt, als vor Kindern der Finsterniß, uns etwas anbieten auf die Bedingung, daß wir uns in irgend eine Gemeinschaft mit ihnen einlassen, und zu ihren Zwecken, die doch auf etwas ganz Anderes, als auf das Reich Gottes berechnet sind, auch nur in einzelnen Fällen mitwirken sollen, Huldigung und Verehrung bezeugen gegen irgend etwas unserm Herzen eben so Fernes und Fremdes, als der Versucher dem Erlöser war, Billigung und Zustimmung geben ausdrücklich oder stillschweigend zu irgend etwas, was unserer Ueberzeugung widerstreitet: – dann, m. Gel., wollen wir uns niemals blenden lassen durch die lockendsten Vorspiegelungen, was für einen vortrefflichen Gebrauch wir von dem Dargebotenen machen würden, wieviel besser es in unsern Händen verwahrt sey, als bei denen, an die es wahrscheinlich kommen würde, wieviel mehr Böses wir dann würden verhindern können, um wieviel kräftiger das Gute fördern; nein, was wir uns auch von dieser Art sagen können, nichts darf uns so verblenden, daß wir Böses thäten, damit Gutes herauskomme! Fern sey es von uns, die wir allein darauf bedacht seyn sollen, das Böse zu überwinden mit Gutem, daß wir uns in eine, wenn auch dem Anscheine nach noch so vorübergehende und unverfängliche Gemeinschaft mit dem Bösen setzen! Nein, sondern fest beharrend auf dem: „Ich und mein Haus, wir wol|len Gott, dem Herrn, dienen,“ laßt uns in solchem Falle nie anders antworten, als mit Christo: hebe dich weg von mir Satan, damit wir uns rein erhalten von aller Beflekkung mit der Welt, der wir nie entgehen werden, wenn wir auch nur für Einen Augenblick das Böse zu loben und zu billigen scheinen, und in irgend einem freiwilligen Zusammenhang mit dem Wirken und Treiben der Bösen erfunden werden; damit wir nicht bei unserm künf38 einem] einen 10–11 Vgl. Mt 5,45

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tigen Wirken in seinem Dienste doch immer an Augenblicke erinnert werden, die dieses Dienstes und unsrer Gemeinschaft mit Christo überhaupt unwürdig gewesen, damit wir nicht in Zukunft einmal unsere Thorheit bitter bereuen müssen, wenn diese gewagte Gemeinschaft mit dem Bösen uns in Verwickelungen stürzt, aus denen wir uns kaum zu retten wissen. Aber auch das dürfen wir nicht übersehen, m. Gel., daß wenn auch der Versucher keine solche Bedingung, wie die, vor ihm niederzufallen und ihn anzubeten, an sein Anerbieten geknüpft hätte, ja, wenn er es gar nicht gemacht hätte, sondern ein Anderer, nicht um zu versuchen, sondern in der besten Absicht: so wäre das Anerbieten, ihm eine äußerliche Macht zuzuwenden, immer eine Versuchung für den Erlöser gewesen, die er würde von sich gewiesen haben. Denn sein Reich war nicht von dieser Welt, und er hätte nicht zugleich können ein weltliches Regiment führen nach Art der Könige und Fürsten dieser Erde, und zugleich nach Art des Menschensohnes umhergehen und suchen, um selig zu machen, was verloren ist. Beides verträgt sich nicht mit einander, und darum konnte auch sein Reich weder gebaut noch geschützt werden durch irgend eine weltliche Macht, die ihm selbst wäre beigelegt worden; sondern immer nur durch die Kraft Gottes, die in ihm wohnte, und durch den Geist Gottes, der über seine Jünger kommen sollte. Auch in dieser Hinsicht, denke ich, befinden wir uns mit dem Erlöser in gleichem Falle. Nicht etwa, wie Einige von Zeit zu Zeit geschwärmt haben, als ob es dem wahren Christen überhaupt nicht anstände, mit äußerer Macht bekleidet zu seyn, und an weltlicher Herrschaft Theil zu nehmen. Denn warum sollten wir doch | die Leitung solcher menschlichen Angelegenheiten, die doch auf keine Weise dürfen vernachlässigt werden, ausschließend denen überlassen, welchen mit dem lebendigen Glauben und der reinen ungefärbten Liebe gerade dasjenige fehlt, wodurch ein solcher Dienst erst recht zuverlässig und recht folgenreich werden kann. Nein, immerhin erwähle ein Jeder diese Laufbahn, dem es äußerlich vergönnt ist, und der sich innerlich dazu berufen fühlt. Nur trennen müssen wir dieses Geschäft von dem eigentlichen Geschäft des Erlösers, das Verlorene zu suchen, und die Menschen durch seine Gemeinschaft selig zu machen, an welchem Geschäft wir doch auch Theil zu nehmen berufen sind. Hier dürfen wir, was uns von äußerer Gewalt und vom weltlichen Ansehen etwa zusteht, eben so wenig einmischen, und können eben so wenig Gebrauch davon machen, wie der Erlöser es that, wenn wir unsern Erfolg nicht ganz verfehlen wollen. Und dies gilt von allen Angelegenheiten der christlichen Kirche. Niemanden, der 14 Vgl. Joh 18,36

17.34–36 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10

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Meinungen aufstellt, oder Ordnungen in Vorschlag bringt, soll deßwegen gefolgt werden oder geglaubt, weil er diese oder jene Stelle in der Welt bekleidet, und in anderer Hinsicht viel oder wenig zu gebieten hat. Und Keiner, dem solche Vorzüge eigen, soll deßwegen sich selbst für geschickter halten, auf die Gemüther im christlichen Sinne und Geist zu wirken. Hier ist weder Knecht, noch Freier, weder Herrscher, noch Unterthan, sondern nur der neue Mensch; und Jeder kann nur wirken in dem Maße, als er sich Vertrauen erwirbt durch seinen Verstand am Evangelio, durch seine gereifte Erfahrung, durch die Kraft seiner Geistesgaben. Wer aber auf diesem Gebiete, sey es nun selbst etwas Anderes geltend machen will, oder auch nur ein so verkehrtes Beginnen beifällig anerkennt, der ist gerade so versucht, wie der Herr es zuletzt ward, und seiner Antwort sey er eingedenk. So laßt uns denn, so lange wir in dieser Welt wallen, von der wir wissen, daß sie kein Wohnsitz ungetrübter Ruhe und Freude ist, auf alle diese Versuchungen immer gerüstet seyn, damit, wenn doch einmal Alles mit Schmerz und Thränen ge|mischt ist, wenigstens der bittern Thränen und Schmerzen der Reue weniger seyen! Laßt uns den reinen Gehorsam Christi immer fester ins Auge fassen, und die Kraft, die in seinem Vorbilde liegt, uns immer mehr aneignen, damit, wenn auch auf uns Versuchungen einstürmen, wir sie eben so entschlossen von uns weisen können, als der Herr, und, in kindlicher Einfalt und unverbrüchlicher Treue dem Dienste Gottes unser Leben weihend, auch eben so ruhig, als der Erlöser, allen Leiden entgegengehen können. Dazu mögen denn besonders auch die andächtigen Betrachtungen der Zeit, die wir heute beginnen, an uns Allen gesegnet seyn. Amen. Schl.

6 Gal 3,28; Kol 3,11

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Am 25. März 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Okuli 1821, am dritten Leidenssonntage, am fünfundzwanzigsten Lenzmonds. |

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Oculi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 19,26–27 Nachschrift; SAr 77, Bl. 19r–36v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 106, Bl. 5r–10r; Crayen Teil der vom 11. März 1821 bis zum 20. April 1821 gehaltenen Predigtreihe über die letzten Worte Christi am Kreuz (vgl. Einleitung, I.4.B.) Am Ende der Predigtnachschrift eine Notiz Schleiermachers zu seiner Publikationspraxis

Tex t. Johannis XIX. 26, 27. Da nun Jesus seine Mutter sahe, und den Jünger dabei stehen den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe das ist dein Sohn. Danach spricht er zu dem Jünger: siehe das ist deine Mutter. Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich. M. a. F., Von dem was ihm am fernsten war, oder was sich erst im Augenblik zu ihm gewendet hatte, kehrt sich in diesen Worten der Erlöser zu dem, was ihm theils vom Anbeginn seines Lebens theils vom Anfang seines öffentlichen Auftretens unter den Menschen das Liebste und Teuerste gewesen war, | dem Jünger der an seiner Seite lag, und zu der Mutter, die ihn geboren und erzogen hatte, und beide führt er einander, indem er sie und das irdische Leben verließ, auf eine eigenthümliche Weise zu. So laßt uns denn diese Worte des Erlösers aus einem solchen Gesichtspunkt betrachten, erstens nämlich indem wir den besondern Fall ins Auge faßen, wir darin das lezte Vermächtniß, der lezte Wille unsers Herrn an seine Geliebten erfüllt ist, dann aber auch zweitens indem wir ihn im Allgemeinen betrachten als die Erfüllung eines | großen Gesezes, welches der Erlöser hier schon aussprach, und auf welches die khristliche Kirche fest gegründet ist. 13 Vgl. Joh 13,23

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Was das Erste betrifft, so wißen wir freilich viel weniger als unsre Andacht erhalten will von den äußern Umständen sowohl unsers Erlösers als derer, die ihm die Liebsten waren, und sich zu ihm gesellt hatten, um mit ihm zu wandeln, und aus seinem Munde die Worte der Wahrheit zu vernehmen. Das wißen wir von seiner Mutter, aus mancherlei einzelnen Andeutungen unsrer Evangelien, daß sie wenigstens eine Zeitlang auch | nachdem der Erlöser öffentlich aufgetreten war, und die kleine Zahl seiner Freunde um sich gesammelt hatte, nicht mit ihm sondern mit seinen Brüdern lebte. Von eben diesen Brüdern wird uns ebenfalls durch mancherlei Weise zu verstehen gegeben, daß sie an den Erlöser nicht geglaubt haben. Ob dies beständig so geblieben ist, oder ob sie auch hernach von der Gewalt seiner Lehre und seines Geistes ergriffen worden sind, wißen wir nicht. In welcher Lage die Brüder des Erlösers waren, und ob seine Mutter äußerlich dadurch etwas gewonnen, daß er sie dem Johannes seinem | Jünger empfahl, wißen wir auch nicht. Wir können uns also auch nur an das halten was wir von der Sache wißen. Und da kommt uns das wohl bestimmt entgegen, daß der Erlöser bei dieser Einrichtung nicht sowohl die äußeren Umstände im Auge hatte als das Innere. Eben weil seine Brüder nicht an ihn glaubten, seine Mutter aber, von der wir auch nicht wißen, ob sie die ganze Zeit des Lebens hindurch den Glauben an die göttliche Verheißung, die ihr noch vor der Geburt des Erlösers in Beziehung auf ihn geworden war, fest gehalten oder nicht – aber gewiß hing | sie nicht nur auf das innigste an ihm, sondern es geht uns auch aus dem Ton und der Farbe der ganzen Geschichte hervor, daß sie von dem innigsten Glauben an seine göttliche Sendung und an die Wunder, welche er verrichtete, erfüllt war – diese Mutter, wie sie ja nicht nur mit mütterlicher sondern mit gläubiger Liebe an ihm hing, wollte der Erlöser nicht gern wißen in einem beständigen innigen Zusammenleben mit denen die nicht an ihn glaubten, er wollte sie diesen Mißverhältnißen, diesen Sorgen, dieser Verkümmerung ihres Glaubens nicht ausgesezt wißen, daher suchte er sie aus | jenem in den unmittelbaren Kreis seiner Jünger zu verpflanzen, nicht nur derer die da waren, sondern deßen den er so besonders liebte. Und was können wir anders sagen, m. g. F., die äußeren Verhältniße mögen gewesen sein welche sie wollen, so wird der Erlöser in diesem lezten Beweis der Liebe für seine Mutter weniger auf sie als auf dieses innere Verhältniß gesehen haben. Es war aber, wie uns die Erzählung des Johannes merken läßt, und wie wir aus andern Umständen nehmen 29 diesen] diesem 6–9 Vgl. Mt 12,46–50; 13,55–57; Mk 3,31–35; 6,3–4; Lk 8,19–21 Mk 3,21; Joh 7,5 21–22 Vgl. Lk 1,30–35

9–11 Vgl.

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können, es war kein andrer von den Jüngern des Herrn | da, sondern wie der Herr es vorhergesagt hatte sie hatten sich zerstreut als er in die Hände seiner Feinde gefallen war, und daher konnte nur Johannes das Vermächtniß seiner Liebe aufnehmen. Wie wir aber aus des Erlösers eigenem Munde wißen, daß er diese Wirkung, welche seine Gefangennehmung auf die Jünger gemacht hat, voraussah, aber sie auch deßhalb entschuldigt, und sie damit zu trösten sucht, daß er zu ihnen sagt: wenn ihr mich auch verlaßet, so bin ich doch nicht allein, denn der Vater ist bei mir, so konnte freilich in diesem Augenblik, wo er seine | Mutter dem Kreise seiner Nächsten und Liebsten zugesellen wollte, ihm nicht entgehen, sondern mußte ihm gleich bemerklich werden, daß von allen keiner als nur den er lieb hatte, Johannes sich mit seiner Mutter und einigen Frauen in der Nähe seines Kreuzes befand, so konnte er sie nur dem Johannes vermachen, und wie Johannes selbst sagt „von Stund an nahm der Jünger sie zu sich“, so eignete sich dieser das heilige Vermächtniß auf eine solche Weise zu. Aber wie der Herr im voraus seinen Jüngern die Flucht verziehen hatte, ja sie sogar vertheidigt, | indem er zu denen die ihn gefangennehmen wollten sagte „wenn ihr mich suchet, so laßet diese gehen“, so können wir nicht glauben, daß er sie auch nur auf die entfernteste Weise habe damit bestrafen wollen, oder die Liebe ihnen entziehen wollen, die er für sie im Herzen trug, wenn er sie in dieses Vermächtniß nicht mit aufnahm. Und die Geschichte lehret, daß ohnerachtet Johannes die Mutter zu sich nahm, auf eine besondere Weise, sie doch in beständiger Gemeinschaft blieb mit den übrigen Jüngern; und | bald kam die Zeit, wo keiner etwas für sich hatte, sondern allen alles gemein war. Und so wurde auch die zärtliche Liebe gegen sie in ihres Meisters Namen eine besondere Pflicht. Aber daß sie so auf eine besondere Weise dem Johannes empfohlen ward, das war mehr den äußeren Umständen zuzuschreiben, als einer bestimmten Wahl oder einem bestimmten Vorsaz. Denken wir uns neben dem Johannes noch einige andre Jünger eben so wie er unter dem Kreuze des Erlösers stehen, und fragen, was wohl wahrscheinlicher ist, ob er denn auch dann Johannes vor allen übrigen herausgehoben hätte | als denjenigen, dem er die Sorge für seine Mutter anvertraut, oder aber sie allen zugleich empfohlen hätte: so kann ich wenigstens mich nicht bedenken das Leztere zu glauben, weil nur dies dem Sinn und Geist des Erlösers angemessen gewesen wäre. Aber auch auf alle irdische und unvergängliche Dinge, die in diesem Leben vorkommen, haben die äußern Umstände einen Einfluß mehr oder weniger; alles was die Welt Zufall nennt, wovon wir aber wißen, daß es unter der besondern Leitung des Höchsten steht, müßen wir mit zu diesem Gebiete nehmen. Und wenn gleich die | besondern Umstände, die hier eintreten in dem Verhältniß der 1–3 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27; Joh 16,32 7–8 Vgl. Joh 16,32 11– 13 Vgl. Joh 19,25–26 17–18 Joh 18,8 21–24 Vgl. Apg 1,14 24–25 Vgl. Apg 2,44; 4,32

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Mutter Jesu zu dem Johannes und zu den übrigen Jüngern, wenn wir sie noch nicht beurtheilen können: so ist es doch natürlich, daß wir sagen, auch hier kann die Vorsehung gewaltet haben, so daß es dem Erlöser nicht möglich war etwas Willkührliches zu thun auf diese Weise, sondern er so handeln mußte wie er gehandelt hat. M. g. F. So freundlich und zärtlich sorgend, und indem ein Band gelöst war wiederum neue Bande knüpfend, erscheint uns der Herr in diesen Worten an seine Mutter und | an seine Jünger, wenn wir sie ganz in den Gränzen ihrer persönlichen Beziehung zu einander betrachten. II. Aber nun laßt uns zweitens noch eine allgemeine Betrachtung hinzufügen, die unmittelbar uns alle gilt und uns allen nahe ist, wie ich schon vorher gesagt habe, daß wir in dieser Fürsorge des Erlösers erfüllt sehen ein großes Gesez, wodurch er seine Gemeine auf Erden gegründet hat und fest zusammenhält; das ist das, welches er gesagt hat: „so jemand um meinet willen verließe Vater oder Mutter, Weib oder Kinder, Brüder oder Schwestern, der wird | es hundertfältig wiederfinden in dem Reiche Gottes.“ Die Trennung die der Erlöser in dem vorliegenden Falle wahrscheinlich nicht sowohl selbst veranstaltete, als vielmehr schon als innerlich geschehen ansah, die Trennung, seiner Brüder von der Mutter, mit der sie bis dahin gelebt hatten, diese war die Schuld ihres Unglaubens; und in den Worten, auf die ich mich so eben bezogen habe, ist auch nichts anderes als der Unterschied des Glaubens und des Unglaubens ausgedrükt, der unter den Menschen Statt findet, und auf den der Erlöser aufmerksam machen will. Wenn nun, fragt er, auf diese Weise | die natürlichen Bande gelöst werden zwischen dem Reiche Gottes und zwischen der Welt, so wird der, welcher dabei mir und meiner Sache getreu bleibt, und nicht abläßt von dem festen Glauben an mich und von dem endlichen Streben nach der Erfüllung des göttlichen Willens, was er so verliert vielfältig ersezt bekommen. Hiedurch will uns der Erlöser zu erkennen geben, daß die große Verbindung unter den Menschen, die auf der Gleichheit ihrer Bestrebungen und ihrer Grundsäze über dasjenige was allen das Wichtigste und Höchste sein soll, sich bezieht, daß diese noch einen höheren | Werth hat als die welche aus der natürlichen Einrichtung des menschlichen Lebens hervorgeht, daß die Bande die der Geist Gottes knüpft, einen reichen Ersaz in sich haben für alle welche in der Natur gegründet sind, wenn diese nämlich zerrißen werden. Gewiß nicht, m. g. F., als ob der Erlöser die lezteren den Menschen hätte geringfügig darstellen wollen, oder ihnen etwas von ihrem wahren Werth entziehen; er selbst war 12 alle gilt] vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 536 15–17 Vgl. Mt 19,29; Mk 10,29–30; Lk 18,29–30

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in seiner ganzen Entwiklung und Ausbildung menschlicher Weise zu reden eben so das Werk treuer väterlicher und mütterlicher Liebe, wie jeder | unter uns, der nicht anders als durch die Sorgfalt derer, welche das genauste Band der Natur an ihn kettet, zur völligen Entfaltung seines Daseins gelangen kann. Und auch das können wir uns nicht ableugnen, wenn in dem Verhältniß der Mutter Jesu zu seinen übrigen Brüdern, mit denen sie bis dahin äußerlich genau vereint gewesen war, noch irgend etwas für sie gewesen wäre, was ihr als ein Gebot erschienen wäre, wenn sie noch irgend etwas hätte zu leisten gehabt, wofür das Gefühl der Pflicht in ihrem Innern sie in Anspruch genommen hätte so würde sie dieselben noch nicht verlaßen | haben. Auf diese Weise haben auch nachher die Apostel des Herrn immer einen jeden für schuldig gehalten in dem natürlichen Kreise seiner Verpflichtungen zu bleiben, wenn auch diejenigen, mit denen er leiblich verbunden war, nicht dem Herrn anhingen, und keinesweges zu der Zahl seiner treuen Verehrer gehörten, sie haben einen jeden verpflichtet den durch die Natur selbst geschloßnen Verhältnissen getreu zu bleiben, wenn sie nicht auf der andern Seite durch irgend etwas Anderes und von ihm nicht Verschuldetes schon zerrißen waren. Eben so würde auch der Erlöser seine Mutter nicht aus jenem natürlichen Verhältniß herausgerißen haben, | wenn nicht von Seiten des Gemüths zwischen ihr und seinen Brüdern schon eine Trennung geschehen wäre. Nun aber wißen wir nicht einmal, ob die welche Brüder des Herrn genannt wurden, Söhne der Maria waren, oder ob sie nicht vielleicht Söhne des Joseph waren aus einer früheren ähnlichen Verbindung, wie es denn wohl wahrscheinlicher ist, und auch unter anderm daraus hervorgeht, daß sie es sich herausnehmen dem Erlöser ihren Rath zu geben in Beziehung auf eine seiner Reisen nach Jerusalem. Aber wir müßen voraussezen, sie hatte alle ihre Verpflichtungen gegen ihre Söhne erfüllt, | so daß es in ihrem freien Willen stand, ob sie mit ihnen oder auf irgend eine andre Weise mit andern lebte. Aber wo ein Band dieser Art zerrißen ist, da ist es das Gesez des Erlösers, daß die Gemeinschaft der Gläubigen das alles ersezen soll, daß jeder in ihr wiederfinden soll, was er auf der Seite der Natur verloren hat, daß die Verbindung der Gläubigen unter einander eben so unzertrennlich sein soll wie die der Kinder mit ihren Eltern, daß das junge Geschlecht der Kinder in der Gemeine der Gläubigen haben soll alle Belehrung, allen Beistand und allen Trost, wie sie ihn von | ihren Eltern empfangen können, und daß die Stärkern den Schwächern eben so hülfreich zur Seite springen sollen in dieser heiligen Vereinigung, als wenn sie durch die Bande der Natur verbunden wären. Das war das Gesez, welches der Erlöser schon früher, als er die Zeit der Verheerung, die Zeit der Spaltung voraussah, ausgesprochen hatte, und wovon er jezt das erste Beispiel bei seiner Mutter und bei seinem vertrautesten Jünger giebt. 25–26 Vgl. Joh 7,3–4

39–40 Vgl. Mt 19,29; Mk 10,29; Lk 18,20–30

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Nicht nur sagt er zu dem Johannes, er solle sie zu sich nehmen, sondern auf das bestimmteste sagt er: Weib, siehe das ist dein Sohn. – O, m. g. F., dies eröffnet uns einen Blik in den | unendlichen Schaz der Liebe, die in der Gemeine des Herrn wohnen soll; und in die Freiheit, welche diese Liebe durch den göttlichen Geist genießt, daß sie nicht mehr so gebunden ist an die Zeichen der Natur, sondern daß aus der Einheit des Geistes sich alle natürlichen Verhältniße in einem reinern und höheren Sinne wiedergestalten. Allerdings war jenes viel bedeutender in den ersten Zeiten der khristlichen Kirche, wo, wie es beständig geschieht, wenn neue Gesinnungen und Gefühle unter den Menschen erwachen, und eine neue Ordnung der Dinge vorbereiten, oft diejenigen verfolgt werden und meiden | müßen ihre von der Natur ihnen angewiesene Lage, die dem Alten Lebewohl gesagt haben; da war es nothwendig, daß der von seinem ruhigen Siz Vertriebene und aus den bisherigen Verbindungen Herausgestoßene offne Arme fand, in die er fliehen könnte, und dafür besonders reichen Ersaz bekam, was er getrieben von seiner Überzeugung hatte aufgeben müßen, so daß er nun nichts verloren zu haben glauben könnte. Jezt scheint uns dies weniger nöthig, weil dieselbe Gemeinschaft der Gläubigen alle die schon von Natur an einander gewiesen sind, umfaßt, weil ein solcher Streit nicht mehr unter uns Statt findet, | die wir den Namen Khristi bekennen. Und jezt müßen wir sagen, daß bisweilen von jenem Gesez der khristlichen Kirche ein nachtheiliger Mißbrauch gemacht wird. Es giebt nämlich und muß geben, und zwar umso mehr je größer und je weiter verbreitet die Gemeinschaft der Khristen ist, eine verschiedene Art und Weise in der Auffaßung und Darstellung des Glaubens. Wenn nun um solcher Verschiedenheiten willen sich die Menschen trennen, die in Liebe verbunden sein sollen und es waren; wenn auf solche Verschiedenheiten, auf die, wenn man sie mit dem Größern vergleicht, das angewendet werden kann was der Erlöser sagt „wer ist meine Mutter? | und wer sind meine Brüder? Wer den Willen thut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, Schwester und Mutter,“ wenn auf solche Verschiedenheiten ein solcher Werth gelegt wird, daß sie wichtig genug erscheinen, um eng verbundenen Gemüthern eine Veranlaßung zur Zwietracht zu werden; wenn es Khristen giebt, die da glauben sich lossagen zu dürfen nicht nur von ihren Verpflichtungen, sondern von der warmen und treuen Liebe gegen diejenigen, welche ihnen die Natur zugeführt hat, deßwegen weil sie nicht eben so wie sie denken und sich ausdrüken über alle | Gegenstände und Erfahrungen des Glaubens, und die da glauben denen ihre Liebe zuwenden zu müßen, in denen sie ihre Brüder und Schwestern zu finden meinen: o dann ist dies ein solches Zusammenziehen der Liebe, ein solches Erkalten des allgemeinen Feuers, welches alle durchdringen und beseelen soll, daß der Wille des Erlösers dadurch nicht erfüllt, und das Bei28–30 Mt 12,48–50

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spiel welches er uns vor Augen gestellt hat nicht befolgt wird. Vor einem solche Mißklang also sollen wir uns hüten, und nicht glauben, daß es jezt unter den Khristen geben könne einen Streit der Meinungen groß genug, um eine solche Trennung der Gemüther | zu bewirken und zu rechtfertigen. Aber das geschieht noch, daß einer Vater und Mutter, Brüder und Schwestern verliert, wenn auch nicht in einer so außerordentlichen Hinsicht um des Evangeliums willen, wie es in den ersten Zeiten der Verkündigung desselben der Fall war, sondern auf dem natürlichen Wege, wie jeder sein Leben verliert um des Evangeliums willen, indem er seine Kräfte erschöpft und endlich darniederliegt im Dienste der Wahrheit. So können wir auf dieses Wort des Erlösers alles anwenden, was wo nicht aus der Beschaffenheit der Gemüther selbst so doch aus den allgemeinen Gesezen der Natur und ihrer | Beziehung auf dieselben hervorgeht. Und auch darauf sollen wir anwenden was der Erlöser sagt „wer Vater oder Mutter, Weib oder Kinder, Brüder oder Schwestern verläßt um meinetwillen, der wird es hundertfältig wiederfinden in dem Reiche Gottes.“ Ja keine Empfindung des menschlichen Herzens soll in der Gemeine des Herrn getödtet werden oder erliegen unter der Gewalt der äußern Umstände, keine verschiedene Gestaltung und Art in der menschlichen Seele soll deßhalb ersterben, weil sie ihren Gegenstand verloren hat, sondern auf eine rein geistige Art soll jeder alles wiederfinden in der Gemeine | des Herrn. Wie sehr, m. g. F., sich durch eine treue Vereinigung der Herzen der Kreis Gott gefälliger Liebe vergrößert; wie der Glaube an den gemeinsamen Herrn und Meister und was wir für seine Sache und für sein Reich auf Erden empfinden den Menschen eines größern Umfanges von Liebe fähig macht; wie sich dadurch sein Herz erweitert, daß dasselbe bereit wird immer mehr diejenigen in sich aufzunehmen, die mit ihm dieselbe Gesinnung theilen, und in denen er Vater und Mutter, Weib und Kinder, Brüder und Schwestern wiederfindet: das kann und soll sein unser aller tägliche Erfahrung. Und wem haben wir dies zuzuschreiben | als der Liebe die am Kreuze für uns gestorben ist, und die sich bis in den lezten Augenblik als die Offenbarung der göttlichen Liebe gezeigt hat. Und weil in dem Kreise des Herrn ein solcher Schaz von Gegenständen der Liebe liegt, daher soll jeder alles was ihm anderweitig entzogen wird, in der Gemeine des Herrn wiederfinden. Doch, m. g. F., das hatte der Erlöser lange vorhergesagt, ehe er an das Holz des Kreuzes erhöht war, und das zeigte sich nun in diesem Beispiel, an dem er das Wort welches er ausgesprochen hatte entwikelte und gewiß war, daß Johannes mit der Zärtlichkeit des Sohnes die Mutter lieben, und | daß die Mutter denselben liebevollen Empfindungen, mit welchen sie ihn den Erlöser umfaßt hatte, 39 liebevollen] liebefollen 14–16 Vgl. Mt 19,29; Mk 10,29–30; Lk 18,29–30

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auf den Johannes hinwenden würde. Und so wie, m. g. F., das Beste und Schönste in der Liebe nicht das ist was wir genießen, sondern was wir thun, eben daß wir mit treuer Sorge an Menschen hängen, und ihr Wohl auf alle Weise zu befördern suchen, daß nicht nur was uns selbst angeht, sondern auch was andern wichtig ist, unser Herz erfüllt und unsere Thätigkeit entflammt: so können wir wißen und fühlen im Allgemeinen, daß es die Verheißung des Herrn ist, was wir auf | irgend eine Weise verloren haben, jeder Gegenstand der Sorge und der Liebe, wir finden ihn wieder in der Gemeine des Herrn. Wie er vom Kreuze herab der Mutter einen Sohn und dem Sohne eine Mutter erwies, so können wir gewiß sein, einem jedem, dem daran gelegen ist, die Kraft der Liebe in der Gemeine des Erlösers immer wirksam zu erhalten, dem werden auch die Gegenstände der Liebe immer zufließen. Aber, m. g. F., wo könnten wir sie schöner finden als da, wo der Maria der Sohn und dem Johannes die Mutter gegeben wurde, unter dem Kreuze des Herrn. Ja in den | Augenbliken des gemeinsamen gläubigen Aufschauens zu ihm knüpfen sich die Bande des Lebens am festesten, da schließt sich der Bund der Herzen, der höher ist als jede natürliche Vereinigung. Und je öfter, mit je treuerer Liebe wir zu dem Kreuze des Herrn zurükkehren; je mehr wir gläubig und gänzlich auf ihn sehen, und dann herumschauen in dem großen Gebiet des menschlichen Lebens, um da zu finden, was mit demselben Sinn auf ihn, der für uns gestorben ist, gerichtet ist: da werden wir fühlen was unser Herz befriedigt, da wird uns die Fülle des Segens, die von dem Kreuze | des Erlösers strömt, gegeben werden. So möge es denn unter uns gesagt sein und bleiben zu einem Zeichen des Segens, und möge eine immer reichere Fülle dieses Segens sich ergießen über diejenigen, welche ihr Heil von dem allein erwarten, der als die göttliche Liebe für sie am Kreuze gestorben ist. Das war die Absicht, das war der Sinn des Wortes, womit er die Mutter dem Jünger und den Jünger der Mutter empfahl. Und dies möge denn in einem immer reicheren Maaße erfüllt werden an allen die an ihn glauben. Amen.

[Unter dem Schlussstrich die Notiz von Schleiermachers Hand:] NB. Die zwei folgenden Predigten nach Magdeburg (ich weiß nicht aus wieviel Lagen)

32–33 Bei den Predigtnachschriften, die Schleiermacher als Grundlage für die Publikation dem Konvolut entnahm, handelt es sich um die beiden folgenden Passionspredigten vom 1. und 8. April 1821, die zuerst im Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 266– 303 erschienen sind. (Vgl. Einleitung, I.4.B.)

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Am 1. April 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Laetare, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 27,46 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 283–303 Nachschrift; SAr 52; Bl. 73r–73v; Gemberg Nachschrift; SAr 60; Bl. 67r–73v; Woltersdorff Predigten. Siebente Sammlung, 1833, S. 217–274 (KGA III/2) Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, ²1843, S. 399–416 – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 162–183 – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 312–326 Teil der vom 11. März 1821 bis zum 20. April 1821 gehaltenen Predigtreihe über die letzten Worte Christi am Kreuz (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Passionspredigt.1

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Text. Matthäi 27, 46. M. a. F. Es ist gewiß vielen aufmerksamen Christen immer schwer geworden, sich diese Worte in dem Munde des Erlösers zu denken. Er, der noch kurz zuvor sich seiner göttlichen ihm von oben gegebenen Macht so deutlich bewußt war, daß er dem Sünder neben ihm mit der festesten Ueberzeugung, als derjenige, der den Ausgang der Menschen bestimmt, zurufen konnte: „heute wirst du mit mir im Paradiese seyn;“ er, der noch kurz zuvor das göttliche Wesen – denn Gott ist ja die Liebe, wie uns Johannes sagt – so lebendig in sich gefühlt hatte, daß er zu eben dem Vater, den er auch jetzt anredet, um Vergebung für seine Feinde bat; er, der in seinen letzten Abschiedsreden mit seinen Jüngern, in dem vollen Gefühl dessen, was ihm bevorstand, sie selbst tröstend über die menschliche Schwachheit, die sie zeigen wür1

Aus einer Reihe von Predigten über die Worte Christi am Kreutz.

8–9 Lk 23,43

9–10 1Joh 4,8

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den, gesagt hatte: „wenn ihr mich auch verlasset, so bin ich doch nicht allein, denn der Vater ist bei mir,“ – der sollte nun plötzlich so umgewandelt gewesen seyn, daß er sich von eben dem Vater, über dessen Nähe und Anwesenheit in seinem Innern er sich dort freut, mit dem er sich immer als völlig eins dargestellt hatte, von eben dem sich jetzt verlassen gefühlt hätte, und das in eben dem Augenblick, wo er | im Begriff war, das große Werk der Beseligung der Menschen, wozu er in die Welt gesandt war, und wozu er sich immer des unmittelbaren Beistandes seines Vaters erfreut hatte, dieses durch seinen Tod zu vollenden? und bald darauf sollte diese Gottesverlassenheit wieder so verschwunden gewesen seyn, daß er, voll von dem Gefühl, sein Werk vollendet zu haben, mit der größten Freudigkeit zurückblickend auf sein ganzes irdisches Leben, ausrufen konnte: „es ist vollbracht!“ und in die Hände des Vaters, von dem er sich nun eben sollte verlassen gefühlt haben, seinen Geist, indem er die irdische Hülle verließ, befehlen? Wie können wir uns in dem, der immer so ganz sich selbst gleich blieb, dessen innige Gemeinschaft mit seinem Vater im Himmel in keinem Augenblick des Lebens unterbrochen war, und auch nicht unterbrochen werden durfte, wenn er in jedem Augenblick seines Lebens unser Erlöser, und also der wohlgefällige Sohn seines Vaters seyn sollte, – wie können wir uns in dem einen solchen Wechsel und ein solches Herabsinken seines Gemüthes von dem festen Vertrauen zu dem verzagten Gefühl der Gottverlassenheit erklären? Ja, wenn wir, auch abgesehen von den besonderen Umständen, deren ich so eben erwähnt habe, die Sache an und für sich betrachten: ist denn, und kann denn etwas Wahres daran seyn, daß Gott jemals den Menschen, der nach seinem Bilde gemacht ist, verließe? Der Gott, welcher seinem sündigen Volke die Verheißung gab: ich will dich nicht verlassen, noch versäumen, – derselbe sollte den Einigen Menschen ohne Sünde, der eben so gut in dem Augenblick seines Todes, als irgend jemals, der Abglanz seiner Herrlichkeit war, den sollte er haben verlassen können? Und wenn denn das nicht möglich ist: kann denn wohl in der Seele des Erlösers, welcher von sich selbst so oft gesagt hatte, er rede nichts und thue nichts, als was er von dem Vater gesehen und gehört habe, jemals ein Gefühl gewesen seyn, dem nichts Wahres in dem göttlichen Wesen entsprochen hätte, auf welches er doch in diesem Augenblick mit seinem ganzen Gemüth gerichtet war, so wie seine Worte an dasselbe gerichtet sind? Unmöglich, m. g. Fr., können wir uns das denken! Sondern das scheint | mir auf das Wesentlichste und Innigste mit unserm Glauben an den göttlichen Erlöser zusammen zu 1–2 Vgl. Joh 16,32 13 Joh 19,30 26–27 Vgl. Gen 1,27 31 Vgl. Hebr 1,3 33–35 Vgl. Joh 8,28

29 Vgl. Hebr 4,15

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hangen, daß er immer und ununterbrochen, und wenn wir hierin dürften ein Mehr oder Weniger menschlicher Weise unterscheiden, gewiß ganz vorzüglich in dem Augenblick der Einiggeliebte seines Vaters im Himmel war, als er, seinem Berufe gemäß, sein menschliches Leben für das sündige Geschlecht der Menschen ließ. Und der einfache Sinn des Christen findet gewiß wenig Befriedigung in der gekünstelten Erklärung, daß diese Gottverlassenheit zu dem gehörte, was Christus für uns leiden mußte. Denn wenn er sich auch theilnehmend in den Zustand der Sünder versetzte, wie Einer neben ihm am Kreutze hing, und so Viele um ihn her auf und ab gingen: so mußte er, wenn er auch in dem Augenblick unser Erlöser und also von den Sündern abgesondert seyn sollte, von diesem Mitgefühl doch sein eigenes Gefühl von sich selbst unterscheiden; und auch jenes durfte sich in ihm nicht so gestalten, als ob Gott ihn verlassen hätte, weil ja Gott auch den Sünder nicht wirklich verläßt, und weil zu unserer Erlösung unmöglich etwas Unwahres gehören kann. Vielmehr finden wir den wahren Aufschluß über alles dieses, m. g. Fr., wohl darin, daß unsere Textesworte nicht eigene Worte des Erlösers sind, nicht unmittelbar und ursprünglich der Ausdruck seines eigenen Gefühls, sondern fremde Worte sind, die er nur auf sich überträgt und anwendet, hergenommen aus dem zwei und zwanzigsten Psalm, der, ein Ausdruck tiefen menschlichen Leidens, mit diesen Worten anfängt; und nur in Verbindung mit dem ganzen Inhalte des Psalms, aus welchem sie genommen sind, und indem wir immer vor Augen haben, daß der Erlöser sie auf sich überträgt, können wir seinen Sinn dabei richtig verstehen. Darauf also wollen wir zurückgehen, und, so durch den eigentlichen Ursprung unserer Textesworte geleitet, mit einander betrachten, was sie uns von dem Gemüthszustande des Erlösers in diesen seinen letzten Augenblicken kund thun. | 286

I. Das Erste nun, worauf ich in dieser Beziehung eure christliche Aufmerksamkeit lenken will, ist dieses, daß, wenn wir den Psalm genauer betrachten aus der Anwendung, die der Erlöser von demselben macht, offenbar zu ersehen ist, wie wenig für ihn der Tod, den er jetzt zu leiden im Begriff stand, eigentlich bedeutete, und wie wenig das Gefühl von dem Herannahen desselben, das Vorherrschende in seiner Gemüthsstimmung war. Denn in diesem Psalm, wie sehr er auch, wie ich vorher sagte, ein Ausdruck tiefen menschlichen Leidens ist, giebt doch nichts zu erkennen, daß der heilige Sänger desselben seinen Tod unmittelbar 21–23 Ps 22,2 (zitiert in Mt 27,46)

23–26 Ps 22,2–32

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vorausgesehen, oder ihn für überwiegend wahrscheinlich gehalten habe; sondern von vielen Gefahren bedroht, von mächtigen Feinden nahe umgeben, mannichfaltig geängstet und verspottet, und allem menschlichen Ansehen nach im Begriff, in die Gewalt dieser Feinde zu gerathen, äußert er doch in dem Verfolge seiner Klagen die lebendige Hoffnung: der Herr werde seine Seele erretten von dem Schwert, und er werde ihn noch preisen können in der großen Gemeine. Wenn nun, m. g. Fr., der Erlöser irgend von der menschlichen Furcht des Todes bei dieser Nähe desselben wäre ergriffen gewesen, so würden, wenn er sich auch in solchem Zustande dieses Psalmes erinnert hätte, doch die einzelnen Umstände aus demselben, die sich allerdings anwenden ließen, auf die übrigen Verhältnisse, in denen er sich eben jetzt befand, ihm ganz in den Hintergrund verschwunden seyn vor dem großen Unterschiede, der darin lag, daß für jenen Sänger noch eine Hoffnung des Lebens übrig blieb, und sich mächtig in seiner Seele regte, für ihn selbst aber der Augenblick des Abschiedes von der Erde unmittelbar gewiß und nahe herbeigekommen war, und er würde entweder gar nicht, oder wenigstens nicht ohne diese Verschiedenheit recht hervorzuheben, die Worte unseres Textes auf sich bezogen haben. Das | ist gewiß die Weise aller Menschen, die solcher Eindrücke fähig sind. Je tiefer sie ihr Leid fühlen, desto mehr triumphiren sie gleichsam bei der Vergleichung mit solchen, welche auch klagen, aber doch weniger zu leiden haben, als sie. Denken wir nur uns selbst in der Nähe des Todes, ich will gar nicht sagen trauernd, gleich denen, welche keine Hoffnung haben, sondern wohl durchdrungen mögen wir immer seyn, von dem freudigen Glauben, dereinst mit dem vereint zu werden, der hingegangen ist, uns die Stätte zu bereiten, und denken wir uns auch, menschlich fühlend, was der Abschied zu bedeuten habe aus diesem irdischen, so reichlich von Gott gesegneten Leben, in welchem all unser Denken und Tichten, auch das auf das Ewige gerichtete, zusammengedrängt gewesen ist, denken wir uns dabei von dem natürlichen Schauer vor dem Tode ergriffen, der uns oft schon bei der lebendigen Vorstellung desselben anweht, – gewiß, werden wir gestehen müssen, wir würden dann zum Ausdruck unseres inneren Zustandes nicht solche Worte eines Anderen wählen, die zwar an und für sich auch den Kummer eines gebeugten Gemüthes darstellen, so aber, daß der Zusammenhang der ganzen Rede verräth, der Leidende sey durch die Hoffnung einer Wiederherstellung in das Leben und in das Wohlseyn des Lebens mächtig aufgerichtet worden. Darum, m. g. Fr., dürfen wir aus der Anwendung, welche der Erlöser von jenem heiligen Gesange auf sich selbst macht, mit Sicherheit schließen, daß dieser Unterschied 26–27 Vgl. Joh 14,2–3

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für ihn gar nicht von derselben Bedeutung gewesen ist, wie für uns, und daß er auch in diesem Augenblicke vorzüglich die Feindseligkeit der Menschen schmerzlich gefühlt; über seinen Tod aber eben so hell und heiter gedacht und empfunden hat, wie wir es überall finden in jenen letzten Reden, in denen er seine Jünger auf seinen Tod vorzubereiten suchte. Ich verlasse die Welt, und gehe zurück zum Vater, wie ich vom Vater ausgegangen bin und gekommen in die Welt.1 Ueber ein Kleines, so werdet ihr mich nicht sehen, und aber über ein Kleines, | so werdet ihr mich sehen, denn ich gehe zu Vater.2 So ruhig über sein Hinscheiden von dieser Erde war der Herr noch kurz zuvor, so für gar nichts achtete er den Tod, in dem Bewußtseyn der lebendigen Gemeinschaft, in welcher er mit seinem himmlischen Vater stand, und in welcher auch der Tod keine Aenderung machen konnte; und da diese sein eigentliches höheres Leben war: so mußte er auch in diesem Augenblicke über seinen Tod eben so ruhig seyn, wie er es immer vorher gewesen war. Er also kann nicht anders, als immer sich selbst gleich gewesen seyn, auch in dieser Beziehung wie in jeder andern. Denn, wenn in uns das menschliche Herz, auch in Beziehung auf den Tod, wie in so mancher andern, in dem wohlbekannten Schwanken begriffen ist, zwischen Trotz und Verzagtheit, wenn wir uns bei dem Gedanken an den Tod bisweilen eines ängstlichen Gefühls nicht erwehren können, das nahe genug an Verzagtheit grenzt, bald wieder mit einer schönen Freudigkeit dem Tode entgegen sehen, die nur alsdann trotzig wird, wenn wir glauben, die entgegengesetzte Stimmung könne nun nicht wiederkehren: woher kommt diese Ungleichheit unseres Gemüthszustandes, als eben davon, daß in uns auch die Gemeinschaft der Seele mit Gott nicht immer sich gleich und dieselbige ist, und wir uns auch in dieser Hinsicht von dem Erlöser nur zu sehr noch unterscheiden, daß das himmlische Licht von oben bald heller in unseren Geist hineinscheint, bald aber auch die menschliche Schwachheit es mehr verdunkelt. Aber dieser Wechsel selbst steht wieder in einem innigen Zusammenhange mit der Sünde, in der wir Alle beschlossen sind, und darum konnte der den nicht treffen, der ohne Sünde war. Sondern indem sein Mund klagte, wie der leidende Mensch zu klagen pflegt, so war ihm vergönnt, sich der Klage eines 1 2

Joh. 16, 28. Joh. 16, 16.

30 unseren] unserem 33–34 Vgl. Hebr 4,15

36 Joh. 16, 28] Joh. 6, 26

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solchen, dem der Tod noch fern schien, zu bedienen, um auch dadurch zu erkennen zu geben, daß die Ferne, wie die Nähe desselben, seine Seele gleich wenig bewegte. | O, m. g. Fr., ein großes Gut ist es für den sterblichen Menschen, wenn Einer täglich gleichmüthiger wird in Bezug auf dieses allgemeine menschliche Loos, und wenn er, nach Maaßgabe wie er seinem Ende näher kommt, auch mit zunehmender Ruhe und Heiterkeit der Seele dem Abschied aus dieser Welt entgegen sehen kann, nicht etwa undankbar, gleichgültig gegen die wahren Güter und Freuden derselben, in welchen sich uns ja die allmächtige Liebe Gottes überall zu erkennen giebt, wohl aber das, was dahinten ist, also auch jeden reinen und geistigen Genuß des Lebens, immer gern zurücklassend, um sich mit allen Gedanken der Seele, und allem Tichten und Trachten des Herzens nach Dem streckend, was noch vor uns liegt, welches da ist der wohlgefällige Wille Gottes, nämlich unsere Heiligung.1 Gleichen wir nun unserm göttlichen Erlöser immer mehr in der Treue, mit der er in jedem Augenblick seines Lebens den Willen seines himmlischen Vaters erfüllte; kommen wir dann immer mehr eben dadurch zu dem ruhigen und ungestörten Besitz der innigen Gemeinschaft mit ihm, indem nach seiner heiligen Verheißung, wenn wir sein Wort halten, er mit seinem Vater kommt, Wohnung zu machen in unserm Herzen: o dann wird, wie das Zeitliche selbst, was vergeht, so auch unser eigenes zeitliches Vergehen selbst auch für uns immer mehr seine große Bedeutung verlieren, und wir werden auch an ruhigem Gleichmuth unserm heiligen Erlöser immer ähnlicher werden. II. Zweitens laßt uns aus diesen Worten ersehen, auf welche Weise der Erlöser das Gefühl menschlicher Schmerzen und Leiden mit uns getheilt hat, wie er denn Alles mit uns gemein haben wollte, was zur menschlichen Schwachheit gehört, jedoch immer nur ohne Sünde. | Indem nämlich der Erlöser diese Anfangsworte des zweiundzwanzigsten Psalm aussprach, war unstreitig der ganze heilige Gesang der Seele des Erlösers gegenwärtig, wiewohl er wegen zunehmender körperlicher Schwäche nur den Anfang desselben laut konnte vernehmen lassen. Denn den Meisten unter uns ist es wohl sehr gewöhnlich, uns einzelne Aussprüche der Schrift zu vergegenwärtigen, ohne zugleich den Zusammenhang, in welchen sie gehören, bestimmt im Sinne zu haben. Und auch so bringt uns das göttliche Wort der Schrift gewiß vielfältigen Segen. Aber immer ist doch dies ein sehr unvollkommener 1

1. Thessal. 4, 3.

11–14 Vgl. Phil 3,13

20–21 Vgl. Joh 14,23

29–30 Vgl. Hebr 4,15

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Gebrauch, den wir davon machen, und ein weit vollkommneres Verständniß wäre es, also auch, da jedes Wort nur nach Maaßgabe seiner Verständlichkeit Segen bringen kann, auch ein weit gesegneteres, wenn auch wir jede uns erhebende und belehrende Stelle der Schrift immer in ihrem ganzen Zusammenhange auffaßten. Dem Erlöser nun können wir nur das vollkommenste Verständniß der Schrift und die lebendigste Erinnerung daran zuschreiben. Er wußte also auch, indem er die Worte unseres Textes aussprach, daß sie, nach dem ganzen Inhalte jenes Psalms, auch dort nicht die Klagen eines ungläubig Verzagten sind, welcher auch in seinem Innern Gott den Herrn ferne von sich fühlte. Ein solches Wort der Klage hätte schon an und für sich keinen Platz gefunden in den heiligen Büchern auch des alten Bundes, in denen nur solcher Männer Lehren, Ermahnungen, und Gesänge aufgenommen sind, deren Wandel vor dem Herrn war, und die sich bei den Widerwärtigkeiten des menschlichen Lebens, sowohl denen, die ihnen allein, als auch denen, die ihrem Volke begegneten, mit seiner Hülfe zu trösten wußten. Und so lesen wir auch, daß dieser heilige Sänger unmittelbar nach den Worten unseres Textes und einigen ähnlichen Ausrufungen so fortfährt: doch bist du heilig, der du wohnest unter dem Lobe Israels. Wenn er nun mitten in seinen Leiden sich Gottes, als des Heiligen, bewußt war, und an die Lobgesänge aller derer gedenken konnte, die von den ältesten Zeiten her den Namen ihres rettenden und aushelfenden Gottes gepriesen hatten: so konnte er | sich nicht zugleich, wenn schon die Worte für sich allein gehört so lauten, einer Verlassenheit von Gott bewußt seyn. Vielmehr dürfen wir die Worte nur so auslegen: daß in Beziehung auf irgend eine besondere Verwickelung seines Lebens jener Mann Gottes sich in seinen menschlichen Erwartungen von dem Verlaufe derselben getäuscht fand, indem er hart bedrängt wurde von seinen Feinden, und nicht nur für den Augenblick außer Stand gesetzt war, seine gewohnte Wirksamkeit zum Preise des Herrn auszuüben, sondern auch für die nächste Zukunft noch Schlimmeres erwarten mußte. Darüber also klagt er, daß Gott sein wiederholtes Flehen um Beistand in dieser Noth nicht erhört hatte. Ist nun dies nach dem ganzen Zusammenhange und der in diesem Psalme herrschenden Gemüthsstimmung der eigentliche Inhalt unserer Worte, und hat der Erlöser sich dieselben auch nur in diesem Sinne angeeignet: so öffnet uns dies einen tiefen Blick in seinen eigenen Gemüthszustand, als er sie sprach. Wir haben nämlich gewiß Alle schon die Erfahrung gemacht, daß wir von den Klagen leidender Mitbrüder auf sehr verschiedene Weise bewegt werden. Oft genug vernehmen wir solche Klagen, die ein tiefes Bedauern in uns erwecken, aber der Gegenstand desselben ist weniger 19–20 Vgl. Ps 22,4

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das Leiden selbst, als die unedle Art, es zu ertragen; es ist ein Beileid, welches nicht wahres Mitgefühl werden kann, und sich nur hüten muß, nicht in Geringschätzung überzugehen. Dagegen giebt es auch andere Klagen, die uns weniger darniederdrücken, als vielmehr erheben, so daß wir weniger das Leiden, als vielmehr den Triumph des Geistes und seiner Herrlichkeit über alles Leiden dieser Zeit mitfühlen. Fragen wir uns nun, worauf denn dieser Unterschied unserer Empfindung beruht, so laßt uns jetzt davon absehen, was uns in dem ersten Falle so unangenehm auffällt, und nur dabei stehen bleiben, daß uns der Erlöser die andere Art, das Leiden zu ertragen, in ihrer allerhöchsten Vollkommenheit darstellt, weit vollkommener noch, als der Psalmist, von dessen Worten er Gebrauch macht. Denn das ist unstreitig das Erste und Wesentlichste in dieser würdigen Art zu leiden, | daß in der Seele das Ewige siege über das Vergängliche, daß sie weder verzagter Weise den Glauben an Denjenigen fahren läßt, der sie äußerlich scheint verlassen zu haben, noch trotziger Weise wähnt, den Kampf mit dem Leiden auch ohne ihn bestehen zu können, daß der körperliche Schmerz oder der Druck äußerer Umstände nicht vermöge, den Gedanken an den Höchsten zu verdrängen, sondern daß vielmehr die Seele auch mitten im Leiden durch das Bewußtseyn Gottes und seiner Herrlichkeit erfreut und gestärkt werde. So jener Psalmist, welcher, indem er klagt, daß der äußere Beistand Gottes ausgeblieben sey, auf den er gerechnet hatte, sich doch darüber freut, daß der Heilige wohne unter den Lobgesängen Israels. Denn gewiß folgen diese beiden Ausrufungen nicht so auf einander, als ob die erste sollte durch die zweite widerlegt werden; sondern wie der Gedanke immer schneller ist, als die Hand, hatte er, als er die erste niederschrieb, auch die zweite schon im Sinne, so daß Klage und Freude nicht von einander zu trennen sind. Vielmehr noch der Erlöser, in welchem nie ein Gedanke den andern widerlegen konnte oder verbessern, hatte, indem er die ersten Worte allein aussprach, ebenfalls jene ganze Gedankenreihe des Psalmisten im Sinne, so wie er sie sich aneignen konnte. Wenn nun der Psalmist sich die Herrlichkeit Gottes vergegenwärtiget durch die täglichen Lobgesänge des Volkes, zu dem er auch gehörte, und welches den Vorzug genoß, den Einen Gott zu erkennen, obgleich mit der Decke Mosis vor dem Angesicht: so konnte Christus viel Herrlicheres bei sich denken, daß namentlich der Vater throne unter den Verklärungen des Sohnes, wie er sich ja kurz vorher das Zeugniß gegeben hatte im Gebet an seinen Vater, daß er ihn verkläret habe auf Erden, und seinen Namen geoffenbaret den Menschen. Aber auch Er 24 Vgl. Ps 22,4 40 Vgl. Joh 17,4

31–32 Vgl. Ps 22,2–4 40 Vgl. Joh 17,6

36 Vgl. Ex 34,33.35

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hörte Lobgesänge Israels; er hörte die dankbaren Lobpreisungen Gottes für Alles, was von jeher nach seinen ewig weisen Rathschlüssen geschehen mußte, damit die Zeit erfüllt würde, in welcher das Wort Fleisch werden, damit auch dieser Augenblick erfüllt wurde, in welchem der Erlöser sein Leben lassen konnte für das Heil der Welt. Alles | dieses: der Dank Abrahams, welcher froh ward, daß er seinen Tag sehen sollte, die heiligen Gesänge der Propheten, welche von ihm gezeugt, und Gott gelobt hatten um den, der da kommen sollte, der rührende Ton jenes Simeon, welcher sprach: nun läßt du deinen Diener in Frieden fahren, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen, – die Freude des Johannes, der sich hoch erfreute über des Brautpaares Stimme, wie der Freund des Bräutigams, und gern abnehmen wollte, damit dieser zunähme: dies waren die Lobgesänge des geistigen Israels, unter welchen thronend der Erlöser seinen Vater dachte, auch mitten in diesem Augenblicke der Klage. – Und wenn der Psalmist in dem bitteren Gefühl, er sey mehr ein Wurm, als ein Mensch, und unter den Klagen über die Verhöhnungen, die er zu erdulden hatte, und über die Gefahren, die ihn umringten, doch gern gedenkt an die alten Wohlthaten Gottes, indem er sagt: „unsere Väter hofften auf dich, und du halfest ihnen aus; zu dir schrieen sie, und wurden errettet,“ und also Ruhe genug hatte, auf der Geschichte alter Zeiten zu verweilen: wieviel mehr wird der Erlöser, wenn gleich klagend, daß er in diesem Augenblick erschien als der von Gott Verlassene, doch in diesem Augenblick, der nicht im Laufe der menschlichen Begebenheiten spurlos verschwinden sollte, wie das Leiden des Psalmisten, sondern der der höchste war in der menschlichen Geschichte, ein Weltalter schließend, und ein neues beginnend, doch daran gedacht haben, daß alle Wohlthaten, die Gott jemals irgend einem Theile des gefallenen menschlichen Geschlechtes erwiesen hatte, doch nichts als nur höchstens Vorbereitungen waren zu dieser Einen, in Beziehung auf welche er bald darauf das besiegelnde Wort aussprach: „es ist vollbracht.“ – Und wenn der Psalmist, eben im Vertrauen auf die als unerschöpflich bewährte Barmherzigkeit Gottes, auch mitten im Gefühl der Verlassenheit schon von trostreicher Hoffnung ergriffen, ausruft: dich will ich preisen in der großen Gemeine! und hinzufügt, des Herrn solle gedacht werden an aller Welt Ende, und vor ihm anbeten alle Geschlechter der Heiden: wie sollte nicht noch vielmehr der | Erlöser in demselben geistigen Sinne auch in diesem Augenblick der herrlichen Zukunft gedacht haben, die ihm bevorstand, nämlich nicht 6–7 Vgl. Joh 8,56 9–11 Lk 2,29–30 11–13 Vgl. Joh 3,29–30 Ps 22,7–8 19–21 Ps 22,5–6 31–32 Joh 19,30 35 Ps 22,26 Ps 22,28

16–18 Vgl. 35–37 Vgl.

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nur aufzufahren zu seinem und unserm Gott und Vater, sondern auch hernach in den Seinigen wohnend, und unter ihnen, geistig gegenwärtig, der unerschöpfliche Urquell zu seyn alles geistigen Lebens und aller Verherrlichung Gottes in der Gemeine der Gläubigen, durch deren Dienst eine, wie der Sand am Meere, und wie der Thau in der Morgenröthe, unzählbare Menge Kinder Gottes zur Herrlichkeit eingeführt wurden aus allen Geschlechtern der Heiden. So, mitten im Gefühl auch der peinigendsten Schmerzen und der tiefsten Erniedrigung, doch erfüllt seyn von Gott und der Herrlichkeit seines himmlischen Reiches: das ist die vollkommene Reinigung aller Schmerzen, indem hier auch die kleinste Spur der Sünde verschwindet, und jede Gewalt der Sinnlichkeit gebrochen wird, und das Auge des Geistes frei bleibt, und das Herz offen für den großen Zusammenhang aller seligen Führungen Gottes, in welchem das eigene Leiden verschwindet, wie der Tropfen im Meere. Das war der Gemüthszustand des Erlösers, indem er diese Worte des Psalmisten zu seinen eigenen machte; und zu der Aehnlichkeit mit diesem Zustande sollen wir uns auch erheben. Das fordert auch der Apostel von uns, indem er uns zuruft: „freuet euch in dem Herrn allewege!“ Denn allerlei Leiden waren den Christen damals so wenig fern; wie denn er selbst als ein Gefangener litt, daß er bei diesem allewege nothwendig auch an die Zeit der Trübsale muß gedacht haben. Wie können wir uns aber leidend des leidenden Erlösers freuen, wenn wir nicht auch in der Art zu leiden ihm suchen ähnlich zu werden! Es gehört aber zur vollkommenen Reinheit des Schmerzes noch etwas, wovon uns der Erlöser auch das Vorbild giebt. So wie nämlich die Liebe zu Gott bewirkt, daß wir auch im Leiden eines beseligenden Andenkens an ihn voll sind: so muß auch die Liebe zu unsern Brüdern bewirken, daß uns auch mitten im Leiden das Mitgefühl für ihre Zustände, welcher Art sie auch seyn mögen, nicht erstirbt. Denn wenn Jemand im eigenen | Leiden den Sinn ganz verliert für das, was um ihn her vorgegangen ist, und noch vorgeht, wenn auch die lebhafteste Erinnerung an große Ereignisse der Vorzeit, zu welcher er auf die natürlichste Weise veranlaßt wird, nicht vermag, ihn dem verzehrenden Brüten über seinen eigenen Schmerz zu entreißen; wenn er das Weinen mit den Weinenden von sich weist, weil er nämlich genug zu tragen habe an seinem eigenen Leiden, und das Fröhlichseyn mit den Fröhlichen, weil man ihm nicht zumuthen könne, daß die Glückseligkeit Anderer irgend einen Eindruck auf ihn mache, bis die Last, die ihn selbst drückt, würde von ihm genommen seyn: von einem Solchen urtheilen wir gewiß mit Recht, daß sein Wesen allzutief in das Irdische 5–6 Vgl. Ps 110,3

19 Phil 4,4

36–38 Vgl. Röm 12,15

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versenkt sey, und wir besorgen nicht ohne Grund, daß, wenn er versichert, in seinem Leiden Gottes zu gedenken, und sich an ihn zu wenden, auch dies doch kein rechtes Gebet im Geist und in der Wahrheit sey. Denn wenn wir im Leiden Gott im Herzen haben: so müssen wir auch die Liebe darin haben, weil Gott die Liebe ist, und unser Herz muß der ganzen Welt offen stehen, weil sie ja nichts Anderes ist, als die Summe der Offenbarungen göttlicher Liebe, und sich also auch in alle Freuden und Schmerzen Anderer versenken können. Wie sich nun der Erlöser während der Stunden seines Leidens in dieser Hinsicht bewiesen hat, davon legen auch andere Worte desselben das rührendste Zeugniß ab; aus unseren Textesworten erhellt es aber zunächst schon dadurch, daß es nicht seine eigenen Worte sind, sondern Worte eines Anderen. Wer in das sinnliche Gefühl des Leidens auf eine selbstische Weise verloren ist, dem wird nicht leicht einfallen, sich etwas anzueignen, was ein anderer Leidender gesagt hat, denn er meynt mit seinem Leiden könne doch kein anderes derselben Art verglichen werden, und immer weiß er, wenn ihm eine Vergleichung dargeboten wird, bei den Leiden Anderer erleichternde Umstände, erschwerende aber bei den seinigen aufzufinden. Der Erlöser aber eignet sich gern an, was der Psalmist geklagt hatte, und | geht, denn sonst hätte er sich gerade diese Worte nicht aneignen können, in den ganzen Zusammenhang der Klage und des Leidens, so weit es ihm bekannt war, hinein, ohnerachtet er gewiß sagen konnte, das Leiden dieses Sängers sey mit dem seinigen nicht zu vergleichen, und erscheint also schon hierin jener selbstsüchtigen Neigung ganz entgegengesetzt. – Noch mehr aber erkennen wir dasselbige daran, daß der Leidende selbst, dessen Worte der Erlöser sich aneignet, auch derselben Gesinnung war, und sich das Gefühl seines eigenen Zustandes zu lindern suchte, indem er der Geschichten seines Volkes gedenkt, und fremde Erfahrungen neben die seinigen stellt. Diesen Gedanken ging also auch der Erlöser nach, und indem er selbst von Gott verlassen erschien, freuete er sich, daß Gott sich der Menschen überhaupt durch ihn erbarmt habe, und gewiß, indem er hier und dort Einzelne von den Seinigen erblickte, freuete er sich auch, daß ihm gelungen war, diesen ihre Freiheit zu erhalten, während Er ergriffen ward. Um aber das liebende Mitgefühl in der Seele des Erlösers recht zu würdigen, laßt uns ja nicht vergessen, welcher Art sein Leiden war. Schon wenn menschliches Leiden in den natürlichen Unvollkommenheiten des irdischen Lebens seinen Grund hat, erfreuen und erbauen wir uns daran, wenn der Leidende einerseits noch nach den Glücklichen fragt, und, teilnehmend an ihrer Freude, durch ein heiteres Lä3 Vgl. Joh 4,23–24

5 Vgl. 1Joh 4,8

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cheln seinen Schmerz unterbricht; andererseits aber auch, indem ihm selbst liebende Menschen den Kummer des Herzens zu erleichtern, oder die Schmerzen eines zerstörten Körpers zu lindern suchen, in wehmüthiger Theilnahme derer gedenkt, welche vielleicht unter denselben Leiden seufzend alles Trostes, den menschlicher Beistand, aller Stärkung, die zärtliche Liebe gewährt, entbehren müssen. – Noch schöner aber und ein reinerer Beweis von Frömmigkeit erscheint uns diese ungeschwächte Theilnahme im Leiden, wenn dieses durch den bösen Willen der Menschen herbeigeführt ist, wie unstreitig das Leiden jenes heiligen Sängers war; denn nur allzuleicht entsteht | in solchem Falle eine Erkältung und wohl gar Erbitterung des Herzens, wenn nicht gegen die Menschen überhaupt, doch gegen Alle, die in einer näheren Beziehung stehen mit denen, welche uns weh gethan. Darum freuen wir uns, daß der Psalmist mit Wohlgefallen erwähnt, daß Gott unter dem Lobe Israels wohne, und daß der Herr seine Väter errettet, und ihnen ausgeholfen habe. Denn gehörten die Feinde, die ihn bedrohten, zu seinem Volke selbst: wie natürlich wäre dann die Aeußerung gewesen, daß die Nachkommen unwürdig wären der Hülfe, die Gott den Vätern erzeigt, und daß das Volk den Vorzug, dem wahren Gott geweihet zu seyn, nicht verdiene. Waren seine Feinde aber auch Fremde, also Heiden: so ist nur um so rührender, daß er, weit entfernt nach der Weise seines Volkes noch üble Wünsche auf ihre Nachkommen zu häufen, sich vielmehr der fernen Zeiten freut, wo auch die Heiden würden Gott anbeten. Ja, wie natürlich wäre auch in diesem Falle Gleichgültigkeit und Härte gegen sein Volk gewesen, da die auswärtigen Feinde ihn schwerlich so hart bedrängen konnten, wenn er bei den Seinigen Bereitwilligkeit und Unterstützung genug gefunden hätte. – Aber wie weit wird noch alles dieses überstrahlt durch die Menschenfreundlichkeit des Erlösers in seinem Leiden. Denn gegen ihn hatten sich nicht nur die Oberen seines Volkes vereinigt mit den Heiden, sondern auch das Volk, so oft voll Bewunderung seiner herrlichen Thaten, und voll Begeisterung über seine Lehre, hatte das Kreutzige über ihn ausgerufen. Dennoch, indem er diesen Psalm nachempfand, freuete er sich der allgemeinen göttlichen Erbarmung über das ganze Geschlecht, welche durch seine damalige Gottverlassenheit besiegelt wurde, und freiwillig, mit einem Herzen voll Liebe, litt er für eben diejenigen, durch die er litt. 19 erzeigt] erzeugt 15–16 Vgl. Ps 22,4–5 Joh 19,6.15

23–24 Vgl. Ps 22,28

31–33 Vgl. Mk 15,13–14; Lk 23,21;

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So laßt uns denn, m. g. Fr., wenn wir zu leiden haben, auch nach dieser Gemeinschaft der Leiden Christi streben. Was uns begegnet, als Bewohnern dieser unvollkommenen Welt, das sind die Leiden dieser Zeit, nicht werth jener Herrlichkeit: aber | jene Herrlichkeit kann nur die unsrige seyn, wenn wir uns schon hier nicht mit einem armseligen vereinzelten Daseyn begnügen, sondern das göttliche Wesen, welches die Liebe ist, uns zu seinem Tempel gemacht hat. Was wir aber unverschuldet von der Welt zu leiden haben, als Christen, das kann als die Fortsetzung und Ergänzung der Leiden Christi, unser Schmuck und unsere Krone werden, wenn wir leiden, wie Er, das heißt, ohne Gott aus dem Herzen zu verlieren, und ohne daß die Bosheit und der Hohn der Welt uns das Kleinod der Liebe aus dem Herzen reißen kann. III. Laßt uns nun endlich auch noch darauf sehen, wie sich uns in diesen Worten des Erlösers seine vertraute Bekanntschaft mit den heiligen Schriften seines Volkes zu erkennen giebt. Denn, wie ich schon vorher gesagt habe, die wesentlichsten Umstände in den Leiden des Erlösers waren auf jeden Fall sehr verschieden von dem Leiden Davids, als er diesen Psalm dichtete, in welchem Theile seines Lebens dies auch mag geschehen seyn, und es waren zunächst nur minder bedeutende äußere Umstände, welche dem Erlöser jenen Psalm, aus dem er unsere Textesworte hernahm, in Erinnerung bringen konnten. Der Psalmist sagt, daß mächtige Feinde ihn umgeben hätten, und ihr Haupt über ihn schüttelten, und sprächen: er klage es dem Herrn! der helfe ihm aus, und errette ihn, hat er Lust zu ihm. Und eben so, nur gewiß weit mehr in unmittelbarer leiblicher Nähe, sah der Erlöser, aber mit einem ganz besänftigten Gemüth – denn er hatte ja selbst Vergebung für sie von seinem Vater erfleht – seine Feinde unter seinem Kreutze umher gehen, und seiner spotten, daß alles Vertrauen auf Gott, welches er immer bewiesen, und die innere Gemeinschaft mit dem Vater, deren er sich immer gerühmt hatte, doch einen solchen Ausgang seines Unternehmens nicht hatte verhüten können. Der Psalmist klagt, wie dem Druck des irdischen Leidens seine Kraft erliege, und die Seele | ihm gleichsam ausgetrocknet und verdorret sey in seinem Leibe; und so, nur gewiß nicht eigentlicher, so fühlte der Erlöser, nachdem er bereits längere Zeit am Kreutze ausgespannt gehangen hatte, daß seine feineren Säfte in ihren der gewohnten Bewegung beraubten Kanälen wie 22 konnten.] konnte.n 8–9 Vgl. Kol 1,24 28 Vgl. Lk 23,34

16–19 Vgl. oben S. 580,23–24 23–25 Vgl. Ps 22,8–9 27– 29–32 Vgl. Mt 27,43 (Zitat aus Ps 22,9) 32–34 Vgl. Ps 22,16

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eintrockneten, und seine Lebenskräfte sich allmählig erschöpften. – Der Psalmist stellt bildlich die Sicherheit dar, mit der seine Feinde sich schon ihren siegreichen Hoffnungen überließen, indem er sagt: „sie haben meine Kleider unter sich getheilt, und das Loos geworfen um mein Gewand;“ und eben dieses sah der Erlöser buchstäblich an sich in Erfüllung gehen durch die Hand jener rohen Kriegsknechte, welche die Wache unter seinem Kreutze hatten, und nun, hergebrachter Sitte gemäß, die kleine Beute unter sich theilten. Alles dieses war in Bezug auf den Ursprung und die Art und Weise des Leidens Christi nur geringfügig, und die Uebereinstimmung dieser Zufälligkeiten mit den Ausdrücken jenes Psalms würde übersehen worden seyn, wenn nicht mitten in dem Gefühle seines Leidens doch in der Seele des Erlösers die Erinnerung an alle herrlichen Worte in jenen alttestamentischen heiligen Schriften so lebendig gewesen wäre, daß schon diese einzelnen Umstände hinreichten, ihm das Klagelied jenes heiligen Sängers so in das Gemüth zurückzurufen, daß er nun die Worte desselben ganz zu seinen eigenen machte. M. g. Fr., der Geist Gottes hat sich nie und nirgend unbezeugt gelassen, unter allen Völkern, wie fern sie auch seyn mögen von der Reinheit unserer Erkenntniß, und der Festigkeit unseres Glaubens, hat es immer einzelne Ausdrücke des Göttlichen im Menschen gegeben, die sich von einem Geschlechte zum andern erhalten haben, daß noch späte Nachkommen aus ihnen Weisheit lernen und Muth schöpfen konnten. Ja auch heidnische Aussprüche dieser Art haben die ältesten Lehrer der christlichen Kirche sich nicht gescheut, als einen, wenn gleich fernen Hauch des Geistes von oben in Ehren zu halten, und mit den Sprüchen der heiligen Schrift zugleich anzuführen. So durchdrungen wa|ren sie von dem Gefühl, daß wenn ein altes Wort auch in ganz veränderten Zeiten seine gute Kraft noch bewährt, in einem solchen gewiß etwas Göttliches sey, welches verdiene, auch nach Jahrhunderten noch die Gemüther zu leiten und zusammenzuhalten. – Wir Christen aber, die wir nach des Herrn Verheißung des göttlichen Geistes theilhaftig geworden sind, freuen uns zwar der Gewißheit, daß Jeder unter uns von diesem Geiste vertreten wird mit unausgesprochenen Seufzern, wenn irgend etwas uns innerlich so bewegt, daß die Kräfte des menschlichen Wortes nicht hinreichen, um es auszudrücken. Viel aber ist uns auch dieses werth, daß es von je her nicht Wenige gegeben hat, welche wenigstens in den gelindern und daher mehr mittheilbaren Bewegungen des Gemüthes fähig waren, sowohl das rechte Maaß derselben in lehrreichen Worten uns Anderen zu beschreiben, als auch aus einem so wohlgeordneten Herzen dem Herrn zu singen und zu 4–5 Ps 22,19

5–8 Vgl. Mt 27,35 (Zitat aus Ps 22,19)

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spielen, und geistreich und gemüthvoll das schöne Feld seines gemeinsamen Preises zu bauen. Einen großen, herrlichen Schatz köstlicher Lieder und Worte dieser Art – wie könnten sie ohne den göttlichen Geist gedichtet und geredet seyn! – besitzt und verwahrt die christliche Kirche, und vorzüglich unsere evangelische vermehrt ihn zum gemeinsamen Gebrauch von Jahrhundert zu Jahrhundert. Welch reichen Genuß haben wir nicht Alle von diesem Schatz, Jeder, nachdem er mehr oder weniger davon im guten Gedächtniß aufbewahrt, und sich in der Stunde, wo er dessen bedarf, lebendig zu vergegenwärtigen weiß. Aber doch werden wir darüber Eines Sinnes seyn, das Wort des Herrn, welches in unsern heiligen Büchern zusammengefaßt, und nun seit so langer Zeit allen evangelischen Christen zugänglich gemacht ist, dieses hat doch noch eine weit höhere Kraft, und ragt auf eine ganz eigene Weise über alles Aehnliche hervor. Für jene schönen Erzeugnisse christlicher Frömmigkeit ist der Sinn getheilt. Jedes gefällt Einigen, und ist ihnen heilsam, Anderen aber will es nicht gedeihen. Der Schrift aber geben alle christlich frommen Gemüther einstimmig Zeugniß, und rühmen sich der Erfahrungen, die sie von der heiligen|den Kraft derselben unter den verschiedensten Umständen gemacht haben, von einer Kraft, mit welcher sich die Kraft keines menschlichen Wortes vergleichen läßt. Ja wir Alle bestätigen immerfort dieses Zeugniß durch die That, und hegen dasselbe Vertrauen. Denn wenn Einer den Anderen unterstützen will mit Rath und Trost in den bedrängten Augenblicken des Lebens: so weiß Keiner etwas Besseres zu thun, als daß wir unserm Bruder vor die Seele zu bringen suchen irgend Eins von den herrlichen Worten der Schrift. Unser Erlöser nun hatte nur die Schriften des alten Bundes vor sich, welche doch einer unvollkommenen Zeit angehören, in welcher der Geist Gottes, zu unempfänglicheren Menschen durch unvollkommnere Werkzeuge redend, nur auf eine sinnliche und bildliche Art die göttlichen Geheimnisse enthüllen, und den Menschen das göttliche Wesen offenbaren konnte; wir aber besitzen eine weit reinere Kunde göttlicher Geheimnisse, und einen ganz unmittelbaren Ausdruck göttlicher Weisheit und Liebe in dem, was Christus, das Fleischgewordene Wort, selbst geredet hat, und an dem, was seine treuen und ächten Jünger in seinem Sinne, und wie unmittelbar aus seinem Munde, ihren Zeitgenossen wiedergegeben haben. Wenn nun der Erlöser nicht nur, ohnerachtet er das Zeugniß seines Vaters für sich hatte, und keines Anderen bedurfte, sich doch in seinen Reden oft auf die heiligen Schriften berief, sondern auch, ohnerachtet er doch gewiß, aus der eigenen Fülle der Gottheit schöpfend, am besten sich selbst trösten 34–35 Vgl. Joh 1,14

40–41 Vgl. Kol 2,9

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und aufrichten, und auch für und zu sich selbst Gottgefälligeres und seiner Würdigeres reden konnte, als irgend sonst zu finden war, dennoch in den Augenblicken seines schwersten Leidens sich mit einem klagenden aber zugleich lobpreisenden und ermunternden Gesange aus den heiligen Büchern des alten Bundes aufrichtete, und sich auch darin auf eine fast wunderbar herablassende Weise uns gleich stellen wollte, daß er ebenfalls auch für sich selbst einen, auf jene Schriften, die schon seit Jahrhunderten ein geheiligtes Gemeingut aller frommen Verehrer seines | Vaters gewesen waren, einen so besonderen Werth legte, daß er es nicht verschmähte, noch im Angesichte des Todes seinen Vater mit Worten aus diesen Schriften anzurufen: – wie sollten nicht wir durch dieses große Beispiel noch immer fester an unsere heiligen Schriften des neuen Bundes gekettet werden, da diese nicht nur den Schatten künftiger Güter enthalten, wie jener alte Bund, sondern das Wesen selbst, da sie schon so viel länger sich als die kräftigste Stärkung und das reinste Läuterungsmittel heilsbegieriger Seelen bewährt haben, so daß auf jeden Spruch derselben, da die Gläubigen sich immer wieder bei dieser Quelle gelagert haben, ein besonderer Segen dankbarer Erinnerung ruht, und da wir selbst, einzeln sowohl, als in Gemeinschaft, weit entfernt eben so wie der Erlöser uns selbst genügen zu können, nur allzuleicht in Gefahr kommen, das Gleichgewicht zu verlieren, und Schiffbruch zu leiden, wenn es uns nicht zu rechter Zeit gelingt, in dem festen Grunde jenes göttlichen Wortes einen entscheidenden Anker zu werfen. Möchte daher doch uns Allen des sterbenden Erlösers Beispiel ein neuer Antrieb seyn, unsere Bekanntschaft mit der Schrift immer lebendig zu erhalten, ja sie mehr und mehr zu erweitern, damit wir es nicht brauchen auf den Zufall ankommen zulassen, was er uns zuführt, wenn wir einen Trost aus der Schrift brauchen, sondern es uns leicht werde, aus dem Schatze unserer eigenen Erinnerung uns jedesmal dasjenige zu vergegenwärtigen, was uns am meisten Trost und Erbauung oder Belehrung und guten Rath gewähren kann. Sehet da, das gesegnete Wort des Herrn beginnt jetzt einen neuen freudigen Flug, in fremde, größtentheils noch rohe ungeglättete, Sprachen übertragen, eilt es zu Völkern hin, die zwar wohl den heiligen Namen des Erlösers gehört, und einzelne Laute des Christenthums vernommen haben, aber noch nie die Geschichte des Erlösers, und die göttlichen Tröstungen seiner Lehre in diesem ursprünglichen Zusammenhange konnten kennen lernen. Daß doch dieses ja nicht den Schein gewönne, als wollten entweder wir nicht | nur mittheilen, sondern auch wohl Anderen etwas ganz überlassen, dessen wir selbst nicht mehr bedürfen, weil nämlich unser inneres Christenthum so fest gegründet und so vollkommen entwickelt sey, daß wir des äußeren Wortes leicht entbehren könnten; oder als

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sehne sich das göttliche Wort selbst von uns, die wir nicht genug Gebrauch davon machten, hinweg zu Anderen, die diesen Schatz köstlicher bewahren, und denen es wieder Alles seyn könne, was es unsern Vorfahren gewesen ist. Nein, m. Gel., so möge es uns nicht gemahnen! sondern tragen wir unser Scherflein dazu bei, daß die heilige Schrift über alle Länder und Völker der Erde verbreitet werde, so müsse sie zugleich unter uns selbst immer reichlicher wohnen, und alle jene Bestrebungen mehr von der überströmenden eigenen Erfahrung ausgehen, und wir nie müde werden, sowohl die Züge des Bildes Christi, als die Anweisungen für die Seinigen, immer wieder zu erregen, damit das geschriebene Wort lebendig werde in unsern Seelen, und nach seiner Verheißung Früchte trage zehnfältig und hundertfältig. Amen. Schl.

[Liederblatt vom 1. April 1821:] Am Sonntage Lätare 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Nun laßt uns den Leib etc. [1.] An deine Leiden denken wir, / Herr Jesu Christ, und danken dir, / Daß du so willig ihre Last / Zu unserm Heil getragen hast. // [2.] Wir folgen dir im Geiste nach, / Von Schmerz zu Schmerz, von Schmach zu Schmach; / Wir schaun zu deinem Kreuz hinan, / Und beten dich bewundernd an. // [3.] Auch uns zu gut, o Herr, betrat / Dein Fuß den dornenvollen Pfad; / Auch uns strömt Kraft und Trost und Ruh / Aus deinem bittern Leiden zu. // [4.] Daß Gott uns nun als Vater liebt, / Bußfertigen die Schuld vergiebt, / Daß deine Lehre fest besteht, / Dein heilges Reich nie untergeht; // [5.] Daß ewig unsre Seele lebt, / Und sich zur bessern Welt erhebt: / Den hohen Trost giebt uns dein Tod, / Gelobet sei Gott unser Gott! // [6.] Mit ungewissen Schritten geht / Des Lebens Pfad, wer dich verschmäht, / Mit Dank und Freude folgen wir, / Vollender unsers Glaubens, Dir. // (Bair. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Dir Dir Jehova etc. [1.] Ach sieh ihn dulden, bluten, sterben, / O meine Seele, sag ihm frommen Dank! / Sieh Gottes eingen Sohn und Erben, / Wie mächtig ihn die Menschenliebe drang! / Wo ist ein Freund, der je, was Er, gethan? / Der so wie er für Sünder sterben kann. // [2.] So sollt es seyn! Du, Herr, mußt leiden, / Dein Tod macht uns des Vaters Liebe kund; / Er wird für mich ein Quell der Freuden, / Ein Siegel auf den ewgen Friedensbund. / So wahr dich Gott für mich zum Opfer giebt, / So feste steht, daß er mich herzlich liebt. // [3.] Nun 11–12 Vgl. Mt 13,23; Mk 4,20

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bin ich dein, und Gottes Erbe, / Ich schaue in sein Vaterherz hinein; / Auch wenn ich leide, wenn ich sterbe, / Unmöglich kann ich je verloren sein. / Wenn Mond und Erd’ und Sonnen untergehn, / Mir bleibt doch ewig Gottes Gnade stehn. // [4.] Ja mir zum Heil wächst deine Ehre / Hervor aus Kampf und herbem Kreuzestod. / Befestigt ist nun deine Lehre, / Ich baue fest darauf in jeder Noth. / Du littest schuldlos, doch bleibt Preis und Ruhm / Nach Kämpfen auch der Unschuld Eigenthum. // [5.] O Herr dein Beispiel soll mich lehren, / Wie sanft und schön der Tod des Frommen sei; / Ja laß mich dein Gebot verehren, / Erhalte mich auch in Versuchung treu! / Dankbare Liebe dringet mich dazu; / Wer hat es mehr um mich verdient als du. // [6.] Was fürcht’ ich noch des Grabes Schrecken? / Im Grabe schliefst auch du mein Seelenfreund! / Mag Staub einst meine Hülle decken, / Mein Geist bleibe doch mit seinem Gott vereint. / Ja er, der dir das Leben wiedergab, / Wälzt einstens auch den Stein von meinem Grab. // [7.] Mein Heiland nimm für deine Plagen / Den Dank, den dir die treuste Liebe bringt, / Dort will ich besser Dank dir sagen, / Wenn dich mein Geist im Engelchor besingt. / Dann stimmen alle Selgen fröhlich ein; / Der ganze Himmel soll dann Zeuge sein. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Zion klagt etc. Leiden, wie der Heiland leiden, / Wollen wir zu Gott gekehrt; / Sterben wollen wir mit Freuden, / Wie sein Tod uns sterben lehrt. / Sehen werden wir dann ihn, / Drum ist uns der Tod Gewinn, / Ist ein Ausflug in die Hütten, / Die er auch für uns erstritten. //

Am 8. April 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Judica, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 19,28–29 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 266–282 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 293–306 SW II/4, ²1844, S. 342–356 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 239–250 Andere Zeugen: Nachschriften; SAr 60, Bl. 75r–78v und 81r–84v; Woltersdorff Besonderheiten: Teil der vom 11. März 1821 bis zum 20. April 1821 gehaltenen Predigtreihe über die letzten Worte Christi am Kreuz (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Passionspredigt.1

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Text. Johannis 19, 28. 29. Auch dieses kleinste, m. g. Fr., und scheinbar unbedeutendste, unter den letzten Worten unsers Herrn am Kreutz, als er ganz kurz vor seinem Ende noch sprach: „mich dürstet,“ hat seine eigenthümliche Merkwürdigkeit, wenn wir es genau erwägen, und alle Umstände dabei beachten. Noch wenige Monate zuvor hatte der Erlöser in derselben großen Hauptstadt seines Volkes, vor deren Thoren er jetzt litt, unter dem festlichen Zusammenfluß vieler Tausenden einladend gerufen: „wen da dürstet, der komme zu mir, und nehme des lebendigen Wassers.“ Und jetzt eben, dürfen wir wohl sagen, war er im Begriff diese Einladung auf ewig gültig zu machen, indem ihm durch seinen Gehorsam bis zum Tode die Macht gegeben ward, auf alle Zeiten hinaus allen geistigen Durst aller Menschenkinder zu löschen. Leiblicher Weise aber mußte er, schon im Begriff das Zeitliche zu gesegnen, 1

Aus derselben Reihe, wie die vorige.

10–11 Vgl. Joh 7,37–38 16 Die Anmerkung bezieht sich auf die ebenfalls zuerst im Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 283–303 abgedruckte Predigt vom 1. April 1821.

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und den Geist seinem himmlischen Vater zu befehlen, noch selbst ausrufen: „mich dürstet.“ Es ist indessen nicht sowohl der Gegensatz zwischen der geistigen Fülle, und dem leiblichen Bedürfniß, wobei wir stehen bleiben müßen: sondern was bei der Vergleichung beider Momente auf mich den größeren Eindruck macht ist dieses, daß unser Herr, wie er dort mit der größten Unbefangenheit seinen geistigen Reichthum und die Fülle des | göttlichen Lebens, welches in ihm war, Allen, die es hören mochten, eingestand, um sie ihnen anzubieten, eben so unbefangen auch hier das leibliche Bedürfniß, welches er mit uns Allen theilte, eingesteht, und zur Abhülfe bekannt macht. Dieses unbefangene Eingeständniß seines Bedürfnisses wird durch die obwaltenden Umstände so merkwürdig, daß wir es besonders zum Gegenstande unserer Betrachtung machen wollen. I. Was uns hierbei, m. g. Fr., billig zuerst in Gedanken kommen muß, weil es mit einem wichtigen Stück, sowohl unserer christlichen Lebensweisheit, als auch unseres christlichen Glaubens genau zusammenhängt, ist dies, daß wir auch schon aus diesem scheinbar geringhaltigen Worte sehen, unser Erlöser hat, bis zum letzten Augenblick seines Lebens, Schmerz und Leiden niemals selbst aufgesucht, oder sich als etwas Verdienstliches aufgeladen, und eben so wenig hat er das Verdienstliche seiner Erlösung für uns in dasjenige gesetzt, was er litt. Nicht leicht, das wißt ihr schon, pflege ich in den Betrachtungen, welche wir in dieser Leidenszeit jährlich anstellen, bei den körperlichen Leiden unsers Erlösers besonders viel zu verweilen, eben deßwegen, weil sie, wie alles Leibliche, nur die Schaale der großen Begebenheit seines Todes sind, so daß, wer sich zu lange und zu emsig damit allein beschäftiget, sich gar leicht den wahren Genuß des innern göttlichen Kernes verkümmern kann. Aber bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, aufmerksam darauf zu machen, wie sich der Durst, der den Erlöser quälte, zu seinen übrigen körperlichen Leiden verhielt. Offenbar nämlich war diese Empfindung nur ein Geringes gegen die Schmerzen und Qualen, welche sein am Holze ausgespannter Körper, nach Allem, was ihm schon Schmerzliches widerfahren war, durch diese Ausspannung selbst zu erdulden hatte, und welche unzertrennlich waren von der Todesstrafe, die ihm seine Richter bestimmt hatten. Aus demsel|ben Zustande freilich entsprang auch der Durst, der ihn quälte; allein alle andere Pein, die er am Kreutze fühlte, konnte ihm nicht abgenommen, oder auch nur gelindert werden, ohne die Todesstrafe selbst wieder aufzuheben. Weil ihm nun diese bestimmt war, so ertrug er mit geduldiger Seelengröße Alles, was damit unvermeidlich verbunden war. Nur diesem Durste war abzuhelfen durch menschliche Hülfe, und eben deßwegen rief der Erlöser: „mich dür-

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stet,“ offenbar in der Absicht, nur auch noch in dem letzten Augenblick seines Lebens durch menschliche Hülfe eine Linderung wenigstens dieses Uebels zu erhalten. Wenn er nun selbst von dem Gedanken ausgegangen wäre, zu dem Bedeutenden und Wesentlichen seines Versöhnungstodes gehöre auch das Leiden, welches er dabei erdulden mußte; wenn er selbst die Vorstellung gehabt hätte, die wir bei vielen Christen finden, daß der Erlöser ganz eigentlich durch das, was er litt, die Sünden der Menschen auf die Art tilgen sollte, daß er alles das erduldete, was sie selbst als Strafe für ihre Sünden hätten erdulden sollen, und daß zu diesem Ende sein Leiden nicht groß genug seyn könne: wie hätte er denn wohl, geduldig, wie er sein Leiden trug, so daß es ihm gewiß nicht größer erschien, als es war, und durchdrungen, wie er bei seiner göttlichen Reinheit seyn mußte, von der Ueberschwenglichkeit der menschlichen Sünden, wie hätte er denn wohl daran denken mögen, auch nur den kleinsten Theil dieses Leidens von sich abzuwälzen, und es auch nur um ein Weniges zu verringern? So wollen denn auch wir, diesen sinnlichen Vorstellungen entsagend, uns auch hierin zum Geistigen wenden, indem uns dieses Wort Christi auf das Bestimmteste überzeugt, nicht das Leibliche zu seinem Tode gehörige sey der Kelch, den er zu unserm Heil bis auf den letzten Tropfen leeren mußte; sondern der geistige Sieg, den er errang, sey dasjenige, weshalb er selbst mit Preis und Ehre gekrönt ward, indem er die Macht nahm dem, der des Todes Gewalt hatte, und wodurch wir Gott versöhnt sind, da wir noch Feinde waren. | Wie wir nun ganz deutlich sehen, daß er auch dieses mit seinem Tode verbundene Leiden ganz anders ansah, wie jedes andere: so können wir auch hier die rechte Weise von ihm lernen, die eben darin besteht, das Unvermeidliche mit würdiger Geduld zu tragen, ohne daß wir uns selbst oder Andern beschwerlich werden, für Alles aber, was durch menschliche Hülfe gelindert werden kann, auch menschliche Hülfe anrufen. Wie wir nirgends in seinem Leben finden, daß er sich Entbehrungen freiwillig aufgelegt hat, ihn aber überall zufrieden sehen, und getrosten Muthes bei jedem äußeren Zustande, wie er sich jedesmal aus seinem Berufsleben, und seinen äußeren Verhältnissen ergab, wie er, ohne sich weder dessen zu schämen, noch einen besonderen Werth darauf zu legen, unverholen aussprach, „des Menschensohn habe nicht, wo er sein Haupt hinlege“: eben so finden wir ihn auch hier bei seinem letzten Leiden, in geduldiger Stille tragend, wogegen keine Hülfe war, und dabei mit geistigen und göttlichen Dingen im Innern seines Gemüthes beschäftigt, das Leiden aber, wogegen Hülfe war, gelassen und unbefangen aussprechend: ob ihm etwa ge23–24 Hebr 2,14

24–25 Röm 5,10

37–38 Mt 8,20; Lk 9,58

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holfen würde. Und wie er, während seines öffentlichen Lebens und Lehrens, überall durch Wort und Tat bezeugt hatte, daß der sündige Mensch sich nicht Gott gefällig machen könne, oder sich ein Verdienst im Himmel erwerben, schon dadurch, daß er sich selbst Entbehrungen auflege, und freiwillig allerlei Leiden aufsuche, vielmehr die Mühseligen und Beladenen aufgesucht hatte, nicht nur um sie leiblich zu erquicken, sondern noch weit mehr, um sie geistig von dem unnützen aber schweren Joche solcher äußern Werke, und der betrüglichen Zuversicht darauf, zu befreien: so sehen wir ihn auch jetzt in seinem letzten Leiden weit entfernt von irgend einem solchen Gedanken, als gezieme es ihm, mehr zu leiden, als er mußte, um dadurch eine noch größere Stärke der Seele darzustellen, und die Zahl seiner Selbstüberwindungen und Tugenderweisungen zu vermehren. Vielmehr, was er auf eine schuldlose Weise Peinliches von sich abwenden konnte, davon suchte er auch jetzt noch, so viel an ihm war, sich zu befreien, und darum, als sein Gau|men vertrocknet war, rief er: „mich dürstet,“ und zeigt uns dadurch deutlich, daß er sich keiner andern Stärke des Geistes rühmen wollte, als des reinen Gehorsams, der Alles aber auch nicht mehr sowohl thut, als auch duldet, was in der treuesten Erfüllung des göttlichen Willens einem Jeden an seinem Ort in der menschlichen Gesellschaft Unvermeidliches zu tragen vorkommt. Und nur kraft dieses reinen unverbrüchlichen Gehorsams war sein Todesleiden in dem geistigsten Sinne der große Wendepunkt, an welchem eine alte Weise, und zwar eben so sehr der Wahn leerer Verdienste, als die Knechtschaft der Sünde aufhörte, und ein neues Leben begann, indem alle feindseligen, dem Heile der Menschen widerstrebenden Gewalten besiegt wurden. So wollen denn auch wir, durch dieses Beispiel unsers Erlösers auf’s Neue belehrt, keine Vorstellungen in uns aufkommen lassen, welche noch jener alten Weise angehören. Unser irdisches Leben, seinem sinnlichen Gehalte nach betrachtet, kann einmal nichts Anderes seyn, als eine Mischung von Freude und Schmerz. Wie wir aber denjenigen, der diese Mischung zu genau abwägt, und wenn ihm vergönnt ist, sein aufgegebenes Werk ohne große Störung zu verrichten, alsdann zu ängstlich jeder kleinen Annehmlichkeit des Lebens nachgeht, um gleichsam etwas gut zu haben für die ungewisse Zukunft, wie wir, sage ich, einen solchen nicht besonders hochachten, weil seine Seele sich zu ernsthaft mit einer kleinlichen irdischen Abrechnung beschäftiget: so wollen wir auch den nur als einen Selbstpeiniger bedauern, der in Zeiten des Unglücks nicht Noth genug haben kann, und im gewöhnlichen Laufe des Lebens jedes kleine Leiden besonders aufhebt, um sich damit zu schmücken, Linderungen aber ver5–6 Vgl. Mt 11,28

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schmäht, und zurückweist, welche ihm durch menschliche Hülfe werden könnten. Denn das Verschmähen irgend einer, auch geringeren guten Gabe von oben, – und menschliche Theilnahme ist doch immer eine solche, – kann uns nie einen Werth geben in den Augen Gottes. Aber es gehört hieher noch etwas, das wir nicht übersehen dürfen, ehe wir zum zweiten Theile unserer Betrachtung | fortschreiten. Indem Johannes sagt: „als Jesus wußte, daß schon Alles vollbracht war, daß die Schrift erfüllet wurde, spricht er: mich dürstet,“ will er uns aufmerksam darauf machen, daß in jenem Psalm, der dem Erlöser, wie wir aus einer früheren Betrachtung wissen, in diesen Stunden besonders vorschwebte, auch neben anderen Aehnlichkeiten eine Stelle diesen Theil seines körperlichen Leidens besonders ausdrückte, indem es nämlich dort heißt: „meine Kräfte sind vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen.“1 Ohnerachtet nun aber von einer Erleichterung dieses Leidens in jenem Psalme nichts steht, und des Erlösers Aufmerksamkeit fortwährend darauf gerichtet war, daß jene Aehnlichkeiten an ihm in Erfüllung gingen, bewog dennoch auch das ihn nicht, sich die mögliche Erleichterung desselben zu versagen. Der Gedanke also, es gehöre zu seiner Bestimmung, daß auch diese Schrift an ihm erfüllt würde, muß nicht einen solchen Einfluß auf ihn gehabt haben, daß er sein eigenes Betragen danach eingerichtet hätte, sondern er hat sich dadurch nicht, hindern lassen, alles das zu thun, in Beziehung auf sein Leiden, was er auch würde gethan haben, wenn diese Schrift gar nicht wäre vorhanden gewesen. Und wir dürfen sicher glauben, hätte er, eben so wie er seinen Durst stillte, auch dem abhelfen können, daß die ihn sahen, seiner spotteten, und den Kopf schüttelten, daß, nun seine Hände durchgraben waren, und man alle seine Gebeine zählen konnte, die welche ihn schaueten, ihre Lust an ihm sahen: so würde er sich auch davon gern befreit haben. Die Anweisungen also zu dem, was er thun und lassen sollte, nahm er nicht aus den weissagenden Andeutungen der Schrift, sondern aus den Geboten derselben, indem er das Wort in seiner ganzen Kraft auf sich anwendete. Im Buche stehet von mir geschrieben: siehe deinen Willen, mein Gott, thue ich gern, und dein Gesetz ist in meinem Herzen.2 Auch dieses, m. gel. Fr., sei uns ein heil|samer Wink zu einer Zeit, wo viele Christen Beides nicht gehörig von einander unterscheiden, und aus einem wohlgemeinten aber irre geleiteten Eifer für die Wahrheit der Schrift, dem schwierigen Geschäft, den Sinn verborgener 1 2

Ps. 22, 16. Ps. 40, 8–9.

13–14 Scherben] Scheeben

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Weissagungen zu erforschen, auf solche Weise obliegen, daß, haben sie einmal eine Deutung auf der Spur, sie sich nicht nur über Alles freuen, was deren Erfüllung herbei zu führen scheint, wie sehr auch sonst ein gutes Gemüth sich darüber betrüben müßte, sondern daß sie auch, um die Erfüllung zu befördern, leider Manches thun würden, ohne zu fragen, ob es auch jenem Willen und Gesetz Gottes gemäß sey, das sie im Herzen tragen sollen. Möchten wir uns vor diesem Abwege insgesammt hüten, und immer unterscheiden, was uns in der Schrift zur Lehre und zur Züchtigung in der Gerechtigkeit geschrieben, und was nur unserer Betrachtung hingestellt ist, sey es nun als Erzählung oder als Weissagung. II. Das Zweite aber, was uns nicht entgehen kann, wenn wir bei der Betrachtung dieses Wortes Christi gehörig auf die Verhältnisse Acht haben, in welchen sich der Erlöser damals befand, ist dies, daß sich auch in dieser Kleinigkeit zeigt, wie frei sein Herz gewesen ist von irgend einem Trotz oder Groll. Denn indem er ausrief: „mich dürstet,“ so muß er sich doch die Möglichkeit einer Hülfe, die ihm werden könnte, gedacht haben, sonst würde wohl dieses Wort eben so wenig, als irgend eine vergebliche Klage über das Unvermeidliche, von ihm gehört worden seyn. Wer aber konnte ihm diese Hülfe leisten, als eben die Kriegsknechte, welche die Wache hatten unter seinem Kreutze? denn diese hüteten sein, und Niemand durfte, ohne ihre Erlaubniß, seinem Kreutze nahen. Was aber konnte er in diesen anders sehen, als wenn nicht dieselben, so doch wenigstens gleichgeartete Genossen derer, welche schon früher durch unwürdigen Hohn ihren frevelnden Muthwillen an ihm ausgelassen hatten? Was anders | als die rohesten Diener eben der widerrechtlichen höchsten Gewalt, unter deren Botmäßigkeit der Erlöser nicht einmal für gewöhnlich leben wollte, und die nun das Urtheil seines Todes gesprochen hatte? Fragen wir uns nun ehrlich, wenn wir uns irgend ein anderes menschliches Herz denken, auch fromm und mild, nur noch nicht ganz gereinigt durch den göttlichen Geist, so daß schon alle Selbstsucht daraus vertrieben, und aller Hochmuth verschwunden wäre: würde es nicht einem jeden solchen natürlich gewesen seyn, lieber keine Hülfe begehren zu wollen, als von denen, die in solchen Verhältnissen standen, und sich sogar selbst schon auf eine solche Art bewiesen hatten, und eher zu den vielen Schmerzen und Plagen, die ohnehin erduldet werden mußten auch noch die eine des brennenden Durstes, und zwar auf die wenigen Minuten, welche noch übrig waren für das irdische Leben, zu ertragen, als noch diejenigen um Hülfe anzurufen, die nichts Anderes bisher gethan hatten, als des Leidenden spotten? Be-

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trachten wir das Wort des Erlösers von dieser Seite, m. g. Fr., so werden wir wohl nicht einen Augenblick länger sagen, es sey an und für sich unbedeutend, sondern wir finden es vollkommen werth, neben jenes große gestellt zu werden, welches der Herr kurz zuvor gesprochen hatte: „Vater, vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun.“ Mir wenigstens will es scheinen, wenn wir uns selbst darüber auf die Probe stellen könnten, welches von beiden uns in einem ähnlichen Falle leichter werden würde, jenes erste, in dem Gefühl des Rechts, in dem Bewußtseyn, daß wir nicht abgewichen sind von dem Wege der lauteren Wahrheit, daß wir den einfältigen und unsträflichen Wandel vor Gott nie aufgegeben, daß wir, wie der Herr in seinem ganzen Leben, nichts Anderes gesucht und gewollt haben, als den Willen unsers himmlischen Vaters erfüllen, in diesem Gefühl auch, wie Christus zu dem himmlischen Vater, wenn unsere Feinde uns umlagern, und unserer spotten, zu flehen: „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun;“ oder dieses spätere, nämlich von ihnen selbst noch in den letzten Leiden und Schmerzen des Lebens Hülfe und Linde|rung für dieselben zu erbitten: ja, mir will scheinen, wir würden nach einiger Ueberlegung Alle gestehen müssen, zu dem Letzteren, wenn es gleich etwas Geringeres scheint, gehöre doch noch ein besonderer höherer Grad der Selbstüberwindung und Verläugnung, der in dem Ersteren nicht enthalten ist. Wie wir Alle gewiß schon oft die Bemerkung gemacht haben, und sie auch durch häufige Erfahrungen bestätigt gefunden, daß es einem Menschen nicht selten leicht genug wird, schwerere Leiden zu erdulden, in denen er die Stärke seiner Seele auf eine befriedigende Weise zeigen kann, daß aber derselbe, welcher so musterhaft die großen erduldete, oft nicht auf gleiche Weise im Stande ist, auch die kleineren Unbequemlichkeiten und Widerwärtigkeiten des Lebens zu überstehen, ohne sich von ihnen aus der gewohnten Haltung bringen, oder sich sonst von ihnen überwinden zu lassen. Eben so nun, denke ich, ist es auch mit den Bewegungen unseres Gemüthes, daß es oft leicht ist, sie, wo es auf etwas Großes ankommt, in Ordnung zu halten, und sie durch den göttlichen Geist leiten zu lassen, aber gerade in den Kleinigkeiten des Lebens ist es oft unerwartet schwierig, und erfordert eine große Anstrengung bei solchen Gelegenheiten, dem doch nicht ganz Lobenswürdigen oder Tadellosen zu widerstehen, was sich aber sehr natürlich in der menschlichen Seele regt. Und davon würden wir gewiß Alle bei ähnlicher Gelegenheit die Erfahrung machen. Fragen wir nur, auf welche Weise wohl wir selbst und die Besten, die wir kennen, in diesem Falle würden gehandelt haben, wenn nicht etwa 5–6 Lk 23,34

12–13 Vgl. Mt 7,21; 12,50; Mk 3,35

15–16 Lk 23,34

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ein unwillkührlicher Ausdruck des leiblichen Bedürfnisses dazwischen getreten wäre, welches bei dem Erlöser nicht kann Statt gefunden haben, so werden wir gestehen müssen, das Wahrscheinlichste sey wohl, daß fast in uns Allen das Gefühl die Oberhand würde behalten haben, lieber keine Hülfe und Linderung annehmen zu wollen von denen, die uns schon so freventlich gekränkt und beleidigt hätten. Aber was wäre das wohl anders gewesen, als eine in Groll und Feindschaft ausartende kleinliche Empfindlichkeit! Gesetzt | nun, auch das Schlimmste wäre geschehen, und die Kriegsknechte hätten auf’s Neue aus dieser unbefangenen Aeußerung des Erlösers Anlaß genommen zu irgend einer muthwilligen Verhöhnung: hätte davon der Erlöser irgend einen Nachtheil gehabt? würde das im Stande gewesen seyn, die Ruhe seiner Seele zu trüben? oder müßten wir nicht nach Allem, was schon geschehen war, das Gegentheil mit der größten Gewißheit voraus setzen? Wenn aber Jemand entgegnen wollte: der Erlöser freilich wäre darin, wie in Allem, seiner vollkommen gewiß gewesen, wir aber, die wir nicht in demselben Grade für uns einstehen könnten, würden doch unrecht thun, uns ohne Noth der Gefahr auszusetzen, daß uns die Stille des Gemüthes, die im Leiden ein so köstliches Gut ist, uns ohne Noth getrübt würde, durch eine widerwärtige Aufwallung, deren wir uns vielleicht doch nicht würden erwehren können. Dem würde auch ich allerdings beistimmen, m. gel. Fr., wenn wir die Vorsicht beobachten könnten ohne Verletzung unserer Pflicht. Aber sehet zu, ob wir nicht hierüber so denken müssen. Gott will, daß alle Menschen sich als Brüder betrachten und lieben sollen: darum hat er auch die menschliche Welt so eingerichtet, daß kein Mensch für sich allein steht, sondern Jeder ist in nothwendiger Gemeinschaft mit vielen Andern, und also genau betrachtet mittelbar mit Allen. Dieser göttliche Wille aber, der sich so schwer durcharbeiten kann durch Alles, was Trennung und Zwiespalt unter den Menschen hervorbringt, ist uns erst in seinem ganzen Umfang und seiner vollen Stärke kund geworden, seitdem wir Alle an dem Erlöser einen gemeinschaftlichen Mittelpunkt bekommen haben. Denn wenn gleich die Christen unter sich noch zu einer besonderen Bruderliebe berechtigt und aufgefordert sind, so wissen wir doch so gewiß, als die Kraft der Erlösung allgemein ist, daß wir zwischen unsern Brüdern in Christo, und denen, die nur unsere Brüder sind, in der menschlichen Schwachheit keinen anderen Unterschied machen dürfen, als den, daß die Einen schon seines Heiles theilhaftig sind, die Anderen aber es erst erlangen sollen. Allein so sehr auch die richtige Erkenntniß hierüber un|ter uns verbreitet ist: so bleiben doch auch wir Alle in der Erfüllung dieses göttlichen Willens noch immer weit zurück, und immer noch werden wir mannichfaltig versucht zur Gleichgültigkeit gegen die Einen, und zum

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Widerwillen gegen die Anderen, und oft kommt uns diese Versuchung gerade durch unser Gefühl für das Schöne und Rechte, durch unsern Eifer für das Gute und Wahre. Daher ist es nun unser Aller heilige Pflicht, bei jeder Gelegenheit auf dieses Bewußtseyn der allgemeinen Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit zurückzukommen, und uns darin zu befestigen. Das Herz wird aber hierin nur fest durch beständige Uebung, und diese dürfen wir daher weder uns selbst, noch unsern Brüdern je versagen. Wir können uns aber darin vornehmlich nur theils dadurch üben, wenn wir auch an solchen, mit denen wir in gar keiner näheren Verbindung stehen, theilnehmen, und ihnen in allgemeinen menschlichen Dingen Hülfe leisten; theils aber auch dadurch, wenn wir sie an uns Theil nehmen lassen, und allerlei Hülfleistungen von ihnen begehren und annehmen. Wenn nun Einer sich in irgend einer Beziehung feindselig gegen uns gezeigt, ich will nicht einmal daran erinnern, wie oft wir das mit Unrecht glauben, wenn uns nur durch einen Andern ein Schaden erwachsen ist, ohne seinen bösen Willen, sondern es sey auch wirklich so, daß uns Einer absichtlich gekränkt, uns durch wiederholte Angriffe ermüdet, und das Recht gegen uns verdreht oder verletzt hat: werden wir uns deßhalb berechtigt halten, ihm unsere Hülfe zu entziehen in irgend einem Unglück? Gewiß würden wir daran sehr unchristlich handeln: denn er kann niemals diejenigen Ansprüche an uns verwirken, die auf der allgemeinen Verbindung der Menschen beruhen, und uns selbst thut es ja ebenfalls Noth, die Erinnerung an solche Störungen, die uns nur zu leicht und zu tief verletzen, sobald als möglich zu vertilgen, und das Verhältniß, welches Gott selbst zwischen uns geknüpft hat, aufrecht zu erhalten, und es nicht durch Fehltritte, wie empfindlich sie uns auch mögen gewesen seyn, verdrängen zu lassen. Darum werden wir jede Gelegenheit, denen, welche sich für unsere Feinde halten, hülfreich | zu seyn, mit gutem Herzen, und rechter Liebe ergreifen, um unsere eigene Seele desto besser im Gleichgewicht zu erhalten, oder es ihr wieder zu geben, und um, so viel an uns ist, das ewige göttliche Recht zwischen Mensch und Mensch zu befestigen. Aber darin sollten wir einen Unterschied machen, daß wir ihnen zwar wollen Hülfe leisten, aber keine von ihnen annehmen? Hieße das nicht mit dem Leichteren und Angenehmeren uns allein schmücken, und das Bittere und Schwere ihnen allein auflegen wollen? Und da doch gewiß, wer keine Hülfe annehmen will von dem, der ihn beleidigt hat, sie sich noch viel weniger von dem wird gefallen lassen, den er selbst zu beleidigen das Unglück gehabt hätte: wie wäre wohl bei dieser Sinnesart zwischen einmal von einander entfernten Gemüthern eine Annäherung möglich? Denn kommt sie nicht auf diesem menschlichsten und christlichsten Wege aus dem innersten Herzen beider Theile zu Stande, so wird

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wohl jeder andere Versuch entweder offenbar unwirksam seyn, oder nur einen scheinbaren und vorübergehenden Erfolg haben. So ist demnach Hülfe annehmen von Beleidigern eine eben so heilige Pflicht, als ihnen Hülfe leisten. Und nun seht, wie der Erlöser uns in Beidem vorangegangen ist. So wie er dem Knechte des Hohenpriesters das verwundete Ohr heilte, und dadurch Einem hülfreich ward, der sich doch auf eine vorzüglich gehässige Art muß geschäftig bewiesen haben bei seiner Gefangennehmung: so ruft er nun hier: „mich dürstet,“ und bietet mit dem menschenfreundlichsten Herzen den römischen Kriegsknechten, deren roher Muthwille sich schon angestrengt hatte, ihm wehe zu thun, die Gelegenheit dar, durch eine menschliche Hilfsleistung ihre Feindseligkeit einigermaßen zu bedecken, und die Welt wieder mit sich auszusöhnen. O welche göttliche Reinheit der Seele zeigt uns der Erlöser auch in diesem Zuge! wie unbezwinglich war bei ihm die Neigung, das ganze Geschlecht der Menschen mit Liebe zu umfassen, und wie bricht sie unter den ungünstigsten Umständen überall durch, im Kleinsten, wie im Größten! Möchten wir ihm darin ähnlich zu werden suchen, uns über jeden Groll erheben, und auch im Leiden uns zu keiner Hart|herzigkeit verstocken lassen, sondern die ganze volle Liebe und ihre rührende Unbefangenheit auch gegen Widersacher uns zu bewahren suchen. III. Eines aber müssen wir noch zum Schlusse bemerken über dieses Wort des Erlösers: daß er nämlich nicht nur seinerseits bereit war, Hülfe von seinen Widersachern anzunehmen, so daß, er sie sogar darum ansprach, sondern daß er dies auch in dem guten Glauben that, die erbetene Hülfe werde ihm nicht entstehen. Denn eben so wenig, als wir glauben können, die Worte des Erlösers seyen nur ein unwillkührlicher Ausruf gewesen, ohne irgend eine Abzweckung, eben so wenig wohl dürfen wir denken, er habe vorausgesetzt, seine Bitte werde ihm abgeschlagen, und auch von ihr wieder Veranlassung genommen werden zu irgend einer neuen Schmähung, und seine Absicht sey daher eigentlich gewesen, auf der einen Seite sich selbst einen Triumph zu bereiten durch seine ungetrübte Unbefangenheit, auf der andern aber jene in ihrer ganzen Unmenschlichkeit darzustellen, wenn selbst dieser Zustand ihnen keine thätige Theilnahme abgewinnen könnte, sondern ihre Feindseligkeit sich bis in das Kleinste erstreckte, und bis auf den letzten Augenblick aushielt. Nein, auch dies können wir vom Erlöser nicht glauben, und es bleibt also nichts übrig, als ganz einfach anzu5–8 Vgl. Lk 22,51

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nehmen, wie er rief: „mich dürstet,“ that er dies in dem menschlichen Gefühl, dem Dürstenden werde auch gereicht werden, was seinen Durst stillen könne. Ja er glaubte, die boshafte Lust, welche sich so ausgelassen gegen ihn gezeigt hatte, werde nun gesättigt seyn, und die ursprüngliche Gutmüthigkeit der menschlichen Natur werde sich bei der Steigerung seines Leidens bis zum Tode wieder durchgearbeitet haben; und darum rief er: „mich dürstet.“ Und was war nicht Alles geschehen, fast seitdem der Erlöser öffentlich aufgetreten war, wodurch dieser Glaube hätte | können geschwächt und ausgerottet werden! Gleichgültig waren größtentheils seine Wohlthaten aufgenommen worden, so daß er Wehe ausrief über die Städte, wo er die meisten Zeichen gethan, und so hatte er wiederholte Erfahrungen gemacht, von der Stumpfsinnigkeit der Menschen. In Lebensgefahr hatte ihn das Zeugniß gebracht, welches er sich selbst gab, und welches doch jeden Augenblick durch die That bestätigt ward, und so wußte er, wie schlecht es um die Fähigkeit stand, seine höhere Würde anzuerkennen, und wie leicht im Gegentheil der große Haufe aufgeregt werden konnte von denen, die ihn am meisten verfolgten. Und nun gar, seitdem er unter dem kleinen Häuflein seiner Jünger einen Verräther gefunden hatte, und so diese Entscheidung seines irdischen Lebens herbeigeführt worden war, wobei Menschen von der verschiedensten Art, und von übrigens ganz entgegengesetzten Ansichten und Bestrebungen sich gegen ihn verbunden hatten, seitdem das Volk mit derselben Heftigkeit, mit der es ihn sonst bewunderte, das Kreutzige über ihn ausgesprochen, seitdem die Obrigkeit, die ihn hätte schützen sollen, eingeschüchtert durch feindselige Einflüsterungen ihn dem Tode überantwortet, und den ärgsten Mißhandlungen Preis gegeben, seitdem fürstliche und vornehme Personen an niedrigem Spott, der ihm widerfuhr, ihr Wohlgefallen bezeugt hatten, und selbst die Lehrer des Volkes sich herabwürdigten zu höhnischer Freude, bei dem Anblick seiner Todesleiden: was wäre es Wunder gewesen, wenn auch keine Spur von Glauben an die Menschlichkeit in ihm übrig geblieben wäre! – Ja wohl Wunder bei jedem Andern, als ihm! Denn je unauflöslicher in ihm das göttliche Wesen mit der menschlichen Natur verbunden war, und sie ganz durchdrungen hatte, um so mehr geziemte es auch ihm, zu glauben, daß sie sich nirgends ganz von dem Zusammenhange mit dem göttlichen Wesen los machen könne, und daß auch in dem Verdorbensten noch etwas von der gött-

11–12 Vgl. Mt 11,21; Lk 10,13 19–20 Vgl. Mt 10,4; Mk 3,19; Lk 6,16; Joh 6,70– 71 24–31 Vgl. Mt 27,22–31.41–43; Mk 15,14–20.29–32; Lk 23,21–25.35–37; Joh 19,1–16

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lichen Kraft der Liebe verborgen sey, dem es nur nie an Aufforderungen fehlen dürfe, damit es endlich einmal an’s Licht komme. Daß aber gerade gegen seine Person sich so viele Aeußerungen menschlicher Ver|dorbenheit zusammendrängten, dadurch konnte ihm, der nirgend die Person ansah, die Wahrheit nicht im Mindesten getrübt werden. – Und indem er diesen Glauben auch hier im Kleinsten getreu war, indem er auf die Menschlichkeit derer rechnete, die sich schon unmenschlich genug gezeigt hatten, ward er auch nicht getäuscht, sondern einer von denselben Kriegsknechten, die schon das Loos um sein Gewand geworfen hatten, vielleicht auch von denselben, welche ihn spottend mit dem Purpur bekleideten, tauchten nun einen Schwamm in sein eigenes Getränk, und reichte ihm denselben an das Kreutz hinan. Weil er also selbst frei war von allem Groll und von allem Unglauben, so besiegte er durch die Gewalt der Liebe auch diejenigen, die ihm die Leiden des Todes bereitet hatten, indem er sich für die letzte Pein seines irdischen Lebens eine Linderung von ihnen errang, und wir können sagen, daß durch dieses kleine Wort: „mich dürstet,“ wie es seine eigene Versöhnung mit seinen Feinden, und seinen Glauben an ihre Empfänglichkeit für das Gute ausspricht, jenes große Wort: „Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun,“ erst vollkommen bestätiget und besiegelt worden ist. Auch hierin also, m. gel. Fr., ist uns der Erlöser ein großes und herrliches Beispiel geworden; unerreichbar freilich, aber dem wir doch nachfolgen sollen, eingedenk des Wortes: daß die den Geist Christi nicht haben, auch nicht die Seinigen sind. Laßt uns also bei der lebendigen Erinnerung an dieses versöhnende und glaubensvolle Wort des Erlösers uns um so mehr vor Allem hüten, was uns in dieser Nachfolge nothwendig stören muß. Wie steht es nun hierin mit uns? Wir wissen Alle recht gut dasselbige, was ich eben als den Grundsatz des Erlösers ausgesprochen habe: daß nämlich niemals alles Gute ganz aus der menschlichen Natur verschwinden könne, weil sonst auch die Fähigkeit, ihn als Erlöser anzunehmen, müßte verschwunden seyn. Eben so gut wissen wir auch, daß doch, auch selbst in dem Gebiete der Erlösung, die Fortschritte der Menschen im Guten nur sehr lang|sam seyn können, wenn sie nämlich sicher seyn sollen. Das wissen wir Beides, und Keiner unter uns wird sich wohl jemals anders darüber äußern. Aber wie schlecht steht es oft um die Lebendigkeit 6 diesen ... getreu] Vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 638 9–11 Vgl. Mt 27,27–30.35; Mk 15,16–19.24; Lk 23,34.36 25 Röm 8,9

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dieser Erkenntniß, und um deren Anwendung, zumal in besonders bewegten Seiten des Lebens, sey es nun, daß die gemeinsamen Angelegenheiten der Menschen uns aufregen, oder daß unser eigenes Leben in einer bedenklichen Wendung begriffen ist. Laßt uns selbst in unserem Beruf etwas Freudiges durch menschliche Vermittelung widerfahren, – gleich sind wir geneigt, denen die dabei wirksam gewesen sind, edlere Bewegungsgründe unterzulegen, als nach denen sie uns sonst zu handeln scheinen, und sie überhaupt höher zu stellen, als wir sonst pflegen. Laßt irgend etwas Gutes, woran wir einen besonderen Antheil nehmen, nachdem es langen Widerspruch erfahren, endlich einmal gefördert und begünstigt werden, gleich denken wir, die Augen seyen nun plötzlich geöffnet, und die Herzen erwärmt worden, und es werde nun nach demselben Maaßstabe fortgehen, ohnerachtet wir uns bei ruhiger Betrachtung oft gesagt haben, wie unmöglich das sey. Aber eben so leicht begegnet uns dann auch das Entgegengesetzte. Wenn die Menschen uns persönlich mit Leidenschaft entgegentreten: so glauben wir, weil wir uns bewußt sind, nur das Gute zu wollen, nur gar zu leicht, die Feindschaft gegen das Gute erzeuge ihre Widrigkeit, ohnerachtet wir uns in ruhigen Zuständen oft genug sagen, es gäbe wohl, genau betrachtet, gar keine eigentliche Feindschaft gegen das Gute. Wenn nun dem Erlöser das Letzte nicht begegnete, sondern er auch unter den ungünstigsten Umständen, wie Keiner von uns jemals hineingerathen kann, den guten Glauben nicht verlor, ohne dessen Wahrheit auch seine Erlösung keinen Fortgang könnte gehabt haben, und das Reich Gottes nicht erbauet worden seyn: so laßt uns ja nicht vergessen, daß er sich auch von dem Ersten eben so frei hielt. Soll, in Zeiten des Leidens und niederschlagender Verhältnisse zu unsern Nebenmenschen, das Beispiel, welches er uns am Kreutze gegeben hat, nicht verloren seyn an uns: so müssen wir uns auch in Zeiten der fröhlichen, wohlunterstützten Wirksamkeit | und des guten Gelingens nach ihm richten. Vor großen Schwankungen in unsern Ansichten von den Menschen überhaupt müssen wir uns vornämlich hüten, und den Gleichmuth des Erlösers uns zu eigen machen; das ist die erste Bedingung, wenn wir uns die Freiheit des Geistes erhalten wollen, die so wesentlich zur rechten Freiheit der Kinder Gottes gehört. Und giebt es Zeiten, wo es scheint, als ob in den großen Verhältnissen der Menschen ein feindseliger und selbstsüchtiger Geist die Oberhand behielte, und auch unter den Christen das Gefühl der Bruderliebe und der Verwandtschaft zurückträte, und wollen wir diese unbesiegt bestehen: so müssen wir uns vorher schon üben, auch am Kleinen uns zu erfreuen, wenn das Große nicht erfreulich ist, und müssen uns, wie der Erlöser 35 Röm 8,21

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es hier that, daran genügen lernen, wenn wir auch nur einzeln aus einer verwilderten Brust ein reines menschliches Gefühl hervorzulokken vermögen. Das ist die erste Bedingung, wenn das Böse, auch in der Gestalt der kränkendsten Feindseligkeit, doch nicht im Stande seyn soll, in uns das Gute, nämlich die versöhnliche Standhaftigkeit und die milde Zuthulichkeit der Liebe, zu überwältigen. Von ihm müssen wir auch dieses lernen. Möge denn sein schönes Bild, wie es uns auch jetzt erschienen ist, uns oft vorschweben, und wir recht oft hinschauen auf diesen ungetrübten innern Frieden, auf diese Reinheit der Seele, in welcher nie auch nur das leichteste Wölkchen von Uebelwollen aufstieg, um seine gleich unzerstörbare Gemeinschaft, sowohl mit dem Vater, der die Liebe, als mit dem menschlichen Geschlechte, welches der Gegenstand dieser Liebe ist, zu trüben! Möge dazu, daß wir uns immer mehr in die Züge dieses Bildes gestalten, und in seiner Aehnlichkeit bis zum letzten, unter welcher Gestalt auch erscheinenden, Augenblicke unseres Lebens zu beharren, auch diese Betrachtung seines Leidens uns Allen gesegnet seyn. Amen. Schl.

12–14 Vgl. 1Joh 4,8.10.16

Am 23. April 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten: 37r

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Ostermontag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,1–12 Nachschrift; SAr 77, Bl. 37r–51v; Slg. Wwe. SM; Andrae Keine Nachschrift; SAr 60, Bl. 99r–102r; Woltersdorff Keine

Tex t. Lukas XXIV,1–12. Aber an der Sabbather einem sehr frühe kamen sie zum Grabe, und trugen die Spezerei die sie bereitet hatten, und etliche mit ihnen. Sie fanden aber den Stein abgewälzt von dem Grabe, und gingen hinein und fanden den Leib des Herrn Jesu nicht. Und da sie darum bekümmert waren, siehe da traten bei sie zween Männer in glänzenden Kleidern; und sie erschraken, und schlugen ihre Angesichter nieder zu der Erde. Da sprachen sie zu ihnen: was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Er ist nicht hier, er ist auferstanden. Gedenket | daran, wie er euch sagte, da er noch in Galiläa war, und sprach: des Menschen Sohn muß überantwortet werden in die Hände der Sünder, und gekreuziget werden, und am dritten Tage auferstehen. Und sie gedachten an seine Worte; und sie gingen wieder vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen. Es war aber Maria Magdalena und Johanna und Maria Jakobi und andre mit ihnen, die solches den Aposteln sagten; und es däuchten sie ihre Worte eben als wären es Mährlein, und glaubten ihnen nicht. Petrus aber stand auf und lief zum Grabe, und bükte sich hinein und | sahe die leinenen Tücher allein liegen, und ging davon; und es nahm ihn Wunder wie es zuging. M. a. F. Wenn die gestrige Festbetrachtung uns allen schon Gelegenheit gegeben hat an dem Wesentlichen und dem Herrlichen der Auferstehung unsers Herrn uns zu erfreuen, und Stärkung unsers Glaubens und unsrer Liebe zu ihm und Belehrungen mancherlei Art zur Förderung unsers Heils daraus zu ziehen: so geziemt es sich auch wohl, daß wir in jene Tage uns zurükversezend in das Einzelne der Geschichte selbst hineingehen. Dazu 1 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: b. Am zweiten Ostertage 20–24 Am 22. April 1821 vorm., Pred. Slg. 5, 1826, S. 295–313 (vgl. KGA III/2)

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geben uns die verlesenen | Worte ein in mancher Hinsicht besonders lehrreiche Veranlaßung, indem sie uns darstellen die verschiedenen Eindrüke, welche die erste Wahrnehmung und die erste Nachricht von der Auferstehung des Herrn auf die Gemüther der Seinigen gemacht hat. Laßt uns dies jezt mit einander erwägen. I. Unser Text redet zuerst von den Frauen, die sich verbunden hatten, den Leichnam des Herrn vor der Verwesung so lange als es menschliche Kunst vermag zu schüzen, und eben deßwegen frühe des Morgens zum Grabe gingen. Was ihnen da begegnete erzählen die Evangelisten auf | verschiedene Weise. Die Männer aber in glänzenden Kleidern, die zu ihnen kamen, und ihnen das Grab des Herrn leer zeigten, erinnerten sie seiner Worte, die er bald bestimmter vorhersagend, bald leiser andeutend in der lezten Zeit seines Lebens vor und seit seiner Reise nach Jerusalem öfter wiederholt hatte. Und sie, so erzählt ganz einfach unser Evangelist, sie dachten an seine Worte, und gingen hin vom Grabe und verkündigten das alles den Elfen und den andern allen. – Sehet da, m. g. F., das ist die ruhige Kindlichkeit des Glaubens. Da wäre nun wohl noch mancherlei zu fragen gewesen und zu beantworten, da nämlich die Männer | welche die andern Evangelisten Engel nennen, sich mit ihnen in Rede und Gespräch einließen, da wäre zu erfragen gewesen, ob sie nicht genaue Kunde darüber hätten, wie es bei der Auferstehung des Herrn eigentlich zugegangen sei, welche Umstände derselben vorangegangen wären, auf welche Weise der Herr das Grab verlaßen, wie sich das erste Gefühl des wiedererwachten Lebens in ihm geäußert, und wohin er sich unmittelbar begeben hätte: damit sie den Elfen und den übrigen hierüber eine genaue Nachricht geben könnten. Aber die Frauen fühlten dieses Bedürfniß nicht, sondern sowie sie | an die Worte des Herrn und Meisters erinnert wurden und sich bewußt wurden gar manches in der Zeit seines Lebens und des nähern Umganges mit ihm von ihm gehört zu haben, was auf diese glorreiche Begebenheit hindeutete, so wurde ihr Herz des fröhlichen Glaubens voll, und sie gingen hin um den Elfen und den übrigen zu verkündigen, daß der Herr auferstanden sei. Wie können wir anders als an dieser Stimmung des Gemüths unsre herzliche Freude haben? Muß nicht alles was irgendwie zu der Wahrheit des Heils gehört, an die ursprüngliche Bewegung des Herzens durch das Wort des Erlösers | sich anknüpfen? In ihm und durch ihn allein kann und soll uns alles werden, was sich auf den Rathschluß Gottes zu unsrer Seligkeit, und 23 wären] wäre

26 Nachricht] Nachtricht

12–15 Vgl. Mt 17,22–23; 20,18–19; Mk 10,33–34; Lk 18,31–33 Mt 28,5; Joh 20,12

19–20 Vgl.

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also auch alles, was sich auf seinen Rathschluß mit dem Erlöser selbst, der Quelle dieser Seligkeit, bezieht. Und wir können wohl nicht anders als es mit herzlichem Beifall erkennen, daß sowie die Frauen an die Worte des Erlösers erinnert wurden sie nun zur Genüge hatten, und daß indem sie leicht verknüpften dasjenige was sie zum Theil wenigstens mit Augen gesehen hatten, daß nämlich das Grab des Herrn leer | sei, mit den Reden, welche zuversichtlich verkündigend jene Männer hinzusezten, daß der Herr nicht im Grabe sei sondern von den Toten auferstanden nach seiner eigenen Vorhersagung, sie nun nichts weiter bedurften als eben diese äußeren Erscheinungen in Uebereinstimmung zu bringen mit den früheren Bewegungen ihrer Seele, welche die Andeutung ihres Meisters in Beziehung auf dasjenige hervorgebracht hatte, was sich damals noch nicht zum klaren Bewußtsein in ihnen entwikelt hatte, was ihnen aber jezt über jeden Zweifel hinauslag; und so gingen sie hin, und verkündigten | den Elfen und den Uebrigen was sie gesehen und gehört hatten. II. Aber wie anders, m. g. F., finden wir es bei diesen; von denen wird uns erzählt, es dauchten sie ihre Worte eben als wären es Mährlein, und sie glaubten ihnen nicht. Diesen Unglauben schilt freilich der Erlöser selbst in seinem Gespräch an dem Abend des Auferstehungstages mit den beiden Jüngern, die nach Emahus gingen, und die da unterweges zu ihm sagten: auch haben uns erschrekt etliche Weiber der unsern, die sind frühe bei dem Grabe gewesen, haben seinen Leib nicht | gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen er lebe; und etliche unter uns gingen hin zum Grabe, und fanden es also wie die Weiber sagten, ihn aber fanden sie nicht – da sprach er zu ihnen: o ihr Thoren und träges Herzens zu glauben allem dem, das die Propheten geredet haben. So, m. g. F., so schilt der Erlöser den Unglauben seiner Jünger. Denn ganz dasselbe war was diese beiden emaholischen Jünger ihm hier als ihr Gefühl erzählten, und was unser Evangelist uns vorher von den Aposteln selbst sagt, ihre Worte dauchten sie wären es Mährlein, und glaubten ihnen nicht. Aber | nicht deßwegen schilt der Herr sie, daß sie die Erzählung der Frauen nicht geglaubt haben, sondern er sagt zu ihnen: „ihr Thoren und träges Herzens zu glauben ungeachtet alles deßen was die Propheten geredet haben”; er schilt sie darüber, daß sie das was ihnen die Frauen erzählt, welche bei seinem Grabe gewesen waren, nicht gleich in Verbindung gesezt hatten mit jenen Andeutungen an verschiedenen Stellen der Schriften des alten Bundes, die der Erlöser gewiß auch schon in den Tagen seines irdi4 zur] zu

24 lebe] lebte

22–27 Lk 24,22–25

31 sie] sie zu ergänzen wohl als

33–35 Lk 24,25

35–2 Vgl. Lk 24,25–27

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schen Lebens und eben auf Veranlaßung jener Andeutungen seiner Auferstehung versucht hatte ihnen klar | zu machen – jenes aber, daß sie die Erzählung und das Gespräch der Frauen nicht geglaubt haben, läßt er ungescholten. Und in der That, m. g. F., wie denn doch die Apostel des Herrn es waren, von denen dies gesagt wird, so ist es wohl dem Gefühl der innigen Verehrung, welches wir alle gegen sie hägen als gegen diejenigen, welche der Herr auserwählt hatte aus seinem Volk, um das Reich der Wahrheit und der Gottseligkeit, das er gestiftet, weiter zu verbreiten auf Erden, diesem Gefühl ist es wohl angemeßen, daß wir auch das betrachten, was ihnen zur Entschuldigung und zur Rechtfer|tigung dient. Wenn wir die Erzählung unsers Evangelisten mit der der übrigen vergleichen, die doch auch über jenen ersten Auftritt in dem erledigten Grabe des Herrn keine andre Nachricht haben konnten als von einer oder der andern der Frauen, welche hingezogen waren den Leichnam zu salben; so finden wir darin manche Verschiedenheiten. Ja auch ihnen selbst, wie denn unser Evangelist drei nennt die jenes Geschäft zu verrichten gekommen waren, indem er hinzufügt, es seien noch andre gefolgt, auch ihnen selbst scheint nicht das Nämliche begegnet zu sein. Einige sahen nur das Grab leer, andre erblikten die Männer, die | mit ihnen redeten. Diese nun nannte die eine Männer, die andre Engel, wie uns das auch aus der Vergleichung mit den andern Evangelien deutlich wird. Eine, nur eine von ihnen war gewürdigt worden, den Erlöser zu sehen, und den ersten Gruß von ihm zu empfangen; und rasch wie diese Erscheinung und Eindruk derselben gewesen war, mag sie hingegangen sein und es einigen andern erzählt haben. So mögen auch in der frühen Morgenstunde nicht alle Freunde des Erlösers beisammengewesen sein, daß sie aus einem und demselben Mund zu gleicher Zeit hören konnten was vorgefallen war; sondern die eine erfuhr die fröhliche Bothschaft von | diesem, der andre von jenem. Wenn nun alle diese Verschiedenheiten, die in der That nicht unbedeutend sind, den Aposteln sich darstellten, wenn sich ihnen die Erzählung von so manchen Seiten darstellte: so dürfen wir es ihnen nicht verargen, daß sie in dem ersten Augenblik nicht des Glaubens voll waren wie diejenigen, welche den Herrn selbst geschaut hatten; um so weniger da unsre Erzählung wohl darin genau ist was die Frauen gesehen haben, aber nicht so genau darin, wie die Männer in glänzenden Kleidern, die zu ihnen traten, sie der Worte des Herrn selbst erinnert. | Wenn wir nun zu diesen auffallenden Verschiedenheiten in der Erzählung, die wir uns wohl nachher da die Begebenheit vor uns liegt deutlich machen können, die aber die Apostel, welche mitten in dieselbe gestellt waren, in dem ersten Augenblik zweifelhaft machen konnte, wenn wir dazu noch das Wunderbare der Sache selbst nehmen – dann wenn gleich die Jünger des 11 Vgl. Mt 28,1–10; Mk 16,1–8; Joh 20,1–10 Joh 20,14–18

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21–24 Vgl.

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Herrn gewiß überzeugt waren, der Freund des Herrn Lazarus sei durch die Kraft seines Wortes aus dem Grabe hervorgegangen, so konnten sie doch nicht beides gleich stellen; denn es war hier nicht der | redende Erlöser selbst, dem die Kräfte der Natur dienstbar sind, und sie hatten auch nichts Ähnliches dafür, daß jemals ein Todter wieder von selbst in das Leben zurükgekehrt sei – wenn wir dies betrachten, so mögen wir sie entschuldigen, daß sie ihren Glauben weiter hinausgesezt haben bis etwa auf die Zeit, wo die Erfahrung die Aussage der Frauen würde bestätigt haben. Aber sehen wir weiter auf die Worte des Evangelisten, und vergleichen damit diejenigen, welche die beiden Jünger, die am Abend des Auferstehungstages aus der Stadt nach Hause zurükkehrten, auf dem | Wege dahin zu dem Erlöser sagten „es haben uns erschrekt,“ d. h., in eine außerordentliche Stimmung des Gemüthes gesezt, „etliche Weiber der unsern, die sind früh bei dem Grabe gewesen, haben seinen Leib nicht gefunden, kommen und sagen, sie haben ein Gesicht der Engel gesehen, welche sagen er lebe“; der Evangelist aber uns sagt, es dauchten sie ihre Worte eben als wären es Mährlein, und glaubten ihnen nicht: so würden wir schließen, es sei kein abweichender Unglaube gewesen, dem die Jünger des Herrn sich überließen, sondern sie seien freilich durch die Erzählung der Frauen in eine wunderbare Gemüthsstimmung versezt | worden, aus der sie aber nicht zu einem bestimmten und festen Ziel des Glaubens gelangen konnten. Denn wenn der Evangelist sagt, es dauchten sie ihre Worte eben als wären es Mährlein, so dürfen wir nicht vergeßen, daß eben in Mährchen und Sagen sich in der früheren kindlichen Zeit des menschlichen Geschlechts überall und nicht nur bei andern Völkern sondern auch unter dem Volke, welchem die Apostel angehörten, das Größte, das Unbegreiflichste und Heiligste gekleidet hat. Wenn wir dazu nehmen, wie einige von den Frauen die Männer, welche ihnen | erschienen waren, Engel nannten, wie dies aus der Erzählung des Johannes hervorgeht, so geht auch dies aus dem gewöhnlichen Laufe eines geschichtlichen Lebens heraus; denn sie waren nicht gewohnt Engel zu sehen, und sezten sie zurük in jene Zeit der alten Mährchen und Sagen. Indem sie sich nun so bewegt fühlten, so müßen wir gestehen, es regte die Erzählung die Frauen in ihnen auf die Ahnung der alten Zeit der Väter, wo der Zusammenhang Gottes mit dem menschlichen Geschlecht diesem auf eine solche Weise sich darstellte, daß daraus sich die heiligen Sagen bildeten, und sie mochten nur noch nicht jene Ahnungen verknüpfen mit demjenigen was schon in | der Reihe des Geschehenen und den Gesezen der zeitlichen Entwiklung und der menschlichen Wahrnehmung Unterworfenen seinen Platz hatte. Und so sehen wir in diesem Gemüthszustande der Jünger, wie in der Art wie die Frauen erregt waren die Kindlichkeit des Glaubens, so in ihnen das ahnungsreiche Aufblizen in dem Innersten des Gemü1–2 Joh 11,43–44

12–15 Vgl. Lk 24,22–25

27–29 Vgl. Joh 20,12

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thes; neue und ihre Seelen erhebende Betrachtungen wogten in ihnen, erschrekt und aus dem gewöhnlichen Gange des menschlichen Lebens und der gewöhnlichen Stimmung des Gemüths herausgerißen waren sie, aber noch nicht fähig das was dem Menschen als Geschichte gegeben wird auch zu einem | zusammenhangenden Bilde zu gestalten. Was ist nun, m. g. F., das Ende davon? Dies giebt uns der lezte Theil der Erzählung unsers Evangelisten. III. Petrus aber stand auf, und lief zum Grabe, und bükte sich hinein, und sahe die leinernen Thücher allein liegen, und ging davon, und es nahm ihn Wunder wie es zuginge. Diesen Theil unsrer Erzählung ergänzt uns in seinem Bericht der Evangelist Johannes, der uns ausführlich beschreibt, wie erst er selbst, dann Petrus mit ihm an das Grab gingen um eine genauere Untersuchung anzustellen als das was sie von der Maria Magdalena gehört hatten, und dann | wieder zurükgingen. Das war also der Anfang zu einer ordentlichen und genauen Untersuchung der Sache, wodurch zuerst nur das festgestellt wurde, daß das Grab des Herrn leer sei, daß es nicht etwa unredlicher Weise war beraubt worden, wie die fliehenden Wächter unter dem Volk auszubreiten bestochen wurden; ein Weiteres wurde durch diesen Anfang der Untersuchung nicht erforscht. Aber wie sehen wir nicht in der Folge denselben Sinn einer genauen Betrachtung in den Aposteln vorwalten? Als am Abend die beiden Jünger zurükkehrten nach Emahus, und der Herr mit ihnen wandelte, und diese ihm vorlegten was der Gegenstand ihres Gespräches | gewesen war, so legten sie ihm auch dar was ihnen erschienen sei, und erzählten dem Herrn, wie er sich erst den Frauen gezeigt habe, die bei seinem Grabe gewesen, und dann den übrigen Jüngern; und so war ihnen die Überzeugung klar geworden, der Herr sei wirklich auferstanden, und diese wurde gekrönt durch den ersten Besuch des Herrn bei den Seinigen, durch die herrlichen Worte die er da zu ihnen redete, durch die köstliche Gewalt die er da auf sie übertrug. Sehen wir nicht hieraus, m. g. F., wie dieser Geist der genauen Betrachtung und Untersuchung etwas wesentliches ist, damit der kindliche Glaube sowohl als das Ahnungsreiche des menschlichen Gemüths erst | dadurch erhoben werde zu einem lebendigen Glauben, zu einer festen unumstößlichen Überzeugung. Sollten wir uns nicht scheuen irgend ein nachtheiliges Urtheil über diejenigen auszusprechen, die den Aposteln hierin nachfolgend alle einzelnen Theile der Geschichte des Herrn und seines Reiches auf Erden zum Gegenstand immer 34 unumstößlichen] undumstößlichen 11–15 Joh 20,3–10 15–20 Vgl. Mt 28,11–15 30 Vgl. Lk 24,36–49; Joh 20,19–23

21–27 Vgl. Lk 24,13–32

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neuer und gründlicher Untersuchungen machen? müßen wir nicht gestehen, daß sie nichts anderes thun als dem Beispiel der Jünger folgen, die sich auch nicht beruhigten bei der ersten zwar frohen aber ziemlich unordentlich unter einander geworfenen Erzählung der Frauen, sondern alles suchten zu einem genauen Bilde zu|sammenzustellen, welches den ganzen Zustand der Sache darstellen möchte? Gewiß erst dadurch kann der Glaube des Khristen vollendet werden. Und das sehen wir auch daraus, daß erst nachdem dieses vorhergegangen war der Erlöser selbst sich einem Gespräch mit ihnen, zum Verweilen bei ihnen und zur vielseitigen Untersuchung über den ganzen Zustand der Sache hingab. Denn, m. g. F., wie die allgemeine Auffaßung der Menschen nur in hergebrachten Bildern sich darstellt wie ein Sichzusammenfügen eines getrennten und zerstükelten Gebiets: so ist auch schon der geistige Übergang des Menschen aus dem Zustande der Ungewißheit und des Zweifels zur Erkenntnis der Wahrheit und in den herrlichen Zustand einer festen Überzeugung, wie | sie uns hier in der Geschichte der Jünger in Beziehung auf die erste Nachricht von der Auferstehung des Herrn dargestellt wird, eben so ein lebendiges Zusammenfügen zerstükelter Theile. Die unbefangene Kindlichkeit des Glaubens allein ist es nicht, das Ahnungsreiche ist es nicht, die kaltblütige Untersuchung allein ist es auch nicht – aber alles dieses muß zusammengefügt werden zu einem lebendigen Ganzen. Und das ist dann der Glaube, welcher der Sieg ist, der die Welt überwindet, das ist der Glaube, den die Pforten der Hölle nicht überwältigen sollen, das ist der Glaube, in welchem hernach die Jünger sich darstellen konnten aller Welt, verkündigend derjenigen den seine Welt verworfen und getödtet, der sei wahrhaft erstanden, und sie seien Zeugen seiner Auferstehung. Auf diesen Glauben ist dann hernach das Reich des Herrn gegründet worden, auf diesen Glauben hat sich die Gemeinde des Herrn erbaut. So möge er denn immer aus allem diesem zu einem lebendigen Ganzen vereinigt von jenem glorreichen Tage an bis zu seiner Vollendung in der Gemeine des Herrn wohnen, und alle, die an den Namen des Auferstandenen glauben, immer mehr gestalten in das Bild deßen, der allen Heil gebracht hat. Dann erst werden wir | sicher und fest stehen, und nur unter dieser Bedingung wird der Herr auch uns von einer Klahrheit zur andern führen, und immer tiefer einweihen in die Geheimniße seines Reiches. Amen.

29 vereinigt] vereignigt 21–22 Vgl. 1Joh 5,4

22–23 Vgl. Mt 16,18

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Am 29. April 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

Quasimodogeniti, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,22–23 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) a. Autograph Schleiermachers; SAr 77, Bl. 52r–61v; Slg. Wwe. SM, Andrae (unvollendete Überarbeitung der unter b. gebotenen Nachschrift) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 77, Bl. 51v–70v; Slg. Wwe. SM, Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 74r–74v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 103r–109r; Woltersdorf Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

a. Autograph Schleiermachers (Überarbeitung einer Nachschrift) Am Sonntag Quasimodogen. 1821.

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Text. Johannis XX, 22. 23. Und da er das sagte blies er sie an und spricht zu ihnen: nehmet hin den heiligen Geist; welchen ihr die Sünden erlaßet, denen sind sie erlaßen, und welchen ihr sie behaltet denen sind sie behalten. M. a. F. Die nächste unmittelbare Absicht jener wunderbaren göttlichen Führung, vermöge welcher der Erlöser, der als der Heilige Gottes die Verwesung nicht sehen sollte, nach seinem Tode noch einmal für diese Erde auferstanden unter seinen Jüngern wandelte, war gewiß die, daß sie erst allmählig sich gewöhnen sollten, seine per|sönliche Gegenwart, an welche sich bisher ihr ganzes geistiges Leben gehalten hatte, zu entbehren, und daß sie durch seine lezten Unterweisungen und Anordnungen zu der Selbständigkeit gelangen sollten, die ihnen nun nöthig war um ohne ihn gemeinschaftlich das Reich des Herrn zu bauen. Das ist der Gesichtspunkt, aus welchem wir alle seine Unterredungen mit ihnen von damals, ja selbst alle kleine Züge aus die9 diese] korr. aus die

9 auferstanden] korr. aus auferstehend

7–8 Vgl. Ps 16,10 (zitiert in Apg 2,27.31; 13,35.37)

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sem flüchtigen Leben des Erlösers mit den Seinigen zu betrachten haben. Die verlesenen Textesworte nun sind von dem Erlöser bei der ersten Zusammenkunft mit den versammelten Elf, und wer sonst noch bei ihnen war gesprochen; und wir dürfen daher voraussezen, daß die Gabe, die | er ihnen mit diesen Worten: „Welchen ihr die Sünde erlaßet, denen sind sie erlaßen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten,“ mittheilen wollte ihm als das wesentliche und nothwendige erschienen sei, womit er sie für ihren künftigen Beruf auszurüsten hatte, und was er nicht zeitig genug in ihnen begründen konnte. So laßt uns denn nach Anleitung dieser Worte, m. g. F., darüber mit einander reden, wie wichtig es ist in der khristlichen Kirche, daß die Sünden recht behalten werden und auch recht erlaßen. Um uns hievon zu überzeugen, werden wir zuerst bedenken müssen wieviel für das ganze Bestehen der khristlichen Gemeinschaft hievon | abhängt, aber dann auch zweitens, was dabei vorausgesezt werden muß, und welches demnach die Bedingungen sind, unter denen es allein geschehen kann. Beides zusammengenommen wird uns gewiß den Inhalt dieser Worte des Erlösers in ihrem ganzen Umfang klar machen. I. Um übersehen zu können wie viel für das ganze Bestehen der christlichen Kirche davon abhängt, daß diese Gabe, die der Erlöser hier seinen Jüngern ertheilt, in derselben einheimisch sei, müssen wir zunächst freilich die besondre Beschaffenheit der Zeit berüksichtigen da der Erlöser diese Worte zu den Aposteln redete, dann aber werden wir die Anwendung davon auch im Allgemeinen auf unsere Zeit eben sowohl als auf jede andre machen können. Was nun das erste betrifft, so sollte wenn der Tag würde | gekommen sein, auf welchen der Erlöser seine Jünger hinwies, auch die Ausübung des Berufs beginnen, um deswillen er sie ursprünglich um seine Person versammelt, auf welchen er sie durch den ganzen Verlauf seines öffentlichen Lebens geübt, den er ihnen in seinen lezten Reden aufs neue ans Herz gelegt, und wozu er sie in seinem Abschied nehmenden und Rechenschaft gebenden hohenpriesterlichen Gebet seinem und unserm Vater dargestellt und empfohlen hatte. Zerstreuten sie sich auch noch nicht gleich in alle Welt, traten sie sogar noch nicht gleich unmittelbar öffentlich auf, so hatte doch schon gleich nach der 37 öffentlich] korr. aus auf 32 Vgl. Joh 14–16

33–35 Vgl. Joh 17,1–26

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Himmelfahrt des Herrn alles was sie thaten seine Beziehung darauf, daß sie hingehen sollten alle Völker zu lehren und das Evangelium des Friedens unter ihnen zu verkündigen. Bis dahin war das Sündenbehalten und Sündenerlaßen die Sache unsers Erlösers allein gewesen; Er allein hatte so oft das tröstende Wort ausgesprochen deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin und sündige hinfort nicht mehr! Der mußte hiezu den lebendigen Trieb haben | der sich allen verlornen Schafen aus dem Hause Israel darbot, und alle Mühseligen und Beladenen zu sich einlud, um sie zu erqiken, und ihnen Ruhe zu geben für ihre Seelen; der mußte dazu Kraft und Geschik haben der ohne daß es ihm jemand zu sagen brauchte schon immer wußte was in eines jeden Menschen Herzen sei, der eben sowohl den Israeliten, in welchem kein Falsch war und das verlorene Schaf erkannte, als er es auch überhaupt vorher wußte, wie bald viele von denen die ihn bewunderten, und sich an ihn hingen, wieder hinter sich gehen würden. Eben das nun sollten und mußten von nun an seine Jünger thun. Denn wie sie ermahnen sollten, lasset euch taufen auf den Namen Jesu zur Vergebung der Sünden: so konnten sie dennoch solche Zuhörer denen es durchs Herz ging nur dadurch daß sie Sünden erließen zugleich in den Bund der christlichen Kirche aufnehmen. Und eben so auf der andern Seite wenn sie nach der Anweisung des Herrn | von einem Orte, wo sie das Evangelium verkündigt hatten, weil sie keine willige Aufnahme fanden, sich um ihre Zeit nicht zu verlieren wieder entfernten und den Staub von ihren Füßen schüttelten: was thaten sie dann andres als daß sie denen, welche nicht hören wollten wie lieblich sie ihnen auch zuriefen „heute so ihr seine Stimme hört, so verstokt eure Herzen nicht“, durch ihre Entfernung die Sünden behielten? Wenn aber nun PandreS PüberwindlicheS Schwierigkeiten sich diesem Geschäft entgegenstellten, wie widrig ein großer Theil des jüdischen Volkes gegen das Evangelium gesinnt, und wie geschäftig diese Gegner waren, es auch Andren zu verbieten, wie wenig auf der andren Seite die Heiden im Ganzen geneigt waren ihren fröhlichen Wahn gegen eine ernste und strenge Lehre und ihre leicht zu befriedigenden Götter gegen den der das ganze Herz forderte, und das ganze Leben beherrschen wollte zu vertauschen, und wieviele Mittel sie hatten diejenigen wieder zu verführen zum Abfall denen | dennoch das Wort zu Herzen 30 Evangelium] folgt unleserliches gestrichenes Wort 2–3 Vgl. Mt 28,19–20; Mk 16,15 5–6 Vgl. Mt 9,2; Mk 2,5; Lk 5,20; 7,48 5– 6 Vgl. Joh 5,14; 8,11 7–8 Vgl. Mt 15,24 8–10 Vgl. Mt 11,28–29 12– 13 Vgl. Joh 1,47 14–15 Vgl. Joh 6,66 17–18 Vgl. Apg 2,38 21–24 Vgl. Mt 10,14; Mk 6,11; Lk 9,5; 10,11 26–27 Ps 95,7–8 (zitiert in Hebr 3,7.15; 4,7)

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gegangen war: so müssen wir wol einsehen, wie wichtig es war daß die Boten des Friedens ihre Kräfte nicht zersplitterten durch lange fortgesezte Bemühungen unter solchen Menschen von denen doch keine bleibende Frucht zu erwarten war, aber auch wie wichtig daß das Wort Gottes gleichzeitig an recht vielen Orten, wo es Wurzel fassen konnte ausgestreut wurde. Dennoch aber wenn die Verkündiger des Evangeliums sich ungeduldig übereilten, und eine Gegend wieder verließen, wo sich ihnen bei einigem Ausharren eine weite Thür würde geöffnet haben: welcher bedeutende Schade für die gemeinsame Sache des Reiches Gottes! Und wie leicht konnte dies doch geschehen, wenn irgend gekränkte Selbstliebe dem Eifer[,] der schnellen Gewinn dem Herrn darlegen zu können wünschte, einen falschen Sporn gab. Und grade solche Gemüther konnten hiezu Veranlassung geben, denen es Ernst war die ererbte Ueberzeugung aus allen Kräften zu vertheidigen und die eben deshalb wenn sie erst wären durch die Kraft der Wahrheit überwunden worden die eifrigsten und glüklichsten Vertheidiger der schwer errungenen Ueberzeugung geworden wären. Wie traurig | wenn Menschen, die so würdig waren die Wahrheit zu erkennen ihre Treue wäre als Sünde behalten worden! Aber bedenken wir auf der andern Seite wie viele Menschen es gab, die nicht mehr nach der Wahrheit fragten als Pilatus, immer aber wie Lukas von den Athenern sagt dem Neuen nachgingen und so auch die Verkündigung der Apostel hörten, und unter diesen wie viele von jenen flüchtigen Gemüthern, welche fähig sind stark ergriffen zu werden, wo ihnen strenge Tugend hohe Selbstüberwindung unerschütterliche Festigkeit gegenüber tritt: wie leicht konnten da die Boten des Heils verleitet werden vorübergehende Rührungen, baldvergessene Seufzer und Thränen, Versprechungen ohne Gehalt und Entschlüsse ohne Tiefe für eine gründliche Umwandlung des Innern für das neubelebende Werk des Geistes zu halten, zumal wenn geschmeichelte Eitelkeit den reinen Wunsch des Herzens Gott bald ein Opfer des Dankes für seinen mitwirkenden Beistand darzubringen so verfälschte daß sie gern zeigen mochten was der Herr gerade durch sie gethan habe! Wenn dann so die Sünden erlassen wurden wo der alte Mensch keinesweges getoedtet war sondern kaum | betäubt: welche reiche Saat von Verderben mußte ausgestreut werden, wenn hiedurch solche Massen als die von den ersten Stiftern der Kirche selbst der Aufnahme in die Gemeine gewürdigt worden waren, zu Gewicht und Ansehn gelangten! Wie 2–3 durch ... denen] mit Einfügungszeichen am Rand 3 denen] folgt 4 wie wichtig] mit Einfügungszeichen am Rand 18 wenn] folgt 20–21 Vgl. Joh 18,38

21–22 Vgl. Apg 17,19–21

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bald hätten sich da die alten Untugenden wieder eingeschlichen! wie wären die heiligen Tröstungen des Christenthums leichtsinnig gemißbraucht worden! und wie bald hätte das Bedürfniß einer unbezwungenen sinnlich aufgeregten Fantasie die einfache Wahrheit mit einem bunten Flitterwahn bekleidet der einigermaßen die Pracht des alten Götterhimmels ersezen konnte! dies alles ist hernach geschehen in reichem Maaße zumal als das Christenthum auf den Thronen saß und christliche Fürsten es sich zur Pflicht machten die Boten des Friedens uneingedenk der Worte des Herrn durch die Waffen und das Schwert zu unterstüzen. Aber eben weil hiedurch so schwere Kämpfe innerhalb der Kirche selbst entstanden sind, eben weil die treuesten und kräftigsten Zeugen der Wahrheit | so lange Zeit vergeblich gegen diesen Strom des Verderbens angekämpft haben: wie wichtig war es, daß im ersten Anfange wenigstens die göttliche Wahrheit des Heils nur in reine Gefäße gefasst wurde, und zur Aufnahme in die christliche Gemeinschaft die Sünde nur solchen erlassen, denen sie auch im Himmel erlassen waren, den Andern aber sie vorsichtig so lange behalten blieb bis eine gedeihliche Geschäftigkeit des göttlichen Geistes an ihren Gemüthern zu bemerken war. Waren sie aber den ersteren nicht allen erlassen worden: woher hätten wohl die Apostel den Muth genommen – und das war doch der größte Sieg des Evangeliums auch denen mit der Taufe die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft zu ertheilen, welche sich persönlich als Freunde des Erlösers erwiesen hatten! Wenn sie nicht gewusst hätten, was sie in diesem Geist und Sinn erließen das sei auch im Himmel erlassen: wie würden sie zu dem Entschluß gekommen zu sein, auch Heiden unmittelbar aus jener | Finsterniß der Schatten des Todes in das helle Licht des geistigen Tempels Gottes zu versezen! Aber hätten sie nicht zugleich jene vorsichtige Strenge gehandhabt: wie würde es wol zu zeitig um die Reinheit der Kirche gethan gewesen sein ohne welche sie doch nicht im Stande gewesen wäre, der Welt und ihren Lokungen sowol als auch ihren Verfolgungen den kräftigen Widerstand zu leisten, durch welchen allein sie für alle Zeiten auf Erden konnte befestigt werden! Und um zu zeigen wie wichtig und dringend dieses sei, ertheilte der Herr seinen Jüngern diese große Gabe noch selbst unmittelbar schon eher als der Tag hereinbrach, wo sie mit überströmender Kraft aus der Höhe sollten erfüllt werden: auf daß sie eingedenk dieser Mittheilung dann 17 lange] folgt 35 schon] mit Einfügungszeichen über der Zeile als] korr. aus ehe 26–28 Vgl. Jes 9,1 (zitiert in Mt 4,16 und Lk 1,79); Apg 26,18

35 eher

36–37 Vgl. Lk 24,49

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gleich dem Drang des Herzens folgen möchten und unverzagt eine so große Menge von | Seelen der Gemeinschaft der Gläubigen zuzählen. Ich glaube m. a. Fr. es bedarf nicht mehr als dieser Andeutungen um uns zu überzeugen wie nothwendig es in jenen Tagen für die ersten Jünger des Herrn war im Besiz dieses rechten himmlischen Maaßes im Behalten und Erlassen der Sünde zu sein. Aber wenn es aus den Worten unsers Textes scheinen könnte, als habe der Herr diese Gaben auch nur den Vertrautesten seiner Jünger, ausschließend er nur jenem engen heiligen Kreise der Elf mitgetheilt; wenn freilich in Beziehung auf die Pflanzung und Verbreitung der christlichen Kirche ein großer Unterschied bleibt zwischen ihnen und allen denen uns jezt lebende mit eingeschlossen die durch ihr Wort an den Herrn gläubig wurden: so dürfen wir doch nicht zweifeln, m. g. F., der Herr hat diese Gabe nicht nur jenen Einzelnen sondern der ganzen Gemeinschaft seiner Gläubigen ertheilt, und es ist eine Gabe die zu allen Zeiten nicht nur der christlichen Kirche insgemein | sondern auch jedem Christen in seinem Maaße nothwendig und unentbehrlich ist. Eben darum erscheint sie auch in der Erzählung unsers Textes gleichsam als die erste Grundlage der zu bildenden Gemeinschaft; als die erste Mittheilung des doch alle zusammenhaltenden Geistes, dessen erst späterhin die Jünger in einem noch höhern Maaße sollten theilhaftig werden. In feurigen Zungen reden sollten sie dann erst; Sünden richtig erlaßen und behalten sollten sie jetzt sofort. Und eben so ist noch immer für uns Alle Zeugniß und Verkündigung eine spätre und äußerlich herrliche, Sünden erlassen die nothwenigste und erste Gabe. Freilich davon wie jeder Einzelne unter uns seinem Bruder die Sünden erläßt oder behält, hängt jezt nicht mehr die Verbindung desselben mit der christlichen Kirche ab, welche schon in den ersten Tagen des Lebens gestiftet wird und von Seiten | der christlichen Gemeinschaft unverbrüchlich gehalten und unter keinerlei Vorwand jemals gänzlich aufgelöst wird. So daß jedem der einmal durch die Taufe der Kirche verbunden ist und dies selbst anerkennt und genehmigt hat auch alle Schäze der Kirche zu seinem Gebrauch immer offen stehen. Und Gott sei Dank, daß unter uns keiner, wenn er auch für sich selbst einem andren die Sünde behält die Macht hat ihm diese Zuflucht zu verschließen. Niemals auch wer sich selbst in trauriger Verblendung aus derselbigen entfernt hätte und wenn einer siebenmal 4 es] mit Einfügungszeichen über der Zeile folgt 12–13 Vgl. Joh 17,20

4 für die] korr. aus

20–22 Vgl. Apg 2,3–4

35 keiner]

38–1 Vgl. Mt 18,21–22

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und siebenmal siebzig Mal gesündiget hätte: so wie er nur zurükkehrt[,] ist er auch schon wieder aufgenommen ohne Sühne und Lösung durch seinen bloßen Willen. Gott sei Dank daß es so ist unter uns und nicht anders, und daß da nie eine ausschließende Gewalt aufgerichtet werden kann in unserer Kirche. Aber das Verhältniß eines jeden Einzelnen zu denen welche sich innerhalb | seines Lebenskreises bewegen, was jeder dem andern Gutes gewähren kann in Bezug auf die Befestigung des Herzens und den Grund des Heils in Christo, wie jeder sein Herz selbst bewahrt oder Gefahren bloßstellt in denen er nicht umkommen kann: alles das wie sollte es nicht, umgeben wie wir hier überall sind, von Sünde und Schwachheit, großentheils davon abhängen ob wir auf richtige und gottgefällige Weise die Sünden erlassen oder behalten. Wenn ein Bruder gesündiget hat und in sich geht, nun wohl so stehn dem freilich alle Tröstungen offen, welche das göttliche Wort in sich schließt. Er weiß daß Gott größer ist als unser Herz, und daß wir an Christo einen Fürsprecher beim Vater haben, der nicht vergeblich bittet; ja auch der in ihm selbst lebende Geist wird ihn aus den tiefsten Tiefen seines Innern heraus vertreten mit unausgesprochenen Seufzern. Und tiefe Seufzer tragen ihn in die Nähe des Friedens, und das Bewußtsein der Größe Gottes und seiner Gnade in | Christo beschwichtigt das sich immer noch verklagende Herz. So steht er dann wie die Büßenden der alten Kirche an den Pforten des Heiligthums. Aber wenn er hinein treten soll muß er gerufen werden. Rufen wir ihn nun nicht: so gelangt er auch nicht zu dem vollen frohen Bewußtsein daß es im Himmel gelöset ist. Ach wer einmal gewohnt gewesen ist von dieser brüderlichen Gemeinschaft getragen zu werden; wenn aber das Bewußtsein der eigenen Schwäche schon oft erfahren worden ist durch diese von überall her ausströmenden und sich mittheilenden Kräfte, wer erzogen worden ist durch die sanften Tröstungen und die hilfreichen Anstrengungen der Bruderliebe: wie sollte der glauben können, wieder ganz von Gott begnadigt und gesegnet zu sein: so lange er noch aus diesem Kreise gebannt ist solange er noch nicht wieder diese erfrischende Lebensluft athmet! So gewiß er auch überzeugt sein mag von der göttlichen Vergebung, froh kann er eher nicht sein. Und so ist es nicht anders, wir bringen dem Bruder der sich seinen Frieden gestört hat denselben erst wieder, wenn wir | ihn aus vollem Herzen mit dem Frieden des Herrn begrüßen; er fühlt sich erst im Himmel erlöset 1 er] folgt 15 Er] am Rand a vermutlich zum Eintragen der Bibelstelle 1Joh 3,20 (vgl. auch unten S. 616,10) 34 So] korr. aus 16 Vgl. 1Joh 3,20

16–17 Vgl. 1Joh 2,1

18–19 Vgl. Röm 8,26

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wenn wir ihm die lösende Bruderhand reichen. Wie herrlich werden dann die Wirkungen des göttlichen Geistes in dem eignen Herzen unterstüzt durch die welche von der christlichen Gemeinschaft ausgehen! Wie werden die Kräfte zum Guten gestärkt durch das Bewußtsein in einem solchen Bunde der Liebe zu stehen! und wie selig fühlen sich alle in der Freude an einem zurükgekehrten und nun um so inniger wieder mit ihnen vereinten Freunde. Wieviel also entziehen wir diesem von dem freudigen Dasein, zu dem er schon ganz wieder geeignet war; wieviel entziehen wir uns selbst von der höchsten segensreichsten Wirksamkeit, wenn wir länger als recht ist zögern wenn wir uns von der Größe Gottes schwerer überwältigen lassen als sein eigenes Herz! Je mehr wir aber nun auf der andern Seite so von der Liebe aufgeregt schon von uns selbst geneigt sind zum Vergeben; je achtsamer wir schon den entfernten Zeichen wiederkehrender Besinnung nachspüren, je lieber und fröhlicher wir den ersten Anfängen vertrauen: um desto leichter können wir dann dahin kommen auch da zu erlassen wo wir noch nicht erlassen sollen. Und gefährlich ist das in hohem Grade für Andre gefährlich auch für uns selbst. Wir wissen alle daß jenes Wort des Apostels, In mir d. i. in meinem Fleische wohnt nichts Gutes von einer ganz allgemeinen Geltung ist, und unser allgemeines Gefühl gegen die Menschen erhält eben dadurch seinen Ton und legt davon Zeugniß ab. | Aber doch wird im vergeben unser Betragen nur insofern dadurch bestimmt als sich die Sünde selbst in Andern zu erkennen giebt, und heraus tritt. Ein lebhafteres Mitgefühl als was hiedurch erregt wird, sollte es wol unter uns nicht geben. Wie trauern wir, wenn wir einen verstokten Sünder sehen, und versuchen doch immer wieder ob wir nicht das erstorbene Gefühl in ihm wieder beleben können. Wie bearbeiten wir den leichtsinnigen indem wir uns des Zwiespaltes in seiner Seele bemächtigen und ihm in den Augenblicken lockender Versuchung die der spätern Reue vergegenwärtigen. Und so thut die Liebe je mehr sie der des Erlösers ähnlich ist ihr Werk an jedem den sie für bedürftig hält der schuldbeladen und gedrükt erscheint. Glauben wir aber von Einem daß er durch eine tief gehende Buße erschüttert zur lebendigen Selbsterkenntniß gekommen sei, und nun von selbst die zweiten Schmerzen scheuen werde daß sie nicht 1–7 Wie ... Freunde.] mit Einfügungszeichen am Rand 7 diesem] korr. aus 10 wenn wir länger] am Rand b vermutlich zum Eintragen der Bibelstelle 1Joh 3,20 (vgl. auch oben S. 615,15) 10 länger ... ist] mit Einfügungszeichen über der Zeile 13 je] folgt 14 den] korr. aus unleserlichem gestrichenen Wort 14 Besinnung] folgt unleserliches gestrichenes Wort darüber 11 Vgl. 1Joh 3,20

19–20 Röm 7,18

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ärger werden als die ersten, so überlassen wir ihn natürlich auch sich selbst als einen, der eben aus den Händen des besten Arztes entlassen keiner ärztlichen Hülfe bedarf. Wenn dem nun nicht | so ist: lassen wir dann nicht eine Seele aus den Händen welche uns als Zeugen ihres Falles gleichsam besonders zur Obhut übergeben war.

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b. Nachschrift Am Sonntage Quasimodogeniti 1821. |

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Tex t. Johannis XX, 22. 23. Und da er das sagte blies er sie an und spricht zu ihnen: nehmet hin den heiligen Geist; welchen ihr die Sünden erlaßet, denen sind sie erlaßen, und welchen ihr sie behaltet denen sind sie behalten. M. a. F. Die nächste unmittelbare Absicht jener wunderbaren göttlichen Führung, vermöge welcher der Erlöser, der als der Heilige Gottes die Verwesung nicht sehen sollte, noch sichtbar nach seinem Tode und seiner Auferstehung unter seinen Jüngern wandelte, war gewiß die, daß sie allmälig nur lernen sollten, seine per|sönliche Gegenwart, an welche sich bisher ihr ganzes geistiges Leben gehalten hatte, zu entbehren, und durch seine lezten Unterweisungen und Einrichtungen zu der Selbstständigkeit gelangen sollten, mit welcher ihnen nun oblag das Reich des Herrn zu bauen. Das ist der Gesichtspunkt, aus welchem wir alle seine Unterredungen mit ihnen, ja selbst alle kleine Züge aus diesem flüchtigen Leben des Erlösers mit den Seinigen zu betrachten haben. Die verlesenen Textesworte sind aus der ersten Zusammenkunft des Erlösers mit den versammelten Elf und wer sonst noch bei ihnen war; und die Gabe die er ihnen da mit|theilte, indem er zu ihnen sprach: „welchen ihr die Sünde erlaßet, denen sind sie erlaßen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten,“ diese Gabe muß ihm also als das Wesentlichste und Nothwendigste erschienen sein, womit er sie für ihren künftigen Beruf auszurüsten hatte, und die er nicht zeitig genug in ihnen begründen konnte. So laßt uns denn nach Anleitung dieser Worte, m. g. F., darüber mit einander reden, wie wichtig es ist in der khristlichen Kirche, daß die Sünden recht behalten werden und auch recht erlaßen. Um uns hievon zu überzeugen, werden wir zuerst darauf zu sehen haben, was für das ganze Bestehen 3 so] am Rand Schl. 3 lassen] korr. aus lassen 5 war.] Ende von Schleiermachers Überarbeitung unten S. 621, 28, über Gemeinschaft 12–13 Vgl. Ps 16,10 (zitiert in Apg 2,27.31; 13,35.37)

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der khristlichen Gemeinschaft davon | abhängt, aber dann auch zweitens, was dabei vorausgesezt war, und welches die Bedingungen sind, unter denen es allein geschehen kann. Beides zusammengenommen wird uns gewiß den ganzen Umfang dieser Worte des Erlösers aufdeken. I. Um zu sehen wie viel für das ganze Bestehen der khristlichen Kirche davon abhängt, daß diese Gabe, die der Erlöser hier seinen Jüngern ertheilt, in derselben einheimisch sei, laßt uns zuerst freilich auf die Zeit sehen, da der Erlöser sie den Aposteln mittheilte, dann aber auch im Allgemeinen auf die unsrige eben sowohl als auf jede andre. Es sollte nun, wenn der Tag würde | gekommen sein, auf welchen der Erlöser seine Jünger hinwies, beginnen der Beruf, zu dem er sie ursprünglich in seine Nähe gesammelt, zu dem er sie in dem Verlauf seines öffentlichen Lebens geübt, den er ihnen in seinen lezten Reden aufs neue empfohlen, und wozu er sie in seinem lezten hohenpriesterlichen Gebet seinem und unserm Vater dargestellt hatte, der Beruf, daß sie hingehen sollten und alle Völker lehren, und das Evangelium des Friedens unter ihnen verkündigen. Bisher war das Sündenbehalten und Sündenerlaßen die Sache unsers Erlösers allein gewesen; Er war es der allein das tröstende Wort „deine Sünden sind dir vergeben, gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“, aussprach; er | der sich allen verlornen Schafen aus dem Hause Israel darbot, und zu sich einlud alle Mühseligen und Beladenen, um sie zu erquiken, und ihnen Ruhe zu geben für ihre Seelen; aber auch er der ohne daß ihm jemand zu sagen brauchte wußte was in eines jeden Menschen Herzen sei, der eben sowohl erkannte den Israeliten, in welchem kein Falsch war, als er es auch vorher wußte, wie bald viele von denen die ihn bewunderten, und sich an ihn hingen, wieder hinter sich gehen würden. Das sollten und mußten nun seine Jünger; denn nur dadurch daß sie Sünden erließen nahmen sie die Menschen auf in den Bund der khristlichen Kirche, und keine andre Art und Weise gab es, wie sie | ihren Bemühungen um die Menschen, da wohin der Geist des Herrn sie geführt hatte das Evangelium zu predigen, Gränzen sezten, als indem sie denen, welche nicht hören wollten ohnerachtet des liebreichen Zurufs „heute so ihr seine Stimme hört, so verstokt euer Herz nicht“, ihre Sünden behielten. Und wie wichtig war es nicht, bei den großen Widrigkeiten eines großen Theiles des jüdischen Volks sowohl als den andern Völkern, an welche der Ruf des Evangeliums erging, bei der weit verbreiteten Gesinnung, indem es den einen ein Ärgerniß war und den andern eine Thorheit, wie wichtig war es 14 Vgl. Joh 14–16 14–15 Vgl. Joh 17,1–26 16–17 Vgl. Mt 28,19–20; Mk 16,15 19 Vgl. Mt 9,2; Mk 2,5; Lk 5,20; 7,48 19–20 Vgl. Joh 5,14; 8,11 20–21 Vgl. Mt 15,24 21–22 Vgl. Mt 11,28–29 24–25 Vgl. Joh 1,47 25–26 Vgl. Joh 6,66 32–33 Ps 95,7–8 (zitiert in Hebr 3,7.15; 4,7) 37 Vgl. 1Kor 1,23

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nicht, daß das Reich des Herrn zeitig unter | den Menschen ausgebreitet wurde, daß es zeitig Wurzel faßte und Kraft erhielt, allen Hemmnißen die ihm überall entgegen traten zu wiederstehen, und daß in der immer mehr wachsenden Gemeinschaft jedes schwächere Gemüth sich stärken konnte für die Stunde der Versuchung. Und überall wohin die Boten des Friedens gingen, da kamen sie in das Reich der Sünde, bald unter diejenigen, welche ihre Zustimmung dazu gegeben hatten, den Fürsten des Lebens zu kreuzigen, bald unter diejenigen, welche wie der Apostel sagt die Wahrheit verkehrt durch Ungerechtigkeit, und die natürliche und allen | Menschen angeborne Offenbarung Gottes in sich verwandelt hatten in thörichte Bilder vergänglicher Dinge. Sollte nun das Reich Gottes ausgebreitet werden, o wie viele Sünden mussten sie erlaßen. Aber es wäre eben so gefährlich gewesen, wenn sie unter die Zahl der Khristen leichtsinniger Weise solche aufgenommen hätten, bei denen nur der falsche Schein einer flüchtigen Rührung sie hätte bestechen können, in deren Innern noch immer das alte Verderben lebte und blühte, und Früchte für die Zukunft zu tragen versprach; wie gefährlich wenn sogleich die khristliche Kirche durch solche falsche Brüder wäre entweiht worden, welche in ihren äußeren | Umfang aufzunehmen freilich in der Folge nicht zu vermeiden war. Und bei dem weiteren unbegränzten Kreise des Wirkens der sich ihnen darbot, wie wichtig war es, daß gleich von vorn herein ihre Bemühungen richtig geleitet wurden, daß der Geist sie hemmte und zurükhielt sie nicht in solchen Gegenden zu verschwenden, wo die Menschen überall noch nicht reif waren, daß sie ihnen die Sünden konnten erlaßen, und sie in den Bund des Friedens aufnehmen. Wenn es daher wichtig war für das Fortbestehen des Evangeliums, daß die Zuversicht in sich fühlten, sie könnten die Sünden erlaßen, und denen sie sie erließen | denen wären sie auch erlaßen; eben so wichtig war es auch auf der andern Seite, daß sie auch richtig und mit dem göttlichen Urtheil wie es im Himmel gefällt wird übereinstimmend den Menschen ihre Sünden nicht für immer – denn für die Ewigkeit waren sie nicht gesezt – aber für den Augenblik, auf welchen es ankam, zu behalten wußten. Ohne das Erste würden sie zu zaghaft gewesen sein, und mit festem Vertrauen sowohl die welche Feinde des Erlösers gewesen waren, als auch diejenigen die überhaupt noch in dem Schatten des Todes gewandelt hatten, in den Bund des Khristenthums aufzunehmen, und ihnen die Mittel der | göttlichen Gnade darzureichen, und ohne das Andre würde die khristliche Kirche zu frühe die erste unbeflekte Reinheit verloren haben, ohne welche sie nicht im Stande gewesen wäre, der Welt und den Lokungen derselben und ihren Verfolgungen den kräftigen Wiederstand zu leisten, 15 bestechen] bestehen 8–11 Vgl. Röm 1,18–22

27 erlaßen] verlaßen

32–33 festem] festen

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durch welchen allein sie für alle Zeiten auf Erden konnte befestigt werden. Darum gab ihnen der Herr jezt schon, ehe noch der Tag herbeigekommen war, wo sie in einem höheren Maaße erfüllt werden sollten mit der Kraft von oben, darum gab er ihnen jezt schon seinen Geist in dem Maaße, welches sie in den Stand sezte, | den Menschen die Sünde so zu erlaßen, daß sie ihnen auch wirklich erlaßen war, und sie denen zu behalten, denen sie noch mußte behalten bleiben. Aber wenn es aus den Worten unsers Textes scheint, als habe der Herr diese Gaben nur den Vertrautesten seiner Jünger, nur dem engen heiligen Kreise der Elf mitgetheilt; wenn freilich in Beziehung auf die Pflanzung und Verbreitung der khristlichen Kirche ein großer Unterschied war zwischen ihnen und denen die durch ihr Wort an den Herrn gläubig wurden: so dürfen wir doch nicht zweifeln, m. g. F., es ist dies eine Gabe zu allen Zeiten nothwendig in der khristlichen Kirche, | und welche jedem Khristen in seinem Maaße nothwendig und unentbehrlich ist; nur darum stellt sie auch die Erzählung unsers Textes dar als gleichsam die erste Stufe, das erste Zeichen des Geistes, deßen wir ja alle theilhaftig werden sollen, und den der Herr von seinem Vater erbeten hat, nicht nur für seine unmittelbaren Jünger, sondern auch für alle die durch ihr Wort an ihn gläubig werden würden. Freilich, m. g. F., davon wie ein jeder Einzelne unter uns seinem Bruder die Sünden erläßt oder behält, hängt die Verbindung desselben mit der khristlichen Kirche, der Antheil desselben an allen Mitteln der göttlichen | Gnade, die in ihr niedergelegt sind, nicht ab; keiner kann dadurch daß er ihm die Sünden erläßt, dem andern erst den Zutritt eröffnen zu den Gnadengaben des Evangeliums, deßen Wort frei umher überall erschallt, von allen gehört werden soll und alle an sich loken; und keiner von uns kann und soll auch wollen dadurch daß er in sich dem Gefühl nicht wiederstehen kann, dem andern seine Sünden noch zu behalten, ihn ausschließen von den Wohlthaten der khristlichen Kirche, von den nahen und entfernten Einwirkungen des göttlichen Geistes, der in derselben walten soll. Aber das Verhältniß eines jeden Einzelnen zu dem andern, das was | jeder von uns selbst thut, sich zu thun berufen und gedrungen fühlt für das Heil des andern, die Art wie wir einer auf den andern wirken, die hängt davon ab, ob wir ihm in dem Innern unsers Gemüths die Sünden erlaßen oder ob wir sie ihm behalten, und also, m. g. F., auch jezt noch das reine und sichere Fortbestehen, die innere Kraft und Festigkeit der khristlichen Kirche. Denn alles Wirken des göttlichen Geistes in derselben durch die Kraft des Worts, alles was er thut um die verirrten Gemüther zu beschämen und herbeizuführen, um die Schwachen zu befestigen, die Starken auszurü7 mußte] mußten 19 Einzelne] Einzelner derselben 29 entfernten] entfernter 17–19 Vgl. Joh 17,20

21 desselben ... desselben] derselben ...

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sten mit immer herrlichern Gaben, das | muß unterstüzt werden durch die Mitwirkung aller derer, die schon zu Werkzeugen des Geistes geheiligt sind. Darum wenn wir einem andern die Sünde behalten, die ihm nicht mehr soll behalten werden, und ihm nicht mehr behalten wird in dem Urtheil unsers himmlischen Vaters, so verringern wir unsre eigene Wirksamkeit, in dem Reiche Gottes, so schließen wir einen aus, den wir nicht ausschließen sollten, von dem Erfrischenden, von dem Belehrenden, von dem Warnenden, welches unsre herzliche und brüderliche Vereinigung mit ihm wohlthätig in ihm hervorbringen könnte und sollte, so schließen wir ihn aus aus dem engen lebendigen Kreise unsrer Wirksamkeit, | unsers Vertrauens, unsrer brüderlichen khristlichen Liebe, und indem wir ihm entziehen die Wirkungen derselben, indem wir uns versagen die Äußerungen derselben, so verliert er und verlieren wir. Aber eben so, m. g. F., wenn wir dem die Sünden erlaßen, dem wir sie noch nicht erlaßen sollten, so sezen wir uns selbst in eine engere Gemeinschaft, welche eine Quelle des Verderbens in sich trägt, ohne daß wir in dem Innern unserer Seele auf unsrer Huth sind. Denn haben wir einem die Sünden erlaßen, so sehen wir das was aus seiner Seele hervorgeht, die Äußerungen seiner Gedanken, die Empfindungen | seines Herzens das wozu er uns selbst aufzuregen und zu ermuntern sucht, freilich nicht an als etwas Untadelhaftes und Reines, was keiner Prüfung aus dem göttlichen Worte bedürfte, aber doch als dasjenige, was aus dem gemeinsamen Geist, den wir in ihm glauben; und für den wir in uns Gott dem Herrn Dank sagen, hervorgegangen ist; und so laßen wir unbesorgt ein gefährliches Gift in unsre Seele einschleichen; und indem wir uns, weil der Mensch sich nicht nach allen Seiten hin ausbreiten kann, und weil die Empfänglichkeit seines Gemüths und seines Lebens ihre bestimmte Gränze hat, indem wir uns, sage ich, der engeren Gemeinschaft mit | andern entschlagen müßen, indem wir uns einer innigen Gemeinschaft mit einigen hingeben, o welch einen gefährlichen Tausch treffen wir, wenn wir auf der einen Seite denen die Sünden behalten, denen wir sie hätten erlassen sollen, und auf der andern Seite denen die Sünden erlaßen, denen wir sie hätten behalten sollen, indem wir uns vor ihren Einwirkungen hüten und uns selbst davon zurükhalten sollten. So können wir wohl nicht leugnen, m. g. F., sowohl alles dasjenige was die khristliche Kirche in sich selbst verdirbt und spaltet, alles was Gemüther von einander entfernt, | die durch das Band der khristlichen Liebe, durch die gemeinsame Anhänglichkeit an denselben Herrn und Meister verbunden sein sollten, ach und so vieles was das Band der khristlichen Liebe innerlich schwächt, und was äußerlich der khristlichen Kirche Unehre macht vor der Welt, und denen zum Vorwand dient, die das Evangelium zu schmähen suchen – ja fast alles dieses kommt daher, wenn wir nicht wie 16 Huth] Haus 28 Gemeinschaft] Darüber die letzten Worte von Schleiermachers Überarbeitung, oben S. 617,5

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die Apostel die Sünden so erlaßen, wie sie wirklich erlaßen sind, und so behalten wie sie wirklich behalten sind. Fragen wir nun, wie steht es in dieser Beziehung jezt unter uns um diese Gabe | des Geistes und ihren wohlthätigen Einfluß? so können wir wohl nicht umhin an vielen Zeichen wahrzunehmen, daß sie nicht so reichlich unter uns waltet wie sie eigentlich sollte. O wie viele unter den Khristen, die auf der einen Seite leichtsinniger Weise weder Sünden erlaßen noch Sünden behalten wollen, die gar kein bestimmtes Gefühl über den inneren Seelenzustand der Menschen, unter denen sie leben, in Beziehung auf das Reich Gottes in ihrer Seele sich gestalten laßen, sondern alle nur betrachten und behandeln nach Maaßgabe deßen, was sie ihnen sein, was sie für sie leisten | und thun können in Beziehung auf die übrigen irdischen Verhältniße des Menschen; aber auch gar viele, denen allerdings das Reich Gottes am Herzen liegt, aber welche sich bald durch dieses bald durch jenes bestechen laßen, welche einigen deßwegen, weil sie ihnen in diesem oder jenem am ähnlichsten sind, gar leicht die Sünden lösen und sie ihnen nicht behalten, obgleich sie ihnen dieselben behalten sollten zur Buße, und die dann eben deßwegen auch leichtsinnig und ungerecht die Sünden behalten, die sie in dem Gefühl der Wahrheit erlaßen sollten, welches sie aber nicht haben | für diejenigen, welche in diesem oder jenem Einzelnen ihnen fernstehen, und die sie eben deßwegen nicht verstehen und beurtheilen können. II. Darum, m. g. F., ist es nun wichtig, daß wir uns zweitens fragen, worauf kommt es denn an und was muß der Mensch in sich haben, um nach diesen Worten Khristi die Sünden zu erlaßen und zu behalten? Diese Frage, m. g. F., beanwortet uns der Erlöser selbst dadurch daß er diese Worte zu seinen Jüngern nicht sprach, und die mit dieser Gabe nicht ausrüsten konnte, ohne vorher zu ihnen zu sprechen: nehmet hin | den heiligen Geist. Der ist es also und der allein, der den Menschen in den Stand sezt, übereinstimmend mit der göttlichen Wahrheit die Sünden zu erlaßen und die Sünden zu behalten. Dieser Geist, m. g. F., der die Stelle des Erlösers in der Welt eingenommen hat, seitdem dieser die Erde verließ, und zu seinem Vater zurükkehrte, den er selbst den Seinigen angekündigt hat für alle Zeiten als seinen Stellvertreter, dieser Geist ist also zuerst der Geist der Liebe, in welcher der Erlöser in der Welt umherging, der in welchem er sprach „des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er herrsche oder ihm dienen laße, sondern daß er selbst | diene“, der Geist, in welchem er sagt, er sei gekommen, zu suchen und selig zu machen was verloren war, der Geist der ihn beseelte und aus ihm sprach, wenn er mitten aus dem tiefsten Verderben heraus die Regungen erkannte, welche die Kraft seines Wortes in den Seelen hervorge31–34 Vgl. Joh 14,15–21

35–37 Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45

37–38 Vgl. Lk 19,10

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bracht hatte, indem er es zu schäzen wußte, wenn der noch verirrte und doch von der himmlischen Wahrheit aufgeregte Mensch vor ihm niederfiel und sprach „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben“; der liebreiche milde Geist, in dem er so oft sprach „stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dir geholfen, deine Sünden sind | dir vergeben, gehe hin und sündige hinfort nicht mehr“. O, m. g. F., dieser Geist der himmlischen Liebe, welcher sucht was verloren ist, dieser Geist der dem Erlöser hilft sein Werk auf Erden ausbreiten und vollenden, der mit aufopfernder Milde unbekümmert um das Urtheil der Welt, wie der Erlöser es war, wenn er sich zu den Zöllnern gesellte, diejenigen aufsucht, welche verloren nicht nur scheinen sondern auch sind, aber in denen sich der erste Funke des höhern Lebens regt; dieser Geist der auch uns, eben weil wir wie der Erlöser nicht nur in Allem nur ausgenommen die Sünde sondern auch in der Sünde selbst | einander gleich sind, der auch uns helfen kann, jemehr wir unserm Bruder die Umkehr von der Sünde erleichtern, wenn er im Begriff ist sich niederzuwerfen vor unserm himmlischen Vater und zu ihm zu sprechen „Herr ich habe gesündigt im Himmel und vor dir“ – dieser Geist ist es, der uns treibt die Sünden zu erlaßen, aber auch nur so wie sie wirklich erlaßen sind; denn er wird von nichts Anderm geleitet als davon daß er sich selbst in seinen Wirkungen wiedererkennt. Wo das ist, da strömt er tröstend helfend aufrichtend aus dem Stärkeren in den Schwächeren, da vertilgt er leicht nicht nur die kleinlichen Empfindungen eigener Beleidigungen, | sondern auch das Gefühl, welches die treuen Jünger des Herrn gegen alle diejenigen haben müßen, die einen Theil ihres Lebens damit zugebracht haben ihn zu kreuzigen. Aber eben dieser Geist, den der Herr seinen Jüngern mittheilte, er ist auch der Geist der Reinheit und der Strenge; der Geist der das Arge und das Falsche weit von sich weiset, der Geist der einen Wiederwillen fühlt gegen das Halbe und gegen das Laue, der sich nicht bestechen läßt auch nicht durch die feinste Heuchelei, der scharf erkennt und beurtheilt was aus der innersten Wahrheit des Menschen hervorgeht, und was entweder nur eine vorübergehende Anstekung ist oder ein | angemahlter Schein, der Geist welcher auch unter der schönsten Tünche die Gräber und die Stätten des Todes erkennt; und insofern ist er es, der uns warnend leitet die Sünden zu behalten wo sie noch nicht können erlaßen werden. Beides war segensreich wenn die Apostel des Herrn es übten in der Verbreitung seines Reiches. Wenn die Menschen an ihr Herz schlugen und sprachen „ihr Männer lieben Brüder, was sollen wir thun daß wir selig werden?“ Dann sprachen 28 bestechen] bestehen 3 Mk 9,24 4–6 Vgl. Mt 9,2.6; Mk 2,5.11; 10,52; Lk 5,20.24; 7,48.50; 8,48; 17,19; 18,42; Joh 5,8.14; 8,11 16–17 Vgl. Lk 15,18.21 36–2 Vgl. Apg 2,37–38

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sie „Glaubet und laßet euch taufen auf den Namen Jesu Khristi, so werdet ihr finden Vergebung eurer Sünden“; und die so herzutraten absagend allem Wahn, der sie eben | getrieben hatte den Herrn der Herrlichkeit kreuzigen zu helfen, die fanden auch Vergebung der Sünden und Ruhe für ihre Seelen. Aber auch wenn Petrus zu jenem Simon sagt „daß du verdammt werdest, der du meinst die Gabe des Geistes zu empfangen für Geld, gehe nun hin, und bitte Gott, ob er dir vergeben möchte den Tük deines Herzens“, da hatte er die Freude, daß auch dieser sprach „o bitte du den Herrn für mich, daß keins der Dinge über mich komme davon du redest“, und daß er in sich ging und sein Verderben erkannte. Als Paulus der Apostel in seinem Briefe an die Korinther einen der die Gemeine geärgert hatte | mit einem unkhristlichen Leben, dem Satan übergab und ihm die Sünde behielt, da hatte er bald die Freude, daß er schreiben konnte: „ich ermahne euch, da er Buße gethan hat, daß ihr die Liebe an ihm erweiset; und wenn ihr ihm vergeben habt, so vergebe ich ihm auch, und wo ich jemandem etwas vergebe, da vergebe ich um euretwillen an Khristi statt.“ Und aus beiden zusammen ist die Gemeine des Herrn entstanden und erwachsen, und aus beiden zusammen nur kann sie noch jezt bestehen und sich hüten vor dem was sie äußerlich verdirbt und innerlich stört. Aber, möchte man fragen, wie schwer | ist es nicht, daß sich in der Seele des Menschen mit einander vereint jener Geist der Milde und der Liebe, jener verzeihende und lösende Geist, und dieser Geist des Ernstes und der Strenge, dieser zögernde, dieser behaltende Geist? Nein, m. g. F, es ist nicht schwer, denn beide sind nicht zweierlei sondern sie sind nur Eins und dasselbige. Was ist die Liebe, m. g. F., mit welcher wir den Seelen unsrer Brüder uns hinneigen, was ist sie anders als unsre Liebe zu unserm Herrn und Erlöser selbst? Wie gewinnen wir diese? wie stärkt sich diese in unserm Herzen? wie besiegt sie immer mehr alles andre? Durch nichts anderes als durch | die lebendige Gemeinschaft, in der wir mit ihm stehen, durch das unaufhörliche Zurükkehren zu ihm und das Aufsehen auf ihn, durch das immer tiefere Einprägen aller Züge seines heiligen Bildes in unsre eigene Seele. Und wenn wir so durchdrungen sind von Liebe zu unserm Herrn, wenn wir so immer weiter kommen in der Ähnlichkeit mit ihm: so sollte uns das fremd und fern bleiben können, daß wir nicht im voraus und nicht von fern allein doch aus dem unmittelbaren Leben mit andern herausfühlen und beurtheilen könnten, ob sie sich in dem Zustande des Gemüths befinden, in welchem wir ihnen unbesorgt für uns die Sünden erlaßen können, | oder ob in demjenigen, in welchem wir uns, weil wir selbst noch schwach sind und noch nicht 15 vergebe] verge

20 sich] sie

5–8 Vgl. Apg 8,20.22 16 Vgl. 2Kor 2,6.8.10

21 verzeihende] verzeichende

8–9 Vgl. Apg 8,24

11–13 Vgl. 1Kor 5,1–5

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ganz erfüllt von dem göttlichen Geist, vor ihnen zu hüten haben, und wenn wir ihnen einen Einfluß auf uns gestatten Verderben für uns selbst zu besorgen. O wer nichts anderes sucht als das Werk des Herrn, dem wird in seiner Liebe und seiner Treue gegen ihn das Eine eben sowohl gelingen als das Andre, und es ist derselbe Geist, der Muth Kraft und Sicherheit giebt zu leiden, aber nur deßwegen weil er ist der Geist der Demuth und der Selbstverleugnung; der Selbstverleugnung, mit welcher wir eben nicht das Unsrige suchen sondern | das was des Erlösers ist; der Demuth mit der wir nicht aus uns selbst, sondern von ihm alle unsre Urtheile und Empfindungen über unsre Brüder hernehmen. Denn wenn wir fragen, was so oft in diesen wichtigen Angelegenheiten das Urtheil verwirrt und verfälscht, o was ist es anders, wenn wir auf den innersten Grund der Seele gehen, als auf irgend eine Weise die Eitelkeit und Selbstgefälligkeit der Menschen, das Meßen nach sich selbst und nach demjenigen was ihnen das Eigenste und Unmittelbarste ist, der engherzige Blik, den der nicht haben kann, der sich in das Ganze des menschlichen Geschlechts eingelebt hat? O so laßt uns | immer mehr zu ihm zurükkehren und von ihm empfangen aus der Fülle die allen offensteht, immer mehr uns eintauchen in seine milde die Sünder zu sich rufende Liebe, aber auch von ihm empfangen den Geist der Strenge und der Wahrheit, damit wir lernen uns selbst hüten und unsre Seligkeit schaffen mit Furcht und Zittern. Denn nur so werden wir mit unsern schwachen Kräften in dem Reiche Gottes wirken können, um es zu fördern, ohne es zu spalten. Je mehr wir uns von dem Herrn diesen Geist geben laßen, desto mehr wird die khristliche Kirche freiwerden von Allem was sie innerlich verdirbt und äußerlich stört, | und immer schöner aufblühen in herrlicher Eintracht und Liebe, und immer mehr werden sich die Kräfte der Menschen, die sich dem Herrn geweiht haben, in Eintracht des Herzens verbinden, und immer übereinkommender ihre Urtheile werden, und daher auch immer größer die Gewalt, die er denen übertragen hat, welche sein Reich auf Erden fördern wollen. Amen.

22 um] und 20–21 Vgl. Phil 2,12

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[Liederblatt vom 29. April 1821:] Am Sonntag Quasim. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Komm heiliger Geist etc. [1.] Nimm Jesus Christus gnädig an / Uns die anbetend dir sich nahn! / Wir wollen unser Herz dir geben, / Dir sterben und dir leben. / Rüst uns mit deines Geistes Kraft / Auf dieser Erde Pilgerschaft, / Daß nicht die Lockungen der Sünden / Uns, deine Jünger, überwinden / Durch ihre Macht. // [2.] Du Schutz der deinen, starker Hort, / Laß deiner Wahrheit helles Wort / Auf unsres Lebens Pfad uns leiten, / Nicht wanken uns noch gleiten! / Treib fern von uns des Irrthums Nacht, / Und wehre deiner Feinde Macht, / Daß herrschend auf der ganzen Erde / Dein selges Gottesreich bald werde / Zum Heil der Welt. // [3.] Du hocherhabner Gottessohn, / Hilf uns vor deines Vaters Thron / Getrost in deinem Namen treten, / Und freudig zu ihm beten. / Mach uns durch deine Kraft bereit / Zum Sterben und zur Ewigkeit, / Daß wir als deine Streiter ringen, / Zu dir durch Tod und Leben dringen, / Halleluja. // (Magdeb. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne etc. [1.] Ihr Herzen die durch reine Lieb / In Christo sich verbunden, / Uns lockt ein starker Glaubenstrieb / In allen Lebensstunden / Mit sanftem Zug dahin, / Wo unser Geist und Sinn / Dem irdischen sich schließet zu, / Und kommt in Einem ganz zur Ruh. // [2.] So laßt uns denn in Einem Geist / Nach diesem Einen trachten, / Was uns den Weg zu diesem weist, / Vor allem herrlich achten! / Bei Christo nur allein / Kann es erlanget sein; / Wenn der mit seiner Liebesfüll’ / Das Herz erfüllt, so wird es still. // [3.] Drum laßt uns Kräfte, Sinn und Muth / Zu diesem Zweck verbinden! / Baut Christi Reich sich immer gut, / So ist der Schaz zu finden. / Auf laßt uns Herz und Sinn / Zum Himmel richten hin, / So können wir in Christo ruhn / Und niemand kann uns Leides thun. // [4.] Laßt uns mit allem was wir sind, / Entfliehen von der Erden, / Und immer inniger entzündt / Von Christi Liebe werden. / O würde seine Gnad’, / Und was er für uns that, / In tiefer Demuth stets verehrt, / Und sein Lob unter uns vermehrt. // [5.] Jezt ist die angenehme Zeit, / Die Gnadenthür steht offen, / Der Herr zeigt sich in Freundlichkeit / Uns die wir auf ihn hoffen! / Geht ein in seine Ruh, / So stößt kein Schmerz uns zu, / So sind wir rechten Friedens voll, / Und uns ist unaussprechlich wohl. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Eine feste Burg etc. Ich lebe dir, ich sterbe dir, / Doch nicht durch meine Kräfte; / Bin ich des Herrn, so ists in mir / Sein göttliches Geschäfte. / Ja ich lebe dir, / Ich sterbe dir, / Ja mein Erlöser dein / Will ich auf ewig sein / Auf ewig dein Versöhnter. //

Am 13. Mai 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Jubilate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,44–47 Nachschrift; SAr 77, Bl. 71r–91v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 83r–83v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 111r–116v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Sonntage Jubilate 1821, am dritten Sonntage nach Ostern am dreizehnten Wunnemonds. |

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Tex t. Luk. XXIV. 44–47. Und er sprach zu ihnen, das sind die Reden, die ich zu euch sagte, da ich noch bei euch war; denn es muß alles erfüllt werden, was von mir geschrieben ist im Gesez Mosis und in den Propheten und in den Psalmen. Da öffnete er ihnen das Verständniß, daß sie die Schrift verstanden, und sprach zu ihnen: also ist es geschrieben, und also mußte Khristus leiden und auferstehen von den Todten am dritten Tage, und predigen laßen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden unter allen Völkern. |

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M. a. F. Wenn wir wie ich schon neulich gesagt habe, den unmittelbaren und nächsten Endzwek jener merkwürdigen Fügung Gottes, daß der Herr, nachdem er dem Tode entrißen war, noch unter seinen Jüngern lebte und mit ihnen wandeln konnte, vorzüglich darin zu sehen haben, daß er sie in den Stand sezen wollte, seine persönliche Abwesenheit zu tragen, und mit seiner Kraft innerlich und äußerlich ausgerüstet auch ohne ihn das große Werk zu vollbringen, zu welchem sie berufen waren: so müßen wir wohl sagen, es ist gewiß ein höchst wichtiges Stük dieser seiner lezten Gespräche mit seinen | Jüngern, wovon die Worte unsers Textes reden; sie enthalten auch offenbar zusammengezogen, was der Evangelist von den Reden des Herrn mit seinen Jüngern in diesen Tagen der Auferstehung überhaupt er-

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13–19 Vgl. oben 29. April 1820 vorm.

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fahren konnte. Er öffnete ihnen die Augen des Geistes, daß sie die Schrift verstanden. Wie er schon in den Tagen seines Lebens und seines Lehrens gesagt hatte, sie sei es die von ihm zeuge, so öffnete er ihnen jezt in einem höhern Grade die Augen, daß sie erkennen konnten, wie alles mußte erfüllt werden, was geschrieben steht im Ge|sez, in den Propheten und in den Psalmen. Und als hernach die Erfüllung kam der großen Verheißung, die er ihnen bei seinem lezten Scheiden zurükließ, als sie erfüllt wurden mit der Kraft des Geistes aus der Höhe, so verband sich eben der göttliche Geist vorzüglich auch mit dieser höheren Kenntniß der Schrift, und aus dieser bewiesen sie dann, daß Jesus von Nazareth sei der der da kommen sollte, und wurden nun in den Stand gesezt auch andern die Augen zu öffnen und das Herz zu erweichen. Und wenn wir von da an weiter gehen in der Geschichte der Gemeine des Herrn, so müßen | wir zum Preise Gottes gestehen, daß das Verständnis der Schrift der herrlichste und beste Ersaz ist für die persönliche Gegenwart unsers Herrn auf Erden. Und das laßt uns jezt zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen. Es wird dabei vorzüglich darauf ankommen, daß wir zuerst erkennen, was uns in dieser Hinsicht die Schrift bietet; und dann zweitens daß wir auch darauf sehen, auf welche Art sie von uns kann und soll benuzt werden. So werden wir in beiden eben die Ähnlichkeit finden mit der persönlichen Gegenwart des Herrn, die der Ersaz derselben sein kann. I. | Wenn wir nun zuerst fragen, m. g. F., was bietet uns denn die Schrift zum Ersaz für die verloren gegangene Gegenwart unsers Herrn und Erlösers auf der Erde? So finden wir die Antwort darauf in den verlesenen Worten des Erlösers selbst. Denn da macht der Herr aufmerksam darauf zuerst, wie alles müße erfüllt werden, was von ihm geschrieben stehe in der Schrift, und weiset uns also darauf hin, wie sie enthalte die Beschreibung seiner Person und seines irdischen Lebens; dann aber auch sagt er, so mußte Khristus predigen laßen Buße und Vergebung | der Sünden unter allen Völkern, und eben diese Predigt der Buße und der Vergebung der Sünden, welche das Amt unsers Herrn während seines irdischen Lebens war, bietet uns zweitens die Schrift zum Ersaz desselben. Schon die Evangelisten und die Apostel selbst, m. g. F., sind jedesmal besonders erfreut, wenn sie ergriffen von irgend einem Umstand in dem Leben des Herrn, von der Kraft seiner Reden und seiner Thaten, etwas darauf Hindeutendes in den Schriften des alten Bundes finden. Wo uns der Evangelist Matthäus beschreibt, wie der Herr umhergegangen sei zu heilen 19 So] So, 3 Joh 5,39

6–8 Vgl. Lk 24,49; Apg 1,4–5.8

37–3 Vgl. Mt 8,14–17

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und gesund | zu machen, und sich angenommen habe aller Nothleidenden: da ruft er der Worte eines alten Sehers sich erinnernd aus: „er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen.“ Und wo er ergriffen ist von der Liebe und der Milde, mit welcher der Herr diejenigen zu sich lud, die mühselig und beladen waren, da faßt er das ganze Bild des versöhnenden zu Gott rufenden Lehrers der Verirrten und Verlornen in den Worten des Propheten zusammen „sein Geschrei wird man nicht hören auf der Gaße; aber das geknikte Rohr wird er nicht zerbrechen und das glimmende Docht wird er nicht verlöschen“. | Und der Herr selbst knüpft ebenso was er über sich und seine Person den Menschen zu sagen hatte, an die Belehrungen aus der Schrift, die in den Schulen dem Volke ertheilt wurden, an. Und als er in seiner Vaterstadt lehrend aufschlug den Propheten Jesaias, und die Worte las, „mich hat der Herr gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen und Gefangenen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn“, da sagte er ergriffen von der lebendigen Wahrheit der Erfüllung zu seinen Hörern „heute ist dies Wort erfüllt vor euern Ohren“. Und eben so die Apostel in ihrer folgenden Predigt an das Volk suchten überall sorgsam auf in der Schrift jede Spur, | die irgend einen Zug in dem Bilde des Erlösers erleuchten und verherrlichen konnte. Aber, m. g. F., was sind doch jene allgemeinen Andeutungen von der Beschaffenheit, von dem persönlichen Kharakter, von dem heiligen Beruf unsers Erlösers in einzelnen Zügen in den Schriften des alten Bundes zerstreut, was sind sie gegen den Eindruk, den seine persönliche Gegenwart auf die Menschen machen konnte und mußte, welche die Worte der Weisheit und der göttlichen Liebe von seinen eigenen Lippen vernehmen! Darum aber ist uns auch mehr in der Schrift gegeben als diejenigen besaßen, denen nur das Wort des alten Bundes vorlag. Denn so wie | seine Jünger, die seine Zeugen waren auf Erden, an jene Andeutungen der Schrift das anschloßen, was sie selbst von ihm gesehen und erfahren hatten in der ganzen Zeit von der Taufe des Johannes an bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt: so sind denn die herrlichsten kurz zusammengedrängten Auszüge aus ihren und andrer Jünger Erzählungen von dem Leben und den Reden des Herrn für uns zusammengehäuft in den Schriften des neuen Bundes; und wenn es darum zu thun ist unsern Erlöser kennen zu lernen, wie er war als er in menschlicher Gestalt auf Erden wandelte, und Fleisch und Blut an sich genommen hatte, und uns | in Allem gleich ausgenommen die Sünde auf Erden herumging, das Reich Gottes verkündigend, und zu der geöffneten Quelle der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit die Menschen hinleitend, o er findet es in den Erzählungen seiner Apostel und Jünger; und statt des vorübergehenden Anbliks ist uns geblieben das feste prophetische Wort, das wir vermögen in jedem Augen2–3 Jes 53,4 3–5 Vgl. Mt 11,28 7–9 Jes 42,2–3 (zitiert in Mt 12,19–20) 14 Vgl. Lk 4,16–19 13–14 Vgl. Jes 61,1–2 16 Lk 4,21

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blik unsrer Seele zu vergegenwärtigen, und immer den Zug aus dem Bilde des Erlösers uns vorzuhalten, der uns in jedem Augenblik am nothwendigsten ist zur Bewahrung unsres Herzens und zum Heil unsrer Seele. Und gewiß, m. g. F., erkennen | wir es mit herzlichem Dank und mit großer Freudigkeit, was für Heil und Trost, was für Erquikung und Stärkung wir alle immer wiederholt schöpfen aus den Zügen, welche uns die heilige Schrift aufbehalten hat von dem Bilde des Erlösers, so daß wir wohl gestehen müßen, ja es ist wahr, wir stehen nicht zurük hinter denen, denen es gegeben war ihn auf Erden wandeln zu sehen; sein Bild ist uns aufbehalten durch das, was uns die heiligen Männer vom Geiste Gottes getrieben, von dem lebendigen Eindruk seiner heiligen Person erfüllt, in allen Erzählungen aus seinem Leben zurükgelaßen haben. Aber was das eigentliche Geschäft des Erlösers | war, m. g. F., das war dann nicht allein die Darstellung seiner Person. So viel diese auch beitrug, die Menschen von der Lust und von der Freude an allem Unvollkommnen zurükzuführen, und sie auf das Bild der Gott gefälligen Heiligkeit und Gerechtigkeit in dem der ohne Sünde war allein hinzuleiten: doch aber war dies wie groß und herrlich auch nicht sein ganzes[,] ja nicht das Wesentliche seines Geschäfts auf Erden; sondern daß er umherging zu predigen das angenehme Jahr des Herrn, den Menschen zu verkündigen „thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ selbst nun durch | diejenigen, denen er dazu die göttliche Anleitung gab in seinem Beispiel und in seiner Unterweisung, zu predigen und predigen zu laßen in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden, jede liebliche Wohlthat fast, die er den Unglüklichen und Leidenden erwies, krönte er dadurch daß er sagte „gehe hin mein Sohn, meine Tochter, deine Sünden sind dir vergeben, sündige hinfort nicht mehr“; und indem er diesen und jenen von irgend einem Übel des äußern menschlichen Lebens befreite, streute er immer zugleich den Saamen des seligmachenden Glaubens in die Seelen derer, | mit denen er sich wohlwollend und wohlthuend beschäftigte, um das Herz zu erweichen zur Buße, und es mit dem Gefühl zu durchdringen, daß die Vergebung der Sünden, die er zu ertheilen die Macht hatte, weit herrlicher sei als alle andre Wohlthaten, die er aus seiner göttlichen Fülle den Menschen erweisen konnte. So war, m. g. F., sein Leben auf Erden der erste Anfang, der lebendige Mittelpunkt dieser Predigt von der Buße und der Vergebung der Sünden unter allen Völkern, dieses Zusammenrufen der Menschen in dem, in welchem allein Heil gegeben war. Aber wenn wir auf der einen Seite meinen könnten, kräftiger sei diese Predigt gewesen aus dem Munde des Erlösers selbst; wenn wir meinen könnten, | er der Holdselige und der Strenge, der in den tiefsten Falten des menschlichen Herzens Eindringende, der zu jedem auf seine besondre Weise redete, er habe ganz anders vermocht als er auf Erden wandelte von der Buße und 19 Vgl. Lk 4,19 (Zitat aus Jes 61,2) 11; Joh 5,14; 8,11

20 Mt 4,17

25–26 Vgl. Mt 9,22; Mk 2,5.9–

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der Vergebung der Sünden zu predigen als es jezt sein Wort vermag; so laßt uns doch zusehen, ob wir recht sagen. Denn zuerst wie klein war der Kreis, in welchem die unmittelbare Predigt des Erlösers selbst sich bewegen konnte, wie er denn das auch fühlte, und wie tief er auch überzeugt war von der großen Bestimmung seines Reiches und davon daß seine Erlösung das ganze Geschlecht der Menschen umfaßen sollte, | so bekannte er doch, er für seine Person sei nur gesandt zu den verlornen Schaafen aus dem Hause Israel. Und sollte seine Predigt irgend eine zusammengedrängte Wirkung haben, eine solche auf die sich hernach die Verkündigung seiner Jünger gründen konnte, so durfte sie auch nur beschränkt sein auf einen engen Kreis, in welchem er sich immer bewegte auf menschliche Weise, indem er herumging in den Märkten und Fleken des Landes, und indem er in der Hauptstadt seines Volkes zur Zeit der Feste diejenigen welche zu denselben herbeigekommen waren, wo sie sich um ihn versammelten belehrte durch die Schrift und aus der Fülle seiner Weisheit. Aber das | Wort, das geschriebene Wort seiner Jünger, an welches wir nun ganz vorzüglich gewiesen sind, wie es sich angeschloßen hat als die höchste und herrlichste Vollendung an die ersten Keime und Andeutungen der göttlichen Offenbarungen in den Schriften des alten Bundes, wie enthält es nicht auf jeder Seite die herrliche Predigt von der Buße und der Vergebung der Sünden, von dem Himmelreich auf Erden, deßen Haupt zur Rechten Gottes im Himmel erhöht ist, wie finden wir es nicht dem hohen Beruf des Erlösers gemäß immer mehr unter allen Völkern und unter allen Geschlechtern der Menschen sich verbreiten, in jedem andren mit seiner | eigenen Zunge; wie finden wir nicht darin gemischt und mit einander verbunden die herrlichsten Sprüche des Erlösers selbst und seiner vertrautesten Freunde, faßlich auch dem einfältigsten Gemüth, kräftig aufzuregen die Verstokten, zu trösten die Gebeugten, und anzufachen das glimmende Tocht, und zu heilen das geknikte Rohr, und wie er auf der andern Seite in sich faßend die unergründliche Tiefe der göttlichen Weisheit, die tiefsten Untersuchungen über das Verhältniß des Menschen zu seinem Schöpfer, über seine innere Bedürftigkeit und Hülfslosigkeit, und über die Fülle der göttlichen Segnungen die | sich über ihn verbreitet, welche alle menschliche Weisheit, wie lange sie sich auch damit beschäftigen mag, immer mehr wird ergründen können, sondern immer wieder aufs neue ausrufen wird: o welch eine Tiefe und welch ein Reichthum der göttlichen Gnade! Und alles, alles was darin gelehrt wird und gesagt geht zurük auf diese Predigt der Buße und der Vergebung der Sünde, auf diese Grundlegung eines neuen geistigen Reiches Gottes in dem Namen deßen, der allein dem Menschen Heil gebracht hat. Und dieses Wort mit seiner beseligenden Kraft, mit der herrlichen Zuversicht, | womit es 7–8 Vgl. Mt 15,24 28–29 Vgl. Mt 12,20 (Zitat aus Jes 42,3) Röm 11,33; Eph 1,7; 2,7

35–36 Vgl.

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einen jeden, der es hören will und in sein Herz aufnehmen, versichert daß Vergebung der Sünde für alle sei in dem Namen des Sohnes Gottes, mit dieser ist er uns für das Leben des Erlösers auf Erden, welches seiner hohen Bestimmung nach nicht anders sein konnte als kurz und flüchtig, für diese persönliche Offenbarung des Sohnes Gottes als er Fleisch geworden war, das aus den Augen weniger Menschen entgegenstrahlen konnte, für diese ist es uns ein herrlicher Ersaz, indem es bezeugt, wie zuerst in seinem Namen Vergebung der Sünden gepredigt | und erhalten sei, indem es an das Leben des Herrn anknüpft die Geschichte von der festen Gründung seiner Kirche, und wie das Evangelium vom Kreuz, das den Juden ein Ärgerniß und den Griechen eine Thorheit, durch allen Spott verkehrte menschliche Weisheit und Dünkel auf der einen Seite, durch alle Verfolgungen menschlicher Leidenschaften hindurch auf der andern Seite, eben so gesiegt habe, wie der Erlöser persönlich, nachdem ihn sein Volk verleugnet und verurtheilt hatte, gesiegt hat durch seine glorreiche Auferstehung; ja eben dieses Wort ist nichts anderes, | wie es der Erlöser hier seinen Jüngern bezeichnet, und ihnen die Augen des Geistes öffnet, als die lebendige Kraft seiner Auferstehung selbst, die wahrhafte Erfüllung von dem was er sagt „ich bin bei euch aller Tage bis an der Welt Ende“, indem es uns nicht an seine Person, sondern auch seinen hohen Beruf, die Wahrheit seiner Lehre, die göttliche Macht, womit er das Reich seines Vaters auf Erden regiert, indem er uns dies alles auf eine unverkennbare Weise vor Augen hält und ans Herz legt. II. Aber laßt uns nun zweitens, m. g. F., unsre Aufmerksamkeit noch darauf richten, wie auch in der Ähnlichkeit der Art | es zu benuzen das Wort der Schrift nur ein Ersaz ist für die persönliche Gegenwart des Herrn: Wenn wir uns, m. g. F., in jene Zeiten zurükversezen, wo der Herr auf Erden wandelte, wenn wir bisweilen wünschen möchten, unser Leben möge in jene Zeit gefallen sein, und wir möchten selbst ihn mit diesen unsern Augen geschaut haben, und sein Wort vernommen mit unsern Ohren, zagen wir nicht doch und zweifeln, wenn wir diesen Wunsch ausgesprochen haben? muß es uns nicht einfallen uns selbst zu fragen, würdest du auch unter diejenigen gehört haben, welche erkannten die göttliche Weisheit, | die von seinen Lippen strömte, und durch die unscheinbare Gestalt geahnet das Fleisch gewordene Wort Gottes? Ach nicht alle, m. g. F., nicht alle wurden beseligt, denen der Herr persönlich vor Augen trat und mit seinen holdseligen Lippen zusprach. Da gab es verirrte und verkehrte Gemüther, die da 11 durch] duch

22 unverkennbare] unverkenntbare

10–11 Vgl. 1Kor 1,23

18–19 Mt 28,20

27 zurükversezen] zurükersezen

35 Vgl. Joh 1,14

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meinten, er treibe die bösen Geister aus durch den Obersten derselben, da gab es eitle und stolze Herzen, die diejenigen welche in ihrem Innern erschüttert wurden, dadurch abzulenken suchten, daß sie sagten: glaubt auch wohl irgend ein Oberster des Volks oder ein Hoherpriester an ihn? Da gab es Wankelmüthige, welche | nachdem sie ihm eine Weile gefolgt waren, wieder hinter sich gingen, weil ihnen die Rede zu hart war; da gab es Bewundernde, die freilich ausriefen, er lehrt gewaltiger als die Schriftgelehrten und Pharisäer, aber das Rechte, den Sohn Gottes vom Himmel gekommen, den Erlöser der Welt, den Tilger der Sünde, erkannten sie doch nicht in ihm. Was war es also, m. g. F., was die Menschen in den Stand sezte, von der persönlichen Erscheinung des Erlösers die heilbringende Frucht zu ziehen, die ihnen dadurch gegönnt war? Ach nur das demüthige und zerschlagene Herz, welches wohl fühlte, das Heil müße kommen von anderwärts her als aus seinem | eigenen Innern, und auch von anderwärts her als aus der Quelle des Gesezes, das den Menschen nichts zu bringen vermochte als die Erkenntnis der Sünde, nicht aber sie zu erlösen von dem Leibe des Todes; ach nur der beginnende Glaube durch das Gefühl der Hülfsbedürftigkeit aufgeregt, der kämpfend mit dem Stolz mit der Eigenliebe und mit allem Wahn des Herzens niederfällt und ausruft, Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben, nur der war es, der diejenigen selig machte, vor denen der Erlöser persönlich stand und in ihr Herz hineinredete. Und eben der Glaube, m. g. F., eben das | Gefühl, aus welchem er hervorgehen muß, von der Hülfsbedürftigkeit des Menschen, davon daß er ein Wort von oben, daß er ein Licht von oben, daß er eine hülfreiche Hand von oben bedarf, nur der ist es auch, durch den wir unser Heil finden und schaffen. Wer anders in die Schrift hineinschaut, dem ergeht es wie jenen, den einen ist ihre göttliche Weisheit ein Ärgerniß, den andern eine Thorheit; der eine findet darin einen verkehrten gefährlichen Geist der andre eine einfältige Weisheit, welche die Menschen, die nach etwas Höherem trachten, und etwas Höheres in sich fühlen nicht befriedigen können; | der andre weidet und erfreut sich an den herrlichen Sprüchen und Lehren, die darin enthalten sind, und hält sie zusammen mit den herrlichen Sprüchen und Lehren andrer weisen Männer unter andern Völkern und zu andern Zeiten, und eben darin verkennt er die höhere Kraft von Gott. Aber wer in dem Gefühl des menschlichen Verderbens, aufgeregt schon zur Buße, sich ausstrekend nach der hülfreichen Hand die sich ihm darbietet, wer so in das 7 freilich] freichlich 10 in ihm] ihm Lehren 33 Lehren] Lehrer

17 Leibe] Liebe

32–33 und Lehren]

1 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15 3–4 Joh 7,48 6 Vgl. Joh 6,66 7– 8 Vgl. Mt 7,29; Mk 1,22; Lk 4,32 15–16 Vgl. Röm 3,20; 7,7 16–17 Vgl. Röm 7,24 19–20 Mk 9,24 27 Vgl. 1Kor 1,23

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Wort Gottes in der Schrift hineinschaut, um zu sehen wie er wahrhaft gestaltet ist, und nachdem er es erkennt sich nach dem hinstrekt, der allein unsre | Gebrechen heilen und unsre Sünde tilgen kann, wer so mit einem zum Glauben aufgeregten Gemüth in das göttliche Wort hineinschaut, o den tröstet, den erquikt, den beseligt es eben so wie die lebendige Erscheinung des Erlösers, wie die welche von ihm sagten, wir haben den Messias gefunden, beseligt wurden; denn eben so findet auch das zum Glauben aufgeregte Gemüth in dem, was das Wort der Schrift von ihm sagt, den Erlöser, nicht nur den Weisen, nicht nur den Lehrer, sondern den, der uns von Gott gemacht ist zur Weisheit selbst, und zur Gerechtigkeit selbst, und zur Heiligung | selbst und zur Erlösung selbst. Und zweitens wie es auch unter denen, welche sich der persönlichen Gegenwart des Erlösers erfreuten, und in ihm den Heiland der Welt erkannten, einen nicht unbedeutenden Unterschied gab: so finden wir freilich denselbigen auch wieder in Beziehung auf den Gebrauch der heiligen Schrift. Als das eine Schaaf, welches der Herr selbst als ein verlornes seinem Vater darstellt, hinging und sein Schiksal erfüllte, Petrus aber aufstand unter den Jüngern sagend, die Stelle die da wüste geworden, die müßte ein andrer einnehmen, da fügt er hinzu: „so wählet denn einen aus an seiner Stelle unter denen, die mit uns gewandelt sind von dem Tage seiner Taufe an bis auf den Tag, | da er von uns genommen ist“. Da waren wohl viele – denn die Zahl der Namen war bei hundertundzwanzig – da waren viele die den Erlöser oft gehört hatten, einzelne Reden aus seinem Munde vernommen, und einzelne Thaten seiner wunderbaren göttlichen Kraft gesehen hatten; aber außer den Aposteln waren nur zwei diejenigen, welche sie zur Wahl stellen konnten als solche, die den Erlöser begleitet hatten vom Anfang an bis an das Ende seines öffentlichen Lebens. Und mit Recht macht Petrus den Unterschied, daß nur ein solcher mit den Aposteln gehen könnte, um ein Zeuge seiner Auferstehung zu sein, um in | seinem Namen mit ihnen zu predigen anhebend in Jerusalem. Und wir müßen es wohl gestehen, wer nur hier und da den Erlöser persönlich gesehen, nur dies und jenes von ihm gehört hatte, aber dem der ganze Zusammenhang seines Lebens und seines Wortes fremd war, der war minder geschikt sein Zeuge zu sein als jene; denn auf manche Fragen, die ihm heilsbegierige Seelen vorlegen konnten, mußte ihnen ein solcher die Antwort schuldig bleiben, und sie doch von sich verweisen an diejenigen, denen Größeres zu Theil geworden 3 Sünde tilgen] Schänden vertilgen 2–3 Vgl. Ps 103,3 6–7 Joh 1,41 9–11 Vgl. 1Kor 1,30 16–17 Vgl. Mt 27,3– 5; Joh 17,12; Apg 1,18 17–19 Vgl. Apg 1,20 (Zitat aus Ps 69,26; 109,8) 19– 21.26–29 Vgl. Apg 1,21–22 21–22 Vgl. Apg 1,15 25–27 Vgl. Apg 2,23

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war. So finden wir auch einen ähnlichen Unterschied in der Vollkommenheit, mit der | die Khristen das Wort der Schrift benuzen können; und so wie wir diejenigen nicht beschuldigen können aus jenen hundertundzwanzig, die den Erlöser nicht hatten unausgesezt verfolgen können während seines öffentlichen Lebens, so vermögen wir auch die nicht zu beschuldigen, welche nicht eine so vollkommene Kenntniß der Schrift besizen können und Gebrauch von dieser zu machen wißen als einige und andre. Beides, das beständige Begleiten des Erlösers während seines öffentlichen Lebens sowohl als das vollkommne und ganze Durchdringen der Schrift, ist eine göttliche Begünstigung und | Gnade zu der sich mancherlei äußere Umstände vereinigen müßen. Aber so wie nun eben aus jenen hundertundzwanzig die Apostel jene beiden zur Wahl stellten, und aus diesen beiden nur einer zugeordnet wurde den Aposteln: so haben auch die Khristen von jeher gern und willig den Unterschied erkannt zwischen denen, denen eine vollkommnere Kenntniß der Schrift nach ihrer Lage und ihrem Kreise in der Welt möglich gewesen, und zwischen denen, die nur Einiges und Zerstreutes aus dieser zu nehmen wißen. Und wie jene hundertundzwanzig nun gewiesen waren an die Belehrungen der Apostel und | deßen, der ihnen zugeordnet war: so ist es das Schöne und Herrliche in dem Bunde der Khristen, daß die Kenntniß der Schrift immer mehr ein Gemeingut werden soll, und wenn es einige nur vollkommen haben können, so sind sie es, an welche die andern mit gläubigem Verstummen und mit herzlicher Liebe gewiesen sind, um aus ihnen Schäze zu nehmen, was ihnen selbst weniger offen steht. Das ist ein Unterschied, wie er während des Lebens des Herrn war, und wie er in der khristlichen Kirche immer bleiben wird, einen andern aber unter den Gliedern der Kirche, unter denen, die an Einen Herrn und Meister mit uns glauben, einen andern Unterschied erkennen wir auch nicht | an, und einen andern Vorgang wißen wir denen, welche die Diener des göttlichen Wortes sind, vor den andern nicht beizulegen, als den, daß ihnen obliegt, aus den Tiefen der Schrift die Kraft der Wahrheit und des Lebens für andre zu schöpfen, und durch den Reichthum der Erkenntniß, der ihnen durch die Gnade Gottes geworden ist, den Mangel der andern zu ergänzen. Und endlich, m. g. F., wie wir uns keine friedlichere Gesellschaft denken können als das kleine Häuflein, welches den Herrn während seines öffentlichen Lebens auf Erden beständig umgab, und da die reinste Liebe und Selbstaufopferung herrschte ohne Unterschied aller äußern menschlichen Verhältniße, welcher Gesinnung sie bis | in den Tod getreu zu bleiben sich verbunden fühlten, und wie von den Jüngern des Herrn auch in der Zeit, wo er nicht mehr unter ihnen wandelte, sondern sie an sich selbst und an das Wort der Schrift, die sie hatten, gewiesen waren; wie da von ihnen 7 und Gebrauch] Gebrauch

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gesagt wird „und sie waren alle einmüthig bei einander mit Beten und Flehen“; wie die persönliche Gegenwart des Herrn und die frische Erinnerung an dieselbe es war, die so zu innerm Frieden und zu herzlicher Liebe die Menschen vereinigte: ist nicht dasselbige, m. g. F., noch immer die Kraft des göttlichen Worts? Und wenn über irgendetwas die Menschen sich vereinigen und entzweien, wenn Gefahr ist, daß sie in | Eigendünkel oder in Haß ihre Kräfte gegen einander richten, und das Streben nach den gemeinsamen Gütern aufgeben mögen: wo finden sie den Frieden wieder, was mahnt, was dringt sie zu der innigen Liebe, welche alle diejenigen beseligen muß, die von der Liebe zu Khristo durchdrungen sind? Was anders als wenn sie fühlen und erkennen die Gefahr, worin sie sich befinden, von allem sich Andern abwendend allein zu der Quelle des göttlichen Wortes zurükkehren; das athmet den Frieden der Seele auf jeder Seite, das schlägt auch aus dem Herzen, welches sich verhärten will, immer wieder die Quelle des lebendigen Waßers, die Quelle der göttlichen Liebe hervor; und eine friedlichere menschliche Gesellschaft soll es | nicht geben als die Gesellschaft derer, die mit einander verbunden sind das Heil ihrer Seele zu schaffen, aus dem Worte des Herrn, und aus der Rede der Apostel sich zu erbauen zum Himmelreich. So sei, so bleibe es, so werde es immer mehr auch uns; dann werden wir die leibliche Gegenwart des Herrn leicht entbehren, aber in jedem Augenblik tief durchdrungen werden von dem herrlichen Gefühl der Wahrheit des Worts „siehe da! ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Amen.

[Liederblatt vom 13. Mai 1821:] Am Sonntag Jubilate 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Komm o komm du etc. [1.] Nur das Wort aus Gottes Munde, / Das mir lauter Segen trägt, / Hab ich mir zum festen Grunde / Meiner Seligkeit gelegt. / In ihm treff ich alles an, / Was zu Gott mich führen kann. // [2.] Dieses soll allein auf Erden / Leitstern mir und Führer sein; / Wer durch sich will weise werden, / Folget einem falschen Schein, / Der den Wandrer leicht verwirrt, / Und ihn ins Verderben führt. // [3.] Geist der Wahrheit, der im Worte / Licht und Wahrheit mir entdeckt, / Oeffne mir des Lebens Pforte, / Daß mein Geist recht werd’ erweckt, / Und, befreit von Menschentand, / Folg in Einfalt deiner Hand. // [4.] Was ich höre laß mich merken, / Was ich lese laß mich thun, / Wird dein Wort den Glauben stärken, / Laß es nicht dabei beruhn; / Schaff auch daß, von Sünden frei, / Sinn und That ihm ähnlich sei. // (Schmolke.) 1–2 Apg 1,14

14–15 Vgl. Joh 4,14; Offb 7,17; 21,6

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Nach dem Gebet. – Mel. Durch Adams Fall etc. [1.] Herr Gott, der du dein heilig Wort / Aus Gnaden uns gegeben, / Daß wir darnach an allem Ort / Anordnen Lehr und Leben ; / Was worden kund aus deinem Mund, / Ist in der Schrift beschrieben, / Rein schlecht und recht durch deine Knecht’ / Von deinem Geist getrieben. // [2.] Dies Wort, was in der Schrift izt steht, / Ist fest und unbeweglich, / Wenn Erd und Himmel auch vergeht, / Bleibt Gottes Wort doch ewig; / Denn keine Plag noch jüngster Tag / Vermag es zu vernichten, / Und denen soll sein ewig wohl, / Die recht sich danach richten. // [3.] Es ist vollkommen hell und klar, / Die Richtschnur reiner Lehre, / Es zeigt uns auch ganz offenbar / Gott seinen Dienst und Ehre; / Wie Jedermann hier Hoffnung kann / Und Lieb und Glauben üben. / Drum Gottes Wort wir fort und fort / Von Herzen wollen lieben. // [4.] Im Kreuz erfreut’s, in Traurigkeit / Zeigt es die Heilungsquelle, / Den Sünder, dem die Sünd ist leid, / Entführet es der Hölle. / Und naht der Tod, so stärkts den Muth, / Daß wir auch freudig sterben, / Weil wir zugleich das Himmelreich / Durch Christi Gnad ererben. // [5.] Nun Herr erhalt dein heilig Wort, / Laß seine Kraft uns stärken, / Und fruchtbar sei’s an jedem Ort / Zu Glaub’ und guten Werken: / So wollen wir dir für und für / Von ganzem Herzen danken; / Herr unser Hort, laß uns dein Wort / Festhalten und nicht wanken. // (Freilingsh. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der Höh etc. O Heil uns, Heil! auch wir sind sein, / Sei Vater, sei gepriesen, / Daß deinen Kindern reich und rein / Der Wahrheit Ströme fließen! / Und dir, der uns das höchste Gut / Am Kreuz erkauft mit Schmach und Blut, / Dank, Dank dir Jesus Christus. //

Am 20. Mai 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Cantate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,15 Nachschrift; SAr 77, Bl. 92r–113v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 83v–83v; Gemberg Nachträgliche Themenangabe von Schleiermachers Hand Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Tex t. Johannis XXI. 15. Da sie nun das Mahl gehalten hatten spricht Jesus zu Simoni Petro: Simon Johanna, hast du mich lieber denn mich diese haben? Er spricht zu ihm: ja Herr du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: weide meine Lämmer. M. a. F. Kurz vorher ehe unser Herr und Erlöser sein Leiden antrat, als er seinen Jüngern voraussagte, sie würden ihn in demselben verlaßen und ein jeder in das seine gehen, da vermaß sich Petrus sich selbst mit den übrigen zu vergleichen, und sprach zu Khristo: Herr wenn sie sich auch alle an dir ärgern, so werde ich es doch nicht; ich bin bereit mit dir in den Tod zu gehen. Jetzt traf ihn in den Tagen seiner | Auferstehung der Herr: Simon Johanna, hast du mich lieber denn diese mich haben? ihn gleichsam auffodernd zu einer ähnlichen Vergleichung, wie er sie damals gemacht hatte. Und wenn nun Petrus sich wieder vermeßen fühlte, und hätte auch nach jener theuern Erfahrung noch gesagt, ja Herr du weißt, daß ich dich lieber habe denn diese; würde er wohl zu ihm gesagt haben: weide meine Lämmer? ja auch wenn er auf der andern Seite zerknirscht und gedemüthigt durch das was ihm begegnet war, gesagt hätte „wie könnte ich, der ich dich verleugnet habe, dich wohl eben so lieb haben, wie die übrigen,“ wovon er ebenfals keine Überzeugung in dem Innern seines Gemüths | hätte haben können: würde er auch dann noch zu ihm gesagt haben: weide meine Läm[Zu Z. 1 von Schleiermachers Hand:] Ueber die Neigung sich mit Andern zu vergleichen 11 traf] Kj fragt

12–13 auffodernd] aufodernd

6–8 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27; Joh 16,32 11 Lk 22,33; vgl. Joh 13,37

9–10 Mt 26,33; Mk 14,29

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mer? Aber das gefiel ihm daß er von sich weisend jede Vergleichung nichts Anderes antwortete auch wiederholt gefragt, als: Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich lieb habe. Nichts darf uns als eine Kleinigkeit oder auch nur als etwas Einzelnes und Abgerißnes erscheinen, was der Herr in jenen wenigen köstlichen Tagen zu seinen Jüngern geredet und mit ihnen gethan hat; und wenn wir nicht umhin können zu gestehen, es liegt in diesem Gespräche des Herrn mit seinem Jünger eine sehr ernste Warnung davor, daß wir uns nicht sollen mit andern um uns her vergleichen, | so wollen wir das nicht etwa ansehen als eine einzelne gute und schäzbare Lebensregel, sondern wir wollen es hoch und theuer halten als etwas was der Herr für nothwendig gehalten in jenen Tagen, wo er seine Jünger noch zulezt von allem unterrichten wollte, was sich auf das Wesen des göttlichen Reiches bezieht, und was zur Gestaltung und Pflanzung desselben auf Erden nothwendig war, wir wollen es aber so nothwendig und theuer halten als eine Vorschrift des Herrn, wovon in einem hohen Grade das Wohl jedes Einzelnen und das gemeinsame Wohl aller abhängig ist. Und in diesem | Sinne laßt uns jetzt das Wort des Herrn näher mit einander erwägen und uns zu überzeugen suchen, wie ganz gegen seinen Sinn und eben deßhalb verderblich für sein Reich die freilich so tief eingewurzelte und so weit verbreitete Neigung ist, daß einer sich mit dem andern vergleichen will. Laßt uns dabei zuerst jeder nur auf sich selbst sehen und darauf was für eine Wirkung dies in dem Leben und in dem Gemüthe des Einzelnen selbst hervorbringen muß; und dann zweitens laßt uns sehen, wie es sich verhält wenn wir auf das Ganze achten, dem wir mit unserm Leben und mit allen unsern Kräften angehören. I. Was zuerst, m. g. F., das Innere | eines jeden Einzelnen unter uns betrifft, wohl so laßt uns doch gedenken was der Herr sagt „das menschliche Herz ist ein trozig und verzagtes Ding“; und wenn gleich der Troz desselben gebeugt wird, wenn es die Nothwendigkeit fühlt Buße zu thun und sich zu erneuern; wenn gleich die Verzagtheit desselben gehoben wird, nachdem es die hülfreiche Hand des Erlösers, die sich ihm darbietet, ergriffen hat – doch müßen wir es gestehen, wir hören nicht auf so lange wir hier wandeln den Troz und die Verzagtheit desselben zu fühlen. Was macht nun dieses trozige und verzagte Herz, wenn der Mensch sei es nun in Beziehung auf einzelne | Handlungen, sei es in Beziehung auf den ganzen Werth und den ganzen Zustand seines Gemüths, sich mit andern vergleicht? Wir denken wohl, es könne eine herrliche Wirkung hervorbringen, wenn jeder sich recht 1 gefiel] gefihl 2–3 Joh 21,17

28–29 Jer 17,9

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nahe bringt und recht oft vorhält solche Beispiele der Gottseligkeit und der khristlichen Rechtschaffenheit, welche das was er selbst in sich fühlt, und was er in seinem Leben zu leisten vermag, weit überragen; wir denken wohl, es müße eine herrliche Wirkung hervorbringen, wenn der Mensch immer noch im Kampf begriffen mit dem Verderben in seinem Inneren sich vor Augen stellt den Sieg, den andre schon über dasselbe errungen haben. Aber das trozige Herz wie weiß es nicht immer Ausflüchte zu machen, | wie bringt es nicht in Anschlag bald die Begünstigungen, die dem einen von außen wiederfahren sind, und die ihm fehlen, bald die Ausstattung der Natur, die einem andern geworden ist, und die es sich selbst ableugnen will, und wie sucht es nicht jemehr sich sein Troz empört um desto aufmerksamer, wo es in dem andern Schwächen und Mängel findet, über welche es sich selbst erhaben glaubt; und die Kraft des Beispiels, auf die wir soviel halten, sie scheitert an dem Troz des Herzens. Und das verzagte Herz, wie wendet es nicht eben dasselbe an, nicht um sich zu erheben, aber wohl um sich zu entschuldigen, um sich zu rechtfertigen, wo es den | Muth sinken läßt. Denn da weiß es nicht viel anzuführen, was für Umstände sich hätten müßen vereinigen, damit ein andrer Mensch das geworden ist als wofür er sich selbst erkennt in seinem Innern und was andern gefallen wird; da weiß es sich zu Gute zu halten tausend Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen es von seiner Jugend an hat kämpfen müßen; und ebenso geht die gute Kraft des Beispiels verloren an der Verzagtheit des Herzens. Darum, m. g. F., ist es ein gefährliches Ding, wenn wir irgend einen Theil unsrer Heiligung, irgendwie unsre Fortschritte im Guten auf das bauen wollen was die Vergleichung des einen mit dem andern in unserm Herzen bewirken | kann. Einen giebt es, mit dem mögen und mit dem sollen wir uns immer vergleichen, das ist der Eine Mensch ohne Sünde, vor dem beugt sich auch das trozige Herz gern, wenn es schon irgendeinmal die Süßigkeiten des Glaubens die Freuden der Liebe zu ihm erfahren hat; und bei dem findet auch das verzagte Herz keine Entschuldigung, denn er ruft ihm zu „alle meine Schäze sind dein, all die göttlichen Kräfte, von denen du freilich fühlst, daß du sie in deinem Innern nicht hast, sie gehören dir durch das Recht deines Glaubens, sie sind dein durch das Vermächtniß meiner Liebe; komm und schöpfe von den Worten des Lebens, komm und nimm in dich auf | die lebendigen Säfte des Weinstoks, und bleibe in mir.“ Aber eben die Vergleichung mit unserm Herrn und Erlöser vermag zugleich zu demüthigen und zu ermuthigen, und was die Vergleichung mit ihm bewirkt, das wird keine andre jemals ausrichten. Aber dazu kommt noch, daß so leicht uns die Vergleichung mit dem Erlöser überall wird, so eine mißliche Sache 12 Mängel] Mängeln

19 gefallen] gehalten

27 Vgl. 2Kor 5,21; 1Joh 3,5; Hebr 4,15

21 kämpfen] knüpfen

30–35 Vgl. Joh 15,3–5

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ist es um die Vergleichung des einen mit irgend einem andern unter den Menschensöhnen. Denn darüber, m. g. F., sind wir ja wohl einig als Khristen, daß der Werth des Menschen nicht besteht in dem was er in der Welt ausrichtet, sei es nun viel oder wenig, denn das ist nicht sein sondern Gottes, und gar vielerlei muß dazu mit wirken, sowie durch gar vielerlei | auch der ernste und kräftige Wille in seinem Erfolg kann gehemmt werden; sondern nur die Kraft des Glaubens und der Liebe, die wir an alles sezen und in allem beweisen was einen Theil unsers Lebens bildet, die innere Anhänglichkeit und Liebe zu unserm Herrn und zu seinem Werke und seinem Reiche auf Erden, die ist es, welche den Werth des Menschen ausmacht. Können wir also, m. g. F., können wir diese beurtheilen nach irgend einem einzelnen Augenblik? O wie ungleich sind wir uns, und wie können wir uns auch hineinfühlen und verstehen daß andre es eben so sind; wenn wir mit einander vergleichen diejenigen Augenblike des Lebens, wo sich durch | eine besonders ermuthigende göttliche Schikung die Gnade des Herrn auf eine vorzügliche Weise in unserm Inneren verklärt, und in wohlgefälligen Werken des Menschen Gottes, der tüchtig ist zu dem Reiche des Herrn, auch in das Leben heraustritt, wenn wir diese, sage ich, vergleichen mit den schläfrigen, mit den gleichgültigen, mit den sorglosen Augenbliken, die auch einen nicht geringen Theil unsrer Lebenszeit ausfüllen – ich will nicht sagen von denen, wo die Sünde uns wieder und wieder überwältigt, und wo statt der göttlichen Gnade das menschliche Verderben heraustritt: welch ein großer Unterschied! Wie wollen wir uns an den Thaten, an den Äußerungen eines andern, wenn wir sie | vergleichen mit den unsrigen, seinen oder unsern Werth meßen, seinen oder unsern Stand der Gnade gegen einander sezen? Müßten wir nicht das ganze Leben des andern und nicht etwa nur einzelne Züge desselben hier und dort aufgegriffen so in uns haben, wie wir unser eigenes in seinem Zusammenhang verstehen sollen? Und das ist uns nicht gegeben; Einer ist es der unter uns ist beständig alle Tage bis an der Welt Ende, der da mit Sicherheit weiß, was in dem Herzen eines jeden Menschen ist; wir aber vermögen nicht, die wir immer nur abgerißne Augenblike in dem Leben unsers Nächsten auf eine genaue Weise kennen, denen nothwendig ein | großer Theil verborgen bleibt von dem was in dem Inneren seines Gemüths sich bewegt, und was sein äußeres Leben ausfüllt, wir vermögen eine solche Abschäzung nicht zu machen; und wenn wir es könnten bei denen, die uns im Leben am nächsten stehen, mit denen wir am engsten und innigsten verbunden sind, so sind gerade sie es, mit denen wir uns am wenigsten vergleichen können, weil wir nicht im Stande 2 einig] innig aufgeriffen

8 Lebens bildet] Lebenzbildet

29–30 Vgl. Mt 28,20

13 daß] das

27 aufgegriffen]

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sind uns von ihnen zu trennen. Denn sind wir so nahe mit einem verbunden, so ist sein Wort das unsrige, seine Schäzung die unsrige, und von jedem Mangel, den wir an ihm bemerken, kommt etwas auf unsre Rechnung um so mehr je mehr wir ihm | theuer und werth sind; denn in einer so nahe angehörigen und so nahe verwandten Sache vermögen wir nur uns selbst abzuspiegeln, nicht aber sie getrennt von uns und uns getrennt von ihr zu erkennen. Darum wir mögen es betrachten wie wir wollen, so ist es wie ein gefährliches so ein mißliches Ding um diese Vergleichung des einen mit dem andern; so wir für den Erfolg nicht stehen können, sondern er nothwendig nachtheilig sein muß in jedem Augenblik, wo sich sei es der Troz sei es die Verzagtheit des Herzens offenbart, so auch ist keine Wahrheit darin und kann keine Sicherheit darin sein, weil uns der Maaßstab fehlt, an | welchem wir uns mit einem andern vergleichen können. Und, m. g. F., wenn wir es könnten, wenn wir um jener Gefahr zu entgehen, welche in dieser Hinsicht dem trozigen und verzagten Herzen begegnet, wenn wir nur da vergleichend unser Auge um uns her werfen wollten, wo unser Herz am meisten geneigt wäre sich aufzurichten an dem Stärkeren unter unsern Brüdern, und wohlthätige Wirkungen aufzunehmen von demjenigen, was um uns her aus dem Herzen der Menschen hervorgeht, wenn wir, sage ich, es könnten: welchen Nuzen würden wir denn eigentlich davon ziehen? Anders, m. g. F., steht es in dieser Hinsicht um diejenigen, welche noch in der Irre gehen, wie die verlornen | Schafe ohne Hirten und ohne Führer. O in denen ist es etwas Wohlthätiges und Heilsames, was ihr Auge richtet auf irgend eine menschliche Vortrefflichkeit um sie her, und was ihnen fehlt im Ganzen das können sie finden hier etwas und dort etwas. Aber eben deswegen bleibt auch ihr Eifer und ihr Bestreben immer sehr gering und immer nur Stükwerk. Wir aber, die wir vor uns haben den Sohn Gottes, der unser Fleisch und unser Blut an sich genommen hat, wir die wir vor uns haben den Vollkommnen, deßen Leben vor uns liegt in den Zügen, welche uns aufbehalten haben die heiligen Schriften, und deßen Lüken leicht ergänzt das gläubige Herz, wenn es einmal das gefaßt hat, er ist uns gleich | geworden in allem ausgenommen die Sünde, und wie er war ein Menschenkind, der unsre Schwachheit mit uns theilte, so war zugleich die Fülle der Gottheit in ihm – hat das einmal der Glaube gefaßt und gefunden, o so ergänzen wir uns leicht, wenn wir uns an ihm stärken und durch ihn belehren wollen, auch das wovon uns kein deutliches Zeugniß in den Büchern der Schrift geblieben ist – aber eben weil wir dieses allen genugsame Beispiel haben, an welchem wir uns meßen, an welchem wir uns demüthigen, an welchem 8 gefährliches] gefärliches 11 Vgl. Jer 17,9 34 Vgl. Kol 2,9

37 genugsame] vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 566

31–33 Vgl. 2Kor 5,21; 1Joh 3,5

32–33 Vgl. Hebr 4,15

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wir uns aufrichten können: was kann es uns vorschlagen zu wißen, ob wir ihn den gemeinsamen Herrn und Heiland mehr lieben als der oder jener | unter unsern Brüdern? was kann es uns nüzen zu wißen ob wir oder irgend ein andrer mehr ausgerichtet haben im Reiche Gottes? Denn jeder nur wird Rechenschaft zu geben haben von dem was ihm der Herr aufgetragen hat, und worin keiner den andern richten kann oder soll. Und wenn wir betrachten, wie auf der einen Seite in dieser Hinsicht wir es mit keinem andern zu thun haben als jeder mit seinem Herrn und Meister, mit dem Spender der göttlichen Gaben des Geistes allein, wir auf der andern Seite aber fragen, wozu hat der Herr uns gesezt in diese Gemeinschaft mit andern Seelen, wozu haben wir uns | entfaltet dieses reiche Schauspiel des menschlichen Lebens? o dazu daß wir uns herzlich freuen sollen an allem Guten um uns her, sei es viel oder wenig, dazu daß wir innig fühlen sollen und mit einem tief in unser eigenes Herz zurükkehrenden Schmerz alle Schwachheit, alle Gebrechlichkeit der Menschenkinder und alle auch durch das Werk der Erlösung noch nicht ganz ausgetilgten Spuren des inneren Verderbens. Gewinnt nun dieser große Schaz, den uns der Herr aufgethan durch den Reichthum des Lebens, in deßen Mitte er uns gestellt hat, gewinnt er wenn wir uns einer mit dem andern vergleichen, oder verliert er? Ich glaube niemand wird sich bedenken über die Antwort, die er zu | ertheilen hat. Ist die Unbefangenheit unsers Gemüthes getrübt, so ist auch die Reinheit des Geistes getrübt. Wenn wir uns erst vergleichen mit andern, mag es uns ausschlagen zu einer Beschämung unsrer Verzagtheit, oder zu einer Freude für unsern Troz, so ist die reine Unbefangenheit, womit wir das Werk der göttlichen Gnade in dem Herzen der Menschen ehren oder fördern sollen, so ist der reine kindliche Dank, den wir Gott deßwegen für alles wodurch sich seine Gnade den menschlichen Seelen offenbart und sich in ihnen verherrlicht, schuldig sind, diese Reinheit und Unbefangenheit des Gemüths ist getrübt und verloren, weil | der Vergleichung allemal die Selbstsucht zum Grunde liegt. Am deutlichsten, m. g. F., können wir dies daran sehen, wenn wir fragen, ob wir noch vermögen den reinen und lautern Schmerz über die Sünde, auch wenn wir sie in dem Leben unsers Nächsten erbliken, ob wir den noch vermögen zu empfinden, wenn wir erst unsre Eigenliebe genährt haben durch die Vergleichung mit den Schwächen und Fehltritten andrer, wenn wir erst dadurch daß wir es wagten zu sagen, Herr ich danke dir daß ich nicht bin wie dieser oder jener unter meinen Brüdern, unser Auge starr gemacht haben, daß es die Träne des Mitleids nicht mehr rein | ausweinen kann, und daß eine geheime Lust sich verstekt hinter dem Mit1 es uns vorschlagen] im Sinne von: uns daran gelegen sein, vgl. Adelung, Wörterbuch 3, 1508 35–36 Vgl. Lk 18,11

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gefühl mit der menschlichen Schwachheit und dem menschlichen Verderben. Darum war es warnend, daß der Herr seinen Jünger fragte: hast du mich lieber als diese mich haben? Und möchten wir uns alle warnen laßen zum Heil unsrer Seele, und keiner nach etwas Anderem streben als daß das in Richtigkeit sei und in Ordnung zwischen seinem Herrn und ihm: Herr du weißt alle Dinge, du weißt daß ich dich lieb habe.

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II. Aber nun laßt uns auch zweitens darauf sehen, was für einen Einfluß dies haben muß auf unser Verhältniß zu der großen | Gemeinschaft des khristlichen Lebens, in welche der Herr uns gesezt hat. Ich unterscheide hier nicht, m. g. F., unser Verhältniß in der Gemeinschaft der Khristen im engeren Sinn, und unser Verhältniß in der bürgerlichen Gesellschaft; denn das Alles ist ein und dasselbige Reich Gottes, unsre Stelle in dieser wie in jener ist sein Ruf und seine Sendung, hier wie dort was wir ausrichten können sein Gebot, hier wie dort was wir empfangen haben von Gaben und Kräften sein uns anvertrautes Pfund. Und wozu, m. g. F., wozu fühlen wir uns, wenn wir uns selbst betrachten und unsre Stelle die wir seiner Gnade verdanken in seinem Reiche, wozu fühlen | wir uns verpflichtet? Daß jeder mit allem was er ist und hat dem Ganzen angehört, daß jeder schuldig ist und fähig gut zu machen und zu unterstüzen, wo eine Unvollkommenheit sich offenbart, und kräftig einzugreifen, wo er vermag. Das ist unsre heiligste Pflicht, das ist es was wir unserm Herrn und dem geistigen Leibe, deßen Haupt zur Rechten des Vaters erhöht ist, schuldig sind. Was uns darin stören kann und muß das ist nothwendig von Übel. Daß nun, m. g. F., in dem Reiche Gottes es gethan sein muß und ausgerottet aller eitle Ehrgeiz, darüber ist wohl nicht nöthig etwas zu sagen; das hat der Herr ein für allemal abgemacht mit den Worten | „wer der größte unter euch sein will, der sei der andern Diener“. Und jedes Ansehen, jede Macht, jeder Vorzug wirkt nur wohlthätig und wird nur gebraucht nach dem Willen des Herrn, wenn der welcher es besizt auch fühlt und darnach handelt, daß er ein Diener ist der Übrigen. Aber wie weit wir es auch damit gebracht haben mögen, nach Vorzügen dieser Art, die von unsrer Stellung in der menschlichen Gesellschaft abhängen, nicht zu streben: die Ungleichheit selbst ist nicht zu vermeiden, sie ist von Gott geordnet und wird es immer bleiben; mag sie größer sein bei der einen, geringer bei der andern Gestaltung aller Verhältniße der Menschen, auszuweichen ist ihr nicht; immer wird | es hier einen Ort geben wo mehr gewirkt werden kann, und wo der welcher darauf steht auch mehr erblikt 25 Ehrgeiz] Ehrgeizt 5–6 Joh 21,17 22–23 Vgl. Eph 1,20.22–23; 4,15–16; Kol 1,18; 2,19; Apg 2,33; 5,31 27–28 Vgl. Mt 20,26; 23,11; Mk 9,35; 10,43; Lk 22,26

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wird und gekannt von andern, und wiederum einen andern Ort wo eine größere Verborgenheit mit einem geringeren und kleineren Wirkungskreise verbunden ist. So bleibt es, wie wahr es auch sein möge, daß derjenige, welcher in vielen Fällen am meisten zu wirken scheint, und dem die meisten Kräfte der Menschen zu Gebote stehen, am wenigsten selbst leitet und auf diese Weise thätig eingreift in das große Gewebe der menschlichen Verhältniße, sondern vielmehr gar oft von andern geleitet wird, wie wahr dies auch sein möge, die Ungleichheit der menschlichen | Stellung in der Welt sie bleibt und ist eine Ordnung Gottes. In dieser nun, m. g. F., soll jeder alles thun, was er an der Stelle, auf welche ihn Gott der Herr hingestellt hat, thun kann. Was uns darin stört, das ist dasjenige, wovor wir uns zu hüten haben, und was uns Verderben bereitet. Und müßen wir nicht sagen, daß gerade eben die Neigung uns mit andern zu vergleichen, uns am leichtesten und am stärksten darin stört? Denn einmal, m. g. F., ist es nicht möglich, daß allemal derjenige Ort, von welchem uns am meisten geleistet werden kann zum gemeinsamen Wohl, auch mit dem vorzüglichsten unter allen besezt sei. Wie wenig wir erkennen können | und vergleichen die Vorzüglichkeit des einen mit der des andern, daran habe ich schon vorher erinnert. Aber gesezt wir könnten es erkennen, wir könnten so die Menschen unter einander und jeden gegen uns selbst abmeßen: das würden wir finden, daß darin sich der Herr seine eigenen Gedanken und seine Wege vorbehalten hat. Es war, m. g. F., auch in den ersten Zeiten der khristlichen Kirche schon eben so, und auch die Worte unsers Textes erinnern uns eben daran. Zwölf hatte sich der Herr ausgewählt, die waren ihm die nächsten, und weil sie ihm die nächsten gewesen waren die ganze Zeit seines öffentlichen Lebens und Lehrens über, so konnten sie auch am meisten wirken, | und alle, die gläubig geworden waren, die sahen am meisten auf sie. Waren sie aber unter den Jüngern des Herrn die vorzüglichsten und die größten? Nein – mehrere Namen sind zu uns gekommen aus jener Urzeit des Khristenthums, welche die Schrift uns aufbewahrt hat, und das Gedächtniß vieler treuen und ausgezeichneten Diener des Herrn weht uns an aus den Büchern, die ihre Namen an der Spize tragen, aber in dem Verzeichniß der Zwölf stehen sie nicht; und mehrere giebt es unter ihnen, bei denen wir vergeblich fragen, was sie an ihrer Stelle thaten, und was die Gemeine des Herrn ihrer Thätigkeit verdankte; und andre, die später hinzugekommen sind ragen hoch | über sie hervor. Unter den Zwölfen finden wir eben den Simon Petrus, an den der Herr die Worte unsers Textes richtet, eben den der ihn vorher verleugnet hatte, eben den den er jezt gleichsam aufs neue einsezt und ihm den Auftrag giebt: weide meine Lämmer, den finden wir 17–19 Vgl. oben Bl. 98r–100v 21–22 Vgl. Jes 55,8–9 32–33 Vgl. Mt 10,2–4 36–1 Vgl. Mt 10,2 37–38 Vgl. Mt 26,69–75; Mk 14,66–72; Lk 22,54–62; Joh 18,15–18.25–27

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überall unter ihnen an der Spize. Das mag er wohl verdanken zum Theil mancherlei herrlichen Gaben des Geistes, den der Herr ihm in einem höheren Maaße geeignet hatte als den andern, das mag er verdanken zum Theil dem kräftigen Muth, der ihn von selbst antrieb hervorzutreten und das Wort zu führen für die übrigen; aber ganz verdankte auch er seine Stelle unter | den Aposteln nicht inneren Vorzügen, sondern äußere Verhältniße haben auch ihr Theil daran: daß er seinen Wohnsiz hatte am Ort, den der Herr sich erwählt hatte zum Aufenthalt, wenn er von seinen Reisen durch das Land in das stillere Leben zurükkehrte; daß der Herr eine Zeitlang sein Hausgenoße war; und wer weiß wie vieles und wie manches andre zusammengewirkt hat, um dem Petrus jene Stelle zu bereiten. Und so, m. g. F., ist es und wird es immer bleiben. Die Stelle welche der einzelne Mensch in der Gesellschaft einnimmt, sie kann nicht sein das Werk seiner Vorzüge, sondern alles was das menschliche Leben entwikelt und in Ordnung hält | hat daran sein Theil. Wenn wir aber, m. g. F., jener unseligen Neigung, einzeln die Menschen mit einander und mit uns selbst zu vergleichen, Raum geben in unserm Inneren, werden wir mit demselben Eifer und mit derselben Treue überall eingreifen, wo es uns ziemt? Wenn wir den schon zum Gegenstande unsers Urtheils gemacht haben, und ihn mit dem schärfsten Blike, welchen wir nur auftreiben konnten, durch die Bahn seines Lebens verfolgt, deßen Fehler wir gut machen sollten, unter deßen Schwachheiten wir leiden müßen, um deßen Unvollkommenheiten willen wir immer neue Aufopferungen und Entbehrungen darreichen müßen, wo | wir den Muth und die Kraft dazu haben; wenn wir ihm schon geschadet durch ein inneres ungegründetes und unbefugtes Urtheil, wo wir den Muth dazu nicht hätten haben sollen, wo wir menschliche Schwächen gut machen sollten, wo wir die Folgen derselben hätten vermeiden sollen; wenn wir schon vorher die Rechnung darüber gemacht, was an der Stelle des geschehen kann, und uns sei es eine wahre sei es eine falsche Rechnung geschrieben, daß wir an seiner Stelle anders würden gehandelt haben, und alle die Mißgriffe vermieden, die uns bei seinem Werk in die Augen fallen: o können wir dann noch darbringen die Opfer der treuen Liebe, | welche der Erlöser von uns fodert? und wird dann nicht an die Stelle der Weisheit, die als eine köstliche Gabe des Geistes das Leben der Menschen leiten soll, eine falsche Weisheit treten, mit der wir uns selbst täuschen ? Es bedarf, m. g. F., in allen verschiedenen Lebensverhältnißen, welche wir theilen, nur der leisesten Andeutung, um uns klar zu machen, daß der Weise viel ruhiger, viel unbefangener, und eben deßhalb auch in jedem Augenblik wo es Noth thut froher, viel zuversichtlicher, mit ganzer Seele und mit ganzem Herzen das thut was ihm zu thun obliegt, der sich solcher Vergleichungen | wie die, an welche uns der Herr in den Worten unsers Textes erinnert, zu enthalten weiß in seinem 2 den] denn

33 die als] die

35 täuschen] teuschen

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Leben. Darum finden wir auch, m. g. F., diese Warnung des Herrn sich so oft in der Schrift wiederholen. „Was richtest du einen fremden Knecht; jeder der steht der sehe nur zu, das er selbst nicht falle.“ Und Paulus der Apostel, als eine Gemeinde von Christen, die er selbst gegründet, und die er eine lange Zeit seines treuen Dienstes gewürdigt hatte, anfing ihm seine Gaben und seine Weise zu vergleichen mit andern, warnte sie und schalt sie darüber, und sprach kühn ihnen entgegentretend „mir ist | es gleich, ob ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage; es ist nur einer der mich richtet, der Herr.“ Indem der Apostel sagt „es ist mir gleich ob ich von euch gerichtet werde oder von einem menschlichen Tage,“ so wollte der die Christen vorzüglich auch darauf aufmerksam machen, daß alles menschliche Urtheil, wenn auch über das Innere des Menschen, doch immer so an das Äußere gebunden ist, wie es denen ergeht, die in der menschlichen Gesellschaft über die Handlungen der Menschen zu urtheilen haben, daß aber das Innere nur der Eine versteht, der da recht richtet, der überall seine Gaben erkennt und seine Kräfte, und der auch die gefallene | Natur des Menschen, welche aufzurichten er gekommen war, in ihrem innersten Wesen erforscht. Dem allein ist das Gericht übergeben; und jede Vergleichung des einen mit dem andern ist nur ein Versuch einzugreifen in das Richteramt, welches dem Herrn allein zusteht. Wie eine so vergleichende Aufmerksamkeit ganz etwas anderes ist als die liebende Aufmerksamkeit, die ohne sich mit andern zu meßen überall sich erbaut im Guten, und überall zugreift wo es etwas gut zu machen giebt, das bedarf wohl nicht gegen einander gehalten zu werden. Je mehr es also Noth thut, daß die Menschen, um das Werk des Herrn zu | födern, in Liebe und Treue zusammenhalten – und wie könnte das jemals aufhören Noth zu thun – um desto mehr laßt uns durch das Wort des Herrn gewarnt sein. Zu beurtheilen was da sei das Werk der göttlichen Gnade im Menschen und das Maaß und die Gaben des Geistes, das ist deßen, von dem die Gnade kommt und der die Gaben spendet. Wir unter einander sollen uns lieben und helfen als Brüder in der Schwachheit, jeder sich freuen, wenn er eine Gabe des Herrn empfängt durch das Mittel eines seiner Brüder, jeder sich freuen wenn der Herr ihn auffodert, einem andern zu dienen mit seinen Kräften, und so dem ähnlicher | zu werden und nachzukommen, deßen Ruhm es war, daß er diente, daß er das geknikte Rohr nicht zerbrach, und das glimmende Docht nicht auslöschte. Und immer werden wir dies desto reiner thun können, je weniger wir uns mit andern vergleichen, sondern uns bemühen unsers eigenen Werthes inne zu werden, uns selbst zu prüfen und 6 schalt] schallt 2 Vgl. Röm 14,4 Mt 20,28; Mk 10,45

2–3 Vgl. 1Kor 10,12 7–9 Vgl. 1Kor 4,3–4 35–36 Vgl. Mt 12,20 (Zitat aus Jes 42,3)

35 Vgl.

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zu erkennen, dazu weder rechts noch links sehen, sondern nur von uns auf den Herrn und von ihm auf uns. Wenn wir überall um uns her sehen, was da geschieht in seinem Reiche, um uns seiner Gnade und Treue, die er den Menschenkindern erweiset, zu freuen, und nichts zu versäumen von dem was er uns aufgetragen hat im | Leben: so, m. g. F., werden wir beides mit einander vereinigen. Stets um uns her sehen, aber nur auf eine dem Herrn wohlgefällige Weise, weder um der Trägheit unsers Herzens zu schmeicheln, noch um auf eine verkehrte Weise die Verzagtheit selbst aufzurichten, sondern lediglich um zu schauen was uns wohl vorkomme zu thun in dem Reiche Gottes, überall nur dem Herrn näher zu kommen, ihm immer inniger anzugehören und immer lebendiger überzeugt zu werden von der Gemeinschaft, die da besteht zwischen ihm und uns, dazu keiner Vergleichung mit andern zu bedürfen, sondern nur unser eigenes Leben ganz zu erforschen – das er|leichtert uns immer beides zugleich, als der Einzige Gegenstand den wir nöthig haben: das Sehen auf ihn den Inbegriff aller Vollkommenheit, auf ihn, in dem die Fülle der Gottheit wohnt; und uns selbst erkennen wie wir sind mit allen unsern Mängeln und Gebrechen, und alles Gute in uns einzig als das Werk seiner Gnade und seiner Treue. So nur kann er reichlich und immer reichlicher unter uns, wie er es verheißen hat, sein alle Tage bis an der Welt Ende. Und nur in dem Maaße als wir auch nach keiner andern Gewißheit streben in unserm Inneren, als daß wir es wißen und fühlen, daß er uns hat, nur in dem Maaße werden wir | den Auftrag erhalten und dazu die Kraft, und die Gewißheit, daß auch wir sollen einander helfen uns erbauen zum ewigen Leben. Amen.

9 vorkomme] vorkommen 22 daß] das 16 Vgl Kol 2,9

11 überzeugt] überzeug

19–20 Vgl. Mt 28,20

14 Einzige] Einzigen

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[Liederblatt vom 20. Mai 1821:] Am Sonntag Cantate 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o etc. [1.] Sieh mich flehend zu dir kommen, / Neige gnädig dich zu mir! / Ach wie ist mein Herz beklommen, / Und wie seufzt mein Geist zu dir. / Helfer, o mein Heiland, ja / Wenn wir flehn ist Hülfe nah; / Sinkenden reichst du die Hände / Und bist bei uns bis ans Ende. // [2.] Hilf doch mir, dem schwachen Kinde, / Das oft strauchelt, wankt und fällt! / Mächtig ist in mir die Sünde, / Noch voll Reiz ist mir die Welt, / Unbezähmt mein Fleisch und Blut; / Und der Feind, der niemals ruht, / Weiß von allen diesen Seiten / Gegen meinen Geist zu streiten. // [3.] Einer nur kann mich befreien, / Der die Hölle überwand, / Einer nur kann mich erneuen, / Der uns seinen Geist gesandt! / Du nur, Jesus Christus, du! / Deinen Frieden, deine Ruh, / Ach die Ruh in deinen Wunden / Gieb mir nach des Kampfes Stunden. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Du Geist des Herrn etc. [1.] Ich wart auf dich und sehne mich nach dir, / Mein Heil mein Licht! ach wenn erscheinst du mir? / Du willst daß ich in reiner Liebe wache; / Ich will, doch hilf, daß nichts mich schläfrig mache. // [2.] Du kennst die Welt, du weißt wohin sie zielt, / Wenn schmeichlerisch sie unser Ohr umspielt; / Weck auf den Geist, daß sie ihn nicht besiege, / Und er betäubt sich ihren Fesseln schmiege. // [3.] Träg ist das Fleisch, doch immer hat es Muth, / Wenn sich ihm zeigt ein eingebildtes Gut. / Es schläfert ein und macht das Schwanenbette / Der falschen Lust dem Geist zur Grabesstätte. // [4.] Schau doch, o Herr, dem nichts verborgen ist, / Wie wachsam sich erzeigt des Feindes List. / O stärke mich, im Glauben fest zu stehen, / Und ehrenvoll aus jedem Kampf zu gehen. // [5.] So gieb mir denn die Kraft der Munterkeit, / Der Geist sei frisch und rüstig jederzeit, / Gestärkt durch den, der uns vorangegangen, / Der gnädig will die Treuen einst empfangen. // [6.] Des Knechtes Aug sieht auf des Herren Hand, / So bleibt auch meins zu deinem Wort gewandt; / Der Sehnsucht Blick ists, den ich zu dir schicke, / Du sende mir den Gnadenblick zurücke. // [7.] Laß jede Stund’ als wie die lezte sein, / Damit ich klug mich halt’ und immer rein: / So werd ich dann, ist meine Zeit erfüllt, / Wie du verheißt, auch ganz von dir gestillt. // [8.] Ach komm! mein Herz frägt, bist du Jesu da? / Und aus der Höh erschallt die Stimme, nah! / O Trost! ich wart in sehnendem Verlangen / Dich meinen Herrn und Heiland zu umfangen. // (Deßler.) Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’t etc. Wohl billig laß ich dies allein, / O Jesu, meine Freude sein, / Daß ich dich herzlich liebe / Und mich in dem, was dir gefällt, / Je mehr und mehr in dieser Welt / Nach deinem Willen übe. / Bis du Jesu jenes Leben / Mir wirst geben, / Wo die Frommen / Aller Trübsal sind entnommen. //

Am 27. Mai 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Rogate 1821. am fünften Sonntage nach Ostern, den siebenundzwanzigsten Wunnemonds. Eine Nachmittagspredigt. |

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Rogate 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,18 Nachschrift; SAr 78, Bl. 1r–22v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 60, Bl. 123r–130v; Woltersdorff Keine

Tex t. Johannis XXI, 18. Wahrlich wahrlich ich sage dir, da du jünger warest gürtetest du dich selbst, und wandeltest wo du hin wolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstreken, und ein andrer wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst.

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Der Evangelist, m. g. F., fügt zu den eben verlesenen Worten als sein eigenes hinzu „das sagte er aber zu deuten, mit welchem Tode er Gott preisen würde“. Allein diese Auslegung des Evangelisten ist nicht so zu verstehen, daß er bei den Worten des Herrn, „du wirst deine Hände ausstreken, und ein andrer | wird dich gürten und führen, wo du nicht hin willst“, dem Johannes einfiel, daß Petrus desselben Todes wie unser Erlöser sterbend ausgestrekt am Kreuz das Märtyrerthum erlitten habe. Aber nicht dürfen wir glauben, daß seine Meinung gewesen, der Herr habe diese Worte nicht anders denn als eine solche Weissagung aussprechen wollen; denn gewiß hat Johannes wohl gekannt die große Freude und den regen Eifer, den Petrus der Apostel des Herrn immer bewiesen; und nicht hat er sagen wollen, daß ihm eben dies den Tod erleiden müßen im Dienste oder als Zeuge seines Herrn und Meisters wieder seinen Willen begegnet sei. Sondern der eigentliche | Sinn der Worte des Erlösers der ist offenbar ein andrer; und

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wenn wir fragen, welchen? damit wir auch dieses in den Tagen seiner Auferstehung ausgesprochen bedeutsame Wort zu unsrer Erbauung anwenden: so ist ja offenbar, wie der Herr das kräftige vielleicht noch jugendlich männliche Alter, in welchem sich Petrus damals befand, den spätern Tagen seines Lebens gegenüberstellt, das Eine so bezeichnend, er ginge nun eben in frischem Muth und in voller Ueberzeugung, wo er selbst hin wollte, in seinem spätern Alter aber da werde er geführt werden mit einer Art von Gewalt, wohin er nicht wolle. Die Erfüllung | dieser Verheißung des Herrn finden wir in ein paar aus der heiligen Schrift selbst uns bekannten Augenbliken in dem Leben des Apostels. Denn auf der einen Seite war er der erste, der gewürdigt ward das Evangelium auch unter den Heiden zu predigen, und den römischen Hauptmann Kornelius, der freilich kein Jude von Geburt war, aber ein frommer Mann und rechtschaffen wandelnd unter den Menschen, in die Gemeinschaft des Glaubens an den Erlöser und der Liebe zu seinem Werke aufzunehmen; und frischen Muthes fing er die Verkündigung des nahe herbeigekommenen Himmelreichs auch unter denen an, die obgleich dem Fleische | nach nicht angehörend dem Volk, welchem die göttlichen Verheißungen geworden waren, doch bestimmt waren das Heil der Welt im Geiste zu schauen. In seinem Briefe an die Galater aber erzählt uns der Apostel Paulus, daß nachdem zu Antiochia eine große Gemeine dem Herrn gesammelt war, die größtentheils aus Heiden bestand, indem auch aus Jerusalem und der Umgegend eine Anzahl von Khristen dahingekommen waren, und einige von ihnen nicht bloß die Juden in den Schulen sondern auch die Heiden unterwiesen in der Erkenntniß der Wahrheit; daraus entstand nun die Nothwendigkeit, damit die brüderliche Gemeinschaft unter allen Khristen gleich bliebe, daß in|dem er nun die Khristen aus den Heiden nicht wollte die Gebräuche und Sitten des jüdischen Volks theilen laßen, auch die Khristen aus den Juden in ihrem Umgang mit den Heiden an die Gebräuche des mosaischen Gesezes sich weniger binden durften; und Paulus sezt hinzu, daß auch Petrus gleiches Sinnes mit ihm gewesen wäre, und sich nicht gescheut hätte mit den Heidenkhristen zu eßen, nachdem aber etliche aus Jerusalem von den Seiten des Jakobus gekommen, da sei er behutsam geworden, und habe seinen vorigen Wandel geändert, und sich dem Umgang mit den Heiden entzogen, so daß er ihn habe zurechtweisen müßen und daran erinnern, daß, wenn | er als ein Jude heidnisch lebe, er keine Ursach habe die Heiden zur Beobachtung der jüdischen Gebräuche zu verpflichten. Daraus sehen wir, da aus der Erzählung des 13 wandelnd] wandeln

26 er] Ergänzung aus SAr 60, Bl. 123v

11–12 Vgl. Apg 9,15; Gal 1,16; Eph 3,8 Apg 11,19–21 26–28 Vgl. Gal 2,3–5 Gal 2,11–21

27 wollte] wolte

12–15 Vgl. Apg 10,1–48 28–29 Vgl. Gal 2,6

20–24 Vgl. 30–37 Vgl.

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Apostels Paulus so deutlich hervorgeht, daß Petrus sich im Allgemeinen zu seiner Meinung gewendet hatte, wir sehen daraus, daß er vorher noch nicht so ganz und mit voller Ueberzeugung der khristlichen Lebensweise, welche Paulus und seine Genoßen beobachteten und in ihren Gemeinden aufrecht zu erhalten suchten, gefolgt war, und also wieder Willen gegangen war wohin er nicht wollte. Dies war die eine und jenes die andre Zeit seines Lebens, auf welche der Erlöser in den Worten unsers Textes anspielt. | Und so mögen wir denn durch dieselben aufmerksam gemacht werden auf das verschiedene Verhältniß des Menschen zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Altern seines Lebens, und mögen das Bedeutende desselben uns um so mehr vorhalten, als der Herr darauf in den Tagen seiner Auferstehung einen großen Werth gelegt hat, und seinen Jünger warnend auf dasjenige hinweisen wollte, was ihm begegnen würde. Es wird aber nöthig sein, daß wir uns zuerst überzeugen, wie aber dieses Verhältniß etwas ganz Allgemeines sei, und den größten Theil der Menschen aber so treffe wie den Apostel, und daß | wir dann zweitens fragen, ob in den Worten unsers Erlösers selbst oder in demjenigen wodurch sie zuerst in Erfüllung gegangen sind, wir nun auch eine Regel für unser ihm wohlgefälliges Verhalten in solchen Umständen finden. I. Was nun das Erste betrifft, m. g. F., so kann es uns bei einiger Aufmerksamkeit nicht entgehen, wie die meisten Menschen, wenn wir die verschiedenen Zeiten des Lebens mit einander vergleichen, sich in derselben Lage befinden, die der Erlöser hier seinem Jünger beschreibt und vorhersagt. In dem jugendlichen Alter, in der vollen Blüthe und der reifen Kraft des Lebens, da | gehen diejenigen, die von dem göttlichen Geist nicht verlaßen sind, wohl ohne Ausnahme den frischen Weg ihrer eigenen Ueberzeugung. Wir dürfen auch nicht etwa allein an diejenigen dabei denken, die als ausgezeichnet vor Gott Begabte eben deßhalb an eine ausgezeichnete Stelle in der menschlichen Gesellschaft erhoben sind, wo sie nicht nur ihrer eigenen Ueberzeugung für sich selbst folgen, sondern auch, wie es allerdings der Fall war bei dem Apostel, zu dem der Herr die Worte unsers Textes geredet hat, sondern auch andre leiten und sie des Weges führen den sie selbst gehen; denn von diesem mit seinem Beispiel anderen vorangehen und andre | leiten redet der Herr nicht in jenen Worten, sondern er sagt zum Petrus, jezt da du noch in dem vollen Besiz deiner Kräfte und in der frischen Blüthe des Lebens bist, rüstest du dich selbst aus zu dem Wege, den du zu gehen bestimmt bist, und gehest wohin du willst nach eigener Ueberzeugung. Und das thun auch alle diejenigen, welche auf dem Wege ihres Lebens zwar andern folgen, ihnen aber doch mit voller Ueberzeugung folgen; 8 auf] uns

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das ist gewiß der Fall bei dem größten Theil wohldenkender Menschen in der Zeit des Lebens, wo sie noch im vollen Genuß und Besiz ihrer Kräfte sind, und nicht schon durch ein Entgegengeseztes | genöthigt sind zu einer gewißen Vorsicht und Behutsamkeit. Und eben so was der Erlöser von dem spätern Alter des Petrus ihm vorhersagt, das bezieht sich nicht allein auf die, welche gegen ihre eigene Ueberzeugung entschieden sich von andern führen zu laßen, sondern eben wie wir es an dem Beispiel des Petrus sehen, auch wenn wir obschon mit einem freudigen Herzen das thun, was wir dem Strome der Zeit folgend nicht vermeiden können, schon wenn uns bei dem Wege, den wir wandeln nicht mehr so wohl ist und uns nicht mehr ein so heiterer froher und frischer Muth begleitet wie in den Tagen unsrer Jugend, | schon dann finden wir uns in demselben Unterschied zwischen einer früheren und späteren Zeit, die in den Worten unsers Textes der Erlöser ausspricht. Aber ich möchte wohl fragen, m. g. F., ob nur irgend ein menschliches Leben sein könnte, worin wir diesen Unterschied nicht fänden? Allerdings ist er in manchen Zeiten merklicher und tritt stärker hervor als in andern. Es giebt Zeiten, wo in dem Laufe eines menschlichen Lebens große Veränderungen eintreten, wie auch die war, auf welche sich die Worte unsers Textes beziehen, nicht nur die Erscheinung unsers Erlösers sondern die erste große Veränderung im Khri|stenthum selbst, indem solange der Herr auf Erden wandelte er sich nur gesandt hielt zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israels, nach seinem Hingang aber zum Vater und nach der Ausgießung des Geistes über seine Jünger eine schnellere und diese Gränzen weit überschreitende Verkündigung der frohen Bothschaft von dem Himmelreich, welches Khristus der Herr gestiftet hat, an die verlornen Menschenkinder überhaupt nothwendig ward, diese Veränderung trat in das Leben des Apostels hinein, und er war einer der ersten, der sie frisch und muthig ergriff, und von ihr | getragen mit aller Kraft seines Geistes die neue Gestaltung der Dinge herbeiführen half, und es war nicht etwa erst eine zweite große und neue Veränderung, die ihn in Zwiespalt brachte mit dem, was der herrschende Grundsaz und die herrschende Sitte der Khristen aus den Juden war, sondern die unmittelbare Folge von dem was er selbst früher begonnen hatte. Und so sind denn die Zeiten in dieser Hinsicht sehr verschieden. Oft ereignen sich in der Zeit eines Menschenalters große durchgreifende über einen wichtigen Theil der menschlichen Angelegenheiten sich erstrekende Veränderungen, bald | ist der Gang des menschlichen Lebens langsamer, und es geht alles in demselben den gewöhnlichen Weg. Aber wo wir nur ein menschliches Leben finden, welches es auch sei, das nur einigermaßen sich dem natürlichen Ziel des menschlichen Lebens 7 zu laßen] laßen

30 Zwiespalt] Zwispalt

21–22 Vgl. Mt 15,24

31 herrschende] herschende

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nähert, so wird jeder gestehen, daß gar manches in den Tagen seines Alters anders gewesen ist als in den Tagen der Jugend und der frischen Kraft; und die meisten von denen die dies gestehen, gestehen auch, daß das was die Tage ihres Alters in ihr Leben eingeführt haben, mehr dasjenige sei was ihnen nicht gefällt und mit Wiederstreben begeben sie sich wie der Apostel des Herrn | dahin wohin sie nicht wollen. So finden wir dieses doppelte Loos der Menschen, welches der Herr seinem Apostel beschreibt, sich selbst gürten und gehen wohin man will, und dann sich von andern gürten laßen und führen wohin man nicht will, das finden wir als ein sehr allgemeines. Aber wir können wohl nicht leugnen, m. g. F., je größer in den verschiedenen Zeiten des Lebens der Unterschied ist zwischen dem sich selbst gürten und wandeln wohin man will, und zwischen dem von andern geleitet und geführt werden auch dahin wohin man nicht will, je größer der | Unterschied zwischen beiden Zeiten des Lebens in der eigenen Empfindung und in dem eigenen Gefühl des Menschen ist, desto weniger wird er Ursache haben mit sich selbst zufrieden zu sein. Und eben so je größer der Gegensaz in einer und derselben Zeit ist zwischen denen, die durch die Kraft ihres Geistes andre zu leiten und zu führen im Stande sind, und zwischen denen, die sich wieder ihren Willen von ihnen müßen leiten und führen laßen, um desto mehr hat die ganze Zeit das Ansehen der Verwirrung und des Zwiespalts, desto weniger nimmt man wahr die Einheit des Geistes, der alle zum Streben nach | dem gemeinsamen Ziele verbindet und kräftigt, desto mehr vermißt man sei es auch nur vorübergehend und theilweise dasjenige was die Khristen vorzüglich auszeichnen soll, die als Glieder an Einem Leibe in einer beständigen Uebereinstimmung mit einander leben und wandeln, und die sich in Beziehung auf das Ziel welches sie vor Augen haben, und welches ihnen von dem Herrn aufgestekt ist, in brüderlicher Liebe vereinigt zu keinem Zwiespalt und zu keiner Uneinigkeit jemals sollen bewegen lassen. Darum muß es uns wichtig sein, m. g. F., zu erfahren wie wir uns in dieser Beziehung zu verhalten haben, | um so mehr, da wie wir es uns gestehen müßen, sei nun die Rede von der Jugend oder vom Alter, der Mensch ist nicht Herr seiner Ueberzeugung; sondern wie sie sich in ihm gestaltet so ist sie, und er hat keine andre Regel seines Geistes als ihr zu folgen, weil alles was nicht aus der vollen Zustimmung des Herzens stammt und mit derselben geschieht, Sünde ist. II. So laßt uns denn in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung sehen, ob sich in demjenigen, wodurch das Wort des Erlösers an dem Apostel in Erfüllung 5 gefällt] gefält 24–25 Vgl. Röm 12,4–5; 1Kor 12,12.14; Eph 4,15–16

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ging, eine Regel für unsrer Verhalten | darstellt. Wenn wir an jene große Begebenheit denken, wo der Apostel gesandt ward durch einen Wink und einen Ruf des Herrn in das Haus jenes heidnischen Hauptmannes, um ihm das Evangelium zu verkündigen, und er als der Geist Gottes sich in demselben und denen die ihn angehörten wirksam bewies, und aus ihnen redete, und er da mit voller Ueberzeugung sagte „wer will das Waßer wehren daß diese nicht getauft werden, die den heiligen Geist empfangen haben gleich wie wir“; wie er von da zurükkam nach Jerusalem, und der größte Theil seiner Brüder und Mitarbeiter ihn | darüber zur Rede stellte, daß eingegangen sei in das Haus eines heidnischen Mannes, die alle nun auch solche waren, welche des Weges nicht gehen wollten, den der Apostel von diesem Augenblik an die Khristen führen wollte: wonach finden wir denn, daß damals der Apostel sein Verhalten eingerichtet habe? und wie finden wir, daß er mit denen eingegangen sei, die ihm auf dem Wege, den er eingeschlagen hatte, Hinderniße entgegen sezten? Er erzählt ihnen, wie er im Geiste entzükt gewesen sei, und betend ein Gesicht gesehen habe, welches ganz dem Inhalt der Botschaft, die an ihn ergangen war, angemeßen gewesen, wie er auch von demselben Gefühl zuerst sei | begleitet gewesen, welches sie hatten, daß er sich nicht verunreinigen müße durch die Gemeinschaft mit denen die dem Volke Israel nicht angehören, aber wie er der dringenden Anforderung und dem wiederholten Rufe des Herrn nicht habe wiederstehen können. Was war das anders, m. g. F., als die ruhige, die kräftige und zuversichtliche Darlegung seiner eigenen Ueberzeugung, das Gefühl seines Inneren, wie er in der Gemeinschaft mit dem Herrn von ihm aufgeregt und geleitet zu der Überzeugung gekommen sei, nach der er gehandelt hatte. Denn, m. g. F., wenn wir alle in derjenigen frischen und kräftigen Zeit des Lebens, wo sich am meisten und am unmittel|barsten unsre Ueberzeugung in uns selbst gestaltet, und indem wir auf der einen Seite nicht mehr nöthig fühlen sie von andern zu erhalten, und in Beziehung auf das geistige Gebiet diesen oder jenen als einen solchen anzusehen, der für uns eine entscheidende Stimme haben könnte, auf der andern Seite aber starken und kräftigen Muthes bereit sind der eigenen Ueberzeugung jedes Opfer zu bringen, welches die Umstände, in die wir verflochten werden, von uns fordern, wenn wir sage ich, in dieser Zeit alle so handelten, wie damals der Apostel: o dann würden wir uns ein gutes Gewißen bereiten gegen alle andre in Beziehung auf die | Versuchungen der Welt, die uns berühren, und auf die Überzeugung, der wir bei unserm Handeln folgen. Das mochte sich der 5 ihn angehörten] vgl. Adelung, Wörterbuch 1, 267 biet] Gebit 2–5 Vgl. Apg 10,1–46 Apg 11,4–17

6–8 Apg 10,47

24 Inneren] Innerem

8–10 Vgl. Apg 11,1–3

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Apostel wohl im voraus gedacht haben, daß er von den eifrigen Anhängern des Gesezes unter den Khristen vielen Wiederspruch erfahren würde, wenn sie seine Handlungsweise erfahren möchten; aber im Gebet zu Gott und im Umgange des Herzens mit Gott hatte er seine Ueberzeugung gewonnen, und bei der Erfüllung des großen Berufs, der ihm wie allen übrigen Aposteln von ihrem Herrn und Meister geworden war, war er selbst ausgegangen von dem gemeinsamen Gefühl und von dem | Intereße an der alten Haushaltung Gottes, in der die ersten Keime seiner frommen Gemüthszustände sich entwikelt hatten, und welche auch den andern Aposteln theuer und werth war; aber der Geist hatte ihn getrieben auf den Weg, den er einschlagen mußte, wenn das Evangelium nicht in den engen Gränzen des jüdischen Volks bleiben, sondern nach dem heiligen Willen des Erlösers, den Gott gesezt hat zu einem Herrn über alles was Mensch heißt, in die Gemüther aller Menschen dringen sollte; und indem er ein gutes Bewußtsein hatte über die Art, wie | er zu seiner Überzeugung gekommen war, indem er sie darlegen konnte mit Fug und Recht als die Stimme Gottes in seinem Geiste, und ihr Zusammentreffen mit dem Gesicht, welches er gesehen hatte, ihm nicht verborgen bleiben konnte, so bedurfte er auch nichts anderes als den ganzen Hergang der Sache wie sie war darzulegen, und wenn auch nicht alle zu überzeugen – denn ob sie alle eben so wie er von dem Bewußtsein erfüllt waren in diesem Augenblik, daß Gott seine Gnadengaben nicht an irgend einen äußern Vorzug gebunden habe, das wißen wir nicht – aber doch wenigstens sie dahin zu | bringen, daß sie ihn frei seines Weges gehen ließen, und daß in der Gemeine des Herrn über diesen wichtigen Punkt kein Zwiespalt entstand. Sehet da, m. g. F., wenn wir auf demselben Wege des Nachdenkens vor Gott, der Treue gegen dasjenige, worauf unsre eigene bisherige Lebensleitung und Führung beruht, aber auch auf der andern Seite durch treue Folgsamkeit gegen den in der Welt wirkenden und jede neue Gestaltung der Dinge herbeiführenden göttlichen Geist, wenn wir auf demselben Wege zu unsrer Ueberzeugung gelangen, um dann zur Beförderung | unsrer Sache und um auf die Gemüther der Menschen mit denen wir in Verbindung stehen zu wirken, keine fremdartige Beweggründe zu Hülfe nehmen, sie weder loken in die Gemeinschaft mit unserm Denken und Thun, noch sie zurükhalten von dem Wege, den sie verfolgen, sondern unsre Ueberzeugung ihnen stark und kräftig vorhalten: dann möge geschehen was da wolle, wir werden unschuldig sein an jeder Spannung und Zerspaltung in den Verhältnißen der Menschen, und werden uns rechtfertigen können dadurch, daß wir nichts anderes gethan haben, als der Stimme | Gottes in unserm Innern gefolgt und seinem Hause gedient. 19 Hergang] Herrgang

20 wie er] wie

23 ihn] ihnm

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Eben so laßt uns zweitens an die Tage derjenigen denken, welche sich in jenem spätern bedächtigen minder muthigen Alter des Lebens befanden, wo sie nicht leicht theilen konnten die herrschende Überzeugung, nicht fortgehen mit dem raschen ihre Gedanken weit überfliegenden Geist der Zeit, aber weil dieser sich nicht hemmen läßt wieder ihren Willen von andern geleitet wurden und geführt wohin sie nicht wollten. Das war der Fall mit dem Apostel Petrus, da er in der Gemeine zu Antiochia zusammentraf mit dem Apostel Paulus, ungeachtet daß was Paulus dort gethan | hatte, nur die natürliche Folge und Fortsezung war von dem, was er selbst in der früheren Zeit seines Lebens auf den Antrieb des Geistes angefangen hatte. Der Apostel Paulus in seiner Erzählung von dieser Begebenheit, die nicht ohne Vorwurf ist gegen seinen Genoßen in dem hohen Amt der Verkündigung des Evangeliums, macht ihm darüber keinen Vorwurf, daß Petrus eine andre Ansicht über den Gegenstand, auf den es ankam, an den Tag gelegt habe, sondern nur darüber, daß er nicht gerade und offen zu Werke gegangen, daß er zuerst, wie man der Erzählung | glauben muß, denn sie sagt er habe kein Bedenken getragen mit den Heiden zu eßen, daß er zuerst dem Beispiel des Paulus und andrer Lehrer gefolgt sei, hernach aber da solche gekommen, die den strengen Sitten und Gebräuchen des jüdischen Volks, die im mosaischen Gesez vorgeschrieben waren, anhingen, sein Betragen geändert und sich von jenen zurükgezogen habe. Darüber nun vorzüglich ergrimmte der Geist des Apostels, daß er nicht umhin konnte, wie er schreibt, dem Petrus vor das Angesicht zu treten, und ihm Vorwürfe zu machen über seine nicht gerade und nicht | offene sondern zweideutige Handlungsweise, indem er ihn daran erinnerte, daß wenn er als ein Jude mit den Heiden Gemeinschaft habe und nach ihrer Weise lebe, er nicht mit aufrichtigem Herzen die Heiden an die Beobachtung der jüdischen Gebräuche binden könne. Und Petrus nahm diesen Vorwurf nicht unwillig auf, und die ganze Art wie Paulus dies erzählt verräth deutlich, daß es nur eine vorübergehende Verirrung gewesen in dem Gemüthe des Apostels Petrus, und daß er bald wieder auf den rechten Weg zurükgekehrt | sei. So mögen wir denn an seinem Beispiel lernen, solche Verirrungen zu vermeiden; wenn aber nicht, sie wenigstens so vorübergehend zu machen wie diese des Petrus es gewiß war. Denn gewiß daß Petrus nicht in sich selbst so vollkommen ruhig und heitern Muthes sein konnte, indem er einmal so und ein anderesmal wieder anders handelte, da ja, wenn ihm sein verschiedenes Betragen wäre vorgeworfen worden, er sich nicht anders hätte rechtfertigen können als dadurch daß er sagte, er wäre welchesmal es auch sei fortgerißen | worden von irgend einer menschlichen Gewalt, und ganz gleich, von 8 daß] das 7–28 Vgl. Gal 2,11–18

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was für einer Gewalt, ob es eine geistige Gewalt der Ueberredung gewesen ist, der er in diesem Augenblik nichts hat entgegenstellen können, oder eine mehr äußere und in dem Zusammenfließen von Umständen gegründete, die ihn mit sich fortgerißen haben – das ist wohl keinem Zweifel unterworfen. Denn niemals kann in einem solchen Falle der gerechte Vorwurf vermieden werden, und niemals kann derjenige sich rechtfertigen, sondern muß beschämt dastehen vor der Welt, welcher gestehen muß, daß er in den Angelegenheiten seines | Berufs sei überredet oder gezwungen worden gegen seinen Willen. Und am meisten muß dies das Gefühl des Khristen sein, dem es eingeprägt ist durch das Beispiel seines Herrn und Meisters und seiner Nachfolger, daß der Mensch eher sein Leben laßen soll als seine Ueberzeugung, und sich gegen dieselbe von niemand sei es am Geist oder am Leibe soll zwingen laßen. Aber weil die Bewegungen des Khristenhums dem Apostel zu schnell gingen, so gerieth er in diese unsichere Verzagtheit. Hätte er sich gegen diese Neuerungen wie sie von andern Aposteln nicht verschmäht | wurden, laut erklärt und gesucht die andern auf seine Seite zu ziehen, so hätte er unsträflich gehandelt. Aber indem er mit Verschweigung seiner eigenen Ueberzeugung eine Lebensweise einging, die er im Inneren seines Herzens nicht ganz billigte, so bereitete er sich den Vorwurf, den ihm der Apostel Paulus mit Recht machen konnte. Aber indem er der offenen und nicht gelinden zwar sondern kräftigen brüderlichen Zurechtweisung Gehör gab, und sich überzeugen ließ, daß der, welcher Khristo lieb habe, auch dem Gesez absterben müße das Khristum getödtet hatte, wie Paulus | in derselben Stelle seines Briefes aus einander sezt, indem er so der Zurechtweisung Gehör gab, so wurde der Irrthum seines Verhaltens nur ein vorübergehender. Und so möge uns denn auch in dieser Hinsicht sein Beispiel warnend sein und erweken, warnend, m. g. F., in dieser Hinsicht, daß, wenn wir in irgend einen Zwiespalt gerathen mit dem herrschenden Geiste unsrer Zeit, wir uns nicht sollen verleiten laßen zu etwas was nicht mit unsrer Ueberzeugung übereinstimmt. Denn freilich das äußere Gesez ist dem Menschen gegeben, und es giebt viele | Fälle, wo es von ihm fodern kann was gegen seine Ueberzeugung ist, aber dann ist es wenigstens seine heiligste Pflicht seine Ueberzeugung auszusprechen um es zu sagen, daß er in einem bestimmten Wiederspruch zwischen seinem Thun und seiner Gesinnung begriffen ist, daß er in dem Dienste des ganzen an der Stelle wo er steht gegen seine Ueberzeugung handelt, und das nicht für das Recht und Wahre hält was er thut. Können wir dies in jeder Zeit unsers Lebens leisten, geht uns dazu der Muth nicht aus, und verläßt und dabei nie die Kraft | des göttliche Geistes, dann handeln wir in dieser Hinsicht unsträflich, und sind wieder unschuldig an jeder Trennung und Zerspaltung in den menschlichen Verhältnißen. Aber gelingt 23–24 Vgl. Gal 2,19–20

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es uns nicht, und es mag uns tröstlich sein, daß es auch einem solchen treuen Diener unsers Herrn wie der Apostel Petrus war, nicht gelungen ist, gelingt es uns nicht ohne alle Entschuldigung in dieser Hinsicht zu wandeln, o so möge, wie es auch bei dem Petrus der Fall war, unser Gewißen uns richten, wenn wir von andern darauf aufmerksam gemacht werden, daß wir nicht geradeaus gehen, sondern unsicher, sei es in unsrer | Ueberzeugung oder in unsrer Wirksamkeit, hin und her gehen. Und wenn der kräftige Geist, der uns daran mahnt, uns den rechten Weg zeigt, und uns das deutlich macht, worüber wir uns nicht verständigen konnten, wenn wir dann leicht zurükkehren wie Petrus es thut auf den beßern Weg, so wird es auch für uns nur ein vorübergehender Augenblik sein, wo wir uns in den gemeinsamen Angelegenheiten des Herzens haben hinreißen laßen von irgend einer fremden Gewalt; und mit denen lebendig vereint, die nichts anderes suchen als das Rechte und | Wahre, und nichts anderes begehren als das Reich der Liebe und der Gottseligkeit zu bauen, welches unser Herr auf Erden gestiftet hat, und von ihm gestärkt werden wir auch bis in das späteste Alter geneigt sein und fähig unter allen Wechseln der Zeit seines Weges zu wandeln und sein Reich zu fördern. Das verleihe der Herr uns und allen die nach uns kommen, damit immer mehr aller Zwiespalt aus dem Leben der Khristen verschwinde, und damit unser gemeinsames Zusammenwirken immer mehr ein Reich der Liebe sei, wie es dem der die Liebe gewesen und den Frieden gebracht hat, angemeßen ist. Amen.

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Himmelfahrtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 28,18–20 Nachschrift; SAr 78, Bl. 22v–44v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52,Bl. 75r–75v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 131r–135v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am Himmelfahrtstage 1821. am einunddreißigsten Wunnemonds. | Preis und Ehre sei dem, der den Tod überwunden, und darauf erhoben ist zur Rechten des Vaters im Himmel. Amen. Tex t. Matth. XXVIII, 18–20. Und Jesus trat zu ihnen, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker, und taufet sie im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes; und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe; und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.

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Mit diesen Worten, m. a. F., schließt Matthäus sein Evangelium, ohne uns von der sichtbaren Himmelfahrt | unsers Herrn eine bestimmte Nachricht zu geben, eben so wenig als dies auch Johannes in seinem Evangelium thut. Aber ohne Zweifel sind die Worte, die wir mit einander gelesen haben, der lezte Abschied unsers Erlösers von seinen Jüngern, ehe er den Schauplatz dieser Welt ganz verließ, um zu seinem Vater zurükzukehren, von welchem er gekommen war. Denn nachdem er in den Tagen seiner Auferstehung, wie wir uns damit in unsern bisherigen Betrachtungen beschäftigt haben, seine Jünger unterwiesen hatte in Allem was ihnen Noth that, um auch ohne sein persönliches Dasein ihren | Beruf in der Welt zu erfüllen, so ertheilt er ihnen nun diesen Beruf, daß sie hingehen sollten und lehren 2 einunddreißigsten] einundzwanzigsten machers Hand: Himmelfahrtstag 1821.

3–4 Preis ... Amen.] darüber von Schleier-

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alle Völker; und indem er sie auf eine besondere Art anweiset sich zu zerstreuen, wie der Geist es ihnen geben und die Umstände sie leiten würden, hierhin und dorthin, so mußte er damit nothwendig seinem bisweiligen Erscheinen unter ihnen seit seiner Auferstehung ein Ende machen, und indem er sie verweiset an eine geistige Gegenwart, vermöge welcher er, wo sie auch zerstreut sein möchten, bei ihnen sein würde alle Tage bis an der Welt Ende, so liegt | darin ganz deutlich, daß es mit seiner leiblichen Gegenwart unter ihnen nun ganz zu Ende ging. So laßt uns denn heute an dem Gedächtnißtage der herrlichen Erhebung unsers Herrn eben diesen seinen lezten Auftrag, den er bei seinem Scheiden den zurükbleibenden Jüngern gab, zum Gegenstande unsrer andächtigen Betrachtung machen; aber laßt ihn uns so auffaßen, wie es die Worte unsers Textes mit sich bringen, indem wir zuerst darauf achten, wie dieser Auftrag abhänge von der Macht im Himmel und auf Erden, die der Erlöser sich zuschreibt; und zweitens | wie er unterstüzt werde durch die geistige Gegenwart, die er bis an das Ende der Welt den seinigen verheißt. I. Zuerst, m. g. F., laßt uns also nach Anleitung unsers Textes erwägen, wie der Auftrag, den der Erlöser seinen Jüngern ertheilt, auf das genaueste zusammenhängt mit der Macht, die wie er sagt ihm gegeben sei im Himmel und auf Erden. Mir ist gegeben alle Gewalt, so beginnt seine Rede, die im Himmel und auf Erden dieselbige ist, in der jede andre entweder begriffen ist, oder vor ihr verschwindet, sie kann nur sein eine geistige | Gewalt; das ist dieselbe, die der Erlöser auch als er noch in menschlicher Gestalt auf Erden umherging, über die Gemüther der Menschen ausübte, es ist eine Gewalt, welche ihm nur zukommt eben deßhalb, weil er war das fleischgewordene Wort von oben, weil in ihm wohnte die Fülle der Gottheit auf Erden in menschlicher Gestalt herabgesendet, um alle Mängel zu ergänzen, und alle Gemüther unter ein und demselben Haupt zu versammeln. Wie hätte auch ohne diese Gewalt der Erlöser seinen Jüngern einen Auftrag geben können wie den, welchen wir hier lesen „gehet hin | und lehret alle Völker“. Lehret sie – was? Was anders als das was ihr von mir vernommen habt, und wovon ich euch gesagt habe, daß ich nichts anderes rede und thue als was ich geschaut habe bei meinem Vater und gehört von ihm, und was hervorgeht aus allen den göttlichen Werken, die er mir gezeigt und offenbart hat. „Und taufet sie in dem Namen des Vaters, des Sohnes und 21 die im] im 26–27 Joh 1,14 27 Vgl. Kol 2,9 Joh 5,19.36; 8.28.38; 12,50

29 Vgl. Eph 1,22; Kol 1,18

33–36 Vgl.

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des heiligen Geistes“ – sammelt sie alle in einem großen Bund des Glaubens und der Liebe, in welchem sie auf dieselbige Weise bekennen den Vater, der ein Vater ist über alles was Kind | heißen darf auf Erden, und den Sohn, den er gesandt hat, und den Geist, der da ausgegoßen ist über alles Fleisch, um den Sohn zu verklären, indem er es von dem Seinigen nimmt. „Und lehret sie halten alles was ich euch geboten habe“ – präget also aus die Ordnungen des Lebens, von denen ich euch geredet, die Einrichtungen die ich unter euch gegründet, die Gebote der Heiligkeit und der Liebe, die ich euch gegeben, präget sie aus zu einem Gebot und Gesez für alle Völker und für alle Geschlechter”. O wo hätte jemals die Zunge eines Menschensohnes, wie andre Menschenkinder sind, gewagt ein Wort wie dieses | auszusprechen, ohne daß sie hätte müssen verstummen, zurükgedrängt von dem Gefühl ihrer Nichtigkeit! wo hätte ein Mensch, dem nicht alle Gewalt gegeben war im Himmel und auf Erden, ein einzelner schwacher Sohn der Erde, hervortreten können unter den so weit von einander getrennten, so wenig mit einander gemein habenden, so feindselig gegen einander empörten Völkern des Menschengeschlechts, und gebieten daß Eine Lehre und Ein Gebot und Ein Bund sie alle umfaßen sollte! wo hätte ein schwacher Menschensohn es wagen dürfen eine Hoffnung wie diese auszusprechen, daß | was von Einem gekommen als Richtschnur des Lebens, als unerschütterlich feststehende Grundsäule aller menschlichen Gemeinschaft und Hoffnung fortbestehen soll durch alle künftige Zeiten, nachdem alles, was sich bisher gezeigt hatte, als vorzüglich, als immer neuer Umgestaltungen bedürftig, als immer neue Mängel erzeugend und immer neue Hoffnungen auf etwas Künftiges und Fernes hervorrufend erschienen war! Darum weht uns aus diesen Worten an das innige Gefühl der unumschränkten Gewalt, die nur ihm unsrem Herrn und Erlöser gegeben ist im Himmel und auf Erden; darum fühlen wir es aus diesen | Worten mit festem Glauben auf neue heraus, daß in keinem Andern Heil für die Menschen zu finden ist als in dem Einen; darum fühlen wir es, wie das sagen konnte, der gewiß ist der den Gott gesezt hat zu einem Herrn und Khrist, vor dem sich beugen sollen alle Knie aller derer die auf Erden sind – ja wir fühlen es, keiner der irgend zu vergleichen wäre mit einem andern Weisen und Ausgezeichneten unter dem Geschlecht der Menschen, keiner der noch etwas in sich trüge von den Spuren der Gebrechlichkeit und des Verderbens, die wir alle in uns tragen, keiner als der Mensch ohne Sünde, keiner als der Sohn | des Vaters, der Einige durch welchen allein auch wir seine Kinder werden können, konnte einen Auftrag geben wie diesen. Und, m. g. F., wie wirksam hat er sich gezeigt von jenem Augenblik an. Ihn im Herzen bewahrend, und zugleich das Wort der Vorsicht nicht vergeßend, das der Herr auch bei seinem 2–3 Eph 3,15 4–5 Vgl. Apg 2,17 (Zitat aus Joel 3,1; Joh 16,14) 31–32 Vgl. Phil 2,10

30–31 Apg 2,36

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Abschiede zu ihnen geredet hatte „ihr aber sollt bleiben zu Jerusalem, und warten bis ihr werdet angethan werden mit der Kraft aus der Höhe“, erfüllten sie von dem Augenblik an, wo diese Stunde gekommen war, den Auftrag des Herrn, und gingen soweit sie konnten, um | alle Völker zu lehren und zu taufen, und die heiligen Gebote des khristlichen Lebens unter ihnen zu verkündigen. Und viele Menschen nach ihnen haben denselben Ruf vernommen in ihrem Herzen, und verlaßen Heimath und Vaterland, um das Evangelium von Jesu, den Gott zu einem Khrist gemacht hat, und erhöht zu seiner Rechten im Himmel, denen zu verkündigen, die noch in dem Schatten des Todes saßen. Und wie weit hat es sich nicht zu einem Zeugniß der Gewalt, die ihm verliehen ist im Himmel und auf Erden, unter den verschiedensten Geschlechtern der Menschen verbreitet; keines so weise und so stolz in seiner | Weisheit, das sich nicht gebeugt hätte vor dem Namen Jesu des Gekreuzigten, wie vielen auch unter demselben das Wort vom Kreuze ein Ärgerniß war oder eine Thorheit; und keines so verachtet, keines so entblößt von allen menschlichen Hülfsmitteln der Lehre und der Erhebung des Geistes, dem nicht süß und lieblich gekommen wären die Füße der Boten, welche den Frieden predigten, deßen verdunkeltes Auge nicht erhellt hätte das Licht, welches aus dem Bilde des Gekreuzigten allen Menschen strahlt, und unter dem nicht festgeworden wäre die Lehre und die Taufe und das Gebot. Aber erfüllt ist | es noch nicht das Wort des Herrn; und darum ergeht es an alle in diesem Sinne an den einen, in jenem an den andern, weiter fortzupflanzen sei es unter den Völkern, die noch neben uns auf Erden leben, und von dem Lichte des Evangeliums noch nicht erleuchtet sind, sei es fest und treu zu bewahren für die künftigen Geschlechter, die nach uns das Licht der Welt erbliken werden; noch ist es allen gesagt „gehet hin und lehret alle Völker, und taufet sie, und heißet sie halten alles was ich euch geboten habe“. Aber so groß auch, m. g. F., das Vertrauen der gläubigen Khristen ist auf die Gewalt | deßen im Himmel und auf Erden, der sie zu diesem Auftrag gerüstet hat; so gedenken wir doch, wie es auch an uns alle ergeht, wie es das heilige Vermächtniß des Erlösers ist an seine gesamte Kirche, wir gedenken doch der Worte die er selbst gesprochen hat „in der Welt habt ihr Angst; dem Jünger wird es nicht beßer gehen als es dem Meister ergangen ist“, und was alle die wahren und herrlichen Worte mehr sind, wodurch er die Seinigen auffodert und stärkt zur Theilnahme an seinem Leiden. Aber wenn wir daran gedenken, so möchten wir wohl sagen: beßer waren die daran, die in dem Gefühl | der menschlichen Schwächen 24 Evangeliums] Evanjeliums 1–2 Lk 24,49 8–9 Vgl. Apg 2,33–34.36 9–10 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79 13– 14 Vgl. Phil 2,10 14–15 Vgl. 1Kor 1,18.23 17–18 Vgl. Röm 10,15 (Zitat aus Jes 52,7) 33 Joh 16,33 33–34 Vgl. Joh 15,20; Mt 10,24–25

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sich der unmittelbaren Wirkung und des persönlichen Anbliks, die sich der Worte des Lebens, wie sie unmittelbar aus seinem Munde kamen, von ihrem Erlöser erfreuen konnten. Darum laßt uns das ganz besonders auch uns gesagte lezte Wort des Herrn mit einander erwägen „ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“, und uns deßen getrösten, daß er verheißen durch seine geistige Gegenwart uns alle in der Erfüllung seines lezten Auftrages zu stärken.

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II. Auch den Jüngern des Herrn, zu denen er unmittelbar redete, war es ein unentbehrliches und heilsames Wort des Trostes, welches er in dem Augenblik, wo sie nun ganz seiner leib|lichen Gegenwart entbehren sollten, von welcher er sie in den Tagen seiner Auferstehung allmälig gesucht hatte zu entwöhnen, welches er in diesem Augenblik scheidend zu ihnen sprach „und siehe ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Aber freilich leichter konnten sie sich dieses Wortes getrösten und den Genuß seiner geistigen Gegenwart unmittelbar anknüpfen an den seiner leiblichen, den sie so lange genoßen hatten. Fest war in ihrer Seele das Bild deßen, mit dem und unter deßen Augen sie gewandelt hatten von der Taufe des Johannes an bis auf diesen Tag seiner Erhöhung von der Erde; und alles, alles | was ihnen begegnen mochte, mußte das heilige Bild in ihrer Seele wieder aufrichten; und wo sie bedurften Lehre und Trost und Stärkung, o da konnten sie sich erinnern alles deßen, was ihnen mit ihm begegnet war, und aller kräftigen Worte die er zu ihnen geredet hatte; und so konnte denn geistig aufs neue die göttliche Kraft von ihm in sie einströmen. Das entbehren wir und fragen daher wohl billig: wie gelangen denn wir auch in diesen späten Tagen des Khristenthums und unsre Nachkommen nach uns zu diesem Genuß der geistigen Gegenwart des Herrn, wie er sie den Seinigen verheißen | hat? O Dank sei Gott, m. g. F., der dafür gesorgt hat, daß unvergänglich für alle Zeiten aufbewahrt worden ist das Wort seiner Jünger von ihm. Aus den Erzählungen der Evangelisten, wie einzeln und zerstreut auch die Züge sind die sie uns aufbehalten haben, sezt sich in der gläubigen Seele zusammen das herrliche und göttliche Bild des Erlösers, und seine lebendigen Worte, die uns darin aufbewahrt sind, sie fließen zusammen in dem liebenden und vertrauenden Gemüth zu einem Ganzen der göttlichen Erkenntniß, daß wenn wir den Herrn tragen | in unserm Inneren, wenn die Seele begehrt ihn zu schauen, auch uns seine geistige Nähe und seine geistige Gegenwart nicht fehlen kann. Und der Geist der tröstende, den er 4 erwägen] erwegen

35 tragen] fragen

18–19 Vgl. Mt 3,13–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21–22; Joh 1,29–34 Joh 16,7.13–15

37–3 Vgl.

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den Seinen verheißen hat, von dem er gesagt hat, er werde es von dem Seinen nehmen und ihnen verklären, und sie erinnern alles deßen was er ihnen gesagt habe, der ist ausgegoßen unter die Apostel nicht mehr gewichen von der Gemeine des Herrn. Wie Petrus sagte am Tage der Pfingsten „eurer und eurer Kinder ist diese Verheißung“, so wißen auch wir es und empfinden es, unser und unsrer Kinder ist sie, der Herr hat die Verheißung denen gegeben, welche er empfangen hat von seinem | Vater, und ausgegoßen das, was wir sehen und hören; das ist aber nichts anderes als die beständige Vergegenwärtigung des Erlösers in alle dem was vor unsern Augen vorgeht in dem Reiche Gottes, und was wir, wann und wie wir es bedürfen, in unsrer eigenen Seele erfahren. Ja so ist es; auch wir genießen die geistige Gegenwart unsers Herrn gewiß, wenn wir mit aufmerksamen Augen achten auf alles dasjenige was in dem Reiche Gottes vorgeht, und eben da finden die Zeugniße der Gewalt, die ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden, und das Wachsthum des göttlichen Reiches durch Lehre durch Taufe und Gebot, welches er selbst | in den Tagen seines Fleisches zuerst gegründet hat. Der Evangelist Markus erzählt uns, wie der Herr als er zulezt mit den Seinigen redete, und also in demselben Zusammenhang in welchen auch die Worte unsers Textes gehören, seinen Jüngern verheißen habe, wie er ihr Wort bekräftigen werde durch mitfolgende Zeichen; und die Geschichte der Apostel hat uns aufbehalten mehrere einzelne Fälle und einen Reichthum von Zeugnißen, wie die wunderbare Kraft des Erlösers auch bei seinen Jüngern wohnte, und wie sie in seinem Namen, in dem Namen Jesu von Nazareth, Zeichen und Wunder | thaten. Da war es seine Kraft des Weinstoks, die mächtig in den Reben trieb, und die ist allen das Zeichen seiner noch fortwährenden geistigen Gegenwart, auf der noch dieselben Kräfte ruhen, die wir in ihm selbst während seines irdischen Lebens wahrnehmen. So fühlten auch sie wenn sie Zeichen und Wunder thaten in seinem Namen, die geistige Gegenwart ihres Herrn, und die welche Zeugen davon waren, denen muß zu Muthe gewesen sein als ob sie ihn selbst sähen den Herrn der Herrlichkeit, der diese köstlichen Güter und Gaben verwaltet. Aber warum, m. g. F., | führe ich dies an zu unserm Troste? Die Zeiten der Wunder sind vorüber; alles hat sich immer mehr zurükgezogen in die von Gott gesezte Ordnung der Natur, und auf diese Weise verkündigt sich nun die geistige Gegenwart des Herrn nicht mehr. Aber wenn die Kraft des Glaubens, welche aus den Aposteln sprach „Silber und Gold haben wir nicht, was wir aber haben das geben wir dir im Namen Jesu von Nazareth, 2 verklären] verklähren

23 dem] den

5 Apg 2,39 6–7 Vgl. Joh 17,6.9.24 17–20 Vgl. Mk 16,17–18 21–24 Vgl. z. B. Apg 3,1–11; 4,8; 16,16–18 25 Vgl. Joh 15,5 36–1 Vgl. Apg 3,6

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stehe auf und wandle“, wenn diese Kraft Gottes noch jetzt wirksam ist zur Vertilgung menschlicher Schwächen, zur wunderbaren Stärkung der sonst | so tief gesunkenen Geschöpfe, wenn wir die Menschen geistiger Weise aufgerichtet sehen durch das Wort Gottes, immer mehr in sich vertilgend alle Spuren des alten Schadens, wenn das alles vor unsern Augen immer fortfährt zu geschehen, und nicht anders zu geschehen als in dem Namen Jesu von Nazareth: o wie sollten wir dann nicht in allen tröstlichen und kräftigen Erscheinungen in dem Reiche Gottes auf Erden, welches der Herr gestiftet hat, seine geistige Gegenwart fühlen und erkennen? War doch auch in den Tagen seines Fleisches nicht | das das Herrlichste, daß auf sein Gebot sich ausstrekten und lebendig wurden die verdorrten Gliedmaßen der Menschen, sondern er selbst fragte die Hörenden und Schauenden: was dünkt euch größer – zu sagen, stehe auf und wandle, oder zu sagen, deine Sünden sind dir vergeben? Das Erste ist das mächtige Wort des göttlichen Sohnes gesprochen zu dem erstorbenen Fleische; das andre ist dasselbe Wort der freilich nicht irdischen sondern himmlischen Macht des Herrn, das Wort, stehe auf und wandle, aber nicht mehr in dir selbst sondern in mir und in meinem Geist, | getragen durch die Gemeinschaft mit mir. Und wenn auf dieselbige Weise seine Kraft noch jetzt wirksam ist das geistige Leben zu erweken und zu erhalten, und alles leibliche mit demselben zu durchdringen: o wie könnten wir klagen, daß es uns fehle an Zeugnißen von der geistigen Gegenwart des Erlösers, so wir nur die Augen aufthun und schauen was da geschieht in seinem Reiche. Das göttliche Wort, das ewige Zeichen der Gewalt die ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden, es wird immer noch gesprochen – und die Wahrheit des Erfolges begleitet es – es | wird gesprochen in dem Herzen derer, die zurükkehren von dem Wege der Sünde, und in die Gemeinschaft der göttlichen Gnade eingehen, in denen ertönt es, gehe hin, deine Sünden sind dir vergeben in dem Namen Jesu von Nazareth, durch den und in dem du wandeln sollst; es wird gesprochen in dem geheimnißvollen Genuß des Mahles, welches er uns zu seinem Genuß eingesezt hat; es wird gesprochen in jedem sehnsüchtigen Augenblik, wo wir getröstet und erquikt über die Schwachheit, die uns noch anklebt, wie der Apostel in der Stunde seines Entzükens das göttliche Wort vernehmen: laß dir an | meiner Gnade genügen, die in den Schwachen mächtig ist. Und eben so fühlt und erfährt also ein jeder unter uns die geistige Gegenwart unsers Erlösers in seinem Herzen, und sollen wir ein Bekenntniß ablegen von den Augenbliken, wo er uns auf diese Weise nahe ist, so wird wohl keiner zaudern zu gestehen: hätte ich auch gesehen seine leibliche Gestalt, hätte ich auch sichtbarer Weise zu seinen Füßen gelegen und dasselbe Wort der himmlischen Liebe und der göttlichen Zuversicht 10–12 Mt 12,13; Mk 3,5; Lk 6,10 35 Vgl. 2Kor 12,9

12–14 Vgl. Mt 9,5; Mk 2,9; Lk 5,23

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aus seinem leiblichen menschlichen Munde vernommen; ich könnte nicht | kräftiger erquikt, ich könnte nicht lebendiger gestärkt, ich könnte nicht mit höherem Muthe und mit größerer Zuversicht ausgerüstet sein als ich es jezt bin. Und wie der Erlöser in den Tagen seiner Auferstehung, diesem lezten geheimnißvollen Nachhall seines irdischen Lebens, wie er da derselbe zwar und in seiner ihm eigenthümlichen Gestalt mit demselbigen Fleische angethan, aber doch auf den ersten Anblik oft verschieden dem einen so und dem andern anders sich nahte: so auch ist seine geistige Gegenwart in unserm Herzen. Überall ist er der Eine und derselbige, aber unter | den mannichfaltigsten Gestalten naht er sich dem Gemüth nach den eigenthümlichen Bedürfnißen eines jeden als derjenige, der da weiß was in dem Herzen eines jeden Menschen ist. Dem einen erscheint er mehr als der Lehrer von Gott gesandt, der da mächtig redete zu den Gemüthern der Menschen, nicht wie die Schriftgelehrten und Pharisäer; er sucht und findet ihn oder seine geistige Nähe in den Worten der Wahrheit, der Ahnung und der Zuversicht eines himmlischen Lebens, und der Belehrung, die den Menschen über alle menschliche Sazungen erhebt, und ihn eignet zu einem Anbeter | Gottes des Vaters im Geist und in der Wahrheit. Dem andern erscheint er mehr als der siegreiche Held, der er war in den Tagen seines Fleisches und in den Tagen seiner Erhöhung; er sucht ihn in allen Tugenden des Glaubens, womit sein gegenwärtiger Geist die Herzen seiner Jünger, seiner treuen Nachfolger, zu allen Zeiten ausrüstet; er sieht ihn in der Erfüllung des herrlichen Worts „der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet; ihr habt Angst in der Welt, aber ich habe sie überwunden.“ Dem andern erscheint er am liebsten als der treue Hirt der Seelen, der auch den einzelnen Verlornen nachgeht, und nicht eher ruht als bis | er sie gefunden hat, als der Freund, der seine Geliebten an seinem Busen ruhen läßt, und ihnen da zuflüstert von den Geheimnißen seines Reiches, was andre nicht so leicht vernehmen und erkunden. Aber unter allen diesen Gestalten ist er ja derselbe; und nicht das Eine und das Andre, sondern dies Alles zusammengenommen ist die Erfüllung des Wortes was er gesagt hat „ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende“. Und was also, m. g. F., was gehört dazu, damit wir uns auch dieser Verheißung getrösten können? Was anders als nur dies, was anders als dies, daß wir nicht uns selbst und durch uns selbst | leben wollen, sondern daß wir trachten nach den Segnungen, die uns nur von ihm kommen können; was anders als dies, daß wir nur bereit sind ihm die Ehre zu geben, die ihm gebührt, und wie er selbst einmal denen die ihn versuchen wollten antwortete „weß ist das Bild 13–14 Vgl. Mt 7,29; Mk 1,22; Lk 4,32 16–17 Vgl. Mt 15,1–9; Mk 7,1–13 18 Vgl. Joh 4,23 23–24 Vgl. 1Joh 5,4 24 Vgl. Joh 16,33 25–27 Vgl. Mt 18,10–14; Lk 15,1–7 27–28 Vgl. Joh 13,23.25; 21,20 28 Vgl. Mt 13,11; Mk 4,11; Lk 8,10 38–2 Mt 22,20–22; Mk 12,16–17; Lk 20,24–25

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und die Überschrift? so gebet dem Kaiser was des Kaisers ist, und Gotte was Gottes ist“, so auch wir bereit sind überall in allem Trefflichen und Herrlichen was uns begegnet in den Führungen Gottes mit dem menschlichen Geschlecht, in allen Erweisungen der göttlichen Kraft in dem Leben der Menschen, in allen Erleuchtungen der Finsterniß in der mensch|lichen Seele überall den zu erkennen, von dem das Alles kommt, und ihm zurükzugeben was sein ist. O daß wir das alle thun möchten, m. g. F.! daß wir in der Erfüllung des Auftrages, der auch an uns ergangen ist, seine Zeugen zu sein bis an der Welt Ende, nicht mögen gestört werden – ich will nicht sagen durch die Verfolgungen der Welt und der Kinder der Finsterniß, denn die sind es gerade am wenigsten, was wir in diesen Tagen zu erwarten haben, aber auch nicht – durch das klügelnde Entgegenstreben derer, denen noch immer das Wort vom Kreuze ein Ärgerniß ist oder eine Thorheit, die noch | immer glauben gedeihen zu können auch außerhalb des innigen Bundes, den der Erlöser um die Menschen schlingen will, die noch immer glauben in dem Besiz der Wahrheit und des Lebens zu sein auch ohne den der Wahrheit und Leben und das Licht gebracht hat. Und so wir nur ihm allein treu sind, so wird er eben dadurch daß er uns seine Gegenwart verkündet, daß wir ihn wahrnehmen überall in der Welt sein Reich bauen, und erhalten, so werden auch wir durch den Genuß seiner geistigen Gegenwart gestärkt treue Arbeiter sein in seinem Weinberge und würdige Haushalter der Gnade Gottes. Aber | daß auch keiner unter uns versucht werde durch sein eigenes Herz, keiner verleitet für sein Eigen zu halten was nur die Gabe von oben ist, keiner verleitet bei sich selbst stehen zu bleiben, und etwas anders zu sein und zu thun als in dem Namen Jesu, den uns der Herr zum Khrist gemacht hat. Denn so wie wir uns selbst suchen und suchen wollen, so erblindet das Auge des Geistes für die geistige Gegenwart des Erlösers, und was anders thun wir denn als auf das Fleisch säen, und was anders werden wir denn als vom Fleische das Verderben ernten? | Denn der Geist ist sein Eigenthum und sein Besiz, und keiner hat denselben außer ihm; er allein hat ihn gebracht vom Himmel herab, und er allein kann ihn mittheilen; und der Geist ist es, der nichts anders thut als von dem Seinen nehmen und ihn verklären. O daß wir alle in dieser Einfalt des Herzens bleiben und treu in dem Bewußtsein, daß wir nichts haben was wir nicht empfangen hätten – dann würden wir alle erfahren, daß der Herr ist mit den Einfältigen, und den Demüthigen Gnade giebt, und aufgethan würde sein und bleiben unser geistiges Auge, um die Gegenwart des Herrn | zu schauen und unser Herz geneigt immer aufs neue hinzusinken an seine Brust, und uns seiner Nähe und seines belebenden geistigen Einflußes zu erfreuen. So 13 Vgl. 1Kor 1,23 17 Vgl. Joh 14,6 17 Vgl. Joh 1,4–5 21–22 1Petr 4,10 32–33 Vgl. Joh 16,14–15 34–35 Vgl. 1Kor 4,7 35–36 Vgl. Mt 5,3 36 1Petr 5,5; Jak 4,6 (Zitat aus Spr 3,34)

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Heiliger und barmherziger Gott und Vater, der du als die Zeit erfüllet war gesandt hast deinen Sohn auf Erden, um das verlorene Geschlecht der Menschen zu dir zurükzuführen, der du mit ihm gewesen bist in den Tagen seines Fleisches, wenn er im Gebet mit Thränen zu dir aufsah, der du ihm, nachdem er vollendet ist durch Leiden, | die Menge der Menschenseelen zur Beute gegeben hast, der du ihn erhöht hast zu deiner Rechten, von dannen wir seiner erwarten, daß er uns bei dir verkläre, o höre du nie auf das Wort seiner Verheißung zu erfüllen, daß er unter uns sei alle Tage bis an der Welt Ende. Stüze du mit deiner waltenden Allmacht den Bund des Glaubens, den er unter den Seinigen gestiftet hat, und erhalte rein unter uns die Verkündigung seines Wortes und die Darreichung seiner Sakramente; damit immer mehr sich vor den Augen der ganzen Welt verkläre die Gewalt die du ihm verliehen hast im Himmel und auf Erden, und | sein Reich wachse und sich mehre von einem Tage zum andern[.] Dazu, gütiger Gott und Vater, laß auch unsre Gemeinde, die wir hier versammelt sind, und die ganze evangelische Kirche unsers Landes als einen Theil deines großen und heiligen Reiches gesegnet sein. Erhalte überall der Gemeinde deines Sohnes Schüzer und Versorger unter den Herrschern und Fürsten der Erde. Vor allem laß deine Barmherzigkeit groß sein über unserm König und seinem Hause, und seze dasselbige unter uns zu einem erfreulichen Beispiel khristlicher Gottseligkeit. Dem Könige aber verleihe zu seiner | Regierung den Beistand deines Geistes; umgieb ihn mit treuen Dienern, die ihm helfen das Rechte erkennen, und die ohne Menschenfurcht und Menschengefälligkeit ausführen was sie als Recht erkannt haben. Schenke ihm gehorsame Unterthanen in dem ganzen Umfange seines Reiches, damit wir unter seinem Schuz ein dir wohlgefälliges Leben führen, und dem Ziele khristlicher Vollkommenheit immer näher kommen. Dazu laß auch unser aller Bestrebungen und die eines jeden in dem bescheidenen Theile seines Berufes gesegnet sein; laß es keinem, der wahrhaft an deinen Sohn glaubt, und bei ihm allein sein Heil sucht, an erfreulichen | Beweisen davon fehlen, daß auch er ein Diener ist in deinem Reiche und ein Werkzeug deiner Gnade. Nimm dich auch aller derer an, die in den vergänglichen Trübsalen dieser Erde ihre Hoffnung auf dich sezen, und indem du sie stärkest und erquikst so laß 35 deinem] seinem 3–5 vgl. Gal 4,4 5–7 Vgl. Hebr 5,7.9; 2,10 Apg 2,33; 5,31 9 Vgl. Phil 3,20

7–8 Vgl. Jes 53,12

8–9 Vgl.

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unter uns und überall den Glauben sich befestigen, daß denen die dich lieben alle Dinge zum Besten gereichen müßen. Amen.

[Liederblatt vom 31. Mai 1821:] Am Himmelfahrtstage 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Vollendet ist dein Werk, vollendet / O Welterlöser unser Heil! / Uns liebet Gott, der dich gesendet, / Und seine Huld wird uns zu Theil. / Verklärt erhebst du dich vom Staube, / Dir nach schwingt sich der Deinen Glaube, / O Sieger, in dein himmlisch Licht. / Dich krönt nach Thränen und nach Leiden / Dein Gott mit seinen Gottesfreuden / Vor aller Himmel Angesicht. // [2.] Dein Wagen kommt, die Wolken wallen / Herab voll Majestät und Licht. / Die deinen sehn sie, und sie fallen / Anbetend auf ihr Angesicht. / Noch segnest du sie die Geliebten, / Und senkest Trost auf die Betrübten, / Strömst süße Hoffnung in ihr Herz. / Sie sehn’s, du bist von Gott gekommen, / Wirst im Triumpf dort aufgenommen, / O welche Wonne wird ihr Schmerz. // [3.] Ich seh empor zu dir, Vertreter! / Dich bet’ ich still mit Thränen an. / Ich weiß, daß auch ein schwacher Beter / Im Staube dir gefallen kann. / Zwar fallen vor dir Engel nieder, / Doch auch der Engel höhre Lieder / Verdrängen nicht mein schwaches Lied. / Von meinen aufgehobnen Händen / Wirst Du nicht weg dein Antliz wenden, / Du siehst den Dank, der in mir glüht. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t etc. [1.] O wundergroßer Siegesheld, / Du Retter einer Sündenwelt, / Hast herrlich nun vollendet! / Nach überstandnem Leidenslauf / Gehst du verklärt zu Gott hinauf, / Der dich zu uns gesendet. / Ewig trifft dich dort kein Leiden; / Voller Freuden / Lebst du droben / Ueber alles hoch erhoben. // [2.] Die Engel alle dienen dir, / Und unser Herz vereint sich hier / Mit ihnen, dich zu loben. / Du hast dein großes Werk vollbracht, / Und nun mit göttlich hoher Macht / Gen Himmel dich erhoben. / Preis dir, daß wir schon auf Erden / Können werden / Gottes Kinder, / Und des Todes Ueberwinder. // [3.] Du Herr bist unser Haupt, und wir / Sind deine Glieder, nur von dir / Kommt Wahrheit, Heil und Leben. / Licht und Erkenntniß unsrer Pflicht. / Und Hoffnung, Freud und Zuversicht / Wird uns durch dich gegeben. / Laß doch dein Joch gern uns tragen, / Und entsagen / Allen Sünden, / Daß wir hier schon Ruhe finden. // [4.] Zeuch unsre Herzen ganz zu dir, / Damit vor allen Dingen wir / Nach deinem Reiche trachten. / Laß uns im Wandel fromm und rein, / Voll Sanftmuth und voll Demuth sein / Und eitle Lust verachten. / Jede Sünde hilf uns meiden / Und mit Freuden / Unser Leben / Deinem Dienste ganz ergeben. // [5.] Sei unser Schuz und unser Hort, / Und tröst uns durch dein göttlich 1–2 Röm 8,28

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Wort / In bangen Kummerstunden! / Nur da ist Wonne wo du bist; / Die Freude, die man hier genießt, / Ist noch mit Leid verbunden. / Stärk du Jesu unsre Herzen! / Laß in Schmerzen / Uns schon offen / Deinen Himmel sehn und hoffen. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Gott etc. Vereint mit dir zu werden / Ist unser Ziel, denn wir sind dein. / O möchte schon auf Erden / Im Himmel unser Wandel sein. / Dir standhaft anzuhangen, / Und nur auf dich zu sehn; / Wie du vorangegangen, / Den richtgen Pfad zu gehn, / Soll heiliges Bestreben / Und süße Lust uns sein: / So gehn durchs Pilgerleben / Auch wir zum Himmel ein. //

Am 3. Juni 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Predigt am Sonntage Exaudi 1821. am dritten Brachmonds. Eine Frühpredigt. |

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Exaudi, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,14 Nachschrift; SAr 78, Bl. 45r–62v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 75v–76v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 137r–141v; Woltersdorff Liederangabe (nur in SAr 60)

Tex t. Apostelgeschichte I, 14. Diese alle waren stets bei einander einmüthig mit Beten und Flehen, samt den Weibern und Maria der Mutter Jesu, und seinen Brüdern. Diese Worte, m. a. F., führen uns in die Zeit, in welcher wir jezt leben, zwischen der Himmelfahrt unsers Herrn und der Ausgießung seines Geistes. Er hatte ihnen befohlen, sie sollten Zeugen seiner Auferstehung sein, soweit sie könnten auf Erden umher, und er hatte sie dazu noch in den Tagen seiner Auferstehung besonders ausgerüstet; zugleich aber hatte er ihnen | auch gesagt, sie sollten warten und nicht von Jerusalem weichen, bis sie würden ausgerüstet werden noch mit einer besondern Kraft aus der Höhe. Und nun erzählen die Worte unsers Textes uns im Allgemeinen, wie sie diese Zwischenzeit, nachdem sie umgekehrt waren von dem Ölberg, von welchem der Herr aufgefahren gen Himmel, bis dahin, wo an dem Tage der Pfingsten der Geist des Herrn über sie kam, und zum erstenmal Petrus auftrat zu lehren vor allem Volk, wie sie diese Zwischenzeit zugebracht haben, 6 Mutter] Muter

18 wie sie] wie

0 Liederangabe in SAr 60, Bl. 137r: „Lied 714 u. 710 v. 5“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 714 „Ich weiß mein Gott, daß all mein Thun“ (Melodie von „In dich hab ich gehoffet, Herr“); Lied Nr. 710 „Ich bin mit allem wohl zufrieden“ (Melodie „Wer nur den lieben Gott läßt walten“) 8–13 Vgl. Lk 24,46–49; Apg 1,4– 5.8 16–17 Vgl. Apg 2,1–13 17–18 Vgl. Apg 2,14–36

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nämlich mit einmüthigem Beten und Flehen. So laßt uns denn das in der gegenwärtigen Stunde näher mit einander erwägen, nämlich wie das | einmüthige Gebet die rechte Ausfüllung ist für jede Zeit des Wartens in unserm Leben. Damit wir uns auch darin mit dem Sinne der ersten Jünger unsers Herrn Eins werden, so laßt uns zuerst sehen, von welcher Art das Warten gewesen ist, worin sie begriffen waren, und welches auch dasjenige ist, was uns wohl ansteht; und dann zweitens, wie sich dazu das Gebet als die rechte und gottgefällige Ausfüllung verhält. I. Es giebt, m. g. F., und das erkennt schon der gemeine Sinn aller Menschen, ein zwiefaches Warten, das eine von welchem das Sprichwort gilt, daß Hoffen | und Harren den Menschen thöricht macht; das andre von welchem das Entgegengesezte gilt, daß Hoffnung nicht läßt zu Schanden werden. Beides ist ein Warten, und wie es ein Hoffen heißt auch ein Warten des gläubigen Menschen. Das thörichte Warten aber und das thörichte Harren ist dasjenige was wir freilich so häufig in der Welt finden, wenn die Menschen nämlich warten auf Dinge die da geschehen sollen, wodurch ohne ihr weiteres Zuthun etwas was sie wünschen, und was sie in ihren Gedanken gebildet haben, in Erfüllung gehen, und wodurch ihnen auch ohne ihr Zuthun eine | reichere und schönere Ausfüllung ihres Lebens kommen soll. Das ist das Warten welches den Menschen thöricht macht, und womit das Gebet des Khristen nichts kann zu schaffen haben, nichts als dies höchstens, daß er sich vor den Augen des allgegenwärtigen Gottes von der Thorheit eines solchen Wartens überzeugt, und bei Zeiten davon umkehrt. Denn der Mensch, der alles erwartet von den Dingen die da geschehen sollen, der natürlich ist geneigt seine Hände in den Schoß zu legen und nichts zu erwarten von dem was er selbst thun kann und thun soll. Dazu aber hat Gott den | Menschen in die Welt nicht gesezt, sondern wie er sich seiner Herrschaft über die Erde nur erfreuen kann und sie gewinnen und vergrößern im Schweiße seines Angesichts durch angestrengte Arbeit und Thätigkeit, so auch, wie der Herr selbst sagt, gewinnt jeder Mensch seine Stelle im Reiche Gottes nicht dadurch, daß er mit den Gaben die ihm der Herr verliehen hat wartet auf das was da kommen soll, sondern dadurch daß er im Dienste seines Herrn begriffen alle seine Zeit und seine Kräfte dafür verwendet den Willen desselben zu vollbringen. Das Warten aber der Apostel | das war das Warten der andern Art, nämlich das Warten auf dasjenige, was sie selbst thun sollten und wollten, es war der heilige Beruf, zu welchem der Herr sie ausgesondert hatte aus der Menge seines Volks, und sie sich erwählt und angeeignet, den er ihnen während seines Lebens und Lehrens 13 Röm 5,5 27

28–31 Vgl. Gen 1,28; 3,19

31–35 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–

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auf Erden oft vorgehalten, und sie mit allem Erfreulichen so wie mit allen Gefahren desselben bekannt gemacht, der Beruf, zu welchem er sie noch besonders wiederholt eingesezt und gestärkt hatte in den Tagen seiner Auferstehung, der war es, von welchem er zu ihnen sagte, in dem er | im Begriff war diese Erde ganz zu verlaßen, es bleibe zwar ihr Beruf hinzugehen und zu lehren alle Völker, aber noch sollten sie warten und nicht weichen von Jerusalem, bis sie ausgerüstet sein würden mit der Kraft aus der Höhe. Sie hatten also einen ihnen angewiesenen Beruf, und ihnen stand vor Augen in fester Ueberzeugung und in treuer Liebe, was sie in der Welt zu thun hatten; sie waren auch dazu nicht nur berufen, sondern auch in sich selbst geneigt, und hielten den Beruf für dasjenige was das heiligste Verlangen ihres Herzens befriedigen könnte; aber doch sollten sie noch warten | eine Zeitlang, bis sie ihn wirklich antreten könnten. Und indem der Herr sagt, sie sollten warten bis sie würden angethan werden mit der Kraft aus der Höhe, so liegt darin offenbar zunächst dies, sie sollten sich selbst in dem Augenblick wo er sie verließ noch nicht für reif halten, an die wirkliche Ausführung dieses Berufs zu gehen, sondern darauf warten, daß ihre innere Kraft noch wüchse durch einen besondern göttlichen Segen, der ihnen von oben kommen sollte. Denn das müßen wir wohl voraussezen, daß der Geist des Herrn ihnen nicht gefehlt hatte, | sondern er war es, der den lebendigen Glauben an Jesum als den Sohn Gottes in ihnen gewirkt hatte. Aber ein richtiges Maaß desselben mußte sich in ihrer Seele entwikeln, und dann würden sie ganz reif sein an die Ausführung ihres Berufes wirklich zu gehen. Aber damit dem Menschen das Werk, welches ihm der Herr aufgetragen hat, gelinge, dazu ist freilich nicht allein hinreichend, daß er innerlich ausgerüstet sei mit der Kraft, welche hinreicht daß er das Seinige dabei thue, sondern soll der Erfolg sein Werk krönen, so muß auch Zeit und Stunde dasein, die der Herr seiner Macht vorbehalten | hat. Indem ich nun aber selbst hieran erinnere, so könnte leicht jemand unter euch denken, das ist ja doch das Warten auf das was geschehen soll; denn die Zeit und Stunde, die der Herr seiner Macht vorbehalten hat, das ist doch eine auf gewiße Weise erfüllte Zeit, wie die Schrift selbst sie öfters so ausdrükt als die Zeit, das heißt: es muß dies und jenes vorher geschehen sein, ehe mit Erfolg dasjenige was der Mensch zu thun hat kann gethan werden; so wie eben in dem vorliegenden Falle nicht nur nöthig war, daß in den Aposteln noch stärker wuchs die Gabe des Geistes, und sie in einem von Gott | besonders gesegneten Augenblik in einem höheren Maaße von Gott erleuchtet wurden, sondern es mußte auch da sein der Tag der Pfingsten, es mußte auch dasein der Sturm der das 31 das] daß 5–7 Vgl. Lk 24,47–49; Apg 1,4–5.8 31 Apg 1,7 38–1 Vgl. Apg 2,1–2

13–14 Lk 24,49; Apg 1,4–5.8

27–28.30–

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Haus bewegte, es mußte auch dasein die Fülle des Volkes aus allen denen, welche gekommen waren das Fest zu feiern. Das war die Zeit und Stunde, die der Herr seiner Macht vorbehalten hatte, und als da durch die Kraft des Geistes gerüstet Petrus auftrat, so drang das Wort des Evangeliums aus seinem Munde in die Seelen derer welche ihm zuhörten; was nicht hätte geschehen können, wenn er nicht gewartet hätte bis Zeit und Stunde herbeigekommen waren. Allein, m. g. F., das | fühlten die Apostel, als jener herrliche Tag erschienen war, und sie vereint auftraten, die großen Thaten Gottes zu preisen in mancherlei Zungen, da fühlten sie, daß das der Augenblik sei, von welchem der Herr gesagt hatte, sie würden ausgerüstet werden mit der Kraft aus der Höhe, und fühlten sie sich in sich selbst reich und stark zu allem was der große Beruf von ihnen forderte, und fühlten sich fest von diesem Augenblik an ihn nicht zu verlassen. Aber ob die Zeit dasei, die der Herr seiner Macht vorbehalten hat, darüber hat der Mensch kein sicheres Gefühl, und kein untrügliches Wißen, und darum geschieht es denn | so oft, daß die Diener Gottes ausgerüstet mit der Kraft von oben, in der vollen Überzeugung daß der Augenblik da sei, wo sie wirken und thun können und sollen was ihnen am Herzen liegt, manches zur Förderung des Reiches Gottes beginnen und unternehmen, ohne daß der Erfolg in dem Augenblik ihr Werk krönt, weil die Stunde, die dazu der Herr sich vorbehalten hat, noch nicht erschienen ist. Aber in der Höhe, m. g. F., von wannen die Kraft kommt, die uns ausrüsten muß zu allem was wir Gottgefälliges und auf seine gnädigen Absichten mit dem Geschlecht der Menschen sich Beziehendes beginnen, da ist beides Eins und dassel|bige und auf das innigste mit einander verbunden; vor dem Herrn ist hier kein Unterschied, sondern dasselbige ist die innere Kraft seiner Diener, die ihnen nur aus seiner Fülle zuströmt, und die Stunde des Erfolges eben dasselbige, weil bei ihm tausend Jahre sind wie ein Tag. Er weiß daher auch, wo und wann das was seine Diener unternehmen, ohne daß der Erfolg in dem Augenblik demselben entspricht, nothwendig sei und unentbehrlich, um den lezten Erfolg herbeizuführen. Dem Menschen aber dem liegt natürlich beides weit aus einander; und diese innere Ueberzeugung, die er haben kann von der Wirksamkeit des göttlichen Geistes in seinem Herzen, die er haben kann von | der Kraft womit der Herr ihn ausgerüstet, und von dem Pfunde, welches er ihm verliehen hat, damit er dasselbige benuze, die trennt er oft von den äußern Umständen und von demjenigen was zur Zeit und Stunde gehört. Eben darum soll er auch darauf nicht rechnen, sondern nur auf seine 13 diesem] diesen

13 ob] so SAr 60, Bl. 138v; Textzeuge: als

1–2 Vgl. Apg 2,5–11 2–3.13–14.20–21 Apg 1,7 9 Vgl. Apg 2,4 9–11 Vgl Lk 24,49; Apg 1,8 Lk 19,11–13

3–5 Vgl. Apg 2,14–41 8– 27–28 Ps 90,4 34–35 Vgl.

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eigene innere Erfüllung und Reinheit, wohlwißend daß dem Herrn tausend Jahre sind wie der Tag der gestern vergangen ist, und daß, wenn auch der Erfolg sein Werk in dem Augenblik nicht krönt, was er durch die Kraft seines Geistes gethan, wozu ihn die Liebe zu Gott und dem Erlöser getrieben hat, daß dies nothwendig gewesen sei, um das was der Herr gewollt hat herbeizuführen, | komme es früher oder später. Denn, m. g. F., indem wir wohl wißen, daß, wenn uns ein Werk gelingen soll, beides dazu gehört, die innere Kraft des Gemüths, ohne die wir nicht im Stande sind dasselbe zu beginnen, und die Fruchtbarkeit der Umstände, die nicht fehlen darf um das Werk auszuführen: so harrt doch der Diener Gottes auf das Leztere nicht, weil er weiß, daß dies dasjenige ist was der Vater im Himmel allein nach seiner ewigen Weisheit, die Eins ist mit seiner Liebe, regiert, und daß die Stunde niemand weiß, und auch nicht warten soll darauf daß er sie erfahre. Warten aber sollen wir auf das was wir selbst zu thun haben, | auf die Kraft die ja nothwendig ist, wenn wir nicht als todte sondern lebendige Glieder an dem Leibe des Herrn für die großen Zweke seines Reiches wirken wollen; und nicht eher sollen wir handeln, als bis wir das Gefühl der Kraft, mit welcher der Herr uns ausrüsten will, in uns haben; nicht eher sollen wir handeln, als bis unsre Einsicht in das was wir zu thun haben, so wie unser Muth, alle Hinderniße zu besiegen, die uns auf dem Wege einer treuen und angestrengten Thätigkeit entgegentreten möchten, reif geworden ist. Ist dann zugleich die Zeit und Stunde da, die der Herr seiner Macht vorbehalten hat, um etwas Großes und Herrliches durch das Wirken seines Geistes in uns | herbeizuführen: o dann entstehn aus der Erfüllung des Wartens jene großen und wunderbaren Begebenheiten, wie die der ersten Gründung der khristlichen Kirche, wie die der Läuterung und Reinigung derselben nach Jahrhunderten der Finsterniß und des Aberglaubens, und wie vieles Andre, was sich anknüpft im Reiche Gottes an jene so reichlich gesegneten Bemühungen seiner treuen Diener, und woran wir es deutlich sehen, wie das Warten auf die lebendige Kraft des Geistes und Zeit und Umstände in den Gedanken des Ewigen Eins sind und dasselbige. Treffen aber beide nicht zusammen, | fühlen wir für uns sei das Warten beendigt, und die Bedingung des Handelns für uns sei erfüllt, und wollten wir länger zaudern, so würden wir in den Vorwurf deßen gerathen, welcher fürchtend daß sein Herr ein strenger Herr sei das Pfund welches er ihm anvertraut hatte vergrub, und die Zeit, in welcher er dasselbe hätte benuzen sollen zum Vortheil für seinen Herrn, müßig verträumte, nicht achtend der Rechenschaft, die von ihm würde gefodert werden – ist so die innere Bedingung erfüllt, und 3 durch] duch

13 darauf] darfuf

25 wunderbaren] wanderbaren

1–2 Ps 90,4 13–14 Vgl. Apg 1,7 16 Vgl. 1Kor 6,15; 12,27; Eph 5,30 23 Vgl. Apg 1,7 34–38 Vgl. Lk 19,20–23

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wir gehen an das Werk, welches der Herr uns aufgetragen, aber die Zeit und Stunde, die er seiner Macht vorbehalten hat, ist noch nicht da: ja dann | entstehen dieselben Bestrebungen und Unternehmungen, die den Augen der Welt verborgen erscheinen, aber nicht so dem Auge des Glaubens. Denn, wie der Khrist es weiß und fühlt, daß kein Haar von seinem Haupte herabfällt ohne den Willen des himmlischen Vaters, so weiß er auch, daß, hat er gewartet auf die Kraft aus der Höhe, und hat er gehandelt in und mit dieser Kraft, so fällt auch kein menschliches Werk aus seinen Händen ohne den Willen seines Vaters im Himmel; der zählt alles was die Gläubigen in Demuth und Vertrauen unternehmen, aber er zählt es nicht nur sondern sammelt es auch, und wird den Erfolg nicht fehlen laßen, | wenn Zeit und Stunde da ist; und er segnet die Diener, die das Eine gethan, eben so rein mit dem Gefühl seiner Gnade, die in den Schwachen mächtig ist, und zur Vollendung ihrer Gesinnung wirkt, wie diejenigen welche er gebraucht zu seinen Werkzeugen, wenn seine Zeit und Stunde gekommen ist. Überlegen wir dies, m. g. F., so müßen wir sagen, wir sind alle immer fort in einer solchen Zeit des Wartens begriffen. Denn allerdings giebt es in jedem Augenblik etwas zu thun, wozu wir schon die lebendige Kraft in uns tragen, wozu wir uns schon gestärkt und gerüstet fühlen. Aber der welcher das Reich Gottes mit | allen Kräften die ihm verliehen sind zu bauen sucht, dem das Wohl seiner Brüder am Herzen liegt, für den giebt es außer demjenigen was er thun kann, und in deßen Thun er begriffen ist, gar vieles was er gern thun möchte, wovon er aber fühlt, und die Stimme des Herrn dazu ist in seinem Inneren, auch er habe noch zu warten bis er werde erfüllt werden mit der Kraft aus der Höhe; und nur auf diese Zeit des Wartens soll sich auf eine vorzügliche Weise nach den Worten unsers Textes und nach dem Beispiel der Jünger des Herrn unser einmüthiges Gebet beziehen. II. Und zwar zuerst deßwegen, | damit unser Warten auf die Kraft aus der Höhe, die Hoffnung die nicht zu Schanden werden läßt, nicht ausarte in unserm Gemüthe in das eitle und leere Hoffen und Harren, auf das was wir nicht herbeizuführen und zu berechnen im Stande sind, in jenes Hoffen welches den Menschen eitel und thöricht macht. Denn, m. th. F., daß wir gar sehr in Gefahr sind diese Verwechselung zu machen, und aus dem Einen in das Andre überzugehen, in dem wir uns selbst ohnmächtig fühlen und schwach, die Ruhe und die Sicherheit unsers Gemüthes zu erwarten von den äußeren Begebenheiten und nicht von der inneren stärkern Erregung | des göttlichen Geistes: o darüber darf nur jeder sein eigenes Herz fragen,

1–2 Vgl. Apg 1,7 7 Vgl. Lk 24,49 11–12 Vgl. Apg 1,7–8 24–25.29–30 Vgl. Lk 24,49; Apg 1,4–5.8 30 Röm 5,5

13 Vgl. 2Kor 12,9

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und darf nur umherschauen auf diejenigen, welche er wirklich halten muß für solche, die auf das Reich Gottes harren, so wird er das Gefühl erhalten, wie groß die Gefahr ist. Aber sie wird verringert durch das Gebet, weil uns dasselbe von dieser uns so oft zerstreuenden Betrachtung der Dinge, die in der Welt geschehen, zu dem hinführt, der alles leitet und der den Thron seiner Macht und Herrlichkeit aufgeschlagen hat nicht in der äußern Welt, sondern in dem Inneren des Gemüths. Darauf muß uns ja der Gedanke an Gott immer | hinführen, er muß unsre Betrachtung vorzüglich lenken auf das Verhältniß unsers Herzens zu ihm, was uns noch fehlt daran, daß er noch kräftiger und inniger kommen kann um Wohnung zu machen in unsern Herzen, was noch in uns der Wirkung seines Geistes und der Entwiklung seiner Gnadengaben widersteht; ja es muß uns das Gebet von dem Äußern auf das Innere, von der Welt und ihrem nichtigen Treiben in die fahrvollen Tiefen unsers eigenen Herzens kehren, und unsern Willen richten auf das nicht was außer uns in der Welt geschieht, sondern was sich in uns bleibend und lebendig gestalten soll durch die göttliche Gnade. Dann aber auch, m. g. F. ist | nächstdem das einmüthige Gebet, wie auch unser Text sagt, daß die Jünger des Herrn versammelt waren, und also nicht jeder für sich allein, sondern sie alle in inniger Gemeinschaft ihre Gemüther auf Gott richteten, zu welchem ihr Herr und Meister nach seiner eigenen Aussage zurükgegangen war, nach dem er sich leiblicher Weise von ihnen getrennt hatte, das ist ja auch oft noch eine tiefere Überlegung deßen was unser Gemüth beschäftigt vor den Augen Gottes. Indem wir ihm die Sache empfehlen die unser Inneres erfüllt, so ist es ja natürlich, daß wir mit einander erwägen, wie wir sie vorzüglich in seinem Sinn und Geist werden zu behandeln haben, daß wir uns | einander aufmerksam machen auf dasjenige was uns hinderlich werden kann in einer ihm wohlgefälligen und reinen Ausführung seines Willens, das jeder sich selbst vorhalte alles das, was ihn nach seiner besondern Beschaffenheit am meisten abführen kann von dem Wege des Rechtes sowohl in dem Falle des Gelingens als auch in dem Falle des Mißlingens. Und indem wir uns so unter einander im Gebet vor Gott aufmerksam machen und erkennen die Gefahr, die unser Herz uns bereiten könnte, und in dem wir die Beschaffenheit desjenigen was der gemeinsame Gegenstand unsrer Wünsche ist vor Gott zu reinigen, und unsre | Ansicht darüber zu reinigen suchen, damit sich nichts Menschliches, nichts Eitles, nichts Selbstgefälliges darein mische, und unser Streben kein anders sei als dies das Reich des Herrn auf Erden zu bauen, und die Gaben des Geistes anzuwenden zum gemeinen Nuz: o so wird dadurch der Augenblik desto 29 seiner] seinern 5–6 Jer 14,21; 17,12

34 Wünsche] Wünse 10–11 Vgl. Joh 14,23

37 Vgl. 1Kor 12,1–11

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schneller herbeigeführt werden, wo die Zeit erfüllt ist, die der Herr seiner Macht vorbehalten hat. – Aber es hilft uns auch das Gebet, m. g. F., endlich am meisten, dies beides, was wir in jedem Augenblik wirklich thun können und sollen, und das worauf unser Herz noch als auf ein Fernes und Künftiges gerichtet ist, in ein richtiges Verhältniß zu sezen, damit wir nicht, | wenn nun das Künftige das Größere ist, was aber in dem gegenwärtigen Augenblik von uns geschehen kann, das Kleinere, dieses über jenem vernachläßigen. Davon finden wir ein herrliches und schönes Beispiel in der Handlungsweise der Apostel zu dieser Zeit. Denn nachdem sie umgekehrt waren von dem Berge, auf welchem der Herr Abschied von ihnen genommen hatte, und einmüthig versammelt zu Jerusalem im Flehen und im Gebet, und ehe noch der Tag der Pfingsten herbeikam, wo sie mit der Kraft aus der Höhe angethan wurden, stand Petrus auf unter ihnen um vorzustellen, wie nothwendig | es sei, an der Stelle des verlornen Schaafes, welches den Herrn verrathen hatte, einen andern zu wählen, der mit ihnen gewandelt wäre die ganze Zeit über, in welcher der Erlöser unter ihnen aus und eingegangen war, von der Taufe Johannis an bis auf den Tag, da er von ihnen genommen ward, damit derselbe ein Zeuge seiner Auferstehung werden könne. Das war etwas was in dieser Zwischenzeit geschehen konnte; und seine Rede fand Eingang in die Gemüther der andern, und es geschah. Es war aber ein Kleines gegen dasjenige was an dem Tage der Pfingsten | mit ihnen vorging. Denn ob nun in jener Verkündigung des Evangeliums, mit welcher der Herr sie bei seinem Abschiede beauftragte, zuerst im ganzen jüdischen Lande und dann weiter über die Gränzen desselben hinaus, zu den heidnischen Völkern, ob da einer mehr oder weniger war, der das Werk des Herrn aufrichtig betreiben konnte, das erscheint im Ganzen als eine Kleinigkeit; aber sie wurde in jenen Tagen nicht übersehen, und eben das Gebet, das einmüthige Versammeltsein, mußte den Apostel aufmerksam gemacht haben auf die Lüke, die unter ihnen entstanden war, und sogleich trat er auf und machte jenen Vorschlag. O gewiß werden wir | uns gestehen müßen, wer in Beziehung auf das was geschehen soll seine Seele nicht hingiebt in eine träge Müßigkeit, und sie nicht zerstreut durch Ungeduld, sondern sie zusammenhält durch Gebet und einmüthiges Flehen, der wird auch am wenigsten das Kleine, was in der Zwischenzeit geschehen kann, in Beziehung auf das Große übersehen. Denn eben so wie vor dem Herrn tausend Jahre sind wie ein Tag, eben so verschwindet auch vor ihm der Unterschied zwischen dem Kleinen und dem Großen; alles ist klein im 25 weniger war] weniger 1–2 Vgl. Apg 1,7 12–20 Vgl. Apg 1,15–26 12–13.21–22 Vgl. Apg 2,1–4 15– 19 Vgl. Apg 1,21–22 22–25 Vgl. Lk 24,47–48; Apg 1,8 30 Vgl. Apg 1,15–22 35–36 Vgl. Ps 90,4

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Vergleich mit ihm, alles ist groß, insofern es ein Teil des Ganzen ist, wenn es auch nur ein kleiner Theil ist von dem, was wir in seinem | Reiche zu thun haben. Und das Gebet ist es was diesen Unterschied aufhebt, wie es das Warten ist was denselben zuerst aufdekt; jenes schärft das Gewißen, daß wir das Kleinste auch nicht verlaßen in dem wir das Größte erwarten. Was, m. g. F., was ist überhaupt im Allgemeinen dasjenige, was in jeder Zeit des Wartens geschehen kann? was anders als was die Apostel thaten, nämlich sich zuzugesellen denjenigen, der mit ihnen wirken konnte für die Sache des Herrn, den Bund der Liebe für das was in der Welt um uns her zu thun ist in Hinsicht auf den gnädigen Rathschluß Gottes mit den Menschen, nicht nur immer | fester zu knüpfen, sondern auch immer mehr zu vervollständigen, diejenigen aufzusuchen, welche wie Petrus in seiner Rede an die versammelten Jünger sagt, geneigt sind den Weg mit zu wandeln, durch alle solche Beweise der Kraft aus der Höhe die Zeit des Wartens zu erfüllen, und ist sie vorüber, und hat sich in uns entwikelt der göttliche Geist mit seinen köstlichen Gaben, dann noch herrlicher ausgerüstet aufzustehen, und das auszuführen was der einzelne Mensch niemals vermag, sondern was das gemeinsame Werk menschlicher Thätigkeit ist. So laßt uns dem Beispiel der Apostel folgen, in jedem Augenblik alles thun, was uns zu thun vorkommt, und alles zusammenfaßen, was wir erreichen können, damit wir auf diese Weise den Geist Gottes herabflehen aus der Höhe. Amen.

1 insofern ... Ganzen ist,] Ergänzung aus SAr 60, Bl. 141r 7–9 Vgl. Apg 1,15–26

12–13 Vgl. Apg 1,21–22

14 Vgl. Apg 1,4–5

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Sonnabend vor Pfingsten, 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 17,20–23 Nachschrift; SAr 78, Bl. 63r–89v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Vorbereitungspredigt und Einsegnungsrede

Predigt bei der Einsegnung am Pfingstheiligabende 1821. Am neunten Brachmonds. |

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Tex t. Johannis XVII, 20–23. Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, so durch ihr Wort an mich glauben werden: auf daß sie alle Eins seien, gleichwie du Vater in mir und ich in dir, daß auch sie in uns Eins seien, auf daß die Welt glaube, du habest mich gesandt: Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit, die du mir gegeben hast, daß sie Eins seien gleich wie wir Eins sind, Ich in ihnen und du in mir, auf daß sie vollkommen seien in Eins, und die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast, und liebest sie, gleich wie du mich liebest. |

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Diese Worte, m. a. F., sind aus dem Gebet, mit dem unser Herr das Amt der Lehre, welches er öffentlich und in dem vertrauten Kreise mit seinen näheren Jüngern verwaltet hatte, beschloß, und womit sich zugleich sein hohes priesterliches Amt, vermöge deßen er uns alle vertritt bei seinem Vater, anfing, indem er ihm seinem und unserm himmlischen Vater in diesem Gebet die ganze Fülle der Gläubigen aller Zeiten, die seiner Seele dabei vorschwebte, empfiehlt. Sie enthalten Wünsche und Ermahnungen ganz in genauer Beziehung auf das heilige Mahl des Herrn und deßen heiligen und großen Zwek, wie er es denn erst kurz vorher ehe er | dieses Gebet sprach für seine Jünger eingesezt hatte. Darum nun ist es uns allen ein doppeltes Mahl der Vereinung, Eins zu werden mit ihm, und Eins zu werden unter einander, immer vollkommner zu gedeihen zu einem geistigen Leibe, der

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1 Predigt] darüber von Schleiermachers Hand: Zurükgelegte Pfingstpredigten 12–18 Vgl. Joh 17 20–21 Vgl. Mt 26,26–28; Mk 14,22–24; Lk 22,19–20 1 Vgl. Eph 1,22; 4,15–16

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von ihm dem Haupte aus dem Himmel herab regiert und geleitet werde – das ist es, wozu uns dieses heilige Mahl gedeihen soll. Wenn aber der Herr in diesen Worten von seinem Vater erbittet, daß diejenigen sowohl welche er ihm unmittelbar darstellt, als auch diejenigen die durch ihr Wort an ihn gläubig werden sollten, vollkommen in | Eins sein möchten: so haben wir jezt eine besondere Veranlaßung, diesen Worten, die der Gegenstand unsrer Betrachtung sein sollen, noch eine nähere und eigenthümliche Beziehung zu geben. Diese Veranlaßung ist die, daß eine Anzahl junger Khristen, die hier unter uns sind, welche in dieser ihnen immer denkwürdigen und heiligen Stunde das Gelübde ihrer Taufe erneuern und vollständig machen wollen, und so in den Schooß unsrer evangelischen Kirche sollen aufgenommen werden, und morgen zum erstenmal der Segnungen, welche der Herr in sein heiliges Mahl gelegt hat, theilhaftig werden – ich stelle sie der Gemeinde dar, | und empfehle sie ihren herzlichen Wünschen und Gebeten. Die besondre Anwendung aber, die ich den Worten unsers Textes in dieser Beziehung geben will, ist die, daß zu dem vollkommnen Einssein derer, die unserm Herrn angehören, wie auch er selbst hier auf der einen Seite seiner Jünger gedenkt, und auf der andern derer, die durch ihr Wort an ihn gläubig werden würden, und aller künftigen Geschlechter, daß also zu der Erfüllung dieses Wortes unsers Herrn ganz vorzüglich gehört, daß wir auch vollkommen in Eins seien mit dem jungen Geschlecht der Khristen, welches unter uns aufwächst, und welches erst mit uns, | dann aber auch nach uns in dem Reiche Gottes arbeiten soll. Wie nothwendig diese Einheit des jedesmaligen zusammenlebenden ältern und jüngern Geschlechts in Khristo unserm Herrn sei, darüber, m. g. F., ist wohl nicht nöthig viel zu sagen. Aber ganz besonders finden darauf ihre Anwendung die Worte, die in dem Verlauf unsers Textes auch vorgekommen sind „auf daß die Welt erkenne, daß du mich gesandt hast.“ Denn woran soll sie das erkennen als an der festen Gründung und der immer weiteren Ausbreitung der Herrschaft, die unserm Herrn und Erlöser über das menschliche Geschlecht gegeben ist. Die beweist | sich aber darin, daß das heilige Wort seines Mundes, daß der Bund des Glaubens und der Liebe, den er aufgerichtet hat, sich fortpflanze von einem Geschlecht auf das andre, daß eins nach dem andern seine Knie beugen lerne vor dem, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Und wie anders, m. g. F., soll dies erreicht werden als eben durch das Ineinssein derer welche auf einander in demselben folgen? Und alle Welt erkennt, daß Gott unsern Herrn gesandt habe, ganz vorzüglich an der Ruhe und Stille, an dem seligen Frieden, in welchem sich das Reich Gottes auf Erden baut. Wie nun dies freilich vollkommen | so 4 ihn] ihm 34–35 Vgl. Phil 2,10; Mt 28,18

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lange wir hier auf Erden leben nicht zu erweisen ist, und wenn wir auf die weitere Verbreitung der Gemeine unsers Herrn über die von dem Geschlecht der Menschen bewohnte Erde sehen, und darin in jeder Zeit noch mancherlei Theilung und Uneinigkeit der Gemüther entgegentritt: so ist auch die liebevolle Vereinigung des ältern und des jüngern Geschlechts niemals vollkommen und nicht immer gleich. Bald baut sich die Gemeine des Herrn in Frieden und Ruhe von einem Geschlecht auf das andre, und ohne Störung gehen von dem einen auf das andre über die heiligen Güter, die das Erbe der Gläubigen bilden; bald aber auch sehen wir | eben in Beziehung auf das Reich Gottes und seine Bildung und Förderung auf Erden ein Geschlecht aufstehen gegen das andre, und den Frieden, in welchem die Jugend aus den Händen des gereiften Alters empfangen soll was jenes selbst beseßen hat durch die göttliche Gnade, den sehen wir oft auf mancherlei Weise gestört. Die göttliche Weisheit, m. g. F., die alles geordnet hat, weiß auch alles zum besten zu wenden; aber das kann niemals uns entschuldigen, wenn wir nicht alles was in unsern Kräften steht thun, um das Land der Einigkeit zu erhalten in der Kraft des Glaubens, und um, wie der Herr es in den Worten unsers Textes sagt, vollkommen | in Eins zu sein mit allen denen, die er an uns gewiesen, mit denen er uns geeinigt hat. Fragen wir uns aber, was denn nun eigentlich dazu gehört, daß diese so nöthige Einigung des ältern und des jüngern Geschlechts zum Segen der Gemeine des Herrn sich erhalte und durch nichts gestört werde, was dazu geschehen muß von unsrer Seite, das ältere Geschlecht meine ich, welches allmälig das jüngere einzuführen hat in das Reich Gottes und in den Genuß seiner Güter: so müßen wir uns wohl bald über dasjenige was hiezu nöthig ist mit einander vereinigen. Denn dieses Einssein, welches der Herr den | Seinen erbittet von seinem Vater, das ist, wie er es selbst sagt, das Einssein in ihm. Nicht damit sollen wir uns begnügen Eins zu sein und zu bleiben mit dem jüngern Geschlecht, welches unter uns aufwächst, inwiefern wir auf dasselbe fortzuerben und fortzupflanzen suchen alle Ordnungen der menschlichen Gesellschaft, die zu ihrem Bestehen nothwendig sind, und bei denen wir hoffen daß es sich wohlbefinden soll, oder insofern sich als wir vertrauen, es werde in Segen fortsezen was wir in Beziehung auf den Beruf der Menschen auf Erden begonnen haben; nicht nur darin sollen wir Eins mit ihm sein, daß wir suchen alle unsre Einsichten | in heilsamen weltlichen Dingen nicht untergehen zu laßen, sondern dem künftigen Geschlecht zu bewahren, und ihm so viel an uns steht Gelegenheit zu geben, daß es die Schäze menschlicher Wissenschaft und Tugend immer erweitere. Das alles ist schön und löblich, aber es ist wenig gegen das Eine, gegen das Größte und Geistigste, daß wir mit dem künftigen Geschlecht Eins sein sollen in ihm unserm Herrn. Dazu gehört dann freilich zuerst, m. g. F., daß er 4 Uneinigkeit] Unreiningkeit

38 Wissenschaft] Wischenschaft

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in uns ist, wie er es denn auch hier sagt, und daß dieses sein geistiges Leben in uns sich überall in unserm ganzen Dasein offenbart. O, m. g. F., wenn wir nur dafür erst recht sorgen, daß die Jugend | die unter uns aufwächst, nichts an uns sehe und wahrnehme, was sie nicht könnte in Übereinstimmung bringen mit dem kindlichen Glauben, mit der ehrfurchtsvollen Zuversicht, mit welcher sie auf das ältere Geschlecht hinblikt, daß nämlich Khristus der Herr unter demselben wohne und in jedem lebe, daß alle die seinen Namen bekennen auch von seinem Geiste getrieben werden; wenn sie überall, wo sie sich selbst versucht fühlt, und das Fleisch gelüstet gegen den Geist, in unsrer khristlichen Gottseligkeit erkennen den Sieg des Geistes über das Fleisch, möge sie auch die Spuren sehen von der Mühe und | Anstrengung, womit er ist erfochten worden; sähe sie nur dies, daß der Geist Gottes in uns sich immer mehr zu eigen macht und zu seinem Werkzeuge bildet alles was Gott in die menschliche Natur gelegt hat; sähe sie nur, daß wir selbst nicht uns selbst leben, sondern dem Herrn, dem wir sie auch immer mehr zu gewinnen suchen wollen – ja wenn dies wäre: o es kann nichts mächtiger wirken für das Heil des künftigen Geschlechts als eben dies. Offenbart sich die Liebe des Erlösers in unserm Dasein, erkennen sie in uns den Jüngern sein Bild: o dann werden sie sich auch mächtig hingezogen fühlen zu ihm, dann wird durch die natürliche Liebe | und Ehrfurcht, die sie gegen das ältere Geschlecht tragen, nicht nur gegen diejenigen, mit denen die Natur sie am unmittelbarsten und am innigsten verbunden hat, sondern gegen alle, denen sie zuerkennen müßen den Preis der Einsicht und der Erfahrung – das wird ein Mittel sein, daß mit derselben das viel Größere, die Liebe zu dem der sich die Menschen erworben hat, und die Ehrfurcht gegen den, in welchem die Fülle deßen liegt was ihr Herz mit Ehrfurcht und Bewunderung umfaßen kann, dies zieht mit der Liebe in ihre Seelen, und beide wurzeln immer tiefer, und umschlingen | sich immer inniger; und daraus entsteht das vollkommne Einssein in Khristo unserm Herrn. – Aber es gehört dann zweitens auch dies dazu, daß wir selbst es uns angelegen sein laßen, die jungen Seelen mit khristlicher Liebe zu umfaßen, und sie alle als uns angehörig zu umfaßen als den schönsten Theil unsers Berufes sie vor allem zu bewahren, was ihnen gefährlich werden könnte und hinderlich auf dem Wege des Heils. Die khristliche Jugend wird erzogen in der Stille des väterlichen Hauses in der Zucht und in der Vermahnung zu dem Herrn – und das ist ein großes und köstliches Gut; sie geht dann über in die Hände | der Diener des Wortes; die schließen ihr auf die geistigen Schäze, die in demselben verborgen sind, die suchen die Ahndungen der Frömmigkeit in ihrer Seele zu einem klaren Bewußtsein und 35 väterlichen] natürlichen 15 Vgl. Röm 14,7–8

34–36 Vgl. Eph 6,4

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zu einem lebendigen Triebe zu erhöhen und zu läutern; die zeichnen ihr das Bild deßen, der gekommen war und unser Fleisch und Blut an sich genommen hatte, aber der uns gleich war in Allem ohne die Sünde, und in dem die Fülle der Gottheit wohnte. Aber wenn der Kreis des Unterrichts geschloßen ist, wenn sie, wie jezt diesen jungen Khristen geschieht, aufgenommen | werden in den Schooß der khristlichen Kirche: dann verlaßen auch gleich oder bald so manche von ihnen mit dem Unterricht, der sie dem Worte Gottes befreundet hat, auch die Stille des väterlichen Hauses, und werden in mancherlei entfernte Verhältniße zerstreut. O wehe ihnen, wenn sie dann fürchten müßten in der Wüste zu wandeln; wehe ihnen, wenn sie nicht immer wieder befreundete Seelen, wenn sie nicht immer wieder freundliche Leiter und treue Führer fänden in dem erwachsenen Geschlecht, bis sie selbst von der Kindheit gereift sind zu dem | vollkommenen Mannesalter des Khristen. Ein zärtliches Auge offen zu behalten über die Jugend, die unter uns aufwächst, wie wir selbst bekannt sind mit allen Verzweigungen des menschlichen Verderbens, und keiner Seele keines ganz fremd ist, auf die ersten Regungen deßelben in ihren Seelen zu merken, damit wir sie warnen können ehe es zu spät ist, damit wir das Geistige in ihnen lebendig erhalten und stärken ehe das Fleischliche in ihnen Raum gewonnen hat, ihnen mitzutheilen aus dem Schaze der Erfahrungen unsers eigenen Lebens, was ihnen heilsam sein kann in dem ihrigen, und sie zusammengehalten | in dem Genuß und dem Gebrauch aller der heiligen Güter, die uns als Khristen gemein sind – das, m. g. F., das ist eine Pflicht, die uns nicht heilig genug sein kann, und die wir uns nicht oft genug vorhalten können. Sie ist ein gemeinsames Gut die Jugend, welche unter uns aufwächst, das erkennen wir dadurch an und bekennen es, daß wir sie schon in den ersten Tagen ihres Lebens aufnehmen in den Schooß der khristlichen Kirche; da bringen ihre Eltern sie dar dem Volke des gemeinsamen Herrn und Erlösers, und bekennen daß sie mehr ein Eigenthum dieses sind als ihr besonders; da empfangen sie dieselben geheimnißvoll | gesegnet durch das Waßerbad der Taufe zurük als ein theures Pfand, welches die Kirche der väterlichen und mütterlichen Sorge und Liebe anvertraut; und als die Bevollmächtigten dieser großen Gemeine des Herrn treiben sie das große Werk der Erziehung weiter, und nur wenn sie es so treiben dürfen sie hoffen, daß dasselbe gesegnet sein werde vor dem himmlischen Vater. Aber wie soll die Gemeine des Herrn und alle ihre Mitglieder das vergeßen, daß ihr Eigenthum und ihr Kleinod alle diejenigen sind, welche eben durch die Taufe schon in Glauben und Liebe zu Mitgliedern der Kirche aufgenommen sind. Gemeinsam | also ist auch die väterliche und mütterliche Sorgfalt 19 ihnen] ihren 2–3 Vgl. Phil 2,7; Hebr 4,15

3–4 Vgl. Kol 2,9

12–14 Vgl. Eph 4,11–13

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und Liebe. Wo uns ein kindliches Angesicht entgegenkommt, wo wir die heranwachsende Jugend sehen; darauf soll unsre Liebe achten, wie weit sich schon das Heil, welches das höchste für uns ist, in ihr entfaltet hat, wie viel wir erkennen von dem Frieden der Erlösung in ihrer Seele, wie viel wir wahrnehmen von den Spuren des göttlichen Geistes, der in ihrer Seele waltet; und denen zu helfen als ihren treuen Führern, denen zu dienen wo es Noth thut, das Schwache in ihnen zu stärken, feindselige Gewalten von ihnen abzuwähren, die Dunkelheit | zu erleuchten welche sie noch umgiebt, o darin sollen wir unermüdet sein, und kein Theil unsers Berufes soll uns lieber sein als dieser. Weil das Mahl des Herrn, zu deßen Feier wir uns heute hier vorbereiten wollen, die große Bestimmung hat, die ich vorher schon ausgesprochen habe, uns mit ihm und in ihm unter einander immer inniger zu vereinigen, wie da bei jedem zahlreichen Genuß deßelben die Mitglieder des ältern und des jüngern Geschlechts im lebendigen Glauben an die Gemeinschaft des Herrn neben einander und durch einander vereinigt sind: o so möge jedesmal der Entschluß uns belebend | ergreifen, keine Gelegenheit zu versäumen, wo wir helfen können an dem Heil der Jugend zu arbeiten, gern ihr zu ertheilen Rath und Trost, und nicht sparsam zu sein mit den Schäzen unsrer Erfahrung und unsrer erworbenen Weisheit, und überall wo unsre Seele selbst auf eine ausgezeichnete Weise geöffnet ist für die Eindrüke des khristlichen Glaubens, wo wir uns im Gebet dem Herrn nahen, da ihre Seelen im Ganzen nicht nur dem Erlöser zu gewinnen, sondern auch zuzusehen, wo wir die eine oder die andre finden, die wir Theil nehmen laßen können | an jedem von Gott gesegneten und ausgezeichneten Augenblik unsers Lebens. Denn unerwartet kommt jedem und vorzüglich dem jungen Geschlecht die Stunde der Versuchung. Wenn ihm nicht auch oft durch das Band der Liebe, wodurch es mit den Khristen vereinigt ist, eben so unerwartet erscheinen könnte eine Stunde der Erhebung und der Stärkung, wenn das geistige Leben nicht eben so seine eigenthümlichen Erregungen hätte und sich mittheilte, wie die sinnlichen Erregungen dieser Welt sich mittheilen: wie will jenes sich erhalten gegen diese? O so sei uns | denn die schöne Veranlaßung dieser Stunde eine neue gemeinsame Ermunterung, uns immer inniger im Glauben und in der Liebe zu verbinden mit der khristlichen Jugend, die unter uns ist, und es wohl zu bedenken, daß nicht nur ihren Angehörigen, daß nicht nur den Lehrern des Evangeliums, sondern daß der Gemeine des Herrn ohne Ausnahme empfohlen sind und anvertraut die jungen Gemüther, und daß wie wir nicht sind erhalten worden in der Gnade des Herrn ohne die liebreiche Aufmerksamkeit und Hülfleistung frommer und gläubiger Menschen, so auch die Jugend unter uns | übelberathen sein würde, wenn nicht die Liebe, welche in seinem hohenpriesterlichen Gebet der Erlöser erfleht für alle diejenigen, 11–13 Vgl. oben S. 681,22–682,1

40–1 Vgl. Joh 17,25–26

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die noch würden getrieben werden sein Heil zu suchen, wenn diese nicht so in unsre Seele eingreift, daß sie uns wichtig und werth macht jede ihrem Ursprung nach und vielleicht noch so unscheinbare Verbindung mit denen, die durch unser Wort gläubig geworden sind an ihn, unsern gemeinsamen Herrn und Meister. Dazu, m. g. F., dazu möge uns allen diese Feier, dazu jede ähnliche allen die daran Theil nehmen, immer gesegnet sein, | daß wir mit den Eltern und Angehörigen, die hier ihre Kinder dem Erlöser darbringen, uns in herzlicher Liebe vereinigen, nicht nur in herzlichem Gebet, sondern auch in dem theuern Gelübde, immerdar über ihre Seelen zu wachen, und sie immer zu erhalten in der Gemeinschaft mit dem, dem sie sich jezt geloben werden. Amen.

Einsegnungsrede. Geliebte Kinder. Unter allen den schönen Geschäften und Verrichtungen eines Dieners des göttlichen Worts giebt es keins, welches so lange Zeit vorher und nachher meine Seele bewegt und erfüllt, als wenn ich eine Anzahl khristlicher Kinder, die meinem Unterrichte anvertraut gewesen sind, aus demselben entlaßen, und in den Schooß der khristlichen und evangelischen Kirche aufnehmen soll. Es ist nicht ohne Unmuth, daß ich ein Band löse, welches durch mehrere Jahre größtentheils bestanden hat, und sich immer inniger knüpfte; es ist nicht ohne | Schmerz, daß ich irgend eine unmittelbare Wirkung auf die Gemüther aufhebe, die so nicht wiederkehrt. Und wenn ich dann bedenke, daß mit diesem Zeitpunkt zugleich der größte Theil unsrer Jugend aus der Stille des häuslichen Lebens herausgerißen, und in die Welt eingeführt wird: dann ist dies eine andre Veranlaßung zur Besorgniß. Es ist darin eine menschliche Schwäche, von welcher ich mich zu reinigen gesucht habe durch das was ich eben zu der Gemeinde geredet. Wohl kann es nicht die Einbildung eines Dieners des göttlichen Wortes sein, als | ob sein Dienst die Seelen halte, als ob auf seiner Wirkung ihr Heil beruhen könne; vielmehr soll er es ja fühlen und wißen, daß auch durch seinen Dienst und durch das Amt des Wortes und durch die Spendung der Sakramente, die ihm anvertraut ist, in der ganzen Gemeine der er dient der Sinn des wahren Glaubens und die Kraft der khristlichen Liebe wächst und wurzelt, der er dann getrost diejenigen überlaßen kann, die seiner näheren Aufsicht und Einwirkung entzogen werden. Und wenn ich in beiden angeregten Beziehungen die Frage der Schrift und ihre Antwort | vernehme 13 Geliebte Kinder] Glb. Kd.

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„wie denn wird die Jugend ihren Weg unsträflich gehen? Herr wenn sie sich hält an dein Wort“: so kann ich ja nicht anders als bei der Beendigung meines Unterrichts Gott dafür danken, daß auch in Euch die Kraft seines Wortes ist gewekt worden, daß er mir die Gabe verliehen hat und die Weisheit, es Euch vorzuhalten und mitzutheilen nach meinem besten Vermögen. Das ist aber der Kern des göttlichen Wortes, daß der Erlöser der Welt gekommen ist zu suchen und selig zu machen was verloren war, indem er sie erlöset von dem Zusammenhange des Gesezes | und der Sünde; und Ihr wißt es, das ist der Punkt gewesen, auf welchen alle meine Reden mit Euch immer zurükgekehrt sind, wovon sie auch ausgegangen sein mochten, daß auch Ihr euer ganzes Heil nur suchen und finden müßt in der Gemeinschaft mit dem Erlöser, daß es keinen Frieden mit Gott und keinen Frieden der Seele mit sich selbst giebt als nur durch ihn, und keinen richtigen reinen und frohen Wandel durch diese irdische Welt, als wenn wir sie betrachten als den Schauplaz seiner Gnade, auf welchem die Spuren seines erlösenden Wandels auf Erden | nimmer erlöschen sollen, und auf welchem wir alle sein Reich zu bauen und zu fördern berufen sind. Ihr werdet nun auf das innigste aufgenommen in diese beseligende Gemeinschaft des Erlösers, indem Ihr den Bund Eurer Taufe erneuert und zugelaßen werdet zu den Segnungen, die der Herr den Seinen in dem heiligen Mahl der Liebe und seines Gedächtnißes vergönnt hat, in welchem er verheißen sich auf das innigste mit allen gläubigen und heilsbegierigen Seelen zu verbinden. In dieser Gemeinschaft vereinigt Ihr Euch mit allen denen die an seinen Namen | glauben, und eben darum könnt Ihr und sollt Ihr getrost in dieselbe eintreten. Stehen vor eurer Seele die heiligen Verpflichtungen des Menschen, der sich Gott und dem Erlösers zum Eigenthum ergiebt, und ein Tempel sein will, in welchem der Geist Gottes wohne; und fühlt Ihr dabei die Schwächen Eurer Jugend und Eure noch nicht erstorbene Empfänglichkeit für so manches, was mehrere Menschen von Gott und von den ewigen Gütern des Heils abzieht als sie zu demselben hinführt: o seid dennoch getrost, es ist die Liebe | und die Treue der Khristen, mit denen ihr leben werdet, die überall bereit sein wird über Eure Seelen zu wachen, wenn Ihr nur bereit sein wollt, die Hülfe welche sie Euch anbiethen anzunehmen. Denn wie Ihr jezt Euer Gelübde ablegen werdet, so thut Euch auch das Gelübde treuer Liebe und herzlichen Beistandes die khristliche Kirche, in welche Ihr aufgenommen werdet. O wohin Ihr auch gehen möget, suchet nichts anderes auf als sie, diejenigen die Euch am meisten den Erlöser scheinen im Herzen zu tragen, 16 nimmer] immer welche,

19 Eurer] Euer

1–2 Vgl. Ps 119,9 6–7 Vgl. Lk 19,10 Lk 22,19–20 26–27 Vgl. 1Kor 3,16

28 erstorbene] verstorbene

35 welche]

20–22 Vgl. Mt 26,26–28; Mk 14,22–24;

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diejenigen aus deren ganzem Leben sich kund giebt das Bestreben sich ihm zu weihen – | denen überall am meisten gönnt Euer Vertrauen, denen naht Euch in Gleichheit des Herzens, denen Hülfe erbittet Euch, wenn Euch geistiger Rath und geistige Stärkung Noth thut, und wachset so immer inniger und kräftiger in einander in der heiligen Gemeinschaft der Gläubigen. Wenn sich Euch jezt eine andre Ansicht des Lebens eröffnet; wenn Ihr anfanget dem Herrn selbst Rechenschaft schuldig zu sein für eure Seelen, wenn Euch von jezt an zugetraut wird eine gewiße Reife des Urtheils oder wenn dies nicht ist eine Richtigkeit des Gefühls von dem göttlichen Geist, durch sein Wort in Euren Seelen | gewirkt; und Ihr fühlt, daß Ihr dieser Güter noch nicht Herrn und mächtig seid, und fühlt Euch selbst hülfsbedürftig: die Hülfe ist Euch nahe und gegenwärtig. Ihr tretet nun in einen Kreis, in welchem jeder als Bruder dem andern bereit ist zu jeglichen Diensten, am meisten aber zu allen denen, die sich auf das Heil der Seele beziehen und auf die Förderung des Reiches Khristi auf Erden. So tretet sie denn muthig und im Glauben an die neue Laufbahn des Khristen, die sich Euch jezt eröffnet; gehet in Zuversicht und mit Gebet entgegen den Verhältnißen des Lebens, die Eurer nun erwarten, | und befestiget Eure Herzen; und wenn Ihr jezt in einen größeren Kreis älterer und erfahrenerer Freunde eintretet, die Euch gern leiten und führen werden, o so wachet nicht nur über Eure Sachen, sondern auch über die künftige Zeit, die Euch zur Befestigung derselben aufgegeben ist, damit Ihr selbst reifer und vollkommner werdet, und dereinst das Gute auf das jüngere Geschlecht nach Euch forterbe, welches das ältere an Euch zu erweisen durch mich verspricht, indem es durch mich Eure Gelübde empfängt. Ich frage Euch also zuerst, ob Ihr jezt vor den Augen Gottes und vor dieser versammelten khristlichen Ge|meinde, erneuern wollt, und durch Euer eigenes Bekenntniß vervollständigen den Bund der Taufe, in welchem Ihr unserm Herrn und Erlöser geweiht seid als sein Eigenthum, und ob Ihr versprechet nicht Euch allein oder irgend etwas Anderes und Vergängliches in der Welt, sondern ihn unsern gemeinsamen Herrn und Erlöser zu lieben, für sein Reich Euch zu bilden, und dasselbe in Eurem künftigen Beruf nach Euren Kräften zu fördern – ist das Euer Gelübde und Euer Bewußtsein: so antwortet Ja. Wollt Ihr dazu beharren bei der khristlichen Lehre, welche enthalten ist in dem | gemeinsamen Bekenntnis des Glaubens, nach welchem Ihr seid unterrichtet worden, und Euer Heil und Eure Gerechtigkeit vor Gott nicht auf einem andern Wege suchen als in der Gemeinschaft mit Khristo unserm Herrn und Erlöser, und mit Eurer Weisheit und Kraft sondern allein dem Beistand seines Geistes vertrauen, und Euch diesen immer aufs neue erbitten von dem, der ihn allein geben kann; versprecht Ihr mir treue Beharrlich13 am] an

28 welchem] welchen

29 geweiht seid] geweicht sei

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keit in der Lehre des Evangeliums, in der Ihr unterwiesen seid – so antwortet Ja. Aber indem Ihr den Bund Eurer Taufe erneuert, so | werdet ihr nicht nur im Allgemeinen aufgenommen in den Schooß der khristlichen Kirche, sondern ihr werdet Mitglieder der evangelischen Kirche, in welcher ein theures Recht eines jeden Khristen liegt sich selbst aus dem Worte Gottes zu erbauen und darin zu forschen nach seinem besten Vermögen. Dieser Schaz des göttlichen Wortes wird Euch jezt auch übergeben. Allein wenn Ihr Euch der Segnungen desselben wahrhaft erfreuen wollt, so glaubt nicht, daß Ihr dies vermöget durch eine einsame und stille Betrachtung desselben; denn dazu ist es von dem Herrn nicht gegeben | und verkündigt. Wollt Ihr die Segnungen desselben richtig genießen, und soll Euch das Licht desselben leuchten auf Euren Wegen, so müßt Ihr Euch halten zu der Predigt des göttlichen Wortes, und müßt, wo Euch irgend Dunkelheit und Unverständlichkeit umfängt, oder wo Euer Gewißen irgend wanken will und zweifelt, die Belehrungen derer suchen, die reifer sind als Ihr sein könnt, und vor allen Dingen Euch mit herzlichem Vertrauen anschließen an diejenigen Diener des göttlichen Wortes, die am meisten Euer Herz anziehen; denn dazu habt Ihr Eure evangelische Freiheit. | Wollt Ihr auf diese Weise das Wort Gottes allezeit die Leuchte Eure Fußes sein laßen, und unsern khristlichen Gottesdienst nicht verlaßen, der dasselbe Eurer Seele immer mehr verklären soll – ist das Euer khristliches und ernstes Versprechen; so antwortet Ja. Das Köstlichste aber was Ihr jezt empfanget, das ist der Genuß des heiligen Mahles, in welchem vorzüglich die khristliche Gemeinde gegründet ist, und in welchem ihre Mitglieder das Zeugniß ablegen, mit ihr Eins zu sein. Ihr kennt die herrlichen Verheißungen, die der Herr damit verbunden hat, und es sind Euch gewiß auch in Eurer kurzen Erfahrung und Beobachtung Zeichen geworden von den Segnungen, die dasselbe über die Gemüther der Gläubigen verbreitet. Es ist das herrlichste Stärkungsmittel des Glaubens, es ist die innigste Verbindung der erlösten Seele mit ihm dem Erlöser, es ist das Mittel, wodurch der Bund der Liebe unter allen die an seinen Namen glauben immer mehr befestigt und immer enger geknüpft wird. Wollt Ihr es heilig halten, wollt Ihr es gebrauchen sooft euer Herz darnach verlangt, und Euch dabei vor den Augen Gottes prüfen, was euch am meisten Noth thut für das Heil Eurer Seele von Gott zu | erbitten, damit das köstliche Recht, welches Ihr jezt erlangt, Euch nicht umsonst gegeben sei, sondern Euch eine unversiegliche Quelle des Segens sei in Euerm ganzen Leben – ist das Euer khristliches Versprechen, so antwortet Ja. 17 herzlichem] herzlichen Euern

27 Erfahrung] Erfahrungen

12–13.19–20 Vgl. Ps 119,105 Lk 22,15–20

28 die] den

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26–27 Vgl. Mt 26,26–29; Mk 14,22–25;

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Wohlan denn, so bleibt bei dem guten Bekenntniß, welches Ihr jezt bekannt habt; der Herr aber spreche Ja und Amen zu Euerm Wort. Auf dieses Wort aber nehme ich Euch jezt auf als verordneter Diener des göttlichen Wortes, indem ich die Erneuerung eures Taufbundes von Euch annehme, in den Schooß der evangelischen Kirche, in welcher ich Euch berechtige in derselben ohne Euer Gewißen zu beengen durch | die Verschiedenheit des einen oder des andern Glaubensbekenntnißes, Euch überall in der evangelischen Kirche, wo sie vereint ist da zu halten zu dem khristlichen Gottesdienst und zu dem Sakrament des Abendmahles, wo Euer Herz Euch am meisten hinzieht, und wo ihr Euch die heilsamsten Segnungen versprechen könnt. Ich ertheile Euch das Recht, als vollkommne Glieder der khristlichen Gesellschaft und als solche, die da wißen was die Aufnahme in diesen heiligen Bund des Glaubens und der Liebe bedeutet, Zeugen zu sein bei der Taufe khristlicher Kinder, für sie das Gelübde abzulegen | welches Ihr jezt für Euch selbst ableget, und Euch als ihre älteren Freunde die Sorge für ihre Seele empfohlen sein zu laßen. Ich ertheile Euch das Recht, als solche, welche die Heiligkeit des Glaubens kennen, und deren Gewißen reif geworden ist durch den Unterricht des göttlichen Worts, überall wo es in Euerm Leben die Obrigkeit von Euch fodern könnte, Euer Zeugniß von der Wahrheit zu bekräftigen in dem Namen Gottes. Und so tretet jezt ein in die Gemeinschaft der Khristen, tretet herein und bestätiget mir das Versprechen welches Ihr abgelegt habt durch einen Handschlag | der Euch binde als der heiligste Eid, und empfanget darauf den Segen, den die khristliche Kirche in ihrer Gemeinschaft den Gläubigen ertheilt. Der Herr segne Dich und behüte Dich; der Herr erleuchte sein Angesicht über Dir und sei Dir gnädig; der Herr erhebe sein Angesicht auf Dich und gebe Dir seinen Frieden. Amen. Kniet nun nieder und laßt uns beten. Heiliger barmherziger Gott und Vater, der du auch diese jungen Seelen dir angeeignet hast durch die Erlösung Deines Sohnes, und sie berufen hast von dem eigenen irdischen Wandel zu dem himmlischen Vaterland, wir rufen dich an, laß an ihnen gesegnet sein | das bisherige Wort khristlicher Erziehung und khristlichen Unterrichts, wozu die Eltern, denen du sie geschenkt, die Angehörigen die für sie gesorgt, und die Lehrer des göttlichen Wortes, die sie unterwiesen haben, von dir gesezt waren. Indem sie jezt den Bund des guten Gewißens mit Gott erneuert haben, und aufgenommen sind in den Schooß der Gemeinde deines Sohnes: o so laß auch ihnen immer reichlicher zu Theil werden 25 Der] „Der

38 reichlicher] reinlicher

25–27 Num 6,24–26

30–32 Vgl. Hebr 11,16

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die Gaben deines Geistes; erleuchte sie immer mehr durch dein heiliges Wort, erhalte sie auf dem Wege des Lebens, und so bitten wir für sie wie unser Herr für uns alle gebeten hat: bewahre sie vor dem Übel, und | laß sie immer inniger im Glauben und in der Liebe mit der Gemeine deines Sohnes, der sie jezt einverleibt sind, geeinigt werden, daß sie heranwachsen zur Freude derer, denen du sie besonders anvertrauet hast, daß sie das Werk deines Sohnes fördern, wo du einen jeden von ihnen hinsenden wirst, in dem Kreise ihres Berufs, daß sie um in Einem Alles zusammenzufaßen, das Bild deines Sohnes immer vollkommner gestalten mögen in ihrem Herzen, und so vollkommen Eins sein mögen durch ihn. Dazu laß auch in ihrem ganzen künftigen Leben gesegnet sein unsre khristliche Erbauung, die stille | Betrachtung deines Wortes um den Genuß des heiligen Sakraments, welches dein Sohn den Gläubigen gesezt hat. Indem wir aber für sie bitten, gütiger Gott, o so bitten wir auch für uns; stärke uns alle in der heiligen Pflicht, daß jeder wache über des andern Seele, daß der Stärkere beistehe dem Schwächeren, damit überall Eine Kraft, die Kraft des geistigen Lebens, die von deinem Sohn kommt, uns alle durchdringe, und immer herrlicher dein Reich sich unter uns erbaue. Amen.

13 dein] dem

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Am 11. Juni 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Pfingstmontag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 3,2–3 Nachschrift; SAr 78, Bl. 90r–104v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 78r–79r; Gemberg Keine

Tex t. Galater III, 2–3. Das will ich allein von euch lernen: habt ihr den Geist empfangen durch des Gesezes Werke oder durch die Predigt vom Glauben? Seid ihr so unverständig? Im Geist habt ihr angefangen, wollt ihr es denn nun im Fleisch vollenden? Die nächste und unmittelbare Absicht des Apostels, m. a. F., bei diesen Worten ist die. Es hatten sich in die Gemeinden, an welche dieser Brief gerichtet ist, solche eingeschlichen, welche die Khristen überreden wollten, auch diejenigen nämlich, die durch ihre Geburt und Abstammung dem Geseze Mosis nicht verpflichtet waren, daß ohnerachtet sie das Evangelium angenommen hatten und | an den Erlöser glaubten, sie dennoch auch die Werke des Gesezes vollbringen, und sich demselben unterwerfen müßten. Und um diese zu wiederlegen, und den Khristen nicht ein Joch aufzuladen, welches auch die Väter selbst, denen es ursprünglich angehörte, und die bei dem Gehorsam unter demselben gebohren und erzogen waren, nicht zu tragen vermocht hatten, giebt der Apostel in den verlesenen Worten den Galatern zu bedenken, wie und wodurch sie den Geist, der unter ihnen mächtig war, und wie er sagt große Thaten verrichtete, empfangen hätten, ob durch die Werke des Gesezes oder durch die Predigt vom Glauben. Wir sehen | hieraus, wie er eben in dem göttlichen Geist, deßen Ausgießung wir in diesen herrlichen Festtagen mit einander gedenken, das Kräftigste und Wesentlichste des Khristenthums findet, indem er nämlich den Schluß macht, daß wenn die Khristen den göttlichen Geist hätten empfangen können ohne die Werke des Gesezes, ihnen auch das Gesez etwas Überflüßiges 1 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Zweiter Pfingsttag 8–12 Vgl. Gal 2,4

13–16 Vgl. Apg 15,10

24 Gesez] Gesezt

18–19 Vgl. Gal 3,5

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und Unnüzes wäre, und wenn sie den heiligen Geist empfangen hätten durch die Predigt vom Glauben, sie auch an diesem und an der Predigt vom Glauben, den der Geist in ihnen gewirkt habe, vollkommen Genüge haben könnten. Und wir sehen nun in diesen Worten zugleich die Ansicht des Apostels über die große Begebenheit der ersten Ausgießung | des göttlichen Geistes. Denn diejenigen, welche ihn damals empfingen, wenn sie gleich selbst in ihrer verwundernden Rede mancherlei Gegenden zum Theil entfernt von der Hauptstadt des jüdischen Landes namhaft machen, aus denen sie herstammten, und in denen sie die großen Thaten der Apostel verkündeten, so waren sie doch sämtlich Juden, und keiner unter ihnen, der nicht dem Geseze Mosis wäre verpflichtet gewesen. Der Apostel aber wohl wißend, wie damals diejenigen, welche die Predigt des Petrus gern annahmen und sich taufen ließen, mit der Vergebung der Sünden zugleich, wie Petrus ihnen verheißen, die Gabe des Geistes empfangen hatten, ist doch der festen Ueberzeugung, daß dieselbe in keinem Zusammenhange | stehe mit dem Gesez, dem jene verpflichtet waren, und deßen Werke sie nach bestem Vermögen zu verrichten suchten, sondern lediglich damit, daß sie die Predigt vom Glauben gern angenommen hatten. So laßt uns nun in unsrer gegenwärtigen Betrachtung die Hauptfrage mit einander erwägen, wie sich Gesez und Glaube mit einander in Beziehung auf den göttlichen Geist und deßen Wirksamkeit in dem Herzen der Menschen verhalten, und wie wahr es ist, was der Apostel sagt, daß der Geist nicht kommt durch des Gesezes Werke, sondern lediglich durch die Predigt vom Glauben. I. Wenn wir aber des Apostels Ueberzeugung theilen, daß | der Geist Gottes nicht komme in die Herzen der Menschen vermöge der Werke des Gesezes: so dürfen wir nicht allein an jenes Gesez Mosis denken, welches der Apostel zunächst im Auge hatte bei seiner Rede, sondern überhaupt an jegliches Gesez, sei es ein menschliches und gebe sich auch nur dafür aus, oder sei es auch ein göttliches – aus des Gesezes Werken kommt dem Menschen niemals der Geist Gottes. Nämlich ein Gesez kann nicht gegeben werden über das was der Mensch innerlich sein soll; sondern durch ein Gesez kann nur vorgeschrieben werden was er thun soll. Wünschen können wir wohl und aussprechen, wie es gut sei, daß | der Mensch innerlich beschaffen sei; aber ein Gesez darüber vermag niemand zu geben. Denn wenn es dem Menschen gegeben würde, so würde er mit Recht sagen: „ich vermag aber so nicht zu sein, und mir kann also auch das Gesez nicht gelten, ich kann mich demselben mit Grund der Wahrheit nicht unterwerfen.“ Dagegen 7 verwundernden] verwundenden 5–6 Vgl. Apg 2,1–4

11 Mosis] Moses

6–11 Vgl. Apg 2,5–12

27 Mosis] Moses

12–14 Vgl. Apg 2,37–42

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wenn der Mensch eben so sagen will in Beziehung auf ein Gesez, welches ihm vorschreibt, was er thun soll und was nicht: so ist als die Sache des Gesezgebers und derer die es verwalten, ihn zu wiederlegen. Denn indem sie anwenden die Mittel, durch welche ein jedes menschliches Gesez sich seine Kraft zu verschaffen weiß, die Belohnung und die Strafe, so zeigen | sie dem Menschen, daß, wie er wohl könne unterlaßen was das Gesez ihm verbietet, indem es die Strafe droht, und wie er wohl thun könne was es ihm gebietet, indem es ihm die Belohnung vorhält, doch aller Dinge die Kraft des Thuns und des Laßens in ihm sein muß. Indem aber der Apostel vor den Worten unsers Textes in einem Gespräche, welches er mit seinem Amtsgenoßen Petrus hatte, aus einander sezt, durch des Gesezes Werke wird kein Mensch vor Gott gerecht: so müßen wir es selbst sagen, geht das Gesez nur auf die Thaten des Menschen, so kann man an denen nicht unterscheiden, ob sie hervorgegangen sind aus dem inneren Wohlgefallen an dem was das Gesez gebietet, aus dem freien | und regen Mißfallen an dem was das Gesez untersagt; oder ob sie hervorgegangen sind aus der Hoffnung auf die Belohnung oder aus der Furcht vor der Strafe. Und eben darum, weil das den Menschen nicht gerecht machen kann vor Gott, was nur ein Werk der Furcht ist oder der Hoffnung – denn die Liebe die allein göttlich ist treibt die Furcht aus, und die Liebe bedarf keiner Hoffnung, weil sie der innigste und vollkommenste Genuß selbst ist – eben deßwegen können des Gesezes Werke den Menschen nicht gerecht machen. Gerecht aber wird der Mensch vor Gott nur dadurch, daß er ihm innerlich verwandt ist und angehört, d. h., dadurch daß der Geist Gottes in seinem Herzen lebt. Wird also der Mensch nicht gerecht vor Gott durch des Gesezes Werke, so kann der Mensch den Geist Gottes auch | nicht empfangen durch des Gesezes Werke. Wenn nun aber jemand sagen wollte: wie denn? sollen wir, die wir uns des Geistes Gottes rühmen dürfen, gar kein Gesez haben, und gar nicht thun was das Gesez vorschreibt? so antworte ich mit dem Apostel „die Frucht des Geistes ist Friede und Freude, Gerechtigkeit und Gütigkeit, Mildigkeit und vorzüglich alles Gute was wohlgefällig ist vor Gott.“ Wo der Geist Gottes ist, da geht das Alles aus dem von ihm erfüllten Herzen des Menschen hervor – aber ohne Gesez. Denn wie der Apostel sagt „gegen solche ist das Gesez nicht“; das Gesez aber wo es ist ist immer gegen den Menschen, indem es voraussezt, daß er dasjenige nicht wolle was es befiehlt und daß er dasjenige | wolle was es untersagt; denn was mit dem freien inneren Triebe und Wohlgefallen des Menschen übereinstimmt, das ist ihm kein Gesez, dabei fragt er gar nicht darnach, ob es ein Gesez für 7 verbietet] verbittet 9–11 Vgl. Gal 2,11–21 11–12 Vgl. Gal 2,16 19–20 Vgl. 1Joh 4,18 25 Vgl. Gal 2,16 30–31 Vgl. Gal 5,22 verbunden mit 1Tim 2,3 33–34 Gal 5,23

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oder dagegen giebt, sondern wie der Apostel sagt „die Liebe Khristi dringet uns also“, so ist dann der Mensch von einem mächtigen Triebe in sich gedrungen, dem er nicht wiederstehen kann; und dieser Trieb, der alles Gottgefällige wirkt, ist eben die in ihm lebende Kraft des göttlichen Geistes; und so hat er denn und bedarf keines Gesezes. Wenn aber jemand fragen möchte „aber der Diener Gottes, welcher das Gesez gegeben hat, durch deßen Mund und unter deßen Ansehen es ist gegründet worden, welches der Apostel hier den Khristen als etwas Ueberflüßiges darstellt, und so jeder der es vermag, | und den Gott dazu ausrüstet, das Gesez den Menschen zu geben, war jener und sind diese nicht alle immer gewesen Männer Gottes, und also auch von dem Geiste Gottes erfüllt?“ Wohl sind sie es gewesen, und wer vermöchte es zu leugnen? Aber eben deßwegen weil sie in der Kraft des Geistes das Gesez gegeben haben, denjenigen aber, die das Gesez befolgen sollten, es nur deßhalb ein Gesez war, weil sie dieselbe Kraft des Geistes nicht hatten: so können auch alle Werke des Gesezes niemals den gerecht machen, der sie befolgt, sondern nur den, der das Gesez gegeben hat. Hat der es ausgerüstet mit der Kraft und mit dem Ansehen, daß diejenigen, denen es gegeben ist, dem Geseze nicht wiederstehen können, sei es nun mit der Kraft der Belohnung | und der Bestrafung, oder sei es mit der Kraft der Gewöhnung und der Sitte: so sind alle diese Werke, die aus dem Gesez hervorgehen, seine Werke, und alle, die des Gesezes Werke thun, sind nichts anderes als Diener deßen, der das Gesez gegeben hat, und alles Vortreffliche was daraus entspringt ist nur dem zuzuschreiben, der das Gesez so eingerichtet und gegeben hat, und nicht denen die es befolgen. Daher sehen wir auch überall in dem Gebiete der menschlichen Dinge diese nicht verwerfliche sondern löbliche Einrichtung, daß je mehr sich in den Menschen der lebendige Geist regt, je mehr sie im Stande sind zu unterscheiden, was aus der äußeren Gewalt der Furcht und der Hoffnung und was aus dem inneren freien | Triebe und Wohlgefallen hervorgeht, je mehr sie entzündet sind von freier Liebe und Lust, um desto mehr begehren sie nicht solche zu sein, die des Gesezes Werke thun, sondern solche, aus denen das Gesez hervorgeht, und die da helfen es geben, damit die Werke desselben ihnen zu einer wenn auch nur menschlichen Gerechtigkeit gereichen, und nicht allein deßen That seien, der es giebt, ihnen aber fremd und ohne Zurechnung. Darum steht nun zwischen dem Geist und dem Gesez die Sache so: Jegliches Gesez geht hervor aus der Kraft des Geistes; aber theilt sich diese mit, so hört das Gesez auf Gesez zu sein, und die Werke, die aus der Kraft des Geistes hervorgehen, sind Früchte des Geistes; theilt sich aber die Kraft des Geistes, die | das Gesez schafft, nicht mit, so sind 26 Einrichtung] Einsichtung 1–2 Vgl. 2Kor 5,14

38 Vgl. Gal 5,22–23

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auch die Werke des Gesezes nicht fähig gerecht zu machen diejenigen welche sie vollbringen, eben weil sie nicht aus der Kraft des Geistes hervorgegangen sind; und die Werke des Menschen vermögen nicht ihm den Geist mitzutheilen, sondern sie zeigen ihm nur, daß er den Geist nicht hat, weil er sonst die Werke vollbringen würde nicht als Werke des Gesezes, sondern als Früchte des Geistes[.] Das sind zunächst auch gar nicht die Thaten und die Werke, über welche sich überhaupt ein Gesez geben läßt, sondern sie sind, wie ich es vorher aus den späteren Worten des Apostels aus demselben Briefe angeführt habe, es sind die Kräfte und Tugenden, welche der göttliche Geist im Menschen entwikelt, | und aus denen erst die Thaten hervorgehen, welche zeigen, daß derjenige, der sie vermag und ihrer mächtig ist, keines Gesezes weiter bedarf. Darum, m. g. F., ist nichts verkehrter als wenn Khristen sich selbst oder unter einander richten wollen nach den Werken des Gesezes, wenn der eine für den andern ein solches aufstellt, und dann mit achtsamen Bliken auf das Leben desselben hinsieht, ob er dies und jenes thut oder ob nicht, ob er sich dies oder jenes versagt oder erlaubt, oder ob nicht, sondern nur nach den Früchten des Geistes soll jeder fragen bei sich selbst und bei andern; denn es kann wohl sein, daß der eine sich etwas erlaubt was der andre sich versagt, und daß der eine sich gebunden fühlt etwas nicht zu | thun, was der andre nach seiner Ueberzeugung für erlaubt hält; sehen wir aber auf die Frucht des Geistes, so ist sie in beiden dieselbe – denn wo der Geist ist, da sind alle diese herrlichen Früchte der Gottseligkeit, der Liebe und des Glaubens. II. Und nun laßt uns zweitens sehen, was der Apostel damit meint, daß er sagt „ihr habt den Geist empfangen durch die Predigt vom Glauben.“ Zuerst nämlich meint er das daß dies beides, wiewohl es nicht unmittelbar entgegengesezte Dinge sind, den Geist empfangen durch die Werke des Gesezes, und den Geist empfangen durch die Predigt vom Glauben, doch einander wahrhaft entgegengesezt ist, und sich nicht eins mit dem andern vertragen kann. | Denn was spricht der Glaube? Der Glaube spricht eben wie es der Apostel vorher sagt „durch des Gesezes Werke kann kein Fleisch gerecht werden vor Gott“; aber nicht nur dies, sondern auch „wir sind mit Khristo dem Gesez gestorben, auf daß wir mit ihm leben möchten, und gerecht werden durch den Glauben.“ Wir sind mit Khristo gestorben dem Gesez, weil nämlich das Gesez Khristum getödtet hat. Denn was sagten die Hohenpriester und die Ältesten seines Volks, als sie ihn dem römischen Landpfle10 entwikelt] entwiekelt

34 daß] das

8–12 Vgl. oben zu S. 695,30–34: Gal 5,22–23 33 Gal 2,16 33–35 Vgl. Gal 2,16.19–20

21–23 Vgl. Gal 5,22–23

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ger überlieferten? „Wir haben ein Gesez, und nach dem Gesez muß er sterben, weil er sich selbst zu Gottes Sohn gemacht hat.“ Das war freilich eine falsche Auslegung des | Gesezes; und der Herr, der von sich selbst sagt, er sei nicht gekommen das Gesez aufzulösen, sondern das Gesez zu ergänzen und zu vervollkommnen, der gewiß konnte nichts gethan haben, wofür ihn das Gesez selbst, hätte es reden und sich vertheidigen können, des Lebens würde verlustig erklärt haben. Aber eben dadurch, daß dennoch durch das Gesez und unter dem Vorwande des Gesezes Khristus ist getödtet worden, müßen wir alle einsehen und auf das innigste fühlen, wie ein jedes Gesez der verkehrten Auslegung und dem bis auf das Aeußerste ausartenden Mißbrauch unterworfen ist, und schon deßwegen kein Fleisch durch dasselbe gerecht werden kann vor Gott, und | der Mensch, der nach der Wahrheit strebt, sich bei den Werken des Gesezes nicht beruhigen kann. Und das sehen wir überall in den menschlichen Dingen, wie alle auch die besten Geseze eines solchen Mißbrauchs und einer solchen falschen Anwendung fähig sind, wenn sie in die Hände von solchen Menschen kommen, in denen der Geist und der innerste Sinn des Gesezes nicht lebt. Wenn aber nur solche das Gesez verwalten, in denen der Geist lebt, dann ist es wieder der Geist, aus dem die heilsamen Früchte kommen, und nicht das Gesez. Wir also, sagt der Apostel, sind eben deßwegen, weil das Gesez vermochte Khristum zu tödten, in dem allein wir unser Leben haben und finden, eben deßwegen sind wir dem Gesez abgestorben, und müßen bekennen, | könnte das Gesez den Menschen gerecht machen vor Gott, so wäre Khristus vergeblich gestorben. Indem nun der Glaube, der Glaube daß Gott seinen Sohn in die Welt gesandt hat, um in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm die Menschen selig zu machen, indem dieser Glaube uns zu gleicher Zeit von dem Gesez, von der Beruhigung bei dem Gesez und von der Rechtfertigung durch das Gesez abwendig macht: so ist offenbar, daß der Geist, der aus der Predigt vom Glauben kommt, nicht kann durch die Werke des Gesezes kommen; denn der Glaube treibt das Gesez aus. Fragen wir aber nun, wie kommt denn der Geist Gottes in die Herzen der Menschen durch die Predigt vom Glauben? so müßen | wir sagen, er könnte es nicht, wenn er nicht schon ausgegoßen wäre in der Welt, wenn er nicht als die unmittelbare Gabe des Erlösers zunächst in denen gewohnt hätte, die ihn in den Tagen seines irdischen Lebens erkannten als denjenigen, der allein Worte des ewigen Lebens habe, als den Einigen Sohn des lebendigen Got5 vervollkommnen] vervollkommen der

7 verlustig] verlustigt

18 ist es] ist

34 die]

1–2 Joh 19,7 3–5 Vgl. Mt 5,17 5,22 20–24 Vgl. Gal 2,19–21 36–1 Vgl. Mt 16,16

11–12 Röm 3,20; Gal 2,16 19 Vgl. Gal 24–26 Vgl. Lk 19,10 35–36 Vgl. Joh 6,68

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tes. Indem nun der göttliche Geist in denen wohnte und sie aufregte, das Leben welches sie in der Gemeinschaft mit dem Erlöser gefunden hatten, und welches sie frei gemacht hatte von allem todten Buchstaben und von allem fleischlichen und irdischen Tichten und Trachten, dieses auszubreiten in den Herzen der Menschen: so geschieht es nun, daß dieser göttliche Geist, der eine Quelle | des Lebens ist, welches sich ergießt aus jedem Herzen, das von demselben erfüllt ist, aus den Seelen der Apostel durch ihr Wort in diejenigen einströmt, welche die Predigt vom Glauben gern annehmen. Denn wenn der Mensch sich deßen bewußt ist, daß er allerdings vermag die Werke des Gesezes zu vollbringen, so das Gesez nur mit der gehörigen Kraft in ihm hervortritt, aber er dann inne wird, wie wenig es mit einem Gesez sein kann, welches eben so gut, wie es im Stande gewesen ist den Fürsten des Lebens zu tödten, auch im Stande sein muß, jegliches andre Leben in dem Herzen und dem Gemüthe des Menschen zu tödten, und ihm nur vorgehalten werden statt des Buchstabens alle Früchte des Geistes, | die der Apostel namhaft macht, indem ihm vorgehalten wird in der Gemeinschaft mit dem Erlöser die Welt zu verleugnen, und nach dem himmlischen Vaterland zu trachten: so wandelt sich in ihm das Gefühl die Werke des Gesezes zu thun um in das Gefühl des Unvermögens, ein solches geistiges Leben in sich zu erweken, und er ruft eben mit jenen ersten Hörern der Apostel „ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun daß wir selig werden”? welche Frage eben das Bekenntniß in sich schließt, daß sie die Kraft jene Seligkeit in sich hervorzurufen nicht in sich trugen. Aber jenes Gefühl des Unvermögens – das ist die Sehnsucht, die den Menschen des göttlichen | Geistes empfänglich macht. Wäre er nun nicht da dieser Geist Gottes, dann möchte der Mensch fragen: „wer wird in den Himmel hinaufsteigen, und ihn herabholen auf die Erde? oder wer wird über das Meer fahren und ihn zu uns bringen“? Aber der Geist selbst sagt „das Wort Gottes ist dir nahe;“ und eben in dem Worte Gottes, eben in der Predigt vom Glauben, eben in dem Anerkennen Jesu als deßen, den der Vater gesandt hat in die Welt, um das Verlorene selig zu machen, darin eben theilt sich der Geist dem Menschen mit, und kommt durch die Predigt vom Glauben. Das ist auch die Erfahrung eines jeden, daß auf eine andre Weise als auf diese wir ihn | nicht empfangen haben. Wohlan denn, m. g. F., wenn wir uns nun dieser himmlischen Gabe erfreuen; wenn der Geist Gottes in unserm Herzen uns das Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind, eben deshalb weil er der Geist seines Sohnes in uns wohnt; wenn der Trieb in unsern 29 Predigt] Prediegt

33 auf] auch

3–4 Vgl. Röm 7,6; 2Kor 3,6 verbunden mit Gen 6,5 15–16 Vgl. Gal 5,22–23 17–18 Vgl. Hebr 11,16 20–22 Vgl. Apg 2,37 26–29 Vgl. Dtn 30,11–14 (zitiert in Röm 10,6–8) 30–31 Vgl. Joh 3,17; Mt 18,11; Lk 19,10 35–36 Vgl. Röm 8,16

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Herzen ist diesen Geist mitzutheilen, und unser innigster Wunsch, daß er immer kräftiger und immer weiter verbreitet in den Herzen aller Menschen wohnen möge: was haben wir dann, indem wir selbst der Seligkeit durch ihn theilhaftig geworden sind, was haben wir dann zu thun, um diese Seligkeit weiter zu fördern unter unsern Brüdern? Nichts anders als | daß wir ausbreiten die Predigt vom Glauben; nichts anders als daß wir überall das Zeugniß ablegen, daß es kein anderes Heil giebt für die Menschen als in dem Namen Jesu von Nazareth; nicht anders als dadurch, daß wir überall durch Wort und That bekennen, daß dasjenige was gottgefällig ist in unserm Leben und Streben, nur der Drang ist der Liebe zu Khristo und die Frucht des Geistes. Dadurch müßen wir bekennen, daß wir durch nichts Anderes die Welt überwinden, in keiner andern Kraft dem Bösen Wiederstand leisten, in keiner andern Kraft beharren, und nicht müde werden Gutes zu thun, als in der Kraft des Glaubens, | daß das geistige Reich Gottes, welches Jesus Khristus unser Erlöser in der Welt gestiftet hat, darin bestehen muß, daß er mit der Fülle der Gottheit, die in ihm war, ewig und immerdar unter den Seinigen sein muß bis an das Ende der Tage, und daß diese Fülle sich einem jeglichen nach seinem Maaße mittheilt durch die Verbreitung des Geistes, der immer kräftiger und schöner lebt in der Welt durch die Kraft des Glaubens, und immer weiter sich verbreitet durch die Predigt vom Glauben. So nun werden wir, wenn wir in dieser Kraft hingehen, und diese Predigt thun durch Wort und That, und indem wir Zeugniß geben dem Glauben, in welchem wir unsre Seligkeit | gefunden haben, so werden wir denn dadurch dem Geiste Gottes dankbar und Werkzeuge seiner Gnade sein, so wird durch uns mittelst der Predigt vom Glauben, zu der wir alle berufen sind, das Reich Gottes sich erhalten und immer weiter verbreiten, und auch durch diesen Dienst die Menschen von der Knechtschaft des Buchstabens erlöst und zu der Freiheit erhoben werden, die da ist in dem lebendigen Geist, der durch den Sohn Gottes ausgegoßen ist über alles Fleisch. Dieser Geist sei und wohne ferner wie in Khristo unserm Haupt, so auch in uns allen seinen Gliedern, und verkläre ihn auch durch uns immer mehr der ganzen Welt. Amen.

3 möge] mögen

14 geistige] geistigen

16 Vgl. Kol 2,9 27–29 Vgl. Röm 7,6 30–31 Vgl. Eph 4,15–16

29–30 Vgl. Joel 3,1 (zitiert in Apg 2,17)

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Am 11. Juni 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstmontag, 16 Uhr St. Gertraudten-Kirche (Spittelkirche) zu Berlin Apg 10,42–48 (Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 52, Bl. 79r–79v; Gemberg Keine Keine Keine

Schleierm. in der Spittelkirche um 4 Uhr. Die heutige Festepistel am Pfingstmontag lesen wir p.

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Apostelgesch. cap. 10, v. 42–48. 5

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Es ist der Schluß der Rede des Apostels Petrus im Hause des heidnischen Hauptmanns Cornelius. Der Geist ward über alle ausgegossen, die da hörten. Wie sollen wir dem Erlöser dankbar sein? Auch uns hat er ja den Glauben und den Geist gegeben. 1. Indem wir, wie die Propheten, von ihm zeugen. Aber unser Zeugniß ist nicht weissagen, denn uns hat sich die Verheißung erfüllt. Wir zeugen, indem die Versöhnung mit Gott äußerlich an das Licht hervor tritt. Die Früchte des Geistes aber sind Friede, in dem Zwiespalt des Lichts mit der Finsterniß, und Freude | in den Trübsalen des Lebens. Beides wird unser Herz erfüllen, wenn wir die Vergebung im Glauben haben. 2. Wie finden wir eine Antwort auf unsre Frage, wenn wir auf das Verfahren des Apostels Petrus sehen. Er setzte sich hinweg über die beschränkte Ansicht, daß nur die aus der Beschneidung des Geistes fähig seien, und sammelte auch unter den Heiden dem Herrn viele Anhänger. So wollen auch wir mit unsrer Gottesverehrung uns nicht zu enge Gränzen setzen, und in allen denselbigen Geist Gottes erkennen, die auch nicht, wie wir, ihn in äußerlichen Stücken verehren. Wir sollen alle zu ihm zu ziehen suchen in der Kraft der Liebe, uns nicht abschließen, und im Aeußern etwas suchen. Wir können so und anders Gott vernehmen, wenn nur das Herz dem Erlöser treu und wahrhaft huldigt.

1 Schleierm. ... 4 Uhr.] Notiz rechtsbündig in der 2. Zeile 4–5 Vgl. Apg 10,34–43

10–12 Vgl. Gal 5,22

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Am 17. Juni 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 12,3–6 Nachschrift; SAr 101, Bl. 6r–18v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 83v–84v; Gemberg Drucktext Schleiermachers; Fünfte Sammlung, 1826, S. 418–448 (vgl. KGA III/2) Wiederabdrucke: SWII/2, 1834, ²1843, S. 249–266. – Predigten. Fünfte Sammlung, Ausgabe Reutlingen 5, 1835, S. 309–331. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser 2, 1873, S. 196–210. – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 209–227 Beginn der bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am Sonntage Trinitatis 1821. am siebenzehnten Brachmonds. |

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Meine andächtigen Freunde, wir haben, seitdem wir das Fest der Auferstehung unsers Herrn begingen, gesehen, wie er in der Zeit, die ihm noch übrig war bis zu seiner gänzlichen Erhebung von dieser Erde, darauf bedacht gewesen, seinen Jüngern noch Unterweisung mitzutheilen für den großen Beruf, zu welchem er sie erwählt hatte, aber auch wie er sie für alles Übrige verwiesen an den Geist, der über sie sollte ausgegossen werden, und der es von den Seinigen nehmen würde und ihnen verklären. Dieses Fest der Ausgießung des Geistes über die Jünger des Herrn und durch sie über seine ganze Gemeine haben wir in den letzten Tagen mit einander begangen. Von jenem Tage an nun waren die Jünger des Herrn beschäfftigt, seiner Anweisung gemäß sein Reich auf Erden zu gründen, und allen die da herzu kommen wollten zu verkündigen Vergebung der Sünden in seinem Namen. Wie sie dabei zu Werke gegangen sind, das hat eben jener Geist der sie erinnerte alles dessen was ihr Herr und Meister ihnen gesagt hatte, und der ihnen das was sie oft in jener Zeit nicht genugsam verstanden hatten, mither erklärte, der hat es ihnen eingegeben. Aber wie der Herr 1 Predigt am] Predigt; darüber die Zählung I. als Beginn des Nachschriftenbandes

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im Gebet, womit er selbst sein | Lehramt beschloß, seinem himmlischen Vater nicht nur seine Jünger anbefahl, sondern auch alle diejenigen, welche durch ihr Wort an ihn gläubig werden würden, so sind auch wir ihnen Mitgenoßen geworden, nicht nur um die Gaben des Reichs Gottes zu genießen, sondern auch wie sie es an unserm Theil zu fördern und auszubreiten. Auch uns also ist es nöthig, daß der Geist Gottes uns alles dessen erinnere und es uns verkläre in unserm Herzen, was der Erlöser selbst über die Art und Weise der Gründung seines Reiches über das was dabei den Seinigen obläge, seine Jünger gelehrt hat. Dieses nun, daß wir miteinander zurückgehen auf das, was wir in den Reden des Herrn an seine Jünger als seine Anweisungen für das große Geschäft das Reich Gottes zu bauen finden; das soll der Gegenstand unsrer vormittäglichen Betrachtung sein während des übrigen Theiles dieses kirchlichen Jahres. Aber sollen wir die einzelnen Vorschriften, die darüber der Herr seinen Jüngern gegeben hat zu unserer Erbauung und zur wahren und ihm gefälligen Forderung unsres Dienstes benutzen, so ist wohl vorher nöthig ein allgemeiner Unterricht über das Wesen des göttlichen Reiches; wir müssen wißen wo es ist, und wo es nicht ist, wir müßen diejenigen | unterscheiden können, deren Mitwirkung wir uns zu erfreuen haben, und diejenigen, die wir selbst erst herzubringen wollen zu dem Reiche Gottes; wir müßen unterscheiden können unter allen menschlichen Thätigkeiten, die durch welche es gefördert wird, und diejenigen welche demselben fremd sind, und sich nur auf die Dinge dieser Welt beziehen. Einen solchen allgemeinen Unterricht laßt uns heute in den Worten der Schrift aufsuchen, und sie zum Grunde aller unsrer folgenden Betrachtungen nehmen.

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Tex t. 1. Korinth. XII, 3–6 Darum thue ich euch kund, daß niemand Jesum verfluchet, der durch den Geist Gottes redet; und niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den heiligen Geist. Es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist. Und es sind mancherlei Ämter, aber es ist Ein Herr. Und es sind mancherlei Kräfte, aber es ist Ein Gott, der da wirket Alles in Allen. Es ist wohl leicht zu sehen, daß die verlesenen Worte des Apostels einen solchen allgemeinen Unterricht über das Reich Gottes enthalten, wie wir ihn vorher ge|wünscht haben. Denn überall ist das Reich Gottes, wo der Geist Gottes redet und wirkt; und indem also der Apostel uns genauer unterrichtet, wer in dem Reiche Gottes rede und wer nicht, so unterrichtet er uns auch, wer schon dem Reiche Gottes angehöre und wer nicht. Und das Reich Gottes besteht in allen denjenigen Handlungen und Beschäftigungen der Menschen, welche ihre unmittelbare Beziehung haben auf Gott und auf 6 erinnere] erinnern

7 verkläre] verklären

16 ein] einen

31 Allen] Allem

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seine Offenbarungen im Evangelio. Wenn er uns also erinnert an die Gaben, für welche es in aller ihrer Mannigfaltigkeit nur Einen und denselben Geist giebt, an die Ämter, die uns alle auf Einen und denselben Herrn zurückweisen, an die Kräfte, welche alle Gott allein in Allen wirkt: so bezeichnet er uns dadurch alles dasjenige, was zu dem Reiche Gottes gehört, in seinem Unterschiede von allem, was sonst die Menschen in dieser Welt thun und treiben. Und unstreitig sind das die beiden Punkte, die das Wesen eines solchen allgemeinen Unterrichts von dem Reiche Gottes ausmachen, der erste, daß wir wissen, wer in demselben sei und wer nicht, und der andre, daß wir wißen, was für Thätigkeiten und Geschäfte zu dem Reiche Gottes gehören und welche nicht. Auf diese beiden laßt uns jetzt nach Anleitung unsers Textes unsre andächtige Aufmerksamkeit richten. | 8v

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I. Der Unterricht des Apostels über den ersten Punkt, worin er uns nämlich lehrt, wer da den Geist Gottes schon in sich trage, und also ein wahres Glied des Reiches Gottes auf Erden sei, und wer nicht, liegt in den ersten unter unsern verlesenen Textesworten, welche so lauten „niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den Geist Gottes.” Hier lehrt uns also der Apostel, woran wir gewiß erkennen können, daß jemand durch den Geist Gottes rede, wenn er nämlich Jesum einen Herrn nennt; und eben so, woran wir mit Gewißheit erkennen können, wer nicht durch den Geist Gottes rede, und also auch dem Reiche Gottes nicht angehöre, wer nämlich, wie er sich ausdrückt, Jesum verflucht. Aber freilich erscheint wohl dieser Unterricht des Apostels bei dieser ersten Überlegung unzureichend und unverständlich. Wie? nur daran sollen wir erkennen können, daß ein Mensch durch den Geist Gottes nicht redet, wenn er Jesum verflucht, da doch der Herr selbst einmal gesagt hat „wer nicht für mich ist, ist wider mich, wer nicht mit mir sammelt der zerstreuet”? Daraus aber, daß einer nur Jesum nicht verflucht, kann doch noch nicht hervor gehen, daß er für ihn ist, er kann also noch immer wider ihn sein, und also auch dem | Reiche Gottes nicht angehören. Und der Apostel sagt „niemand kann Jesum einen Herrn heißen ohne durch den Geist Gottes,” und der Herr selbst hat gesagt „nicht alle, die zur mir sagen werden, Herr Herr, werden in das Reich Gottes kommen, sondern die den Willen thun meines himmlischen Vaters.” Durch den heiligen Geist aber reden, und in das Himmelreich eingehen, das können nicht zwei verschiedene Dinge sein sondern nur Eins und dasselbige; denn wo der Geist Gottes ist, da ist ewiges Leben und Seeligkeit. Wie sollen wir also diese Worte des Apostels mit den Worten unsers Herrn selbst in 2 aller] allen 27–28 Mt 12,30

32–34 Mt 7,21

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Übereinstimmung bringen? Was aber das Erste betrifft, meine geliebten Freunde, so laßt uns bedenken, daß der Herr selbst auch an einem andern Orte zu seinen Jüngern sagt „wer nicht wider mich ist, der ist für mich, es kann nicht leicht ein Mensch die bösen Geister austreiben in meinem Namen, und dann gleich wieder hingehen und mich lästern.” Und was das Andre betrifft, so laßt uns bedenken, daß der Herr jenes Wort „nicht alle, die zu mir sagen, Herr Herr, werden in das Himmelreich eingehen, sondern nur die den Willen thun meines Vaters im Himmel,” geredet hat in den Tagen seines Fleisches, wo es geben | konnte eine Ehrerbietung für ihn als einen großen und gewaltigen Lehrer, für ihn als einen Mann, den Gott mit besondern Kräften ausgerüstet hatte, und diese konnte noch sehr weit entfernt sein von der Zustimmung, dasjenige zu thun, was aber dieser als den Willen seines Vaters im Himmel verkündigte. Nachdem aber der Herr von den Todten auferweckt ist und erhöht zur Rechten Gottes, nachdem sein Dasein und Wirken in menschlicher Gestalt auf der Erde, und die göttliche Kraft, mit welcher er immerdar das Reich Gottes von oben herab regiert, nicht mehr von einander geschieden werden können seitdem gibt es auch kein Herr Herr Sagen zu dem Erlöser welches ohne sich selbst zu widersprechen getrennt werden könnte von der Gesinnung dasjenige zu thun, was er der Sohn Gottes als den Willen seines Vaters verkündigt hat. Wenn wir also die Worte des Apostels und die Worte unsers Herrn selbst mit einander vergleichen und zusammenstellen, so werden wir eben darin den deutlichsten Unterricht finden über den rechten Umfang des Reiches Gottes. Denn dagegen kann keiner einen Zweifel haben, daß wer Jesum verflucht, d. h., wer sich von ihm lossagt, wer | seine Wirksamkeit, seinen Sinn, seine Gebete als etwas ansieht und darstellt, was den Menschen von seinem wahren Heil entfernt und nicht zu demselben hinführt, der gewiß redet und ist nicht aus dem Geiste Gottes. Aber eben so werden wir auch sagen müßen, daraus folgt, dass alles dasjenige was in dem Menschen dieser Gesinnung sich nähret, auch schon bezeichnet daß außer dem Geiste Gottes wenigstens noch irgendetwas Anderes in ihm lebe und wirke, und was er dann in diesem Sinn redet und thut, das wenigstens ist gewiß auch nicht in dem Geiste Gottes geredet, und nicht zur Förderung seines Reiches gehörig. Wenn nun der Apostel auf der andern Seite sagt, „niemand kann Jesum einen Herrn nennen ohne durch den heiligen Geist,” müßen wir nicht gestehen, alles was sich jenen Zeichen des Entblößtseins von dem göttlichen Geist nähret, das ist auch seiner Natur noch eine Verringerung in der Art, wie wir in dem Grunde unsers Herzens die Herrschaft unsers Erlösers anerkennen. Wer diese also auf irgend eine Weise zu beschränken sucht, wer da glaubt, es gebe irgend etwas in der menschlichen Seele und in dem menschlichen Leben, was dieser Herrschaft des Erlösers nicht könnte und 3–5 Vgl. Mk 9,38–39

6–8 Mt 7,21

8–9 Hebr 5,7

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nicht dürfte unterworfen sein, der | verringert insofern die Anerkennung seiner Herrschaft und seiner Gewalt, und redet was nicht aus dem Geiste Gottes ist. Und wenn uns auf der andern Seite das zu viel dünkt was der Apostel sagt „jeder der Jesum einen Herrn nennt, der kann dies nur thun durch den göttlichen Geist”, wenn uns dies scheinen könnte die Grenzen des Reiches Gottes zu weit auszudehnen und eben dadurch eine Unsicherheit in unserm Leben übrig zu laßen, der wir gern enthoben wären: o so laßt uns, meine geliebten Freunde nur tiefer in den Sinn dieser Worte eingehen. Wenn wir uns fragen, woher kann es denn der Mensch haben, wenn er Jesum einen Herrn nennt; wenn wir uns fragen, was ist der Grund einer jeden Ehrfurcht gegen den Erlöser, wie wenig sie auch noch entspreche der Größe seiner Macht und seiner Herrlichkeit; aber was ist der Grund einer jeden Ehrfurcht, die sich in dem Herzen des Menschen gegen den Erlöser regt? – es ist doch ein Zeichen, daß dasjenige in ihm geschwächt ist wodurch das Kreuz Christi einigen ein Ärgerniß ist und andern eine Thorheit, denn das beides verträgt sich nicht mit den Regungen einer demüthigen Ehrfurcht. Und was kann denn jene Thorheit und jene | Verkehrtheit des menschlichen Herzens schwächen und bändigen, wodurch aber dasjenige was Gott von Ewigkeit den Menschen verordnet hat, den Menschen eine Thorheit wird, oder ein Ärgerniß? was anderes als eben der Geist Gottes. Und so ist es denn die rechte Ehrfurcht gegen diesen Geist, so ist es denn die richtige Vorstellung von dem, was der Mensch nur durch ihn vermag, und das wobei der Mensch stehen bleiben muß, wenn er sich selbst erkennen will in seinem Innersten, der ist angemessen das zu bewirken, was der Apostel bemerkt, wo jemand Jesum einen Herrn nennt, da ist er eben insofern schon theilhaftig des göttlichen Geistes, und redet durch ihn, und er ist nicht mehr fern von dem Reiche Gottes, sondern der erste Grund desselben ist in ihm gelegt, wir können ihn also als einen solchen ansehen, deßen Mitwirkung eben insofern als er Jesum einen Herrn nennt wir uns versprechen und mit Sicherheit darauf rechnen dürfen, als einen solchen, der eben insofern als er nicht wider den Herrn ist und mit ihm sammelt, wenn er die Ehrfurcht, die er gegen den Herrn hat, dadurch zu erkennen giebt, daß er sie auch in andern menschlichen Gemüthern zu erwirken sucht, und so ein Zeugniß ablegt von dem was der Mensch nur durch den Geist Gottes vermag. Aber, meine geliebten Freunde, so ist es in dem gegenwärtigen unvollkommenen Zustand der Menschen | in diesem irdischen Leben, daß auch diejenigen, welche den Geist Gottes haben und in dem Reiche Gottes bereits leben, doch nicht immer aus dem Geiste Gottes reden, und von demselben getrieben thun was sie thun; und so ist es ein großes und vielmehr 16 demüthigen] dehmütigen 15 Vgl. 1Kor 1,18.23

28 ihn] ihm

31 Vgl. Mt 12,30

35 Freunde] Freunden

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ein ernstes und strenges Wort der Warnung, was der Apostel ausgesprochen hat „niemand der Jesum verflucht redet durch den Geist Gottes”, das heißt alles was in dem Menschen der Ehrfurcht gegen den Sohn Gottes, der Anerkennung seiner Gewalt über uns und seines Reiches an uns Gränzen setzt, alles dasjenige ist immer nicht aus dem Geiste Gottes; und wo wir das finden, wo wir ein Erheben des Herzens über den Erlöser finden, ein Rechten mit ihm und ein Streiten gegen sein Wort und gegen seine Gebote, wo wir in dem Herzen des Menschen finden irgend eine Lust und irgend eine Liebe, die mit der Lust an dem Erlöser und mit der Liebe zu ihm nicht bestehen kann und beides läßt sich nicht mit einander vereinigen – und während welcher das menschliche Herz nicht im Stande ist ihn aber so wie sonst zu segnen und anzubeten: das ist der wenngleich noch und noch ersterbende, wenn gleich im Ersticken be|griffene Keim des Verfluchens Christi, was keiner kann, der durch den Geist Gottes redet. Und so freilich, meine geliebten Freunde lehren uns diese Worte des Apostels, wenn wir nach den Gränzen des Reiches Gottes auf Erden fragen, nicht sowohl die Menschen zu unterscheiden – denn in jedem, wer auch nur in irgend einem Sinn mit vollkommener Zustimmung seines Herzens und aus innerer Wahrheit Jesum einen Herrn nennt, und das thun alle die nur äußerlich seinen Namen bekennen, alle die mit seiner Geschichte, durch den ganzen Verlauf seines irdischen Lebens in lebendiger Thätigkeit, bekannt sind, das thun alle, denen die großen Wirkungen, welche die Lehre und der Bund des Gekreuzigten in dem menschlichen Geschlecht hervorgebracht hat, nicht fremd und nicht fern sind, jeder der nur in irgend einem Sinne Jesum einen Herrn nennt, in dem ist der Anfang gemacht mit dem Reiche Gottes, den können wir ansehen als einen solchen, auf den wir immer und überall, so fern er Jesum einen Herrn nennt, zu rechnen haben, indem auch er mitkämpfend in seiner Anerkennung des Herrn das Reich Gottes ausbreiten soll über all, wo wir finden, daß einer nicht aus dem Geiste Gottes redet und thut und zwar mitkämpfend in dem Bewußtsein daß die Herrschaft des | Erlösers den ganzen Anfang der menschlichen Welt einnehmen soll – also nicht die Menschen lehrt uns der Apostel unterscheiden, denn soweit das äußere Gebiet der christlichen Kirche reicht, soweit ist auch in einem jeden Gemüth, eben weil eine Anerkennung der Herrschaft des Herrn in demselben gesagt ist, der Anfang zu dem Reiche Gottes gemacht, aber die Zustände der Menschen lehrt uns der Apostel unterscheiden, wo sie mit vollem Herzen Jesum einen Herrn nennen, und wo sie in Gefahr sind, ihn nicht zu segnen und zu greifen, sondern sich vor ihrer Unterwürfigkeit unter ihn los zu machen, da lebt und wirkt in ihnen nicht der Geist Gottes, und da sollen wir ihnen überwinden helfen, was sie von dem Reiche Gottes trennt, was nicht aus dem Reiche Gottes geredet ist; und demselben nicht angehört. Und wie sollen wir uns auf das Bestreben eines gläubigen Herzens die Mitglieder zu unterscheiden, wie sollen wir es uns anders denken,

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als daß es auf jede Spur der Ehrfurcht gegen den Erlöser, der Anerkennung seines Verdienstes, wo sich dieselbe nur zeigen mag, achtet, daß es sich innig darüber freut, und darin ein Unterpfand findet dafür, daß die Wirkung seines Geistes | sich immer mehr unter den Menschen verbreiten wird, und daß die Seelen welche der Vater seinem Sohn bestimmt hat, immer mehr werden befestigt werden in der Erkenntniß seines Willens, wenn wir mit unsrer Thätigkeit und mit unserm Dasein jeder nach seinem Vermögen denen zu Hilfe kommen, die noch schwach sind in der göttlichen Gnade. Aber auf der andern Seite, wie der Mensch seinen Nächsten lieben soll als sich selbst, wie wir dann empfangen haben das neue Gebot von dem Herrn, daß wir uns unter einander lieben sollen wie er uns geliebet hat, und wie er uns geliebet hat um zu suchen und selig zu machen; da wir noch Sünder waren, so auch wir jeder sich selbst und jeder den andern trachten soll überall aus dem Zustande der Sündhaftigkeit und der Verderbnis zu erretten, und zur Seeligkeit des Reiches Gottes in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser hinzuführen: so soll alles was in dem Herzen der Menschen eine Verringerung ist der Ehrfurcht gegen den Erlöser, die keine Gränzen haben soll, und der Anerkennung des großen und ewig preiswürdigen Verdienstes, welches er sich um uns erworben hat und dem kein menschliches Thun an die Seite gestellt werden kann, das soll in | unsern nach seinem Reiche trachtenden Seelen klingen als eine Verfluchung des Herrn, und uns zeigen, daß das etwas ist was nicht in dem Geiste Gottes geredet ist und gethan. Jene umfaßende Liebe zu unsern Brüdern auf der einen Seite, und diese Strenge auf der andren, die sich dadurch am besten bewährt, daß sie bei uns selbst anfängt, indem wir mit allem Fleiße erforschen was in uns selbst sich nicht einigen will mit dem Gefühl der Unterwürfigkeit alles Menschlichen unter die Gewalt und Herrschaft des Erlösers aus beiden zusammengenommen besteht das richtige Erkennen und Umfaßen der Gränzen des Reiches Gottes auf Erden, welches beides allein der richtige Maaßstab sein kann für unsern Dienst und für unsre Thätigkeit in demselben. Und eben indem der Apostel schon in diesem seinen ersten Unterricht uns überall in dem Anfang der christlichen Kirche die Spuren und die Anfänge des göttlichen Reiches zeigt, und keinen der Jesum, einen Herrn nennt, ganz von demselben ausschließt, aber auf der andern Seite uns auch aufmerksam machen will auf das was in dem Menschen Jesum verflucht: so führt uns dies auf den zweiten Theil seines Unterrichts, worin er uns lehrt, 33 keinen] keinem 9–10 Lev 19,18 (zitiert in Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27; Röm 13,9) 11 Joh 13,34 11–13 Vgl. Lk 19,10; Röm 5,8 33–34 Vgl. Mt 7,21

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welche menschliche Thätigkeiten in das Reich Gottes gehören und welche nicht. |

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II. Diese Frage, meine geliebten Freunde beantwortet uns der Apostel an einem andern Ort, auf eine andere Weise, indem er sagt „alles was ihr thut das thut zur Ehre Gottes.” Was aber zur Ehre Gottes geschieht, das ist auch etwas in seinem Reiche und für sein Reich Geschehenes. Denn was ist dasselbe anders als eben der Ort, wo seine Ehre wohnt? Können wir also alles thun zur Ehre Gottes was wir thun, so gehört auch alles was wir zu thun im Stande sind, und unser ganzes Leben ohne daß wir etwas davon ausnehmen könnten, zu unserer Thätigkeit in dem Reiche Gottes. Und damit werden wir auch die verlesenen Worte unsres Apostels in Übereinstimmung finden, wenn wir sie näher erwägen wollen. Der Apostel sagt zuerst „es sind mancherlei Gaben, aber es ist Ein Geist.” Wohlan indem er sagt, es sind mancherlei Gaben, so schließt er eigentlich keine aus. Alles was irgend mit Recht eine Gabe genannt werden kann, d. h. alles worin eine lebendige Kraft ist, welche wie der Apostel in den folgenden Worten sagt, zum gemeinen Nutz gebraucht werden kann, das ist eine Gabe. Und worauf kommt es an, daß sie eine Gabe in dem Reiche Gottes und für dasselbe sei? Darauf daß in den mancherlei Gaben nur Ein und derselbe Geist sei. Aber diese Worte, meine geliebten | Freunde, sind so zu verstehen. Wenn wir sehen, wie die Menschen größtentheils dasjenige zu behandeln pflegen, was Gott als eine vorzügliche Gabe in sie hineingelegt hat, es bestehe nun worin es wolle, es beziehe sich nun mehr auf das innerste Leben des Gemüths oder auf die äußern Verhältniße der menschlichen Gesellschaft: so finden wir nur allzu oft daß sie für ihre Gabe eine ausschließliche Vorliebe haben, daß sie von derselben auf eine ausgezeichnete Weise die Verbesserung der menschlichen Dinge erwarten, daß sie das als einen ganz vorzüglichen Bestandtheil der Gaben, des Schönen und des Gottgefälligen ansehen, was als eine vorzügliche Gabe in sie gelegt ist, und in dieser einseitigen ausschließlichen Vorliebe für die eine ist eine Geringschätzung der andern; da ist also in jeder Gabe ein besonderer Geist. Und wenn der Mensch so mit einem besonderen Geist seine Gaben behandelt, mag er sie dann auch noch so herrlich ausbilden, mag er dann noch so viel Großes und Schönes damit verrichten, es ist nicht in dem Sinne gethan, der das Reich Gottes fördert; denn da ist in mancherlei Gaben und in allen die da zum Vorschein kommen durch die Wirkung des göttlichen Geistes, nur dieser Eine Geist, und es ist nur der Geist Gottes, der so in den verschiedensten | Gaben 34 herrlich] herrliches 5–6 1Kor 10,31

37 dieser Eine] diesem Einen

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Einer und derselbe sein kann. Welchen andern wir uns denken können, der den Menschen beseelen könnte, er wird immer nur in Einigen wohnen, und die andern werden ihm fremd sein. Aber die einzig wahre und himmlische Quelle des göttlichen Lebens, der Geist Gottes, der durch unsern Herrn und Erlöser ausgegossen ist über alles Fleisch, der allein vermag sich des ganzen Menschen zu bemächtigen, und überall in allen auch den verschiedensten Gaben; wie sie zerstreut sind in dem weiten Gebiete der menschlichen Natur Einer und derselbige zu sein. Und nur wenn wir in diesem göttlichen Geist, der in allen Gaben Einer und derselbe ist, und der uns unabläßig treibt, eben so auf der einen Seite die unsrigen zu gebrauchen zum gemeinen Nutz, so auch auf der andern Seite andre zu erquicken und ihnen zu dienen; und sie weiter zu bringen in der Erkenntniß alles dessen was Gott gefällig ist, und was sich auf ihr wahres Heil bezieht, dieser Geist ist der Eine in welchem wir thätig sein können für das Reich Gottes, und dasselbe fördern nach unserm besten Vermögen. Darum sagt der Apostel, und wenn ich die vortrefflichsten und herrlichsten Gaben hätte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine klingende Schelle”. Die Liebe aber und der Geist Gottes, der Eine Geist in den mancherlei Gaben, der alles wirkende | und heilsam erkennende und uns lieb machende Geist, das ist Eins und Dasselbe. – Zweitens sagt der Apostel „es sind viele Ämter, aber es ist ein Herr.” Der Herr ist derjenige, der jedem Amte seinen bestimmten Kreis anweiset, der sie austheilt und sie gegen niemanden abgränzt. Und wo nun ein jedes Amt in dem Sinne des Herrn, der ein Herr ist über alles, verwaltet wird, da ist das Reich Gottes da stimmt alles zusammen, da sieht keiner sein Eigenes, sondern jeder indem er den Willen des Herrn sucht zu gleicher Zeit das wahre Wohlbefinden des Ganzen, welches nur derjenige schätzen und übersehen kann der das Ganze regiert. So, meine geliebten Freunde, so ist es auch in den menschlichen Dingen, da wird nur das gemeinsame Wohl gefördert, wenn die mancherlei Ämter, in welche die Thätigkeit des Menschen zerfallen muß, jedes den Einen Herrn der alles leitet anerkennt. Wo aber eine Eifersucht ist des einen Amtes gegen das andere, wo jedes den gemeinsamen Herrn nur als den Seinigen ansehen will, da entsteht Widerstreit und Zwietracht und Unordnung, da wird was friedlich zusammen wirken soll zur Förderung des gemeinsamen Wohls gegen einander gekehrt, und wo ein solches Handeln ist, da ist auch nicht eine Thätigkeit in dem Reiche Gottes | und für das Reich Gottes. Aber wie viel anders, meine geliebten Freunde ist es in dieser Beziehung mit dem Reiche Gottes und mit irgend einem menschlichen Werk und Wesen. Denn da giebt es keinen Herrn, dessen Gleichen nicht ein jeder andere wäre, und 15 unserm] unsern 4–5 Vgl. Apg 2,17 (Zitat aus Joel 3,1)

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keiner kann sagen, daß der Herr dadurch daß er der Herr ist allen anderen überlegen sei an Thätigkeit des Verstandes, an Weisheit des Willens, an Kraft zu allem Guten und Schönen. Da kann es leicht geschehen, daß einer glaubt etwas Gutes zu thun, wenn er sich selbst zum Herrn macht für sich. Aber in dem Reiche Gottes kann diese Versuchung niemals Statt finden, denn da ist der Eine Herr derjenige, dessen Gleicher kein anderer sein kann, der Einige, in welchen nie etwas Sündliches gewesen ist, was ihn hätte abführen können von der Vollbringung des Willens seines himmlischen Vaters, der Einige, in dessen Seele alles in der vollkommensten Übereinstimmung war mit demjenigen was er bei seinem Vater gehört, und mit den Werken, die ihm der Vater gezeigt und offenbart hatte. Wie könnte da eine Versuchung in der menschlichen Seele entstehen sich selbst in dem ihr angewiesenen Kreise zum Herrn zu machen? Sie kann nur entstehen in dem Maaße, als der Glaube an den Erlöser | verschwindet, als die Liebe zu ihm schwächer wird, als wir uns gegen ihn empören, von ihm uns lossagen und ihn verfluchen. Das ist ein Zeichen des göttlichen Reiches auf Erden, daß solche Unordnungen und Verkehrtheiten in demselben nicht möglich sind, sondern wo das geschieht, wo sich einer in seinem Amte von dem Einen Herrn, dem alle dienen sollen, losreißt, wo sich nicht ein jeder verpflichtet fühlt dem andern überall wo es Noth thut zu Hilfe zu kommen, und ihn so weiter vermag zu fördern, weil auch sein Amt mitbegriffen ist in den gemeinsamen Beruf aller Glieder des göttlichen Reichs, und weil auch er berufen ist dem Einen Herrn zu dienen, der die Ämter vertheilt: da ist der Mensch nicht mehr in dem Reiche Gottes, sondern er ist von demselben gesondert, und muß erst wieder umkehren, und sich unbedingt dem Einen Herrn unterwerfen, dann erst handelt er wieder in seinem Geiste, und erst dann bezieht sich sein Thun wieder auf das Reich Gottes. – Endlich drittens sagt der Apostel „es sind viele Kräfte aber es ist Ein Gott, der da wirket Alles in Allen.” Es sind viele Kräfte, vielerlei in vielen, und alle zusammengenommen nur in allen. Was nun eine Kraft ist, das ist eben ein Theil von dem lebendigen Dasein dessen, in welchem sie ist. Und so schätzen die Menschen sich selbst unter einander und gegen einander nach dem Maaße | ihrer Kräfte, so erhebt sich der eine über den andern, so unterwirft sich bei richtiger Selbsterkenntniß der eine dem andern, bewundernd den, der über ihm steht, und schauend, wenn auch nicht mit Geringschätzung so doch wenigstens mit Mitleid auf den, der unter ihm steht. O das ist das verkehrte Wesen der Menschen außerhalb des Reiches Gottes, daß sie ihre Kräfte als die ihrigen ansehen, und sich selbst zuschreiben, und sich die Ehre davon geben wollen, und eben so die Kräfte anderer Menschen andern zuschreiben, und ihnen die Ehre davon geben, oder die Geringschätzung welche es auch sei. Und eine solche Betrachtung der menschlichen Kräfte ist immer schon au9–10 Vgl. Joh 8,38

10–11 Vgl. Joh 5,20.36

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ßer dem Reiche Gottes weil sie dieselben nicht auf den Einen Gott bezieht, der Alles in Allen wirkt. Alles wodurch der Mensch sich selbst die Ehre giebt für das, was doch immer nur ein von Gott in ihm Gewirktes ist, alles wodurch ein Mensch sich mit dem andern vergleicht, als wären sie etwas für sich oder durch sich, und jede solche Behandlung und Schätzung der Kräfte und Gaben eines Einzelnen, die auf die Feststellung und Sicherung seines eigenen Daseins zurückgeht – das alles ist außer dem Reiche Gottes gethan. Aber alles ansehen als die Gabe Gottes und durch ihn gewirkt, wissen daß der Mensch nichts durch sich selbst hat und nichts für sich selbst, daß alles ein an|vertrautes Pfund ist, wovon er dem der es ihm gegeben hat Rechenschaft ablegen muß, und daß sich die Kräfte des einzelnen Menschen als von Gott gegebene und gewirkte nur dadurch zeigen können, daß sie mit allen andern zusammen wirken, und daß die Gaben des Geistes in einem jeden angewendet werden und wie der Apostel sagt wirken zum gemeinen Nutz. – Das ist das Werk des göttlichen Geistes. Und so sehen wir denn, meine geliebten Freunde, nur das sind Thätigkeiten in dem Reiche Gottes, die nun auch allein und ganz und ausschließend auf das Reich Gottes sich beziehen. Alles was lebendige Kraft ist dem Gott zuschreiben, der allein Alles in Allen wirkt, jeden Beruf des Lebens ansehen als den von dem Einen Herrn, der ein Herr ist über Alles, uns ertheilte, und jeden zur Förderung des gemeinsamen Wohles und in Übereinstimmung mit allen andern Ämtern die er andern ertheilt hat verwalten, und endlich in allen Gaben nur Einen und denselben Geist haben, auf nichts einen Werth legen an und für sich, sondern nur in sofern als es mit allen Andern zusammen das Reich Gottes erbauen und fördern kann – diese beständige Beziehung alles dessen was wir thun auf den Einen Gott im Himmel, auf | den Einen Herrn den er gesetzt hat über Alles was Mensch ist und auf den Einen Geist, in welchem allein das wahre Leben dem Menschen gegeben ist und erhalten werden kann: – daß ist die Thätigkeit in dem göttlichen Reiche. Auf das göttliche Wesen also in seiner ganzen Fülle und Offenbarung, auf den Vater im Himmel, auf den Sohn, der uns in seinem irdischen Leben die Fülle der Gottheit offenbart hat, auf den Geist der durch ihn und in ihm über alles Fleisch ausgegossen ist; so auf das ganze göttliche Wesen, auf die Fülle seiner Offenbarung alles beziehen, was wir sind und thun – das allein heißt in dem Reich Gottes und für dasselbe leben und wirken. In diesem Sinne, meine geliebten Freunde, mögen wir immer tiefer eindringen in die Geheimnisse desselben, in diesem Sinne mögen wir jedes Wort der Lehren von unserm Herrn und Meister, das uns wird dargeboten werden, zu betrachten 9 daß der] das der

12 gegebene] gegeben

10–11 Vgl. Lk 19,11–26 19–20 Apg 10,36 26–27 Vgl. Joh 17,2; Hebr 1,2 31–32 Vgl. Kol 2,9 32–33 Vgl Apg 2,17 (Zitat aus Joel 3,1)

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suchen; und wenn wir so suchen nur ihn als unsern gemeinsamen Herrn anzuerkennen, und ihm mit unsern ganzen Leben anzugehören, wenn wir uns überall nur darnach prüfen, ob der Eine Geist der in allen derselbe ist auch uns beseelt, und ob unser ganzes Herz dem Einen Gott und Vater zugethan ist, von dem Alles | kommt, womit wir uns in diesem Sinne prüfen: dann wird jedes Wort unsers Herrn uns auch zur Erkennung unsers Heils und zur Förderung des Reiches Gottes auf Erden gereichen, und in uns und durch uns wirksam sein. Das verleihe er uns durch seine Gnade jetzt und immerdar. Amen.

[Liederblatt vom 17. Juni 1821:] Am Sonntage Trinitatis 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o etc. [1.] Brüder, betet an im Staube / Unsern Gott, den Ewigen! / Freudenreich ist unser Glaube, / An den Unaussprechlichen! / Ihn, der sein wird, war und ist, / Den kein Forscher je ermißt, / Den selbst Engel nicht ganz kennen, / Dürfen Alle Vater nennen. // [2.] Brüder, fühlet das Erbarmen, / Das den Sohn des Vaters drang, / Daß er Retter ward uns Armen; / Bringt ihm frommen Herzensdank. / Er ging als ein Held voran, / Brach des Glaubens Jüngern Bahn, / Und hat gern für uns sein Leben / In den blutgen Tod gegeben. // [3.] Brüder, reinigt euch, und strebet / Nach der Heiligung, und preist / Den, der göttlich euch belebet, / Preiset Gottes heilgen Geist; / Ihn der alles Gute schafft, / Euch erfüllt mit Glaubenskraft! / Schwört und haltet’s, treu zu wandeln, / Und als Christen stets zu handeln. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Herzlich lieb hab ich dich, den Herrn, / Ich bitte, sei von mir nicht fern / Mit deiner Gnade Gaben. / Die ganze Welt erfreut mich nicht, / Nach Erd und Himmel frag ich nicht, / Wenn ich nur dich kann haben. / Auch wenn mein Herz im Tode bricht, / Bist du doch meine Zuversicht. / Du meines Herzens höchstes Gut, / Der mich erlöst hat durch sein Blut, / Herr Jesu Christ, / Mein Gott und Herr, mein Gott und Herr, / Verlaß, verlaß mich nimmermehr. // [2.] Es ist ja dein Geschenk und Gab, / Leib, Seel und alles was ich hab / In diesem armen Leben. / Daß ich es brauch zum Lobe Dein, / Zum Nuz und Frommen der Gemein, / Wollst du mir Gnade geben. / Behüt mich Herr vor falscher Lehr, / In mir den rechten Glauben mehr; / In allem Kreuz erhalte mich, / Daß ich es trage williglich! / Herr Jesu Christ, / Mein Herr und Gott, mein Herr und Gott, / Hilf mir auch in der letzten Noth. // [3.] Laß deinen Engel bei mir sein, / Der mich nach überstandner Pein / Zur Ruh des Himmels trage. / Den Leib laß sanft im Grabe ruhn, / Bis du erscheinst, es aufzuthun, / An jenem großen Tage. / Alsdann erweck vom Tode

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mich, / Daß meine Augen schauen dich / In selger Ruh, o Gottes Sohn, / Mein Mittler und mein Gnadenthron! / Herr Jesu Christ / Erhöre mich, erhöre mich, / Ich will dich preisen ewiglich. // Unter der Predigt. – Mel. Wach auf mein Herz etc. [1.] Wer Ohren hat der höre / Die reine Gotteslehre: / Christ ist der Weg, das Leben, / Der Weinstock, wir die Reben. // [2.] O laßt an ihm uns bleiben, / So werden wir bekleiben, / Und Kraft von ihm empfangen, / Mit edler Frucht zu prangen. // Nach der Predigt. – Mel. Nun laßt uns den Leib etc. [1.] Erhalt uns Herr bei deinem Wort, / Der Bösheit wehr an allem Ort, / Die Jesum Christum deinen Sohn / Gern stürzen will von seinem Thron. // [2.] Zeig deine Macht, Herr Jesu Christ, / Der aller Herren Herr du bist! / Beschirm dein arme Christenheit, / Daß sie dich lob in Ewigkeit! // [3.] Bewahr o Geist, du Tröster werth, / In gleichem Sinn dein Volk auf Erd, / Steh bei uns in der lezten Noth, / Führ uns ins Leben durch den Tod. // (Luther.)

Am 24. Juni 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,17–19 a. Autograph Schleiermachers SAr 79, Slg. Wwe. SM; Bl. 1r–4v; Andrae (unvollendete Überarbeitung der unter b. gebotenen Nachschrift) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 79, Bl. 1r–15r; Slg. Wwe. SM; Andrae Texteditionen: Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 19r–27v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 85r–85v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 151r–156v; Woltersdorff Gedenktag für die Schlacht von Waterloo (18. Juni 1815)

a. Autograph (Überarbeitung einer Nachschrift) Am 1. S. n. Trinit. 1821.

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Text. 1. Petr. IV, 17–19.

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M. a. F. Es ist euch allen bekannt, daß es jährlich drei ausgezeichnete Tage giebt, an welchen sich Gott in den lezten großen Jahren des Kriegens und der Zerstörung an unserm König, dessen Bundesgenoßen und ihren Völkern durch seinen mächtigen Schutz verherrlicht hat, und deren wir | jährlich in dankbarer andächtiger Erhebung gedenken sollen. Da nun der lezte davon uns am Anfang der vergangenen Woche wiedergekehrt ist, und ich nun bei mir selbst erwog, welches denn wohl in Beziehung auf jene große Erinnerung die herrschende Gemüthsstimmung der Mehrzahl unter uns sein möchte: so gestehe ich, ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, es sei eine 3–9 Die (Völker)Schlacht von Leipzig am 16.–19. Oktober 1813, die Einnahme von Paris am 30. März 1814 und die Schlacht von Belle Alliance (Waterloo) am 18. Juni 1815 sollten am jeweils darauffolgenden Sonntag „von den Predigern in ihren Kanzelvorträgen in Erinnerung gebracht werden“. Anweisung des Königlichen Konsistoriums der Provinz Brandenburg an die Superintendenten vom 27. Februar 1817, zit. nach: Jungklaus, Rudolf: Wie die Ereignisse der Freiheitskriege in Berlin zu ihrer Zeit in Berlin kirchlich gefeiert worden sind, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte, 11. u. 12. Jg., Berlin 1914, S. 304–330, hier S. 330

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gewiße Unzufriedenheit nicht sowohl eine selbstsüchtige darüber, daß wir uns verhältnißmäßig nicht um so viel beßer befinden, als sich sonst die Sieger zu befinden pflegen, denn die Besiegten, sondern vielmehr eine beßere oder verzeihlichere wenigstens, darüber nämlich daß überhaupt unsre gemeinsamen Angelegenheiten uns nicht scheinen so bedeutende Fortschritte gemacht zu haben, als wir nach so großen von Gott gesegneten | Anstrengungen zu erwarten geneigt waren. Dabei nun fielen mir die Worte der Schrift ein, die ich jezt eben gelesen habe, zumal wir auch von der Beziehung, in welcher der Apostel sie niederschrieb, einen leichten Uebergang haben zu unserer heutigen Feier. PFreilichS nur wenn wir was vom größeren gesagt ist auf das kleinere anwenden. Denn dem Apostel sowol als seinen Lesern lag immer im Sinn die große Wohlthat welche den Menschen überhaupt geworden durch die Erscheinung des Herrn, der Sieg welcher durch seinen Tod und seine Auferstehung errungen worden und die Freude daran daß sie mit zu der eben gegründeten christlichen Kirche gehörten. Das war freilich eine größere Erlösung nicht wie diese, deren wir jezt gedenken, von einem äußerlich drükenden feindseligen Joch, sondern von dem eiteln Wandel nach väterlicher Weise, und allem was damit zusammenhängt, sie waren hindurchgedrungen nicht nur zur lang entbehrten bürgerlichen Selbstständigkeit sondern zur Freiheit der Kinder Gottes. Aber die Unzufriedenheit war | bei vielen unter den damaligen Christen dieselbige. Das Reich Gottes auf Erden machte keine so schnellen Fortschritte als sie erwartet hatten; die Wiedersacher desselben waren fröhlich und guter Dinge, sie selbst aber in der Förderung der guten Sache so wie in der thätigen und lebendigen Darstellung des christlichen Sinnes auf alle Weise gehemmt und bedrängt. Denn damit beginnt der Abschnitt seines Briefes zu welchem diese Worte des Apostels gehören, daß er sagt „Laßt euch die Hize nicht befremden, so euch begegnet.“ In Beziehung nun auf diese Unzufriedenheit mit den langsamen Fortschritten des Guten und dem theilweise für die Freunde desselben unerfreulichen Lauf der Dinge in der Welt giebt der Apostel in den Worten unsers Textes seinen Lesern einen zwiefachen Rath, den auch wir uns in der angeführten Beziehung auf den Gegenstand des heutigen Tages zu Nuze machen wollen. Der erste ist der, daß wir uns vergleichen sollen mit denje|nigen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben; und der andre ist der, daß wir unsere Seelen Gott dem treuen Schöpfer befehlen sollen in guten Werken. Das beides laßt uns jezt näher mit einander erwägen. I. Das Erste also was der Apostel den Khristen anräth ist, sie sollen sich vergleichen mit denen, die dem Evangelio Gottes nicht 21–22 Röm 8,21

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glauben. Denn so sagt er, das Gericht muß anfangen an dem Hause Gottes. Wir dürfen aber nicht glauben, m. g. F., der Apostel habe hier dasjenige Gericht gemeint, welches wir im engsten Sinne des Worts das lezte und allgemeine göttliche Gericht zu nennen pflegen. Denn dieses, weil es allgemein ist und sich über alle zugleich erstrekt kann keinen besonderen Anfang bei Einigen haben, auch war es ja damals noch nicht im Begriff hereinzubrechen; sondern mit dem Worte Gericht wird ja gewöhnlich und so auch hier jede große Entscheidung und Entwiklung | menschlicher Dinge bezeichnet, bei welcher sich das Böse von dem Guten scheidet, ersteres seinem Untergang entgegengeht, lezteres seiner Verherrlichung sich nähert. So nur sieht der Apostel die damaligen Ereignisse und den zum Theil traurigen und niederschlagenden Zustand der Dinge zu seiner Zeit an, als ein Gericht, und sagt, das Gericht müßte anfangen an dem Hause Gottes. Das heißt alles das wodurch Gott gründliche Prüfungen und Läuterungen beabsichtigt, muß zuerst diejenigen treffen, die in einer nähern Verbindung mit Gott stehen, und schon Antheil genommen haben an seinem Reiche. So aber, sagt er, dieses zuerst an uns geschieht: welches wird sein das Ende der Gottlosen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? so der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder | erscheinen? Es ist noch nicht lange her, m. g. F., daß ich eben von dieser Stätte gewarnt habe vor einer Vergleichung unsrer selbst mit Andern, und manche, die hier zugegen sind und sich deßen wohl erinnern, sich vielleicht wundern, daß ich nun ein Wort der Schrift ergreife, um zu eben demjenigen zu ermahnen, wovor ich damals gewarnt habe. Aber es ist nicht beides Eins und dasselbige; denn wovor ich damals warnte, war dieses, daß wir nicht, indem wir uns selbst prüfen, unsern Werth darnach bestimmen sollen, je nachdem wir beßer wären als Andre um uns her – hier ist aber nicht die Rede von einer Vergleichung unsers inneren Werthes, sondern von der Vergleichung des Einflußes, den die äußeren Begebenheiten auf die Menschen machen, diese betrachten in Beziehung auf jenen großen | Unterschied, den wir nicht ableugnen können, mögen wir neue Vergleichungen anstellen oder nicht. Auch in dieser Hinsicht aber geht die Absicht des Apostels nicht dahin, daß die Christen sich einzeln vergleichen sollen mit andern Einzelnen um sie her, die außerhalb des Reiches Gottes leben, sondern ganz im Allgemeinen sagt er, wenn in solchen Zeiten der Prüfung und der Läuterung kaum der Gerechte erhalten wird, wie will es denen ergehen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? Das heißt nichts anderes als er 22–23 Vgl. oben 20. Mai 1821 vorm.

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will uns auf den großen Unterschied aufmerksam machen welcher in solchen Zeiten der Natur der Sache nach stattfinden muß [Der Text endet hier.] b. Nachschrift 1r

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Tex t. 1. Petri IV. 17–19. Denn es ist Zeit, daß anfange das Gericht an dem Hause Gottes; so aber zuerst an uns, was will es für ein Ende werden mit denen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? Und so der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder erscheinen? Darum welche da leiden nach Gottes Willen, die sollen ihm ihre Seelen befehlen als dem treuen Schöpfer in guten Werken. M. a. F. Es ist euch allen bekannt, daß es jährlich drei ausgezeichnete Tage giebt, an welchen sich Gott durch seinen mächtigen Schuz in den lezten großen Jahren des Kriegens und der Zerstörung an unserm König, seinen Bundesgenoßen und ihren Völkern verherrlicht hat, und deren wir | jährlich in andächtiger Erhebung und Dankbarkeit gedenken sollen. Der lezte davon ist der, der am Anfang der vergangenen Woche wiedergekehrt war, und indem ich nun bei mir selbst erwog, welches denn wohl in Beziehung auf jene große Erinnerung die herrschende Gemüthsstimmung der Mehrzahl unter uns sein möchte, so gestehe ich, ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, es sei eine gewiße Unzufriedenheit nicht sowohl die selbstsüchtige darüber, daß wir uns verhältnißmäßig nicht um so viel beßer befinden, als sich sonst die Sieger zu befinden pflegen, denn die Besiegten, sondern vorzüglich die beßere und verzeihlichere wenigstens, darüber daß überhaupt unsre gemeinsamen Angelegenheiten uns nicht scheinen so bedeutende Fortschritte gemacht zu haben, als es nach so großen von Gott gesegneten | Anstrengungen zu erwarten war. Dabei nun fielen mir die Worte der Schrift ein, die ich jezt eben gelesen habe, denn die Beziehung, in welcher der Apostel sie niederschrieb, ist in der That eine ähnliche. Die Wohlthat welche diejenigen erfahren hatten, die in dem Schooß der der damals sich zuerst gründenden khristlichen Kirche waren aufgenommen worden, die war wohl noch eine weit größere als die deren wir uns jezt zu erinnern haben; sie waren erlöst worden nicht wie die von einem äußerlich drükenden feindseligen Joch, sondern von dem eiteln Wandel nach väterlicher Weise und allem was damit zusammenhing, und sie waren hindurchgedrungen zur Freiheit nicht von einer äußeren feindseligen Gewalt, sondern 1–2 welcher ... muß] Ende von Schleiermachers Überarbeitung mit Einfügungszeichen am Rand vor zwischen, unten S. 720,14 10–15 Vgl. oben Anm. zu S. 715,3–9

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zur Freiheit der Kinder Gottes. Aber demohnerachtet waren | viele unter ihnen nicht ganz zufrieden, weil das Reich Gottes auf Erden keine so schnellen Fortschritte machte als sie erwarteten und weil sie von den Wiedersachern desselben mancherlei Unheil zu erdulden hatten. Denn damit fängt der Zusammenhang, in dem der Apostel diese Worte geschrieben hat, an daß er sagt „laßt euch die Hize nicht befremden, so euch begegnet.“ In Beziehung nun auf diese Unzufriedenheit mit dem langsamen und theilweise wenigstens nicht erfreuenden Fortschritte der Dinge in der khristlichen Kirche giebt der Apostel in den Worten unsers Textes seinen Lesern einen zwiefachen Rath, und der ist es auch den wir uns in der angeführten Beziehung zu Nuze machen wollen. Der erste ist der, daß sie sich vergleichen sollen mit denje|nigen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben; und der andre ist der, daß sie ihre Seelen befehlen sollen Gott dem treuen Schöpfer in guten Werken. Das beides laßt uns jezt näher mit einander erwägen. I. Das Erste also was der Apostel den Khristen anräth ist, sie sollen sich vergleichen mit denen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben. Denn so sagt er, das Gericht muß anfangen an dem Hause Gottes. Wir wißen wohl, m. g. F., daß er damit nicht dasjenige gemeint hat, was wir im engsten Sinne des Worts das lezte und allgemeine göttliche Gericht zu nennen pflegen. Denn das war damals noch nicht im Begriff hereinzubrechen; sondern daß er darunter wie gewöhnlich versteht jede große Entscheidung und Entwiklung | menschlicher Dinge in welcher sich das Böse von dem Guten scheidet, ersteres seinem Untergang entgegengeht, lezteres seiner Verherrlichung sich nähert. So sieht er die Begebenheiten die zum Theil traurigen und niederschlagenden Begebenheiten der Dinge der damaligen Zeit an, als ein Gericht, und sagt, das Gericht müßte anfangen an dem Hause Gottes; alle Prüfungen und Läuterungen, die dadurch erreicht werden sollen, müßten zuerst diejenigen treffen, die in einer nähern Verbindung mit Gott ständen, und schon Antheil genommen hätten an seinem Reiche, so aber, sagt er, zuerst an uns, welches wird sein das Ende der Gottlosen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? so der Gerechte kaum erhalten wird, wo will der Gottlose und Sünder | erscheinen? Es ist noch nicht lange her, m. g. F., daß ich eben von dieser Stätte gewarnt habe vor einer Vergleichung unsrer selbst mit andern, und es mögen vielleicht manche hier zugegen sein, die sich deßen erinnern, und sich wundern, daß ich ein Wort der Schrift ergreife, um zu demjenigen zu ermahnen, wovor ich damals gewarnt habe. Aber es 2–3 schnellen] so Schleiermachers Korrektur; Textzeuge: schnelle 1 Röm 8,21

6 1Petr 4,12

7 dem] den

34–36 Vgl. oben 20. Mai 1821 vorm.

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ist nicht beides Eins und dasselbige; denn ich habe damals gewarnt davor, daß wir nicht indem wir uns selbst prüfen unsern Werth darnach bestimmen sollen, je nachdem wir beßer sind als andre um uns her – hier ist aber nicht die Rede von einer Vergleichung unsers inneren Werthes, sondern von der Vergleichung des Einflußes, den die äußeren Begebenheiten auf die Menschen machen, sondern wir sie in Beziehung auf jenen großen | Unterschied betrachten, den wir dennoch nach aller Vergleichung nicht ableugnen können. Und in dieser Hinsicht meint der Apostel nicht, daß sich die Khristen vergleichen sollen mit andern Einzelnen um sie her, die außerhalb des Reiches Gottes leben, sondern im Allgemeinen sagt er, wenn in solchen Zeiten der Prüfung und der Läuterung kaum der Gerechte erhalten wird, wie will es denen ergehen, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? Das heißt nichts anderes als er will uns auf den großen Unterschied aufmerksam machen zwischen denen, welche durch die Gnade Gottes in dem Reiche Gottes gewonnen worden sind, weil sie der fröhlichen Botschaft von dem Dasein desselben geglaubt haben, und zwischen | denen, die sich noch im Wiederspruch damit befinden, indem er nämlich sich auf die eigene Erfahrung der Khristen beruft, die ja selbst früher ebenfalls in dem Zustande gewesen waren außer der Gemeinschaft mit Gott und mit Khristo zu leben; er will sie darauf aufmerksam machen, wie die Kraft der Frömmigkeit und des Glaubens in solchen Zeiten das Einzige sei was den Menschen erhalte, wenn er sagt „wenn der Gerechte kaum erhalten wird, was will es für ein Ende werden mit denen die dem Evangelio Gottes nicht glauben,“ und wir fragen, insofern er nun besteht, wodurch besteht er denn? so ist wohl gewiß die Antwort des Apostels keine andre, denn auch er war davon überzeugt, daß kein Fleisch gerecht werde durch sich selbst oder durch | des Gesezes Werke, sondern allein durch die lebendige und seligmachende Kraft des Glaubens; dieses also, sagt er, ist das Einzige was den Menschen in allen Prüfungen aufrecht erhalten kann. Und je mehr wir dies zu Herzen nehmen, je weiter wir davon entfernt sind uns mit irgend einem andern Einzelnen um uns her zu vergleichen, uns darüber zu freuen, wenn wir nur durch die Kraft des Glaubens den Muth auch in Zeiten unerwarteter Wiederwärtigkeiten und eines unerwarteten Zurükbleibens nicht sinken laßen, weit entfernt uns eben darauf etwas zu Gute zu thun, wenn andre um uns her noch weniger im Glauben und im Vertrauen feststehen als wir, sollen wir vielmehr bedenken, wie es um uns stehen | würde, wenn wir diese Kraft des Glaubens noch nicht in uns hätten. Denn das ist gewiß, daß sie das Einzig Erhaltende ist, und das Einzige wodurch dem Menschen alle Dinge die ihm be14 zwischen] davor mit Einfügungszeichen am Rand die letzten Worte von Schleiermachers Überarbeitung, oben S. 718,1–2 26–28 Vgl. Röm 3,20.22; Gal 2,16

38–1 Vgl. Röm 8,28

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gegnen zum Besten dienen können und sollen. Denn dazu gehört vorzüglich dies, daß der Mensch glaube und fest überzeugt sei, sie seien zu nichts anderem geordnet als den Willen Gottes zu seiner Bestimmung zu führen. Indem der aber gerichtet ist auf die Gründung und auf die Erhaltung seines Reiches in der Welt, so ist er auch darauf gerichtet, alle diejenigen festzuhalten die demselben bereits angehören, und darauf, daß Alles ihnen zur Befestigung in der göttlichen Gnade, zur innigen Anknüpfung ihrer Gemeinschaft mit Khristo, zur vermehrten | Selbsterkenntniß gereichen soll. – Ja, m. g. F., das mögen wir denn auch anwenden auf alles dasjenige, was einem jeden in sein Gemüth kommt, wenn wir an jene noch nicht lange vergangene Zeit denken, deren Herrliches und Erhabenes uns noch in frischer Erinnerung ist, so daß wir auch wohl wißen, wovon wir selbst damals erfüllt waren, was wir hofften und glaubten. Denn wir mögen wohl sagen und mit Recht, wie von diesen unsern Hoffnungen bei weitem noch nicht so viel in Erfüllung gegangen ist als wir glaubten, wie sich der Zustand der menschlichen Dinge zunächst in unserm eigenen Gebiet und dann auch um uns her in denjenigen menschlichen Gesellschaften, die in einer näheren Verbindung mit | uns stehen, noch nicht so viel gebeßert hat, als wir es gewiß erwarten; so mögen wir wohl fragen, wenn auf diese Weise der Gerechte kaum erhalten wird, d. h, wenn statt daß alles einen schnellen Fortschritt zum Beßern nehmen soll, es oft selbst nach so glänzenden Zeiten Mühe kostet, um das schon Bestehende zusammenzuhalten, wenn das da geschieht, wo – Gott sei Dank – die khristliche Kirche wahrhaft lebt, wo die höhere Kraft welche in ihr liegt sich in den Menschen wirksam beweist – wie würde es wohl stehen, wenn auch diese nicht da wäre? und was können wir uns denken müßte in einer solchen Zeit das Ende derer sein, die dem Evangelio Gottes nicht glauben? Denn | früher oder später würde in denen bald mehr durch den erfreulichen Zustand des Wohlergehens, bald mehr aber auf eine andre Weise durch Trübsal und Wiederwärtigkeiten, bald durch ein langes Beharren des einen oder des andern, bald durch einen schnellen Wechsel von beiden, aber auf jede Weise je weniger das Leben gleichmäßig ist, jemehr es auf der einen Seite auf die Spize gestellt wird, um desto mehr alles dasjenige aufgeregt werden, indem sie selbst glauben sich gegen den Wechsel desselben schüzen zu können, wodurch sie auf der einen Seite ihre eingebildeten Vorzüge vor andern am meisten empfinden, und sich des Gefühls derselben erfreuen können, oder auf der andern Seite mannichfaltig gereizt werden durch | das Gefühl der Zurüksezung gegen andre. Und was ist das anders als irgend eine Gestalt menschlicher Leidenschaft, irgend eine Äußerung der Gesinnungsweise, die eine Feindschaft ist wieder Gott, irgend ein Zufluchtnehmen zu solchen Hülfsmitteln, die etwas anderes sind als die schüzende Hand des Höchsten, 10–12 Anspielung auf die Zeit der Reformen und Befreiungskriege

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irgendein falsches und leeres Vertrauen, was sich früher oder später als ein solches zeigt. Und wie gesagt wir brauchen dazu nicht zu einer Vergleichung mit diesem oder jenem Einzelnen oder mit dieser oder jener besondern menschlichen Gesellschaft unsre Zuflucht zu nehmen, sondern wir dürfen nur in das Innere unsers eigenen Herzens hinabsteigen, | und uns fragen, wenn du fühlst, daß du jezt kaum erhalten wirst, daß du jetzt kaum dich aufrecht erhältst und beharrest auf dem Wege den du eingeschlagen hast, was würde wohl sein, wenn du dem Evangelio Gottes nicht glaubest? Und dadurch werden wir zurükgeführt von der Wahrnehmung des Gefühls des Unerfreulichen in unsrer äußeren Lage zur Dankbarkeit gegen Gott für dasjenige, was in jeder denkbaren den Menschen so aufrecht erhalten kann, daß er die Prüfung besteht, die Gott der Herr ihm schikt. Und wenn wir in dieser Beziehung auf jene erhebenden und ruhmvollen Begebenheiten zurüksehen, | deren Andenken wir jezt erneuern sollen, was können wir anders als Gott vorzüglich dafür danken, was wir wohl nicht abzuleugnen im Stande sind, sondern oft als eine erfreuliche Erfahrung gerühmt haben, daß sie viel dazu beigetragen habe, gar manchen von dem eiteln Wege des Tichtens und Trachtens nach dem Irdischen zurükzuführen, den schlummernden Keim des lebendigen Vertrauens auf Gott und auf Khristum in den Herzen vieler wieder zu beleben, und sie zu dem Bewußtsein zu bringen, daß es auch in diesen Begebenheiten nicht das Äußerliche und Glänzende sei, deßen | sie sich vorzüglich zu erfreuen haben, sondern die Bewährung eines festen Vertrauens, welches sich dadurch zu erkennen gegeben hat. II. Der zweite Rath des Apostels ist der „so mögen denn die die da leiden nach dem Willen Gottes, ihre Seelen Gott befehlen als dem treuen Schöpfer in guten Werken.“ Was der Apostel aber damit meint, wenn er uns ermahnt, unsre Seelen Gott zu befehlen als dem treuen Schöpfer in guten Werken, das ist ohne Zweifel dies, daß wir sie nicht uns selbst befehlen sollen, d. h., daß wir nicht glauben sollen, in eigener Weisheit und Klugheit eine beßre Ordnung uns aussinnen zu können als die | welche Gott der Herr gesezt hat, und uns darauf verlaßen, daß er der treue Schöpfer und Erhalter und Regierer der Welt ist[,] alles Eins und dasselbige, und eins von dem andern nicht zu trennen – daß er als der treue Schöpfer am besten die Dinge in der Welt, die das Werk seiner Allmacht sind, zu ordnen, und alles zu seinem heiligen Zweke zu führen weiß. Auch darüber, m. g. F., können wir uns nach Anleitung der Worte unsers Textes auf unsre eigene Erfahrung berufen, jemehr wir schon große Wechsel in unserm irdischen Leben erfahren haben; 11 denkbaren] den denkbaren 13–14 Vgl. oben Anm. zu S. 715,3–9

18 Vgl. Gen 6,5

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und es ist wohl die Zeit, in welche Gott uns gesezt | hat, reicher daran als manche andre, auf welche die Erinnerung zurükgehen kann. Wenn wir daran zurükdenken, was wir auf diesem oder jenem Punkt der Entwiklung der Dinge gewünscht haben, und wie oft sich dann gezeigt hat, wenn die Wege des Herrn nicht die unsrigen waren, und seine Gedanken von den unsrigen weit entfernt, wie viel besser die seinigen sind, wie viel richtiger sie das Ziel treffen, wie viel mehr durch das was Gott durch sie bezwekt ausgerichtet wird, wie viel tiefer sie in die Gemüther der Menschen eingreifen, wie viel mehr Wahrheit und Leben sie erweken als dasjenige, was wir größtentheils auf eine kurzsichtige | Weise zur Vertreibung aller der Verirrungen, in welche wir verwikelt waren, auszusinnen pflegten: o so sind wir aus eigener Erfahrung überzeugt, wie übel der Mensch berathen ist, wenn er seine und andrer Menschen Seelen sich selbst, seinem eigenen Rath und seiner eigenen Klugheit empfiehlt. Ja ich wünsche und hoffe, daß wir in dieser Beziehung auch noch eine andre Erfahrung gemacht haben mögen. Ich kann nämlich nicht anders als glauben, daß diese Neigung der Menschen ihre Seelen sich selbst zu befehlen, dieses Vorzeichnenwollen der Wege der göttlichen Führung, größtentheils noch in einem Antheil an dem eiteln Wesen | dieser Welt seinen Grund hat, und daß nur insofern wir noch in dieser verflochten sind wir uns damit befaßen. Wenn wir aber alles Andre abgewiesen haben, und für uns und für andre nach nichts Anderem streben als nach der Gründung und Befestigung des göttlichen Reiches: so werden wir nie in Verlegenheit sein, wenn wir in irgend einem Wendepunkt der menschlichen Dinge fragen wollen, was da das Heilsamste und Beste sein möchte, eben weil wir wißen, daß denen die Gott lieben alle Dinge zum Besten gereichen müßen, eben weil wir wißen, wenn der Mensch kein anderes Ziel vor sich hat und keine andre Richtung des Bewußtseins als diese, | so ist auch die Kraft seines Geistes die das Ziel ergriffen hat so groß, daß jeder Weg, den er eingeschlagen ist ihn nirgends anders als zu demselben hinführen muß; dann werden wir erfahren, wie die Ordnung der Begebenheiten in der Welt durch ganz etwas anderes bestimmt wird, als dadurch daß sie ihren Grund haben in etwas, was wir nicht zusammenfaßen und berechnen können, aber zugleich werden wir dann noch fester werden in der Zuversicht daß wir getrost unsre Seelen Gott befehlen als dem treuen Schöpfer in guten Werken, wißend daß wenn der seinen Geist nicht von uns nimmt, wenn der uns in treuem Glauben an das | Evangelium erhält, alles was er uns geordnet hat aus weisen Absichten uns zum wahren Besten gereichen wird. Und das, m. g. F., gilt nicht bloß von dem einzelnen Menschen, wie dem der das was in sein Leben hineinfällt durch die Kraft des 39 dem der] der 4–6 Vgl. Jes 55,8

25–26 Röm 8,28

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Geistes zu seinem Heil wendet; warum sollte nicht was von dem einzelnen Menschen gilt auch von jeder noch so großen menschlichen Gesellschaft wahr sein und behauptet werden können. Wenn in dieser nur der göttliche Geist lebt, dann kann auch sie die feste Zuversicht haben, daß auch für sie nichts beßer ist als ihre Seele Gott befehlen. Aber wenn wir sie | Gott befehlen als dem treuen Schöpfer, so soll das nicht anders geschehen wie der Apostel sagt als in guten Werken. Das ist freilich ein Zusaz, auf den er kaum nöthig haben sollte aufmerksam zu machen, sondern voraussezen, daß sich das ein jeder von selbst gedacht hätte. Denn was heißt es anders dem Evangelio Gottes glauben? wer sind diejenigen, welche der Apostel als die Gerechten den Gottlosen gegenüberstellt, denn nur die welche sich selbst betrachten als Diener und Werkzeuge Gottes, und alles was ihnen der Herr gegeben als ein anvertrautes Pfund, was sie nicht nur besizen sondern gebrauchen sollen, und zwar | für die ewigen und seligen Zweke seines Reiches gebrauchen sollen? Da ist also vorauszusezen ein beständiger Hunger und Durst nach guten Werken, ein Tichten und Trachten nach dem Reiche Gottes, ein Streben nach der Gerechtigkeit, das heißt in jedem Augenblik unsers Lebens dies zu thun, was nach unserm lebendigsten Gefühl der Wille Gottes an uns ist. Ist nun dieser Hunger und Durst da, und die Seele geschikt im Glauben zu guten Werken, wie sollten wir dann beides voneinander trennen können, das Eine daß wir unsre Seelen Gott befehlen, und das Andre daß wir in jedem Augenblik in dieser Tüchtigkeit des Menschen Gottes | begriffen sind, und nichts abweisen was uns nach dem Willen Gottes kommt zu thun? Und wenn beides miteinander verbunden ist so findet auch das Eine in dem Andern seine Bestätigung. Denn jedes gute Werk, welches wir nach dem Willen Gottes vollbringen können, das bewährt ja, daß wir Recht haben unsre Seelen Gott dem treuen Schöpfer zu befehlen. Denn in der Erfüllung der guten Werke, in der Vollbringung des göttlichen Willens, haben wir das wonach wir trachten, Leben und Seligkeit. Und auf der andern Seite, das sich aller eitlen Sorge Entschlagen, und allein seine Seele und alle seine Angelegenheiten dem treuen Schöpfer | Befehlen, das giebt dem Herzen Kraft zu guten Werken, weil es alles aus dem Menschen entfernt was die Seele stören kann. So laßt uns denn, m. g. F., diese beiden Rathschläge des Apostels beständig befolgen, und in jedem Augenblik wo wir über die menschlichen Dinge nachdenken zu dem Bewußtsein zurükkehren, daß dies das Einzige ist, der Glaube an das Evangelium Gottes, daß dies die einzige Kraft giebt und Beschüzung unter allen Wechseln der menschlichen Dinge die wir erfahren, und eben deßwegen, was der Anfang ist aller Weisheit und Liebe, 30–31 Entschlagen ... Seele] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 27r 11–15 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–26

20–23 Vgl. 2Tim 3,17

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unsre Seelen mit allen ihren Wünschen für die welche uns angehören | sowohl als für das ganze Geschlecht der Menschen dem treuen Schöpfer empfehlen, seiner Regierung und Weisheit vertrauen, aber auch nie laßen von guten Werken: damit auch wir wenn der Herr kommt wachend erfunden werden. Das verleihe er uns; so werden wir immer würdiger erfunden werden seiner Gnade, die er über uns ausgegoßen hat, und es wird sich immer mehr rechtfertigen vor der Welt der große und herrliche Schuz den er uns hat angedeihen laßen, und sein Reich wird sich unter uns still zwar aber immer kräftiger erbauen. Das gebe er uns um Khristi willen. Amen.

4–5 Vgl. Lk 12,37

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Am 1. Juli 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 4,17 Nachschrift; SAr 79, Bl. 15v–34r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 195–208 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 85v–86r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 157r–159v; Woltersdorff (unvollendet) Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am zweiten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Am 2. Sonnt. n. Trin. 1821. Tex t. Matthäi IV. 17. Von der Zeit an fing Jesus an zu predigen und zu sagen: thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeikommen.

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M. a. F. Wenn wir in dieser Zeit zu unsrer Erbauung mit einander erwägen wollen den Unterricht, den der Erlöser während er auf Erden wandelte, seinen Jüngern gegeben hat über das Reich Gottes, welches zu gründen er gekommen war, und welches zu verbreiten er sie erwählt hatte, so würde das ein bloß geschichtlicher und zwar lehrreicher Unterricht sein, aber nicht ein solcher, der uns selbst auf dem Wege des Lebens weiter leiten könnte, wenn nicht auch wir etwas zu thun hätten in dem Reiche Gottes und für dasselbe, wenn nicht | sei es auch unter andern Gestalten derselbe Beruf, den der Erlöser seinen ersten Jüngern gab, auch noch der unsrige wäre – aber unter andern Gestalten freilich, und eben deßwegen müßen wir wohl zusehen, was in jenem Unterricht des Erlösers an seine Jünger das immer und allgemein und auch noch für uns Gültige ist, und was im Gegentheil sich nur auf die damaligen Zeiten und auf die verschiedenen Umstände bezog. Um nun dadurch nicht verwirrt zu werden, und einen festen Grund für die Reihe unsrer Betrachtungen zu legen, ist es wol zwekmäßig, daß wir uns bei den verlesenen Worten verweilen. Denn der Evangelist | giebt in dem Abschnitt seiner Geschichte woraus sie genommen sind eine allgemeine Uebersicht von den Reden und den Thaten unsers Erlösers; und so

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ist in den Worten unsres Textes der wesentliche Inhalt seiner Verkündigung, die hernach auch die Verkündigung seiner Jünger sein sollte, niedergelegt. Das Wesentliche aber derselben das muß überall und immer auch sich selbst gleich bleiben und unverrükt, wenn das Reich Gottes, so wie es gegründet ist auch fort bestehen soll. So laßt uns denn in dieser Beziehung, daß sie das Wesentliche der Verkündigung des Khristenthums enthalten, die Worte unsers Textes näher mit einander erwägen. Es sind aber darin enthalten zwei Auffoderungen: die eine, | thut Buße; und die andre, welche mehr die Gestalt einer Ankündigung hat „das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“. I. Wenn also zuerst der Evangelist sagt, von der Zeit an habe Jesus begonnen zu predigen, indem er nämlich sagte, thut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen: so könnten freilich auch hier schon mancherlei Einwendungen gemacht werden dagegen, ob auch das wohl das Wesentliche und beständig sich selbst gleich bleibende in der Verkündigung des Khristenthums sei. Denn zuerst könnte man sagen, auch schon Johannes der Täufer habe dasselbe gepredigt, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Und wenn wir erwägen was unser | Evangelist sagt da wo er uns erzählt, unser Herr habe seine Apostel ausgesendet, um auch ohne ihn gleichsam einen ersten Versuch zu machen in der Erfüllung ihres Amtes, und wo uns der Evangelist Lukas erzählt, er habe siebenzig andre Jünger als er gen Jerusalem gehen wollte vor sich her gesandt, um predigen zu lassen: da sagte er zu jenen Zwölf und zu diesen Siebenzig nicht, "thut Buße", sondern, „ihr sollt hingehen und sprechen, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“. Wenn nun die Aufforderung zur Buße schon die Predigt des Johannes war, der doch nicht unmittelbar zu dem Reiche Gottes in Khristo gehörte, sondern demselben nur voranging; und wenn es scheint als wenn der Erlöser seinen Jüngern nicht mehr aufgetragen habe zu predigen, thut Buße: so | könnte man glauben, was der Evangelist hier von der eigenen Verkündigung des Herrn erzählt, das sei nur der Uebergang gewesen von der strengen ernsten Predigt des Johannes, der indem er die Menschen auffoderte, thut Buße, nicht nur von dem Himmelreich redete, welches nahe herbeigekommen war, sondern auch von dem Tage des Zorns, dem der eine auf diese und der andre auf jene Weise suchte zu entfliehen, 6 daß] Ergänzung aus SW II/10, S. 196 17 sei] Ergänzung aus SWII/10, S. 196 und SAr 60, Bl. 157v 20 ausgesendet] so SAr 60, Bl. 157v; Textzeuge: abgesondert 30–31 der ... Herrn] so SW II/10, S. 197; Textzeuge: seiner eigenen Verkündigung 17–19 Mt 3,2 19–21 Vgl. Mt 10,1–16 22–26 Vgl. Lk 10,1–12 26 Mt 10,7; vgl. Lk 10,9 34 Vgl. Mt 3,7; Lk 3,7

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nur ein Uebergang sei es gewesen von jener strengen Verkündigung zu der frohen und heitern, die gleich damit anhebt, womit der Erlöser hier schließt: das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Aber als der Apostel Petrus zuerst an dem Tage der Pfingsten den hohen Beruf | des apostolischen Amtes erfüllte und das Evangelium von Jesu von Nazareth, daß Gott ihn gemacht habe zu einem Herrn und Khrist, öffentlich predigte: da fing er als er die Herzen seiner Zuhörer getroffen hatte, und sie fragten, ihr Männer lieben Brüder, was sollen wir thun? seinen Rath doch wieder mit demselben an: so thut denn Buße. Und indem derselbe Apostel in seinem Briefe die Khristen auffordert, Gott den himmlischen Vater auf das innigste dafür zu preisen, daß sie erlöst wären von dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, so sezt er dabei voraus, daß alle, ehe sie in das Himmelreich waren aufgenommen worden auf einem Wege gewesen wären, von welchem sie hätten umkehren müßen, und also etwas in | sich gehabt, wofür sie hätten Buße thun müßen. Und in einem solchen eitlen Wandel nach väterlicher Weise entweder unter dem Dienst des buchstäblichen Gesezes, oder unter dem Dienst eines Wahnes, der das innere Bewußtsein des ewigen Gottes verwandelt hatte in eitle thörichte und verkehrte Bilder, unter einem solchen eitlen Dienst waren damals alle diejenigen befangen, denen das Evangelium von Khristo gebracht ward, und war daher natürlich, daß die Verkündigung desselben anfangen mußte mit der Aufforderung: so thut denn Buße. Aber freilich, etwas anderes war doch diese Aufforderung als die Predigt des Johannes, der dem Erlöser und seinen Jüngern voranging. Denn der hielt den Menschen | die zu ihm hinausgingen in die Wüste, vor den Tag des Zorns und der Strafe; der Erlöser aber sagt von sich, er sei nicht gekommen zu richten, und auch nicht das Gericht zu verkündigen; denn wer da nicht glaube der sei schon gerichtet; und eine andre Aufforderung zur Buße hat er seinen Jüngern auch nicht aufgetragen als die, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Und so will denn eben dieses Wort, thut Buße, nichts anderes sagen als jene Aufforderung des Propheten, die unser Evangelist auch anwendet auf die Verkündigung des herbeigekommenen Reiches Gottes „machet die Thore weit und die Wege frei und eben, daß der König | der Ehren, der das Himmelreich bringt, einziehen könne; thut alles von euch, werfet alles aus eurer Seele und aus dem Innersten euers Herzens heraus, was euch hindern kann an der Gemeinschaft mit dem, der das Leben und die Unsterblichkeit an das Licht gebracht hat; 18 eitle] so SW II/10; S. 198; Textzeuge: alle S. 198

20 war] Ergänzung aus SW II/10,

3–9 Vgl. Apg 2,36–38 9–11 Vgl. 1Petr 1,18 17–18 Vgl. Röm 1,21–23 23– 25 Vgl. Mt 3,7; Lk 3,7 25–27 Vgl. Joh 3,17–18; 12,47–48 30–32 Vgl. Jes 40,3 (zitiert hier in Mt 3,3; vgl. Mk 1,3; Lk 3,4; Joh 1,23) 32–33 Vgl. Ps 24,7 36 Vgl. 2Tim 1,10

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reiniget eure Seelen, damit er den Weg offen finde zu euch zu kommen mit seinem Vater, und Wohnung bei euch zu machen, wie er es verheißen hat.“ Und in dieser Umwandlung von der strengen Hinweisung auf das Gericht, die nur Furcht erzeugt – die Furcht aber ist nicht in der Liebe, sondern die völlige Liebe treibt die Furcht aus – zu jener erfreulichen Botschaft um derentwillen eben die Lehre und die Verkündigung des Herrn eine fröhliche Botschaft | genannt wird, daß nämlich das Himmelreich nahe herbeigekommen sei, in dieser verwandelten Gestalt ist die Aufforderung, thut Buße, eine wesentliche in der Verkündigung des Khristenthums, ja das Erste worauf alles andre ruhen muß. Denn ist nicht alles aus der Seele hinweggeräumt, wünscht sie nicht selbst und sehnt sich von allem erledigt zu werden, was im Wiederspruch steht mit der neuen Gemeinschaft mit Gott, in welche sie eingehen soll: o dann kann es ja nicht anders sein, auch die himmlische Weisheit, auch die Freudigkeit des Glaubens, auch die Süßigkeit der Liebe, und alle die Früchte des Geistes, die uns die frohe Bothschaft von dem herbeigekommenen | Himmelreich in der Nähe und in der Ferne zeigt, das alles muß wieder verunreinigt werden und seine Herrlichkeit und Schöne verlieren in einer Seele, die nicht ganz und wahrhaft und aufrichtig Buße gethan hat. Und so darf ich wohl kaum besorgen, m. g. F., daß jemand sagen möge: freilich war die Auffoderung, thut Buße denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, wesentlich für jene Zeiten, wo das Evangelium gepredigt ward denen, die entweder gehalten waren unter der Zuchtmeisterschaft des Gesezes, oder befangen von dem finstern Wahn des Gözendienstes, deren ganze Ansicht also und Alles was sie von Jugend auf gehört und gelernt hatten, und was | ihnen als die Regel ihres Lebens vorgezeichnet war, die das alles von sich thun und sich frei davon machen mußten, um das Wort des Evangeliums in ihr Inneres aufzunehmen; aber wie kann das Bußethun auch jezt noch das Erste und Wesentliche in der Verkündigung des Evangeliums sein, wo eben dieses Gesez des Geistes, welches höher ist als das Gesez des Buchstabens von Jugend an durch das göttliche Wort in die Herzen der Menschen eingeprägt wird, wo nicht in einem eitlen Wandel nach väterlicher Weise ein Geschlecht von dem andern aufgenommen und gebildet und darin eingeweiht, sondern jedes geleitet wird von einem Geschlecht von Menschen, welches das Bekenntniß ablegt und in Wahrheit soll ablegen können, unser Wan|del ist im Himmel, und also schon von Jugend an aufgenommen wird in jenen Wandel im Himmel – ich sage, ich fürchte nicht daß jemand sagen möchte, eben deßwegen sei für unsre Zeiten die Aufforderung, so thut denn Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, nicht wahr und nicht richtig, weil sie nicht heiter genug sei und nicht würdig alles des Guten und Herrlichen, welches 1–2 Vgl. Joh 14,23 4–5 1Joh 4,18 1Petr 1,18 35 Phil 3,20

22–23 Vgl. Gal 3,23–25

31–32 Vgl.

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sich nachdem das Himmelreich schon so lange unter uns ist unter den khristlichen Völkern entwikelt und befestigt hat; ich fürchte es nicht, wie wohl es freilich oft ist gesagt worden, weil ich glaube, indem hier sie schon vereinigt sind, indem wir uns schon geläutert haben und in Uebereinstimmung gebracht durch ein Gebet, welches unsre | Vereinigung mit Gott ganz dem zuschreibt, der das Reich Gottes gestiftet hat, und welches für jeden neuen Tag und für jeden neuen Abschnitt unsers Lebens aufs neue um die Erleuchtung des göttlichen Worts und um den Beistand des göttlichen Geistes fleht, müßen wir alle von dem Bewußtsein durchdrungen uns fühlen, daß wir zwar in dem Himmelreich sind, aber auch nicht darin sind, daß es zwar mitten unter uns ist, aber daß wir auch wieder fern davon sind, und indem wir nöthig haben uns die fröhliche Botschaft zu vergegenwärtigen, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, auch der andern nicht entbehren können, thut Buße. Ja so ist es, m. g. F.; fühlen wir in | den seligeren und höheren Augenbliken unsers Lebens die Wahrheit deßen, was der Erlöser gesagt hat, das Himmelreich ist mitten unter euch; ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende; ich will mit dem Vater kommen und Wohnung machen in euren Herzen – o dann sind wir voll von dem lebendigen Gefühl des Himmelreichs, und wißen es und empfinden es als eine göttliche Gabe und mit inniger Dankbarkeit gegen Gott, daß wir deßen Genoßen sind. Aber es kommen andre Augenblike, wo wir es fühlen, daß außer dem Gesez des Geistes noch ein anderes Gesez in unsern Gliedern wohnt, und daß wir das Gute nicht thun welches wir wollen, es kommen andre Augenblike, | wo wir es fühlen, daß die Erde nicht der Himmel ist, und daß die welche auf der Erde leben immer noch theilen das Loos der Vergänglichkeit; und in jedem solchen Augenblik müßen wir es wißen, daß auch das in unsrer Seele ist, welches aufs neue herausgerißen werden muß, damit das Himmelreich aufs neue darin erblühe, daß noch etwas in unsrer Seele ist, wovon wir müßen Buße thun. So ist denn die Bedürftigkeit der Buße immer unter uns; aber nicht anderwärts her, wie es denjenigen geschah, die in jenen ersten Zeiten die frohe Botschaft des Himmelreichs vernahmen, nicht von anderwärts her sondern aus unsrer eigenen Mitte muß die Auffoderung | kommen, thut Buße; und wie wir mit einander leben, so ist sie dasjenige was einer an den andern muß ergehen laßen je nach der Verfaßung des Gemüthes, in welcher in einem jeden Augenblik beide sich befinden. Wo einer ist, der aus dem frohesten seligsten Bewußtsein, daß sein Wandel im Himmel ist, herausgefallen ist durch menschliche Schwäche und menschliche Gebrechlichkeit, dem thut Noth, daß ihm gesagt werde: 4 vereinigt] vereignigt 16 Vgl. Lk 17,21 23 Vgl. Röm 7,19

16–17 Mt 28,20

17–18 Joh 14,23

22–23 Vgl. Röm 7,23

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thue Buße, denn das Himmelreich ist dir nahe getreten; und wo einer neben ihm steht, der das lebendige Gefühl des Himmelreichs in sich hat, und sieht und fühlt die Noth und die Bedürftigkeit seines Bruders, der sage zu ihm: | so thue denn Buße, damit dir das fröhliche Gefühl welches du verlohren hast wieder komme; denn das Himmelreich ist dir nahe sofern du nur Buße thust. Das, m. g. F., das ist die theure Pflicht der brüderlichen Liebe, die wir gegen einander auszuüben haben, das ist die theure Pflicht, die wir alle auszuüben haben gegen den der den Bund der Liebe und des Glaubens unter uns gestiftet hat, damit wir ihm alles zusammenhalten, damit alles Dunkle, alles Trübe und Mangelhafte, was sich in seinem Reiche einfinden will, sobald als möglich wieder herausgetrieben werde, damit die unterbrochene Gemeinschaft mit ihm und mit dem himmlischen Vater immer sobald als möglich | wieder hergestellt werde. Und wie die Apostel des Herrn indem sie nach seiner Anweisung ausgingen in alle Welt, und lehrten alle Völker, und bei allen anfingen mit dieser Predigt der Buße, aber dennoch durchdrungen waren von dem Gefühl ihrer eigenen Bedürftigkeit, und sich nicht überhoben des hohen Berufs der ihnen geworden war: so sollen auch wir unter einander eben diesen Beruf, daß wir einer dem andern zurufen, thut denn Buße, ausüben, ohne daß einer sich deßen gegen den andern überhebe. Und um so mehr können wir uns davor hüten, weil wir wißen, daß wie uns in dem Augenblik durch die Gnade Gottes verliehen ist und auferlegt, unserm Bruder freundlich zuzurufen „|thue Buße, denn das Himmelreich ist jezt nicht in dir, aber es ist dir nahe“, so auch für uns und für jeden unter uns in dem Wechsel dieses irdischen Lebens die Augenblike kommen, wo auch uns Noth thut daß uns zugerufen werde „thue Buße“, und wo wir die ernste Auffoderung und die überwindende und freudige Kraft, die sich gleich daran knüpft, mit willigem Herzen zur Erneuerung und zur Befestigung unsrer Seligkeit von unsern Brüdern annehmen. II. Und das ist nun das zweite Wesentliche und Allgemeine in der Verkündigung des Evangeliums, daß nicht der Mensch indem ihm zugerufen wird so thue denn Buße, und ihm | bekannt gemacht, er befinde sich auf einem falschen Wege, von dem er je eher je lieber umkehren müße, gleichsam in die weglose Wüste hinausgestoßen werde und in einen ungewißen Zustand, in welchem er nichts als seine eigene Nichtigkeit fühlt, sondern immer und überall dem Zuruf, so thue denn Buße, der andre hinzugefügt werde, „denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“. Als unser Erlöser, m. g. F., wie der Evangelist erzählt, anfing zu predigen „thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“, so wendete er sich an ein allgemein gefühltes Bedürfniß, und stüzte sich auf | die alten herrlichen 13–15 Vgl. Mt 28,19; Lk 24,47

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Weissagungen aus den Zeiten der Väter seines Volks, und jemehr die Menschen durchdrungen waren von dem Bedürfniß eines neuen Lebens, und es schmerzlich fühlten, daß der Geist der Weissagung seit langer Zeit gewichen war von dem Volk, und eben dadurch die lebendige Gemeinschaft mit ihrem Herrn und ihrem geistigen König abgebrochen, je deutlicher er es ihnen aussprach, daß eben die Weissagungen ihrer frommen Väter nicht auf etwas Irdisches und Vergängliches gingen, sondern auf das wahrhaft Bleibende und Himmlische, desto mehr waren sie geneigt, dem was er ihnen sagte ihren Glauben zu schenken, und ihr Herz der frohen | Hoffnung zu öffnen, daß die Erfüllung aller ihrer Wünsche nahe herbeigekommen sei. Und als die Apostel auf seinen Befehl ausgingen, um überall in dem jüdischen Lande anhebend von Jerusalem, und dann auch unter allen Völkern so weit sie kommen konnten, eben dieses Himmelreich zu verkündigen, da fanden sie dasselbe Bedürfniß vor, und wo sie sich nicht auf die alten Weissagungen berufen konnten, die in den heiligen Schriften ihres eigenen Volks enthalten waren, da beriefen sie sich auf die alten Stimmen alter Weisen und begeisterter Männer, die eben dieses Bedürfniß, die eben die Nichtigkeit alles Vorhandenen aussprachen, und | die Hoffnung ihrer Zeitgenoßen auf eine ferne Zukunft hinzurichten suchten. Aber würden wohl die Menschen, denen der Erlöser selbst predigte, das Himmelreich ist nahe herbeikommen, würden sie es wohl so vorzüglich seinen Worten geglaubt haben, wenn sie nicht in ihm selbst das Himmelreich gefühlt hätten, wenn nicht der göttliche Eindruk seiner ganzen Person, die himmlische Kraft und Weisheit seiner Reden, das Bild der aufopfernden heiligen Liebe, als welches er in der Welt erschienen war, wenn das nicht auf sie gewirkt hätte, der Stimme eines solchen Mannes kräftig in Worten und Thaten, in dem die | Fülle der Gottheit wohnte, zu glauben. Und als zuerst diejenigen, deren Seelen sich an ihn gekettet hatten, ihre nächsten Freunde und Brüder aufriefen und zu ihnen sprachen, wir haben den Herrn gefunden, die Erfüllung aller unsrer Hoffnungen, die Wurzel und den Keim des Himmelreichs: würde auch der Israelit ohne Falsch voll von Hoffnung des Reiches Gottes geglaubt haben, wenn sie nicht selbst hätten so zuversichtlich ihm zurufen können: komm und siehe, und wenn er nicht gesehen hätte, als er kam. O so können wir freilich, indem wir uns in jene Zeiten zurükversezen, wo ein großer Theil der Menschen | die herrlichen Wirkungen der frohen Verkündigung, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, erfuhr, indem wir sehen das schmachtende Herz, das durch nichts schon Vorhandenes hatte befriedigt werden können, wir fühlen und theilen den Eindruk, den der Sohn Gottes 37 hatte] Ergänzung aus SW II/10, S. 204 11–12 Vgl. Mt 28,19; Lk 24,47 26–27 Vgl. Kol 2,9 33 Vgl. Joh 1,47–50 33 Joh 1,46

29 Vgl. Joh 1,41.45

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in seiner persönlichen Erscheinung auf die Herzen der Menschen machte, und den Nachhall der freudigen Kraft des Glaubens, die in denen wohnte, welche ihren Herrn und Meister geschaut hatten, und von seiner persönlichen Erscheinung waren ergriffen worden. Aber wenn wir uns fragen, wie ist es denn jezt in beider Hinsicht? | thut es auch jezt noch Noth, daß man den Menschen sage, thut Buße denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, da sie doch alle mitten in demselben sind, und wie der Apostel Petrus als er zuerst den Heiden das Evangelium verkündigt hatte, und sie von dem Geist Gottes ergriffen wurden, sagte: „wer mag wohl das Waßer wehren, daß diese nicht getauft werden, die den Geist Gottes empfangen haben gleich wie wir," müßen wir nicht eben so alle und von uns allen sagen, wie könnten wir wohl glauben, daß diese alle nicht den Geist Gottes empfangen haben, die getauft sind wie wir – aber den Geist Gottes | haben und das Himmelreich in sich tragen ist Eins und dasselbige; denn die Früchte des Geistes und die Seligkeit des Himmelreichs sind Eins und dasselbige. Und was das Andre betrifft, wenn es nun den Menschen Noth thut ihnen zu sagen, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, wo sollen wir denn hernehmen die überzeugende, die tief in das Innre hineindringende Kraft der Verkündigung, die ursprünglich nur davon ausging, daß der, von dem die Verkündigung kam, das Himmelreich selbst in sich trug, und indem er es zeigte es auch fortpflanzte und verbreitete? Aber das Bedürfniß, m. g. F., das ist auch immer noch in | der Gemeine Gottes; noch ist sie nicht sondern sie soll erst werden die reine die flekenlose, die dem Herrn wird dargestellt werden können, damit er sie ganz zu sich nehme, sie trägt noch in sich überall in ihrem ganzen Umfang die Spuren des werdenden, des noch nicht vollendeten Himmelreichs, und in unserm gemeinsamen Leben und in dem Herzen eines jeden ist noch dies und jenes, sei es nun viel oder wenig, was nicht aus dem Himmelreich stammt, und ihm nicht angehört; und eben deßwegen ist es ein Wort des Trostes, welches wir alle oft und mannichfaltig bedürfen, daß das Himmelreich uns immer | nahe sei, wenn es auch Augenblike giebt, wo wir uns selbst nicht ganz und froh und frei als Mitglieder desselben fühlen. Aber freilich wenn wir uns das Bedürfniß nicht verschweigen können, so müßen wir um so mehr fragen, wie steht es um die Kraft, die der fröhlichen Bothschaft, das Himmelreich ist dir nahe, ihre Stärke und ihre Erhaltung sichern muß? Nur der wird in Wahrheit und mit rechter Kraft sagen können, das Himmelreich ist dir nahe, der es wirklich hat um es seinem Bruder zu bringen, der es in sich trägt wie der Erlöser, als er umherging in den Städten des jüdischen Landes, und in ihren Schulen | predigte von dem Reiche Gottes, welches zu stiften er gekommen war, der es in sich trägt, wie die Apostel es in sich trugen, als sie sich unter einander und das kleine Häuflein der Gläubigen gestaltet hatten zu dem 9–11 Apg 10,47

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geistigen Leibe des Herrn, und allen denen, welchen sie verkündigten, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, auch zeigen konnten und sie auffodern, kommt herbei und sehet, sehet an den Bund des Glaubens und der Liebe, der unter uns gestiftet wird, sehet an die beseligten Herzen der Gläubigen, sehet an die Freiheit der Kinder Gottes, schauet den Frieden und | die Freude im heiligen Geiste, und ihr werdet inne werden, das ist das Himmelreich, und indem es euch nahe gekommen ist wird es euch an sich ziehen und in sich aufnehmen. So, m. g. F., so muß es stehen um den geistigen Leib unsers Erlösers, sonst freilich kann die herrliche Verkündigung, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, keine Frucht bringen. Soll es da sein, so muß es auch irgendwo wirklich sein, und nicht nur aus der Ferne gezeigt werden, und nicht nur der geschäftigen Einbildung der Menschen überlaßen werden es sich auszuschmüken; da muß es sein, und man muß die | Menschen wieder einladen können, wenn sie sei es auch nur unmerklich aus der Gemeinschaft desselben gewichen und hinter dem Genuß seiner Güter zurükgeblieben sind; und wer rufen will, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, der muß selbst ein Genoße des Himmelreichs sein. Darum, m. g. F., eins von beiden ist jeder in jedem Augenblik seines Lebens, entweder selbst bedürftig der Buße und sich sehnend daß ihm das Himmelreich nahe komme, oder kräftig ergriffen von der Fülle der göttlichen Gnade, und fähig aufzufodern, thut Buße, denn | das Himmelreich ist nahe herbeigekommen, und das Himmelreich zu zeigen in der Kraft der Liebe, in der Stärke des Glaubens und in allen Früchten des göttlichen Geistes. Darum wenn wir uns voll fühlen des göttlichen Geistes, wenn in uns reif geworden sind seine Früchte, wenn unser ganzes Herz erwärmt ist und durchdrungen von der himmlischen Liebe, die Khristus auf Erden offenbart hat, wenn wir erleuchtet sind von dem Lichte der Wahrheit, welches als die köstlichste Gabe von oben gekommen ist: dann sind wir wirklich fähig unsern Brüdern zuzurufen, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe | herbeigekommen, dann werden die Augen der Liebe geöffnet sein, um die bedürftigen Gemüther zu erbliken, und die freundlich aufrichtende Hand, die durchdrungen ist von dem Sinne des Erlösers, der alle Mühseligen und Beladenen zu sich gerufen hat um sie zu erquiken, die wird ausgestrekt sein, um den irrenden und wankenden Bruder zu halten oder aufzuheben. Aber fühlen wir uns so nicht, o dann laßt uns in uns selbst kehren, damit wir erforschen was es sei, worüber wir noch Buße zu thun haben, dann laßt uns fühlen, daß das Himmelreich nicht wie es sein soll in uns ist, aber auch immer voll sein | davon und durch den nahen unmittelbaren Anblik überzeugt, daß wenn auch nicht in 32 durchdrungen] so SW II/10, S. 20; Textzeuge: geleitet 24 Vgl. Gal 5,22–23

28–29 Vgl. Jak 1,17

33–34 Vgl. Mt 11,28

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uns es doch wenigstens unter uns ist in diesem Augenblik, und unsere Zuflucht nehmen zu der gemeinsamen Erbauung des Gemüths und zum gläubigen und freudigen Leben der von dem Erlöser durchdrungenen und ihm geweihten Herzen, damit das Nahe in unser Herz trete und unser eigen werde, damit wir es empfinden und verkündigen können nicht als unser Eigenthum, denn aller Ruhm und Preis gebührt dem der es von oben gebracht hat. Dem sei denn sammt seinem Vater der es erhält Lob und Preis in Ewigkeit. Amen.

[Liederblatt vom 1. Juli 1821:] Am 2. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Allein zu dir Herr Jesu Christ / Mein Hoffnung steht auf Erden! / Ich weiß daß du mein Tröster bist, / Kein Trost mag mir sonst werden. / Niemand ist sonst mir auserkohrn, / Auf Erden ist kein Mensch gebohrn, / Der aus der Noth mich ziehen kann; / Dich ruf ich an, / Du bist’s der helfen will und kann. // [2.] Mein Heiland, meine Schuld ist groß, / Und reuet mich von Herzen; / Derselben sprich mich frei und los / Durch deine Todesschmerzen! / Zeig du mich deinem Vater an, / Daß nichts mich mehr verdammen kann: / Dann werd ich los der Sünde Last; / Mein Glaube faßt, / Herr, was du mir versprochen hast. // [3.] Erhalt mir aus Barmherzigkeit / Den rechten Christenglauben; / Laß dieses Heil, das mich erfreut, / Nichts in der Welt mir rauben! / Ein Herz voll Liebe Herr zu dir / Und zu den Brüdern schenke mir! / Und naht die letzte Stunde sich, / So stärke mich / Der Trost, daß ich dort schaue dich. // Nach dem Gebet. – Mel. Mir nach spricht etc. [1.] Wir gingen unsers Weges hin, / Wie die verirrten Schaafe; / Wir lagen mit verschloßnem Sinn / In tiefem Seelenschlafe; / Wir waren ohne Gott und Licht, / Wir glaubten und wir liebten nicht. // [2.] Und als wir einst den Abgrund sahn, / Die schauerlichen Tiefen, / An denen wir auf dunkler Bahn / Zu dem Verderben liefen; / Ach da verzweifelte beinah / Der Geist, der nirgend Rettung sah. // [3.] Da faßt uns des Erbarmers Hand / Mit sanftem Liebeszuge; / Und unser Blick ward umgewandt / Zur Wahrheit vom Betruge. / Wir gingen wie die Kinder schwach / Doch treu dem Schein des Lichtes nach. // [4.] Dein Wort, o Herr, ist unser Licht, / Das sicher uns geleitet; / Es stärkt mit Muth und Zuversicht / Den, der für Wahrheit streitet; / Dein Geist giebt Zeugniß unserm Geist, / Daß du mit uns, ja in uns, seist. // [5.] Verlaß uns nicht, bis wir den Lauf / In gutem Kampf vollbringen! / Wir sehn auf dich, Erlöser, auf, / Hilf uns den Lohn erringen! / Wir sind umgeben mit Gefahr, / Doch du errettest wunderbar. // [6.] Dein Nam’ ist uns ein festes

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Schloß, / Dahin bedrängt wir fliehen. / Du nimmst uns auf in deinen Schooß, / Wer mag uns dir entziehen? / Vom Fluch des Zorns hat uns befreit / Dein Blut, das laut um Gnade schreit. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Herzlich lieb hab ich etc. Mein ganzes Leben preise dich, / Erlöst, mein Jesu, hast du mich, / Dein Eigenthum zu werden. / Bin ich nur dein, so fehlt mir nichts, / Nichts dort am Tage des Gerichts, / Und nichts schon hier auf Erden. / Auf dieser Bahn ins Vaterland / Entzeuch mir niemals deine Hand; / Zu allem Guten stärke mich, / Und laß mich siegen einst durch dich! / Herr Jesu Christ, / Mein Trost und Licht, mein Trost und Licht / Bist du noch, wenn mein Auge bricht. //

Am 8. Juli 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

3. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,3–4 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 277–288 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 473–482; ²1844, S. 525–534 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 387–394 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 101, Bl. 28r–36r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 86r–86r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 161r–164v; Woltersdorff Besonderheiten: Beginn der bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liedangabe (nur in SAr 60)

Ueber unsere Theilnahme an der göttlichen Natur. Text. 2. Petr. 1, V. 3–4.

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M a. F. Eine größere und herrlichere Beschreibung von dem hohen Berufe des Christen kann es wohl nicht geben, als diejenige, welche uns der Apostel hier giebt gleich im Anfange seines zweiten Briefes, indem er sagt, daß wir der göttlichen Natur sollen theilhaftig werden. Laßt uns darüber jetzt, als über das Höchste, was dem Menschen vorgehalten werden kann, mit einander nachdenken, indem wir zuerst überlegen: worin die Theilhaftigkeit der göttlichen Natur bestehen kann? und dann zweitens: an was für Bedingungen der Apostel dieselbe geknüpft? I. Was der Apostel hier sagt: daß wir sollen der göttlichen Natur theilhaftig werden – ist allerdings etwas, wozu sich der Mensch in dem Bewußtseyn seiner Schwäche und seines vergänglichen Wesens kaum erheben kann. Wenn wir nun, um uns Rechenschaft darüber zu geben, wie solches möglich sey, die Frage aufwerfen: worin denn die göttliche Natur bestehe, deren wir sollen theilhaftig werden? können 0 Liedangabe in SAr 60, Bl. 161r: „Lied 464“, Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 464 „Auf! ihr Christen! Christi Glieder“ (Melodie „Meine Hoffnung stehet veste“)

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wir wohl etwas Anderes antworten, wenn wir uns doch in dem Bewußtseyn unseres Unvermögens am Liebsten an die Schrift halten wollen, als indem wir uns zuerst an das erinnern, was der Apostel Johannes so ausdrückt: „Gott ist die Liebe,“ dann aber auch bedenken, wie Gottes Natur und Wesen uns durch den Apostel Paulus beschrieben wird, als eine ewige und unvergängliche Kraft? Dies Beides also will Petrus vereinigen, wenn er sagt: wir sollen der | göttlichen Natur theilhaftig werden; und meint also, wir sollen theilhaftig werden zuerst der Liebe, die nach Johannes das Wesen Gottes ausmacht, dann aber auch der ewigen und unvergänglichen Kraft oder Allmacht Gottes, wodurch sich der Schöpfer von allen Kreaturen unterscheidet. Eine Liebe, die nicht allmächtig wäre, nicht die ewige und unvergängliche Kraft, gehörte auch nicht der göttlichen Natur; und die Allmacht, die etwas Anderes wäre, als Liebe in ihrem ganzen Wesen, eine solche wäre auch gewiß nicht jene ewige segensreiche Quelle, welcher lauter gute Gaben entströmen. Ist also die allmächtige Liebe die göttliche Natur: so wissen wir nun freilich, was der Apostel mit dem größten Rechte die größte und theuerste Verheißung nannte. Wie aber kann nun dergleichen diese an uns schwachen ohnmächtigen Wesen in Erfüllung gehen? Freilich sagt der Apostel nicht, daß wir der göttlichen Natur schon theilhaftig sind, sondern nur, daß wir ihrer sollen theilhaftig werden; und so läßt sich auf der einen Seite die Hoffnung, welche uns vorgehalten wird, vereinigen mit dem Bewußtseyn, welches wir Alle mit uns herumtragen müssen, daß wir, wie wir uns kennen, ganz etwas Anderes sind, als Theilhaber dieser göttlichen Natur, wenn dies etwas ist, was wir erst werden sollen. Auf der anderen Seite, wenn wir bedenken, wie das göttliche Wesen ganz und gar in der Liebe besteht: so finden wir eben hierin auch schon einen Anknüpfungspunkt, um uns diese große Verheißung begreiflich zu machen, und der Hoffnung Raum zu geben, daß wir sie uns werden aneignen können. Nur das müssen wir festhalten, daß es mit der Liebe allein nicht gethan ist, und daß wir eher nicht sagen können, wir seyen der göttlichen Natur theilhaftig geworden, bis wir Beides in uns finden: die Liebe und die Allmacht. Denn daß der Mensch theilhaftig werden soll der Liebe, das ist nicht nur gar wohl zu begreifen, sondern es leidet gar keinen Zweifel, weil er nur durch die Liebe lebt und besteht, und so ist sie auch, so gewiß das menschliche Geschlecht fortbestehen soll, der menschlichen Seele ursprünglich anerschaffen und mitgegeben, so daß man sagen kann, der Mensch ist schon an und für sich immer der | Liebe theilhaftig. Aber dies an und für sich ist noch nicht 4 1Joh 4,8.16

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die Theilhaftigkeit der göttlichen Natur, sondern der allmächtigen Liebe muß er theilhaftig seyn, und wie es möglich seyn soll, für uns dieser theilhaftig zu werden, das können wir immer noch billig bezweifeln. Aber wir sollen uns aufrichten an dem Worte der Verheißung; der Apostel des Herrn sagt es uns als eine köstliche und große, aber auch als eine sichere und ewig wahre Verheißung zu, daß wir dieser göttlichen Natur sollen theilhaftig werden. Laßt uns daher fragen: was ist denn die Allmacht der Liebe, deren wir theilhaftig werden sollen? Unläugbar, m. g. F., ist das Wesen der Allmacht die Unwiderstehlichkeit. Da ist die Allmacht, wo nichts Anderes der sich äußernden Kraft Widerstand leisten kann; so demnach sollen wir der allmächtigen Liebe theilhaftig werden, daß die Kraft der Liebe in uns etwas Unwiderstehliches sey. Dazu gehört einmal, daß nichts in uns selbst sey, was ihr widerstrebe, vielmehr Alles, was sich mit ihr nicht verträgt, aus unserem Gemüthe ganz vertrieben sey; aber dann auch, daß von Außen keine Macht, noch Gewalt, der Kraft der Liebe, von der wir durchdrungen sind, einen erfolgreichen Widerstand leisten könne. Wenn das in uns ist, dann sind wir in unserem Maße, so weit wir reichen können, der göttlichen Natur theilhaftig, weil nicht nur das in uns ist, was das Wesen Gottes ausmacht, nämlich die Liebe, sondern wir auch in der Liebe, – soweit unser Leben und Wirken reicht, welches freilich mit dem Umfange der Alles durchdringenden und Alles hervorbringenden göttlichen Kraft nicht verglichen werden kann, – aber doch innerhalb des Umfanges unseres Daseyns, und in dem eigentlichen Gebiete der Liebe allmächtig sind. Was nun, m. g. F., der Liebe in dem Inneren des Menschen widerstrebt, o das wissen und fühlen wir, ist das eitle, selbstgefällige Wesen des Menschen, wenn er nur sich selbst und alles Dasjenige, was zu seinem irdischen vergänglichen eignen Daseyn gehört, mit rechtem Ernste sucht; es ist das feigherzige Vermeidenwollen alles Dessen, was dem natürlichen Menschen wehe thut, indem es Unlust und | Schmerz verursacht. Wenn dergleichen noch etwas in uns ist, so können wir wohl Regungen der Liebe empfinden, die unter günstigen Umständen auch wirksam sind: aber die allmächtige Liebe ist nicht in uns, so lange noch in uns selbst etwas ist, was der Liebe Grenzen setzt, und wogegen sie sich, sey es auch nur dann und wann, ohnmächtig zeigt. Fragen wir aber, was denn dasjenige ist, was der Gewalt der Liebe von Außen widerstrebt, dessen Widerstand aber unsere Liebe, wenn sie allmächtig ist, völlig brechen und vernichten muß: so ist das nicht so einfach zu beantworten, sondern es gehört dazu eine nähere Bestimmung und Erörterung, wie weit sich hierin unser Antheil an der göttlichen Natur erstrecken kann. Nämlich der ewigen und unvergänglichen Liebeskraft des göttlichen Wesens widersteht eben so wenig von Außen et-

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was, als von Innen, und es kann ihr auch Nichts widerstehen, weil die ganze Welt nur durch sie besteht und ans Licht gebracht worden ist. Für uns aber liegt gar Vieles, ja das Meiste, außerhalb des Bereiches unserer Kraft; daher kann unser Theilhaftseyn der göttlichen Natur auch nur darin bestehen, daß innerhalb desjenigen Gebietes, welches ebenfalls nur durch Vermittelung unserer Kraft hervorgebracht wird und besteht, die lebendige Kraft und Gewalt unserer Liebe sich allmählig und unwiderstehlich äußern. Darum, m. g. F., wenn unser Vermögen schwach ist, und in enge Grenzen eingeschlossen, um etwas zu bewirken in dem Gebiete der natürlichen Dinge, so thut das unserer Theilhaftigkeit der göttlichen Natur keinen Eintrag. Aber wenn wir auf die geistige Entwickelung und das gemeinsame Leben der Menschen sehen, welches so sehr das Gebiet der Liebe ist, daß Alles: Erkenntniß, Willenskraft, ja selbst das innerste Gefühl und Bewußtseyn jedes Einzelnen, nur durch die Liebe der Anderen geweckt und getragen wird, und in seiner Eigenthümlichkeit fortbesteht: so müssen wir wohl gestehen, wenn auf diesem Gebiete irgend etwas auch nur von Außen her der Gewalt unserer Liebe widersteht: so ist dies allemal ein Zeichen, daß wir der göttlichen Natur noch nicht in rechtem Maße theilhaftig geworden sind. | Der Widerstand aber, der uns dies auf das Bestimmteste verkündigt, kann wiederum nicht darin bestehen, daß der Erfolg unserer Bemühungen gehemmt, verschoben oder zerstört wird, sondern nur darin, wenn unsere Liebe selbst zurückgedrängt, und ihre Beständigkeit und Innigkeit durch den Widerstand geschwächt wird. Denn wenn nun andere Menschen um uns her, auf die wir unsere Wirksamkeit richten, sich den Einwirkungen unserer Liebe nicht hingeben; wenn wir in ihren Seelen, wiewohl wir selten im Stande sind, dies bestimmt zu behaupten, gar nichts bewirken können durch diesen inneren göttlichen Drang: so wäre das noch nicht ein Zeichen von der Ohnmacht unserer Liebe, sondern zunächst nur ein Zeichen davon, daß jene eigentlich in das Gebiet des geistigen Lebens, wo allein die Liebe wirken kann, noch nicht aufgenommen sind, sondern in dieser Hinsicht für uns noch in das Gebiet der natürlichen Dinge gehören. Dies eben ist auch der tiefste Grund und die wahre Ursache davon, daß die Sprache der heiligen Schrift überall unterscheidet und entgegensetzt die Welt und das Reich Gottes. Die Welt nämlich ist das Gebiet, in welchem die sinnlichen und natürlichen Kräfte allein herrschen, wo Lust und Unlust wirksam sind, oder Zwang und Gewalt; das Reich Gottes hingegen ist das Gebiet, wo Alles empfänglich ist für die Kraft der Liebe, wo diese wahre und ewige Gotteskraft herrscht, und Alles durch sie wird und besteht, die selbst ewig bestehen und bleiben soll, wenn der Glaube in Schauen verwandelt ist, und

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die Hoffnung ihre Erfüllung gefunden hat. Wenn aber nicht nur die Wirkungen unserer Liebe gehemmt werden, sondern die Ungeneigtheit der Menschen, ihr auch nur Gehör zu geben, oder die Schwierigkeiten, welche uns im weiteren gemeinschaftlichen Fortwirken aufstoßen, die Kraft der Liebe wirklich zurückdrängen: dann können wir nicht mehr läugnen, daß etwas im Stande ist, unsere Liebe zu überwinden; dann kann von einer Allmacht derselben nicht mehr die Rede seyn, und dann sind wir also auch der göttlichen Natur nicht theilhaftig. Hören wir hingegen niemals auf, das Böse zu überwinden mit Gutem; ist die Liebe nach dem göttlichen Worte des | Erlösers in unserer Seele eine unversiegliche Quelle geworden, die immer auf’s Neue ihre Lebenskraft ausströmt; ist sie unüberwindlich alle dem, was Hartnäckigkeit und Selbstsucht ihr entgegenstellen, unüberwindlich auch, wenn sie ihre besten Zwecke oft ganz zu verfehlen scheint in der Welt; leuchtet sie unablässig, wie die Sonne am Himmel, Guten und Bösen, erwärmt sie Dankbare und Undankbare: dann ist die Liebe, so weit es in der menschlichen Natur möglich ist, auch in uns eine ewige unvergängliche Kraft geworden, deren sich immer erneuendes Hervordringen nichts aufhalten kann. Hierin also, m. g. F., muß es sich bewähren, ob und wie weit wir schon zu dem Genusse dieser tröstlichen und großen Verheißung gelangt sind, daß wir der göttlichen Natur sollen theilhaftig werden. II. Aber nun laßt uns zweitens sehen, an welche Bedingungen der Apostel diese Verheißung geknüpft hat. Er sagt nämlich zuerst: Alles, was zum göttlichen Leben diene, das sey uns geschenkt durch die Erkenntniß Dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Tugend, das heißt durch die Erkenntniß unseres Herrn Jesu Christi; und dann sagt er zum Andern: ihr sollet theilhaftig werden der göttlichen Natur, nachdem ihr entflohen seyd dem Verderben der Lust, die in der Welt herrscht. Das also sind die beiden Bedingungen, an welche das Theilhaftigwerden der göttlichen Natur geknüpft ist: zuerst müssen wir entflohen seyn dem Verderben der Lust, das in der Welt herrscht; dann aber geht uns doch das Theilhaftigwerden der göttlichen Natur erst hervor aus der Erkenntniß Dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Tugend. Das Erste, m. g. F., ist wohl etwas, was sich ganz von selbst versteht, und keiner großen Erörterung bedarf; denn es springt schon in den Worten des Apostels, als einander schnurstracks entgegengesetzt, einem Jeden in die Augen, die göttliche Natur auf der einen Seite, und das Verderben der Lust auf der anderen, und eben so dasjenige, was 9–10 Vgl. Röm 12,21

10–13 Vgl. Joh 4,14

15–16 Vgl. Mt 5,45

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eine göttliche und herrliche Verheißung ist, der wir erst theilhaftig werden sollen, und das|jenige, was in der Welt, die den Gegensatz bildet zu jenem heiligen Reiche Gottes, herrscht und schon immer geherrscht hat. Denn wie weit der Mensch in das Verderben der Lust, die in der Welt herrscht, noch verstrickt und verflochten ist, in eben dem Maße gewiß ist er noch unfähig, theilhaftig zu werden der göttlichen Natur. Denn wie derjenige, welcher der Lust lebt, nach den Worten der Schrift als Einer, der auf das Fleisch säet, vom Fleische nichts Anderes zu erwarten hat, als das Verderben: so ist er auch auf der anderen Seite unfähig dazu, daß das höhere Leben des Geistes, welches eben ist das Leben der Liebe, sich in ihm entwickeln könne. Denn er will gerade dasjenige festhalten, dessen sich der Mensch erst entschlagen muß, wenn die göttliche Kraft der Liebe in ihm aufgehen soll; und was er zu erreichen sucht, was er für sich selbst begehrt, und wozu er alle seine geselligen Verhältnisse in der Welt gebrauchen will, das ist gerade dasjenige, was sich in der menschlichen Seele der Kraft der Liebe am Meisten widersetzt. Darum nennt nun auch der Apostel diese Macht der Lust, die in der Welt herrscht, das Verderben, die Verwesung, den Tod; wogegen eben die Liebe, die das göttliche Wesen ist, auch allein das wahre Leben ist und die wahre Kraft. Allein, m. g. F., so leicht es ist, daß wir uns hierüber verständigen und bei uns feststellen, der Mensch müsse erst entflohen seyn dem Verderben der Lust, die in der Welt herrscht, wenn er theilhaftig werden wolle der göttlichen Natur: so wenig ist es auf der anderen Seite leicht, daß der Mensch diesem Verderben der Lust wirklich entfliehe, ehe er der göttlichen Natur theilhaftig geworden ist. Denn dies müssen wir doch immer voraussetzen, daß der natürliche Mensch, wie die Schrift denjenigen nennt, in welchem der Geist Gottes noch nicht wirksam gewesen, und in dem das höhere Leben noch nicht geboren ist, nichts Anderes sucht, und in nichts Anderem lebt, als in den Dingen dieser Welt, und wären es auch die besten und edelsten darunter, welche der unmittelbare Gegenstand seines Strebens sind, so ist es doch auf die eine oder die andere Weise immer die Lust, wenn auch die verfeinerte und veredelte, die, | weil er der Welt angehört, in ihm herrscht, wie sie in der Welt herrscht. Wie soll er nun, dies vorausgesetzt, dahin kommen, daß er dem Verderben der Lust entfliehe, wenn sein eigenes Herz mit der Lust im Bündniß ist. Daher hat sich zu dem Gegenstande unserer Betrachtung das sehr wohl geschickt, was wir mit einander gesungen haben, weil es eine Aufforderung zum Streite enthielt. Denn nicht ohne einen langen und gewaltigen inneren Streit lösen wir uns von dem, worin wir lange gelebt haben, und was die Macht der Ge7–9 Vgl. Gal 6,8

27–29 Vgl. 1Kor 2,14

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wöhnung und eine schon unwillkührlich gewordene Verbindung von Gedanken und Empfindungen für sich habend, nicht leicht so zu überwinden ist, daß wir wirklich dem Verderben der Lust, die in der Welt herrscht, entfliehen. Vielmehr ist Jeder in diesem Streite nur ohnmächtig, ja die Ohnmacht selbst; und es muß erst eine andere Kraft ihm zu Hülfe kommen, damit er in diesem Streite obsiege. Aber nicht nur dieses, sondern wir müssen auch fragen: wie soll wohl dieser Streit seinen Anfang nehmen? Wie soll es zugehen, daß der Mensch uneins wird mit sich selbst, wenn doch ursprünglich auch sein Wille der Lust zugewendet ist? Offenbar muß auch die Aufforderung zu diesem Streite ihm von Außen kommen, eben so wie ihm eine äußere Macht in demselben beistehen muß. Woher nun die Aufforderung und die Hülfe? Ehe wir diese Frage beantworten, müssen wir Folgendes bemerken. Aus den Worten unseres Textes können wir keine andere Ordnung und Folge in dem, was mit uns vorgehen soll, entnehmen, als daß durch die Erkenntniß Christi unsere Theilhaftigkeit an der göttlichen Natur vermittelt und uns geschenkt wird, was zum göttlichen Wandel dient, daß aber dies nicht eher geschieht, als bis wir dem Verderben der Lust entflohen sind. Also nicht die Erkenntniß Christi, sondern etwas, was derselben vorhergehen muß, giebt die Aufforderung zu jenem Streite, und verleiht die Hülfe in demselben. Dies ist eben so gewiß, als dem Verderben der Lust entflohen seyn, noch nicht die Theilhaftigkeit der göttlichen Natur selbst ist. Wohlan, was ging denn vom Anfange des Evangeliums an bei seinen Bekennern jener fruchtbaren, die gött|liche Natur in uns ans Licht bringenden und den göttlichen Wandel erzeigenden Erkenntniß Christi selbst voran? Nichts Anderes offenbar, als die Verkündigung des Reiches Gottes. Als diese göttliche Stimme sich hören ließ: „thut Buße, denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen,“ da erging an die Menschen, bei denen es fassen konnte, die Aufforderung zum Streite gegen das Verderben der Lust, das in der Welt herrschte; und das Bild des göttlichen Reiches, welches sich in der Seele gestaltete, das Vertrauen auf die Untrüglichkeit der göttlichen Verheißung, gab ihnen die Kraft, den Streit wirklich zu führen. Wie nun damals das Reich Gottes verkündigt ward, als ein bald bevorstehendes, so verkündiget es sich jetzt allen Menschen, welche noch nicht zur Erkenntniß Jesu Christi gelangt sind, als ein daseyendes. Alle in der Christenheit Geborenen sind von demselben umgeben und getragen, werden durch dasselbe gewarnt und angeregt, und zuversichtlich können wir sagen: wenn es kein Reich Gottes gäbe auf Erden, in welchem die Gewalt der Liebe schon herrscht und wirkt: so gäbe es auch Nichts, was den natürlichen 28–29 Mt 4,17

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Menschen, der noch unter der Gewalt der Lust steht, aufregen könnte, gegen sie zu streiten, und ihm in diesem Streite beistehen. Es ist also die Liebe, eben jene allmächtige Liebe, welche aus denen athmet, redet und wirkt, die der göttlichen Natur schon theilhaftig, und Bürger des Reiches Gottes geworden sind, sie ist es, welche immerfort diejenigen, die noch unter der Gewalt der Lust stehen, auffordert zum Streite gegen dieselbe. Und findet diese Aufforderung Gehör, – aber sie würde kein Ohr finden, in welches sie eindringen könnte, und nichts wäre da, um die Waffen zu ergreifen, welche die hülfreiche Hand der Liebe darreicht, wenn nicht im tiefsten Innern des Menschen, ohnerachtet alles Verderbens, worin er befangen ist, doch immer noch etwas Höheres und Edleres übrig geblieben wäre; ein leises Verlangen, eine verborgene Sehnsucht, welche ihren Gegenstand findet, wenn er im Reiche Gottes anschaut die göttliche Gabe der Liebe. Das ist es, was ihn fähig macht, die Aufforderung zu vernehmen, und ihr so Gehör zu geben, daß er um | ihretwillen den Streit beginnt gegen das vergängliche Wesen der Welt und das mannigfaltige Verderben, welches dadurch erzeugt wird. Ist und bleibt er nun aber auch in diesem Streite begriffen nach Vermögen, und fängt wirklich an, dem Verderben der Lust zu entfliehen, so daß er sich immer mehr losmacht von dem Wohlgefallen an dem Eiteln, welches bisher seine Befriedigung war; ja könnte er auch in diesem Kampfe vollkommen obsiegen: so wäre er dadurch allein eigentlich noch nichts. Denn die Natur des sinnlichen Menschen kann er auf diese Weise zwar ablegen und gleichsam ertödten; aber die Kraft zum göttlichen Wandel ist noch nicht in ihm. Der göttlichen Natur nämlich werden wir nicht eher theilhaftig, bis dann noch hinzukommt die belebende Erkenntniß Dessen, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Tugend. Denn wie Johannes zuerst nur verkündigte, das Reich Gottes sey nahe, hernach aber auch Jesum zeigte, als das Lamm Gottes: so zeigt nun im Reiche Gottes Alles auf Christum, und damit hebt nun an die Entwickelung der allmächtigen Liebe, und die Theilhaftigkeit an der göttlichen Natur. Denn, das ist die höhere Aufforderung, die uns überall ertönt, nicht vor dem Reiche Gottes, sondern aus demselben, laßt uns Den lieben, der uns zuvor so hoch geliebt hat! Das ist sein eigenes Gebot, das neue Gebot, welches er den Seinigen gegeben hat, daß sie sich unter einander lieben sollen, wie er sie geliebt habe; und das ist die Versicherung, die wir überall hören im Reiche Gottes, daß wir stark sind durch Den, der uns mächtig macht, nämlich Christus und sein in uns wirksamer Geist. Denn 4–5 Vgl. Eph 2,19 29–30 Vgl. Mt 3,2 30–31 Vgl. Joh 1,29 1Joh 4,19 36–38 Vgl. Joh 13,34 39–40 Vgl. Phil 4,13

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in Christo erkennen wir die Fülle jener allmächtigen Liebe; sie war in ihm die Herrlichkeit des eingeborenen Sohnes vom Vater, und das Ebenbild des göttlichen Wesens. Diese reine Liebe, die nur geistiges Leben mittheilen wollte, und dadurch des Vaters ewigem Willen genügen, diese entsagende Liebe, die mit Hingebung des eigenen Lebens die Seligkeit der verirrten und verlorenen Menschheit suchte, diese siegreiche Liebe, die kein Hohn und kein Widerstreben der Sünde zurückzudrän|gen vermochte, sondern die mit immer gleicher Kraft aus dem Herzen des Erlösers hervorströmte, wenn die lebendige Erkenntniß dieser ewigen und allmächtigen göttlichen Liebe in Christo unserem Herrn ein Gemüth trifft, welches bereits dahin gekommen ist, nach menschlichem Vermögen dem Verderben der Lust, die in der Welt herrscht, zu entfliehen, so regt sie in einer solchen eine unwiderstehliche Sehnsucht auf, diesem Urbilde ähnlich zu werden. Die Seele ergreift den Trost, daß Der unser Bruder ist, in dem sich die allmächtige Liebe Gottes offenbart und verherrlicht; und sie folgt dem verheißungsvollen Rufe, der sie in seine Gemeinschaft lockt, und so quillt dann das göttliche Leben des Erlösers in die ihn erkennende Seele über, und wird in ihr die Quelle, welche in das ewige Leben fließt. Und diese lebendige Erkenntniß des Herrn, der uns berufen hat durch seine Herrlichkeit und Tugend, ist es eigentlich, was uns der göttlichen Natur theilhaftig macht. Jemehr wir uns versenken in die unmittelbare Anschauung seiner ewigen und unvergänglichen Liebe, und von der Schönheit derselben ergriffen werden: um desto mehr kann sein Geist und seine ewige Kraft in der Seele wirksam seyn, und immer mehr wird so jede Spur verwischt von dem Verderben, dem wir entflohen sind, immer mehr heiligen wir uns durch die Selbstverläugnung in seinem Dienste, und so wird auch immer mehr unsere Theilnahme an der göttlichen Natur erhöht, welcher uns theilhaftig zu machen der Erlöser in die Welt gekommen ist. Betrachten wir den Ausspruch des Apostels so, m. g. F., so müssen wir ihm wohl darin beistimmen: es ist die größte und köstlichste, und in ihrer ganzen Herrlichkeit ewig wahre Verheißung, daß wir durch ihn der göttlichen Natur theilhaftig werden sollen. Darum ist das ewige Wort Gottes in ihm Fleisch geworden, um uns als Wort Gottes zu berufen durch seine Herrlichkeit und Tugend; darum ist es der menschlichen Natur theilhaftig geworden, damit so das menschliche Geschlecht theilhaftig werden könne der göttlichen Natur. | Welche erhabene Beschreibung von dem göttlichen Berufe der Christen! Alle Blätter der Schrift stimmen mit derselben überein, und 2 Joh 1,14 3 Vgl. Hebr 1,3 15 Vgl. Hebr 2,11 19 Vgl. Joh 4,14 21 Vgl. 1Thess 2,12 34–35 Vgl. Joh 1,14 35–36 Vgl. 1Thess 2,12

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der Geist Gottes giebt Zeugniß davon in unseren Herzen! Dieses vorgesteckte Ziel laßt uns nie aus den Augen verlieren, auf daß sich immer vollkommener in uns Allen gestalten möge das Bild Christi, und in eben dieser Kraft der ewigen und unüberwindlichen Liebe Er mit dem Vater komme, Wohnung zu machen in unseren Herzen. Amen. Schl.

1 Vgl. Röm 8,16

4–5 Vgl. Joh 14,23

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Am 15. Juli 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 5,19 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 3, 1825, S. 257–276 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 442–455; ²1844, S. 494–507 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 361–372 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 101, Bl. 37r–50v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 86r–87v; Gemberg Besonderheiten: Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Der Maßstab, wonach Christus seine Jünger schätzt. Text. Matth. 5, V. 19.

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Wenn es unsere Absicht ist, m. a. F., uns in dieser Zeit an dem zu erbauen, was unser Erlöser selbst seine Jünger in Beziehung auf ihren künftigen Beruf gelehrt hat: so müssen die verlesenen Worte besonders für uns von der größten Wichtigkeit seyn. Denn sie geben den Jüngern des Herrn einen Maßstab an, in Beziehung auf ihre Vollkommenheit in dem großen und wichtigen Geschäfte, Lehrer des Himmelreichs zu seyn. Er sagt ihnen hier, wer der Größte seyn würde, und weshalb, und auch wiederum wer und weshalb der Kleinste. Wenn wir nun schon immer darüber einig sind, daß wir gleiches Gebot und gleichen Beruf haben mit den ersten Jüngern Christi, nur daß wir ihn unter anderen Verhältnissen erfüllen: so werden wir also eben diesen Maßstab auch für uns anzulegen haben in Beziehung auf Alles, was ein Jeder, nach Maßgabe seiner Kräfte und seiner Umstände, zur Beförderung des Reiches Gottes auf Erden thun kann. Laßt uns demnach mit einander sehen zuerst, was eigentlich der Erlöser hier als die Vollkommenheit und als die Unvollkommenheit derer, die das Himmelreich fördern sollen, bezeichnet; und dann werden wir zweitens im Stande seyn, dies auch auf unsere Verhältnisse und unsere Handlungsweise in denselben anzuwenden.

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I. Das Erste aber, m. g. F., recht zu wissen, wie es der Erlöser in den Worten unseres Textes damit gemeint habe: wer der Größte sey im Himmelreich, und wer der Kleinste? das hat | mir, indem ich diese Worte zum Behufe unserer heutigen Betrachtung erwog, gar nicht leicht geschienen zu finden, sondern es ist in mancherlei Schwierigkeiten verwickelt, die ich euch vortragen muß, und die wir uns müssen zu lösen suchen. Unser Heiland sagt nämlich, wer das kleinste von den Geboten des Gesetzes auflöset, und lehret die Leute so: der werde der Kleinste seyn im Himmelreich. Nun geht aus dem ganzen Zusammenhange seiner Rede hervor, ja es versteht sich eigentlich schon von selbst, daß er von keinem anderen Gesetze reden konnte, als von dem Gesetze Mosis, welches seit alten Zeiten das Volk, dem er angehörte, verpflichtete, und welchem deßhalb auch er selbst unterworfen war, und auch, wie er in den vorhergehenden Worten sagt, fest entschlossen, demselben immer unterworfen zu bleiben, und es immer zu erfüllen. Und auch das ist sehr leicht aus den Worten unseres Textes selbst zu sehen, daß der Erlöser nicht etwa nur jenen Theil des Gesetzes meint, den unter dem Namen der Zehn Gebote auch jetzt noch die ganze christliche Kirche als einen allgemeinen Ausdruck wenigstens der ersten Anfänge des Lebens nach dem heiligen göttlichen Willen ansieht, wenn gleich nur, indem sie die einzelnen Vorschriften desselben, dem christlichen Geiste gemäß, auf eine tiefere und mehr innerliche Weise auffaßt, als der größte Theil des jüdischen Volks in jener früheren Zeit vermochte. Daß der Herr aber nicht nur diese Zehn Gebote meint, können wir daraus sehen. Wenn er von diesen geredet hätte, die er anderwärts ihrem gesammten Inhalte nach eintheilt in eines, welches das größte, und in ein anderes, das dem gleich sey, wenn er nur von jenen Geboten geredet hätte, welche die Liebe des Menschen zu Gott, und die Liebe der Menschen unter einander ihrem Wesen nach einschärfen, und die ursprünglichen Aeußerungen derselben beschreiben: dann hätte er nicht reden können von einem Unterschiede großer und kleiner Gebote. Denn von diesen hatte er selbst gesagt und oft wiederholt, daß es keinen Unterschied des großen und des kleinen unter ihnen gebe, indem die ganze und volle Liebe zu dem Nächsten ganz gleich sey der ganzen und vollen Liebe zu | Gott. Er hat also nicht nur von diesen heiligen zehn Geboten Gottes geredet, sondern von dem ganzen Umfange des jüdischen Gesetzes, wie es dem Volke freilich nur nach und nach von seinem Diener Moses gegeben war, aber doch immer als ein unzertrennliches Ganzes, als Ein Gesetz angesehen ward. In diesem nun waren freilich, wie wir wissen, eine 14–16 Vgl. Mt 5,17 17–21 Vgl. Ex 20,2–17; Dtn 5,6–21 26–27 Vgl. Mt 22,37– 40) 32–35 Vgl. Mt 22,37–40; Mk 12,29–31 37–40 Vgl. Mt 22,40

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Menge Vorschriften enthalten über verbotene Speisen und Handlungen, sowie über solche Handlungen und Zufälle, auf welche Waschungen und Reinigungen und Opfer folgen mußten, und diese waren allerdings das Kleine in Vergleich mit jenen Geboten, durch welche doch das Wesentliche in dem Leben des Menschen bestimmt wurde. Also von dem Gesetze in diesem ganzen Umfange sagt der Herr nun, wer das kleinste unter den Geboten desselben auflöst, und die Leute also lehret, der werde der Kleinste heißen im Himmelreich. Als ich nun dieses las, so schien es mir anfänglich, als ob demnach von sämmtlichen Aposteln des Herrn zu sagen wäre, daß sie die Kleinsten wären im Himmelreich, und als ob sie also diesen Maßstab des Erlösers nicht angelegt hätten, oder – wie denn auch Manche es angesehen haben, – als ob die Aufgabe, das Reich Gottes auf Erden zu gründen, den Aposteln späterhin und unter anderen Umständen in einem größeren Umfange und einer vollkommneren Gestalt erschienen wäre, als unser Herr selbst sie zu seiner Lebenszeit hatte erblicken können, welche größere Beschränkung schon daraus hervorgehen solle, daß er auch selbst gesagt, er sey nicht gesandt denn nur zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Aber ich konnte das Eine eben so wenig glauben, als das Andere. Denn wenn auch der Erlöser seine persönliche Wirksamkeit enger beschränkt hat, so hat er doch den weiteren seiner Jünger unstreitig vorausgesehen; und eben so gewiß ist seinen Jüngern niemals eingefallen, sich über ihren Herrn und Meister zu erheben. Wenn es also dennoch scheint, als hätten sie sich wenigstens über diese Vorschrift erhaben geglaubt, und die Gebote des Gesetzes sowohl für sich selbst gelöst, als auch die Christen also gelehrt: so müssen wir | diesen Schein näher untersuchen, und ich zweifle nicht, wenn wir auf der einen Seite die Lehre und Handlungsweise der Jünger in ihre verschiedenen Bestandtheile zerlegen, auf der anderen uns an die ganze Art und Weise, und an manche andere Aussprüche des Erlösers erinnern, wird es uns gelingen, den scheinbaren Streit zwischen ihm selbst und seinen Jüngern auszugleichen. Zuerst, wenn der Apostel Paulus in Uebereinstimmung mit seinen Genossen lehrt, daß kein Fleisch gerecht werde vor Gott durch des Gesetzes Werke, und daß die Christen dem Gesetze, welches Christum getödtet hat, absterben müßten, um Christo zu leben: so steht diese Lehre in keinem Widerspruche mit der Vorschrift des Erlösers in unserem Texte. Denn ein Anderes ist es, das Gesetz halten, und denen, die unter dem Gesetze stehen, das Halten des Gesetzes gebieten, und ein Anderes ist es, lehren, daß der Mensch durch die Befolgung des Geset18–19 Mt 15,24

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35–36 Röm 7,6; Gal 2,19–20

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zes gerecht werde: denn eben so halten wir ja, und lehren zu halten, alle bürgerlichen Gesetze sind aber weit davon entfernt zu wähnen, daß wir selbst durch die strengste bürgerliche Rechtschaffenheit könnten gerecht werden vor Gott, sondern wir haben andere Ursache zu jenem Gebote, und die wird der Erlöser auch gehabt haben. Ferner, wenn späterhin die Apostel nicht wollten, daß denjenigen Christen, welche von Geburt nicht zum jüdischen Volke gehörten, zugemuthet würde, sich durch die Beschneidung unter das jüdische Volk aufnehmen zu lassen, wodurch ihnen denn zugleich das ganze Gesetz Mosis wäre aufgedrungen worden, wenn sie sie vielmehr von jeder Verpflichtung gegen dieses Gesetz lossprachen, und feststellten, man solle kein Joch auf den Nacken dieser Brüder legen, welches zu tragen auch das jüdische Volk selbst nicht vermocht habe: so ist auch das nicht im Widerspruche mit dieser Vorschrift des Erlösers. Denn es ist ein großer Unterschied, ein Gesetz aufrechthalten innerhalb seines eigenen Gebietes, und sein Ansehn weiter verbreiten wollen auch über andere ihm ursprünglich nicht unterworfene Menschen und Völker. Auf dem Ersten bestand der Erlöser, und konnte sich deßwegen so allgemein darüber ausdrücken, weil er selbst es immer nur mit | solchen zu thun hatte, welche diesem Gesetze ursprünglich angehörten, und auch seine Jünger sollten, wie er ihnen auf das Bestimmteste vorschrieb, im jüdischen Lande selbst zuerst anfangen, das Reich Gottes zu predigen, und es dann den göttlichen Fügungen überlassen, wie bald und wie weit diese Predigt sich auch auf andere Gegenden der Erde erstrecken werde. Innerhalb nun des jüdischen Landes, wo das Gesetz eigentlich galt, da finden wir, daß die Apostel es auch beständig beobachtet haben; und selbst der Apostel Paulus, der am Eifrigsten war, die mühseligen und dem Geiste nach unbedeutenden Vorschriften des Gesetzes von den Christen, welche er zur Erkenntniß der Wahrheit gebracht hatte, fern zu halten, wenn er in die Grenzen des väterlichen Landes zurück kam, so beobachtete er das Gesetz, welches da galt, und hielt Gebete und Opfer mit seinem Volke. Und so haben wir alle Ursache, zu glauben, daß sie innerhalb seines eigentlichen Gebietes nicht nur selbst das Gesetz nicht lösten, sondern auch lehrten, es zu halten, und daß alle Christengemeinen im jüdischen Lande es damals beständig gehalten haben. Aber einem lästigen Gesetze seine Herrschaft weiter auszubreiten, und noch mehr Veranlassung zu geben, daß über äußerlichen Handlungen das Innere des göttlichen Gebotes vernachlässigt werde: das wollten die Jünger nicht, und das hat auch der Erlöser selbst nicht gewollt. 6–10 Vgl. Apg 15,1–35 10–11 Vgl. Apg 15,28–29 21–25 Vgl. Apg 1,4–8 30–32 Apg 21,24.26

11–13 Vgl. Apg 15,10

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Späterhin aber, jemehr die Christen aus allen Gegenden mit einander in Berührung kamen, jemehr die Verkündiger des Evangelii lange in heidnischen Gegenden lebten, und eben so auch anderwärts geborene und verzogene Christen, aus mancherlei Ursachen, die Grenzen des jüdischen Landes betraten, und also Christen aus dem alten Volke Gottes, und Christen aus den Heiden mit einander leben mußten: um desto mehr fand es sich, daß auch diejenigen, die unter dem Gehorsam des Gesetzes geboren waren, und zwar die Apostel selbst im freundlichen und geselligen Leben mit ihren Brüdern aus den Heiden, sich mancher Vorschriften des Gesetzes entschlugen, und so haben sie freilich | zum Theil das Gesetz nicht nur selbst gelöset, sondern auch mit Wort und That also gelehrt. Das hat nun allerdings Christus selbst nicht gethan, er hatte aber auch in seinem Leben keine Veranlassung dazu. Indeß auch hier ist ein Unterschied, den wir nicht übersehen dürfen; nämlich ein Anderes ist, selbst zuerst auflösen, ein Anderes, dasjenige nur aufgelöst lassen, was sich schon früher von selbst aufgelöst hat. Schon durch die gewaltsame Wegführung des Volkes aus seiner Heimath, und auch durch die mancherlei Schicksale, welche dasselbe seit seiner Rückkehr in das vaterländische Gebiet betroffen hatten, war es in mancherlei Hinsicht unmöglich geworden, die Vorschriften des Gesetzes alle genau zu erfüllen. Zumal diejenigen, und deren waren nicht Wenige, welche nicht in den Grenzen des väterlichen Landes wohnen konnten, sondern einzeln und in kleinen Gesellschaften, wie es die jedesmaligen Umstände mit sich brachten, zerstreut lebten unter heidnischen Völkern, mit denen sie nicht blos die Geschäfte des gewöhnlichen Lebens theilen mußten, sondern denen sie sich auch annähern mußten, in Beziehung auf die Sitten und Gebräuche ihres Landes, diese konnten nicht Alles, was in dem mosaischen Gesetz vorgeschrieben war, pünktlich und vollkommen erfüllen. Etwas Aehnliches galt von den Zöllnern, die, ebenfalls Juden von Geburt, wiewohl in dem Umkreise des väterlichen Landes wohnend, wegen ihrer Geschäfte, welche sie in mancherlei Verkehr mit den Heiden brachten, außer Stande waren, dem Gesetze in allen seinen Geboten zu genügen. Da wir nun aus mehreren Stellen des Neuen Testamentes wissen, wie der Erlöser sich zu diesen nicht nur herabgelassen, sondern auch, wie er sie entschuldigt hat: so sind wir berechtiget, zu glauben, auch er habe diesen Unterschied gelten lassen, und diejenigen, welche nur aufgelöst lassen wollten, was von den Vorschriften des alten Gesetzes in dem Laufe der Zeiten schon nach und nach theils allgemein, theils für gewisse Verhältnisse, als aufgehoben erkannt war, und nun doch nicht wieder in seinen alten Zustand gesetzt werden 17–18 Vgl. 2Kön 17,6

34–36 Vgl. Mt 21,31–32; Lk 18,14

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konnte, diese habe er nicht verwechselt mit solchen, die ein Bestreben zeigten, auch dasjenige, was noch | fest stand und offenbar noch in Kraft war, muthwillig aufzulösen und zu zerrütten. Nachdem wir nun dies vorangeschickt haben, so werden wir nun im Stande seyn, uns klar zu machen, was die Meinung unseres Erlösers in den Worten unseres Textes gewesen sey. Nämlich nicht als einen Theil der von ihm gegründeten Heilsordnung wollte er die Erfüllung des mosaischen Gesetzes angesehen haben, sondern er forderte sie als schuldige Treue gegen frühere und anderweitige Verpflichtungen, glaubte aber nicht genug einschärfen zu können, wie heilig diese Treue jedem seiner Nachfolger seyn müsse, so daß er dieselbe zum Maßstabe des Werthes machte, den jeder Einzelne für das Himmelreich habe. Und gewiß mit vollem Rechte. Denn Gesetz und Sitte, welches Ursprunges, und wie unvollkommen es auch seyn möge, haben die Kraft, die Menschen durch Ordnung und Recht verbunden zu halten, die Ehrerbietung gegen das Heilige in ihnen zu bewahren, und weisen überhaupt ihrem ganzen Wesen nach, wenn gleich von Menschen gegeben, und durch menschliche Mittel unterstützt, auf die göttliche Ordnung hin, nach welcher der Höchste gewollt hat, daß die Geschlechter der Menschen, jedes in seinen Grenzen, die Erde bewohnen sollen, indem sie die Bedingungen und Verhältnisse feststellen, unter denen allein Menschen mit einander und neben einander leben, sich ihres Daseyns erfreuen, und den Beruf, welchen Gott der Herr auf Erden ihnen angewiesen hat, ohne sich gegenseitig zu stören, vielmehr mit vereinten Kräften, erfüllen können. Wer nun Gesetz und Sitte aufzulösen trachtet, der hebt die Bedingungen ruhiger und sicherer Wirksamkeit auf, stört schon dadurch auch die Förderung des Himmelreichs; aber nicht nur das, sondern er macht auch das Böse frei, welches sich schon immer in der Gesellschaft regte, ja er lockt auch dasjenige an’s Licht hervor, welches noch im Verborgenen schlief. Und diese Folge bleibt immer dieselbe, die Absicht jenes Auflösens und Umstoßens sey, welche sie wolle. Daher sagt der Erlöser mit Recht, wenn einer von seinen Jüngern, der dann freilich keine andere Absicht haben könnte, | als etwas Vollkommneres an die Stelle des Unvollkommenen zu setzen, auch in dieser Absicht Sitte und Gesetz, wie sie unter den Menschen bestehen, umstößt, da wo er das Reich Gottes bauen will, der wird der Kleinste seyn im Himmelreich. Wer sich aber, auch wenn er die Unvollkommenheit der bestehenden Ordnung noch so deutlich einsieht, und dann auch, wie sich von selbst versteht, diese Einsicht offen bekennt und darlegt, dennoch dem geltenden Gesetze fügt, und durch Wort und That auch Andere lehrt, so zu thun, und es in gutem Glauben der göttlichen Fügung anheim stellt, früher oder später die Umstände

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herbeizuführen, unter denen ohne Gewaltsamkeit und Auflösung das Mangelhafte und Unvollkommene in das Bessere und Vollkommenere übergehen kann, nicht aber selbst, indem er auf der einen Seite das Himmelreich aufzurichten sucht, zugleich das Reich menschlicher Ordnung untergräbt und umwirft, und die Leute lehret, also zu thun: der wird groß heißen im Himmelreich. Denn nur dieser arbeitet rein und schlicht, jener aber, indem er bauet, erregt er zugleich den Bauleuten Verwirrung, indem er kämpft, ruft er zugleich neue Feinde herbei. Darum hat der Erlöser selbst, so lange er in seinem väterlichen Lande frei verkündigen konnte, das Himmelreich sey nahe herbei gekommen, allen Zumuthungen, daß er der bestehenden Verfassung ein Ende machen möchte, um das Himmelreich desto eher zu begründen, immer widerstanden, und ist den Worten treu geblieben: Wähnet nicht, daß ich gekommen sey, indem ich euch das Reich Gottes vorhalte, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen. Wenn er gleich vorzüglich die Absicht hatte, eine Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit zu stiften: so entzog er sich doch nicht der öffentlichen Verehrung Gottes durch Gebet und Opfer im Tempel, vielweniger daß er sie hätte abschaffen wollen, wie wenig Geiste und Wahrheit auch darin übrig geblieben war, sondern nur ein Dienst der Lippen und der Hände. Wenn gleich er gekommen war, um das ganze Leben der Menschen auf das Eine Gebot der Liebe zu gründen, in dem mosai|schen Gesetze hingegen sich des äußerlichen Wesens so viel fand, und eine unzählige Menge von an sich geringfügigen und für das geistige Leben gleichgültigen und gehaltlosen Geboten und Verboten: so erfüllte er doch auch dieses Gesetz, nur in seiner Ursprünglichkeit, und nicht mitgerechnet die späteren Zusätze und Erklärungen von solchen, die kein gesetzgebendes Ansehen hatten, mit solcher Treue und Genauigkeit, daß seine Feinde, wie sehr sie auch auf ihn hielten, ihn keiner einzigen Uebertretung mit Wahrheit zeihen konnten. Eben so handelten, wie wir gesehen haben, seine Jünger in Beziehung auf das mosaische Gesetz, so lange sie im jüdischen Lande lebten; aber auch wenn sie unter anderen Völkern, welche diesem Gesetze nicht unterworfen waren, das Himmelreich verkündigten und bauten, handelten sie eben so in Beziehung auf die dort geltenden Ordnungen und Gesetze, und waren eben dadurch, daß sie nicht zerstörten und auflösten, groß für das Himmelreich. Wenn freilich die 10 nahe] mehr

13 geblieben:] geblieben.

10–11 Vgl. Mt 4,17 40; Lk 10,25–28

13–16 Mt 5,17

17 Joh 4,23–24

22–23 Vgl. Mt 22,37–

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weltliche Gewalt geradezu in das Geistige eingriff, verordnend, was unmittelbar ein Zeugniß gewesen wäre gegen Gott, und eine Auflösung des Himmelreichs, welches sie verkündigten: dann konnte sich ihr Gehorsam gegen das Gesetz nicht in thätiger Erfüllung, sondern nur in leidender Unterwerfung zeigen. Wenn man ihnen gebieten wollte, von dem Erlöser und seinem Reiche ganz zu schweigen, dann konnten sie nur entweder aus solchem Gebiete weichen, wenn sie sonst durften, oder sie mußten sagen, man muß Gott mehr gehorchen, als den Menschen, und duldeten dann freudig, was ihnen aufgelegt ward. Wenn man sie nöthigen wollte, Menschen göttliche Ehre zu erweisen, und selbst Götzendienst zu treiben, also zu billigen, daß die Menschen die Kenntniß des ewigen Gottes verkehrt hatten in menschliche, ja thierische Bilder: das war freilich kein Gesetz, welches sie sich hätten scheuen müssen aufzulösen, vielmehr, wenn sie sich dem gefügt hätten, wären sie nicht etwa die Kleinsten gewesen im Himmelreich, sondern gar nicht mehr darin. Darum ist es ja immer von Allen, welche Wahrheit und Gewissenhaftigkeit in Ehren hielten, ja oft von ihren Peinigern | selbst, gar höchlich gerühmt worden, daß keine Drohungen und Verfolgungen jemals die Gläubigen bewegen konnten, ihre Kniee zu beugen vor den Götzen oder vor den Bildnissen der Kaiser, oder an irgend etwas mit dem Gräuel der Abgötterei wesentlich Zusammenhängenden einen billigenden Antheil zu nehmen. Aber gern ertrugen sie dann auch jede Strafe, und erlaubten sich nie, auch wo sie die Stärkeren würden gewesen seyn, der gesetzmäßigen, wenn auch noch so sehr gemißbrauchten, Gewalt eine ungesetzmäßige entgegen zu stellen. Auf dem eigentlichen Gebiete der weltlichen Macht hingegen, und wo der Gehorsam gegen sie mit dem Gehorsam gegen Gott nicht streiten konnte, haben sie immer jedes Gesetz erfüllt, und also auch die Leute gelehrt, nie aber zugegeben, daß ein Vorwand zum Ungehorsam irgend wie daher genommen würde, daß die Obrigkeit nicht erleuchtet wäre, und daß es Christen nicht ziemen wollte, den Ungläubigen zu gehorchen; sondern überall und ohne Ausnahme ermahnten sie, der Obrigkeit unterthan zu seyn, nicht nur um der Strafe willen und aus Noth, sondern auch um des Gewissens willen, weil sie von Gott eingesetzt sey. II. Wenn wir nun fragen: wie wir diesen Maaßstab auch für uns anzulegen haben? so dürfen wir nicht übersehen, daß es ein zwiefacher Gesichtspunkt ist, aus welchem das Gesetz Mosis, worauf der 25 noch] noch noch 8–9 Apg 5,29

11–13 Vgl. Röm 1,23

33–35 Vgl. Röm 13,1; 1Petr 2,13–14

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Ausspruch des Erlösers sich zunächst bezieht, kann betrachtet werden. Eines Theils nämlich war es das Gesetz für das Volk, dem Er und seine Jünger angehörten, anderen Theils war es die Ordnung des gemeinsamen Gottesdienstes, in dem Er und sie erzogen worden, und zu dem sie sich immer bekannt hatten. Um nun bei dem Letzten anzufangen, so wird wohl bei dieser Veranlassung einem Jeden von selbst die Frage auf den Lippen schweben: wie es in dieser Hinsicht um die evangelische Kirche stehe, der wir angehören? Haben die Männer Gottes, deren muthigem und kräftigem Dienste an dem Werke des Herrn wir das hellere Licht des Evangeliums verdanken, wofür wir Gott sonntäglich in unserem Morgengebete preisen, haben sie nach | der Regel des Herrn gehandelt, auch das kleinste Gebot nicht lösend, sondern erfüllend, und auch also lehrend, daß wir sie mit Recht groß nennen mögen im Himmelreich; oder treffen diejenigen die Wahrheit besser, welche, wenn sie sie nicht ganz aus der Gemeinschaft des Himmelreichs ausschließen, was wohl auf keinen Fall ein Wort des Erlösers für sich haben möchte, sie doch für die Kleinsten erklären im Himmelreiche? Gewiß dürfen wir es nicht scheuen, sie nach diesem Worte des Erlösers zu beurtheilen, und können sie, wenn wir die allgemeinen Regeln, nach denen sie gehandelt, ins Auge fassen, mit aller Freudigkeit des Herzens groß nennen. In den Tagen des Erlösers war bei Weitem der größte Theil des Volks der pharisäischen Schule zugethan, welche außer den Vorschriften des Gesetzes noch alle jene Satzungen zu beobachten lehrte, die als vermeintliche Folgerungen aus dem Gesetze, oder als in dem Sinne und Geiste desselben anzustellende Uebungen, waren hinzugefügt worden. Diese Zusätze hatten weder ein göttliches Ansehn, noch waren sie ganz allgemein angenommen, und menschlicherweise für Jeden verbindlich; vielmehr bestanden neben jener noch andere Schulen und Sekten, von welchen diese Zusätze verworfen wurden. Der Erlöser hat sich zu keiner von diesen letzteren bekannt, aber auch ohne einen solchen Zusammenhang mit Anderen für sich und die Seinigen das ursprüngliche Gesetz von den Satzungen streng geschieden, und daß er den letzteren entsagte, für keinen Widerspruch gehalten gegen seine Regel, keinen Titel des Gesetzes aufzulösen. Dasselbe galt nun in jener Zeit auch vom Christenthum. Mit Menschensatzungen war es überladen in Lehre und Leben, welche auch für Folgerungen aus der Schrift, oder für aus demselben Geiste geflossene Zusätze zu den Vorschriften Christi und der Apostel gehalten wurden; aber von jeher war auch vielfältiger Widerspruch dagegen erhoben worden, theils von Einzelnen, theils von größeren und kleineren Gesellschaften von Christen. 10–12 Vgl. Kirchen-Gebethe, Berlin 1741, S. 3–8, hier S. 4

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Die erleuchteten Lehrer zur Zeit der Kirchenverbesserung thaten nun auch nichts Anderes, als daß sie das ursprüngliche Gesetz der Christen für Lehre und Leben, wie es uns im | Evangelio und den Schriften der Apostel überliefert ist, streng von den Menschensatzungen schieden. Die große Lehre, daß kein Fleisch gerecht werde durch irgend ein äußerliches Werk, sondern daß Gerechtigkeit vor Gott nur komme aus dem lebendigen und thätigen Glauben, zum Troste aller beschwerten Gemüther wieder einschärften, das Verderbliche in den Satzungen in sein volles Licht stellten, und in Bezug auf das Gleichgültige darin die rechte christliche Freiheit wieder geltend machten, Kraft deren denn auch hier mehr und dort weniger auch von dem beibehalten wurde, was nur menschlicher Meinung und langer Gewohnheit seinen Ursprung und seine Werthschätzung verdankte. Das aber war für Alle, ohne Ausnahme, die wir zu den Gründern unserer Kirchengemeinschaft zählen, die erste Regel, nichts, auch das Kleinste nicht, von dem, was in der neutestamentischen Schrift selbst festgestellt ist, mit Wissen und Willen zu lösen. Und damit das Herz immer fester werde in dieser Hinsicht, und der Gang immer sicherer, ist seitdem unter uns nicht nur der größte Fleiß angewendet worden, damit alle künftigen Diener der Gemeinden angeleitet würden zu einem gründlichen Forschen in der Schrift, sondern dieses Forschen wird auch allen Christen insgemein, Jedem nach seinem Vermögen, unter uns zur heiligsten Pflicht gemacht. Möge nun dieses auch immer die Grundregel unserer Kirche bleiben, und auch jeder Einzelne das Wort des Erlösers unverbrüchlich festhalten, auf daß wir Alle groß seyen im Himmelreich. Wie leicht Menschensatzungen, auch wenn einmal aufgedeckt und verlassen, sich doch wieder einschleichen, wie leicht es unter manchen Umständen wird, die Gewissen gefangen zu nehmen unter die Gewalt todten Buchstabens und todter Werke, davon haben auch wir Erfahrung genug gemacht; aber lange hat der Herr uns niemals gelassen in dem Schlafe, während dessen der Feind Unkraut säet, und der ursprüngliche Streit gegen alles Pharisäische hat sich, seitdem das gute Werk der Reinigung und Wiederherstellung der Kirche begonnen ist, auch immer wieder erneuert, wenn es Noth that. Daß dabei oft die | Ansichten verschieden sind, und dem Einen als menschliche Meinung erscheint, was der Andere für unmittelbaren Inhalt der Schrift ansieht, das ist natürlich, und von unserer evangelischen Freiheit unzertrennlich. Aber diese Verschiedenheit kann, weil sie das Wahrheitsuchen in 2 Christen] Christen, 5–7 Röm 3,20; Gal 2,16

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Liebe nicht hindert, sondern fördert, weder der Kirche schaden, noch auch den Werth des Einzelnen für das Himmelreich verringern. Nein, Alle können groß seyn in demselben, wenn sie nur in dem Geiste dieser Regel unseres Herrn handeln, und Keiner meint, daß er dem Himmelreiche einen Dienst thun könne, indem er auch nur das Kleinste löset, wovon er dennoch selbst überzeugt ist, es sey der wohlverstandene Inhalt der Schrift. Sondern nur das suche Jeder zu lösen, wovon er bei sich selbst gewiß ist, es sey nur menschliche Meinung, und nur in der Absicht, damit kein Joch auf das Gewissen der Christen gelegt werde, wovon der Herr nicht gewollt hat, daß sie es tragen sollten. Ueber so wohlgemeintem christlichen Handeln wird dann auch, das dürfen wir gläubig hoffen, der göttliche Geist walten; und wenn er es auch nicht immer in der Quelle unmittelbar so läutern kann, daß sich ihm gar kein Irrthum beimische, so wird doch der endliche Erfolg immer kein anderer seyn, als daß nur Menschliches gelöst wird, das Göttliche aber immer fester gestellt. Wer aber wieder binden will, weil er meint, es sey schon zuviel gelöset, der wolle ja an nichts Anderes binden, als was ihm in seiner innersten Ueberzeugung wahrhaft Gottes Wort ist, damit wir nicht auf’s Neue der Menschen Knechte werden, und die mühsam errungene und festgestellte evangelische Freiheit nicht wanke und verloren gehe. Was nun den zweiten Gesichtspunkt betrifft, daß nämlich das Gesetz, dem der Erlöser hier eine solche Unverletzlichkeit beilegt, das eigenthümliche Gesetz seines Volkes war: so scheint es, als ob für uns in dieser Hinsicht sich Alles von selbst verstände. Wir dürfen uns nur an die vorher schon erwähnten Schriftstellen erinnern, in denen der Gehorsam gegen menschliche Ordnung geprediget wird; wir dürfen nur hinzunehmen, daß in den Zeiten der Apostel, so wie überhaupt das Evangelium nicht zuerst | die Mächtigen und Großen ergriff, sondern die Armen und Elenden, vorzüglich auch Viele von denjenigen zum Glauben gebracht wurden, die als Sclaven der unbedingten persönlichen Willkühr ihres Herrn unterworfen waren, und wiewohl dieser Zustand von Rechtlosigkeit und gänzlichem Mangel an Freiheit widernatürlich war, und seinem ersten Ursprunge nach größtentheils in einer ganz ungesetzlichen rohen Gewalt gegründet, so empfiehlt doch der Apostel auch diesen Knechten Gehorsam gegen ihre Herren, und will nicht gestatten, daß auch ein solches Verhältniß einseitig und gewaltsam gelöst werde, sondern nur, wenn sie auf ordnungsmäßige Weise frei werden könnten, sollten sie das gern gebrauchen. Warlich diejenigen, die als Sclaven eines ungläubigen Herrn so wenig für den 9–11 Vgl. Apg 15,10 19–20 Vgl. 1Kor 7,23 S. 754,33–35 35–39 Vgl. 1Kor 7,21

26–27 Vgl. oben Anm. zu

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wahren Herrn zu thun im Stande waren, konnten sich leicht befugt glauben, eine ohnedies naturwidrige Fessel zu sprengen, um mehr für das Himmelreich auszurichten mit dem ihnen anvertrauten Pfunde; aber sie sollten es nicht. Die Christen, die als Unterthanen einer heidnischen Obrigkeit die Fortpflanzung des Evangelii jeden Augenblick in der größten Gefahr sahen, konnten wohl nicht glauben, wenn es nur möglich wäre, müßte es das verdienstlichste Werk seyn, die weltliche Gewalt, auf welche Weise es auch geschähe, denen, die ohnedies immer schon das Schlimmste um das menschliche Geschlecht verdient hatten, zu entreißen, und sie in die Hände der Gläubigen zu bringen; aber statt dessen sollten sie nur gehorchen. Wie könnte also noch irgend ein Zweifel obwalten, daß das Christenthum den vollständigsten Gehorsam gegen alle menschlichen Gesetze auf das Strengste fordert, und daß jede Lösung eines solchen nur als ein unchristlicher Frevel kann angesehen werden. Aber wie kommt es nur, daß von Zeit zu Zeit die herrschende Meinung und das allgemeine Gefühl so wenig in Uebereinstimmung sind mit dieser heiligen Vorschrift? Wie kommt es, daß unter uns nicht nur im Einzelnen die Gesetze so häufig übertreten, daß sich Einer wohl, wie jener Pharisäer, ein besonderes Verdienst daraus machen kann, wenn er sie auch in allen Kleinigkeiten beobachtet, sondern daß auch im Großen un|ter christlichen Völkern oft genug Gesetze und Ordnungen gewaltsam gelöst, ja solche Zerstörungen sogar als Heldenthaten bewundert und gepriesen werden, und eben dadurch gelehrt wird, zu thun, wie der Erlöser sagt, daß wir nicht thun sollen? Diese Thatsache, für die es keines Erweises weiter bedarf, macht es wohl nothwendig auch in dieser Beziehung das Wort des Erlösers noch näher zu erwägen. Laßt uns zuerst fragen: ob diejenigen, welche das Lösen der Gesetze entschuldigen wollen, wohl etwas für sich haben in diesem Worte unseres Erlösers, und ob sich ihre Ansicht mit der seinigen irgend vereinigen läßt? Das Erste kann vielleicht seyn, möchte ich sagen, das Zweite gewiß nicht. Nämlich, um mich zunächst über das Erste zu erklären: so sagt der Herr allerdings nach seiner gewohnten Milde: „Wer etwas löset von diesen Geboten, der ist der Kleinste im Himmelreich.“ Nun aber hingen alle jene Gebote so zusammen, daß sie nur als Eines angesehen wurden, wie auch der Apostel sagt: wer ein Gebot übertritt, der ist an dem ganzen Gesetze schuldig. Also war es auch dasselbe, ob Einer nur ein Gebot löste oder das ganze Gesetz; und eben das müssen wir, streng genommen, von jeder bürgerlichen Gesetzgebung sagen, weil jede Uebertretung das ganze Gesetz seiner Majestät und Heiligkeit 2–3 Vgl. Lk 19,12–26

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beraubt und es also auflöst. Wenn nun der Herr von Einem, der so thut und lehrt, in unserm Texte sagt, er sey der Kleinste im Himmelreich: so giebt er doch zu, daß Einer könne das menschliche Gesetz lösen, und dennoch, wenn gleich der Kleinste, aber immer im Himmelreich seyn. Um nun zu verstehen, wie dies gemeint ist, dürfen wir nur bedenken, wie leicht es in den Tagen der Apostel geschehen konnte, daß Christen, die dem Gesetze unterworfen waren, es dennoch für sich und Andere lösten, weil sie doch durch dasselbe nicht gerecht würden, und durch die zahllosen kleinen Aufmerksamkeiten, die es forderte, nicht wollten aufgehalten seyn in ihrem höheren Berufsleben. Diese handelten irrig zwar und falsch, aber doch mit dem Sinne, das Himmelreich zu fördern, und waren also auch in demselben, aber freilich, weil sie | es fördern wollten, wie es sich nicht fördern läßt, waren sie die Kleinsten. Wir dürfen uns nur erinnern, wie in den Zeiten der Kirchenverbesserung außer den Stiftern unserer Gemeinschaft auch noch Andere aufstanden, von denen sich jene Männer Gottes dem Worte des Herrn getreu, als von Schwarmgeistern immer auf das Geflissentlichste und Strengste zu scheiden suchten, Männer, welche auch ihr ganzes Leben daran setzten, das Christenthum von Mißbräuchen zu befreien, und viele Irrthümer mit richtiger Einsicht in das göttliche Wort bekämpften; aber theils meinten sie, es zieme sich für die Gläubigen nicht, auch nur in bürgerlicher Gesellschaft mit den Ungläubigen zu stehen, theils wollten sie überhaupt den Christen nicht gestatten, Obrigkeiten zu seyn, und wollten also das ganze bürgerliche Gesetz lösen, und mit Umstürzung aller bisherigen menschlichen Ordnung eine neue Stadt Gottes erbauen, wie sie unmöglich hätte bestehen können. Nach einer Stadt Gottes aber strebten sie doch, und waren also im Himmelreich; nur weil sie, von diesem Worte des Herrn weichend, das Himmelreich gestalten wollten, wie es nicht seyn konnte und sollte, so waren sie die Kleinsten darin. Bedenken wir nun zuletzt noch, wie sehr der glückliche Fortgang der christlichen Kirche von sicherem Frieden und fester Ordnung in der bürgerlichen Gesellschaft abhängt: so dürfen wir nicht leugnen, es kann Einer auch aus reiner Liebe zum Himmelreich, und nur um seinetwillen, nach Verbesserung der bürgerlichen Gesellschaft verlangen und daran arbeiten. Geschieht aber dies leider sonst oft genug auf verkehrte Weise: so kann es auch von denen auf verkehrte Weise geschehen, die nur um des Himmelreichs willen etwas Besseres als das Bisherige begehren. Wenn nichts Menschliches, in seinem ganzen Verlaufe betrachtet, und bis auf seinen Ursprung zurückgeführt, vollkommen rein ist, wenn Alles die Spuren der Gebrechlichkeit und des Verderbens an sich trägt, wenn nicht nur Kurzsichtigkeit und Bethörung, sondern auch Falschheit und Verkehrtheit überall mitwirken, und Al-

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les irgend wie von Sünde und Ungerechtigkeit befleckt: wie sollte irgend eine ihrem Wesen nach auch noch so wohlthätige menschliche Ge|walt, wie schützend und erhaltend sie sich auch immer gezeigt habe, in wie weisen und frommen Händen sie auch größtenteils gewesen sey, diesem gemeinsamen Geschicke ganz haben entgehen können! Je mehr aber diese Gemeinschaft mit der Sünde in menschlichen Anordnungen und Verhältnissen hervortritt: um desto leichter können diejenigen, welche um des Himmelreichs willen alles Menschliche immer mehr reinigen und veredeln möchten, daß sie, soweit eben ihre Macht und ihr Einfluß reichen, das Gesetz zu lösen suchen, und meinen, indem sie nur ein Werk oder einen Sitz der Sünde störten, dem Herrn einen Dienst zu thun. Wenn diese nun, sofern sie über ihre Befugniß hinaus gingen, mit vollem Rechte dem menschlichen Gesetze anheimfallen: so hat doch der Erlöser, sofern ihre Absichten rein und nur auf die Förderung seines Reiches gerichtet sind, auch Recht, von ihnen zu sagen, daß sie im Himmelreich sind; aber die Kleinsten sind sie gewiß. Wie sollte auch nicht er, der das Innerste des Menschen kennt, aber auch nur nach diesem Innersten urtheilt, einen Unterschied machen zwischen solchen, die aus Eigennutz etwa, oder Herrschsucht, sey es nun viel oder wenig vom Gesetze lösen, und solchen, welche, weit entfernt sich selbst zu suchen, vielmehr bei solchen Verirrungen eben so wenig, wie bei Allem, was sie ganz dem Willen des Herrn gemäß für sein Reich thun, nicht daran denken, ob sie sich Leiden und Trübsale zuziehen oder ihnen entziehen. Soviel also haben diejenigen selbst, welche das Gesetz lösen, in unserem Texte für sich, daß, wenn ihr Sinn auf das Himmelreich gerichtet ist, und sie es nach ihren Kräften zu bauen suchen, auch solche Abweichungen von dem rechten Wege sie nicht sogleich aus demselben ausschließen. Aber ist hier auch etwas für diejenigen gesagt, welche dieses entschuldigen, oder gar rechtfertigen wollen? Gewiß nicht, man müßte denn sagen: das hieße schon eine Sünde entschuldigen, wenn man nicht ihretwegen gleich den Menschen selbst gänzlich verdammt. Oder es sey, da wir doch, dem Herrn sey Dank, Alle berufen sind, für sein Reich zu leben und zu wirken, irgend wie zu rechtfertigen, wenn | Einer wissentlich und freiwillig nicht mehr darin seyn will, als gerade der Kleinste. Freilich irgend einen zum Größten zu machen im Himmelreich, das sagt der Erlöser stehe ihm selbst nicht zu; aber desto angelegener war es ihm, uns zu lehren, wie sich Jeder davor hüten könne, nicht der Kleinste zu seyn. Und daß seine ernstliche Anweisung dahin geht, daß wir uns selbst, wenn die Versuchung dazu am Größten ist, alles Auflösens enthalten sollen: daran wird uns kein Zweifel bleiben, wenn wir auf die Umstände achten, unter denen er die Worte unseres Textes gesprochen hat. Denn zweierlei giebt der

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Neigung, das Gesetz zu lösen, und die bestehende Ordnung wankend zu machen, am Meisten Vorschub. Einmal, wenn dem bestehenden Unvollkommenen, sey es nun anderwärts schon in der Erscheinung, oder auch nur im Gedanken, ein Vollkommneres recht klar und bestimmt gegenübersteht; und dann, wenn das Bestehende schon von selbst bald zerfallen zu wollen scheint, so daß es willkührlich lösen nur für eine kleine Beschleunigung des natürlichen Laufes der Dinge anzusehen ist. Was nun das Erste betrifft, so stand dem Erlöser vom Anfang an das schöne Bild einer Anbetung Gottes im Geiste und in der Wahrheit in seiner ganzen Schönheit klar vor Augen, und so hatte er es auch immer seinen Jüngern gezeichnet. Vor dieser sollte und mußte ja der todte äußerliche Dienst der Opfer und Gebräuche verschwinden, die zu jener schon Eingeweihten konnten an diesen eine Nahrung des Geistes nicht mehr haben; und doch blieb der Erlöser selbst unter das Gesetz gethan, und gestattete auch nicht, daß seine Jünger das Geringste von dem Gesetze lösen durften, dem sie ebenfalls durch die Geburt untergeben waren, sondern sie sollten durch dieses Band der Unvollkommenheit mit ihrem Volke verbunden bleiben, um ihm desto brüderlicher die geistige Gemeinschaft darbieten zu können, die auf jener Anbetung beruht, und das allen Jüngern Christi gemeinsame Streben, sein Reich zu fördern, sollte hindern, daß ihnen auch das Unvollkommene nicht zuwider oder gleichgültig würde, was doch immer ein Band der Gemeinschaft war, und zum Höheren führen konnte. Was das andere anbelangt, so | hatte sich zwischen der Zeit, als der Erlöser die Worte unseres Textes sprach, und der, als er auf das Bestimmteste vorhersagte, daß bald der Tempel würde zerstört werden, und also das Reich des Gesetzes zu Ende seyn, nichts Bedeutendes ereignet; so gut er also kurz vor seinem Leiden dieses vorher wußte, hatte er es auch schon früher gewußt, und oft genug angedeutet. Aber ohnerachtet dieser deutlichen und bestimmten Kenntniß, wollte er doch auf keine Weise der Zeit vorgreifen, sondern erklärte sich für fest entschlossen, Alles, was zum Gesetze gehört, bis zum letzten Augenblicke zu erfüllen; und eben so wenig wollte er gestatten, daß die Beseitigung des Gesetzes, die er als unvermeidlich erkannte, irgendwie von den Seinigen ausgehen sollte. Der Zug des Geistes, der die Menschen dem von ihm verkündigten Himmelreiche zuführte, sollte nicht verunreiniget und mit fremdartigen Wünschen und Hoffnungen vermischt werden, wie es geschehen mußte, wenn sie zugleich, indem sie sich dem Himmelreiche ergaben, eben dadurch befreit würden von einem beschwerlichen und drückenden Gesetze; denn immer hätten die Neubelehrten selbst nicht wissen können, ob sie sich der 9–10 Vgl. Joh 4,23–24

25–27 Vgl. Mt 24,1–2; Mk 13,1–2; Lk 21,5–6

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christlichen Gemeinschaft zuwendeten aus reiner Liebe zu dem Geistigen und Göttlichen darin, oder ob auch die Aussicht, sich von vielfältigen Verpflichtungen und lästigem Zwange zu befreien, einen Antheil daran hatte. Darum soll nirgend und niemals, und läge der glückliche Erfolg auch noch so nahe, und wären die Umstände noch so günstig und scheinbar dringend, unser Bestreben, das Gute zu fördern und das Himmelreich zu bauen, die Gestalt einer willkührlichen Auflösung wirklich noch bestehender Ordnungen und Gesetze annehmen, wenn wir nicht wollen immer die Kleinsten im Himmelreiche seyn, und eigentlich solche, die selbst nichts fördern, sondern erst Anderer bedürfen, welche wieder gut machen, was sie selbst verdorben haben. Ueberall, im Kleinen wie im Großen, denn wie sehr uns auch das Kleine heilig seyn soll, lehren uns die Ausdrücke des Erlösers selbst zur Genüge, wollen wir nach dem höchsten Ziele streben, welches der Erlöser uns vorgesteckt hat, und wollen den Maßstab immer im Auge behalten, | nach welchem Er unser Verfahren in seinem Reiche messen will. Nichts, was irgend Gesetz heißen kann, und als solches noch lebt unter uns, wie unvollkommen und verbesserungsbedürftig es übrigens auch sey, soll durch uns wankend gemacht werden oder umgestoßen; aber indem wir, bis Vollkommneres auf ordnungsmäßige Weise entstehen kann, Alles aufrecht zu halten suchen, wodurch solche Menschen, die noch nicht geheiliget sind, wenigstens in Ordnung und Sitte gebunden werden: so laßt uns ihnen zugleich überall den Geist und Sinn derer zeigen, die, weil die Früchte des Geistes in ihnen gedeihen, und die Freiheit der Kinder Gottes ihr heiliges Recht ist, sich zwar jedem Gesetze, das ein Recht an sie hat, unterwerfen, selbst aber eben so wenig, als eines wider sie ist, auch eines bedürfen. Dann wird auf dem von Gott geordneten, und von unserem Erlöser vorgezeichneten Wege alles Bessere zur rechten Stunde unter uns Raum gewinnen, und sein Himmelreich sich unter uns immer schöner erbauen; wir selbst aber werden in dem Bestreben, ihm zu dienen und es zu verbreiten, vor aller Verunreinigung des Gewissens und vor aller Befleckung von der Welt bewahrt bleiben. Das verleihe er uns durch den gnädigen Beistand seines Geistes. Amen. Schl.

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[Liederblatt vom 15. Juli 1821:] Am 4. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Hier legt mein Sinn. [1.] Mein Gott, ach lehre mich erkennen / Wer Jesu Jünger sei zu nennen; / Und wirk in mir zu deinem Ruhm / Das ächte wahre Christenthum. // [2.] Hilf, daß ich dir mich ganz ergebe, / Daß ich mir sterb und dir nur lebe, / Vom Eigenwillen mich befrei; / Und mach in mir, Herr, alles neu. // [3.] Entreiße du mein Herz der Erden, / Laß eins im Geist mit dir mich werden; / Nimm mich zu deinem Opfer hin, / Und gieb mir meines Jesu Sinn. // [4.] Regiere, Vater, meine Seele, / Daß ich den schmalen Weg erwähle, / Dem Heiland folge treulich nach, / Und Ehre such’ in Christi Schmach. // [5.] Verleih mir zur Entsagung Kräfte, / Daß ich an Christi Kreuz mich hefte, / Daß mir die Welt gekreuzigt sei, / Und dir allein ich bleibe treu. // [6.] Stärk in mir Glauben, Hoffnung, Liebe, / Und gieb, daß ich sie thätig übe, / Daß ich, entfernt von Heuchelei, / Ein wahrer Jünger Jesu sei. // [7.] Gieb, daß ich so auf dieser Erde / Des Christen Namens würdig werde; / Und wirk in mir zu deinem Ruhm, / Das ächte, wahre Christenthum. // (C. F. Richter.) Nach dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o etc. [1.] Kommt und laßt den Herrn euch lehren, / Kommt, und lernt aus seinem Wort, / Welche Christo angehören, / Seelig durch ihn hier und dort; / Die im Glauben fest bestehn, / Freudig Gottes Wege gehn, / In des Heilands Liebe brennen, / Und ihn ohne Scheu bekennen. // [2.] Seelig sind die Demuth haben, / Und sich fühlen arm im Geist; / Sich nicht rühmen ihrer Gaben, / Daß Gott werd allein gepreist: / Heil folgt ihnen für und für, / Denn das Himmelreich ist ihr, / Die sich selbst gering hier schäzen, / Wird Gott einst zu Ehren sezen. // [3.] Selig sind, die eifrig streben / Nach des Herrn Gerechtigkeit, / Daß ihr ganzes Thun und Leben / Nie von Unrecht sei entweiht, / Deren Herz nichts mehr begehrt, / Als, was Gottes Ruhm vermehrt: / Gott wird ihr Verlangen stillen, / Sie mit seiner Gnad’ erfüllen. // [4.] Selig sind, die funden werden / Reines Herzens jeder Zeit; / Die in Werk, Wort und Gebehrden / Lieben Zucht und Heiligkeit! / Solche, denen nicht gefällt / Die unreine Lust der Welt, / Sondern die mit Ernst sie meiden, / Werden schauen Gott mit Freuden. // [5.] Selig sind, die friedlich leben, / Und in frommer Einigkeit; / Die, wo Streit sich will erheben, / Ihn zu schlichten sind bereit! / Wer den Bruder Liebe lehrt, / Ist dem Gott des Friedens werth; / Drum, die Friedens sich befleißen, / Werden Gottes Kinder heißen. // [6.] Leite mich zu allen Zeiten / Herr, und steh mir kräftig bei, / Daß so hoher Seeligkeiten / Ich aus Gnaden fähig sei! / Vater, hilf von deinem Thron, / Daß ich glaub an deinen Sohn, / Und durch deines Geistes Stärke, / Mich befleiße guter Werke. // Nach der Predigt. – Mel. O daß ich tausend etc. So hilf denn, daß ich, weil ich lebe, / Um deiner Gnade mich zu freun, / Nach Reinigkeit des Herzens streben, / Und präge mir aufs tiefste ein, / Mein größtes Glück auf dieser Welt / Sei, wenn mein Sinn dir wohlgefällt. //

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5. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,5–7 Nachschrift; SAr 79, Bl. 35r–49v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 51r–60r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 87v–88r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 165r–168v; Woltersdorff Teil der vom 8. Juli 1821 bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liedangabe (nur in SAr 60)

Tex t. 2. Petri I, 5–7. So wendet allen euren Fleiß daran, und reichet dar in eurem Glauben Tugend, und in der Tugend Bescheidenheit und in der Bescheidenheit Mäßigkeit, und in der Mäßigkeit Geduld, und in der Geduld Gottseligkeit, und in der Gottseligkeit brüderliche Liebe, und in der brüderlichen Liebe gemeine Liebe. M. a. F., Daß alles, was das Eigenthümliche des Khristen ausmacht, mit dem Glauben anfängt, mit dem Glauben an den Sohn Gottes, der gekommen war das Reich Gottes zu gründen, das ohne die Hülfe und ohne den Beistand des reinen und unbeflekten der sündige Mensch das | Ziel der göttlichen Gnade nicht erreichen kann: davon fühlen wir uns alle so gewiß durchdrungen, als wir den heiligen Namen unseres Herrn und Erlösers mit Recht tragen. Daß aber der Glaube durch die Liebe thätig sein muß, das ruft uns nicht nur die heilige Schrift auf allen Blättern gleichsam zu, sondern es ist auch die innere Stimme eines jeden gläubigen Herzens, weil wir wissen, daß wir nur durch die Liebe an dem Geschäfte des Erlösers, das Reich Gottes zu gründen, Theil nehmen können, und daß nur durch die Liebe unserer Seele die Ähnlichkeit mit ihm, die unser höchster Wunsch ist, aufgedrükt 1 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 5. S. n. Trin. 1821. 0 Liedangabe in SAr 60, Bl. 165r: „Lied 818“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, „Mein König! schreib mir dein Gesetz ins Herz“ (in eigener Melodie) 13 Gal 5,6

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werden kann. Der Apostel | hatte, wie wir neulich gesehen haben, in den vorigen Worten die herrliche Verheißung vorgehalten, daß wir sollen theilhaftig werden der göttlichen Natur, so wir nur fliehen die vergängliche Lust der Welt. Was er in den Worten unseres Textes sagt ist nichts anderes als eine weitere Ausführung davon; denn Gott ist die Liebe, und so ist es wiederum die Liebe, in der sich unsere Theilhaftigkeit an der göttlichen Natur offenbart. Was aber das Merkwürdige ist in den Worten unseres Textes, und worauf ich jezt eure Aufmerksamkeit hinlenken will, das ist der eigentliche Weg von dem Glauben zur Liebe, den uns der Apostel hier vorzeichnet. Wir sind sonst gewohnt, uns dies beides unmittelbar ver|einigt zu denken, daß Glaube und Liebe wesentlich zusammenhangen, daß das kein wahrer Glaube sein kann, der sich nicht durch die Liebe beweiset und bewährt, und das keine rechte Liebe, die nicht auf dem Grunde des Glaubens erbaut ist. Und dabei freilich wird es auch bleiben müssen, aber der Weg, den uns der Apostel vorschreibt von dem Glauben zur Liebe, der ist auch nichts anderes als nur eine weitere und genauere Auseinanderlegung dieses unseres gemeinsamen Gefühls, indem er uns auf allen Punkten eben diese innige Verbindung des Glaubens und der Liebe nachweist. So laßt uns denn mit einander sehen erstens, wie uns der | Apostel zeigt, daß wir vom Glauben zur Liebe gelangen; dann aber auch zweitens, wie er nur in der allgemeinen Liebe das höchste Ziel und die herrlichste Frucht des Glaubens uns darstellt. I. Laßt uns zuerst, m. g. F., auf den Hauptpunkt sehen, den uns der Apostel vorhält, indem er uns das Fortschreiten des Khristen von dem Anfang alles Khristlichen, nämlich dem Glauben beschreibt. Zuerst sagt er müssen wir von dem Glauben durch die Tüchtigkeit zur Bescheidenheit gelangen; dann von der Bescheidenheit durch die Mäßigkeit zur Geduld, und dann von der Geduld durch die Gott|seligkeit zur brüderlichen Liebe, und dann durch diese zur allgemeinen Liebe. Zuerst, m. g. F., werden wir alle das wohl fühlen, daß der Liebe nothwendig muß beigesellt sein und zum Grunde liegen die Bescheidenheit. Denn nichts ist der Liebe mehr entgegen als das hoffärtige Wesen des Menschen. Das überall sich selbst Suchende, und überall sich selbst nur Verherrlichende, das zieht die Aufmerksamkeit von dem Nächsten, der der Gegenstand unserer Liebe sein soll, ab, das macht gleichgültig gegen alles dasjenige, was sich nur auf den Menschen und auf sein persönliches Wohl5–6 und ... Liebe] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 52r 101, Bl. 52v 17–18 innige] einige 1–4 Vgl. 8. Juli 1821 nachm.

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13 rechte] Ergänzung aus SAr

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ergehen selbst | bezieht. Wie nun das mit dem Glauben nicht bestehen kann, dessen erste Foderung die ist, daß wir uns selbst verleugnen um den Fußstapfen unseres Herrn und Erlösers nachzugehen, und als seine Werkzeuge und Diener für sein Reich zu arbeiten, das ist wohl deutlich genug. Aber der Apostel macht uns aufmerksam darauf, daß wir durch die Tüchtigkeit, die er hier Tugend nennt, zur Bescheidenheit gelangen. Und gewiß, m. g. F., bescheiden im wahren und eigentlichen Sinne des Wortes kann der Mensch nicht sein in dem Gefühl seiner Nichtigkeit, sondern nur der, der etwas ist, hat einen Grund und | ein Recht bescheiden zu sein, und von sich selbst nicht mehr zu halten, denn billig und recht ist. Und so wissen wir denn wohl und fühlen es, daß es keinen wahren und lebendigen Glauben giebt, der nicht den Menschen tüchtig macht eben zu einem Menschen Gottes, welcher zu jedem guten Werk geschikt ist. Denn wie der Glaube entsteht aus der Sehnsucht des Menschen nach der Gemeinschaft mit Gott und nach der thätigen Uebereinstimmung mit Gottes heiligem Recht und Gottes heiligem Willen: so ist es nicht möglich, wenn er in der Seele Wurzel gefaßt hat, daß der Mensch nicht alle seine Kräfte dazu | gebrauchen sollte, und das Auge seines Geistes anstrengen, um überall zu sehen, welches da sei der heilige und wohlgefällige Wille Gottes, und sich zu üben in alle dem, wodurch der Mensch seinen Beitrag liefern kann zur Förderung des Reiches Gottes auf Erden. In dieser Tüchtigkeit aber wird der Gläubige bescheiden, weil er fühlt und weiß, wie sie ihm überall nur entsteht aus dem Aufsehen zu dem, der der Anfänger und Vollender alles Guten ist, überall nur aus der Liebe und dem Gehorsam gegen Gott, und daß diese Liebe und diese Tüchtigkeit | nichts ist als die Frucht des Geistes, den er den Seinigen giebt. Und so ist es denn auch zugleich die Tüchtigkeit des Gläubigen, die den Menschen bescheiden macht, die Kinder der Welt aber, wenn sie nur in etwas durch natürliche Anlagen oder durch anderweitige Begünstigungen eine Tüchtigkeit erlangt haben, so ist sie es, die sie am meisten versucht zu jenem hoffärtigen Wesen, welches gehört zu dem fleischlich Gesinntsein, welches eine Feindschaft ist wieder Gott und seinen Gesalbten. Ist nun aus dem Glauben durch die Tüchtigkeit der Mensch zur Bescheidenheit gelangt, so ist auch dann | nothwendig, daß aus der Bescheidenheit durch die Mäßigkeit hervorgehe die Geduld. Die Geduld des Khristen aber, m. g. F., ist nichts anderes als das treue und unausgesezte Beharren in der Erfüllung des göttlichen Willens welches sich, wie unser Herr einst es zu seinen Jüngern sagte, eher alles gefallen läßt, und sich dem Unrechtdulden hingiebt, als sie sich sollte aufhalten lassen auf dem Wege 19 heilige] so SAr 101, Bl. 54r; Textzeuge: selige

27 Kinder der] Kinder

12–13 Vgl. 2Tim 3,17 25 Vgl. Gal 5,22 31 Röm 8,7 24,13 36–38 Vgl. Mt 5,39–48; Lk 6,27–36

35–3 Vgl. Mt 10,22;

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der Erfüllung des Berufes, den uns der Herr angewiesen hat, und irgend eine Beschwerde scheuen durch welche wir zu dem Ziele der Vollkommenheit gelangen können. | Das ist die wahre thätige und lebendige Geduld des Khristen, welche die schönste und herrlichste Probe des Glaubens ist. Wie nun ohne die Bescheidenheit keine Liebe möglich ist, so auch ist keine Liebe möglich ohne Geduld. Denn wenn wir fragen: woher kommt denn wohl das Meiste, was den Menschen wankelmüthig machen kann auf dem Wege der Erfüllung des göttlichen Willens, was in ihm den Ueberdruß hervorbringen kann fortzuschreiten in dem, was ihm vorschwebt als das heilige Gebiet, in welchem der Glaube auf eine gottgefällige Weise sich wirksam beweisen soll? so ist es das, was aus dem verkehrten Sinne | der Menschen hervorgeht, die sich nicht wollen retten lassen von ihrem verkehrten Wandel, ohnerachtet sie von demselben erlöst sind durch das Blut des Sohnes Gottes, oder die in der Feindschaft gegen das Reich Gottes sich durch alles beeinträchtigt glauben, was die, die ihrem Herrn und Meister folgen, in der Welt auszurichten suchen, und den Kindern des Lichtes mit aller Klugheit und Verschlagenheit, die den Kindern der Finsterniß eigen ist, Hindernisse in den Weg legen. Da ist nicht möglich fortzufahren, da ist nicht möglich ein Herz voll Liebe und Treue zu bewahren, und die Bemühungen die Kinder der Finsterniß | in Kinder des Lichtes zu verwandeln fortzusetzen ohne diese thätige und lebendige Geduld des Khristen. Wie nun diese in dem bescheidenen Sinn desselben ihre Wurzel hat, so gehört auch dazu, daß aus der Bescheidenheit die Mäßigkeit hervorgeht, d. h., das Maaß aller auch löblichen und aus dem Bestreben nach dem Guten herrührenden, aber doch heftigen und ein leidenschaftliches Wesen, in welchem der Mensch nicht thut, was Recht ist vor Gott, in der Seele hervorrufenden Bewegungen. Diesen Einhalt thun, kann nur der bescheidene Mensch, der von allem hoffärtigen Sinn entblößt, das nicht hoch an|rechnet, was sich auf seine Person bezieht, sondern, indem er nur das Reich Gottes zu fördern sucht, alles dasjenige gern vergißt, was ihn selbst und sein eigenes Wohl angeht. Nur aus dieser Mäßigkeit kann die rechte Geduld und Beharrlichkeit auf dem Wege zur Vollkommenheit, den uns der Herr vorgezeichnet hat, hervorgehen ohne dabei die Empfindungen des gläubigen Herzens und die Bewegungen des frommen Gemüthes zu stören. Und so fügt denn der Apostel noch das Lezte hinzu, daß aus der Geduld durch die Gottseligkeit die Liebe hervorgehen soll. Die Gottseligkeit aber ist eben die Stimmung des Gemüthes, wo | der Mensch alles auf Gott bezieht, und wo in dieser Beziehung seine ganze Tüchtigkeit auch ihre Ruhe und Seligkeit findet. Da darf denn aller Streit zwischen dem Einzelnen und 14 durch] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 55 16–17 Vgl. Lk 16,8

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dem Allgemeinen, aller Streit zwischen dem Bestreben das eigene Wohl zu fördern und zwischen dem Eifer für das Wohl Anderer aufhören, da nur beziehen wir das, was wir thun und sind, auf Gott, da ist aller Streit und aller Gegensaz verschwunden, und wer dies im Auge hat, und darin seine Seligkeit sucht, in dem ist auch die höchste Geduld und die höchste Mäßigkeit und die höchste Bescheidenheit vollkommen und fest geworden. | Und aus denen vereint geht dann hervor zunächst freilich unter den Khristen die brüderliche Liebe, die sie unter einander vereint, und jeden antreibt das Seine hintanzusezen und das, was des Andern ist, oder vielmehr was des gemeinsamen Herrn und Meisters ist, zum Ziel seiner Thätigkeit zu machen. Bei dieser aber lehrt uns der Apostel nicht stehen zu bleiben, sondern er hält uns als das höchste Ziel des Glaubens die allgemeine Liebe vor, und darauf laßt uns nun in dem zweiten Theile unserer Betrachtung unsere Aufmerksamkeit richten. II. Daß es, m. g. F., eine brüderliche | Liebe unter den Khristen giebt, und daß das wahre Khristenthum da nicht sein kann, wo sie nicht ist, das ist klar. Alles, was für die menschliche Seele einen Werth hat, wenn sich mehrere Menschen in Beziehung auf dasselbe vereinigen, begründet auch eine eigenthümliche Liebe, vereinigt sie, daß sie sich grade aus diesem Grunde und um keines andern Zwekes willen einander fügen, tragen und helfen. Am meisten aber thut dies der Glaube an den Erlöser der Welt, der vereinigt alle die, welche derselben Fahne folgen zu einer treuen und innigen Liebe, daß sie Alles mit einander gemein haben, und | so wie jeder das Seinige gern aufopfert in den Angelegenheiten des gemeinsamen Herrn und Erlösers: so auch jeder von dem Andern glaubt, daß er immer bereit sein werde, wo nur etwas an dem Werke Gottes zu thun ist, Hülfe und Beistand zu leisten; und in dieser Liebe empfängt jeder durch jede Tugend, die der Glaube in ihm wirkt, einen heiligen Schaz und eine höhere Kraft, die von dem Erlöser selbst ausgeht, die also auch jeder suchen muß in dem Andern zu erhalten, und immer fester zu begründen, und zur Verherrlichung Gottes und zum Nuzen seines heiligen Werkes zu verwenden. Und eben dies, m. g. F., daß wir uns unter einander in allem Guten | tragen und unterstüzen, und gemeinsamen Fleiß daran wenden, daß, was die Seligkeit eines jeden erheischt, was ihn in dem rechten Glauben befestigt, und ihm das Gefühl der göttlichen Liebe giebt, er auch überall unter denen finde, die mit ihm denselben Herrn verehren: das ist die brüderliche Liebe der Christen unter einander. Und gar viele sind geneigt eben diese für das Höchste zu halten, der Apostel aber nicht so, sondern er stellt uns die brüderliche Liebe nur dar als einen Durchgangspunkt, um durch dieselbe zu gelangen zur gemeinen Liebe, und in dieser erst ist das Ziel der ganzen Fortschreitung, | welches er im Auge hat, enthalten. Wenn nun, m. g. F., unser höch-

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stes Ziel das ist, unserem Herrn und Erlöser ähnlich zu werden, so müssen wir gestehen, daß wir dieses Ziel nicht erreichen können durch brüderliche Liebe, sondern nur durch allgemeine Liebe. Denn der Herr hat nicht nur die Seinigen geliebt, sondern er ist gekommen, weil er die göttliche Liebe gegen die ganze Welt in sich trug, und durch seine Natur dieselbe erfüllen wollte, er ist gekommen, nicht um seinen Willen zu thun – denn er hatte keinen eigenen persönlichen Willen, sondern ging mit seinem ganzen Dasein in dem göttlichen Willen auf – sondern er ist gekommen | um das Verlorene zu suchen, und die Sünder selig zu machen; und wenn er eine kleine Schaar der Seinigen näher um sich her versammelt hatte, so hatte dies keinen andern Grund als daß sich an ihm die Liebe für die ganze Welt entzünden sollte in ihnen, und daß sie geschikt werden sollten um der ganzen Welt das Heil zu verkündigen, welches er gebracht hat. Und so sollen auch wir dafür halten, daß unsere Liebe nichts sei, als das Band der Vollkommenheit, ein lebendiges Glied am Leibe Christi. Dem aber wird zugeschrieben nicht für sich allein ein Preis der göttlichen Gnade und Barmherzigkeit zu | sein, sondern er wird dies, indem er der allgemeinen Liebe sich hingiebt, nicht freilich jener, die sich mit den irdischen Dingen der Welt beschäftigt, und ihre Verherrlichung darin sucht, daß der Mensch Einzelnes, sei es viel oder wenig, von seinem irdischen Wohle aufopfere um es in einem höhern Grade wiederzufinden, sondern der allgemeinen Liebe, die der Erlöser nicht nur verkündigt hat, sondern von der er selbst das unerreichbare Vorbild gewesen ist, nämlich das Heil der Menschen zu suchen, und alle zu sammeln in die Gemeinschaft mit dem Sohne Gottes. So sind alle Tugenden, die der Apostel | uns vorher als Früchte des Glaubens geschildert hat, sie sind nichts anderes als in dem Menschen angezündete Kräfte, um jener allgemeinen Liebe zu dienen, sie thun sich kund vor der ganzen Welt, um sie einzuladen in das Reich Gottes. So nur durch diese allgemeine Liebe, die das Heil der Welt schaffen will, können wir in der That unserm Erlöser ähnlich werden. Ja, m. g. F., wie solle wohl eben dieses geschehen, und wie sollten wir eben dadurch, daß wir unserem Herrn und Heiland einverleibt sind, wie der Apostel wiederholt sagt, das Heil der Welt schaffen, wenn wir uns begnügten mit der brüderlichen | Liebe, wenn jeder sich immer enger anschlösse an diejenigen welche im Grunde des Glaubens mit ihm einig sind, aber die Welt um sich her vergäße, statt die liebenden Arme nach denen auszustreken, die noch in der Welt sind, und fern von dem Lichte in dem Schatten des Todes sizen, die noch in der Irre gehen wie die Schaafe, welche keinen Hirten haben, des zusammenhaltenden Wirkens 26 nichts] nicht 8–9 Lk 19,10 14–15 Vgl. Kol 3,14 15 Vgl. Röm 12,5; 1Kor 12,27 37 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79 37–38 Vgl. 1Petr 2,25

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ermangelnd, und in Gefahr sind, in die Wüste zu gehen, und das Ziel ihres Daseins aus den Augen zu verlieren, statt die Menschen zusammen zu rufen unter die Hut dessen, der allein der Bischof der Seelen sein kann und zu sein verdient, | sie zu loken, daß sie sich wohlgefallen in der Seligkeit, die der Glaube in den Menschen hervorbringt, und indem wir ihnen die Gottseligkeit zeigen, welche die Frucht ist der Geduld und der Bescheidenheit, und der Tüchtigkeit, und des Glaubens, sie aufmerksam zu machen auf dasjenige, was das wahre und höchste Gut der Seele ist, und wogegen alle zeitlichen Dinge dieser Welt nur für nichts und für Schaden zu achten sind, jeden auch noch so schwachen Funken des göttlichen Feuers, der sich in ihnen findet, anzublasen und mit sorgsamer Hand zu schüzen, die schwachen Seelen zu bewahren, daß sie allmählich er|starken und fest werden im Glauben, und sie dann aufzunehmen in den Kreis nicht nur der brüderlichen Liebe, nicht nur, damit sie dieser gewiß werden für sich selbst, sondern in den großen Umfang der allgemeinen Liebe, damit sie immer kräftiger werden für die ganze Welt, bis endlich dadurch, daß alle eingegangen sind in das Reich Gottes, jeder Unterschied zwischen der brüderlichen und allgemeinen Liebe verschwunden ist. Und das, m. g. F., das ist das herrliche Ziel, welches der Apostel Johannes vor Augen hat, wenn er sagt: „es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, aber es wird erscheinen, daß wir ihm gleich | sein werden, weil wir ihn sehen werden, wie er ist.“ Das ist noch nicht erschienen dieses Ziel, wo jeder Unterschied zwischen der brüderlichen und allgemeinen Liebe verschwunden sein wird, und alle eines Herzens und eines Sinnes aufgehen in lebendiger und freudiger Liebe zu dem, der gekommen ist, sie zu erlösen und zu dem, der ihn gesandt hat. Je mehr aber wir der brüderlichen Liebe nur gebrauchen, um das große Werk der allgemeinen Liebe zu schaffen, je mehr wir suchen durch alle Tröstungen und Stärkungen und Ermunterungen der brüderlichen Liebe unter einander alles dasjenige | aus unserer Seele auszurotten, was der gemeinen Liebe Widerstand leistet, desto mehr werden wir uns mit allgemeinerm Sinne diesem größten und höchsten Ziele der göttlichen Gnade nähern, und in diesem allein das wahre Ziel des Glaubens finden an dem, in welchem kein solcher Unterschied gewesen ist, der mit seiner versöhnenden und heiligenden Liebe das ganze sündige Geschlecht der Menschen umfaßt hat, und der allein durch den Glauben die Bescheidenheit, und die Geduld, und die Gottseligkeit und die allgemeine Liebe entzünden kann, durch welche vereint wir alle im Stande | sind den hohen Forderungen unseres Berufes Genüge zu leisten, und in seiner Nachfolge nach unseren geringen Kräften diejenigen unter denen und mit denen wir leben, 32 dem] den 3 Vgl. 1Petr 2,25

20–21 Vgl. 1Joh 3,2

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unter den Gehorsam des Glaubens zu sammeln, und sie zu Dienern und Werkzeugen dessen zu machen, der allein unsere Seelen selig machen kann. Amen.

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5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Domkirche zu Berlin Lk 5,1–11 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 79, Bl. 50r–69v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 60v–72r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SN 622, Bl. 2v–3r; Crayen Nachschrift; SAr 52, Bl. 88r–88v; Gemberg Tageskalender: „Petripredigt über Luc 5,1–11“

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Predigt am fünften Sonntag nach Trinitatis 1821. |

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Herr, unser Gott und Vater, der du uns alle aufgenommen hast in den heiligen Bund des Glaubens und der Liebe, den dein Sohn unter den Menschen gestiftet uns alle erleuchtet durch das Wort des Lebens, was von seinen Lippen strömte, und uns gesammelt in das Reich des Friedens und der Seligkeit, wovon er das Haupt ist: o erhalte unsere Herzen immer erregt von dem dankbaren Gefühl dieser deiner größten Gnadenwohlthaten, und laß uns von einer Stufe der Vollkommenheit zur andern in eine immer innigere Verbindung mit dem treten, der uns alle zu dir führen will, und dazu laß auch um seinet willen die Andacht dieser Stunde gesegnet sein. Amen. |

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Tex t. Luk. V, 1–11. Es begab sich aber, da sich das Volk zu ihm drang, zu hören das Wort Gottes, und er stand am See Genezareth, und sahe zwei Schiffe am See stehen; die Fischer aber waren ausgetreten, und wuschen ihre Neze. Trat er in der Schiffe eins, welches Simonis war, und bat ihn, daß er es ein wenig vom Lande führete; und er sezte sich und lehrete das Volk aus dem Schiff. Und als er hatte aufgehört zu reden, sprach er zu Simon: fahre auf die Höhe, und werfet eure Neze aus, daß ihr einen Zug thut. Und Simon antwortete und sprach zu ihm: Meister, wir haben die ganze Nacht gearbeitet, und nichts ge|fangen; aber auf dein Wort will ich das Nez auswerfen. Und da sie das thaten, beschlossen sie eine große Menge Fische, und ihr Nez zerriß. Und sie winkten ihren Gesellen, die im andern Schiff waren, daß sie kämen und hülfen ihnen ziehen. 4 uns ... erleuchtet] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 61r

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Und sie kamen und füllten beide Schiffe voll, also, daß sie sunken. Da das Simon Petrus sahe, fiel er Jesu zu den Knien, und sprach: Herr gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch; denn es war ihn ein Schrecken angekommen, und alle, die mit ihm waren, über diesen Fischzug, den sie mit einander gethan hatten; desselbigen gleichen auch Jakobum und Johannem, die Söhne Zebedäi, Simonis Gesellen. | Und Jesus sprach zu Simon: „Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen.“ Und sie führten die Schiffe zu Lande, und verließen alles, und folgten ihm nach. M. a. F. Wenn wir bedenken den Wechsel in der Stimmung des Apostels Petrus von dem Augenblik an, wo er erschrekt zu dem Herrn sagte: „Herr gehe hinweg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch;“ der Herr aber zu ihm sprach: „Fürchte dich nicht, denn von nun an wirst du Menschen fangen“, und er bereit war alles im Stiche zu lassen und Jesus zu folgen, und wenn wir noch weiter hinausgehen in die Geschichten der heiligen Schrift bis zu den Tagen der Auf|erstehung des Herrn, wo er auch seinen Jüngern gebot, auf die Höhe zu fahren, und einen Zug zu thun, und als Johannes ihn an der Auffoderung erkannte, und zu Petro sprach: „es ist der Herr“, gürtete er seine Lenden, und schwamm an das Land, um desto eher und schneller seinem Herrn und Meister zu Füßen zu liegen, wenn wir, sage ich, diesen Wechsel bedenken, so erscheint uns das gewiß allen als etwas Wohlbekanntes, ähnlich demjenigen, was in unserer Seele vorgegangen ist, und wovon wir wünschen und hoffen, es werde noch immer lebendiger und immer genauer nach der Ähnlichkeit dieses Bildes | in ihr vorgehen. So laßt uns denn in dieser Hinsicht die Geschichte unseres Evangeliums ansehen als ein Vorbild von dem Anfang und von dem weiteren Fortschritt der Verbindung des Khristen mit seinem Erlöser. I. Das Erste, was uns dabei in die Augen fällt, ist dies. Der Herr war in seinem gewohnten Geschäft das Volk zu lehren, und es war ein Platz in dem Schiffe des Petrus, der also zu diesem Behuf sein gewohntes Geschäft unterbrechen sollte, und dessen Aufmerksamkeit gewiß auch auf die Lehre des Herrn gerichtet war. Wir finden, daß eben dies der natürliche und nothwendige Anfang von der Verbindung eines jeden | Khristen mit unserem Herrn und Erlöser sein muß. Fremd war Jesus von Nazareth seinem nachherigen Apostel nicht mehr, als sich dies ereignete. Johannes erzählt uns in seinem Evangelio von einer früheren Verbindung des Herrn mit dem Petrus, wir 6 Zebedäi] Zebidai 15–19 Vgl. Joh 21,1–14

18 Joh 21,7

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wissen aber nicht, wie beständig sie gleich damals geworden, gewiß aber hatte er schon seine Kunde vernommen, vielleicht auch schon früher seine Lehre gehört, jezt aber erhielt er eine besondere Veranlassung seine ganze Aufmerksamkeit auf dieselbe zu wenden. Das, m. g. F., ist der Fall mit uns allen von Jugend an; schon in den Tagen unserer Kindheit kommt uns die Kunde | des Erlösers und gleichsam ein Gegengewicht gegen alles, was wir um uns her sehen von dem sündigen Leben der Menschen, gegen alle Worte, welche nicht Worte der Weisheit und der Gottseligkeit sind, fängt sich an das Bild des Erlösers aus den einzelnen Zügen, die uns nicht verborgen bleiben können, in der Seele zu gestalten, und die Worte seiner Lehre dringen durch das Ohr mehr oder minder tief, aber doch gewiß, in das Herz. Diesem ersten schwachen Anfang folgt dann eine Zeit, wo wir besonders dazu aufgefordert werden, unsere ganze Aufmerksamkeit auf die Lehre des Erlösers zu richten, und sie in ihrem ganzen Umfang wenigstens | in ihren wesentlichen Grundzügen zu verstehen. Anders kann und soll die Bekanntschaft der Seele mit ihrem Herrn und Meister nicht entstehen, auf eine andere Weise suchte der Erlöser selbst nicht die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich zu ziehen, als daß er umherging in den Schulen am Sabbath, und lehrte und verkündigte, das Reich Gottes sei nahe herbeigekommen. Ja wir dürfen es wohl sagen, jezt wie damals ist es selbst mehr seine Lehre, als sein Beispiel und die einzelnen Züge aus seinem Leben, was die Aufmerksamkeit des Geistes fesselt, und den ersten Grund zu der Verbindung mit dem Erlöser legt. Durch Lehre als die Äußerung | des tiefsten Geistes, der in dem Menschen wohnt, kommt uns zuerst alles in die Seele, was uns mit einer wahren tiefgefühlten Ehrfurcht erfüllt, und im Zusammenhange mit den Äußerungen der Menschen über die Grundsäze, nach denen sie handeln, über die Wahrheiten, die sie erkennen, nur in diesem Zusammenhange wird uns ihr Beispiel verständlich, und entweder erbaulich auf der einen Seite oder warnend auf der anderen. So auch mit dem Erlöser. Rein und unbeflekt war sein Leben, aber abgesehen von den einzelnen Äußerungen der wunderbaren Kräfte, womit Gott ihn ausgerüstet, die doch eben auf das Innerste der Seele, auf die | Richtung des Gemüths keinen sichern Schluß verstatten, war sein Leben unscheinbar, und nur wer die Worte seiner Lehre vernommen, konnte die ganze Art, wie er unter den Menschen lebte, verstehen, konnte sich das Einzelne in seinem Leben sowohl worin es übereinstimmte, als wodurch es sich unterschied von dem Leben anderer Menschen auf eine richtige Art deuten, und die Aufmerksamkeit auf die Lehre des Erlösers ist der erste einzige und feste Grund zu seinem Verständnis und zum Glauben an ihn. O möchten wir alle es recht werthhalten dieses Erstere in unserer Bekanntschaft mit unserem Herren und Meister, möchten | wir oft und mit Freudig19 Sabbath] Sabath

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keit gedenken können der Zeit, wo es sich zuerst das ehrwürdige Wort seiner heiligen Nähe unserm Gemüthe einprägt, wo wir zuerst den Weg, auf den der Erlöser die Menschen zu führen sucht, kennen lernen. Aber, wie gesagt, auch Petrus hatte wahrscheinlich schon öfter die Lehre des Herrn vernommen, ohne daß daraus eine nähere Verbindung zwischen ihnen entstanden wäre, und groß war die Anzahl derer unter seinem Volke, die mit Begierde zuhörten, wenn er, sei es in den Schulen ihrer Städte oder sei es wandernd auf ihren Märkten, das Wort vom Reiche Gottes verkündigte, die ihm Zeugniß gaben, er lehre gewaltiger als | ihre andern Schriftgelehrten. Aber sie gaben es ihm mit einer unfruchtbaren Bewunderung, und wenige vielleicht bald erloschene Spuren blieben nur davon in ihrer Seele zurük. O darum, m. g. F., mögen wir auch das fühlen, daß dies nur der Anfang sei unserer Verbindung mit dem Erlöser. Wie genau auch unsere Bekanntschaft mit seiner Lehre sein mag, wie richtig wir darin zu sondern verstehen, welche da sind die Worte des Lebens selbst, die aus dem Munde des Sohnes Gottes gingen, und welches da sei menschliche Lehre und Sazung darüber, bald mehr bald minder vollkommen, bald mehr bald minder das große aber immer un|erreichbare Urbild darstellend, wie genau Rechenschaft wir auch zu geben vermögen von der Anwendung seiner Lehre, nicht nur auf unser äußeres thätiges Leben, sondern auch auf die innere Leitung unserer Seele, auf die Beschwichtigung aller übermäßigen Eindrüke, und zu der Verwirklichung desjenigen Zustandes, des Gleichmuths, indem dann der wahre göttliche Friede gedeihen kann, sobald wir nur bei der Lehre des Erlösers und bei ihrer unmittelbaren Wirkung stehen bleiben: so bleiben wir auch nur bei einem Anfang, von welchem wir leicht eben so wieder zurüktreten können, wie ein großer Theil von denen, die bewun|dernd den Erlöser angehört hatten. II. Darum laßt uns nun sehen, welches das zweite sei, in dieser Verbindung des Apostels mit unserem Herrn und Meister? Als der Herr aufgehört hatte zu lehren, so befahl er dem Petrus auf die Höhe zu fahren, und einen Zug zu thun, und als er nun der Fische eine ungeheure Menge beschloß in sein Nez: so kam wie unser Evangelium sagt, ihn und alle seine Genossen eine Furcht an, und er fiel Jesu zu den Füßen und rief aus: „Herr gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Dies scheint uns, m. g. F., auf den ersten Anblik weniger ein Fortschritt | als ein Rükschritt zu sein, und allerdings war es auch nur ein Durchgangspunkt, auf dem die Seele des Petrus nicht bleiben konnte, allerdings entdeken wir darin etwas Unvollkommnes, aber zugleich etwas Herrliches und Heilsames nicht nur, sondern auch Nothwendiges. Denken wir uns nämlich den ganzen Zusammenhang 9 Vgl. Mt 7,28–29; Mk 1,22

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der Sache so einfach und natürlich, wie alles in der Lehre unsers Erlösers war, so können wir ja nicht anders glauben, als er wollte dem Petrus eine lebhafte, sinnliche Erinnerung zurüklassen an diesen scheinbaren Zufall, der ihm und seinen Genossen auf seinem Schiffe und in seiner Nähe | begegnet war. So nahm es auch Petrus auf; aber es überfiel ihn bei dieser nähern Teilnahme des Erlösers an seiner Person ein Gefühl der Unwürdigkeit, welches ihn eben jene Worte ausstoßen ließ. Eben dies, m. g. F., ist etwas, wobei die Seele, die der geistigen Verbindung mit dem Erlöser entgegen eilt, nicht stehen bleiben kann; aber durch welches sie hindurch gehen muß; und wie dem Petrus, so ist es uns allen natürlich und nothwendig. Wenn irgend ein anderer, m. g. F., des Geschäfts menschlicher Weise kundig, dem Petrus einen Rath gegeben hätte sich beziehend auf die Verrichtung seines Geschäfts, und dieser hätte einen eben | so außerordentlichen Erfolg gehabt: gewiß würde dasselbe nicht in seiner Seele vorgegangen sein, so wie es ihm jezt geschah, da er fühlte, daß der, der solche Worte der Weisheit gesprochen hatte, von dem auch ihm schon, wie einem großen Theile des Volkes, ahndete, daß er wenigstens sei einer der ausgezeichnetsten unter den Propheten des Herrn, daß dieser ihm eine solche nähere Theilnahme, wenn auch nur an dem Äußerlichen seines Geschäfts, bezeigte. Und eine andere konnte ihm der Erlöser da, wo er ihn fand, und wie er ihn fand, | und auf dieser Stufe, auf welcher Simon noch stand in Beziehung auf ihn, auf eine andere Art konnte er ihm seine Theilnahme nicht bezeigen, der nun fühlte sich ihrer unwürdig, unwürdig so bedacht zu werden von einem Manne wie dieser war, und indem er zusammenhielt das Herrliche und Tiefe der Lehre, und das Wunderbare des äußern Erfolgs: so glaubte und fühlte er bei sich selbst, hier sei eine solche nahe und unmittelbare Erscheinung des Höchsten, die nach dem damaligen Glauben, nach dem natürlichen Gefühl des Herzens, der sündige | Mensch nicht ohne Verderben ertragen kann. Aber, m. g. F., finden wir das nun auch natürlich und nothwendig bei jenem Apostel? finden wir, daß aus diesen zusammengenommen, aus der Lehre und dem wunderbaren Erfolg ein noch tieferer Eindruk von der Bedeutung des großen Lehrers, der in seiner Nähe stand, von dem, was ihn vor allen andern Menschen auszeichnete, in seiner Seele befestigt war, und daß auch das eine nothwendige Vorbereitung war zu dem Glauben, daß dieser allein Worte des Lebens habe, und daß dieser sei der Sohn des lebendigen Gottes, finden wir das bei dieser Veranlassung | natürlich und nothwendig bei dem Apostel, und finden wir es auf der andern Seite eben so natürlich und nothwendig, daß er sich unwürdig fühlen mußte, daß der Erlöser so seine Aufmerksamkeit auf ihn heftete, und ihn so unterschied von der großen Menge, da er diesen Augenblik nur in einer ganz zufälligen Verbindung mit ihm stand: wo finden wir zu beiden die Ähnlichkeit mit 34–35 Vgl. Joh 6,68

35–36 Vgl. Mt 16,16

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unserem Verhältnisse und mit unserer inneren Führung? Auf die Zeit, wo wir zuerst besonders aufmerksam gemacht werden auf die Lehre des Erlösers, und sie in den Tagen der Jugend in ihrem ganzen Zusammenhange kennen | lernen, folgt eine Zeit, wo der Erlöser durch die Einrichtung der khristlichen Kirche allen darbietet eine lebhafte, sinnliche, aber mit dem höchsten Geistigen verbundene Erinnerung an das Verhältniß, in welches er zu einem jeden getreten ist. Statt des äußern Wunders, welches dem Petrus begegnete, haben wir vor Augen, und es wird uns in jeder Zeit immer näher gebracht das große geschichtliche Wunder, welches der Erfolg ist von jenem Beruf, den am Ende unseres Evangeliums der Herr seinen Aposteln giebt, Menschen zu fangen, wir haben vor uns das große Wunder von einem Reiche Gottes, von einer Gemeine | des Herrn, welche gesammelt ist mitten aus der verderbten Welt und mitten aus der Gemeinschaft der Sünde, von einer Versammlung und Vereinigung von Menschen, in welchen der Geist Gottes wohnt, und immer neue Wunder in der menschlichen Seele selbst hervorbringt. Dies tritt uns dann näher, wenn die khristliche Kirche selbst uns näher tritt, und indem der Herr uns dann durch ihre Einrichtungen darbietet auf die eigenthümlichste Weise an die Verbindung, in welche wir alle mit ihm getreten sind, uns erinnern zu lassen durch das heilige Mahl, das alle Khristen verbindet: o in welcher gut gearteten | Seele entstünde dann nicht eben das Gefühl der Unwürdigkeit, welches sich des Apostels bemächtigte, und wer wagte es wohl oder hätte es gewagt in den Tagen seiner Jugend diese dargebotene Verbindung mit dem Herrn gleich und mit einem leichten und fröhlichen Sinne anzunehmen ohne daß ein solches Gefühl in seiner Seele aufgegangen wäre, ohne daß er die Augen niedergeschlagen hätte, und auf seine Knie gesunken wäre mit dem Ausruf: „Herr gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch,“ wie sollte ich, der ich noch nichts aufzuweisen habe als ein von deiner Lehre geweihtes Herz, der ich mich noch durch nichts | von den übrigen Kindern der Sünde unterscheide als nur durch den glüklichen Zufall, daß ich geboren bin in dem Schooße der Kirche, wie sollte ich dazu kommen, daß du dich so mächtig beweisest in meiner Seele, daß du dich mir so hingiebst, „gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch.“ Aber wie wir es jezt fühlen, m. g. F., so fühlen wir auch das schon, daß dies ein Zustand ist dessen sich die Seele nicht erwehren kann, der sie nothwendig ergreifen und sich ihrer bemächtigen muß bei dem großen Anerbieten des Erlösers, aber daß es auch ein Zustand ist, in welchem die Seele nicht beharren kann, wenn sie | nur wüßte, wie sie wieder herauskommen soll. 31 sollte ich] sollte 10–11 Vgl. Mt 28,18–20; vgl. auch Mt 4,19; Mk 1,17; Lk 5,10

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III. Und so laßt uns denn sehen auf das dritte Merkwürdige in der Erzählung unseres Textes. Der Erlöser nämlich that als ob er darauf wenig Werth legte, und noch weniger war er gesonnen dem Zuruf der überfüllten und aus ihrem Gleichgewicht gesezten Seele zu folgen, sondern beruhigend, sprach er: „Fürchte dich nicht.“ Aber das Wort der Beruhigung hätte wenig geholfen, wenn er nicht hinzu gesezt hätte: „Folge mir nach, denn von nun an sollst du Menschen fangen.“ Ja, m. g. F., wenn indem der Erlöser dem Menschen die nächste und | innigste Verbindung mit ihm anerbietet, wir selbst uns derselben würdig machen wollten, wenn wir selbst den Beruf, der für alle derselbige ist, die dem Erlöser folgen, erfüllen sollten aus unserer eigenen Kraft, so würden wir den Ausgang aus jenem übernommenen Zustand nicht finden. Aber indem der Erlöser es selbst aussprach, und nachdem er durch das milde Wort: „fürchte dich nicht, sondern folge mir nach,“ die Seele des Apostels und seiner Genossen beruhigt hatte, sie ganz an ihn selbst verwies, daß sie nur ihm folgen sollten, und daß er sie zu dem heiligsten und | größten Beruf des Menschen, zu dem Beruf nicht nur selbst die Seligkeit seiner Gemeinschaft zu genießen, sondern auch alle Andern zu derselben einzuladen, und viele dazu hinzuleiten, daß er selbst sie zu diesem Beruf hinführen und dazu geschikt machen wollte: da verschwanden alle Bedenklichkeiten aus der Seele dieses Apostels und seiner Genossen, und sie ließen, wie unser Text sagt, alles im Stich, und folgten ihm nach. Diese Bereitwilligkeit also, dem Rufe des Erlösers zu folgen, eine Bereitwilligkeit, die aber nur ruhen kann auf der ähnlichen Bereitwilligkeit, mit welcher der Erlöser selbst die Erfüllung dessen auf sich nimmt, was er die Seele ahnden läßt: das ist der weitere | Fortschritt jener eigenthümlichen Bekanntschaft mit dem Erlöser. Wie? könnte man aber sagen, m. g. F., ist denn das in der That der Beruf aller? spricht der Erlöser aber dieses große Wort, welches er zu dem Apostel sagte, zu uns allen? Wenn auch nicht in demselben Sinne, das heißt ganz auf dieselbe Weise und in den nämlichen Verhältnissen, so können wir es doch nicht leugnen, ja es ist der Beruf, der an uns alle ergangen ist, und immer ergeht. Alle die selbst mit dem Erlöser in der innigsten Verbindung des Glaubens und der Liebe stehen, alle sollen auch an dem großen Beruf Theil nehmen, ihm Seelen zuzuführen, und einen andern | Ausweg aus jenem drükenden Gefühl, welches die Seele sagen läßt: „Herr gehe hinaus von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch”; einen andern Ausweg als diese freudige und bereitwillige Nachfolge giebt es nicht zum Heil, sondern jeder andere würde nur zum Verderben führen. Ja das müssen wir uns gestehen, m. g. F., hat einmal die Seele den Ruf zu der nähern Gemeinschaft mit dem Erlöser, das Zeichen seiner Theilnahme und seiner Liebe, welches er deutlich und laut uns zu vernehmen giebt, hat sie das 26 eigenthümlichen] so SAr 101, Bl. 69r; Textzeuge: eigentlichen

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einmal vernommen: o so kann sie dann nur entweder hinter sich gehen, und sich von ihm trennen, oder dem Berufe, | den er hier dem Apostel giebt, freudig folgen. Fürchte dich nicht, spricht er zu uns allen, vor der näheren Gemeinschaft mit mir, ich bin gekommen zu suchen und selig zu machen, was verloren ist, ich bin gekommen den Mühseligen und Beladenen zur Erquikung, und damit sie Trost und Ruhe finden für ihre Seelen. Aber nicht um den Menschen den Genuß eines einsamen Heils zu verschaffen, nicht daß sie mit dem Erlöser, und durch ihn mit seinem Vater Eins werden für sich; nein es giebt keine andere Nachfolge des Erlösers als daß wir zugleich mit ihm die Menschen berufen zu ihrem Heil, und ihm helfen verkündigen das | Reich der Liebe und des Friedens. Wie könnte aber der Mensch, der noch so eben von dem Gefühl seiner Sündigkeit und seiner Unwürdigkeit zu irgend einer nähern Verbindung mit dem Erlöser voll war, wie könnte der einem solchen Beruf folgen, wenn nicht der Erlöser selbst verhieße, denselben zu erfüllen? Und eben diese Zuversicht zu dem Erlöser, daß er nicht nur wolle, sondern auch könne den Menschen selig machen, nicht nur selig machen, sondern auch ihn umschaffen zu einem Gehülfen seiner Erlösung, die ist es, die den lebendigen Glauben in der Seele des Menschen erwekt, von der müssen wir erfüllt sein, um auch zu schauen jenes von dem | Tage der Berufung des Apostels an beständig fortgehende Wunder der Gemeine des Herrn. Und nur in dem Glauben, daß in dem Erlöser die hinreichende Kraft sei, uns zum geistigen Leben zu erweken und nicht nur uns zu dem Gefühl der Befreundung mit ihm zu erheben, nicht nur durch das Bewußtsein der Würdigkeit den Frieden in unsere Seele zu geben, sondern daß auch sein Wort in uns eine lebendige Quelle werde, von der wir nicht nur den eigenen Durst laben, sondern die auch von uns ausströmt, um Andere zu laben und mit ihm zu befreunden, daß er das alles in der Seele schaffen könne und wolle, diese Zuversicht ist es, die es uns | möglich macht, seinem Rufe zu folgen. Und wer nicht fühlt, daß er dieser voll ist, wer nicht das Vertrauen zu dem Erlöser hat, welches sich ausspricht in der Erzählung unseres Textes daran, daß die Apostel Alles im Stiche ließen, und dem Herrn folgten: o der ist auch noch nicht befreit, und kann nicht befreit sein von jenem früheren Gefühl der Unwürdigkeit, welches nach der heiligen und liebreichen Absicht des Erlösers nur ein vorübergehender Zustand der Seele sein soll. Wie könnten wir aber auch, m. g. F., das freundliche Wort des Erlösers vernehmen, wie könnten wir wissen und sehen wie wahr es ist, daß Gott ihn gemacht hat zu einem Herrn und | Khrist, wie könnten wir sehen das ruhige, friedevolle, gotterfüllte Leben 23 Befreundung] so SAr 101, Bl. 70v; Textzeuge: Befriedigung 4–5 Vgl. Lk 19,10 37–38 Vgl. Apg 2,36

5–6 Vgl. Mt 11,28–29

8–9 Vgl. Joh 10,30; 17,11.21–23

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derer, die seit den Tagen seines Wandels auf Erden von dem Glauben an ihn vollgeworden sind, und nicht wieder davon gewichen sind, wie könnten wir dies sehen ohne der Zuversicht des Apostels voll zu werden: Du Herr hast Worte des ewigen Lebens, wohin sollten wir sonst gehen als zu dir. Und wenn wir sehen, wie der Herr von Anfang an durch schwache Werkzeuge das Heil seines Werks gefördert hat, wie er es nicht offenbart hat den Weisen und Klugen seiner Zeit, sondern den Grund dazu gelegt bei denen, die für Schwache und Unmündige | ja für Thoren gehalten werden von der Welt, wenn wir sehen, wie fruchtbar der Dienst des Evangeliums denen geworden ist, denen er damals in der Erzählung unseres Textes zurief: „Folget mir nach, von nun an sollt ihr Menschen fangen,“ wenn wir sehen, wie er überall bemüht ist demjenigen aufzuhelfen, der zu ihm spricht: „Herr ich glaube, hilf meinem Unglauben,“ wie er überall nichts anders fordert, als nur Treue und von seiner Liebe durchdrungene Seele, und denen dann verheißt: Sorget nicht, was ihr in meinem Dienste reden sollt oder thun, der Geist, den euch der Vater senden wird, der wird euch offenbaren zu der Stunde, wo es | euch noth thut: o wie könnten wir dieses Heer herrlicher Verheißungen, und Verheißungen nicht nur, sondern Erfüllungen vor uns haben und nicht wie jene Apostel des Herrn übergehen zu der freudigen Nachfolge des Erlösers, und voll werden des großen Berufes ihm zu helfen, die Menschen, seine Brüder, in seine Gemeinschaft zu sammeln, und dadurch den Frieden mit Gott in ihre Seele zu bringen. Ja, m. g. F., ist dann einmal die Seele gekommen zu diesem festen Entschluß alle Neigungen des Herzens, bei denen die erste Bekanntschaft mit der Lehre des Erlösers sie findet, im Stiche zu lassen, alles, was der Mensch sonst für sich selbst | zu begehren pflegt, aufzuopfern und hinzugeben, und nichts anderes mehr sein zu wollen als ein Nachfolger und Diener des Erlösers: o dann wird auch immer lebendiger und immer zuversichtlicher in uns das Gefühl, daß wir in ihm die Quelle des ewigen Lebens besizen, und daß wir durch sein Wort geleitet werden von einer Seligkeit zur andern; dann werden wir immer mehr erhöht werden in dem Glauben und in der Liebe zu dem Erlöser, daß, wo irgend es auch sei, wenn es in unserem Ohr ertönt, ist der Herr, wir dann, wie in jenen Tagen der Auferstehung die Apostel, bereit sein mögen uns zu gürten, uns | in das Meer zu werfen, ihm entgegen zu eilen, um ihn immer gegenwärtig zu haben in der Seele, und in jeder Stunde, wo er es von uns fodert, zu handeln im Aufsehen auf das Reich des Friedens, wo er 17 Heer] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 71v 3–4 Vgl. Joh 6,68 6–8 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21 8–9 Vgl. 1Kor 1,20 12– 13 Vgl. Mk 9,24 15–17 Vgl. Mt 10,19–20; Mk 13,11; Lk 12,11–12; Joh 14,26 33–34 Vgl. Joh 21,7

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allein walten wird, und wo es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, und ihn erkennen, weil wir ihn sehen werden, wie er ist: Amen.

1–2 Vgl. 1Joh 3,2

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6. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 5,33–35 Nachschrift; SAr 79, Bl. 70r–88v; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 209–221 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 88v–89r; Gemberg Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am sechsten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. Lukas V, 33–35. Sie aber sprachen zu ihm: warum fasten Johannis Jünger so oft und beten so viel, desselbigen gleichen der Pharisäer Jünger, aber deine Jünger essen und trinken. Er sprach aber zu ihnen: ihr möget die Hochzeitleute nicht zum Fasten treiben, so lange der Bräutigam bei ihnen ist; es wird aber die Zeit kommen, daß der Bräutigam von ihnen genommen wird, dann werden sie fasten. M. a. F., die kleine Gesellschaft, die der Erlöser mit seinen ersten Jüngern bildete, war der erste Keim der khristlichen Kirche. Wie diese lebendig eingerichtet war, so trachteten auch die Jünger, | als das Reich Gottes sich weiter verbreitete, das Leben der Khristen einzurichten, und sowohl für ihr häusliches und geselliges Leben als für die Einrichtung ihrer heiligen Gebräuche fanden sie das Vorbild in dem Leben, welches der Herr mit ihnen geführt hatte. Davon ist denn in den Worten unseres Textes die Rede, und der Herr giebt darin denjenigen, die ihn darum befragen, eine Rechenschaft von den Gründen, warum er es so und nicht anders eingerichtet habe, und zwar in Beziehung auf einen Gegensaz, der sich in demselben offenbarte gegen das Leben, derer, welche für die Frömmsten gehalten sein wollten unter ihrem Volk, weil sie nämlich viel fasteten und auch zu | dem Gebet das Fasten zu Hülfe nahmen; Jesu Jünger aber nach seiner Anordnung hielten davon nichts. Eben jenes nun gab der Frömmigkeit seines Volkes, und so auch der Schüler des Johannes, auf welche die Schriftgelehrten bei ihrer 3 Johannis] Johannes

22 jenes] so SWII/10, S. 210; Textzeuge: dieses

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Frage sich berufen, ein düsteres und trübes Ansehen, das Leben der Jünger des Herrn unter seiner Leitung erschien dagegen als ein heiteres und fröhliches, und das ist es also, worüber als einen von dem Herrn selbst ausgesprochenen Grundsaz über die Art und Weise wie seine Jünger das ganze Leben der Khristen und auch ihre gottesdienstlichen Gebräuche einrichten sollten, das ist worüber uns unser Text einen Aufschluß | giebt, und was wir nach Anleitung deßelben mit einander erwägen wollen. Es könnte freilich scheinen als ob grade in den Worten unsers Textes eine Veranlassung läge, uns darin von den Jüngern des Herrn, die ihn damals begleiteten zu unterscheiden; denn er sagt: „ihr mögt die Hochzeitleute nicht zum Fasten treiben, so lange der Bräutigam bei ihnen ist, es wird aber die Zeit kommen, wo der Bräutigam von ihnen genommen wird, dann werden sie fasten.“ Nun ist die Zeit da, könnte man sagen, er ist von uns genommen, wir sind seiner leiblichen Gegenwart beraubt, und so, könnte man sagen, scheine es, als sei jene Fröhlichkeit und Heiterkeit von dem Herrn selbst nur als ein | Antheil derer betrachtet worden; die sich seiner leiblichen Gegenwart erfreuten, uns aber gebühre das Fasten und was damit zusammenhängt jene trübe Gestalt der Frömmigkeit. Der Herr aber sagt bei einer andern Gelegenheit zu seinen Jüngern, ihr Herz werde freilich voll Trauer sein, wenn sie ihn über ein Kleines nicht sehen würden, aber sie würden ihn wieder sehen, und an dieses Wiedersehen hat er hernach die Verheißung geknüpft, daß er unter uns sein werde alle Tage bis an der Welt Ende, und so ist jeder Wechsel, dem die leibliche Gegenwart ausgesezt ist, verschwunden in der geistigen Gegenwart | des Herrn, die wir haben bis an das Ende der Tage, und so sagt er in demselben Zusammenhang zu seinen Jüngern: „dann wird eure Freude niemand von euch nehmen.“ Wenn aber dieser Schein billig uns verschwindet, die wir mehr Ursach haben als seine damaligen Jünger, denen noch der große Wechsel, sein leibliches Dasein zu verlieren, bevorstand, wenn wir mehr Ursach haben als sie unserer Frömmigkeit in allen ihren Äußerungen das Gepräge zu geben, worüber sich die Menschen seiner Zeit wunderten, und welches er überall in die Gemeine der Seinigen eingeführt hat: so laßt uns nach Anleitung unseres Textes erwägen, | erstens, weshalb der Khrist keine Veranlaßung hat irgend etwas Ängstliches, Trübes, Trauriges seiner Frömmigkeit beizulegen, zweitens aber auch, zur Verhütung jedes Mißverständnißes, laßt uns fragen: welches die eigentliche Art und Weise der khristliche Frömmigkeit sei? Über beides belehrt uns der Erlöser und das, woran uns seine Worte erinnern zur Genüge. 3 worüber] so SWII/10, S. 210; Textzeuge: worauf 19–20.25–26 Vgl. Joh 16,22

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I. Denn, m. g. F., indem wir uns die erste unserer Fragen beantworten, können wir wohl nicht umhin zurükzugehen auf die allererste Verkündigung des Evangeliums. Wie wurde der Erlöser verkündigt von jenen himm|lischen Heerscharen, die zuerst seine Erscheinung kund thaten? Wir verkündigen euch große Freude, denn heute ist euch geboren Khristus, der König des Volks, der Heiland der Welt. Eine freudige Verkündigung war die der Erlösung von ihrem ersten Anfang an, eine freudige Verkündigung war es, mit der die Jünger sich unter einander begrüßten, nachdem sie, als die trübe Zeit des Leidens und des Todes des Herrn überwunden war, seiner Auferstehung gewiß wurden, und nie anders als mit der innigsten und seligsten Freude konnte Einer zu dem Andern sagen: „der Herr ist auferstanden“, und so oft sie ihn in jenen Tagen erblikten, mit | welcher Freude machte da Einer den Andern aufmerksam darauf, sagend, der Herr ist da. Und nun, m. g. F., was ist denn das innerste Bewußtsein, das tiefste Gefühl des Khristen, als immer wieder diese ursprüngliche Freude darüber, daß der Heiland der Welt erschienen ist, derjenige, welcher gekommen ist, um alle Knechtschaft und mit ihr alle Trauer und allen Kummer von der betrübten und gedrükten Seele zu nehmen? was ist jenes höhere Bewußtsein der Frömmigkeit in den Tiefen der Seele anders als ein lebendiges Wahrnehmen des Herrn? was sagen wir zu uns in den seligen Augenbliken der Gottseligkeit, und zu denen, die uns umgeben und sie theilen, als der Herr | ist da, er ist der Seele nahe in ihrer innersten Tiefe, er läßt sich nicht unbezeugt in allem, was sie aufregt und erhebt. Freilich, m. g. F., erscheint es anders, wenn wir auf die weitere Verkündigung des Evangeliums sehen. Denn als am Tage der Pfingsten der Apostel Petrus zuerst auftrat um dem Volke, welches sich um die Jünger versammelt hatte, Rechenschaft zu geben über das, was sie mit Staunen sahen und hörten: da konnte er allerdings nicht anders, indem er zu ihnen von dem Erlöser redete, als sie dessen erinnern, was sie selbst an ihm verschuldet hatten, wie ihre Obern den Mann von Gott gesandt und bewährt in Thaten und Worten unter ihnen überantwortet hätten zum Tode, und wie sie selbst das | ganze Volk, statt dem zu wiederstehen und entgegen zutreten, viel mehr dazu beigetragen hätten, und da konnte es nicht anders sein als diese Hörer mußten an ihr Herz schlagen und tief bekümmert ausrufen: „ihr Männer, lieben Brüder, was sollen wir thun, daß wir selig werden?“ Und freilich die Freude über die Erlösung kann nicht eher in der menschlichen Seele entstehen, als bis das Bewußtsein der Sünde in dem tiefsten Innern aufgeregt ist. Aber, m. g. F., das ist eben der Zustand, 13 ihn in] ihn 5–7 Vgl. Lk 2,10–11 12 Vgl. Lk 24,34 14 Joh 21,7 36 29–32 Vgl. Apg 2,23 34–36 Vgl. Apg 2,37

25–32 Vgl. Apg 2,14–

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welcher der khristlichen Frömmigkeit vorangeht, und sie vorbereitet, aber nicht der Zustand und das Gepräge der khristlichen Frömmigkeit selbst. Wohl muß das Herz aufgerissen | werden, und verwundet, damit der Saame des göttlichen Wortes in die Tiefen desselben eindringe, wo er Wurzel faßen kann, und das geht in dem mehr oder weniger verwilderten von Gott entfernten in das vergängliche Wesen der Welt verwikelten Gemüth, es geht nicht ab ohne Schmerz und Trauer, aber eben diese wird überwunden durch die freudige Verkündigung, daß der Heiland der Welt erschienen sei, daß er erschienen sei nicht den Gesunden, sondern den Kranken, nicht denen, die frohen Muthes waren durch sich selbst; sondern den Mühseligen und Beladenen, aber eben um jene zu heilen, und diese zu erquiken und | in ihrer Seele eine Fülle der Freude zu begründen, die durch nichts Irdisches jemals könne überwunden oder gestört werden. Aber freilich, könnte man sagen, wenn auch so der Schmerz über die Sünde überwunden worden ist durch die Verkündigung des Erlösers und durch die gläubige Annahme derselben, kehrt nicht auch in die erquikte und begnadigte Seele der Schmerz wieder über die Sünde, fühlen und finden wir nicht nur allzuoft in uns die Spuren des menschlichen Verderbens, entfernt sich nicht die Seele oft wieder von dem Erlöser, dessen geistige Nähe sie erquikt, und erhoben hat? Ja wohl, m. g. F. das ist die Weise dieses irdischen | Lebens, das ist es, worüber wir alle nicht hinwegkommen, und gering nur, wenn wir uns mit ihm, dem einzigen Menschen ohne Sünde, vergleichen, gering nur ist in dieser Beziehung der Unterschied zwischen dem Einen und dem Andern unter denen, die sich seiner Gnade und des Glaubens an ihn erfreuen. Aber auch wenn die Seele über das Wiedererscheinen der Sünde bekümmert ist, wenn ein solcher Augenblik gekommen ist, wo sie fühlt, der Bräutigam, der Freund ist von ihr genommen, wenn ein solcher Augenblik gekommen ist, wo sie sich in das Kämmerlein verschleußt, um mit Seufzern und Thränen zu Gott zu beten, | wo sie keinen Sinn hat für alles, was das Herz der Menschen um sie her erfreut, und wo sie selbst vergißt des Leibes und seiner Nothdurft zu pflegen: das soll, das kann nur ein Augenblik sein; denn der Herr hat es ja verheißen, daß er denen nahe sein will, die an ihn glauben, er hat es ja verheißen, daß er einen jeden erquiken will, der mühselig und beladen zu ihm kommt; er hat es verheißen, daß die Quelle des Lebens, die von ihm ausströmt, nie versiegen soll, und daß jeder Durstende bei ihm Labung und Stillung finden kann. Und so findet auch die verirrte Seele den Erlöser bald und leicht wieder; ihre | Trauer wird von ihr genommen, damit ihre Freude nicht wieder von ihr genommen werden möge, und wer da 9 er erschienen] er 9 Lk 5,31 6,35

22 einzigen] einigen

10–11.33–34 Mt 11,28

22 Vgl. Hebr 4,15

34–36 Vgl. Joh 4,14;

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glaubt eine solche Zeit lange ausdehnen zu müssen, wer da glaubt mit einer Menge von Worten, von trüben Gebehrden und Handlungen die Versöhnung erst suchen zu müßen, die ein für allemal erworben ist durch den, an den wir glauben: o dessen Glaube muß schwach sein, der muß der erlösenden und versöhnenden Kraft unseres Herrn noch nicht genug trauen, und wenn er glaubt, daß die bußfertigen Gedanken der Seele, die ihre Trennung von dem Herrn fühlt, und sich nach der Wiedervereinigung mit ihm sehnt, | daß sie noch etwas Äußeres bedürfen zum Schmuk der Trauer und zum Zusatz der Buße: o so verkennt er den, dessen ganzes Reich, deßen ganzes Leben unter uns nur geistig ist, und nichts Äußeres, nichts Leibliches bedarf und begehrt. Denn als die Pharisäer und Schriftgelehrten den Herrn fragten: „warum fasten Johannis Jünger so oft und beten so viel, desselbigengleichen der Pharisäer Jünger, aber deine Jünger essen und trinken“: so wußten sie selbst, sie hatten keinen Beweis dafür beigebracht, daß jene nicht beteten, und der Erlöser konnte keine Ursache haben, sie darüber zu vertheidigen, aber daß sie dem Gebete nichts Äu|ßeres, kein unnützes Gerede hinzufügten, darüber vertheidigte er sie eben damit, daß dies nicht die Art und Weise ihrer Frömmigkeit sei, daß sie dessen nicht bedürften, daß es ihrem innersten Wesen nicht anstehe. Wenn nun, m. g. F., wenn selbst das Bewußtsein der wiederkehrenden Sünde, des noch nicht überwundenen Verderbens kein Anlaß für den Khristen werden kann zu einer solchen Traurigkeit, die nicht müde wird auch äußere Gebehrden und äußere Zeichen zu suchen, und dem geistigen fremd, mit diesen äußeren Zeichen hinausströmt vor der Welt, vielmehr wir dies nur halten würden für ein entweder Verkennen des Erlösers selbst, | oder für ein, wie er das Fasten der Pharisäer und Schriftgelehrten in seinen übrigen Reden darstellt, für ein sich Groß thun und sich Brüsten wollen vor der Welt mit demjenigen, was doch nur eine unvollkommene Frömmigkeit ist: was für eine andere Veranlassung zu solchen Gebehrden der Traurigkeit könnte es wohl in dem Leben des Khristen geben, wenn er selbst den Schmerz der Sünde in dem lebendigen Glauben an den Erlöser leicht überwindet und keine andere Regel kennt als die, sobald er den Erlöser gefunden hat, zu vergessen, was da hinten liegt, und sich zu streken nach dem, was da vorne ist was für eine andere Ver|anlassung könnten wir haben unserer Frömmigkeit irgend einen Zusaz und eine Beimischung von Ängstlichkeit und Traurigkeit zu geben? Sollte es die Besorgniß sein für das Reich des Herrn auf Erden, wenn bisweilen für daßelbe düstere Zeiten bevorzustehen scheinen, wenn es bisweilen das Ansehen haben will, als würde es entweder unterdrükt werden von dem Bösen, was ihm noch wiedersteht, oder in sich selbst zerfallen durch 12 Johannis] Johannes 32–33 Vgl. Phil 3,13

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Zwiespalt und Mißverständniß? Nein, m. g. F., der Glaube ist der Sieg, der die Welt überwindet, und das lebendig glaubende Herz hat keine Besorgniß und keine Ängstlichkeit mehr auch unter allen Wechseln und allen trüben Schikungen dieses Lebens, sondern | mit heiterem Glauben und mit froher Zuversicht vertraut es dem, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. II. So laßt uns denn zweitens sehen von welcher Art und Weise denn nun diese Heiterkeit des khristlichen Lebens und der khristlichen Frömmigkeit ist, die der Erlöser in den Worten unseres Textes rühmt. Zuerst, m. g. F., ist auch sie nicht etwas Zurükgehaltenes, nicht etwas sich in sich selbst Verschließendes, was nur die Bekenner des Glaubens und die Jünger des Erlösers unter sich theilten, den Augen der Welt aber und ihrer Theilnahme es verbergen. Die Veranlaßung, bei welcher der Erlöser die Worte unsers Textes sprach, | war die, daß er sich geladen fand zu einem Gastmahl bei einem Manne, den er berufen hatte, sein Jünger zu werden, und als Genossen seines Geschäfts saßen viele Zöllner und Sünder da und aßen mit ihm. Da, wie bei vielen andern Gelegenheiten, war er in einer frohen Gesellschaft von Menschen, denen der Sinn für die Erlösung und seine Lehre in sehr ungleichem Maße, ja gewiß manchen unter ihnen gar nicht aufgegangen war. Die innere Fröhlichkeit des Herzens, die ist das Wesen des Khristenthums selbst, und sie ist nicht ohne ihre natürlichen Zeichen, sie offenbart sich in der Heiterkeit unseres Gottesdienstes, in der Fröhlichkeit unserer Lobgesänge, in der Theilnahme, wozu der | Khrist alle menschlichen Künste einladet, wenn er Gott in dem Erlöser anbetet. Aber wir sehen den Erlöser und seine Jünger auch theilnehmen an der Freude, die nicht unmittelbar aus diesem Gefühl des erlösten Herzens hervorgeht, sondern die eine Freude ist über alles Gute, was Gott in diesem irdischen Leben dem Menschen schenkt; auch schloß sich der Herr nicht aus, sondern er und seine Jünger nahmen Theil daran. Und so fuhren auch die Apostel des Herrn fort die Khristen zu ermahnen, sie sollten keines weges die Gesellschaft der Ungläubigen fliehen, weil sie sonst die Welt meiden müßten. Und wie gewiß mancher bei solchen fröhlichen Gelegenheiten die Bekanntschaft | mit dem Erlöser machte, und die Worte der Weisheit von ihm hörte, die er, wenn er ihn öffentlich hätte hören sollen, vielleicht nicht würde vernommen haben: so hat sich an diese Theilnahme, an der natürlichen Freude der Menschen angeschloßen eine bleibende Wirksamkeit des Glaubens, die in dem Herzen der Gläubigen; indem sie an der Freude der Menschen Theil 17 Geschäfts] so SWII/10, S. 210; Textzeuge: Gesichts 1–2 Vgl. 1Joh 5,4

5–6 Mt 28,18

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nehmen, selbst immer sich verklärt, und aus Herz in Herz sich ergießt. Wie viel weniger, m. g. F., sollen also wir denken, das Ziel der khristlichen Freude dürfe und solle kein anderes sein als die Freude die sich ganz unmittelbar auf das Bewußtsein der Erlösung und auf das Verhältniß zum Erlöser bezieht, von jeder andern | Freude aber müsse sich der erlöste Khrist zurükziehen, wie viel weniger müßen wir dies thun, die wir mit lauter solchen Menschen leben, die den Namen des Erlösers tragen, denen das Gesez seines heiligen Bundes nicht fremd ist, auf welches sich jeder berufen kann, wenn die Freude des Herzens sich verirren will in das Gebiet der Sünde. Darum sollen wir nach dem Beispiel des Erlösers die Theilnahme an den Freuden der Menschen nicht scheuen, sondern sie vielmehr suchen durch unsere Gegenwart zu reinigen und zu heiligen, und eine geistige Wirksamkeit daran zu knüpfen, eben wie es der Erlöser, wie es die Jünger des Erlösers selbst thaten. Indem aber die Freude | des Khristen diese Gemeinschaft nicht scheut, so muß sie überall das geistige Wesen und den geistigen Gehalt bewahren und offenbaren, welcher ihr eigenthümlich ist. Denn freilich jede Freude, die ausarten will in irgend etwas, wobei der Mensch Gott und den Erlöser vergeßen kann, die wird dem Khristen nicht gemein, und es mag also jeder und muß jeder in dieser Beziehung sein eigenes Maaß haben, nach welchem auch er selbst nur und kein Anderer ihn richten kann, aber ein anderes Gesez läßt sich dafür nicht aussprechen als dies: jede Freude, bei welcher der Mensch sich Gottes und des Erlösers bewußt sein kann, jede Freude, an die | sich etwas Geistiges und Höheres anknüpfen läßt, die ist es, zu der uns das Beispiel des Erlösers aufmuntert, und in welcher auch unsere khristliche Wirksamkeit freien Spielraum findet, und unser khristlicher Sinn sich nicht nur bewährt, sondern auch erbaut. Dieser geistige Sinn aber, und der geistige Gehalt in der Freude des Khristen zeigt sich dann vorzüglich auch darin, daß sie nichts anderes ist als das Mitgefühl mit der Freude des Erlösers. Denn, m. g. F., wenn unser ganzes Leben eine lebendige Gemeinschaft mit dem Erlöser sein soll, so muß es auch unsere Trauer sein, wenn es eine solche für den Khristen geben kann, so wie unsere Freude. Wir sehen aber den | Erlöser so oft auch in den allergenauesten Darstellungen, die uns von seinem Leben mitgetheilt sind, in einem Zustand herzlicher Freude, wenn er vor seinen und seiner Jünger Augen ausgebreitet sahe das große Feld geistiger Wirksamkeit, wenn er gewahr wurde, wie das Wort Gottes, wenn es auch hie und da in ein unfruchtbares Land fiel, doch größtentheils Früchte trug, wenn auch nicht hundertfältige, so doch dreißigfältige. Und den, der den verborgenen Rath Gottes kannte, den, der 29 mit der] so SW/10, S. 218; Textzeuge: über die II/10, S. 218 36–38 Vgl. 1Joh 5,4

32 sehen] Ergänzung aus SW

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voll war von der großen Zuversicht, daß ihm das ganze menschliche Geschlecht bestimmt sei zur Beute seiner Verdienste und seiner Leiden, den störte auch der langsame | Gang der göttlichen Rathschlüsse nicht in seiner Freude; das Auge seines Geistes sahe aus der Nähe in die weite Ferne, und jede Veranlaßung zu einer solchen Aussicht ergriff er in der Tiefe seines göttlichen Gemüthes. Was aber, m. g. F., was ist die ganze Welt für uns, als der Schauplatz der Verherrlichung des Erlösers, was anders als der Ort, in welchem sich seine Kraft und Herrlichkeit offenbart, wie sehen wir darauf immer mehr den Glauben die Welt überwinden, wie sehen wir das Licht die Finsterniß verdrängen, wie sind wir Zeugen, wenn wir auf längst vergangene Zeiten zurüksehen und auch in | der Gegenwart umherschauen, von dem herrlichen Kampfe und der siegreichen Kraft der Kinder des Lichtes gegen die Welt, die im Argen liegt: das ist die Freude des Erlösers und das Mitgefühl dieser Freude soll uns im Leben nie verlassen. Diese zeigt sich aber, und drükt sich ab in allen unseren Ansichten von demjenigen, was in der Welt um uns her geschieht, das ermuthigt diejenigen, so Zeugen sind von dem heiligen Glauben und von der freudigen Zuversicht des Khristen; und indem wir so das Ebenbild des Erlösers erhalten und sein Leben auf Erden in unseren Vergnügungen fortsetzen, so | erhält dadurch unser ganzes Leben eben das Gepräge fröhlicher Heiterkeit und hoher Zuversicht, die den Erlöser nie verließ. Aber wenn wir auf der einen Seite seine Freude theilten als Mitgenossen an dem großen Werke der Erlösung und Begnadigung vor der Welt: o so verläßt uns zugleich nie das Gefühl, daß nur durch ihn wir das geworden sind was wir sind; daß wir ihm verdanken, hindurchgedrungen zu sein zur Freiheit der Kinder Gottes, daß wir ihm verdanken erlöst zu sein von der Knechtschaft der Sünde und der Traurigkeit, und was beßer als eben die Freude unseres Herzens kann | den Dank für die Erlösung verkündigen. Daher vermag nichts in der Welt dem Khristen seine Freude zu beugen, und es kann, wie ich auch schon vorher erwähnt, für ihn keine Veranlaßung geben, seiner Freude etwas Düsteres und Trauriges beizumischen, wenn auch immer ein großer Theil der Welt wandelt in den Schatten des Todes, wenn auch immer das Evangelium des Lebens, zu verschiedenen Menschen noch nicht hindurchgedrungen ist, ja wenn selbst unter denen, die es empfangen, die es von Kindheit an vernommen haben so viele nur den Buchstaben desselben zu kennen scheinen, der Geist aber ihnen fremd ist. Auch das vermag | den Khristen aus der frohen Stimmung seines Gemüthes nicht heraus zu versetzen, denn er vertraut den Wegen des Herrn, und er sieht es und kennt es aus seiner eigenen Erfahrung, wie auch im geistigen Leben nichts schnell geht und auf Flügeln des Windes; sondern nur langsam das wahre Gut gegründet wird in der Seele, so auch 9 Vgl. 1Joh 5,4 25 Röm 8,21

9–10 Vgl. Joh 12,46

12 Eph 5,8

13 1Joh 5,19

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in der Welt. Und darum vertraut er demjenigen, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, und dem, der Zeit und Stunde allein seiner Macht vorbehalten hat, daß das Werk der Erlösung nicht nur immer weiter fortgehen | werde nach außen, sondern auch immer tiefer sich befestigen nach innen[.] Was er selbst aber dazu thun kann, das ist vorzüglich dies, daß er Gott seinen Erlöser preist an Leib und Geist. Wie aber anders, als eben durch das Zeugniß, welches er ablegt, daß die Leiden dieser Zeit nicht werth sind der zukünftigen Herrlichkeit, nicht nur der, die an uns noch soll offenbart werden, sondern auch der, die an uns schon offenbart ist; wie anders als dadurch, daß er durch sein ganzes Leben zeugt, der, welcher glaubt an den Erlöser der Welt, der komme nicht ins Gericht, und habe das Gericht nicht zu fürchten, denn er sei vom Tode zum | Leben hindurchgedrungen. Das ist eben die himmlische Freude und Seligkeit, und auch davon können wir Zeugniß geben dem Erlöser, und dankbar erkennen die Gnade, die er uns erwiesen hat[;] trauern aber und zagen und dem Leben eine düstere Gestalt geben und Frömmigkeit suchen in äußern Dingen, im Zurükziehen von der Welt, das ist immer ein Zeichen nicht zwar von Schwäche der Gnade und von Unglauben an die Kraft der Erlösung, aber von der harten Rinde, womit das Herz noch umzogen ist, und davon, daß es noch nicht ganz durchdrungen ist von der Freiheit der Kinder Gottes. Darum so | laßt uns in allem dem Herrn Zeugniß geben davon, daß wir diejenigen sind, die in der hochzeitlichen Freude nicht wollen gestört werden; sondern die in der Nähe ihres Gottes und Erlösers sind. Denn wie bei allen fröhlichen Gelegenheiten mitten in der Freude die Veranlassung derselben nie vergessen wird, so auch mitten in der Freude vergeßen wir niemals den, der sie uns gewährt hat, und indem dies die Gränze der khristlichen Freude ist, so ist es ein Zeugniß, welches wir ablegen von der Gnade und Liebe des Erlösers, von der Zuversicht, womit wir ihm anhangen, und von der Kraft, mit welcher er unsere Seele leitet und ihr nahe ist. Nur also durch | ein solches heiteres, fröhliches Leben in der Nähe Gottes und des Erlösers, nur dadurch preisen wir ihn auf eine würdige Weise, indem jeder Athemzug dann ein Lobgesang wird auf den, der uns hindurch geführt hat durch alles Irdische zur Freiheit der Kinder Gottes. Amen.

1–2 Mt 28,18 2–3 Apg 1,7 Joh 5,24 20.33 Röm 8,21

6 Vgl. 1Kor 6,20

7–9 Röm 8,18

10–13 Vgl.

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[Liederblatt vom 29. Juli 1821:] Am 6. Sonntage nach Trinitatis 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Mein Salomo, dem freundliches etc. [1.] Mir wallt das Herz, so oft es sein gedenket, / Den Lieb’ und Huld von seinem Throne drang, / Und unsre Niedrigkeit zu theilen zwang. / Gedanke, der mich ganz auf Jesum lenke! / Ist’s mir im Ernst um Seeligkeit zu thun; / Kann ich getrost in seiner Liebe ruhn. // [2.] Ich mag kein Heil, als nur in Jesu haben; / Ich mag kein Licht, das nicht aus Jesu strahlt; / Der Friede, den sein theures Blut bezahlt, / Ist nirgend sonst; er muß damit begaben, / Mein Jesus, der für mich am Kreuze starb, / Und mir dadurch die Seeligkeit erwarb. // [3.] So hoch der Geist der Jünger auch gestiegen, / Ihr höchstes Wissen blieb das Kreuz des Herrn; / So finden auch die Gläub’gen nah’ und fern, / In seinem Kreuz das seeligste Genügen. / Wer in ihm einzig sucht der Seele Heil, / Dem wird die höchste Weisheit auch zu Theil. // [4.] Wir sehen ja die Schaaren seiner Zeugen, / Wir kennen den, der uns erkauft sich hat; / Er that, er litt, er büßt an unsrer Statt, / Wir müssen uns vor seinem Scepter beugen. / Er ist so groß, und ist zugleich so gut, / Wir opfern ihm von Herzen Gut und Blut. // (G. B. d. Brüder-Gem.) Nach dem Gebet. – Mel. Preis, Lob, Ehr, Ruhm etc. [1.] Komm beuge dich, mein Herz und Sinn / Vor Christi Throne tief darnieder! / Zu seinen Füßen sinke hin / Und bring ihm deines Dankes Lieder! / Erkenne, wie du selbst aus dir nichts bist, / Wie Gott in dir und allen alles ist. // [2.] Wo wär in dir ein Funken Kraft, / Wenn du sie nicht erlangt von oben? / Wer hat dir Fried’ und Ruh’ geschafft / Vor deiner Feinde List und Toben? / Wer bändigte des Bösen finstre Macht? / Wer hat die Wahrheit stets an’s Licht gebracht? // [3.] Wer hat dich aus der Noth befreit? / Dein Leben der Gefahr entrissen? / Wer krönt dich mit Barmherzigkeit? / Wer läßt dich seine Rechte wissen? / Ist er es nicht, der unerschöpfte Quell, / Der täglich uns noch zufleußt rein und hell? // [4.] Ja deine Hand hat uns gefaßt, / Und über all Verdienst und Hoffen / Hinweg gethan der Sünden Last, / Daß nun der Himmel uns steht offen. / Du machst das Herz von Furcht und Zweifel leer, / Und seel’ger Friede waltet um uns her. // [5.] Was zwischen uns sich drängen will, / Hat deine Kraft gar bald vernichtet, / Du hälst den Tempel rein und still, / Den du dir selbst in uns errichtet. / Ja, fest bestehet deine Herrlichkeit, / Die dir in uns der Vater hat geweiht. // [6.] Du überschüttest uns mit Lieb, / Und reinigst Herzen, Mund und Sinnen, / Daß wir aus deines Geistes Trieb / Dich immer lieber noch gewinnen. / Du drückst dem Geist der Reinheit Siegel auf, / Daß unbefleckt wir enden unsern Lauf. // [7.] So nimm dafür zum Opfer hin, / Uns selbst mit Allem, was wir haben! / Nimm Leib und Seel!, nimm Herz und Sinn, / Zum Eigenthum, statt andrer Gaben! / Bereite selbst dir aus der Schwachen Mund / Ein würdig Lob, mach deinem Namen kund. // [8.] Hierzu gieb einen Sinn und Muth, / Halt deine Gläubgen fest zusammen; / Daß unser Herz voll heil’ger Glut / Entbrenn’ in deiner Liebe Flammen. / Zu deinem Thron steigt unser Dank empor, / Bis würd’ger er erschallt im höhern Chor! // (Gottfr. Arnold.)

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Am 29. Juli 1821 vormittags

Nach der Predigt. – Mel. Jesu meiner Seele Leben etc. Noch lieb ich dich unvollkommen, / Das erkennt die Seele wohl! / Dort im Vaterland der Frommen, / Lieb ich, Gott, dich wie ich soll, / Ganz werd ich dort deinen Willen / Kennen ehren und erfüllen, / Und empfahn an deinem Thron / Der vollkommnen Liebe Lohn. //

Am 5. August 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

7. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,8–9 Nachschrift; SAr 60, Bl. 169r–172v; Woltersdorff Keine Keine Teil der vom 8. Juli 1821 bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederangabe

Am 7. Sonnt. n. T. 1821. früh. Lied 567. 569 v. 5–6. 2. Ep. Petri 1. v. 8–9.

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Wir fahren fort und beschäftigen unsere gemeinsame Andacht mit den Worten des Apostels Petri. Diese Worte, m. a. F., beziehen sich unmittelbar auf die vorhergehenden, in welchen nemlich der Apostel uns den Weg zu der christlichen Vollkommenheit gezeigt – von dem Glauben als den Anfang derselben, bis zu der allen Christen inwohnenden allgemeinen Liebe, die aus der brüderlichen Liebe hervorgehet. Indem nun der Apostel in den Worten unsers Textes sagt: „denn wo solches reichlich bei euch ist: wirds euch nicht faul und unfruchtbar lassen, in der Erkenntniß unsers Herrn Jesu Christi,“ v. 9. so stellt er uns darin zuerst einen doppelten Erfolg welcher stattfinden kann, von demjenigen Punkte aus, welchen er uns vorgehalten – nemlich wenn der Mensch in Glauben und Liebe lebt, ein Gutes und Treffliches –, und wenn er es nicht, eine Beklagenswerthes. In dieser Beschreibung sehen wir zunächst unmittelbar die Stufen der christlichen Vollkommenheit hindurchblicken, welche der Apostel geschildert, nemlich von der Bescheidenheit bis zur allgemeinen Liebe – in dem er sich so ausdrückt: „denn wo solches“ – pp. | Allerdings liegt in den Worten eine große Wahrheit, denn wenn die Unfruchtbarkeit und Trägheit 6 vorhergehenden] vorhergenden 2 Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 567 „O Ursprung des Lebens“ (in eigener Melodie); Lied Nr. 569 „Trautster Jesu, Ehrenkönig“ (Melodie von „Eins ist noth, ach Herr: dies Eine“)

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aufgehört, so muß die Fruchtbarkeit da sein – das ist die Folge von dem richtigen und natürlichen Fortschreiten des Glaubens – daß statt der Unvollkommenheit, ein frisches und kräftiges Leben hervorgehe in der Seele der Gläubigen. Und das ist es was er uns vorhält: daß mit der Frische des Glaubens ein kräftiges und fruchtbares Leben in die Seele trit: Auch unter den Pflanzen und Bäumen, bemerkten wir solche, die nicht faul sind, die jährlich Zweige und Blätter tragen, aber die Frucht fehlt ihnen – andere wieder sind nicht unfruchtbar – aber die Frische, das muntere Leben, welches die andern haben fehlt ihnen – damit ist uns denn freilich nicht geholfen, denn es ist uns eine todte Frucht. Auch der Erlöser hat sich einmal dieses Bildes bedient; – und vielleicht sieht der Apostel darauf zurück, daß ein Baum der nicht Frucht treibt, abgehauen werden soll – und so dürfen wir, g. F., uns nur umsehen in dem Reiche Gottes, unter denen die den Erlöser nicht aus dem Herzen bekennen, sondern in denen der Glaube und die Lehre noch nicht Wurzel gefaßt hat, wenn gleich sie manches fühlen, so werden sie doch nicht hervorbringen was | das Wort des Lebens in ihnen gewirkt, aber doch immer auf dem Wege scheinen es hervorzubringen – und da wollen wir dann wie damals der Erlöser immer noch Geduld fassen und Hoffnung, und daß es auch ihnen nicht fehlen wird. Andere hingegen zeigen sich nicht nur unfruchtbar, sondern es scheint auch als sei wenig in sie hineingegangen – und als ob die frommen Regungen die wir an ihnen bemerken, doch nur eine Ansteckung aus andern Seelen sind, und nicht aus ihrem eigenen Glaubensleben hervorgegangen. Beides kann sich nicht ereignen bei denen welche im Glauben dem Herrn gehören; – darum sagt der Apostel es könne ihnen nimmer fehlen an göttlichen Gedanken, aus dem wahren innern Leben müsse immer aufs Neue in ihnen hervorgehen, die Regungen, die sich thätig und fühlbar beweisen müssen – und daran können wir nicht zweifeln – da schließt sich alles an den wahren lebendigen Glauben, der da ist, wie der Herr selbst sagt: eine unversiegbare Quelle des Heils – und ist in Allen der Erlöser zu finden, der nicht nur das Verlangen sondern auch den Anfang des geistigen Lebens gegeben. Hat nun die Seele den Erlöser in wahrem Glauben ergriffen, so findet sie darin das Urbild, wie er das Wort des Vaters erkannte, und wie | er gesagt, daß der Vater ihm immer Größeres zeigen und offenbaren werde, so findet nun die gläubige Seele, in dem Wort den Vater, und wo es fehlt, da wird es ersetzt durch das Bild des Erlösers – er ist die Quelle der lebendigen Offenbarung Gottes, und überall findet sie des Herrn Wege deutlich und klar. Nur in der gläubigen Seele kann jeder Zwiespalt aufhören – denn nur in ihr kann allmählig aufhören der Unterschied des Göttlichen und Menschlichen welcher ausgesprochen ist in dem Wort: „meine 12 Vgl. Mt 7,19 1 Jes 55,8

30 Vgl. Joh 4,14; 7,38

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Gedanken sind nicht eure Gedanken“ und woraus hervorgeht daß Wort und That nicht eins ist. Aber bei dem Erlöser war jedes Wort zugleich eine That, es bewegte das Gemüth, und brachte Licht in die Seelen, es reitzte sie zum Glauben und zu der Liebe – und jedes war nicht nur ein einzelner Bestandtheil, sondern jedes war ein Geschäft der Erlösung. Das ist die Frucht von dem Leben des Erlösers. Und so ist es auch nicht möglich daß die göttlichen Gedanken nicht die selbige Frucht bringen sollten – ja überall finden wir, daß jedes lebendige Wort zugleich eine That ist; – was die göttliche Gnade in uns wirkt, gereicht auch zur Fortsetzung in andern – und wie es keinen Glauben geben kann, in dem nicht die Liebe wäre, so giebt es auch keine Aeußerung des Glaubens die nicht die Liebe einschließt, und diese ist das Band der Vollkommenheit. In dem Glauben der durch die Liebe thätig ist, ist nicht nur nothwendig | das wahre Leben selbst, sondern er kann auch nicht unfruchtbar sein in Beziehung dieser Thätigkeit. Freilich ist der Erfolg auch da wo er nicht ausbleibt nicht immer derselbe; in einer Seele wirkt er mehr in der andern weniger und der Geist Gottes wehet wie er will, bald Viele bald Wenige ergreifend, nach der verborgenen Weisheit Gottes – Aber wie es auch sein mag, in welchem Maaß er auch die Gemüther ergreift, so kann doch das Leben welches er in den Seinigen hervorgerufen nie ganz unfruchtbar sein, und was der Erlöser sagt: „wenn ihr in eine Stadt kommt pp. so grüßet sie, und so sie es nicht werth sind wird der Friede zu euch zurückkehren“, das gehet denn auch in Erfüllung. Und wenn dann die kräftige Zeit hinzu kömmt, wo das Wort, That wird in uns dann nehmen wir in erhöhetem Maaße den Segen davon. Aber nicht mögen wir vergessen die Worte unsers Textes: „wirds euch nicht faul noch unfruchtbar sein lassen in der Erkenntniß unsers Herrn Jesu Christi –“. Es bedarf wol keiner Erläuterung daß dieser Friede allein beruhe auf der Erkenntniß Jesu Christi aber wir können es doch nicht genug zu Herzen nehmen, daß wenn wir fortschreiten auf jenem Wege von der brüderlichen Liebe zur allgemeinen, wir das auf keinem andern Wege suchen sollen als auf dem seiner Erkenntniß. Selbst in den Schätzen der Schrift, ist uns alles nur in dem Grade heilbringend und förderlich als es zur lebendigen Erkenntniß Jesu Christi gehört. Wer auf irgend etwas Anderes ausgehet, wer in den Bewegungen des Herzens auf etwas anders merkt, als was der Geist Christi ihm ver|klärt und gewirkt hat, der ist schon auf einem falschen Wege – das Leben in ihm kann nur unfruchtbar sein, werde es auch zugebracht in tiefem Forschen – denn der Friede muß sich je mehr und mehr darin verlieren, und das Leben sich 16 weniger] Der Rest der Zeile ist im Manuskript mit Füllstrichen versehen. die 30 dem] den deren 11–12 Vgl. Kol 3,14 13

12–14 Gal 5,6

16 Vgl. Joh 3,8

27 der]

20–22 Vgl. Mt 10,11–

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immer mehr zurückziehen auf ein leeres Bestreben und wer es beisammen siehet, wird finden es sei ein kahler Baum der abgehauen werden muß.

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2. Weiter redet der Apostel: „wer aber solches nicht hat der ist blind und tappet im Finstern pp. Wir wissen wie überall in der Schrift der Gegensatz zwischen Licht und Finsterniß uns darauf hinweist – wie aus der Erkenntniß alles Gute hervorgehet, und jede Verschlimmerung aus der Finsterniß. Des Leibes Licht muß dunkel geworden sein – und die Liebe erkaltet, – so sagt der Apostel: der ist blind und tappet mit der Hand, er hat in keinem Augenblick das sichre Gefühl, daß er an seinem Ziele anlangen werde, wie ein Blinder der sich keines Fortschrittes gewiß ist – so geschieht es gar zu leicht, daß die den Erlöser auch wirklich bekennen, und im Glauben an ihn begriffen sind – straucheln und irren, wenn sich uns nicht zeigt daß sie hindurchgedrungen zur vollkommenen Liebe in welcher allein die wahre Sicherheit beruht. Denn es entsteht als dann, wenn der Mensch nicht im beständigen Streben nach Christo begriffen, und von der erlösenden Liebe des Erlösers erfüllt ist daß er sich vergleicht mit andern und sich selbst Gesetze und Vorschriften giebt – | und daß der Glaube durch den er in der Liebe thätig sein sollte, sich in eine Dunkelweisheit wandelt – dann ist schon das Licht der Seele verfinstert – und der Sinn wird bald nach diesem bald nach jenem sich wenden – wenn er in sich selbst erstarken will, ohne auf den Wegen zu wandeln, die, die aus Gott in uns lebendig gewordene Liebe uns vorzeichnet – sei es denn daß man sich eine gewisse Veränderung vorschreibe – eine große Stärke des Gefühls pp., das alles ist schon ein unsicheres Tappen, welchem das wahre Licht in der Seele verlorengegangen. Aber warnend ist das, was der Apostel noch hinzufügt: „und vergisset der Reinigung seiner vorigen Sünden“ – Dies ist die natürliche Folge, denn es ist nichts anders als das Ergreifen des Erlösers im Glauben, wodurch wir zunächst die Vergebung der Sünden haben – das ist der Anfang des neuen Lebens, von wo aus der Mensch in Bescheidenheit und Mäßigkeit, die herrliche Frucht der Liebe in sich erziehen soll. Dabei aber muß er sich immer des Kampfes bewußt bleiben, und nie meinen sicher zu stehen – wer da wandelt als in Sicherheit, ohne immer wieder von neuem sich zu stärken und zu befestigen aus dem Leben Jesu, der steht in Gefahr daß das neue Leben sich verliere, und das Licht welches der Glaube angezündet. Er muß nie vergessen wie es zugegangen ist, daß er dem Schatten des Todes entrissen, und hindurch|gedrungen zu dem Lichte welches von dem 2 Baum] Baum sei 18 Vgl. Gal 5,6

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Erlöser ausgegangen. Wenn wir mit diesem Lichte hineinleuchten o da sehen wir immer wieder die Spuren des Verderbens in der menschlichen Seele, und das nie aufhörende Bedürfen der Gemeinschaft des Herrn, um in den Seelen immer wieder die Liebe zu wecken. So wie aber der Mensch in seiner Seele von dem Erlöser abläßt, so kann es nicht anders sein, als daß er die lebendige Liebe verliert, und wie der Apostel sagt: die Reinigung seiner Sünden vergißt. Laßt uns nun noch Eins erwägen, nemlich: zu diesem Beidem zeigt er uns kein Drittes – einen Mittelweg giebt es nicht, – der Glaube muß entweder seine Frucht tragen oder er verschwindet wieder aus der Seele, so daß der Mensch die Reinigung vergißt. Aber es ist auch unser eigenes Gefühl, daß es kein Drittes geben kann, entweder die Kraft des Glaubens wird in uns immer stärker und lebendiger – oder im kränklichen Glauben geht Leben und Fruchtbarkeit verloren – o das sollten wir doch alle beherzigen, daß die höchste Weisheit des Christen darinn besteht, zu wissen ob er sich auf dem einen oder auf dem andern Wege befindet – nur so werden wir durch ihn nicht nur aufmerksam auf uns selbst, sondern wir lernen auch daß es in jedem Augenblick noth thut; daß das menschliche Leben aus dem Erlöser sich erwärme, um gleich zurückkehren zu können, wo wir in uns finden eine Erkältung der Liebe, zu ihm der wie er der Anfang so auch der Vollender unsers geistigen Lebens sein will, um immer wieder aufs neue erleuchtet zu werden über uns selbst. Nicht ohne die Gefahr unfruchtbar zu werden, geht der Mensch im Leben unter seinen Brüdern, und das Leben der Brüder ist ja auch das Unsre. Nicht ohne solchen Wechsel, sage ich – erreicht der Mensch das Ziel der Vollkommenheit hängt unser Leben aber wirklich an dem Erlöser o dann werden wir auch durch seinen Geist immer mehr erleuchtet und weniger in Gefahr sein – und wenn wir uns immer mehr eingetaucht und versenkt in seinem Bilde, so wird auch die Kraft des ewigen Lebens immer mehr in uns wohnen. An das Eine also lasset uns halten und eingedenk aller Gnadengaben des göttlichen Geistes sein. Der leite uns immer mehr in unserm Leben, und führe uns dahin wo wir ihm gleich sein werden, weil wir ihn erkennen wie er ist!

1 hineinleuchten] Der Rest der Zeile ist im Manuskript mit Füllstrichen versehen. 20–21 Vgl. Hebr 12,2

33–34 1Joh 3,2

Am 5. August 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

7. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 6,19–23 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 79, Bl. 89r–109r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 85r–97r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 60, Bl. 173r–176r; Woltersdorff Liederangabe (nur in SAr 60) Tageskalender: „über die Epistel“

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Nachmittagspredigt am siebenten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. Römer VI, 19–23. Ich muß menschlich davon reden, um der Schwachheit willen eures Fleisches. Gleich wie ihr eure Glieder begeben habt zum Dienst der Unreinigkeit, und von einer Ungerechtigkeit zu der andern; also begebet nun auch eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, daß sie heilig werden. Denn da ihr der Sünde Knechte waret, da waret ihr frei von der Gerechtigkeit. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? welcher ihr euch jezt schämet; denn das Ende derselbigen ist der Tod. Nun ihr aber seid von der Sünde frei, und Gottes Knechte geworden; habt ihr eure Frucht, daß ihr heilig werdet, das Ende aber das ewige | Leben. Denn der Tod ist der Sünde Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Khristo Jesu, unserem Herrn.

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M. a. F. Diese herrliche Ermahnung des Apostels, worin er den Khristen vor Augen hält die beiden entgegengesezten Wege, die der Mensch gehen kann, redet so für sich selbst, und die Worte des Apostels sind so stark und so kräftig, daß kaum etwas hinzusetzen ist oder als Erörterung hinzuzufügen, was nicht ein jeder sich selbst unmittelbar sagen könnte. Aber meine Gedanken sind umso mehr stehen geblieben bei dem merkwürdigen Anfang unseres verlesenen Textes, in welchem der Apostel, indem er den | Khristen vorhalten wollte das Leben der Sünde und das Leben der Gerechtigkeit, sagt: ich muß menschlich davon reden um der Schwachheit willen 0 Liederangabe in SAr 60, Bl. 173r: „Lied 786 v. 1–12; 793, 7. 8“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 786 „Erneure mich, o ew’ges Licht“ (Melodie von: O Jesu Christ! mein’s Lebens Licht); Lied Nr. 793 „Herr Jesu! Gnadensonne“ (Melodie von „Herr Christ! der ein’ge Gottessohn“)

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eures Fleisches. Nämlich wo wir in der Schrift diese Redensart finden, „menschlicher Weise reden von göttlichen Dingen“, da bedeutet es immer, daß menschliche Gedanken und menschliche Worte der Sache selbst nicht gleichkommen können, und daß in der Darstellung etwas Unvollkommnes bleibt, was man wohl zu entfernen wünscht, aber nicht hinwegzuthun weiß. So in einer früheren Stelle desselben Briefes bedient sich der Apostel desselben Ausdruks: „ist denn Gott auch ungerecht, daß er | darüber zürnet“, und fügt hinzu: „ich rede menschlich“, weil er wohl weiß, daß in Gott kein Zorn ist, aber doch den Unterschied des Wohlgefallens und Mißfallens, die göttliche Ordnung in der Regierung der Welt, vermöge deren Gott mit der Sünde gewisse Folgen verbunden hat, nicht anders auszudrüken weiß als durch die Ähnlichkeit mit menschlichem Zorn. So muß er auch hier in seiner Rede etwas Unvollkommnes gefunden haben, was er anders gestatten mochte, aber er konnte nicht, wie er sagt. Was kann dies sein? Daß der Weg der Sünde und der Weg der Gerechtigkeit einander entgegengesezt sei, daß unmöglich der Mensch den einen | einschlagen kann, anders, als indem er den andern verläßt, daß das Ende des Einen der Tod ist, der Sold der Sünde, das Ende des andern aber das ewige Leben, aber dies als die Gabe der göttlichen Liebe und Barmherzigkeit, das alles ist so klar und rein, und ganz der Sache angemessen, daß darin nicht das liegen kann, was der Apostel seine menschliche Rede nennt. Es bleibt also, m. g. F., nichts übrig als daß wir dies darin finden, daß der Apostel den Weg der Sünde als einen Dienst der Sünde, und den Weg des Lebens der Gerechtigkeit als einen Dienst der Gerechtigkeit darstellt. Soll es dies nun sein, so muß es an und | für sich noch eine bessere und angemessenere Weise geben über die Sache zu reden, aber es muß auch auf der andern Seite eine Schwachheit des menschlichen Fleisches geben, vermöge welcher keine andere Art die Sache darzustellen die rechte und gute ist. Dies beides laßt uns jezt näher mit einander erwägen. I. Wenn wir uns zuerst fragen, m. g. F., ei wenn das nur eine menschliche Rede ist, daß der Apostel sagt: begebet nun eure Glieder zum Dienst der Gerechtigkeit, daß sie heilig werden, werdet nun Knechte der Gerechtigkeit, wie ihr vorher Knechte der Sünde waret: was giebt es | denn für eine bessere Art über diese Gegenstände zu reden, was kann Würdigeres und Herrlicheres darüber gesagt werden? Wenn wir uns dies fragen: so erinnere ich mich dabei an die Worte unseres Erlösers, die uns der Evangelist Johannes in seinem fünfzehnten Kapitel aufbewahrt hat, wo nämlich der Herr sagt: „ich sage nun nicht mehr, daß ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut, ihr aber seid meine Freunde, denn ich habe euch alles 2 Vgl. Röm 3,5; 1Kor 2,4; Gal 3,15

7–8 Vgl. Röm 3,5

39–2 Joh 15,15

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kund gethan, was mir der Vater gegeben hat.“ Sehet da, m. g. F., das ist freilich eine größere und herrlichere Weise über die Sache zu reden. Während der | Mensch sich in dem Leben der Sünde befindet, da mag wohl gesagt werden, daß er frei ist von der Gerechtigkeit, und ein Knecht der Sünde, wenn sich aber der Mensch von der Herrschaft der Sünde losmacht, so ist es, nach der Rede unseres Erlösers, noch etwas Unvollkommnes, wenn er, wie der Apostel hier sagt, ein Knecht Gottes wird; das Höchste aber und Vollkommenste ist dies, daß er den Namen verdiene, den der Herr dort seinen Jüngern beilegt, indem er sagt: „ich sage nun nicht mehr, daß ihr Knechte seid, denn ein Knecht weiß nicht, was sein Herr thut, ihr aber seid meine Freunde, denn ich | habe euch alles kund gethan, was mir der Vater gegeben hat.“ Denn, m. g. F., daß das keinen großen Unterschied machen kann, daß der Erlöser dort von dem Verhältniß seiner Jünger zu sich redet, und daß hier der Apostel redet von dem Verhältniß des Menschen zur Gerechtigkeit und zu Gott, denn er bedient sich beider Ausdrüke, indem er sagt: „ihr waret frei von der Gerechtigkeit, da ihr der Sünde Knechte waret“, und hernach: „nun ihr aber seid von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden“, daß dies sage ich, keinen großen Unterschied machen kann, oder vielmehr gar keinen, das fühlt wohl | ein jeder unter uns von selbst. Denn von dem Erlöser wird mit Recht gesagt: „er sei uns von Gott gemacht worden zur Gerechtigkeit.“ Sind wir nun seine Knechte, so sind wir auch Knechte der Gerechtigkeit. Der Erlöser selbst aber sagt, daß niemand zum Vater kommen könne, denn allein durch ihn, daß er, so der Mensch sein Wort halte, kommen werde mit seinem Vater und Wohnung machen in seinem Herzen. Macht er nun so Wohnung in unserem Herzen, daß wir dadurch seine Knechte sind, so sind wir auch seines Vaters Knechte; macht er aber so Wohnung in unserem Herzen, daß wir seine Freunde werden, so sind wir auch Gottes Freunde und der | Gerechtigkeit Freunde. Wie viel herrlicher aber das ist, was der Erlöser sagt, als das, was der Apostel in den Worten unseres Textes, das leuchtet wohl auch einem jeden von selbst ein. Denn der Herr giebt uns in jenen Worten selbst den Unterschied zwischen einem Knechte und einem Freunde zu erkennen, indem er sagt, „der Knecht weiß nicht, was sein Herr thut, ihr aber seid meine Freunde, denn alles, was mir der Vater gegeben hat, habe ich euch kund gethan“. Ist er, wie denn auch der Erlöser selbst sich öfter dieses Bildes bedient, um das Verhältniß seiner Jünger zu ihm auszudrüken, ist er ein treuer und wachsamer Knecht, | so ist er beständig darauf bedacht, die Gebote seines Herrn zu erfüllen, das, was ihm aufgetragen ist, auszurichten, und dann lobt ihn er der Herr und spricht zu ihm: „Ei du bist ein frommer und getreuer Knecht, 9–12 Joh 15,15 20–21 1Kor 1,30 22 Röm 6,18 22–23 Vgl. Joh 14,6 25 Vgl. Joh 14,23 32–34 Joh 15,15 39–2 Mt 25,21.23

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und weil du über Weniges treu gewesen bist, so will ich dich über Vieles sezen“. Er ist aber doch ein Knecht gewesen, wenn er nicht gewußt hat, was sein Herr thut, wenn er nicht eingedrungen ist in den innersten Sinn seines Willens, wenn er nicht den Zusammenhang und die gemeinsame Abzwekung aller seiner Gebote vor sich und in sich gehabt hat. Der Knecht nun weiß also nicht, was sein Herr thut. Wir werden wohl nicht leugnen können, | daß dies die Stufe sei, auf welcher ein großer Theil der Menschen steht, und über welche wir uns niemals ganz erheben können. Wir haben den Willen Gottes und unseres Erlösers einmal in unserem Herzen geschrieben, und finden ihn erklärt und erläutert in den Worten der heiligen Schrift, und jeder getreue Knecht der ist darauf bedacht, den Willen des Herrn zu erfüllen, sich zu prüfen nach seinen Gesezen, und überall, was ihm vorhanden kommt, zu thun als den heiligen Willen seines Herrn zu vollführen. Aber wundern wir uns nicht oft über das, was wir als den Willen Gottes erkennen, und finden nicht nur seine | Rathschläge in den Führungen der Welt, sondern auch seine Gebote und seine Foderungen an das menschliche Herz dunkel und unerforschlich. Das ist der Knecht, der nicht weiß, was sein Herr thut, und freilich ist der Gehorsam des Knechtes nur um desto lobenswürdiger und preiswürdiger, weil ihm die Beweggründe fehlten, die aus der vollkommnen Einsicht in den Willen seines Herrn entstehen müssen. Eben daher kommt es, daß in diesem Zustande der Wille Gottes dem Menschen nicht anders erscheint und kund ist als unter der Form des Gesezes. Ganz anders aber ist das, was der Erlöser von seinen Jüngern sagt, indem er zu ihnen spricht: ihr seid | nun nicht mehr Knechte, ich habe euch alles kund gethan, was mir mein Vater gegeben. Dem Sohne aber hat der Vater kein Gesez gegeben, sondern, wie der Herr selbst sagt, er hat mir seine Werke gezeigt, und wird mir immer größere und herrlichere zeigen als diese. Das ist die Kenntniß von dem innersten Wesen und Wirken Gottes, die so und unmittelbar nur der Sohn Gottes allein hat. Und überall um diese zu haben auf eine lebendige Weise, dazu gehört eine Gleichheit und Ähnlichkeit. Je fremder etwas uns ist, sei es daher weil es tief unter uns steht, oder deshalb, weil es hoch über uns erhaben ist, | um desto minder verstehen wir es. Die klare Einsicht, das bestimmte Wissen, das in sich Nachbilden des Innersten von dem, was in dem Andern vorgeht, das hat nur der, der ihm gleich ist. Und so konnte nur der Sohn Gottes unmittelbar von sich sagen, daß Gott ihm seine Werke zeige, und daß er sie verstehe, daß er und der Vater Eins seien, denn das Einssein ist hernach auch die natürliche und mittelbare Folge von der Einsicht, und der wahren Erkenntniß des Guten und Vortrefflichen. Je mehr wir dies einsehen, je mehr wir in seinen 10 erläutert] so SAr 100, Bl. 89r; Textzeuge: ertrauter 24–25 Joh 15,15

26–28.36 Vgl. Joh 5,20

37 seien] sei

37 Joh 10,30

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Zusammenhang eindringen, desto mehr werden wir mit demselben Eins. So war auch in dem Erlöser die Erkenntniß Gottes und seine gänzliche Uebereinstimmung zwischen ihm | und seinem Vater Eins und dasselbige. Er aber ist der Abglanz des göttlichen Wesens, und das Ebenbild seiner Herrlichkeit, und was ihm der Vater gegeben hat, das hat er uns kund gethan. Können wir nicht ohne ihn zum Vater kommen, so können wir doch durch ihn zu ihm kommen, wie er es selbst verheißen hat, und so theilt sich dann diese Einsicht in den Willen und in das Wesen Gottes, diese innige Uebereinstimmung unseres eigenen Wesens mit Gott, dem Urquell des Lichtes und alles Guten, sie theilt sich durch den Erlöser uns mit, und wie in ihm die Erkenntniß Gottes und die Uebereinstimmung mit ihm Eins war, so auch wenn die Erkenntniß Gottes | durch ihn und durch sein Wort in uns übergegangen ist, so sollen wir dann auch ganz Eins sein mit ihm und mit unserem himmlischen Vater, auf dieselbe Weise von selbst aus dem Innern unseres Herzens heraus handeln – wie denn auch das nichts anders heißen kann den Geist Khristi haben, und von dem Geiste Khristi getrieben werden – wie der aus dem Innersten seines Herzens und Gemüths handelte in vollkommner Uebereinstimmung mit Gott. Und das ist der große und herrliche Beruf, den der Erlöser ausdrükt in den Worten: „so sage ich denn, daß ihr nicht mehr Knechte, nicht mehr solche seid, die nicht wissen, was ihr Herr thut, und denen er eben deshalb alles geben | muß als Gebot und als Gesez; sondern ihr seid meine Freunde, weil ich euch alles offenbart habe, was mir der Vater gezeigt hat“. Freunde der Gerechtigkeit, nicht Knechte und Diener, Freunde Gottes und des Erlösers, nicht Knechte und Diener; solche sind es, von denen der Apostel sagt, „wider sie ist kein Gesez, denn sie sind ihnen selbst ein Gesez“. Aus der freien kindlichen Liebe, aus der ungestörten Uebereinstimmung des innersten Sinnes und Gemüthes quillt ihnen alles hervor, was den göttlichen Willen erfüllt ohne daß er ihnen als Gesez vorgeschwebt hat; sondern sie selbst sind solche, an denen man das Maaß der Gerechtigkeit erkennen kann, und deren ganzes Leben und | Handeln das Gesez derselben ausdrükt. Ja das, m. g. F., das ist nicht die menschliche Weise von der Sache zu reden, sondern die göttliche: so redet der Erlöser zu seinen Jüngern in dem innigsten Gefühl seiner Einheit mit seinem Vater, und in dem innigsten Gefühl seiner erlösenden, seiner befreienden, seiner heiligenden Kraft und Gewalt. Aber der Apostel dessen wohl kundig, wie er denn selbst die Fülle khristlicher Einsicht und Weisheit unmittelbar von dem Herrn empfangen hatte, der Apostel stimmt diese Rede 1 werden wir] werden 4–5 Hebr 1,3 5–6.19–23 Vgl. Joh 15,15 6 Vgl. Joh 14,6 13–14 Vgl. Joh 17,21–22 25–26 Vgl. Röm 2,14

6–7 Vgl. Joh 6,65

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nicht an; sondern, indem er die Khristen ermuntern will, wie sie denn schon dazu sich bereit erklärt hatten, indem sie den Glauben an den | Sohn Gottes annahmen, den Weg der Sünde zu verlassen, und den Weg der Gerechtigkeit zu wandeln, redet er menschlicher Weise davon, sie erinnernd einer Zeit, wo sie Knechte der Sünde gewesen wären, und ihre Glieder begeben hätten zum Dienste derselben, und nun sie auffordernd nicht mit jener herrlichen und wahrhaft göttlichen Rede Freunde Gottes zu werden, sondern ihnen vorhaltend das unmittelbare und nähere Ziel, wovon er ihnen aber zu verstehen giebt daß es die Herrlichkeit, die an ihnen offenbart werden soll, nicht ganz ausdrüke, und eine menschliche Rede nur sei, indem er ihnen sagt: „so werdet nun Diener der Gerechtigkeit | und Knechte Gottes“. II. So laßt uns denn zweitens mit einander überlegen, was ist denn das für eine Schwachheit des Fleisches, um derentwillen der Apostel über diese Sache nur die menschliche Rede anstimmt, die wir von ihm vernommen haben. Wir können die Antwort auf diese Frage wohl zunächst und unmittelbar hernehmen aus den Worten des Apostels selbst. Denn wenn es das Herrlichste ist, was der Herr seinen Jüngern verheißt, und ihnen schon als etwas Gegenwärtiges zuspricht, daß sie seine und auch seines Vaters Freunde sein sollen: so ist wohl auch das Tiefste und das Niedrigste dies, wenn der Mensch | in seinem früheren Zustande nicht etwa nur ein Knecht der Sünde wäre, sondern auch ein Freund derselben. Aber auch hier hält sich der Apostel in den Gränzen der menschlichen Rede, und wirft das nicht den Khristen vor aus der früheren Zeit ihres Lebens, wie wohl es war ein Leben vielfach geneigter Sünde und mit Verfinsterung des Herzens, und zur Abgötterei des Willens und des Verstandes: so sagt er dennoch nicht vor ihnen, sie wären Freunde der Sünde gewesen, sondern nur Knechte. Und wir wollen nicht denken, m. g. F., daß diese Seite der Sache nicht etwa nur eine menschliche Rede ist, | die unvollkommen das ausdrükt, was gesagt werden soll; sondern daß dies die reine Wahrheit ist. Wie tief der Mensch auch herabsinkt in die Gemeinschaft der Sünde, nimmer ist er doch ihr Freund, sondern er ist nur ihr Knecht; denn wüßte er, was sie thut, so würde er in der Gemeinschaft derselben nicht leben, weil er wüßte, daß sie nichts anderes will und sinnt und begehrt, als sein eigenes Verderben. Wenn er in diesem Dienste hingeht, von welchem der Apostel sagt, „was hattet ihr nun da für Frucht, welcher ihr euch jezt schämet, denn das Ende derselben ist der Tod“: so ist es, Gott sei Dank, | gewiß, daß dies der Mensch zu der Zeit, wo er in dem Dienste der Sünde lebt, nicht weiß. Wenn er also nicht weiß, was sie thut, so ist er auch nicht ihr Freund, sondern nur ihr Knecht. Und 15 derentwillen] deretwillen

34 nichts] nicht

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anders können wir es nicht sagen, tiefer kann der Mensch nicht sinken, so sehr kann den, der die lebendige Seele durch den Odem des göttlichen Worts empfangen hat, eben die Kraft dieses göttlichen Odems nicht verlassen, daß er im wahren Sinne des Wortes der Sünde Freund sein sollte. Wie frevelhaft auch oft die Menschen scherzen über die Früchte der Sünde und über alles, worüber sie selbst von andern sagen und glau|ben, daß es aus derselben hervorgehe: das ist ihnen in dem ganzen Umfange des Worts nicht deutlich, was der Apostel sagt, daß das Ende der Sünde der Tod ist, daß alles Leben, was das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht, durch die Gewalt der Sünde verschwindet, daß, indem sich der Mensch ihrem Dienste und ihrer Gemeinschaft hingiebt, er sich selbst verliert; sondern darüber täuschen sich die Menschen, und wissen nicht, was die Sünde thut, und wenn ihnen das Gesez derselben, dem sie folgen, nicht hart dünkt, wenn auch ihre süße Lokung sie verführt, indem sie oft glauben, indem sie ihr folgen, ihre eigenen Wünsche und | ihren eigenen Willen zu vollziehen: so sind sie doch immer in dem Falle, nicht zu wissen, was sie thun. Und was der Erlöser, indem er seine Feinde in seinen lezten Worten vor Augen hat, bittend von seinem Vater erfleht: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie thun“; das gilt von allen Menschen, die in der Gemeinschaft der Sünde leben, sie wissen nicht, was sie thut, sie wissen nicht, was diese, ihr Herr, in ihren Gliedern ihnen gebietet, sie wissen nicht, zu welchem Ende sie führt, und deshalb sind sie Knechte derselben. Wohlan, wenn nun der Mensch nie so tief sinken kann, ein Freund der Sünde zu | sein, sondern nur ihr Knecht, wie sollen wir hoffen auf der andern Seite uns so hoch zu erheben, daß wir nicht nöthig hätten Diener Gottes zu sein, sondern daß, weil wir seine Freunde sind[,] der Wille Gottes von selbst aus unserem eigenen Herzen hervorginge. Laßt uns, m. g. F., zurüksehen auf die Zeit, wo der Herr zu seinen Jüngern jene denkwürdigen und herrlichen Worte redete. Es war kurz vor seinem Leiden, wo er ihnen noch das tiefste Geheimniß seiner Sendung und ihres Erfolges enthüllte, wo er ihre Herzen aufzuregen und zu stärken suchte durch die Mittheilung des Herrlichsten und Erhabensten, was sein Vater ihm | gezeigt hatte. Aber es wechselte das Gefühl der Liebe und eben dieses herrliche Bewußtsein, sie zu der innigsten Verbindung mit Gott geführt zu haben, es wechselte in seiner Seele mit dem dunklen Gefühl, welches ihn ahnen ließ die Schwachheit ihrer Seele, und so sagte er zu dem Apostel Petrus, als dieser den ersten Ausbruch der Wehmuth des Erlösers, in welcher er sprach: „in dieser Nacht werdet ihr euch an mir ärgern, denn es kommt die Stunde, daß sie den Hirten der Heerde schlagen werden, und daß ihr zerstreut werdet, ein jeglicher in das Seine, aber ich bin nicht allein, denn der Vater | ist bei mir,“ nachdem diesen Ausbruch der Wehmuth des Herrn der Apostel zurükgeschlagen hatte durch die theure 18–19 Lk 23,34

20–21 Vgl. Röm 7,23

37–40 Vgl. Mt 26,31; Joh 16,32

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Versicherung, wenn es auch alle thäten, so wolle er doch sich nimmer mehr an ihm ärgern, sondern er sei bereit mit ihm in den Tod zu gehen; da sagte der Erlöser zu ihm: du wollest mit mir in den Tod gehen, wahrlich ich sage dir, der Hahn wird nicht das Ende der Nacht, und den Anbruch der Morgenröthe verkündigen, so wirst du mich dreimal verleugnen. Was war es wohl anders, m. g. F., als eben das volle, kräftige Bewußtsein des Apostels, daß er ein Freund seines Herrn und Meisters sei auf Leben | und Tod, ein Bewußtsein, welches er auch in der Folge durch seinen ganzen Dienst treu gelöst hat, was war es anders als dies, was ihn antrieb, jene Versicherung zu stellen und jenes Gelübde von sich zu geben. Aber ohnerachtet von diesem Bewußtsein erfüllt, wiewohl gewarnt von dem Erlöser, ward doch das Wort des Herrn an ihm wahr. Und wenn wir gleich, was ihm in jener Nacht begegnete, nicht ansehen können als einen völligen Abfall seines Herzens von ihm: so war es doch eine starke Ankündigung der Schwachheit seiner Seele, um derentwillen der Apostel sagt, er müsse mensch|lich reden, er müsse den Christen das höchste Ziel, Freunde Gottes zu werden, fern halten, und sie bei dem halten, daß sie Knechte Gottes würden, wie vorher Knechte der Sünde. Hätte der Herr damals, anstatt der Wehmuth seines Herzens Luft zu machen durch eine kräftige Rede, hätte er da seinem Jünger ein bestimmtes Gebot gegeben, was er thun sollte und vermeiden in dieser Nacht, wir werden es alle sagen: dann würde er wahrscheinlich nicht gefallen sein, früher würde ihm das Gebot eingefallen sein als die Rede des Herrn. Und das, m. g. F., das ist die Schwachheit der Seele, daß, wenn wir uns in diesem | Leben, wo wir niemals ablegen die Schwachheit der menschlichen Natur, wo das Gefühl des menschlichen Verderbens uns immer begleitet, wenn wir uns frei überlassen dem Gefühl der Herrlichkeit unseres hohen Berufs, Freunde zu sein Gottes und des Erlösers: so gerathen wir in der Schwachheit des Fleisches gar zu leicht in die Sicherheit, die wenn auch nur ein so vorübergehender Fall, wie der des Apostels, nur zu leicht zur Untreue gegen den Erlöser, und zum Abfall von dem Bekenntnisse seines Namens führt. Ableugnen wollen wir ihn uns nicht jenen hohen Beruf, denn der Herr hat ihn uns gegeben, was er damals zu seinen | Jüngern sagte, das sagt er zu uns allen, denn in seinem lezten Gebet stellt er gleich die Jünger, die es damals waren, und die, welche durch ihr Wort an seinen Namen glauben würden; was er zu ihnen gesagt hat, das hat er auch zu uns gesagt. Aber laßt uns mit seinem Jünger Johannes sprechen, „es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden,” die Herrlichkeit der Kinder Gottes in der vollkommenen Freiheit, in der reinen Freundschaft des Her1 nimmer] immer 3–5 Vgl. Mt 26,33; Mk 14,30; Lk 22,34; Joh 13,38 37 1Joh 3,2

33–35 Vgl. Joh 17,20

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Am 5. August 1821 nachmittags

zens mit dem himmlischen Vater und mit dem Erlöser, wir ahnden sie, es giebt Augenblike der Reinheit des Herzens, wo es sich ganz getrieben fühlt von dem | göttlichen Geist, wo das Haupt, welches seinen geistigen Leib von oben regiert, auf eine vorzügliche Weise uns nahe und in uns wirksam ist: da wissen wir, was unser Herr thut, da fühlt das Herz auf eine ausgezeichnete Weise das Wesen und Wirken Gottes in sich selbst, da mögen wir sagen: wir sind Freunde Gottes und des Herrn. Aber diese Augenblike, sie können hienieden nicht unser ganzes Leben sein, für dieses wollen wir uns halten an die menschliche Rede des Apostels, und zufrieden sein, wenn wir nur treue und gehorsame, gewärtige und fleißige Diener und Knechte sind Gottes und des Herrn. Und wenn | sich das Herz auf eine außerordentliche Weise in Liebe zu Gott und zu dem Erlöser aufschließt, wenn das göttliche Leben in uns größer werden will und herrlicher als es der Zustand des Menschen auf dieser Erde für die Dauer gestattet: o dann laßt uns das warnende Beispiel jenes Apostels uns vorhalten, dann laßt uns fühlen, wie nöthig es ist, daß wir für die Augenblike der Schwachheit und der Gebrechlichkeit, daß wir für die Augenblike der Versuchungen und der Lockungen der Sünde, unter denen wir noch immer wandeln, und mit denen sie uns zurükziehen möchte in den verlassenen Dienst, wie herrlich es ist und nothwendig | daß wir für diese Fälle das Gesez haben, dem wir zu folgen haben, daß der Wille des Herrn uns ausgesprochen ist, den wir zu erfüllen haben, und uns dann für jeden Augenblik der Schwachheit darauf zurükbeziehen. Aber das wird uns nicht fehlen, von der Freundschaft des Herrn und von dieser herrlichen Verheißung, in welche er uns aufgenommen hat, daß er uns eben so, wie er seinem Apostel that, warnen wird, wenn eine Stunde der Schwachheit kommt. Wenn wir dann unsere Zuflucht nehmen zu seinem Wort, wenn wir dann thun, was jener Apostel versäumte zu thun, daß er in Demuth | und Bescheidenheit den Herrn gefragt hatte: Herr wie mag ich es machen, daß das Wort nicht wahr wird, das du geredet hast, dann werden wir gestärkt davon gehen, so daß wir in den Dienst der Sünde nicht zurükfallen. Und so zwischen dem Dienst der Gerechtigkeit, und zwischen der Freundschaft mit dem Erlöser hindurchgehend, in jenem immer treuer werdend, dieser uns immer mehr nähernd, werden wir uns bereiten auf die Zeit, in welcher ganz wird offenbar werden die Herrlichkeit der Kinder Gottes. Dann ist nicht mehr die Rede von dem Dienst des Gesezes, sondern wir sind hindurchgedrungen zur Freiheit der Kinder | Gottes, dann nimmt uns der Erlöser in die geistige Gemeinschaft mit seinem Vater auf, wie er selbst gesagt hat, Herr ich will, daß wo ich bin auch die seien, die du mir gegeben hast. Möge er sich dann sowohl als der Herr, dessen Knechte zu sein unser größter Ruhm ist, und dessen Gesez zu erfüllen uns sein Geist immer kräftiger antreibt, als auch als der treue und liebevolle Freund der Seele, der uns 36 Röm 8,21

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immer tiefer einweihen will in das göttliche Geheimniß, und uns immer mehr aufschließen die Gemeinschaft des Herzes mit unserem himmlischen Vater, möge er sich in beiden immer mehr ver|herrlichen an uns und an allen, die seinen Namen lieb haben, hier und in Ewigkeit. Amen.

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8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,11–13 Nachschrift; SAr 79, Bl. 109v–135r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 222–237 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 101, Bl. 97v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 89r–89v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 177r–181v; Woltersdorff Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am achten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. Matthäi 10, 11–13. Wo ihr aber in eine Stadt oder Markt gehet, da erkundiget euch, ob jemand darinnen sei, der es werth ist, und bei demselben bleibet, bis ihr von dannen ziehet. Wo ihr aber in ein Haus gehet, so grüßet dasselbe, und so es dasselbige Haus werth ist, wird euer Friede auf sie kommen, ist es aber nicht werth, so wird sich euer Friede wieder zu euch wenden. Diese Worte, m. a. F., sind aus einer Rede unseres Erlösers an seine Jünger, mit der er sie noch während er selbst sein Amt, das herannahende Reich Gottes zu verkündigen, | verrichtete, aussandte, um dieselbe Predigt, wie er, vor den Ohren des Volkes zu wiederholen. Er beginnt diese Rede, und das Geschäft der Aussendung seiner Jünger mit der Betrachtung: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige“, einer Betrachtung, welche auf der einen Seite freilich etwas sehr Ermuthigendes für seine Jünger haben mußte, weil ihr Dienst an dem Worte Gottes ihnen um desto größer und wichtiger erscheinen mußte, auf der andern Seite sie aber auch erheblichen Zweifeln hingab, und mancherlei Besorgnisse in ihnen erregte. Denn eben 2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 8. S. n. Trin. 1821. 9–12 Vgl. Mt 10,5–42

13–14 Mt 9,37; Lk 10,2

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weil die Ernte so groß war und der Arbeiter | so wenige, wohin sollten sie zuerst sich wenden und wie sollten sie zu einer festen Ueberzeugung darüber kommen, daß, wenn sie schienen an dem einen Orte vergeblich zu arbeiten, sie größere Dinge hätten ausrichten können an dem andern? Und wenn der Arbeiter so wenige waren und die Ernte so groß, wie konnte, nachdem der Erlöser selbst eine so geraume Zeit vor den Ohren des Volks geredet hatte und den Saamen des göttlichen Wortes ausgestreut, wie konnte dies Verhältniß noch immer dasselbe sein, wenn es nicht so sehr fehlte an Empfänglichkeit eben für das Wort Gottes, und wie | sollten sie sich denn gerade bei der Größe der Ernte beruhigen über jedes Mißlingen, das ihnen aufstoßen konnte. Und, m. g. F., ist es jezt anders oder ist es noch dasselbe? denn die Betrachtung des Erlösers über die Ernte und über die Arbeiter, die geht uns alle an; wir alle theilen, wiewol in verschiedenem Maaße, den Beruf, zu welchem der Herr seine Jünger aussandte, mit Wort und That sollen wir alle verkündigen, daß das Reich Gottes nahe herbeigekommen, daß es mitten in das menschliche Leben eingetreten sei; aber wir mögen nun sehen auf das Verhältniß der Khristenheit zu | dem ganzen menschlichen Geschlecht, oder wir mögen unseren Blik beschränken auf dasjenige, was uns näher liegt, und in Beziehung worauf allein wir unser Betragen einzurichten haben, nämlich auf das Verhältniß zwischen dem äußern Umfang der khristlichen Kirche, und zwischen der Zahl derjenigen, die in der That und Wahrheit der unsichtbaren Gemeine des Herrn angehören, und von der Kraft seines Wortes durchdrungen sind, in beider Hinsicht werden wir sagen müssen, es ist noch immer dasselbe, die Ernte ist groß, und der Arbeiter sind wenige. So befinden wir uns denn auch in demselben Falle, | wie die Jünger unseres Herrn, daß wir in Beziehung hierauf ein kräftiges und schönes Wort seiner Weisheit bedürfen, und das finden wir in unserem Texte, in der zwiefachen Hinsicht, die ich schon angedeutet habe. Denn einmal giebt der Erlöser darin seinen Jüngern eine Unterweisung, an wen vorzüglich sie das Wort ihrer Verkündigung richten sollen, und zweitens giebt er ihnen darin eine Beruhigung über alles Mißlingen, was ihnen in dem großen Geschäft der Verkündigung begegnen könne. Laßt uns dies beides in unserer heutigen Betrachtung in khristlicher Andacht und Aufmerksamkeit näher | mit einander erwägen. I. Das Erste also, m. g. F., das Wort der Unterweisung unseres Herrn, an wen sich seine Jünger mit dem Amt der Verkündigung des Reiches Gottes vorzüglich wenden sollten, finden wir in unserem Text so ausgedrükt: „wenn ihr aber in eine Stadt oder in einen Markt gehet, so erkundiget euch, ob jemand darin sei der es werth ist”. Was uns dabei zu erst auffallen wird, das 1.24–25 Mt 9,37; Lk 10,2

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ist eine Bedenklichkeit, die wir uns aus dem Wege zu räumen haben. Nämlich der Herr gibt seinen Jüngern zwar eine Anweisung „wenn ihr in eine Stadt oder in einen Markt gehet, so erkundiget euch, ob jemand | darin sei, der es werth sei”; aber von vornherein ihre Schritte zu leiten, ihnen eine bestimmte Anweisung zu geben, in welche Stadt und in welchen Fleken von dem Punkte aus, wo sie sich befänden, sie gehen sollten und welche hingegen liegen lassen, die ertheilt er ihnen nicht. Wie können wir anders glauben, als daß er vorausgesezt hat, daß in diesen ersten Anknüpfungen mit den Menschen die Jünger von selbst würden geleitet werden durch die Verhältnisse, die sich ihnen darboten. So war es gewiß, so finden wir es, wenn wir mit Aufmerksamkeit die Geschichten der Apostel | lesen, daß immer zunächst irgend eine im Leben sich von selbst ergebende Veranlassung die Jünger in ihren Bemühungen leitete, Aufforderungen von hier und dorther, Verbindungen mit andern Menschen, die sie nun selbst bald hier bald dorthin schikten. Und eben so, m. g. F., finden wir es auch in unserem Leben, es giebt nichts so Großes und so Wichtiges, woran nicht die äußern Umstände, in welche Gott einen jeden nach seiner Weisheit sezt, einen bedeutenden Antheil hätten ohne ihn so oder anders zu bestimmen. Und das, m. g. F., das kann wohl nicht anders als uns zu großem | Trost gereichen, denn grade in Beziehung auf den Anfang menschlicher Verhältnisse würden wir uns selbst am wenigsten rathen können, grade da sind wir am meisten kurzsichtig, weil der Gesichtskreis so weit und ausgedehnt ist, grade da würde uns die Wahl, die wir zu treffen hätten, sehr schwer werden. Aber so wie damals die Jünger des Herrn zuerst durch seine persönlichen Verhältnisse ihren nächsten Wirkungskreis angewiesen erhielten, und hernach auf dieselbige Weise – daß ich mich dieses Ausdruks bediene – während ihres Berufs auf Erden aus einer Hand in die andere gingen, von | einem Ort zum andern geleitet wurden größtentheils an dem Faden äußerer Verhältnisse: so ist es, und zwar zu unserem Troste, noch immer. Jeder Einzelne ist verflochten in das große geheimnisvolle Gewebe der göttlichen Weltregierung. Wie ihm diese Ort und Zeit, in der er das Licht der Welt erbliken soll, anweist: so werden ihm auch seine Verhältnisse zunächst bestimmt durch die Verbindungen, in welche ihn der Herr führt, durch den Einfluß der ganzen Entwiklung menschlicher Dinge auf den Ort, wo er sich befindet, auf das, was er in demselben erfährt. Welchen Kreisen von Menschen wir | zunächst zugeführt werden, um dort die uns allen von dem Herrn anvertraute Arbeit in seinem Weinberge zu verrichten, das ist selten oder gar nicht die Sache unserer Wahl, sondern es ist der göttlichen Fügung anheimgestellt. Aber wenn wir dann in einen bestimmten Kreis von Menschen eingetreten sind, wenn uns in dem Ganzen ein Wirkungskreis für 2 eine ... ihr in] Ergänzung aus SW II/10, S. 224 Textzeuge: den anderen

27 die andere] so SW II/10; S. 225;

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unsere khristlichen Bestrebungen eröffnet ist, auch dann ist dieser noch zu groß und zu weit als daß wir alles in demselben erfüllen könnten, sondern wir müssen irgend wo anknüpfen, und von da aus uns mit unseren Bemühungen weiter ver|breiten. Und das ist der Ort, wo es uns willkommen sein muß eine Anweisung unseres Herrn darüber zu vernehmen, an wen zunächst wir uns mit unserer khristlichen Liebe und mit unserem Eifer für die Sache des Evangeliums wenden sollen, wenn unser Beruf für die Welt im Ganzen oder für eine Zeit unseres Lebens bestimmt worden ist. So laßt uns denn hören; die Anweisung unseres Erlösers lautet: „wenn ihr in eine Stadt oder in einen Markt geht, so erkundiget euch, ob jemand darin sei, der es werth ist, daß ihr euch zunächst und unmittelbar an ihn anschließet.“ Wo, m. g. F., wo uns erkun|digen? was für einen Werth und was für eine Würdigkeit gibt es in Beziehung auf diese Mittheilung der unmittelbar geistigen Gaben? Darüber sagt der Erlöser nichts, und überläßt es dem reinen gottseligen Gefühl seiner Jünger, die Vorschrift sich weiter auszuführen. Fragen wir nun, wo mögen sie sich denn erkundigt haben, und wo sollten sie sich erkundigen? Ja was giebt es da andres als die allgemeine Stimme der Menschen, die öffentliche Meinung, das herrschende Urtheil, wie es sich über diesen oder jenen ausspricht. Denn freilich im Einzelnen irren die Menschen gar leicht, der eine | aus natürlicher Kurzsichtigkeit der andere aus leidenschaftlicher Eingenommenheit für oder wieder, und so giebt es der Ursachen mancherlei, die das Urtheil der Menschen über ihre Brüder bald zu ihrem Nachtheil bald zu ihrem Vortheil bestechen. Im Ganzen aber heben sich größtentheils, freilich in ruhigen Zeiten des Lebens mehr richtiger und genauer als in stürmischen und bewegten, diese Fehler der Einzelnen auf, und wenn wir die gemeinsamen Urtheile zusammenfassen, so werden wir wenigstens nicht vor unserem Gewissen schuldig sein, wenn wir, ehe wir selbst noch eine genaue Kennt|niß und ein eigenes Urtheil haben, uns danach richten. Und fragen wir: was es denn für eine Würdigkeit sei, und wie auch das richtigste öffentliche Urtheil von einem Menschen sagen könne, er sei werth der Gnadengaben Gottes? Darüber sagt uns nun freilich die Schrift zunächst, „sie sind allzumal Sünder, mangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollten,“ und keiner ist da, der da sagen könnte, er habe irgend etwas verdient, ehe ihm Gott etwas geschenkt und gegeben; sondern was einer aufweisen mag als sein Verdienst, das ist immer selbst schon wieder die Wirkung der göttliche Gnade, und nicht sein eigen. | Aber gibt es deswegen gar keinen Unterschied des Werthes und des Unwerthes? Wir können freilich nicht sagen, daß der Werth eines Menschen in dieser Hinsicht in etwas anderem bestehen könne als darin, daß der eine ein Verlangen hat nach der Erleuchtung durch die göttliche Gnade, daß er sich sehnt aus dem nichtigen Treiben dieser Welt in das Reich Gottes, welches allen 32–33 Röm 3,23

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verkündigt wird in Khristo Jesu, daß er in dem Gefühl seiner eigenen Schwachheit und Verderbtheit verlangt, nach einer hülfreichen Hand, die sich gegen ihn ausstrekt. Bei wem dies am meisten ist, der ist dann freilich am meisten werth, daß die Arbeiter | in dem Weinberge des Herrn ihn zum Gegenstand machen ihrer Sorgfalt und Pflege, ihrer Liebe und Treue. Aber noch etwas anderes, m. g. F., gibt es, was wir wohl nicht ganz übersehen dürfen. Nämlich die Jünger des Herrn, wo wir sie sehen das Reich Gottes verkündigen, wie wir ihre Reden aufgezeichnet haben in der Geschichte der Apostel: so berufen sie sich darin überall auf die alten Geschichten ihres Volkes, und deren höhere geistige Bedeutung, auf die Ahndungen und Weissagungen der früheren Diener Gottes unter demselben, und eine andere wirksamere Anknüpfung hatten sie nicht als diese, | um das Heil, welches nun der Welt in Khristo Jesu geworden war, so aus einander zu sezen, daß es dem Verstande und dem Herzen der Menschen einleuchtend und willkommen war. Und auch da giebt es einen nicht zu übersehenden Unterschied zwischen denen, die eben durch jenes Verlangen aufgeregt, sich eine Kunde erworben haben und eine Kenntniß von demjenigen, was mit dem Reiche Gottes zusammenhängt, und dessen Kenntniß das menschliche Gemüth schon auf die Verkündigung desselben vorbereitet hat. Diejenigen aber, die in einem dumpfen und trägen Sinne hingegangen sind, und sich um das, was ihnen so nahe liegt, | nicht bekümmert haben, die eben deshalb zur Verkündigung des Evangeliums auf die Kenntniß nicht mit bringen, die billig von ihnen gefordert werden kann, die sind es dann freilich auch weniger werth als die übrigen, daß die Diener des Evangeliums zu ihnen kommen, und ihnen den Weg des Heils zeigen. Und grade wenn wir darauf sehen, m. g. F., wie die Ernte so groß war, und der Arbeiter so wenige, müssten wir auch von der Weisheit dieser Ermahnung und Anweisung unseres Erlösers auf das innigste überzeugt werden. Denn es war ja um desto nothwendiger nicht einzelne Seelen für sich | allein zu gewinnen, sondern solche, die zugleich wieder einen wohlthätigen Einfluß auf andere ausüben konnten, solche an deren lebendiger Kraft Andere erstarken konnten im Glauben, und die bereit waren an dem göttlichen Feuer der Liebe in ihrer Seele Andere sich entzünden zu lassen. Das sind aber keine andern als jene Verlangenden, und diese Kundigen desjenigen, was nicht fern abliegt von der Verkündigung des Reiches Gottes. Und auch wir, m. g. F., nur wenn wir nach dieser Regel, die der Herr seinen Jüngern gegeben hat, jeder in dem Maaße, welches ihm verliehen ist, ein Zeugniß abzulegen, von dem, der uns | allen geworden ist zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung, nur in dem Maaße, als wir dieser Regel folgen, wird unsere Arbeit gesegnet werden können von dem Herrn. Aber gar viele unter den Khristen lassen sich grade in diesen ihren größten Bestrebungen von an26 Mt 9,37; Lk 10,2

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dern Regeln leiten, und sie mögen denn desto mehr dieses Wort des Erlösers zu Herzen nehmen. Der Herr selbst sagt bei einer Gelegenheit, wo er durchdrungen war von dem bisherigen eigentlichen Erfolg seiner wohlthätigen Bemühungen um die Seelen der Menschen: „ich danke dir Vater, daß du es verborgen hast | den Weisen und Klugen dieser Welt, und hast es geoffenbart den Unmündigen und denen, die für einfältig und thöricht gehalten werden von der Welt.“ Von diesen Worten des Erlösers ergriffen, glauben nicht wenige unter den Khristen, es seien nur diejenigen, die am wenigsten von der Welt geachtet werden, nur die, welche in den niedrigsten und dunkelsten Gegenden der menschlichen Gesellschaft sich angesiedelt haben, die empfänglich wären für die geistige Mittheilung der Schäze des Erlösers. Aber in jenem Gebet, m. g. F., spricht der Erlöser keine Regel aus, der er selbst gefolgt wäre, und das finden | wir auch nicht, denn er ging eben so gut, wenn ihn die Obersten des Volks zu sich luden, als er ging zu den Zöllnern und Sündern, und er lehrte eben so gut in den Schulen, wo er von den Gebildetsten seines Volks umgeben war, als in der Wüste, wo sich größtentheils die Hülfsbedürftigen und Armen um ihn versammelt hatten. Sondern in jenem Gebet preiset er die Weisheit Gottes über den Erfolg, den seine Verkündigung des Reiches Gottes unter den Menschen gehabt hatte. Aber beides ist, das dürfen wir nicht verkennen, beides ist weit von einander entfernt. Der Erfolg ist das, was der Herr überall | bestimmt, und was wir nicht befugt sind, im Voraus bestimmen zu wollen. Wir sollen uns von nichts anderem leiten lassen als von dieser Regel, die der Herr hier seinen Jüngern giebt. Wo einer ist, der da verlangt nach dem Worte Gottes, und der das gemeinschaftliche Zeugniß seiner Brüder wirklich hat bei dessen Verkündigung, wo einer ist, der da besizt die Kenntniß von der Lehre und von der Geschichte des Erlösers, dem soll sich unser Herz mit unseren Erfahrungen aufschließen, den sollen wir suchen ganz hineinzuziehen in die Gemeinschaft, von der er nicht fern ist durch die vorbereitende Gnade | Gottes. Aber wenn wir nur dem, was in der Welt verachtet ist, abgesehen von seinem innern Werth, uns hingeben, so thun wir dann ebenso unrecht, als wenn wir uns in geistiger Beziehung nur anschließen wollten an die Angesehenen dieser Welt, auf der einen Seite ist die eine, und auf der andern die andere Art geistiger Eitelkeit und geistigen Hochmuths. Aber eben so wenig sagt der Erlöser in den Worten unseres Textes „wenn ihr in eine Stadt oder in einen Markt gehet, so erkundiget euch, ob jemand darin sei, der schon Partei genommen hat für die Verkündigung des Reiches Gottes, sei es durch Jo|hannes, den Täufer, oder sei es durch mich selbst“, sondern rein nach dem auch hier von unabhängigen Werth der Menschen sollten sie sich erkundigen. Aber viele Khristen folgen auch darin der Regel des Erlösers nicht, sondern in den mancherlei Verschiedenheiten so wohl der 4–7 Vgl. Mt 11,25; Lk 10,21

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Meinungen in Sachen des Glaubens als auch der sittlichen Gefühle in Sachen des Lebens, wie wir sie unter den Khristen bald mehr bald weniger, aber immer gefunden haben, darnach richten sie sich, und fragen: wer wohl auf derselben Seite stehe, wo sie stehen, wer sich eben so ausdrüke über die hohen Wahrheiten des heiligen Glaubens, | wie sie es thun, wer seinem Leben unter den Menschen dieselbe Gestalt gebe, sei es eine strenge und ernste oder eine milde und freundliche, und immer nur an das Ähnliche, an das, was ihnen am nächsten ist, schließen sie sich an. Das ist aber nicht nach der Meinung unseres Erlösers, sondern wie in allen Dingen, in Beziehung auf welche die Khristen überall verschieden sind, der gemeinsame Wunsch aller der ist, den der Apostel in einem seiner Briefe so ausdrükt: „worin ihr aber noch verschieden denket, das wird euch der Herr offenbaren”; offenbart aber nicht anders als durch | Mund und durch menschliche Rede, er offenbart nicht anders, als durch die Stimme des göttlichen Geistes in dem Herzen und in dem Verstande der Gläubigen und Frommen; ist es uns also um die Wahrheit zu thun, wollen wir selbst zu einer richtigen Erkenntniß gelangen, und davon mittheilen nach unserem Vermögen, so sollen wir uns nicht ängstlich anschließen an diejenigen, welche eben so denken, wie wir, sondern auch unter denen, die mit unseren Ansichten und Gefühlen nicht übereinstimmen, fragen wer es werth sei, damit aus der gegenseitigen Mittheilung eine nähere, deutlichere und bestimmtere Offenbarung | dessen, was zum Heil der Seele wesentlich ist, hervorgehe. Das, m. g. F., das ist also die Regel, die der Herr damals seinen Jüngern gab, und die auch wir alle auf unserem gemeinschaftlichen Lebensgange anzuwenden haben. II. Und nun laßt uns auch zweitens sehen auf die Beruhigung, die der Erlöser seinen Jüngern giebt für den Fall, wo auch wenn sie seiner Regel gefolgt wären und das Wort ihrer Verkündigung unter denen gegründet hätten, die nach dem allgemeinen und öffentlichen Zeugniß es werth wären, ihre Bemühungen sich dennoch vergeb|lich bewiesen. Diese Beruhigung finden wir in den Worten: „wenn ihr aber in eine Stadt oder Markt gehet, so erkundiget euch, ob solche darin sind, die es werth sind, und sind sie es werth, so wird euer Friede auf sie kommen, sind sie es aber nicht werth, so wird sich euer Friede wieder zu euch wenden.“ Die beiden Aussprüche des Erlösers „wenn ihr in ein Haus gehet, so grüßet dasselbige“ und „wenn sie es werth sind, so wird euer Friede auf sie kommen“, stehen in einem näheren Zusammenhange, als uns die Worte unmittelbar angeben, weil nämlich | „Friede sei mit dir“, der gewöhnliche Gruß der damaligen Zeit unter dem Volke des Herrn war. Aber so könnte es scheinen, wenn wir mehr auf das Erste sehen, „wo ihr in ein Haus gehet, so grüßet dasselbige“, als knüpfte 12–13 Phil 3,15

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sich der Trost, den der Erlöser hier geben will, an etwas gar Unbedeutendes an. Aber der Herr selbst, als er einst in den Tagen seiner Auferstehung zu den versammelten Jüngern eintrat, und sie auf die gewöhnliche Weise begrüßte mit den Worten: „Friede sei mit euch”, fügt er hinzu „nicht gebe ich euch den Frieden, den die Welt giebt, meinen Frieden gebe ich euch”. Damit macht er uns | aufmerksam darauf, wie auch das scheinbar Unbedeutende in seinen Worten einen tieferen Sinn und eine höhere Bedeutung gewinnt, und den soll es auch für uns alle haben. Was in dem gewöhnlichen Betragen der Menschen gegeneinander nichts anderes ist, als äußere Sitte, bei der oft eben so wenig gedacht wird, als dadurch empfangen und geleistet werden kann, das ist etwas Bedeutendes in dem Leben der Jünger unseres Herrn, eben so wie es bedeutend war in seinem Munde. Jede freundliche Annäherung, mit der wir uns diesem oder jenem unter unseren Brüdern zuwenden, sie ist eine Wirkung von der Liebe, | mit der wir alle umfassen möchten als solche, die ebenfalls erlöst sind durch das theuere Blut unseres Herrn. Der Gruß der Freundlichkeit ist nichts als ein Zeichen, welches die von dem göttlichen Heil bewegte Seele der andern Seele giebt, daß sie begehre, sich ihr zu nahen, und die Segnungen der göttlichen Weisheit und Liebe mit zu empfangen. Nicht auf eine unüberlegte gehaltlose Weise sollen wir uns einer dem Andern nahen, sondern wenn wir ein Haus begrüßen, so sollen wir mit dem Gruß einen Frieden bringen, welcher, wenn sie es werth sind, auf ihnen ruhen | wird. Ein ernster, freundlicher Wille, gefällig zu sein und dienstfertig durch Rath und That, mitzutheilen nicht bloß von den äußern, sondern auch von den höhern geistigen Gaben Gottes, dieses Bestreben soll unser ganzes Leben leiten, und demselben eine höhere Bedeutung geben, damit auch wir, wie der Erlöser, sagen können: nicht geben wir euch Frieden, wie die Welt ihn giebt, sondern seinen Frieden möchten wir gern bringen. Und welch ein herrlicher Trost in den Worten des Herrn, „wenn es nun einer werth ist, so wird euer Friede auf ihn kommen“. Was sagt er Großes und Herrliches mit diesen | Worten? Nichts anderes als dies und nichts geringeres: wenn wir uns mit einem ihm wohlgefälligen und dem seinigen ähnlichen Sinn zu denen am meisten wenden, die es werth sind, dann werden unsere Bemühungen seinen Frieden mitzutheilen, den Frieden der Erlösung unter den Menschen, wenn auch nicht zu gründen, wenigstens zu befestigen, diese werden dann nicht vergeblich sein. Wir mögen wol sagen, m. g. F., daß die Erfahrung diese Worte des Herrn nicht scheine zu bestätigen. Wie viele Menschen, und zwar solche, die es wohl scheinen werth zu sein, wandeln in der Nähe | derer, die sich der göttlichen Gnade in ihrem Herzen erfreuen, und die Arbeiter sind in dem Weinberge des Herrn, wie viele hörten damals mit Begierde und Verlangen den Erlöser selbst, und bekannten eben als solche, die es werth 4 Lk 24,36; Joh 20,19.21.26

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waren, daß er gewaltig lehre und nicht wie die Schriftgelehrten, und doch waren und blieben sie nicht beständig, sondern wenn der Herr tiefer eindrang in die menschliche Seele, wenn er sie gewaltig anfaßte und rührte; dann war es ihnen eine harte Rede und sie gingen hinter sich. Aber was wäre denn, der Glaube, m. g. F., wenn wir nicht den Worten des Herrn | mehr trauen wollten als allem äußern Schein? Glauben wir, und wie oft trösten wir uns nicht mit diesem Glauben in den vorübergehenden Trübsalen dieses Lebens, die gar nicht verdienen, daß man ihrer erwähne, wenn von der Herrlichkeit des Reiches Gottes die Rede ist; glauben wir, daß der Herr die Thränen und die Seufzer der Seinigen zählt, und daß keiner, auch nicht der leiseste in der Luft verhallt – und dem Trost sollten wir nicht glauben, daß kein Wort des Lebens verloren gehe, daß kein Wort des Friedens, kein | Wort der Ermahnung zu dem Wege des Herrn, welches aus einem seinem Dienst ergebenen Gemüthe, in einen solchen, der der göttlichen Gabe nicht unwerth ist, übergeht, daß keins davon vergeblich sein kann. Wir sollen es ihm glauben, dem Hirten und Bischof unserer Seelen, dem, der von oben herab seine ganze Gemeine regiert, und den Geist in sie gesandt hat als ihr innerstes Leben, der in alle Wahrheit leitet und alles dessen freundlich erinnert, was er selbst gehört hat. So ist es auch die Erinnerung des göttlichen Geistes, die uns dieses theure Wort seines Mundes aufbehalten hat, | und mit inniger Freude und großer Zuversicht sollen wir es annehmen. Freilich wohl mag es oft scheinen, als ob dieses oder jenes vergeblich gewesen sei. Aber wenn wir bedenken, wie oft im Großen und im Kleinen, im Ganzen und im Einzelnen im Reiche Gottes uns erscheinen schnelle, glükliche Wirkungen, die mit dem, was sie zuerst veranlaßt hat, in keinem Verhältniß zu stehen scheinen: o so laßt uns zurükdenken, wie manches Wort des Friedens mag da ergangen sein, wie manche Erinnerung an die ewigen Gebote des Herrn, wie manche Anfassung des Gemüths, die vergeblich zu | sein schien, als das Wort des Herrn aus seinem eigenen Munde zu den Menschen drang. Aber jezt, jezt erwächst eine reichliche Frucht, jezt grade erst erweist sich die Kraft des göttlichen Wortes, jezt auf einmal gedeiht zur Reife, was lange verloren zu sein schien. Aber noch herrlicher ist das Zweite, was der Erlöser sagt, „wenn sie es aber nicht werth sind, so wird euer Friede sich wieder zu euch wenden“. Herrlicher freilich, sage ich, nicht in Beziehung auf den Erfolg, aber wohl in Beziehung auf das, was ein ängstliches und besorgtes Gemüth beschäftigt. Denn freilich ist es | schön, festzuhalten überall jenen Glauben, daß der Gruß des Friedens im Namen des Herrn nimmer vergeblich sein kann bei denen, die dessen werth sind; und wenn er uns vergeblich zu sein scheint, wie leicht glauben wir dann nicht: so sind sie es doch nicht werth gewesen, 1 Vgl. Mt 7,29 4 Vgl. Joh 6,60.66 17–18 Vgl. Joh 16,13

9–10 Vgl. Ps 56,9

16 Vgl. 1Petr 2,25

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ohnerachtet sie es schienen, ohnerachtet des Zeugnisses, welches alle ihnen gaben. Sowohl für diese Fälle, als für jene, wo wir unrecht geleitet sind und unsere Bemühungen vergeblich, ist nun der zweite Trost des Erlösers, „so sie es aber nicht werth sind, so wird sich euer Friede wieder zu euch wenden“. Was heißt das anders, m. | g. F., als in unserem eigenen Herzen werden wir dann den Segen erfahren, den der Andere nicht erfahren kann und nicht will, zu uns selbst wird die Kraft des göttlichen Wortes zurükkehren und tiefer in unserer Seele wurzeln[;] in unserer Seele wird sie tiefer wurzeln, uns weiter bringen in der khristlichen Vollkommenheit, und stärker machen in jeder khristlichen Tugend. O das, m. g. F., das ist es, was wir freilich auch schon in anderen Gebieten des menschlichen Lebens bemerken; auch da ist es wahr, daß alles Wohlgemeinte und in sich selbst Tüchtige, wenn es seinen Erfolg | in der Welt zu verfehlen scheint, doch dem wenigstens zum Vortheil gereicht und zum Segen und zur Förderung im Guten, von dem es ausging um Früchte zu bringen, die es nicht bringen kann. Aber nirgends so wahr, als in den Angelegenheiten des Glaubens und der Frömmigkeit, denn was ist der Gruß des Friedens, den wir den Menschen bringen, was ist das Wort der Verkündigung, welches wir zu ihnen reden, als nur die Kraft des Erlösers in unserem eigenen Gemüth? Wie können wir anders, als uns immer genauer mit demselben beschäftigen? So wie wir hinaustreten mit unseren guten Wünschen | in das Leben der Menschen, um ihnen den Frieden der Erlösung zu bringen, so müssen wir erst in dem Innern unseres Gemüths das Bild des Erlösers aufgefaßt haben, damit wir es als das seinige geben, und nicht als das unsrige. Und dieses Vertiefen in den Erlöser, dieses immer Zurükgehen zu seinem heiligen Worte, dieses immer mehr Befestigen seines Bildes in unserer Seele: o das kann nicht unfruchtbar bleiben, denn der Friede, den wir vergeblich angeboten haben, der muß wieder zu uns kommen. So finden wir die Apostel, und das Zeugniß geben sie dem Herrn, daß nichts in der | Welt sie ungeduldig gemacht habe in ihrem Beruf, sondern daß sie mitten unter den Wiederwärtigkeiten, mitten unter dem Wiederstand und der Gleichgültigkeit der Welt, mitten unter den Schwachheiten nie lässig wurden in ihrem Dienst, und nie aufhörten an Gottes Statt die Menschen zu bitten, „laßt euch versöhnen mit Gott.“ Und diese Erfahrung haben immer diejenigen gemacht, die im wahren Glauben an unsern Erlöser gestrebt haben, sein Reich auf Erden zu bauen, und die werden wir alle noch immer machen wenn wir, das Herz voll von heiliger Liebe zur Wahrheit | und zu dem, durch dessen unendliche Liebe wir erlöst sind, in seinem Weinberge zu arbeiten uns berufen fühlen. Was uns äußerlich nicht gelingt davon werden wir den Segen innerlich erfahren. Freilich sind wir in dieser großen Beziehung in einer andern Lage als die Apostel des Herrn es waren; sie sollten die Gemeine des Herrn erst gründen, sie sollten die Men33 2Kor 5,20

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schen zur Buße rufen und ihnen dann die Vergebung der Sünden durch den Glauben an Jesum Khristum, der von Gott in die Welt gesandt ist, verkündigen; das ist unseres Amtes nicht, sondern wir haben alle, unter denen | wir das Reich Gottes fördern sollen, anzusehen als solche, an die das Wort der Verkündigung schon ergangen ist, und an die es auch gewiß nicht ohne Segen ergangen ist; wir haben kein Recht diejenigen, welche nicht nur durch die Taufe aufgenommen sind in den Umfang der Gemeine des Herrn, sondern an die schon von ihrer Jugend auf ergangen ist das Wort der Lehre über den ganzen Umfang des Glaubens, der sich in allen heiligen Schriften, die in der Gemeine der Khristen niedergelegt sind, wiederfindet, wir haben kein Recht, sie anzusehen als solche, in deren Herzen | der Geist Gottes nicht wirkt, und ohnerachtet ihrer vielen Schwachheiten und Sünden in sie dringt, wir haben kein Recht sie anzusehen als solche, welche das Reich Gottes von sich gestoßen haben, und mitten in dem Umfange des Reiches Gottes ein neues Reich der Finsterniß bilden. Aber wohl wissen wir, daß die schwachen Seelen überall bedürfen gestärkt zu werden, daß diejenigen, die noch nicht vollkommen im Lichte wandeln, bedürfen, daß ihnen das Licht immer heller aufgehe, wohl wissen wir, daß die Gemeinschaft der Khristen es bedarf, immer fester geknüpft zu werden und immer | mehr Vertrauen zu gewinnen zu dem, der sie gestiftet hat. Das ist der Dienst, den wir dem Herrn leisten sollen, aber auch in dem haben wir keine andere Regel zu befolgen als die, welche der Herr in den ersten Worten unseres Textes seinen Jüngern gegeben hat, und auch in dem haben wir uns dessen zu getrösten, was er in den lezten Worten unseres Textes als ein schönes, als ein großes und herrliches Wort der Verheißung ausspricht. Wohlan, so laßt uns nicht müde werden Gutes zu thun, so lange wir können, laßt uns nicht müde werden das Heil, welches uns in | Khristo geworden ist, zu verkündigen durch Wort und That, laßt uns offnen Auges und offnen Ohres wandeln unter den Menschen als Werkzeuge des Herrn, und laßt uns überzeugt sein, daß jeder Dienst und jedes Opfer, welches wir dem Herrn bringen, entweder in der Welt um uns her oder unserem eigenen Herzen Segen stiftet und Frieden bringt. Denn kein Wort kann verloren gehen, was der Herr geredet hat. Amen.

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[Liederblatt vom 12. August 1821:] Am 8. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – In eigener Melodie. [1.] Ach bleibe mit deiner Gnade / Bei uns, Herr Jesu Christ! / Daß uns hinfort nicht schade / Der Bösen Macht und List. // [2.] Ach bleib mit deinem Worte / Bei uns, Erlöser werth, / Daß uns in diesem Horte / Sei Trost und Heil beschert. // [3.] Ach bleib mit deinem Glanze / Bei uns, du himmlisch Licht! / Den Glauben in uns pflanze, / Damit wir irren nicht. // [4.] Ach bleib mit deinem Segen / Bei uns, du reicher Herr! / Gieb Wollen und Vermögen / Zu deines Namens Ehr. // [5.] Ach bleib mit deinem Schutze / Bei uns, du starker Held, / Daß wir dem Feind zum Truze / Besiegen Sünd’ und Welt. // [6.] Ach bleib mit deiner Treue / Bei uns, Herr unser Gott! / Beständigkeit verleihe, / Hilf uns aus aller Noth. // (Stägemann.) Nach dem Gebet. – Mel. Ich dank dir schon etc. [1.] Wir grüßen aus dem Erdenthal / Euch Erben jener Freuden, / Euch treue Freunde unsers Herrn, / Gefährten seiner Leiden. // [2.] Jetzt sizet ihr in Frieden dort, / Nach eurem schweren Streite, / Erhaben über Tod und Welt / An unsers Heilands Seite. // [3.] Sein Reich war nicht von dieser Welt, / Das lerntet ihr verstehen, / Und seht nun um der Wahrheit Quell / Die Himmelspalmen wehen. // [4.] Ihr prediget von diesem Reich / In rechtem Glaubenstriebe, / Und riefet die Verlornen hin / Zu Ihres Heilands Liebe. // [5.] Ihr gingt die dornenvolle Bahn / Mit hohem Heldenmuthe, / Und trugt die Palmen himmelan / Bespritzt mit frommen Blute. // [6.] Kein Glanz, kein Gold, kein Fürstenthron, / Nichts hielt euch je zurücke, / Hier droht der Tod, dort lockt die Welt; / Ihr gingt mit festem Blicke. // [7.] So gingt ihr aus in alle Welt, / Die Wahrheit zu verkünden, / Und eilet von der alten Noth / Die Seelen zu entbinden. // [8.] Ihr zoget aus durch Land und Meer, / Zu Niedrigen und Hohen, / Da fiel der Göze dieser Welt, / Und seine Diener flohen. // [9.] In welcher hohen Seligkeit / Lebt ihr nun dort am Throne! / Wie hold reicht der, dem ihr gedient, / Euch nun die Siegerkrone! // [10.] Was ist das Leiden dieser Zeit, / Wenn wir den Himmel erben? / Die Welt vergeht mit ihrer Lust, / Der Glaube läßt nicht sterben. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Dich will ich immer treuer lieben, / Mein Heiland gieb mir Kraft dazu! / Will mich in deinen Wegen üben, / Denn nur bei dir ist wahre Ruh; / Die Ruh, mit der nichts zu vergleichen, / Der alle Herrlichkeiten weichen, / Die uns schon hier den Himmel giebt! / Ach nimm für alle deine Treue / Mein Herz, das ich allein dir weihe, / Und ewig bleib’s von dir geliebt. //

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9. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,10–11 Nachschrift; SAr 79, Bl. 135v–148v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 98r–105v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 60, Bl. 183r–186r; Woltersdorff Teil der vom 8. Juli 1821 bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederangabe (nur in SAr 60)

Frühpredigt am neunten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. 2. Petri I, 10 u 11. Darum, lieben Brüder, thut desto mehr Fleiß euren Beruf und Erwählung fest zu machen; denn wo ihr solches thut, werdet ihr nicht straucheln, und also wird euch reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reich unseres Herrn und Heilandes Jesu Khristi. M. a. F. Es war eine gefährliche Verirrung, in welche die ersten Khristen sehr leicht gerathen konnten, zumal solche, die an so ausgezeichneten Bewegungen des göttlichen Geistes Theil genommen hatten, und durch dieselben der khristlichen Gemeinschaft waren zugeführt worden, bei denen selbst die Verkündiger des göttlichen | Wortes sich gedrungen fühlten zu sagen: wer will das Wasser wehren, daß diese nicht getauft werden, die den heiligen Geist empfangen haben gleich wie wir, es war eine sehr natürliche Verirrung, wenn sie dann glaubten, es nun dabei bewenden lassen zu können, und durch diesen Beweis der göttlichen Gnade ihres Antheils an dem Heil, welches durch den Erlöser der Welt gegründet ist, so gewiß zu sein, 2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 9. S. n. Trin. 1821. 0 Liederangabe in SAr 60, Bl. 183r: „Lied 329; 336 v. 4–5“, Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 329 „Christe, mein Leben“ (Melodie „Hast du denn, Jesu“); Lied Nr. 336 „Jesus, Jesus! nichts als Jesus“ (Melodie „Liebe, die du mich zum Bilde“) 12–13 Vgl. Apg 10,47

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wie früher hin die Mitglieder des jüdischen Volks ihres Antheils an den göttlichen Gnadenwohlthaten, und an der Erfüllung aller Verheißungen Gottes schon dadurch gewiß zu sein glaubten, daß sie durch ihre Abstammung dem angehörten, dem diese göttlichen Verheißungen geworden waren. Gegen diese Verirrung finden wir | viele Stellen in der heiligen Schrift gerichtet. Der Apostel Jakobus richtet seinen ganzen Brief an die Khristen dahin vorzüglich, indem er ihnen zu zeigen sucht, daß wer da glaubt es bei einer solchen Bewegung des göttlichen Geistes bewenden lassen zu können auch nothwendig nur einen todten Glauben habe, nicht aber einen lebendigen, der die Rechtfertigung des Menschen vor Gott ist, weil dieser seiner Natur nach immer wirksam sein muß durch die Liebe. Ebenso der Verfasser des Briefes an die Hebräer richtet mehrere Stellen gegen diesen Irrthum, indem er alles in dem Einen Worte zusammenfaßt: „so sind wir denn Khristi theilhaftig geworden, so wir anders | das angefangene Wesen fest behalten bis ans Ende.“ Und eben dahin sind auch die Worte des Apostels Petri gerichtet, die wir jetzt eben gelesen haben; denn er sagt darin, es komme alles am meisten darauf an, unsern Beruf fest zu machen, wer das thut, der werde nicht straucheln, und nur der, welcher nicht strauchelt, dem werde reichlich dargereicht werden der Eingang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn und Heilandes Jesu Khristi. Das laßt uns nur jezt nach Anleitung seiner Worte näher mit einander erwägen. Es kann freilich etwas sehr Bedenkliches und Beängstigendes darin uns zu liegen scheinen, daß der Apostel sagt: wer nicht strauchelt, dem werde reichlich dar|gereicht werden der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn. Denn wer unter uns strauchelt nicht? wer ist der vollkommene Mann, von welchem an einem andern Orte die Rede ist, der auch nicht in dem Kleinsten fehlt? Aber jeder Fehl ist ein Straucheln, und hier wird uns also vorgehalten ein Ziel der Vollkommenheit, welches kein Khrist hoffen darf in diesem Leben zu erreichen; und dazu finden wir die Verheißung, daß nur einem solchen werde reichlich dargereicht werden der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Erlösers. Wir werden uns aber hierüber beruhigen können, m. g. F., wenn wir nur die lezten Worte des Apostels recht ernstlich erwägen. Denn indem er sagt: nur einem solchen, werde | dargereicht werden reichlich der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn, welcher nicht strauchelt: so führt er uns schon von selbst darauf, daß es ein verschiedenes Maaß des mehr und des weniger hier gebe, und so können wir seine Worte nicht anders als so auslegen, je weniger der Mensch strauchelt, desto reichlicher wird ihm dargereicht werden der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn und Heilandes, je mehr er aber strauchelt, desto sparsamer 4 dem diese ... Verheißungen] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 99r 13–15 Hebr 3,14

25–27 Vgl. Jak 3,2

4 göttlichen] göttliche

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wird ihm dieser Zugang dargereicht werden. Was bedeutet aber wohl eigentlich dies, daß dem Menschen dargereicht wird, der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn, indem dies dargestellt wird nicht als etwas, was dem Einen wie dem Andern und Einmal für alle mal geschieht, sondern | was reichlich und sparsam geschehen kann, und in einer beständigen Wiederholung begriffen ist. Wir können dies, m. g. F., nicht anders als in Verbindung bringen mit jenen herrlichen Worten unseres Herrn, der von denen, die an ihn glauben, die sich auf das innigste an ihn anschließen, die sich von ihm nähren und an ihm sättigen, sagt, daß sie das ewige Leben haben. Nun fühlen wir wohl, daß dies, wie jedes Wort unseres Herrn, eine theure und ewige Wahrheit ist, und daß wir in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm das ewige Leben haben; aber wir wissen auch aus vielfacher Erfahrung, daß unser Zustand in diesem irdischen Leben nichts Gleichmäßiges ist, und nichts Beständiges; sondern daß wir bald mehr bald wieder | minder die lebendige Gemeinschaft und diesen innern Zusammenhang mit dem Erlöser haben, und daß sich bald mehr aneinander reihen bald weiter von einander entfernt sind die Augenblike, in welchen wir so die Seligkeit, die er uns in jenen Worten verheißt, wirklich genießen. Das ist es, was der Apostel hier so ausdrükt, daß dem Einen reichlicher, dem Andern sparsamer der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn werde dargereicht werden. Denn so oft wir so die Seligkeit einer mit ihm in Gemeinschaft stehenden Seele genießen, und uns von ihm ganz durchdrungen fühlen, so sind wir in seinem ewigen Reiche, und jede sich dadurch auszeichnende Stunde unseres Lebens | ist ein neuer Zugang, den wir zu demselben empfangen. Zweitens nun sagt der Apostel, je weniger der Mensch strauchelt, desto reichlicher werde ihm dieser Zugang dargereicht werden. Was er damit meint, m. g. F., das ist dies; auch der Khrist ist immer noch der Schwachheit und der Zerbrechlichkeit des Fleisches unterworfen, und die Sünde verliert niemals ganz die Gewalt über den Menschen, so lange er auf Erden wandelt, und so oft wir uns derselben bewußt werden, so sollen wir uns auch wieder stärken und kräftigen in der Ueberzeugung, daß denen, die an den Erlöser glauben, auch um seinetwillen die Sünde vergeben sei, weil er indem er uns allen zur | Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung gemacht ist, uns auch zur Erlösung geworden ist. Aber wenn wir als solche, die gestrauchelt haben, eben in diesem Gefühl der Vergebung unserer Sünde um des Erlösers willen, den Zugang zu seinem ewigen Reiche finden, so meint der Apostel[,] sei dies etwas Sparsameres und Dürftigeres als wenn wir als solche, die nicht gestrauchelt haben, in dem Bewußtsein seiner Gnade, welches uns durch alle Versuchungen geleitet hat, und in dem Be27 das] daß 8–10 Joh 6,50–51.54

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wußtsein von dem Beistande seines Geistes, durch den wir im Stande gewesen sind die Sünde zu überwinden, uns der Seligkeit | erfreuen und sie genießen; jenes sagt er, sei ein sparsamer, dieses ein reichlicher Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn Jesu Khristi. Und damit berührt er die Worte des Apostels Paulus, der in seinem Briefe an die Römer, wo er auseinandersezt, wie Gott seine Gnade und Barmherzigkeit darin preise, daß Khristus für uns gestorben sei, da wir noch Sünder waren, der da die Frage abschneidet, ob wir in der Sünde bleiben sollen, damit wir eine desto größere Ueberzeugung bekommen von der Kraft der göttlichen Gnade, dieses wirft er hier von sich, und sagt, mit nichten ist es so, und gewiß ist es auch nicht so, weil die göttliche Gnade nicht in einem so hohen Grade in dem | Menschen wirken kann, wenn er in der Sünde bleibt, als wenn er die Sünde überwindet. Und darum sagt der Apostel mit Recht: nur dem, der nicht strauchelt, dem sei reichlich dargereicht der Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn, nur der habe das vollkommene Bewußtsein von der göttlichen Gnade, der durch dieselbe das Fleisch und die Sünde der Welt überwindet, und dem immer näher kommt, das Bild der Vollkommenheit des Erlösers in seinem Leben darzustellen. Und eben deswegen nun sagt der Apostel in den ersten Worten unseres Textes „So thut denn allen Fleiß, daß ihr euren Beruf und eure Erwählung fest macht; denn so ihr das thut, werdet | ihr nicht straucheln.“ Unter diesem Festmachen unserer Erwählung und unseres Berufes versteht er dasselbe, was in der vorher schon angeführten Stelle des Briefes an die Hebräer so ausgedrükt: „so sind wir denn Khristi theilhaftig geworden, so wir anders das angefangene Wesen fest behalten bis ans Ende,“ und stellt sich also jenem Irrthum entgegen, als ob man es bei der ersten Bewegung des göttlichen Geistes in dem Gemüth, durch welche der Glaube an den Erlöser gegründet ist, dürfe bewenden lassen. Und dies ist der gefährliche Irrthum, der in jener frühesten Zeit des Khristenthums und auch vielfach noch in den spätern Zeiten | der christlichen Kirche geherrscht hat, welcher meint, daß der Mensch in ausgezeichneten Augenbliken göttlicher Gnadenerweisungen seines Berufes und seiner Erwählung gewiß werde, und diese Gewißheit hernach nie wieder möge verlieren können und daß er sich dann nicht weiter darum zu bekümmern und dafür zu sorgen brauche, was er mit diesen göttlichen Gnadenerweisungen anzufangen habe. Daraus entsteht dann aus dieser Sorglosigkeit des Gemüths in Beziehung auf alles, was wir in unserer Seele als das Werk der erlösenden Liebe aufzuweisen haben, daraus entsteht jenes häufige Straucheln, daraus entsteht dies, daß wir sagen müssen, daß dem und dem Menschen doch immer nur ein | sparsamer Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn dargereicht wird, daß er nicht ein so lebendiges und beseligendes Gefühl von der Gnade des Herrn, davon daß er Wohnung machen 6–7 Vgl. Röm 5,8

8–9 Vgl. Röm 6,1

23–25 Hebr 3,14

41–1 Vgl. Joh 14,23

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will in seinem Herzen, haben kann als der, welcher darnach trachtet, sich seinen Beruf und seine Erwählung fest zu machen. Denn, m. g. F., worin besteht diese Festigkeit? Der Apostel selbst bezieht sich in den Worten unseres Textes auf das zurük, was er vorher gesagt hat, und was wir neulich mit einander erwogen haben, wo es lautet: „so ihr solches thut,“ das heißt, jenen festen Weg fortgehet, vom Glauben zur Beständigkeit in allen Erweisungen der brüderlichen Liebe, | „so ihr solches thut, so wird die Erkenntniß unseres Herrn Jesu Khristi nicht unfruchtbar bei euch sein.“ Dadurch wird der Mensch seines Berufes und seiner Erwählung fest, wenn er dessen inne wird, daß die Erkenntniß des Herrn nicht unfruchtbar bei ihm ist. Je fruchtbarer sie ist, desto mehr muß er die Ueberzeugung haben, daß er in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser steht, desto mehr muß er fühlen, daß er den Geist Gottes hat, und daß die Früchte desselben in seiner Seele reifen. Und eine andere Überzeugung, eine andere Festigkeit der Seele giebt es nicht als die, welche aus der Fruchtbarkeit des Glaubens entsteht. Denn von dem unfrucht|baren und todten Glauben sagt der Apostel Jakobus in seinem Briefe, es sei der, den die Teufel auch haben, mit dem keine Festigkeit der Seele, und keine Ueberzeugung von ihrem Beruf und von ihrer Erwählung verbunden sein könne. Wir wissen es ja auch, daß die Bewegungen des Göttlichen in dem Gemüth des Menschen, die innern Erregungen seiner Seele in einem erhöhten Gefühl, von einem sehr verschiedenen Werthe sind, und eben deshalb wagt es der, der das Heil seiner Seele auf alle Weise zu fördern sucht, nicht auf solche einzelne Augenblike zurükzugehen, nie kann der Mensch aus ihnen und durch sie erkennen, ob das Band fest geschlungen sei, welches ihn mit dem Erlöser verbindet; sondern an sich muß es ihm ungewiß | sein, ob das etwas Vorübergehendes sei, was ihm so gekommen ist, oder etwas Festes und Bleibendes; wie uns denn darüber die Schrift der Beispiele gar viele giebt zu unserer Warnung und Belehrung auf aus jenen ersten Zeiten des Khristenthums, wie nämlich die Apostel selbst von denen, die ihre Schüler gewesen waren, bekennen, daß sie aus der Gnade gefallen wären, wie von so vielen, die mit unserem Herrn wandelten, gesagt ward, daß sie hinter sich gingen, weil es ihnen eine harte Rede schien, was er zu ihnen sprach. Das alles waren solche, deren Gemüth lebendig erregt war, sei es durch das Wort des Herrn selbst, sei es durch die Predigt seiner Apostel, es waren solche, denen | in einem gesegneten Augenblik ihres Lebens durch die Kraft der göttlichen Gnade das deutlich geworden war in ihrer Seele, daß auf keinem andern Wege als auf dem der Erlösung Heil für die Menschen zu finden sei. Aber es waren nur vorüberge31 unserem Herrn] unserem 4–5 Vgl. oben 5. August 1821 früh 5–8 Vgl. 2Petr 1,7–8 20 31 Vgl. Gal 5,4 32–33 Vgl. Joh 6,60.66

16–19 Vgl. Jak 2,17–

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hende Bewegungen des Gemüths gewesen, sie hatten nicht gesucht ihren Beruf und ihre Erwählung fest zu machen, die Sünde hatte ihre alte Macht über sie wieder begonnen, und daher kam es, daß ihnen freilich die Lehre des Erlösers, die sie zur Beständigkeit, zur Mäßigkeit, zur brüderlichen Liebe und zur allgemeinen Liebe hinleiten wollte, eine harte Rede schien, daß sie hinter sich gingen, und aus der Gnade fielen, daher kam es, daß sie nicht nur einen sparsamen Zugang hatten zu | dem ewigen Reiche unsers Herrn, sondern daß er ihnen gänzlich verschlossen war. Darum sagt der Apostel: „thut desto mehr Fleiß, machet euren Beruf und eure Erwählung fest, laßt euch nicht sicher machen durch solche ausgezeichnete Augenblike höherer geistiger Erregungen des Gemüths, in denen euch die Wahrheit der Erlösung deutlich vor die Seele getreten ist, in denen ihr die Wahrheit von der Vergebung der Sünde durch Khristum empfangen habt, das kann der Anfang eurer Erwählung und eures Berufes geworden sein, aber fest wird er nur dadurch, wenn ihr erfahret, daß die Bewegung der Seele auch ihre Frucht bringt, daß die Erkenntniß der Erlösung | unseres Herrn nicht unfruchtbar in euch ist. Wie aber erfahren wir das? offenbar dadurch, daß wir nicht straucheln, sondern festen Schrittes wandeln auf dem Wege des Heils. Nur dadurch erfahren wir, daß der Glaube in unserer Seele lebendig ist, wenn dieser Glaube sich thätig beweist durch die Liebe, die der Apostel im Anfange seines Briefes als die Vollendung des Khristen, als das Ziel beschreibt, nach welchem alle streben sollen, und von welchem die Pflanzung des Glaubens in die menschliche Seele der erste Anfang ist. Wie könnten wir auch anders sagen, als daß ein großer Unterschied ist zwischen demjenigen Zustande eines Menschen, der ähnlich zu werden sucht dem, welcher | der Anfänger und Vollender unseres Glaubens ist, den die Liebe zu dem, an welchen er glaubt, so dringt, daß er in der Kraft desselben immer alles zu vollbringen trachtet, wozu der Mensch Gottes geschickt sein soll, und zwischen dem, der sich einschließt in die Zuversicht, auf allerdings große und herrliche Beweise von der Wirkung des göttlichen Geistes, die er in dem Innern seiner Seele erfahren hat; aber der nun nicht darauf denkt, und dafür sorgt, daß würdige Früchte der göttlichen Gnade in seiner Seele entstehen, sondern meint genug zu haben, an dem Besiz der Erinnerung an diese herrlichen Augenblike. Ein solcher hintergeht sich selbst, wie der Apostel in den Worten, die | unserem Texte vorangehen, sagt: „wer aber solches nicht hat, der ist blind, und tappet mit der Hand, und vergißt der Reinigung seiner vorigen Sünden“. Denn das ist gewiß, je mehr wir unterlassen immer aufs Neue Vergebung der Sünde um des Erlösers willen von Gott zu erflehen, desto mehr haben wir die erste Reinigung von Sünden vergessen; und wie kann das geschehen als dadurch, daß die kräftige Gegenwart und die 4–5 Vgl. 2Petr 1,5–7 16–17 Vgl. 2Petr 1,8 20 Vgl. Gal 5,6 20–22 Vgl. 2Petr 1,7 25–26 Vgl. Hebr 12,2 35–37 Vgl. 2Petr 1,9 39 Vgl. 2Petr 1,9

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heilige Nähe des Erlösers in unserer Seele nicht Statt gefunden hat, die aus der ursprünglichen Erregung des Gemüths hervorgehen soll, daß nicht nur die Erkenntniß des Erlösers, sondern auch das Bewußtsein seiner Gnade freilich dagewesen ist, | aber daß diese Erkenntniß nicht fruchtbar gewesen ist, und dieses Bewußtsein nicht bleibend. So ist es denn die Beharrlichkeit, die Demuth, der Fleiß in guten Werken, die brüderliche und die allgemeine Liebe des Khristen, was seinen Beruf und seine Erwählung fest macht. Darum sollen wir, nach den Worten des Apostels, allen Fleiß hierauf verwenden, damit wir nicht uns selbst hintergehen, und nicht, indem wir meinen im Lichte zu wandeln, doch in der Finsterniß sitzen. – Darum laßt uns unabläßig uns vorhalten eben dieses Ziel der khristlichen Vollkommenheit, welches der Apostel in den Worten unseres Textes aufstellt, nämlich durch die göttliche Gnade dahin zu kommen, daß wir | nicht straucheln, sondern daß daraus, daß wir unsern Beruf und unsere Erwählung fest machen, auch das hervorgehe, daß unser ganzer Mensch fest werde, damit wir nicht zweifeln, sondern gewiß wissen, was da sei der wohlgefällige Wille Gottes, und daß die Erkenntniß Khristi uns in den Stand seze, von Liebe zu ihm durchdrungen, mit reiner Liebe alle Menschen zu umfassen, und daß daraus, daß von einem Tage zum andern die Kraft der Liebe zu unserem Erlöser wächst, das hervorgehe, daß wir einen reichlichen Zugang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn empfangen, daß wir die Verheißung des Erlösers nicht bloß als Verheißung haben, sondern | sicher und gewiß und in Wahrheit sagen können, daß unser Wandel im Himmel sei. Dazu wird er durch seine Gnade denen reichlich verhelfen, die wahrhaft darnach streben, daß sie ihm angehören und in lebendiger Anhänglichkeit an ihn, auch die Werke des Glaubens verrichten. Amen.

4–5 Vgl. 2Petr 1,8 5–7 Vgl. 2Petr 1,5–7 1Joh 2,9–11 23 Vgl. Phil 3,20

8–9 Vgl. 2Petr 1,5–9

10 Vgl.

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9. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Luisenstadtkirche zu Berlin Lk 16,1–9 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 79, Bl. 149r–171v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 106r–118r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 90r–90v; Gemberg Liedangabe unten S. 828,19–20

Predigt am neunten Sonntage nach Trinitatis 1821; gehalten in der Luisenkirche. |

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M. a. F. Unsere heutige Sonntags Epistel, die wir eben vernommen haben, enthält außer der tröstlichen Versicherung, daß Gott uns nicht lasse versucht werden über Vermögen, eine Abmahnung von allem Bösen mit der Zumuthung, daß wir uns alles, was in vergangenen Zeiten geschehen ist, zu einem warnenden Vorbilde sollen gereichen lassen, weil nämlich wir an das Ende der Welt gekommen wären. Unter diesem aber versteht der Apostel nichts anderes als die Tage der herrlichen Gnade Gottes in Khristo, unserem Herrn, in denen es freilich nicht so sein soll, wie es ehedem war, wie uns denn überall die Apostel in ihren Schriften das vorhalten, daß die Gemeine des Herrn sich vor ihm darstellen | soll ohne Runzel und Makel, und alles von sich thun, was ihre geistige Schönheit verringern kann. Und das, m. g. F., ist ein Ruhm, den selbst die Gegner des Evangeliums demselben immer gelassen haben, daß es nämlich dem Menschen ein vollkommneres und höheres Ziel der Heiligung vorhalte als jemals früher der Fall gewesen. Denn das Volk des alten Bundes, welches, wie der Apostel sagt, unter den äußerlichen Sazungen befangen war, das suchte seine Gerechtigkeit in den äußern Werken des Gesezes, und wie unser Erlöser ihnen vorwirft, über dem Opfern vergeßen sie den Gehorsam und die Liebe. Und die Heiden, welche, wie wohl sie die ihnen an|geborne Erkenntniß Gottes

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3–8 Vgl. 1Kor 10,6–13; hier 11–13 11–12 Vgl. Eph 5,27 17–18 Vgl. Gal 4,3 20 Vgl. Mt 9,13; 12,7 (Zitat aus Hos 6,6) 20–3 Vgl. Röm 1,19–23

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durch Ungerechtigkeit in sich selbst verkehrt hatten, dennoch, wie der Apostel sagt, auch ohne Gesez ihnen selbst ein Gesez hätten sein können und sein sollen, die lebten um so viel mehr in den Lüsten dieser Welt, als sie jenen Wesen, die sie durch ihre Götterbilder vorgestellt hatten, selbst alles Verderbliche, was sich in dem menschlichen Leben findet, beilegten, so daß auch die Besseren und Weiseren unter ihnen zu jener Reinheit der Gesinnung nicht gelangen, die dem Khristen, der das Urbild des Erlösers, der ohne alle Sünde war, vor sich hat, natürlich sein soll und muß. Aber nicht nur darum, m. g. F., warnt uns die Schrift, wie in unserer heutigen Epistel so an vielen andern Orten, gegen alles Böse, | weil jedes Einzelne für sich schon dessen unwürdig ist, der den neuen Menschen angezogen hat, welcher geschaffen zur Heiligkeit und zur Gerechtigkeit; sondern vorzüglich auch deswegen, weil jedes Böse, wenn es sich in der menschlichen Gesellschaft hervorthut, auch gewiß doch dies oder jenes andere erregt oder ans Licht bringt, welches in der Tiefe des menschlichen Herzens geschlummert hatte. Davon giebt uns unser heutiges Sonntagsevangelium ein richtiges und warnendes Beispiel, welches wir zu unserer Erbauung mit einander betrachten wollen, und Gott dazu um seinen Segen bitten in einem stillen Gebet, wenn wir werden gesungen haben mit einander das Lied: Laß mich dein sein und bleiben pp. | Tex t. Lucä XVI, 1–9. Er sprach aber auch zu seinen Jüngern: Es war ein reicher Mann, der hatte einen Haushalter, der ward vor ihm berüchtiget, als hätte er ihm seine Güter umgebracht. Und er forderte ihn und sprach zu ihm: Wie höre ich das von dir? Thue Rechnung von deinem Haushalten, denn du kannst hinfort nicht mehr Haushalter sein. Der Haushalter sprach bei sich selbst: Was soll ich thun, mein Herr nimmt das Amt von mir; graben mag ich nicht, so schäme ich mich zu betteln. Ich weiß wohl, was ich thun will, wenn ich nun von dem Amt gesezt werde, daß sie mich in ihre Häuser nehmen. Und er rief zu sich alle Schuldner seines Herrn, und sprach zu dem ersten: wie viel bist du meinem | Herrn schuldig? Er sprach: hundert Tonnen Oel. Und er sprach zu ihm: nimm deinen Brief, seze dich und schreib flugs fünfzig. Darnach sprach er zu dem andern: du aber, wie viel bist du schuldig? Er sprach: hundert Malter Weizen. Und er sprach zu ihm: nimm deinen Brief, und schreibe achtzig. Und der Herr lobte den ungerechten Haushalter, daß er klüglich gethan hätte; denn die Kinder dieser Welt sind klüger, denn die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht. Und ich sage euch auch: machet 1–3 Vgl. Röm 2,14 8 Hebr 4,15 19–20 Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 198 (Melodie von „Herzlich thut mich verlangen“)

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euch Freunde mit dem ungerechten Mammon, auf daß, wenn ihr nun darbet, sie euch aufnehmen in die ewigen Hütten.

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M. g. F. Ohne uns genauer einzulassen auf die Absicht | in welcher der Erlöser diese Erzählung denen, die ihm damals zuhörten, vortrug, so finden wir in derselben ganz augenscheinlich das, was ich vorher erwähnt habe, ein Gewebe von tadelswürdigen Handlungen, und zwar so geartet, daß jeder unter den Handelnden durch dasjenige, was er dazu beitrug, das verborgene Böse in dem Andern ans Licht brachte, so daß also ein Böses immer das andere hervorlokte. Das laßt uns jezt zu unserer Erbauung aus dieser Erzählung mit einander erwägen. I. Das Erste was wir in dieser Hinsicht bemerken in unserem Evangelio, ist dies, daß Mißtrauen oder Argwohn und Ver|leumdung sucht sich gegenseitig hervorzuloken, und dann daraus Unbilligkeit und Härte entsteht. Es ist vielleicht denjenigen, die nur oberflächlich und mehr auf das Ende hinsehend, die Erzählung unseres Textes betrachten, nicht gleich einleuchtend, wie dies darin liegt, es verhält sich aber doch offenbar so. Der Herr unsers Textes war von andern gegen seinen Haushalter eingenommen, denn das liegt in den Worten: „der Haushalter ward berüchtigt vor ihm, er habe ihm seine Güter durchgebracht.“ Darin muß nun wohl auch des Unwahren viel gewesen sein, weil hernach unsere Erzählung der Schuldner seines Herrn erwähnt, denen er auf diese Weise einen Theil ihrer Schuld erlassen konnte. So weit hatte er also die Güter seines Herrn | festgehalten, und nicht durchgebracht; aber doch ward er vor ihm berüchtigt, und zwar durch die Verleumdung Anderer, er habe ihm seine Güter durchgebracht. Denn gesezt auch, daß er sich mancherlei Fehler hatte zu Schulden kommen lassen, so hatten jene Verleumder ihn doch keines bestimmten Fehlers zeihen können, den ihm dann sein Herr hätte vorwerfen können; sondern nur allerlei Vorurtheile, allerlei Klagen und Vermuthungen hatten sie erhoben, wie es denn überall so geht, wenn einer übel berüchtigt wird unter seinen Brüdern. Aber hätten wohl die Verleumder es gewagt ihr Gift auszustreuen, wenn sie nicht vorausgesezt hätten in dem Gemüthe des | Herrn, daß er des Argwohns und des Mißtrauens gegen seinen Diener fähig sei? Wenn dies nicht gewesen wäre, dann hätte der Herr die Verleumdung, die vor ihn gebracht wurde, in den Wind geschlagen und gering geachtet, und hätte zu den Verleumdern gesagt: wenn ihr mir nicht bestimmte Thatsachen angeben könnt, die leicht ins Licht zu sezen sind, so will ich das gute Vertrauen zu dem, dem ich die Verwaltung meines Hauswesens übertragen habe, nicht um eures üblen Gerüchtes wegen fahren lassen. Hätten sie nun bestimmte Thatsachen vorgebracht so hätte sich alles finden müssen, und der Haushalter hätte sich entweder für schuldig erkennen oder sie wiederlegen | müs-

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sen; so aber ging das nicht, weil die Verleumdungssucht den Argwohn und das Mißtrauen in dem Gemüthe des Herrn erregte, und zwar so, daß daraus eine auffallende Unbilligkeit und Härte entstand. Denn freilich hat ein jeder das Recht ein solches Amt, wie dieses es war, wenn er es einem gegeben hat, auch wieder von ihm zu nehmen, aber die Billigkeit erfordert, daß das nicht geschehe ohne hinlänglichen Grund und ohne klare Ueberlegung. So aber handelte der Herr unseres Textes nicht, sondern er sagte zu seinem Haushalter, wie höre ich das von dir? thue Rechnung von deinem Haushalten denn Haushalter kannst du länger nicht | sein. Aufgeregt also durch die Verleumdung bewog ihn sein innerer Argwohn, der den Verleumdern das Ohr geliehen hatte, dazu, seinen Diener ungehört zu verdammen, und ohne daß er sich hatte rechtfertigen können gegen die Beschuldigung, die, wie es scheint, ihm nicht einmal ordentlich bekannt gemacht wurde, wurde das Amt, welches ihm verliehen war, von ihm genommen, und das Rechnung thun von seinem Haushalten hatte keinen andern Zwek als daß er es seinem Nachfolger in der Ordnung, in welcher er es gefunden hätte, übergeben sollte. Gewiß, m. g. F., mögen wir nun auf den enger beschränkten Kreis eines wohlhabenden und reichen Hauswesens sehen, wie in unserem Texte, oder mö|gen wir es anwenden auf die größeren Verhältnisse des menschlichen Lebens, wir müssen gestehen etwas Herberes kann es darin nicht geben als die allgemeine Unzuverläßigkeit und Unsicherheit die daraus entsteht, daß Verleumdung und Argwohn auf eine solche Weise zusammen kommen, daß daraus nur Unbilligkeit und Härte hervorgehen könne. Sehen wir auf den ganzen Zusammenhang der Sache oder sehen in das Innere des menschlichen Herzens, so ist gewiß, daß eins von diesen beiden Bösen ohne das andere eine solche Wirkung nicht hervorbringen kann, daß aber jedes, wenn es einmal zuerst ans Licht gekommen ist das andere auch gewiß ans Licht bringt, und daß dann das Werk der Ungerechtigkeit | vollbracht wird. Die natürliche Neigung des menschlichen Herzens das Böse bei unserem Nächsten vorauszusezen und aufzusuchen, diese können wir alle nicht ableugnen; sie hat ihren Grund in dem richtigen Gefühl unserer eigenen Sündhaftigkeit, der wir uns nicht als unserer eigenen allein, sondern als der gemeinsamen des menschlichen Geschlechts bewußt sind. Wie wir sie nun in uns selbst erfahren auch wieder unseren Willen, und demjenigen, der noch einige Aufmerksamkeit auf sich selbst wendet, seine eigenen Schwächen nicht verborgen sein können: so entsteht daraus ein gewisses Verlangen, auch den Schwächen unserer Nächsten nachzugehen, und uns dadurch gleichsam zu trösten, daß auch die andern | wären, als wir es sind. Diesem Verlangen unbesorgt nachzugehen, sich selbst zu befestigen und gewiß zu machen durch die Mittheilung oder durch die uns selbst angenehme und erfreuliche Entdekung auch andern etwas Erfreuliches zu verursachen: das ist die unselige Quelle der Verleumdung. Aber einem andern erzählen und vorhalten, wie wir vermuthen, daß die Sündhaftigkeit eines

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Menschen sich gegen ihn selbst gewendet habe, das wagt nicht leicht einer als nur im Vertrauen auf das Mißtrauen und den Argwohn, der so leicht in dem Einen freilich mehr als in dem Andern zu erregen ist. Hätten die, die den Haushalter übel berüchtigten bei seinem Herrn, hätten sie die | feste Ueberzeugung gehabt, daß er ein Mann sei von freundlichem Gemüth, von gutem Vertrauen zu den Menschen, so lange bis er sie als böse erkannt habe, und von gutem Vertrauen auf die Sicherheit, auf die im ganzen löbliche unter den Menschen eingeführte Ordnung, die eine so große Gewalt über die Einzelnen ausübt, und jeden in seinem besondern Verhältnisse gegen die Andren leitet; so würde er den Einblasungen der Verleumder nicht zugänglich gewesen sein. Wo aber dies beides zusammen trifft Verleumdung und Argwohn, da wird dann der Argwohn, weil er eine Stüze bekommt durch die vorgefaßte Meinung Anderer, da wird er zur That und reift zu jener | Unbilligkeit und Härte, die wir in dem Betragen des Herrn gegen seinen Haushalter bemerken. Der Argwohn aber sucht immer sich zu verbergen, weil es eine eigene Schwäche verräth, wenn man glaubt durch die Fehler anderer gefährdet werden zu können, weil wir alle wohl fühlen, es sei etwas Wahres, daß man einem Andern nicht zutraut, wozu man nicht den Keim wenigstens in seinem eigenen Herzen trägt. Denn es würde der Argwohn in den meisten Menschen wohnen ohne die Sünde hervorzubringen, wenn er nicht gewekt würde durch jenes giftige Gezisch der Verleumder. Darum tragen diejenigen, die das verborgene Böse, was sie sich aus dem Herzen der Menschen ans Licht bringen, | durch das Böse selbst nicht zu thun scheuen, sie tragen die erste Schuld von der traurigen Verwirrung, die so häufig auf diese Weise entsteht. Wehe darum denen, die Mißtrauen aussinnen, und bösen Verdacht erregen, die auf leere und lose Vermuthungen andere Menschen übel berüchten überhaupt in ihren Verhältnissen zu der menschlichen Gesellschaft, am meisten aber bei denen, von denen das Wohl und Wehe derselben abhängt, wehe denen, die sonst vielleicht achtbare und rechtschaffene Menschen, wie es im ganzen auch wohl der Herr des Hauswesens in unserem Texte sein konnte, so zu behandeln wissen, daß jene tiefste Schwäche des menschlichen Herzens in ihnen Mißtrauen und Argwohn an das Tageslicht bringen, so daß sie | in Härte und Unbilligkeit ausarten muß. Darum, m. g. F., laßt uns dies als ein warnendes Beispiel für unser gemeinsames Leben aus unserem Texte hernehmen. Wenn die Liebe den Argwohn in dem Herzen des Andern gewahr wird, so wird sie das ihrige thun um ihn zu erstiken, und je mehr jeder Mensch Liebe und Treue, Redlichkeit und Wahrheitsliebe in seiner Umgebung findet, um desto weniger wird es möglich sein, daß der verderbliche Argwohn, der die äußerste Ungerechtigkeit nicht nur gegen einzelne Menschen, sondern gegen die ganze menschliche Natur hervorbringt, reif werde und wurzele in der Seele. Aber eben so, m. g. F., laßt uns, gewarnt durch | das Beispiel unseres Textes, fleißig und gemeinschaftlich in die verborgenen Tiefen un-

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seres eigenen Herzens hineinsehen, wohl wissend, daß die verderbliche Gesinnung derer, die da Böses schaffen wollen, nicht unterlassen wird, sie zu erspähen, und daß das von einem Andern entdekte und zu seinen Absichten gehandhabte Verderben dann gewöhnlich in Thaten hervorbricht, die man zu spät bereut und die sich nicht wieder gutmachen lassen, so wohl in Absicht auf die Folgen, die sie Andern bereiten, als auch auf die Verstärkung des Bösen, die immer eine unmittelbare Folge von der Ausübung desselben ist. | 159v

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II. Das Zweite, was wir aus unserem Evangelio lernen können, ist dies. Wenn zusammentreffen der Eigennutz auf der einen Seite und ein trauriges Mißverhältniß zwischen den verschiedenen Ständen der menschlichen Gesellschaft auf der andern Seite: so lokt Eins das Andere hervor, und es entsteht daraus die Ungerechtigkeit und der Betrug. Das sehen wir aus dem Beispiele unsers Textes auf eine sehr augenscheinliche Art. Der Haushalter bekümmert darüber, auf eine so regellose und gesezlose Weise, das ihm bisher anvertraut gewesene Amt zu verlieren, denkt darauf, wie er sich helfen könne. An wen wendet er sich? | An den Eigennutz der Menschen. Denn die Schuldener seines Herrn, wenn sie nicht eigennützig gewesen wären, so würden sie nicht ihr Gewissen darüber beschwichtiget haben, ihre rechtmäßige Schuld verringern zu wollen, wenn es auch auf eine solche Art geschah, daß sie selbst in gar keine Gefahr der Verantwortung darüber gerathen konnten, wie es denn in der That gewesen zu sein scheint in der Geschichte unseres Textes. Aber es hätte auch eben so gut umgekehrt sein können, und von den eigennüzigen Schuldnern dasselbe ausgehen können, daß sie nämlich zu dem Haushalter hingegangen wären, und zu | ihm gesagt hätten: Ei wie hart handelt doch dein Herr gegen dich, daß er dir das Amt nimmt, ohne daß deine Schuld klar und erwiesen vor seinen Augen liegt, wie wolltest du nicht auch dich bedenken, da er dich in eine solche Verlegenheit sezt, und etwas von dem, was dein redlicher Fleiß geschafft hat zur Vermehrung seiner Güter, nun bei dieser Härte gegen dich zu deinem eigenen Besten kehren. Und wenn der Eigennuz auf eine solche Verschiedenheit in den Ständen der menschlichen Gesellschaft trifft, so entsteht aus dem Zusammentreffen beider die Ungerechtigkeit und der Betrug, wie sie hier ausgeübt werden. Der Eigennuz für sich allein | ist freilich ein den Menschen seiner geselligen und vernünftigen Natur nach erniedrigendes Verbrechen, eine Gesinnung, die nur derjenige hegen kann, der das höhere Bewußtsein von der Zusammengehörigkeit der Menschen in sich erstikt hat. Aber auch der Eigennuz für sich allein kann nur weniges Nachtheiliges in der Welt bewirken, sondern um seinen Zwek zu erreichen bedarf er überall der Unterstüzung. Denn so hat Gott weislich die menschliche 41–1 Vgl. Ps 104,24

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Natur eingerichtet, und die Verhältnisse der Menschen auf Erden geordnet, daß, wollte nun der Mensch Gutes oder Böses, er nur wenig von beiden ausrichten kann | für sich allein, sondern nur wenn er sich verstärkt durch die Hülfe und Unterstüzung Anderer, dann erst vermag er etwas Großes zu schaffen. Der Eigennuz des Einzelnen vermag auch nur sehr Geringes beizutragen zum Nachtheil Anderer, zur Verwirrung der menschlichen Verhältnisse, zum Schaden der Gerechtigkeit und der Ordnung. Wenn also die, welche redlich sind, und Gutes wollen, wenn sie zusammen hielten in Friede und Eintracht, dann würde dem Eigennuz dergleichen nicht gelingen. Aber wenn etwas zerrüttet ist in den Verhältnissen der Menschen, dann wagt er sich an diesen und jenen zu wenden, um | ihm zu etwas behülflich zu sein, wodurch eben diese Verhältnisse noch mehr zerrüttet werden. Wenn diejenigen, welche herrschen, und die, welche dienen, wenn die, welche besizen und diejenigen, welche helfen ihren Besiz zusammenzuhalten und zu vermehren, wenn sie in Friede und Eintracht mit einander leben, wie es Khristen gebührt, wenn sie alles für gemeinsam halten, und jeder nicht auf das Seine sieht, sondern auf das des Andern, wenn jeder von dem Gefühl durchdrungen ist, daß jeder in dem Maaße ist, als er sich von dem Ganzen bewegen läßt, als Recht und Ordnung ihm heilig ist, sich auch | berufen fühlt das gemeinsame Wohl zu fördern, wenn sie in dieser Gesinnung verbunden sind: dann werden die Lokungen und Versuchungen des Eigennuzes keinen Eingang finden; sondern er wird immer nur die einzige des Khristen würdige Antwort bekommen: „was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ Und eben so auf der andern Seite die mancherlei Uneinigkeiten und Verstimmungen, die leider so oft wahrgenommen werden zwischen den entfernt liegenden Gliedern der menschlichen Gesellschaft, die eben deswegen es so schwer machen, daß einer den andern | richtig schäzen und seine Angelegenheiten und sein Thun aus seinem eigenen Gesichtspunkt beurtheilen kann, diese Stimmungen und Verstimmungen, die so oft in Irrthümern und in dem Unvermögen das Ganze zu übersehen ihren Grund haben, die werden auch nur Stimmungen und Verstimmungen des innern Gemüths bleiben, und eben deswegen leichter dem wahren und richtigen Blik über die menschlichen Verhältnisse Raum geben, und schwieriger in verderbliche oder ungerechte Handlungen ausbrechen, wenn sie nicht, so bald sie gereizt werden, ihre Unterstüzung fänden in dem Eigennuz oder überhaupt in | der niedrigsten selbstsüchtigen Gesinnung der Einzelnen. Denn auf die Weise werden Verwirrungen in der menschlichen Gesellschaft angerichtet, daß einer dem andern vorhält, wie er sein eigenes Bestes schaffen könne zum Nachtheil des Anderen, und daß dann desto leichter die Menschen zum Bösen zu verführen sind, wenn jene Verstimmungen gebraucht wer23–24 Mt 16,26

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den. Denn so mag wohl der Haushalter in unserem Texte zu den Schuldnern seines Herrn gesagt haben: ihr sehet doch, wie ungerecht der Herr mich behandelt, was wolltet ihr wohl für Bedenken tragen, das Eurige dazu beizutragen daß ich entschädigt werde für den Verlust, den ich zu erleiden habe; hättet ihr etwas Besseres | zu erwarten von ihm als ich, die ihr im Ganzen in derselben Klasse mit mir stehet, und wir seinen Reichthum nicht genießen. Und indem er so ihren Eigennuz rege gemacht hatte, und dieselbe Stimmung, welche in ihm obwaltete, auf sie zu übertragen gesucht: so entstand der Betrug, den wir hier nicht leugnen können. Denn gesezt auch, daß diese Schuldner der Haushalter seinem Herrn nur erworben hatte durch seine Treue in der Verwaltung seines Amts, so hatte er doch kein Recht über das, was zu den Gütern seines Herrn gehörte, und wenn eine tief empfundene Gerechtigkeit in seinem Innern gewesen wäre, so würde auch | nicht einmal der Gedanke an einen solchen Betrug in ihm entstanden sein. Sind aber einmal die Verhältnisse zwischen den verschiedenen Gliedern der menschlichen Gesellschaft verstimmt, aufgelöst und zerrüttet, dann ist das Erste dies, daß jeder sich hinter den Buchstaben des Gesezes zurükzieht, und hinter dem Schein der äußern Rede das thut, was der Rechtschaffene in seinem Herzen verdammt. Denn den Schein des Buchstabens muß der Haushalter wohl für sich gehabt haben, weil der Herr, nachdem er den Betrug, der ihm von demselben gespielt war, erfahren hatte, doch nicht im Stande war ihn zu strafen, sondern ihm nur übrig blieb, ihn zu loben. Das, m. g. F., | laßt uns also ein zweites für alle menschliche Verhältnisse lehrreiches und warnendes Beispiel sein in der Erzählung unseres Textes. Recht und Gerechtigkeit, Ordnung und Treue sind so hohe und herrliche Güter, und vermögen so sehr überall das menschliche Bewußtsein zufrieden zu stellen, daß wir sie auf jede mögliche Weise sollten zu erhalten suchen, und bei uns selbst das Gelübde thun, geschehe es auch um jeden Preis, daß wenn auch die Härte und die Unbilligkeit der Menschen uns trifft, wir uns doch niemals entschuldigen wollen dadurch, daß wir von dem Gesez der Gerechtigkeit und der Liebe weichen. Wie viel höher hätte der Haushalter gestanden, wenn er allen solchen Versuchungen, | die in seinem eigenen Innern erwachten, oder ihm von andern bereitet wurden, Widerstand geleistet hätte; wie viel höher würde er gestanden haben, wenn er bei sich selbst gesagt hätte, wenn auch alle ungerecht sind, so will ich doch nicht aufhören, sondern fortfahren, dem Herrn, dem Einen Herrn im Himmel zu dienen, der überall ein Gott der Ordnung und der Liebe ist, wie viel höher hätte er gestanden, wenn er, statt sich vor zu halten, was aus ihm werden solle, statt ängstlich zu sorgen, was er ergreifen möchte, und auf der andern Seite eben so seinen Vortheil ins Auge zu fassen, wenn er statt dessen mit Vertrauen auf den hingesehen hätte, | der grade die Gerechten am wenigsten verläßt, sondern die Verheißung gegeben hat, daß denen sein Recht aufgehen soll, die in seinen Wegen wandeln. Dann würde auch aus der

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Verlezung, die ihm widerfahren war, das Unrecht und der Betrug nicht entstanden sein, und statt die Rechte der menschlichen Gesellschaft zu gefährden, würde er sie erhalten haben durch fromme Ergebung in die Prüfung, die Gott über ihn verhängt hatte. 5

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III. Aber, m. g. F., das Traurigste ist uns noch übrig drittens zu betrachten in der Erzählung unseres Textes, das ist dies, daß, wenn so ein Böses in der menschlichen Gesellschaft das andere ans Licht bringt, eine böse | Handlung die andere erzeugt und hervorruft, eben dadurch auch das Gefühl für Recht und Unrecht in der menschlichen Seele abgestumpft wird. Denn das lehrt uns unser Text grade in seinem lezten Theile, wo es nämlich heißt: „als nun der Herr das erfuhr, lobte er den ungerechten Haushalter, daß er klüglich gethan hätte; denn die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes in ihrer Art.“ Ja, m. g. F., das ist das größte und tiefste Unglük, welches aus jener Wechselwirkung des innern menschlichen Verderbens entsteht, daß wenn man sieht, wie leicht das Böse in dem Menschen zu entzünden ist, wenn man sieht, wie das verlezte Gesez der Gerechtigkeit | und Ordnung sich rächt dadurch, daß aus jedem Unrecht ein neues entsteht, als dann die Aufmerksamkeit gelenkt wird auf die Art, wie dieser oder jener das Böse zu seinem eigenen Vortheil zu benuzen, oder einen Nachtheil, der ihm entstanden ist, durch eine kluge aber ungerechte Wendung gut zu machen weiß, und daß an die Stelle des reinen sittlichen Gefühls nichts tritt als eine höchst verderbliche Werthschäzung der Klugheit, die das Merkmal zwischen den Kindern des Lichtes und den Kindern dieser Welt. Hätte nicht das, was geschehen war, dem Herrn des Hauswesens dazu gereichen sollen, daß er in sich gegangen wäre, und nachgedacht hätte darüber, wie sein eigenes Unrecht so bittere Folgen nach sich gezogen, | daß er bei sich selbst gedacht hätte: „hättest du nicht den Reden der Verleumder Gehör gegeben, hättest du nicht in argwöhnischer mißtrauischer Uebereilung deinen Diener verurtheilt, so würde es nicht zu einer solchen Ungerechtigkeit gekommen sein, so würde deine Schuld sich nicht auf eine so wiedergesezliche Art gewendet haben gegen das Recht“, wenn er dabei sich das Gelübde gethan hätte, der Schwachheit seines Herzens Wiederstand zu leisten in Zukunft in gutem Vertrauen unter seinen Brüdern zu leben, sich so mit ihnen vertragend: dann hätte er ein Recht bekommen den Haushalter, hätte er ihn auch nicht strafen können, in dem Innern seines Herzens zu tadeln. Aber dieses | Recht wollte er sich nicht erwerben, vielmehr war er bekümmert auf dem Grunde des gemeinsamen Verderbens sich einen vorübergehenden Vortheil zu erwerben. Und so wie er verführt wurde zu dieser Werthschäzung der Klugheit, so begegnete ihm dies zu seiner größten Strafe, daß er den in seinem Innern loben mußte, den er erst gebracht hatte zu einer Uebertretung der Ordnung, des Rechts und

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des Gesezes. Ja, m. g. F., so ist es; die Kinder der Welt sind klüger als die Kinder des Lichtes in ihrer Art. Was war es anders als eben die verderbliche Klugheit, die hier vom Anfang bis zum Ende gewaltet hatte, indem auf der einen Seite die Un|gerechtigkeit den Preis davontrug, auf der andern Seite sich selbst wohl gefiel, eben in der Bewunderung der Klugheit. Die Kinder des Lichtes begehren die Klugheit der Kinder dieser Welt nicht, sie können nicht anders als das einfach Rechte thun, und Gott, dem Herrn gehorchen, sie können nicht anders als ihm wohlgefällig und unsträflich seine Wege gehen. Aber das kann nur der, der durch Gottes Gnade, statt dem dem Menschen natürlichen Gebrechen des Argwohns und des Mißtrauens, die göttliche Liebe in sein Herz aufgenommen hat. Nur der, welcher unbekümmert um seine irdische Zukunft immer nur zu sich selbst sagt: „wie sollte ich ein so großes Übel thun, | und wieder den Herrn, meinen Gott, sündigen!“ das ist die sicherste Grundlage, worauf alles, was in das Leben der Menschen hineinfällt und demselben zugehört, beruhen kann. So nur jeder seinen eigenen irdischen Vortheil im Auge hat, so wird der Geist der Liebe geschwächt; so wie jeder den Glauben an die Liebe der Menschen aufgiebt, so entsteht eben daraus dies, daß das Gefühl für Recht und Unrecht in der menschlichen Seele sich abstumpft. Wer aber auf nichts anderes denkt als nur auf das Gesez des Herrn und auf das Recht, welches dieses hat in der menschlichen Seele, wer überzeugt ist, es giebt nichts, was den Menschen so tief verlezt als diese Ungerechtigkeit und Treulosigkeit, nichts, | was ihm ein solches Verdienst giebt als wenn er dieser wiederstrebt: dann ruht menschliches Recht und menschliche Ordnung auf der Einen Grundlage, welcher allein sie würdig sind. So wir aber statt des Gefühls der Unterwerfung unter das Gesetz des Höchsten, statt des Ruhmes, den der Mensch darin finden soll, in Liebe zu seinen Brüdern und in Übereinstimmung mit ihnen das Werk seines Herrn zu fördern, die Klugheit dieser Welt Raum gewinnen lassen in unserer Seele: dann ist es um alle Gerechtigkeit und Ordnung in der Welt geschehen. Denn es ist immer der größte Trug der Klugheit gewesen, die Geseze zu hintergehen ohne eigenen Nachtheil. Aber an dieser Gesinnung eben mehr | als an allem andern lehrt uns der Herr unterscheiden die Kinder der Welt und die Kinder des Lichtes. So ist es, m. g. F., so oft wir den Geist Gottes in uns betrüben, so daß wir der Sünde Raum geben, so oft schwächen wir seine Kraft in unserer Seele, und bereiten der Sünde eine größere Macht bis sie so weit gekommen ist, daß sie ein Gefühl in uns hervorruft, welches jenem höheren, das die göttliche Gnade in unserem Innern erzeugen will, das Gegengewicht hält, und so wächst, so wie das Verderben ans Licht gekommen ist, dasselbe von einer Stufe zur andern bis es sich etwas erworben hat, worauf seine Macht ruht; denn eben die Klugheit der Kinder dieser Welt ist es, daß sie sich etwas 26 unter] zu ergänzen wohl das Gesetz

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gewinnen, wo|durch sie dem Reiche Gottes einen Wiederstand entgegen setzen können, der die Entwiklung desselben auf alle Weise zu hemmen sucht. Aber die Kinder dieser Welt sind es nicht, die uns aufnehmen können in die ewigen Hütten. Mögen wir ihren Argwohn und ihr Mißtrauen, wodurch sie sich selbst gefallen, nähren, mögen wir ihrem Eigennutz schmeicheln, mögen wir uns dazu hergeben dasjenige zu befördern, was die Bande der menschlichen Gesellschaft auflöst, mögen wir uns schützen auf diesem Wege gegen diesen oder jenen Unfall, mögen wir glauben uns einen Beistand errungen zu haben, der stark genug ist für jedes Mißgeschik, welches uns treffen kann: so mögen wir auf|genommen sein in die armseligen und dürftigen Hütten, in welchen die Kinder dieser Welt wohnen, und wo es keine höhere Ausstattung giebt als die Meinung der Menschen. Es giebt nur eine Einzige Hütte des Friedens, die ist da wo der Herr seinen Thron aufgeschlagen hat, in dem Reiche des Rechts und der Gerechtigkeit; es giebt keine andere ewige Hütte des Friedens als die Gemeinschaft des Herrn in welcher Ordnung wohnt und rechtschaffenes Wesen. – So laßt uns denn den Versuchungen tapfern Wiederstand leisten, mögen sie uns von innen kommen oder von außen; und wenn wir an die Schwachheit der menschlichen Seele denken, so laßt uns das Wort das Apostels vernehmen, daß Gott uns nicht anders als menschlicher | Weise und so versucht werden läßt, daß es ein gutes Ende gewinnt, wenn es uns nur ein Ernst ist nicht von seinen Wegen zu weichen, und wenn wir uns mit Gebet und Flehen zu dem wenden, und an den halten, der allein dem Menschen einen neuen Geist geben und ein reines und gewisses Herz in ihm schaffen und erhalten kann. Amen.

13–14 Vgl. Jes 16,5

20–21 Vgl. 1Kor 10,13

23–25 Vgl. Ps 51,12

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Am 26. August 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,17–20 Nachschrift; SAr 80, Bl. 1r–22r; Andrae SW II/10, 1856, S. 238–252 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 101, Bl. 118v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 90v–91r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 187v–192r; Woltersdorff Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. Matthäi X, 17–20. Hütet euch aber vor den Menschen, denn sie werden euch überantworten vor ihre Rathhäuser, und werden euch geißeln in ihren Schulen, und man wird euch vor Fürsten und Könige führen um meinetwillen zum Zeugniß über sie und über die Heiden. Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt, denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern euers Vaters Geist ist [es], der durch euch redet. M. a. F. Es bedarf, nachdem wir schon bekannt sind mit dem allgemeinen Gegenstande dieser | Reihe von Vorträgen, keines besondern Einganges in Beziehung auf die verlesenen Worte unsers heutigen Textes. Es ist für sich selbst deutlich, daß der Erlöser darin seinen Jüngern eine Anweisung ertheilt in der Führung ihres Amtes, und zwar in Beziehung auf die rechte Art von Verantwortung, die von ihnen würde gefordert werden. Damit wir aber den Rath, den er ihnen hier giebt, zu unserer Erbauung hier anwenden können, so ist freilich zuerst nöthig, daß wir überlegen, in wiefern auch wir noch in denselben Fall kommen können, und ob es mit der Sache des Khristenthums und mit dem allgemeinen Beruf aller Khristen, sie nach ihren besten Kräften zu för|dern, jezt noch eben so oder anders stehe als damals. Das laßt uns also erst mit einander erwägen, und dann auf den Rath selbst achten, den der Herr seinen Jüngern giebt.

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I. Der Erlöser sagt nämlich zu seinen Jüngern, indem er in die Zukunft hineinschaut, wo sie seine Sache auf Erden würden zu verrichten und das Evangelium von ihm würden zu verkündigen haben, daß sie würden überantwortet werden in die Schulen und auch vor Fürsten und Könige geführt, worin er also unterscheidet und zusammenfaßt diejenigen, welche die Weisheit des Volks, und diejenigen, welche die Macht desselben zu verwalten haben. Beides ging an den | Jüngern des Herrn bald und auf verschiedene Art in Erfüllung; denn zuerst wurden sie vor den hohen Rath ihres Volks und vor die Schulen ihrer Weisen gestellt, um Rechenschaft zu geben von ihrer Lehre, bald aber auch nur um sich verbieten zu lassen, daß sie nicht predigen sollten in diesem Namen. Und als späterhin das Evangelium Wurzel gefaßt hatte auch unter den Heiden, da waren es auch bald die Weisen dieser Welt, welche die Lehre des Evangeliums angriffen, und gegen die sich also die Vertheidiger des Khristenthums zu verantworten hatten. Eben so waren es die Fürsten und Könige und ihre Stellvertreter die Obrigkeiten höherer und niederer Art, die sich sehr bald in diese große | Angelegenheit der Verkündigung des Khristenthums mischten, indem nämlich den Khristen Schuld gegeben ward theils, daß sie die allgemeinen Bande des Glaubens und der Frömmigkeit, durch welche die Menschen zusammengehalten wurden, und die auch immer ein so wirksames Mittel waren, sie in Gehorsam gegen menschliche Ordnung und menschliche Geseze zu erhalten, wankend machten, und daß ihre Lehre eine solche sei, die nur darauf abzweke Unordnung, Aufruhr, Geringschäzung alles dessen, was besteht in dem Menschen zu weken. So war es freilich natürlich, und konnte nicht anders sein, so lange das Khristenthum sich ausbreitete vorzüglich unter | solchen Völkern, die vorher, sei es nun dem jüdischen Glauben, oder sei es dem heidnischen Wahn und Aberglauben zugethan waren. Nun ist es aber freilich nicht mehr so, m. g. F., gegenwärtig ist die Verbreitung des Khristenthums nach außen unter solche Völker, welche die Stimme desselben vorher noch nicht vernommen hatten, ein sehr geringer Theil der gesammten khristlichen Thätigkeit, und der Stamm der Khristen ist in dem größten Theile der Welt so geachtet, und die meisten Völker, die zur Kenntniß des Evangeliums noch nicht gekommen sind, den khristlichen Völkern so untergeordnet in jeder Art der Bildung des Geistes, daß von einer solchen Verantwortung nur in wenigen | Fällen die Rede sein kann. Aber es ist eben seit dem geschehen, daß das Khristenthum selbst verschiedene Gestaltungen angenommen hat, und bald hat das Licht desselben in seinem ganzen Umfange heller geglänzt, bald sind Zwischenräume der Finsterniß eingetreten. Wenn dann Gott sich Rüstzeuge erwählte, um den erloschenen Glanz wiederherzustellen, dann trat derselbe Fall ein, daß auch sowohl die Weisen 14 gegen die] gegen

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einer jeden Zeit aufstanden gegen diejenigen, die ein helleres Licht wieder anzuzünden von Gott ausgerüstet waren, als auch, daß die Mächtigen der Erde sich ebenfalls durch mancherlei Vorspiegelungen und leere Besorgnisse bedrängt dagegen | erhoben. So geschah es zur Zeit unserer Kirchenverbesserung, daß die ersten Vorgänger derselben auf der einen Seite zu kämpfen hatten mit den Schulen der khristlichen Weisen und Gelehrten, in denen aufbewahrt ward das auf mancherlei Weise erloschene Licht früherer Zeiten, und es fehlte auch nicht, daß diese Helden des Glaubens von ihren Gegnern beschuldigt wurden, daß ihr ganzes Bestreben nur darauf abzweke, die menschliche Ordnung zu zerstören. Da wurden sie denn gefordert vor Fürsten und Könige um Antwort zu geben über ihre Lehre. Und eben so, m. g. F., geht es nun, wenn gleich in einem geringeren Maaßstabe, und wird es gewiß auch immer gehen, in der khristlichen | Kirche, abwechselnd zu gewissen Zeiten mehr im Kleinen, zu andern aber wieder mehr im Großen. Denn so hat es der Herr geordnet, weil es unvermeidlich ist, daß in den Händen der Menschen auch die Wahrheit, die Khristus ans Licht gebracht hat, verändert, theils im Einzelnen verunstaltet, theils, der verschiedenen Beschaffenheit der Menschen gemäß auf verschiedene Weise dargestellt wird, und daher kann es unmöglich fehlen, an Streit und Gelegenheit zur Verantwortung. Und auch das ist in der khristlichen Kirche immer noch nicht selten, daß auch diejenigen, die eigentlich nur die irdische Gewalt der menschlichen Gesellschaft zu verwalten haben, sich doch auf|werfen bald mit mehr bald mit weniger Anschein des Rechts zu Richtern über dasjenige, was in der Gemeine des Herrn in Beziehung auf khristliche Wahrheit und Weisheit vorhanden ist. Und so sehen wir, daß allerdings in einem gewissen Sinne die Beziehungen und Verhältnisse sich geändert haben; was aber der Herr hier wesentlich meint, indem er zu seinen Aposteln redet, nämlich den Fall, daß der Khrist Rede und Antwort geben muß, bald vor dem Gericht der menschlichen Weisheit, bald vor der bürgerlichen Gewalt und dem äußern Ansehen, über seine eigenthümliche Ueberzeugung von der Wahrheit des Khristenthums. Dieser Fall tritt unter | manchen Gestalten immer noch ein, und wird niemals aufhören. Wie nun, m. g. F., auch darin die Gestalt des Khristenthums und der Gemeine des Herrn sich geändert hat, daß allerdings für jezt noch die öffentliche Verkündigung des göttlichen Wortes, die Auslegung der Schrift, die Belehrung der Khristen ein eigener Beruf ist, zu welchem sich die khristliche Kirche ihre Diener aussondert und erwählt, doch aber der große Unterschied, der in den ersten Zeiten der Kirche natürlicher Weise Statt finden mußte zwischen den Aposteln des Herrn, die seine eigene Unterweisung genossen hatten, und mit ihm gewandelt waren von der Zeit seiner Taufe an | bis zu dem Augenblik seiner Aufnahme in den Himmel, und zwischen denen, die durch ihr Wort allmälig erst sowohl von der Herrschaft des Gesezes, als von der Herrschaft des heidnischen Wahnes, dem Lichte des Evangeliums gewonnen wurden,

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daß dieser große Unterschied, sage ich, jezt nicht mehr Statt finden kann, sondern durch die Wirkungen des göttlichen Geistes und durch die Kraft des Evangeliums nun immer mehr die Zeit nahen kann, die als das schönste Ziel der Vollkommenheit in dem Schooße der khristlichen Kirche den Khristen vorgehalten wird, wo nämlich mit Recht von einem jeden wird gesagt werden können, daß er von | Gott gelehrt sei. So, m. g. F., ist denn diesem Unterschied gemäß auch der Beruf Verantwortung zu geben über die Lehre des Evangeliums ein weit allgemeinerer, als er damals es war, wo nur einige Wenige es waren, die da auftreten konnten, um überall die gemeinsame Sache zu vertheidigen. So ist es denn für uns alle der Mühe werth und etwas Wichtiges, daß wir mit einander den Rath, den der Herr in dieser Beziehung seinen Jüngern giebt, erwägen, und das sei denn der folgende Gegenstand unserer Betrachtung. II. Dieser Rath aber besteht darin, daß der Herr zu seinen Jüngern | sagt, sie sollten nicht sorgen, was sie reden würden, wenn sie zur Verantwortung gezogen würden über seine Lehre; denn es würde ihnen gegeben werden zu derselben Stunde, wo sie es bedürften. Und weil er besorgt, daß dies ihnen wohl zu groß scheinen möchte, und daß sie sich selbst unfähig fühlen möchten nach dieser Anweisung im Dienste ihres Meisters zu Werke zu gehen: so fügt er hinzu, daß sie dabei nicht auf sich selbst zu sehen hätten, denn sie wären es nicht, die da redeten, sondern der Geist ihres Vaters wäre es, der durch sie redete. Und dies beides, jene Anweisung und diese ermuthigende Verheißung des Herrn stehen in dem genau|sten Zusammenhange mit einander. Was nun zuerst die Anweisung betrifft, m. g. F., daß der Khrist, wo es darauf ankommt Verantwortung über die Lehre des Evangeliums zu geben, nicht sorgen solle, was er reden werde, denn es werde ihm gegeben werden zu der Stunde wo er es bedarf: so scheint diese Anweisung leicht auf den ersten Anblick der Art, wie sonst menschliche Dinge getrieben werden, nicht angemessen, aber eine genauere Betrachtung wird uns bald lehren, wenn wir nur die Worte des Herrn in ihrem rechten Umfange verstehen, daß eben dies das einzig Richtige sei. Nämlich wir würden ja gewiß irren, und die Worte | des Herrn gewaltsam aus ihrem Zusammenhange herausreißen, wenn wir sie anwenden wollten auf das große und wichtige Geschäft khristlicher Belehrung. Denn ganz ein anderes ist es, wenn man überzeugen, wenn man auseinander setzen, wenn man Einzelnes aus dem Allgemeinen ableiten, wenn man Verschiedenes in seiner Uebereinstimmung darstellen soll. So oft wir uns unter einander belehren, 10 für uns alle] so SW II/10, S. 242; Textzeuge: mit uns allen 6 Vgl. Joh 6,45

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so soll uns ein besonderer Theil der khristlichen Wahrheit oder ein besonderes Gebiet des khristlichen Lebens vor Augen stehen, und jeder, der da auftritt um zu lehren, in welcher Gestalt und Weise es | auch sei, der muß es für seine heiligste Pflicht halten, eben je mehr ihm angelegen ist auf Andere zu wirken, daß auch alles recht sei, was er sagt, und daß es nicht aus seinem Eigenen kommt, sondern aus dem gemeinsamen Schaz der göttlichen Wahrheit, die der Seele soll mitgetheilt werden. Daher gehört es auch zu der wahren und löblichen Ordnung in allen khristlichen Gemeinen, daß das Geschäft des Lehrens so wohl des öffentlichen Belehrens der Gemeine als auch des Unterrichts der Jugend betrieben werde mit der größten Sorgfalt, und mit der genausten Ueberlegung, und daß sich nicht da jemand verlasse auf das, was ihm der Augenblik eingeben werde. Es | war aber auch nicht eben dieses Geschäft, von welchem der Erlöser in den Worten unseres Textes redet, sondern es war die Vertheidigung des Evangeliums gegen die Gegner desselben, und wenn wir das nur festhalten, so werden wir finden, daß auch hier die Weisheit des Erlösers die einfachste, und eben deswegen auch die höchste ist. Um dies einzusehen, m. g. F., so laßt uns nur vergleichen wie wohl in einem solchen Falle derjenige zu Werke gehen mag, der vollkommen überzeugt ist und in seinem ganzen Innern durchdrungen von der Wahrheit dessen, was er glaubt und vertheidigt, und wie auf der andern Seite derjenige zu Werke gehen wird, dem selbst noch dieses oder jenes | ungewiß ist, und dessen Herz noch nicht ganz festgeworden. Der Erste nämlich, m. g. F., weil er so fest überzeugt ist und so ganz durchdrungen von der Wahrheit, so weiß er eigentlich nicht, wo wohl ein anderer dieses angreifen werde, was für ihn die höchste Gewißheit und die größte Klarheit hat; und kann sich nicht denken, von welcher Seite wohl, sei es die menschliche Klügelei eines verkehrten Verstandes, oder sei es die Lust eines verderbten Herzens, von welcher Seite sie wohl kommen werde, um die einfache göttliche Kraft und Wahrheit des Evangeliums anzugreifen; und eben darum, weil er das nicht weiß, so kann er sich nicht auf eine besondere | Weise rüsten, sondern er ist nur gerüstet durch seine feste Ueberzeugung, und weil er weiß, daß das in seinem ganzen Zusammenhange göttliche Wahrheit ist, wodurch er sein Leben leiten läßt, und was alle seine Gedanken zusammenhält und regiert: so kann er nicht anders als die feste Ueberzeugung haben, daß sich ihm das, was dagegen auftritt, sei es, was es sei, auch so gleich in seiner Falschheit und Verkehrtheit entdeken werde, und daß er, wie er sich im Voraus nicht denken kann, welcher Einwurf gemacht werden kann, gegen die Wahrheit des Khristenthums, eben so gewiß in dem Augenblik, wo ihm das Falsche entgegen tritt, es nicht nur in seiner Falschheit erkennen werde, | sondern auch finden, mit welchen Waffen er dagegen kämpfen soll. Aber so kann freilich der nicht zu Werke gehen, dessen Herz noch nicht fest geworden ist, der noch täglich damit zu thun hat, seine Ueberzeugung zu berichtigen, der noch selbst mit

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diesem oder jenem Zweifel kämpft in dem selbst in manchen Augenbliken geheime Wünsche des Herzens aufsteigen, daß es sich mit diesem oder jenem in dem ganzen Gebiet und Umfang des Khristenthums nicht so verhalten möge, wie es sich verhält. O der ist eingeweiht schon im Voraus in das Geheimniß derjenigen, deren Fleisch gelüstet wieder den göttlichen Geist, der kann, indem er sich genau in ihre Stelle | zu versezen weiß, auch wohl im Voraus schon übersehen, wie er in ihnen das beschwichtigen werde, was er in sich selbst zu beschwichtigen bemüht ist, der kann sich denken, je nachdem er die Ähnlichkeit der Menschen kennt mit denen er es zu thun hat, welche Art der Einwendungen und Gegenreden wohl von dieser oder jener Seite her möchte vorgebracht werden, und je besser er das weiß, und je weniger er sicher ist in sich selbst, um desto mehr kann und muß er vorher sorgen und berechnen bei sich selbst was er sagen werde. In diesem Geschäft also, da verräth die vorbereitende Klugheit, das sorgsame Vorherbedenken, die eigene Schwäche und Man|gelhaftigkeit der Ueberzeugung, und es bekundet dadurch der Mensch, daß er noch nicht ganz Eins geworden ist mit dem Geist des Evangeliums. Aber eben deswegen konnte von dem Erlöser, dem Gott alle seine Werke gezeigt und offenbart hat, und der sich selbst das Zeugniß geben konnte, seinen Jüngern alles mitgetheilt zu haben, was er von seinem Vater gehört hat, und der sie eben deswegen anredet als seine lieben und theuren Freunde, von dem konnte keine andere als jene einfache Weisheit kommen, und so mögen wir uns denn überzeugen, daß die Ausübung derselben in unserem mannigfaltigen Verkehr mit der Welt, denjenigen am meisten | geziemt, die gleich den Jüngern des Herrn schon am meisten fest geworden sind im Glauben, und daß, inwiefern der Gläubige sich getraut so unvorbereitet, wo es die Gelegenheit giebt und wo es von ihm gefordert wird, in die Schranken zu treten, um die Sache des Khristenthums zu vertheidigen, daß dies das Maaß sei von der Festigkeit seines Herzens und von der Klarheit seiner Ueberzeugung. Aber freilich, m. g. F., hängt dies auf das innigste zusammen mit demjenigen, was der Erlöser seinen Jüngern zum Trost und zur Ermuthigung sagt: „ihr seid es nicht, die da reden, sondern es ist euers | Vaters Geist, der durch euch redet.“ Denn, m. g. F., das ist eine sehr allgemeine Erfahrung, je mehr der Mensch glaubt, daß dasjenige, was er erklärt, was er auseinander sezt, was er vertheidigt, was er den Menschen lieb und werth machen soll, je mehr er glaubt, daß dies aus seinem eigenen Herzen, und seiner eigenen Empfindung und aus seinem eigenen Verstande kommt, desto mehr muß er auch ahnden, daß, weil nicht ein Mensch dem andern gleich ist, eben dies mancherlei Hindernisse und mancherlei Entgegenstehendes finden werde in dem Verstande und in der Empfindung anderer Menschen, und um diese zu befriedigen, so sucht er, wie | er seine Kraft beilegen möge, 18–19 Vgl. Joh 5,20

19–21 Vgl. Joh 15,15

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und je mehr es ihm fehlt an der innern Kraft der Ueberzeugung, desto mehr sucht er die äußere Kraft, die aus der Kunst und dem Schmuk der menschlichen Rede entsteht, und diese sind die Wenigsten im Stande ihren Worten auf eine unvorbereitete Weise beizulegen, und daher in solchen Fällen am meisten das Gefühl der Nothwendigkeit auch auf jede Vertheidigung einer guten Sache, auch auf jede Verantwortung, die wir abzulegen haben, sorgfältig gefaßt und vorherbereitet zu sein. Je mehr aber der Mensch sich bewußt ist, daß das, was ihn bewegt und erfüllt, eines höhern Ursprungs ist, desto | mehr ist er sich auch bewußt der höhern Kraft, die es ausübt. Dem einzelnen Menschen und seinem Werke kann der einzelne Mensch gegenüberstehen, dem gemeinsamen Geist aber wiederstrebt der einzelne immer nur schwach und vergebens, und wird bald seiner Ohnmacht inne. Dieses Verhältniß bemerken wir schon in menschlichen Dingen zwischen dem, was nur dem Einzelnen eignet, und zwischen demjenigen, was die Kraft und der Geist eines weit verbreiteten gemeinsamen Lebens ist. Da weiß jeder, daß sein Wort einen Fürsprecher hat in dem Herzen und in dem Sinne der Menschen selbst, da weiß er, es wird auch in ihnen dasjenige lebendig erklingen und von ihnen | erkannt werden, was in dem Gemüthe sein muß, und vielleicht nur schlummert oder vom Irdischen überdekt ist auf eine gefällige Weise. Was aber, m. g. F., will das sagen gegen jenen Unterschied zwischen dem, was aus dem Herzen und aus der Seele des einzelnen sündigen Menschen selbst hervorgeht, und zwischen demjenigen, was der Geist des Vaters aus ihm redet. Darum wußte auch der Erlöser, um seine Jünger zu bewegen, daß sie seiner Ermahnung folgen möchten, nichts Kräftigeres hinzuzufügen als daß er sie dessen erinnert, was er ihnen gewiß damals schon öfter gesagt hatte, daß jemehr sie leiblich würden von ihm gesondert sein, um | desto mehr und desto kräftiger sein und seines Vaters Geist in dem Innern ihres Herzens wohnen, und aus ihnen heraus reden und handeln werde. Darum ist es auch nicht anders möglich, als daß sehr verschieden sein wird der Muth desjenigen, der, wenn er etwas zu vertheidigen hat und zu vertreten, weiß und fühlt, daß er nur sich selbst vertheidigt und vertritt, und ganz anders und viel größer und erhabener der Muth dessen, der überzeugt ist, und dem der Geist Gottes in seinem Herzen das Zeugniß giebt, daß er nichts sucht und will als die ewige Wahrheit, die von oben kommt, daß er sein eigenes Tichten und Trachten, so wie sein ei|genes Sinnen und Denken freiwillig hingegeben hat in den Dienst eines höheren Geistes, und daß dem alles untergeordnet ist, und vielmehr alles aus der Kraft und Fülle desselben hervorgeht, was sich in seinem Herzen und in seinen Gedanken regt. Je mehr wir diese Zuversicht haben, desto mehr wird unser Muth und unsere Kraft in der Vertheidigung des Evangeliums dem der ersten Jünger des Herrn gleich sein, und desto mehr werden wir uns kräftig genug fühlen die einfache Weisheit des Erlö27–28 Vgl. Joh 14,23

35 Vgl. Gen 6,5

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sers, die er in den Worten unseres Textes gegen seine Jünger ausspricht, zu befolgen. Was aber, m. g. F., was könnte wohl dem Khristen wichtiger | sein, als eben dies, zu wissen wie fest sein Herz ist, wie stark sein Glaube, wie tief gewurzelt seine Ueberzeugung von demjenigen, was uns allen das Theuerste und Heiligste ist. Das können wir aber nicht besser wahrnehmen, als eben, wenn wir in diesen Zustand der Verantwortung und Vertheidigung kommen. Darum hat die göttliche Weisheit von Zeit zu Zeit solche Umstände herbeigeführt in der khristlichen Kirche, wo es wichtige Sachen des Glaubens und der Ueberzeugung zu erörtern gab, darum erwekt sie noch von Zeit zu Zeit der guten Sache des Evangeliums mehr oder weniger wohlmeinende Gegner, damit wir, die | wir glauben des Maaßes unserer Kraft inne werden, damit wir fühlen, in welchem Grade es der Geist des Vaters ist, und wie weit wir bereit sind und tüchtig als Werkzeuge des göttlichen Geistes. Aber auch was das lebendige Verhältniß betrifft, welches sich zwischen denen nothwendig entwikelt, von denen der Eine Verantwortung fordert, und der Andere Verantwortung giebt, auch in Beziehung auf dieses bedarf der, aus welchem der Geist des Vaters redet, weil er in ihm wohnt, keiner vorläufigen Sorgen. Denn so wie dieser Geist der Geist der Wahrheit ist, der uns in alle Wahrheit leitet, der uns alles dessen erinnert, was unser | Erlöser gesagt hat; so wird dieser Geist des Gedächtnisses und der Erinnerung uns gewiß dann am wenigsten verlassen, wenn wir das Herz voll haben von dem göttlichen Triebe, für die Sache des Evangeliums zu reden, und unsere Ueberzeugung zu vertheidigen vor denen, die sie angreifen, da wird gewiß dem wahrhaft Gläubigen das rechte und kräftige Wort nicht fehlen, sondern der Geist der Wahrheit und der Erinnerung, der wird es ihm geben zu der Stunde, da er seiner bedarf. So wie nun der Geist des Vaters der Geist der Wahrheit ist, und uns in dieser Hinsicht sicher führt, so ist er auch der Geist der Liebe, der uns gewiß immer richtig | leiten wird in der Art und Weise diejenigen zu behandeln, die als Gegner der khristlichen Wahrheit auftreten. Denn unmöglich, m. g. F., kann der Khrist das große Geschäft, Rede und Antwort zu geben von seinem Glauben, nur auf die Weise behandeln, daß er mit sich selbst zufrieden ist, wenn er die Gegner der Wahrheit zum Schweigen gebracht hat, daß sie gegen sein kräftiges Wort nichts mehr zu reden wissen; sondern daran muß ihm am meisten liegen, daß das Stillschweigen, zu welchem er sie nöthigt, kein Stillschweigen der Verlegenheit und des Wiederwillens sei, daß dem Evangelio aus seinem Siege kein neuer Haß und keine neue Feind|schaft in dem Herzen der Menschen erwachse, sondern vielmehr, daß durch jede solche Verhandlung die verstokten Herzen aufgeregt werden, daß ihnen etwas ahnde nicht nur von der Kraft des Evangeliums sich zu vertheidigen, sondern auch von der in die Herzen der Menschen hineinzudringen, hineinzudringen als ein 18–19.27 Vgl. Joh 16,13

28 Vgl. 2Tim 1,7

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Strahl des Lichtes und als die beseligende Kraft der Erlösung. Und haben wir in diesem Geschäft der Vertheidigung des Evangeliums diese Kraft der Liebe: o so wird auch der Geist der Liebe uns leiten, daß wir die Beschaffenheit der Menschen erkennen mit denen wir es zu thun haben, daß wir ihr Gemüth ergreifen | und erheben, und daß wir, so wie wir sie zum Schweigen bringen und ihr Herz mit Ehrfurcht vor dem erfüllen, der die Wahrheit ist und das Leben, auch die Lust in ihnen erweken, die Wahrheit zu ergreifen, und sie in den Kreis ihres ganzen Daseins aufzunehmen. Und darum bewirkt denn der Geist der Liebe, der aus den Menschen redet, nicht nur dies, daß sie frei sind von Hochmuth, wenn sie den Sieg über die Gegner des Evangeliums erringen, sondern er leitet sie auch mit der Kraft der Liebe, die feindseligen Herzen zu gewinnen, damit etwas hinzugethan werde zu dem Umfang des Reiches Gottes auf Erden. So, m. g. F., so | wird sich immer in der khristlichen Kirche auch dieses Wort des Herrn bewähren als die einzig wahre und tiefste Weisheit, und wenn wir sorgen, daß unser Herz fest werde, wenn wir nie aufhören nach der Wahrheit zu ringen: o dann wird es auch der Geist des Vaters sein, der aus uns redet, und der uns, und durch uns andere immer mehr in alle Wahrheit leitet. Aber ich kann, m. g. F., diese Betrachtung nicht schließen ohne einen Gedanken zu berüksichtigen, der wahrscheinlich in vielen unter euch aufgestiegen ist, wie er auch in mir selbst aufstieg, als ich meinen heutigen Vortrag im Voraus überlegte. Nämlich wenn wir nun betrachten, | wie verschieden unter den Khristen selbst die Ansichten sind über die Wahrheit des Khristenthums, und über das Wesen des khristlichen Lebens und des Reiches Gottes auf Erden, wenn wir sehen, wie bei diesen Verschiedenheiten wie überall in einem verschiedenen Maaße, aber wir dürfen wohl sagen gleich vertheilt sind die geringeren und die größeren, und wie auch die, welche verschieden denken, dennoch mit demselben Eifer und mit demselben Vertrauen sich bereiten wollen um Antwort zu geben von dem Glauben, der in ihnen ist: müssen wir nicht fragen, aus welchen von ihnen redet denn nun der Geist des Vaters, da sie so verschiedene Sprachen zu reden schei|nen, und den Einen so, der Anderen anders, das Khristenthum in seiner seligmachenden Kraft ergriffen hat? O, m. g. F. laßt uns nicht zweifeln, lieben sie alle unsern Herrn Jesum Khristum, und suchen in keinem andern Heil als in ihm, so redet auch der Geist des Vaters aus ihnen allen, wie wohl sie verschiedene Worte reden und verschiedene Lehre verkündigen. Denn wie der Apostel sagt, sind wir Ein Leib, so sind wir verschiedene Glieder, und jedes Gliedes Werk ist nothwendig und unentbehrlich: so mögen wir auch dasselbe sagen von der Gabe der khristlichen Erkenntniß und der khristlichen Einsicht. Auch in dieser Beziehung sind wir nur so Ein Leib, daß 3.9 Vgl. 2Tim 1,7 6–7 Joh 14,6 Röm 12,4–6; 1Kor 12,12–27

17–18 Vgl. Joh 16,13

37–38.40–1 Vgl.

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wir verschiedene Glieder sind, | keiner vermag die Wahrheit des Evangeliums ganz zu fassen, und verschieden, wie die Menschen sind, vermögen sie auch nicht alle dasjenige, was sie fassen können, sich auf die Weise anzueignen, und verschieden, wie sie sind, kann auch der göttliche Geist nicht anders als jeden nach seiner eigenthümlichen Art und Weise als sein Werkzeug gebrauchen. Und so ist es denn wahr, daß die ganze Wahrheit des Evangeliums in der khristlichen Kirche nicht hier ist und nicht da, sondern sie ist überall, sie ist überall, weil sie überall noch in der Entwiklung begriffen ist, so ist sie auch überall, wenn gleich auf verschiedene Weise bei allen denen, die den Namen unseres Erlösers aufrichtig bekennen, und wenn | Gott der Herr es dem Einen so dem Andern anders offenbart, so preisen wir auch dann seine Weisheit und seine Herrlichkeit. Unsere Sache aber ist es, m. g. F., daß wir diese Verschiedenheit der Meinungen der Khristen unter einander nicht etwa so betrachten, wie die Gegner des Khristenthums, Verantwortung fordernd auf eine gebietende Weise, ja wie es die Worte unseres Textes sagen, oft geißelnd und stäupend ehe sie Verantwortung fordern; sondern unter den Khristen kann und soll nichts anders sein, als freundschaftliches Suchen der Wahrheit, damit jeder immer mehr erkennen lerne, wie der Herr es dem Einen so, dem Andern anders offenbart, und damit wir bei der Verschiedenheit der | Worte und Ausdrüke denselben Geist der Wahrheit, der alle beseelt, denselben Geist der Liebe, der alle treibt, immer deutlicher erkennen lernen, und durch dergleichen in dem menschlichen Leben unmeidliche Verschiedenheiten nicht irre gemacht werden in dem Glauben an den großen Umfang der göttlichen Weisheit und Liebe, in dem Glauben, daß alle, wenn gleich auf verschiedene Weise sich beugen vor dem Namen dessen, dem Gott alle Gewalt gegeben hat im Himmel und auf Erden, und der allen geworden ist zur Erlösung und zur Weisheit, und damit wir uns immer mehr befestigen in der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist. Amen.

23 unmeidliche] vgl. Adelung, Wörterbuch 4, 1261 25–26 Vgl. Phil 2,10 Kol 3,14

26–27 Vgl. Mt 28,18

27 Vgl. 1Kor 1,30

28–29 Vgl.

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[Liederblatt vom 26. August 1821:] Am 10. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir etc. [1.] Auf Leiden folgt die Herrlichkeit, / Triumf, Triumf nach kurzem Streit: / So singt die kleine Heerde, / Die bald der allertreuste Hirt / Mit großer Kraft erlösen wird / Von jeglicher Beschwerde. // [2.] Seid nun ihr Kinder wohlgemuth, / Weil Gott, der große Wunder thut, / Für euch und mit euch streitet. / „Ich bin der Herr, Immanuel, / Und gehe her vor Israel, / Mein Auge wacht und leitet. // [3.] Schaut in der Einfalt nur auf mich, / Die Meinen führ ich wunderlich, / Vertraut der Allmacht Händen. / Das Leiden währet kurze Zeit, / Bis zum Triumf der Herrlichkeit, / Dann soll es selig enden.“ // Nach dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Sollt ich aus Furcht vor Menschenkindern / Des Geistes Trieb in mir verhindern? / Nicht gegen soviel Heuchelschein / Ein treuer Zeuge Gottes sein? // [2.] Sollt ich den falschen Christen heucheln, / Der Rotte der Verwegnen schmeicheln, / Um eine Handvoll irdisch Gut, / Um zu entgehn der Menschen Wuth? // [3.] Wer sind denn die, die mich verlassen, / Mich als den Unheilbringer hassen, / Wer sind die, die so freventlich / Ihr Herz erbittern gegen mich? // [4.] Sie fahren hoch in ihren Sinnen, / Doch endlich werden sie noch innen, / Daß nicht ihr Thun vor Gott besteht, / Und seine Sache vorwärts geht. // [5.] Wer bin denn ich, den sie verschmähen? / Nicht nur auf mich ists abgesehen! / Gott ists ja der mich reden heißt, / Mich treibt und lenkt sein heilger Geist. // [6.] Drum wird mein Gott mich immer schüzen, / Wie sie auch wüthend auf mich blizen, / Mir wird in aller Lebenspein / Stets seine Huld ein Labsal sein. // [7.] Die Liebe Christi, die mich bringet, / Die ists, die mich im Geiste zwinget, / Mit Rufen, Locken, Bitten, Flehn / Der Menschen Seelen nachzugehn. // [8.] Darüber will ich gerne leiden, / Kein Kreuz und Spott der Bösen meiden. / Ja Herr, dein Will gescheh an mir, / Bring nur viel Gut’s dadurch herfür. // [9.] Ich weiß dein Wort wird endlich siegen, / Das finstre Reich muß unterliegen; / Sollt euch Verfolgung sich erneun, / Der Sieg des Lichts wird herrlich sein. // [10.] Drum stärk auch mich, mein Gott und Vater, / Sei, wo’s dein Wort gilt, mein Berather, / Daß frei und fest mein Zeugniß sei, / Dein ist das Wort, du stehst mir bei. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Ja du allein, du Geist der Wahrheit, / Machst meinen Pilgerschritt gewiß, / Und leitest stärkend mich mit Klarheit / Auch durch feindselge Finsterniß. / Du bist der Beistand meines Lebens, / Dich ruf ich irrend nie vergebens, / Wenn ja mein Fuß den Pfad verliert; / Dein Trost ists, der die Schwachheit stüzet, / Dein Wort die Kraft, die mich beschüzet, / Du selber bist es, der mich führt. //

Am 2. September 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

11. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 15,9–10 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 80, Bl. 22v–37v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 119r–127v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 60, Bl. 193r–197v; Woltersdorff Liederangabe (nur in SAr 60)

Nachmittagspredigt am elften Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. 1. Korinther XV, 9 u. 10. Ich bin der geringste unter den Aposteln, als der ich nicht werth bin, daß ich ein Apostel heiße, darum daß ich die Gemeine Gottes verfolgt habe. Aber von Gottes Gnade bin ich, das ich bin, und seine Gnade an mir ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet, denn sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade die mit mir ist. Der Apostel, m. g. F., hat es in diesem ganzen Kapitel seines Briefes ganz vorzüglich damit zu thun, den Korinthern, welche von Einigen waren irre gemacht worden an der Hoffnung der Auferstehung, diese auseinander zu setzen, und ihren Glauben daran fest zu | machen, und er beginnt damit, daß er aufzählt die Beweise für die Auferstehung unseres Herrn und Meisters, der der Erste war von den Todten, und wie er verschiedentlich von den Aposteln sei gesehen worden, und indem er dabei hinzusetzt, wie der Herr späterhin auch ihm erschienen sei, wenn gleich lange nach seiner Himmelfahrt, so bricht er dabei gleichsam ab, und in die Worte unseres Textes aus, indem er sich nicht enthalten kann, da er sich in Bezug auf sein Amt den übrigen Aposteln gleich stellt, zurükzusehen auf das, was er bisher für 2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 11. S. n. Trin. 1821. 0 Liederangabe in SAr 60, Bl. 193r: „Lied 371. v. 1–8 u. 372. v. 9–10“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 193 „Ach Gott! ich muß dies klagen“ (Melodie „O Haupt voll Blut und Wunden“); Lied Nr. 372 „Ach! was sind wir ohne Jesu“ (Melodie von „Herr! ich habe mißgehandelt“) 9–10 Vgl. 1Kor 15,12 12– 16 Vgl. 1Kor 15,3–8

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die Ausbreitung der Wahrheit gethan habe. Indessen nur einen Augenblik überläßt er sich diesem Gedanken, und gleich hernach geht er | wieder zurük zu dem eigentlichen Zwek dieser seiner ganzen Rede. Aber um so mehr müssen wir glauben, daß er in diesen Worten unsers Textes die innerste Empfindung seines Herzens ausgedrükt habe, und es geben uns daher diese Worte Veranlassung eine Frage zu beantworten, welche von jeher das Nachdenken beschäftigt hat, und über welche man sich oft nicht getraute, die Antwort des Herzens grade heraus zu sagen. Es ist dies die Frage über den Einfluß, welche die früheren Sünden des Menschen auf die Erweisungen der göttlichen Gnade in Khristo haben. Der Apostel stellt sich hier selbst zum Beispiel dar, und wir können es aus seinen Worten sehen, erstens, in wiefern ein solcher | Einfluß nicht statt findet; aber auch zweitens, in wiefern es einen solchen giebt, und so laßt uns denn dies beides heute zum Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung machen. I. Ich sage zuerst, wenn wir das erwägen, was der Apostel in diesen Worten unseres Textes sagt, so will er uns an seinem eigenen Beispiel anschaulich machen, daß der sündliche Zustand des Menschen, ehe die göttliche Gnade in seine Seele kommt, in sofern keinen Einfluß auf ihn hat, daß er die Erweisungen der göttlichen Gnade unmittelbar verhindern könne. Der Apostel läßt es sich recht angelegen sein, seinen früheren Zustand als einen solchen dar|zustellen, der ihn am meisten von der göttlichen Gnade entfernt gehalten habe, weil er eine recht gefliessentliche, absichtliche Entfernung seiner eigenen Seele von dieser göttlichen Gnade ausdrükte, indem er von sich sagt; „er sei nicht würdig, ein Apostel zu heißen, weil er früherhin die Gemeine der Gläubigen verfolgt habe”, und allerdings können wir nicht leugnen, ein solches absichtliches und wohlüberlegtes Verharren in den Absichten, welche den Lehren des Khristenthums zuwider waren, eine solche ausgesprochene Feindschaft gegen das Evangelium, in der Verstand und Gemüth zusammenstimmte, wie es sich bei dem Apostel bewies, wir müssen | gestehen, eine größere Entfernung von der Gnade Gottes in Khristo läßt sich nicht denken, als diese. Aber doch hat der Apostel die tröstliche Ueberzeugung, daß dieselbe göttliche Gnade auf ausgezeichnete Weise in ihm wirksam gewesen sei, und daß, wie wohl er früher die Gemeinde des Herrn verfolgt und nicht würdig sei, ein Apostel zu heißen, weil ja Alles, was er von da an geleistet zur Verherrlichung seines Herrn und Meisters, nichts weiter sein könne, als ein Widerruf seiner frühern Verblendung, er dem ohnerachtet von Gott zum brauchbaren Werkzeug seines Willens ausersehen, und daß er in seiner Thätigkeit für das Reich Khristi, | die von ihm gesegnet sei, jezt allen übrigen Aposteln gleich geworden. Wenn nun eine 39 er in] er

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solche Feindschaft, wie der Apostel gezeigt hatte in dem Eifer seiner Verfolgung gegen die Khristen, nicht hindern konnte, daß er sich von der Gnade in Khristo ergriffen fühlte, sondern nicht einmal den Einfluß auf ihn ausübte, daß er nun in der khristlichen Kirche voll Beschämung und gleichsam in einen Winkel zurükgezogen gelebt hatte, sondern wenn er hervortreten konnte in der Kraft Gottes, die mit ihm war als ein herrliches und ausersehenes Rüstzeug: so müssen wir wohl schließen, daß die Gnade Gottes in Khristo in dieser Hinsicht keine Grenzen kennt, und daß, der | Mensch mag noch so sehr wiederspänstig gewesen sein, und sich gesträubt haben, der göttlichen Gnade sich hinzugeben, dem ohnerachtet die Gewalt derselben so groß ist, daß sie auch einen solchen Menschen ergreifen, neuschaffen, und einen neuen Menschen in der Heiligkeit und Gerechtigkeit, die ihm gefällig ist, in ihm gestalten kann. Darum, m. g. F., sind auch im Allgemeinen fast alle Khristen immer überzeugt und der größte Theil darin übereinstimmig gewesen, die unbegrenzte Gnade Gottes in Khristo zu preisen. Aber von Anfang an finden wir auch eine Bedenklichkeit dagegen, nämlich die Sorge, daß der Leichtsinn der Menschen daran | Veranlassung nehmen möge, zu wähnen, daß also der Mensch in Sünde verharren, und sie immer mächtiger müsse in sich werden lassen, damit auch die Gnade Gottes desto herrlicher sich an ihm erweisen könne. Allein diese Besorgniß darf uns nicht hindern, die göttliche Gnade in Khristo in ihrem ganzen Umfange anzuerkennen; denn näher überlegt müssen wir sagen: derjenige, der sich davon auf dem Wege der Sünde wollte aufhalten lassen, wenn ihm Einer vorspiegelte: gehst du noch länger auf dem Wege der Sünde, so ist auch die göttliche Gnade selbst nicht mehr im Stande, dich von dem Verderben zurükzuhalten, und eine Umkehr in dir zu be|wirken, das wäre derjenige, der eine solche Warnung nicht mehr nöthig hätte; denn um sich davon halten zu lassen, dazu wäre nöthig, daß er schon ein Verlangen nach der göttlichen Gnade in sich trüge. Hat der Mensch aber das einmal, so kann es ihm nicht zum Nachtheil gereichen, wenn man ihm grade heraus sagt: nicht nur einen Sünder, wie du bist, sondern sollte es auch viel ärgere und versunkenere geben, so ist die Gnade Gottes mächtig genug, auch sie zu ergreifen. Auf der andern Seite aber müssen wir zugleich gestehen, wenn wir einer solchen leeren Besorgniß nachgeben, und glauben wollten, die Gnade Gottes hätte in der That | solche Grenzen und die Sünde könne nur bis auf einen gewissen Grad in dem Herzen des Menschen gesteigert werden, wenn ihm nicht die Umkehr unmöglich gemacht werden soll, dies zu einer ernstlichen Beruhigung auch für diejenigen gereichen würde, die im Bewußtsein ihrer Sünde ein ernstliches Verlangen danach trügen, und im Gefühl sie gläubig 17 Sorge] Sache 12 Vgl. Lk 1,75; Eph 4,24

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schon ergriffen hätten. Denn, m. g. F., wo haben wir denn einen Maaßstab, die Tiefe des Verderbens in der menschlichen Seele zu messen. Ein solcher ist uns nicht gegeben. Er könnte nur gegeben sein, wenn wir von dem Zustande, in dem sich irgend ein Mensch befände, wissen könnten, daß er ein solcher sei, | der die größte mögliche Entfernung von der göttlichen Gnade ausdrükte. Und auch dagegen ließe sich doch noch manches einwenden. Wir können nicht einmal messen den Grad der Würdigkeit und des Verdienstes, wenn es ein solches giebt, bei Gott wohlgefälligen Handlungen, und eben so wenig den Grad der Schuld bei den Handlungen der Menschen, die dem göttlichen Gebote entgegen sind, und doch ist dies noch etwas Äußerliches und in die Sinne fallendes, wobei wir noch eher denken könnten, ein Maaß und Gewicht ließe sich anwenden. Das wissen wir aber wohl, daß diese äußerlichen Handlungen der göttlichen Gnade | keine Gränzen anlegen können. Denn wir können uns denken einen solchen, der bei einem nur anfangenden Grade des innern Verderbens durch mancherlei verführerische Umstände in eine noch weit größere Sünde hineingeriethe, und wir können uns wieder einen denken, in dem der tiefe Grad des innern Verderbens doch nicht in äußere grobe Vergehungen ausbricht. Und wir müssen also eingestehen, daß das, was der Mensch in seinem Leben gegen das göttliche Gesez ausübt, kein Maaßstab sein könne über seine größere oder geringere Entfernung von der göttlichen Gnade. Aber über das innere Verderben entgeht uns vollends | alles Maaß; auch unser Blik über das Innere ist schon so unsicher, daß wir uns nicht getrauen sollten, ein bestimmtes Urtheil darüber zu fällen, da ja auch unser Urtheil über uns selbst oft so unsicher und schwankend ist. Wollten wir also eine solche Bestimmung machen, und der göttlichen Gnade Grenzen setzen, so könnte dies nur dazu gereichen, die Gemüther der Gläubigen zu bewegen, daß sie glaubten, daß die Ueberzeugung, die sie von der göttlichen Gnade hätten, nur eine Täuschung sei. Darum ist uns das freudige Bekenntniß des Apostels so viel werth, weil es ausspricht die ernste Ueberzeugung von der Unbeschränktheit der göttlichen Gnade in Khristo, so daß | keiner, wenn er auch das menschliche Verderben auf vielfache Weise in seiner Seele verzweigt fühlt, fürchten darf, daß er von der göttlichen Gnade ausgeschlossen sei. Denn was wäre sie, wenn sie nicht größer wäre als die Sünde, und was wäre der Erlöser, wenn er nicht der Erlöser des ganzen menschlichen Geschlechts, und die ganze menschliche Natur der Gegenstand seiner wirksamen und heilbringenden Gnade sein könnte. Wenn wir daher auch gestehen, m. g. F., daß eben durch diese Wirkungen der göttlichen Gnade in Khristo die Menschen eine neue Kreatur werden, wie können wir glauben, daß dasjenige, was früher gewesen ist, auf dieses Geschäft des göttlichen Geistes einen stö|renden und hemmenden Einfluß haben könne? Denn in 38–39 2Kor 5,17; Gal 6,15

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dieser Beziehung wird der Mensch nicht etwa verwandelt und das Gewicht der Sünde allmählig ihm abgenommen, sondern, wie die Schrift sagt, es ist eine neue göttliche Schöpfung in der Seele, und deshalb kann das, was vorher da gewesen ist, keine Gewalt auf dieselbe haben, denn Schöpfung ist Hervorbringung aus Nichts; nichtig ist aber alles, was der Mensch vorher gewesen ist und gethan hat, und deshalb kann es keinen hindernden Einfluß auf diese Schöpfung ausüben. II. Aber es giebt allerdings einen andern Gesichtspunkt, von welchem aus wir sagen müssen: | die Beschaffenheit des Menschen, ehe er von der göttlichen Gnade ergriffen wird, hat dem ohnerachtet einen Einfluß auf die Art, wie auch die göttliche Gnade in ihm erwacht: denn auch darüber geben die Worte des Apostels Aufschluß. Wenn nämlich der Apostel sagt, durch Gottes Gnade sei er, was er sei, und seine Gnade an ihm sei nicht vergeblich gewesen, so daß er nicht nur nicht geringer sei, denn die übrigen Apostel, sondern viel mehr gearbeitet habe als sie alle, so fragen wir billig: worin lag denn hiervon der Grund? Sollen wir es ansehen als eine reine göttliche Willkühr, oder müssen wir glauben, es sei doch in ihm ein Grund gewesen, weshalb er vor andern ein auserwähltes | Rüstzeug der göttlichen Gnade geworden sei? Und ich glaube, wenn wir alles zusammenhalten was wir von dem Apostel wissen, so müssen wir das Lezte annehmen. Der Apostel redet auch anderwärts von seinem Seelenzustande, ehe er zum Glauben an Khristum gelangte, und sagt, er sei unsträflich gewesen nach dem Gesez, und ein Eiferer über das Gesez nach der strengsten Lehre desselben; und damit stimmt auch alles, was von ihm mitgetheilt wird, vollkommen überein. Er war, wie er selbst sagt, von früher Jugend unterwiesen in der Schrift und in aller Wahrheit seines Volkes, er war ausgerüstet mit herrlichem Verstande, ausgezeichnetem | Scharfsinn und Kraft der Rede, zugleich mit einer großen Kraft und Festigkeit des Willens, um dasjenige durchzuführen und kein Hinderniß zu scheuen, was ihm als gut und recht erschien. Alle diese Gaben der Natur waren in seinem früheren Leben thätig gewesen in der Feindschaft gegen das Evangelium; er hatte seinen Verstand und die Schärfe und Kraft seiner Rede gebraucht, um das alte Gesez und die alte hergebrachte Ordnung der Dinge zu vertheidigen, die Lehre des Khristenthums zu wiederlegen, und sich dem entgegen zu sezen, daß jener Jesus von Nazareth nicht sein könne der Verheißene, und der das Volk erretten werde; und seine große Kraft des Willens brauchte | er eben so im Dienste 5 Hervorbringung] so SAr 101, Bl. 124r; Textzeuge: Hervorbewegung habe] gearbeitet 2–4 Vgl. 1Joh 3,9

23–24 Vgl. Phil 3,6

26–27 Vgl. Apg 26,4–5

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des Gesezes gegen das Evangelium, und war im Stande ein so eifriger Verfolger des Khristenthums zu werden, der sich nicht rühren ließ durch die Klagen und Leiden derer, die sich selbst für unschuldig hielten und durch den Muth, mit dem sie Alles erduldeten. Aber eben diese Gaben der Natur, die er so früherhin im Dienste der Sünde gebraucht hatte, sezten ihn in den Stand, nachdem sich die göttliche Gnade seiner bemächtigt und ihn so umgeschaffen hatte, ein so auserwähltes Rüstzeug des Herrn zu werden. Und wenn wir das überlegen, so werden wir gestehen müssen, es sei auch darin keine Willkühr | in den Fügungen der göttlichen Weisheit, und nicht aus jedem hätte sie ein so herrliches Werkzeug machen können, und das sehen wir auch, wenn wir ihn mit andern Aposteln vergleichen, und da scheut er selbst sich nicht zu sagen, er habe mehr gearbeitet, denn sie Alle, weil diese Gaben des Geistes ihn in den Stand sezten, das zu thun, was er in der Welt späterhin zur Ehre Gottes vollbracht hat. Sehen wir hierauf so müssen wir sagen: darauf, wie sich die göttliche Gnade der Menschen als ihrer Werkzeuge bedienen kann, hat allerdings die Beschaffenheit ihres früheren Lebens, und der Zustand, in dem sie sich befanden, ehe sie von der Gnade Gottes ergriffen | wurden, entscheidenden Einfluß. Dieselben Gaben, die der Mensch früher im Dienste der Sünde anwendete, bringt er nun mit zum Dienste der Gerechtigkeit, und nur das, was er noch mitbringt, kann hernach thätig sein für das Reich des Herrn auf Erden. Daher müssen wir gestehen, ist ein großer Unterschied zwischen dem früheren Zustand des Apostels, der, wie er sagt, unsträflich gewandelt war nach dem Gesez, und einem solchen, dessen Sünde die Richtung genommen hat, daß er sich ganz in die Fesseln der Lust und Leidenschaften, die eine jede Kraft des Körpers und Geistes zerstören, und eine ertödtende Wirkung | auf das Leben des Menschen ausüben, verwikelte: der konnte nie ein solches Werkzeug der göttlichen Gnade geworden sein, wie der Apostel. Darum können wir wohl sagen, m. g. F., es giebt keine solche Verstoktheit des menschlichen Herzens, daß die göttliche Gnade sie nicht durchdringen könnte; aber wozu der Mensch im Reiche Gottes gebraucht werden könne, das hängt zwar sehr ab von dem Zustand, in welchem er sich früher befunden, und von der Art, wie er sein früheres Leben geführt hat. Denn das allein ist die Ausstattung, welche er mitbringt, in dem er in das Reich Gottes eintritt. Darum, m. g. F., | wenn gleich wir auch überzeugt sind von der unbegrenzten Gewalt der göttlichen Gnade in Christo, sollen wir doch nicht gleichgültig bleiben, wenn wir sehen, wie die Menschen, ehe sie erkennen die Gnade Gottes in Christo; die edle Ausstattung der menschlichen Natur im Dienst der Sünde untergehen lassen. Denn wenn wir gleich glauben, verloren sind 34 eintritt] eintreibt 23 Vgl. Phil 3,6

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sie immer noch nicht, ergriffen und umgeschaffen können sie immer noch werden von Gott: so müssen wir doch immer sagen, was ihnen schon verschwunden ist, von ihren Kräften, was sie in sich schon zerstört haben durch die | Sünde, das kann nicht mehr gebraucht werden im Dienst der Gerechtigkeit, weil es nicht mehr vorhanden ist. Was aber zwar gebraucht ist im Dienste der Sünde, aber noch vorhanden von den Kräften des Geistes, das kann sich umwandeln zum Dienst der Gerechtigkeit. Und darum laßt uns nie sagen, es sei gleichgültig für sein künftiges Heil und das Wohl der Gemeine Christi, wie tief der Mensch in die Bande der Sünde sich habe verstriken lassen; laßt uns nie glauben, daß es nicht unsere heilige Pflicht sei, auch über die Seelen derjenigen zu wachen, die das Heil in Christo noch nicht erkannt aber in der Verblendung ihrer bösen Lüste von sich gewiesen haben, denn jemehr von den Kräften und Anlagen, mit denen die göttliche Weisheit und Liebe sie bei der Geburt ausgerüstet hat, noch übrig bleibt, | und nicht der zerstörenden Macht der Sünde unterliegt, desto mehr werden sie im Stande sein, wenn früher oder später die Hülle von ihren Augen genommen wird, mit welcher die Sünde sie umzog, und auch sie das Heil in Christo finden, für das Reich Christi und seine Gemeine auf Erden als treue Diener zu wirken und die Kraft, die ihnen verliehen ist, zu immer weiterer Förderung und Verbreitung der Gnade, derer beseligende Kraft sie empfunden haben, zu gebrauchen. Darum, m. g. F., wiewohl wir wissen, daß alle äußerliche Werke der Menschen kein Verdienst geben können vor Gott, ist es doch unsere Pflicht, alles für richtig zu halten | und zu vertheidigen, was die Bande der Zucht und äußeren Ordnung um die Menschen schlingt, damit durch sie etwas aufbewahrt werde in ihnen, was die Gnade Gottes dann umwandeln und zu ihrem Dienst gebrauchen könne. Und indem wir dazu mitwirken, werden wir nichts Vergebliches gethan haben, sondern dürfen uns getrösten, auch dadurch für das Reich Gottes gearbeitet zu haben, daß manche geistige Kräfte für dasselbe thätig sein können, die ohne dem von der Sünde zerstört demselben entzogen worden wären. Und wie wir, m. g. F., in uns selbst den Streit mit der Sünde nie aufgeben dürfen, weil wir Gott Rechenschaft ablegen müssen von den uns verlie|henen Kräften und der Art, wie wir sie angewendet haben und weil wir wissen, daß überall die Sünde, wenn der Kampf mit ihr nicht immer fort erneuert wird, etwas zerstört, was wir besser und herrlicher zum Dienste unseres Herrn hätten gebrauchen können: so wie dies der reinste christliche Beweggrund ist zur beständigen Wachsamkeit gegen uns selbst: so muß dasselbe uns auch bewegen, überall der Gewalt der Sünde entgegenzutreten, damit sie weniger zerstöre von dem edlen Geschlecht, welches bestimmt ist, früher 4–7 im Dienst der Gerechtigkeit ... umwandeln zum] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 126r 22–23 Vgl. Röm 11,6

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oder später in den Dienst des Reiches Gottes einzutreten. So wenig also, m. g. F., ist der Glaube an die | Allgemeinheit und Unbegrenztheit der göttlichen Gnade im Stande, irgendeinen leichtsinnigen Mißbrauch derselben zu begünstigen, sondern jemehr wir darauf vertrauen, daß Alle, wenn gleich viele uns scheinen nur äußerlich den Namen Christi zu bekennen, doch den Ruf in sich tragen, in seinem Weinberge dereinst zu dienen, und auch dem Geist und der Wahrheit nach ihm angehören: so fühlen wir desto mehr überall und zu allen Zeiten den Beruf in uns, der Gewalt der Sünde entgegen zu arbeiten, damit nicht nur wir selbst bessere und tüchtigere Werkzeuge für ihn seien, sondern damit wir auch, wie auch das ein Werk der göttlichen Gnade ist, vorbereitend auf die Seelen der | Menschen wirken, um sie so, wie sie Werkzeuge in dem Reiche Gottes werden können, dem göttlichen Geiste vorzubereiten und zu überliefern. Und so sei das das Ziel aller wahren Christen in sich selbst sowohl, als um sich her die Gewalt der Sünde zu dämpfen, damit um so mehr die Gnade Gottes an uns sich verherrlichen könne, wenn wir durch die Gewalt des Guten etwas Gutes schaffen in dem Werke des Herrn. Amen.

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Am 9. September 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

12. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,24–26a Nachschrift; SAr 80, Bl. 38r–62v; Andrae SW II/10, 1856, S. 253–269 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 91v–92r; Gemberg Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwölften Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. Matthäi X, 24–26. Der Jünger ist nicht über seinem Meister, noch der Knecht über dem Herrn. Es ist dem Jünger genug, daß er sei, wie sein Meister, und der Knecht wie sein Herr. Haben sie den Hausvater Beelzebub geheißen, wie viel mehr werden sie seine Hausgenossen also heißen. Darum fürchtet euch nicht vor ihnen. M. a. F. Wenn unser Erlöser hier zu seinen Jüngern sagt: es müsse dem Jünger genug sein, daß er sei, wie sein Meister, und über seinen Meister komme er nicht: so war dabei seine Absicht gewiß nicht die, die Jünger zu warnen gegen | irgend eine eitle Anmaßung, als ob sie es weiter bringen könnten, sei es nun in der Erkenntniß der Wahrheit, oder sei es in der Darstellung dieser Erkenntniß, oder sei es auch in der Gewalt derselben über die Gemüther[,] als der Erlöser es gebracht hat. Denn von einer solchen waren sie bei ihrer innigen Verehrung gegen ihn und bei der Anerkennung, daß er der Sohn des Höchsten sei, weit entfernt. In menschlichen Verhältnissen freilich ist eine solche Warnung auch in diesem Sinne weise und gut; denn da ist es nothwendig, daß der Schüler sei über seinem Meister, wie sollten sonst die Menschen weiter kommen im Guten, und Gott mehr ähnlich werden, wenn | nicht die künftigen Geschlechter besser würden als die vergangenen gewesen sind. Aber eben deswegen entsteht auch in diesen menschlichen Verhältnissen gar leicht eine eitle Anmaßung des Besserseins, der eine solche Warnung nothwendig ist und wohlthätig. Der Erlöser aber gab sie seinen Jüngern nur in der Beziehung, daß sie nicht glauben sollten, sie würden in den Augen der Welt, und was das Betragen

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der Welt gegen sie betrifft und die Schäzung der Welt, darin würden sie über ihn kommen; sondern es würde ihnen nur ergehen, wie es ihm selbst ergangen wäre. Davon hatte er wohl nöthig, sie im Voraus zu benachrich|tigen, und ihnen Lehre und Warnung in dieser Beziehung zu geben. Denn wenn das Reich Gottes sollte ausgebreitet werden auf Erden, und zwar durch den Dienst, der ihnen anvertraut war, da sie doch wußten aus den Reden unseres Herrn, daß seines Bleibens auf Erden nicht lange sein würde, und daß sie dann von seinem Geist geleitet und ausgerüstet, seine Stelle vertreten sollten: so konnten sie wohl leicht denken, es müsse ihnen desto mehr Glaube und desto mehr Vertrauen entgegen kommen als unserem Herrn und Meister selbst, es müsse ihnen besser gelingen, seine Gemeine zu gründen, und seine Wahrheit in die Herzen der | Menschen zu prägen als ihm. Diesen Glauben und diese Hoffnung konnte ihnen auch der Erlöser nicht nehmen wollen, aber das sagt er ihnen in den Worten unseres Textes und an vielen andern Stellen seiner vertrauten Reden, daß auch sie in dem Geschäft der Verbreitung des göttlichen Reiches auf Erden kein besseres Schiksal würden zu erwarten haben von Seiten der Menschen als das, welches ihn getroffen hatte. Das mußten sie nun leicht erkennen, eben in ihrem Geschäft das Reich der Wahrheit auszubreiten, und diese Vorhersagung unseres Herrn und der Rath, den er ihnen in dieser Beziehung giebt, gehört | also in den Kreis von Betrachtungen hinein, den wir uns für diese Zeit vorgestekt haben. Laßt uns also sehen, was der Herr seinen Jüngern in Beziehung vornehmlich auf die Schmach, die sie treffen würde in ihrem Beruf – denn davon redet er ja in den Worten unseres Textes – für einen Rath giebt. Aber damit wir ihn in seinem ganzen Umfange verstehen und auch richtig gebrauchen, wird es nothwendig sein, daß wir hier von einander sondern einmal die Zeiten der Apostel selbst und ihre unmittelbaren Verhältnisse und dann die unsrigen und den Gebrauch, den auch wir von diesem | Rath des Erlösers zu machen haben. I. Der Erlöser sagt also seinen Jüngern: sie als seine Diener und Schüler würden nichts besseres zu erwarten haben, als was auch ihn getroffen hatte, und wie er beschuldigt worden war, daß er nicht durch eine göttliche Kraft seine wunderbaren Thaten ausrichtete, sondern durch den bösesten der bösen Geister die bösen Geister vertreibe, wie ihm als Hausvater dieser Vorwurf war gemacht worden: so würde es auch ihnen nicht besser gehen. Wir können es wohl nicht leugnen, m. g. F., daß von | allem, was die Schmähsucht seiner Zeitgenossen Unwürdiges über den Erlöser öfters aussprach, er hier dasjenige gleichsam zum Merkzeichen gewählt hat, was das 33–35 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15

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Härteste und Bitterste von allem war. Denn wenn der Mensch für sich auf mancherlei Weise in die Irre geht, wenn er glaubt Schäze der Weisheit und der Erkenntniß zu besizen, und es ist alles leerer Schein, wenn sich das so verhält: so ist es freilich traurig genug, und wenn es ihm vorgeworfen wird, so ist das heilsam und wohlthätig für ihn. Aber was sind alle Verirrungen, in welche der Mensch allein | gerathen kann, was sind alle Mißgriffe, die er thun kann in diesem oder jenem Gebiet menschlicher Thätigkeit, was sind sie dagegen, wenn er sich in die Gemeinschaft der dunklen und bösen Mächte begiebt. Das Härteste also, was dem Erlöser vorgeworfen war, der bitterste Ausdruk menschlicher Schmähsucht, wie er ihm auch mußte in seinem Gedächtniß gegenwärtig bleiben, den wählt er hier zu einem allgemeinen Zeichen, um seinen Jüngern zu zeigen, wie viel und in welchem Maaße sie seine Schmach würden auf Erden zu theilen haben. Einer von den Aposteln des Herrn, der viel gelitten hat | in seinem Dienste und ähnliche Erfahrungen von mancherlei Art gemacht, der drükt sich darüber einmal so aus, daß er sagt, das Evangelium von Khristo mit seiner Kraft selig zu machen alle, die daran glauben, sei den Juden ein Aergerniß und den Griechen eine Thorheit, und daher leitet er Schmähungen, welche die Diener desselben in der Welt zu erfahren haben. Es kann auch wohl, m. g. F., nicht anders sein. Der Mensch muß sich in einem sehr gereizten Zustande befinden, wenn er, in dem doch nimmer die Liebe gegen seinesgleichen, welche die Natur in die menschliche Seele gepflanzt hat, ganz erstirbt, | wenn er, dem es sonst so leicht wird, sich in die Stelle des Andern zu sezen, und der darin seinen Ruhm und seine Befriedigung sucht, wenn er sich soll hingehen lassen in einer bittern Schmähung. Das ist aber dem Evangelio und seinen Dienern in der damaligen Zeit begegnet aus dem von dem Apostel angeführten Grunde, weil es den Juden ein Aergerniß war und den andern eine Thorheit; und dies zu sein lag in seinem zeitlichen Lauf und in seiner seligmachenden Kraft selbst. Denn was konnten die Diener des Evangeliums anders thun, wenn sie es zu thun hatten mit dem alten Bundesvolke, als, wie der Erlöser in seinen | Reden auch gethan hatte, dasselbe aufmerksam zu machen auf die falsche Gerechtigkeit, nach der es strebte und in der es seinen Ruhm suchte, und wie verkehrter Weise sie oft die Erfüllung äußerlicher Vorschriften in der Reinigung des äußern Lebens als Mittel ansahen, Gott wohlgefällig zu werden, und als dasjenige, wodurch die Reinigkeit des Herzens und die Gewalt und der Sieg der Liebe in demselben könne ersezt werden. Indem ihnen aber das, worin sie ihren Ruhm suchten und worauf sie vorzüglich vertrauten, als nichtig und leer dargestellt werden mußte in der Predigt des Evangeliums, so war es ihnen ein Aergerniß, und es war | 15 Art] Ergänzung aus SW II/10, S. 256 16–18 Vgl. Röm 1,16; 1Kor 1,23

27–28 1Kor 1,23

31–32 Vgl. Mt 5,20

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dann der natürliche Erfolg in leidenschaftlichen und weniger gereinigten und besonnenen Gemüthern, anstatt in sich zu gehen, vielmehr von der Voraussezung, daß sie die rechte und höchste göttliche Weisheit inne hätten, den Grund der Verkehrtheit aufzusuchen in denen, die ihnen etwas anderes vorhielten, und auch von ihnen forderten. Ja noch in einer andern Hinsicht war ihnen das Evangelium ein Aergerniß, weil es nemlich die herrliche göttliche Verheißung, die in ihren heiligen Büchern aufbewahrt war und die von jeher das Volk in seiner Trübsal getröstet und aufgerichtet hatte, weil es diese anwandte auf ein geistiges Reich Gottes auf | Erden, anstatt daß sie gewohnt waren von der Erfüllung derselben eine äußere Wiederherstellung irdischer Glükseligkeit und weltlicher Macht zu erwarten. Wenn ihnen nun auf der einen Seite dasjenige genommen wurde, worauf sich jeder für sich selbst verließ, und auf der anderen Seite auch alle Hoffnungen, die sie sich in Beziehung auf ihr gemeinsames Leben gemacht hatten und auf welche sie sich verlassen, aus der Seele sollten ausgerissen werden, so war ihnen eben deswegen das Evangelium ein Aergerniß. Den Griechen aber, sagt der Apostel, war es eine Thorheit. Als Paulus zum erstenmale, so viel wir wissen, das Evangelium predigen wollte vor Menschen | heidnischer Abkunft, denen auch die Offenbarungen Gottes im alten Bunde völlig fremd waren, als er sie da aufmerksam machte darauf, daß ihnen das Höchste dennoch unbekannt wäre, ungeachtet aller zahlreichen Verehrungen, die sie für den Mangel der reinen und richtigen Anbetung Gottes in sich entwikelt hatten, als er ihnen da weiter sagte: Gott aber wolle nun die Zeiten der Unwissenheit übersehen, eben deswegen, weil sie geendet wären, weil er einen Mann dargestellt hätte, um der Welt das Licht, und das Leben, und die Unsterblichkeit zu geben, und der, nachdem ihn Gott von den Todten erwekt habe, bestimmt sei, sein Gericht zu halten über alle Geschlechter der Menschen | und über den ganzen Kreis des Erdbodens: da däuchte sie dies eine schöne Fabel ihretwegen gemacht, und Etliche unter ihnen trieben damit ihren Spott, Etliche aber verwiesen den Apostel darauf, daß sie ihn ein andermal davon weiter hören wollten. Das war, daß ihnen das Evangelium eine Thorheit war. Versunken in eitle Bestrebungen und in die vergängliche Lust, hielten sie es für eine Thorheit, daß sie verwiesen werden sollten auf Hoffnungen, die über das irdische Leben hinausgehen, und da jeder unter ihnen auf nichts anders zu denken gelehrt war als darauf, sich die Dinge dieser Welt so viel als möglich zu seinem Vortheil | zu kehren, so däuchte es ihnen deshalb eine Thorheit, sich auf den zu verlassen, der das so schlecht verstanden hatte, daß ihm von seinen Mitbürgern der Tod war bereitet worden. Aber auch dann schon, wenn der Mensch durch etwas, was er für nichtig und leer hält, aufgehalten wird in seinen Bestrebungen; wenn seine Aufmerksamkeit hingelenkt wird auf dasjenige, 16–17 Vgl. 1Kor 1,23 26 Vgl. 2Tim 1,10

17–23 Apg 17,22–23

23–31 Apg 17,30–32

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was ihm in seinem Gemüthszustande als eitel erscheint, alsdann schon wird er gereizt und in eine solche Stimmung versezt, wo der leichtsinnige Frevel und Spott ihm etwas natürliches ist. Von diesen beiden Enden also, von dem Aergerniß, welches das Evan|gelium denen gab, deren falsche Gerechtigkeit es mit Füßen trat, und von dem Ernst und der Strenge, mit welcher es diejenigen erweken wollte und zu höheren Bestrebungen aufrichten, die ganz in die Dinge dieser Welt verwikelt waren: davon kam es in jener Zeit her, daß das Evangelium den Einen ein Aergerniß war und den Andern eine Thorheit, und daß es von beiden geschmäht wurde und verspottet. Und eben so, m. g. F., ist es noch immer. Wenn wir uns in Gedanken in diejenigen Gegenden versezen, die gleichsam die Grenze des Khristenthums ausmachen, – ausgenommen freilich in den Fällen, wo das Evangelium zu solchen Menschen | gebracht wird, die überhaupt an Ausbildung des Geistes weit hinter den Khristen zurükstehen und also von dieser Seite her eine Verehrung fassen müssen gegen die Diener des Evangeliums, welche sie wenigstens zur Verschmähung und zum Spott über dieselben nicht kommen läßt, – nämlich wo die Diener des Evangeliums auch jezt noch hinkommen zu solchen Völkern, die ihre eigene Weisheit haben: da geht es ihnen nicht besser, als damals. Denn entweder treffen sie auf einen ganz irdischen, leichten und mit der vergänglichen Lust der Welt beschäftigten Sinn, in dem sie Sehnsucht nach dem Bessern rege zu machen haben, und denen ist | das Evangelium eine Thorheit; oder sie treffen auf eine ausgebildete Weisheit, die sie zu Schanden machen müssen, und zeigen, daß sie Thorheit ist vor Gott, auf eine eigene Gerechtigkeit, sie gründe sich worauf sie wolle, die sie in ihrer Nichtigkeit darzustellen und zu der Ueberzeugung umzubilden haben, daß es nur Einen gäbe, in dessen Namen Heil gegeben ist allen Geschlechtern der Menschen, und dann geben sie denen, die sicher zu sizen glauben auf dem vielleicht alten und mühsam erbauten Thron ihrer herkömmlichen Weisheit, ein Aergerniß, und die Einen sowol, als die Andern wissen zuerst dem Evangelio nichts anders entgegen zu stellen, als, | wenn es ihnen an der Gewalt zu Verfolgungen fehlt, die Waffen des Spottes und der Schmähung. II. Was nun, m. g. F., giebt der Erlöser seinen Jüngern für einen Rath in dieser Beziehung? Er sagt ihnen, eben deswegen, weil es auch den Dienern, nicht besser ergehen wird, als unserm Herrn und Meister, eben deswegen fürchtet euch nicht vor ihnen! Den Erlöser traf nicht nur der Spott und die Schmähsucht seiner Zeitgenossen, sondern sobald sie mit einiger Sicherheit glauben konnten die rechte Gewalt gegen ihn in Händen zu haben, so traf ihn auch ihre Verfolgung, und indem er seinen Jüngern sagt: es werde in 4–9 1Kor 1,23

22–24 Vgl. 1Kor 1,19–20

26–27 Vgl. Apg 4,12

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der einen Beziehung ihnen nicht | besser ergehen als ihm, so war ihm, wie wir aus dem ganzen Zusammenhange sehen können, auch das andere in seiner Seele gegenwärtig. Für beides aber hatte er ihnen keinen andern Rath zu geben als den, eben deswegen, weil es ihnen nicht anders ergehen würde, als ihm ergangen war, sollten sie sich nicht fürchten. Sie sollten sich nicht fürchten in der sichern Voraussicht, von der Welt verspottet und geschmäht zu werden, wie ihn dieses Schiksal getroffen hatte, eben so wenig, wie sie sich fürchten sollten vor der Aussicht, die sich ihnen eröffnete, von der Welt verfolgt und getödtet zu werden, wie auch er in der Erfüllung seines Berufs Verfolgung und | Tod zu leiden hatte. Es giebt, m. g. F., hier eine verschiedene Beschaffenheit des menschlichen Gemüths. Dem Einen mag es natürlicher Weise leicht sein, der Verfolgung zu trozen und die Schmach zu überwinden, bei dem Andern mag es sich umgekehrt verhalten. Aber indem dem Erlöser beides vor Augen schwebte, so sehen wir seine Ermahnung: „Fürchtet euch nicht vor ihnen“; die kann sich nicht auf etwas beziehen, was irgend wie dem Einen mehr, als dem Andern zur Ermunterung und zur Stärkung gereicht, und in der That haben wir auch in der ganzen Vergleichung, die er hier anstellt, keinen andern Grund zu diesem Rath als den fürch|tet euch nicht, wenn es euch nicht besser ergeht als mir, weil es dem Diener nicht besser ergehen kann, als seinem Meister; wenn ihr hier verspottet werdet und Verfolgungen zu leiden habt: so werdet ihr auch dort in meine Herrlichkeit eingehen und Theil haben an dem Siege, den ich selbst davon tragen werde. Und welcher war das anders, m. g. F., als eben der Sieg über die Verkehrtheit der Welt, der Sieg sowohl über die Verfolgungen, die nicht im Stande waren zu verhindern, daß die Gemeine des Herrn erbaut wurde, der Sieg über die Schmähungen, die nicht verhindern konnten, daß dennoch das Wort vom Kreuze der Gegenstand der Verehrung, | die Quelle des Trostes und der Zuversicht für viele Geschlechter der Menschen wurde. Aber zu diesem Siege ist kein anderes Hindurchdringen für die Diener des Evangeliums, als durch die enge Pforte der Verfolgung und der Schmach. Wer durch diese nicht hindurchdringen will, wer sich feigherzig zurükzieht oder sich fürchtet den Durchgang durch diese zu erringen, der freilich kann keinen Theil haben an demjenigen, was nur jenseits derselben die Diener des Herrn erwartet. Es ist aber, m. g. F., immer nur Eins, was die Welt überwindet, nämlich der Glaube, und nur im Vertrauen auf den seiner Jünger konnte der Herr ihnen den Rath geben, | daß sie sich nicht fürchten sollten vor aller Schmach und Verfolgung, die ihnen als Dienern des Evangeliums begegnen würde. Es ist aber der Glaube nichts anderes, als die feste Ueberzeugung von dem Verhältnisse des Ewigen zu dem Vergänglichen. Vergänglich ist alle falsche Gerechtigkeit der Menschen und jede zeitliche Gestalt menschlicher Weisheit; ewig aber ist 27 1Kor 1,18

35 Vgl. 1Joh 5,4

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die Wahrheit, auf welcher die Kirche des Herrn erbaut ist, und das Ewige kann nicht anders, als siegen über das Vergängliche. Kurz und vorübergehend, wenn gleich oft erneuert, sind die Verfolgungen gewesen, welche die aufgeregten Völker ausgeübt haben gegen das Khristenthum, das | ihnen entgegengebracht wurde, eben so kurz und vergänglich ist die Schmach auch immer gewesen, welche sich die Feinde des Evangeliums gegen die heiligen Grundsäze seiner Milde und seiner Strenge erlaubt haben. Aber nur im Glauben an das Ewige können wir das überwinden, was zwar heftig und bitter ist, was aber doch nur als vergänglich und als ein nichtiger Wahn erscheint, wenn wir vom Ewigen durchdrungen sind. Darum in welchen Seelen nicht der Glaube an die Wahrheit des Evangeliums schon tiefe Wurzel geschlagen hat, in welchen Seelen nicht die Liebe zu dem Erlöser, als dem Anfänger und Vollender des Glaubens, alles Andere über|wunden hat: o die werden leicht die Einen von der Verfolgung, die andern von der Schmach und dem Spotte zurükgeschrekt und des schwachen Glaubens beraubt. Darum ist der Aufruf des Herrn: „Fürchtet euch nicht vor ihnen,“ immer nur gegründet auf den Glauben, den er bei seinen Jüngern voraussezen kann, daß sie in keinem Andern Heil zu finden wissen, als allein in dem Sohne des Höchsten, allein in dem, der allein Worte des Lebens hat, in ihrem Herrn und Meister, wie sie seine Jünger und Knechte sind. Und so ist denn, m. g. F., in der Kraft des Glaubens, der die Welt überwindet, durch die Schmach und Verfolgung hindurch das Evangelium | immer herrlicher erschienen über dem menschlichen Geschlecht, immer weiter hat sich das Reich des Erlösers ausgebreitet, und immer herrlicher geht die Verheißung in Erfüllung, daß nichts zu ohnmächtig in der Welt sei, und nichts so schlecht und so gering geachtet von ihr, was nicht erleuchtet werden könnte von der göttlichen Weisheit des Khristenthums, und daß nichts so hoch ist und so erhaben, dessen Knie nicht sollte gebeugt werden können vor dem Einen, der der Herr ist über alle. Und wirklich, m. g. F., wir brauchten nicht weiter zu gehen, sondern könnten hier stehen bleiben mit unserer Betrachtung, und müßten doch durch | dieselbe, in dem sich uns die ganze Geschichte des Reiches Gottes auf Erden auf Veranlassung dieses Wortes unseres Herrn hat vergegenwärtigen müssen, unseren Glauben gestärkt fühlen durch die Erfahrungen, welche die Diener des Evangeliums und alle gläubige Nachfolger des Herrn durch viele Jahrhunderte gemacht haben von der ohnerachtet aller Schmähungen und Verfolgungen immer weiter sich verbreitenden Gemeinschaft der khristlichen Kirche, und von dem, wie sehr es auch angefeindet wurde von der Welt, und wie sehr sie es auch zu verdunkeln suche, immer herrlicher aufgehenden Lichte des Evangeliums. Aber doch können wir nicht anders als | eben in dem Gefühl, daß wir, wiewohl nicht an die Grenze des Khristenthums, sondern in die Mitte des 13 Hebr 12,2

19 Vgl. Joh 6,68

28–29 Vgl. Phil 2,9–11

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Evangeliums gestellt, doch auch den Beruf aller seiner Jünger, sein Reich auf Erden zu bauen, theilen, und ihm den schönsten Theil unseres Lebens widmen sollen, wir können nicht anders, sage ich, als fragen: wie haben auch wir dieses Wort des Herrn anzuwenden? Wenn ich nun sagen wollte, m. g. F., es scheint mir schwer, eben deswegen weil wir mitten in die khristliche Kirche gestellt sind, die Anwendung zu finden, so würden mir gewiß wenige von euch beistimmen. Denn ist nicht auch mitten in der khristlichen Kirche be|ständig Verfolgung und Schmach erhoben worden gegen solche, die nichts anderes, als das Evangelium des Herrn und seine göttliche Kraft für die Menschen gebrauchen und unter ihnen befestigen wollten? ist es nicht eben deswegen die allgemeine Rede, daß der Krieg nicht geendet hat, aber der Schauplaz sich geändert, daß die Feinde des Kreuzes Khristi sich mitten auf dem Wege derer befinden, die der Fahne desselben folgen, und daß immer noch die wahrhaft Gläubigen an den Sohn Gottes, je nachdem es die Umstände mit sich bringen, Schmach und Verfolgung von denen zu leiden haben, die seinen Namen zwar bekennen, aber eigentlich seine Jünger nicht sind, und seine Herr|lichkeit nicht theilen. Ja, m. g. F. das ist die allgemeine Ansicht, aber ich kann es nicht leugnen, daß ich in vieler Hinsicht sie nicht zu theilen wage. Wohl sehe ich zu allen Zeiten in dem Umfange der khristlichen Kirche beide Verfolgte und Verschmähte, wohl hat der Stachel des Spottes eben so wohl als die Schärfe des Schwertes genagt an der Gemeine des Herrn, und diejenigen, die das Eine oder das Andere thaten, sie waren nicht solche, die den Namen Khristi verleugnet haben, sondern bekannt. Aber wenn man sagt: diejenigen, welche so verfolgten und schmähten, waren die Feinde Khristi und seines Kreuzes, und | diejenigen, welche Schmach und Verfolgung ertrugen, das waren die rechten Jünger, das waren die wahrhaft Gläubigen: da wage ich nicht zu behaupten, nicht als ob ich leugnen wollte, die da schmähen und verfolgen haben unrecht, aber wohl muß ich leugnen, daß die, welche Schmähung und Verfolgung erleiden immer diejenigen sind, die den Namen Khristi am meisten bekennen und sein Reich am meisten fördern. Denn wie finden wir es, wenn wir die Geschichte der khristlichen Kirche betrachten von ihrem Ursprunge bis auf diesen Tag? dieselben Meinungen, dieselben Ansichten, dieselben Arten das Leben zu führen, die heute der Gegenstand der | Schmähung und der Verfolgung sind: nicht lange währt es, so sehen wir sie eben in den Händen derer, die Schmach und Verfolgung erhoben; und so lange es so geht, daß der, welcher heute verfolgt, morgen wieder verfolgt wird, wie können wir sagen, daß die Kraft des Glaubens nur und immer bei denen ist, welche die Schmach und die Verfolgung trifft. Aber gewiß ist noch eine Betrachtung in dieser Hinsicht zu machen, der wir uns nicht werden erwehren können, das Zeugniß der Wahrheit zu geben. Wie? sollen 29 muß ich] muß

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wir von denen, die den Namen Khristi bekennen, glauben, | daß sie Feinde des Kreuzes Khristi sind? Wer giebt uns das Recht dazu, als sie selbst? und zu allen Zeiten, wo das Evangelium verfolgt wurde, hat es doch immer nur Wenige gegeben, die da verfolgten, und nur wenige, auf eine bestimmte Weise vereinigt, hat es gegeben, die da bekannten, daß sie sich des Namens Khristi schämten. Das ist nichts, was wir von einem Menschen glauben sollen ohne die bestimmtesten Beweise. Denn der Trieb nach Wahrheit ist jeder menschlichen Seele eingepflanzt, und jeder wird sich selbst früher oder später verächtlich, der sich gestehen muß, daß er etwas nur zum Schein gethan hat. | Welches Recht haben wir, die wir überall die Liebe sollen walten lassen, und mit Liebe die Brüder ertragen, welches Recht haben wir, alle diejenigen für Unkhristen zu halten, für Feinde des Reiches Khristi, die andere Bekenner des Kreuzes Khristi verschmähen, weil sie nicht mit ihnen übereinstimmen, oder die uns selbst verspotten? Denn m. g. F., das laßt uns festhalten, wer schmäht und verfolgt, der hat allemal Unrecht; überall, am meisten aber in dem Schooße der khristlichen Kirche. Denn wo der Name Khristi, wenn auch nur auf eine äußerliche Weise bekannt wird; da muß es etwas in dem Innern geben, | sei es mehr in dem Verstande, sei es mehr in dem Gemüth, was ein Fürsprecher für ihn ist, weil sonst auch nicht der Name Khristi bekannt werden kann, und das aufzusuchen in dem Verstande oder in dem Herzen der Menschen, das ist die Pflicht, das ist das Werk der khristlichen Liebe, und haben wir es gefunden, dann wird es uns leicht werden an diesem Leitfaden aufzusuchen und uns zu überzeugen, wie auch in demjenigen Wahrheit sei und Liebe zu unserem Herrn und Meister, was sie verschmähen; und so wird es uns gelingen, der Schmach und Verfolgung ein Ende zu machen. Der aber schmäht sicherlich, sei es auch der Schmähende und Verfolgende, der den | ansieht für einen Feind Khristi und seiner Sache, der so oder anders seinen Namen bekennt. Ja und deswegen hat derjenige, welcher auch in diesem Sinne scheint schon Unrecht, weil der Geschmähte so leicht glaubt, ein Märtyrer der Wahrheit zu sein, und deshalb, weil er geschmäht wird, meint auf Seiten der Wahrheit zu sein, und keines andern Zeugnisses zu bedürfen als das, welches ihm die Schmach der Welt giebt. Und eben so, m. g. F., wollen wir darauf achten, daß, wenn es uns begegnet um unserer Ansichten willen, die wir vom Khristenthum haben, um unserer Gesinnungen willen, die unser khristliches Thun bestimmen, und um der Art willen, wie wir | unser khristliches Leben gestalten, von anders Denkenden, die auch den Namen Khristi bekennen geschmäht zu werden, daß wir dann an das Wort des Herrn denken: „Fürchtet euch nicht vor ihnen“; denn das gilt in dem einen Falle, wie in dem andern. Wer sich vor der Schmach fürchtet, der versäumt die heilige Pflicht, die Erkenntniß der Wahrheit weiter zu fördern, und ihre Herrschaft über die menschlichen Gemüther zu erweitern. Wer durch die Schmach seinen Mund verschließen läßt, sich der Augen der Welt entzieht und das Verborgene

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sucht, der verläßt die Vorschrift des Herrn: „Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten.“ Aber was der Herr an einem andern | Orte zu seinen Jüngern sagt: Freuet euch, so ihr geschmähet und verfolget werdet, das, m. g. F. das gilt nur da, wo es der Herr gesagt hat; aber nicht, wenn die schmähen und verfolgen, die auch den Namen Khristi bekennen. Darüber können und sollen wir uns nicht freuen, sondern tief soll es unsere Seele bewegen. Denn was meint der Herr damit, wenn er sagt: Freut euch, so ihr geschmähet und verfolgt werdet. Worüber sollen sie sich freuen als darüber, daß dies ein Zeugniß ablegt davon, daß das Evangelium eine Wirkung hervorbrachte auf die menschlichen Gemüther, daß sie nicht mehr verstokt waren, sondern daß die Kraft der Wahrheit in das Innere | der Gemüther eingedrungen war, daß sie aufgeregt waren zu etwas, was dem irdischen Streben einen Wiederstand entgegensezte, freuen sollten sie sich, so nur die Verstoktheit des Gemüthes überwunden, so nur die Härtigkeit der Herzen besiegt sei: dann würde schon tief und immer tiefer eindringen der Saame des göttlichen Wortes, und da, wo sie zuerst nichts geerntet hätten als Schmach und Verfolgung, da würden sie Früchte schneiden. In diesem Sinn aber können wir uns nicht freuen, wenn wir geschmäht und verfolgt werden von denen, die mit uns der khristlichen Kirche angehören. Die können nicht mehr verstokt sein; denn von Kindheit an haben sie das Evan|gelium gehört, von Kindheit an ist ihnen der Name des Herrn als ein Heiligthum vor die Seele gebracht worden, und es fehlt ihnen nicht an der Kunde dessen, was der Gegenstand des Haders ist zwischen ihnen und ihren Brüdern. Da also können wir nichts sehen als eine tiefe Verirrung, die, indem sie das Rechte sucht, den rechten Grund davon in den Gemüthern der Menschen so ganz verfehlt. Aber eben deswegen, weil ja Schmach und Verfolgung mitten in dem Heiligthum der khristlichen Kirche sich findet, und weil da, wo dies der Fall ist, auch Mißverständnisse walten müssen, welche aufgelöst zu werden bedürfen, und welche auch immer leicht aufgelöst werden können, | so wir nur mit Liebe diejenigen ertragen, welche auf dem Wege des Irrthums sind, so wir uns durch Schmach und Verfolgung nicht verleiten lassen zu einer leidenschaftlichen Gegenwirkung, eben deswegen giebt es ein anderes Gebiet für uns, wo wir den Rath des Erlösers zu befolgen haben. Nämlich m. g. F., wir alle sind ja eben so gut berufen, das Evangelium zu verbreiten, wie die Apostel es waren, nicht nur im Raume und in der Weite, sondern von einer Zeit zur andern, und von einem Geschlecht auf das andere. Die Jugend, die unter uns aufwächst, die ist für uns der wichtigste Gegenstand unseres Dienstes am Evangelio. Nun freilich kann sie nicht verfolgen, denn | sie hat keine Gewalt dazu, und sie kann nicht verspotten, weil die natürliche Ehrfurcht gegen die, welche die Erfahrungen des Lebens hinter sich haben, den Spott nicht aufkommen läßt. Aber das, wovon die Schmach und die 1–2 Mt 5,16

3 Vgl. Mt 5,11–12

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Verfolgung ausgeht, nämlich daß das Evangelium auch ihnen ein Ärgerniß ist und eine Thorheit, das können wir nicht umhin überall mit Schmerz auch an ihnen wahrzunehmen, in der einen Zeit mehr, in der andern weniger. Da ist also der Gegenstand unseres Berufs, und da sollen wir den Rath des Herrn befolgen; wenn ihr das in dem Herzen der Jugend findet, woraus, wenn sie frei gelassen wird, und in den vollen Besiz ihrer Kräfte | gelangt, woraus Schmach und Verfolgung hervorgehen würde, so fürchtet euch nicht, sondern beharret nur in eurem Dienst, und gehet dem entgegen in der Kraft des Glaubens. O, m. g. F., wäre dies nicht so oft versäumt worden über jenem, hätten nicht die Khristen vielfältig und schon zu allen Zeiten ihre Aufmerksamkeit gerichtet auf die Verschiedenheit der Meinungen und Ansichten unter denen, die mit ihnen auf derselben Stufe khristlicher Erkenntniß standen, und wäre nicht dadurch ihre Aufmerksamkeit abgelenkt worden von diesem größten und wichtigsten Gegenstand khristlicher Sorgfalt und Liebe: wie viel Fehler und Mißgriffe in der khristlichen Kirche wären nicht dadurch vermieden worden. Darum we|niger laßt uns auf diejenigen achten, die schon in einem solchen aufgeregten Zustand sind, daß Schmach und Verfolgung sich gegen einander ausgleichen können. Aber die Jugend, die unter uns aufwächst, davor zu bewahren, daß sei unser heiligstes Geschäft, damit einmal eine Zeit komme, wo es nicht mehr scheinen wird, als wären die Feinde des Reiches Khristi mitten in dem heiligen Schooße seiner Kirche, damit eine Zeit komme, wo überall die Wahrheit gesucht wird, in gemeinsamer Liebe, und unter denen, die Brüder sind, kein gegenseitiger Haß sich findet. Darauf laßt uns achten, wo sich in der Jugend rege die leiseste Neigung dasjenige, was von ihrer Meinung abweicht, zu verfolgen und | zu schmähen, und laßt sie uns auffordern, die Wahrheit zu suchen in Liebe. Aber auch niemals mögen wir aufhören unser Licht vor ihr leuchten zu lassen, denn das ist der ewige Grundsaz, wodurch die Kirche des Herrn bestehen kann, wo dieser nicht ist, da kann der wahre Glaube nicht sein. Denn wer von ihm erfüllt ist, der kann nicht anders als das Reich Gottes verbreiten wollen, und durch Worte und That Zeugniß davon ablegen, daß es keinen andern Weg dazu giebt als den Glauben und die Liebe, und daß diese beiden Glaube und Liebe ein solches Bündniß geschlossen haben, welches auch die Pforten der Hölle nicht zerstören mögen. So werden wir die Leiden, welche der khristlichen Kirche Schmach und Verfolgung | verursachen, von ihr abwenden, und sie immer mehr zu demjenigen bringen, was sie darstellen soll, ein gemeinsames, heiliges Gebiet der Liebe und des Friedens. Amen.

1–2 Vgl. 1Kor 1,23

27–28 Vgl. Mt 5,16

34 Vgl. Mt 16,18

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[Liederblatt vom 9. September 1821:] Am 12. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Was mein Gott etc. [1.] Der Glaube ists, der Wunder schafft, / Kann’s gleich die Welt nicht fassen; / Was Gott gefällt wirkt seine Kraft, / Wenn wir ihn walten lassen. / Wer nur recht freudig glauben kann, / Der wird sein Ziel erreichen; / Denn ihm ist alles unterthan, / Ihm müssen Berge weichen. // [2.] Der, deß die Welt nicht würdig war, / Hat selbst am Kreuz gehangen, / Doch siegreich ist er seiner Schaar / Zu Gott vorangegangen. / Ihm gehn die Glaubenshelden nach, / Die seine Zeugen waren; / Sie stehen muthig in der Schmach, / In Trübsal und Gefahren. // [3.] Ja kühn und sicher wandelt der, / Der Christo sich ergeben, / Voll Zuversicht im wilden Meer, / Im Tod noch voller Leben. / Froh schauen wir die Tapferkeit / Der Streiter unsres Fürsten, / Und lachen der Verwegenheit, / Die nur nach Blut will dürsten. // [4.] So laßt auch uns in Christi Schutz, / Der Feinde Heer vertreiben, / Und allem Hohngeschrei zum Truz / Mit unsern Vätern gläuben. / Denn wer den Herren zum Beistand hat, / Das Herz voll seiner Freuden, / Der wird auch gern durch seine Gnad’ / Um seinetwillen leiden. // (Ges. B. d. Br. Gem.) Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Dein Gott, o Kirche, schützet dich, / Pflanzt seines Sohnes Lehre. / Umsonst empört die Hölle sich / Mit ihrem ganzen Heere. / Sie spreche Hohn, sie schäume Wuth, / Mit uns ist Gott, er giebt uns Muth, / Er schenkt uns Kraft zum Siegen. // [2.] Wenn tausende zu Schmach und Spott / Sich wider dich empören: / Sei muthig! deines Glaubens Gott / Wird ihren Rath zerstören / Durch ihn, der einst mit starker Hand / Das Heer der Hölle überwand, / Wirst du den Sieg behalten. // [3.] Jahrhunderte bekämpft sie schon / Das Heiligthum der Christen, / Spricht trozend unsrer Kirche Hohn, / Und droht sie zu verwüsten. / Umsonst ist alles Frevels Müh, / Die Kirche steht, und wanket nie / Auf ihrem Felsengrunde. // [4.] Wo sind mit ihres Armes Macht / Die wüthenden Zerstörer? / Wo sind sie? in des Grabes Nacht / Versenkt sind die Empörer! / Gott sah von seiner Allmacht Thron / Der Starken Troz, der Spötter Hohn, / Und stürzte sie zu Boden. // [5.] Auf ihrer Feinde Trümmern steht / Siegprangend Jesu Lehre, / Sie steht, die Kirche Christi steht, / Wie ein Gebirg’ im Meere. / Nicht wilder Wellen Ungestüm, / Nicht der erbosten Feinde Grimm / Vermag sie zu erschüttern. // [6.] Und Erd und Himmel wird vergehn, / Doch Jesu Wort wird bleiben, / Wenn seine Feinde, die es schmähn, / Vor ihm wie Spreu zerstäuben. / Wohl uns, wenn wir uns Jesu dein / Und deiner Wahrheit gläubig freun! / Auch wir, wir werden bleiben. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. eine feste Burg etc. Der Frevler mag die Wahrheit schmähn, / Uns kann er sie nicht rauben! / Der Unchrist mag ihr widerstehn, / Wir halten fest am Glauben. / Gelobt sei Jesus Christ, / Wer hier sein Jünger ist, / Sein Wort von Herzen hält, / Dem kann die ganze Welt / Die Seligkeit nicht rauben. //

Am 16. September 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

13. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,12–15 Nachschrift; SAr 80, Bl. 63r–76v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 128r–136r; Slg. Wwe. SM, Andrae Teil der vom 8. Juli 1821 bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Frühpredigt am dreizehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. 2. Petri I, 12–15. Darum will ich es nicht lassen, euch allezeit solches zu erinnern, wiewohl ihr es wisset, und gestärkt seid in der gegenwärtigen Wahrheit. Denn ich achte es billig sein, so lange ich in dieser Hütte bin, euch zu erweken und zu erinnern. Denn ich weiß, daß ich meine Hütte bald ablegen muß; wie mir denn auch unser Herr Jesus Khristus eröffnet hat. Ich will aber Fleiß thun, daß ihr allenthalben habet nach meinem Abschied, solches im Gedächtniß zu halten. Der Apostel, m. g. F., hatte vorher davon geredet, wie nothwendig es sei, daß der Khrist seinen Beruf und seine Erwählung suche, | je länger je mehr fest zu machen, wie es nicht allein darauf ankomme einmal zu der Erkenntnis der Wahrheit und zu dem Bewußtsein von der Gnade Gottes in Khristo gelangt zu sein, sondern wie man durch Beharrlichkeit und durch beständiges Wachsthum im Glauben und in der Liebe seine Erwählung befestigen müsse, weil sonst der Mensch auch leicht der Reinigung seiner vorigen Sünden vergäße. In dieser Beziehung nun fügt er die Worte unseres Textes hinzu, wie er eben deswegen nicht unterlassen könne, die Khristen zu erinnern und zu erweken, und wie er es für seine Pflicht halte, damit fortzufahren, so lange er noch in diesem irdischen Leben sei. Es veranlassen uns also die | verlesenen Worte des Apostels zu zwei Betrachtungen, einmal, was die khristliche Erinnerung und Erwekung überhaupt thun, dann aber auch 10–17 Vgl. 2Petr 1,5–10

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zweitens, wie eben dies dasjenige Geschäft sei, dessen sich keiner, so lange er auf Erden wallt, entbinden soll.

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I. Was das Erste betrifft, m. a. F., so hat man nicht selten eben dies angesehen als einen Beweis der Unvollkommenheit, daß unter den Khristen immer noch gegenseitige Erinnerung, Ermahnung und Erwekung nothwendig sei, so daß, wenn die Khristen zur Vollkommenheit in diesem Leben gelangten, als dann eine solche Einwirkung des Einen auf den Andern etwas Ueberflüssiges sein würde. Der Apostel, der knüpft zwar | auch eben diese Nothwendigkeit und Pflichtmäßigkeit der Erinnerung und der Erwekung daran, daß dem Khristen Noth thue seine Erwählung beständig fest zu machen, und so könnte man denken, er wäre auch derselben Meinung, und seze voraus, daß wenn die Khristen wirklich fest wären, alsdann die Erinnerung und Erwekung etwas Überflüssiges sei. Allein, m. g. F. genau betrachtet ist dem nicht so, und es ist auch genau betrachtet, nicht des Apostels Meinung, nicht etwa nur, daß wir dabei stehen bleiben wollten, zu sagen: es gehöre nun einmal zu der Unvollkommenheit dieses Lebens, daß kein Einzelner jemals so fest wird, daß er nicht der Erinnerung und Erwekung von Andern bedürfe; sondern | wir mögen wohl weiter gehen und sagen, wie auf der einen Seite zur Unvollkommenheit, so gehört dies eben auf der andern Seite zur Vollkommenheit und Herrlichkeit unseres gegenwärtigen Lebens, daß es eine so gegenseitige Erinnerung und Erwekung zum Festhalten der erworbenen göttlichen Gnade giebt. Denn, m. g. F., es liegt ja darin offenbar dies. Alle Erinnerung und Erwekung, die wir theils von Andern empfangen, theils Andern geben, wäre etwas Überflüssiges, wenn es die Einrichtung und der Wille Gottes gewesen wäre, daß der Mensch einzeln für sich nicht nur überhaupt stehen sollte, sondern auch in dem geistigen Leben einzeln für sich, das heißt | nicht durch seine einzelne persönliche Kraft, sondern auch in der Gemeinschaft mit dem Erlöser wahrhaft zunehmen könne. Aber das ist das göttliche Wohlgefallen nicht gewesen die Menschen auf diese Weise zu vereinzeln, sondern nur in der treuen, herzlichen Verbindung unter einander sind wir überhaupt etwas, und wer sich auf das menschliche Leben versteht, wer im Allgemeinen und im Besondern auf das innere Leben des Geistes und auf seine Verhältnisse und Beziehungen zu Gott achtet, der wird sagen, daß dies nicht die Unvollkommenheit, sondern die schönste Vollkommenheit unseres Daseins ist. Denn wenn wir mit einander vergleichen, was jeder aus sich selbst nehmen kann von allem Guten | und Schönen, was zu dem menschlichen Leben gehört, und das, was wir aus der Verbindung mit Andern schöpfen; so können wir wohl unmöglich anders, als sagen, daß das Leztere den größeren Reichthum unseres Lebens ent11 Vgl. 2Petr 1,10

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halte, und daß auch der Vollkommenste und Trefflichste würde dürftig sein, und sich auch so fühlen, wenn er auf das Erstere beschränkt wäre. Denn um dies richtig zu schäzen, müssen wir nicht bei demjenigen stehen bleiben, wovon wir uns unmittelbar bewußt werden können, daß wir es von einem Andern empfangen, und daß wir es nicht aus dem Schaze unseres eigenen Gemüths genommen haben, sondern auch, wenn wir rein | uns selbst betrachten und auf dasjenige achten, was aus unserem Innern hervorgeht: so müssen wir gestehen, wären wir von je an allein gewesen, und hätten nur aus uns selbst schöpfen müssen, so wären wir auch dazu nicht gekommen. Ja selbst alles, was jeder aus dem Schaze seines Gemüthes holt, hat doch seinen Werth nur in der gemeinsamen menschlichen Welt. Der Herr hat eben deswegen auch, als er auf Erden lebte, nicht nur darnach gestrebt einzelne Menschen in Verbindung mit sich zu bringen, sondern von Anfang an war das sein Tichten und Trachten sie in Verbindung unter einander zu bringen, und ein wahrhaft gemeinsames Leben unter ihnen | zu begründen. Und eben darauf gründete er auch noch in seinem lezten Gebet für seine Jünger und für alle künftigen Mitglieder seines Reiches auf Erden die Hoffnung seines Bestehens und Wohlergehens, daß sie alle unter einander Eins sein sollen, wie er Eins ist mit seinem himmlischen Vater. Nun scheint freilich noch ein Unterschied zu sein zwischen diesem gemeinsamen Leben, zwischen der gegenseitigen Mittheilung, von der wir fühlen, daß wir sie nicht entbehren können in dem geistigen Reiche unseres Herrn, und zwischen dem, was der Apostel in den Worten unseres Textes die Erinnerung und Erwekung nennt. Denn dies Leztere scheint sich mehr auf die Schwachheiten, | auf die Mängel, auf das Zurükbleiben des Einzelnen zu beziehen. Aber auch dies beides vermögen wir, so wir nur genauer auf uns selbst und auf die ganze Gestaltung unseres Lebens achten wollen, nicht von einander zu trennen. Alles, was aus dem gemeinsamen Leben hervorgeht, das ist seiner Natur nach eine Heilung für die Krankheiten und Schwachheiten der Einzelnen. So wie sich die Liebe ganz vorzüglich in dem gemeinsamen Leben offenbart, und die Liebe es ist, von der gesagt wird, daß sie die Menge der Sünden bedeke: so müssen wir es uns gestehen, daß dasjenige, was wir in dem gemeinsamen Leben als Kinder Gottes auf dieser Erde empfangen, auch am meisten dazu beiträgt, uns | immer mehr von unseren Schwachheiten zu reinigen, und die Gebrechen der einzelnen Seelen zu heilen. Denn in diesem lebendigen Zusammenhang aller unter einander, in diesem gegenseitigen Aufschließen der Herzen und der Gemüther, da kann es nicht fehlen, daß nicht jeder, der aufmerksam auf sich selbst ist, und den Grund seines eigenen Herzens zu erkennen sucht, eben in dem was ihm als eine reine und freie Mittheilung, als eine reine Gabe aus dem Innern des Gemüths gereicht wird auch ohne Beziehung auf seine 16–19 Vgl. Joh 17,11.20–23

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besonderen Schwachheiten, daß er darin nicht eine innere Erwekung und Anregung und eine lebendige Ermunterung und Befestigung im Guten | finden sollte. Ja wenn wir unter Erinnerung und Erwekung nur das verstehen wollen, was absichtlich auf die bestimmten Mängel und Unvermögen des Einzelnen gerichtet ist, so müssen wir sagen, es muß unsere liebste Hoffnung sein, daß es mit der Gemeine Khristi auf Erden dahin komme, daß, abgesehen von den Schwachheiten des Gemüths, der Mensch es zu einer solchen Vollkommenheit khristlicher Erinnerung und Erwekung bringen soll, die immer mehr alles Gute und Schöne in unserem gemeinsamen Leben gedeihen läßt. Aber, wie gesagt, das ist es nicht allein, und läßt sich alles Uebrige nicht davon trennen. Der Apostel bezieht die Worte unseres Textes nicht nur auf das Amt der Verkün|digung des Evangeliums, auf die Schwachheiten und Mängel der damaligen Kirche Khristi auf Erden; sondern er bezieht sie auch auf den Beruf, der an alle Khristen ergangen ist, in dem Briefe, den er an die Khristen richtet, und er hat ihn an solche gerichtet, mit denen er nicht auf eine äußerliche Weise verbunden war. Daher hat er auch keine Veranlassung gehabt auf etwas Besonderes Rüksicht zu nehmen. Aber der Brief ist nichts anders als eine Darstellung von dem Leben aus Gott, von den Fortschritten, die dasselbe zu machen bestimmt ist, von den Gefahren, die demselben drohen, und von dem, was der Gemeine der Gläubigen nach den Äußerungen des | göttlichen Geistes noch bevorstand. Also auch, was er hier als Erinnerung und Erwekung giebt, ist nichts anderes als die reine Mittheilung dessen, was der göttliche Geist in ihm selbst gebildet hatte. Und so finden wir, wenn wir unsere heiligen Schriften vergleichen, daß einige unter ihnen sind, die sich freilich mit besondern Umständen, mit dringenden Ereignissen, mit einzelnen Vorgängen in den Gemeinen des Herrn beschäftigen, daß aber andere, und nicht ein geringer Theil, denn wir müssen ja auch das dazu rechnen, was eine Darstellung des Lebens Khristi selbst ist, nichts anderes als eine reine Darstellung und Erwekung sind durch Mittheilung dessen, was die Khristen in ihrem gemeinsamen Leben erfahren hatten, | wie auch der Apostel sagt, daß die Khristen etwas haben in ihrem Gedächtniß, welches, wenn ihnen auch nichts verschwände und sie nichts vergäßen, doch etwas sei, was lebendig in ihnen und unter ihnen bleiben würde, und also das Bestreben die Gemeinschaft des Lebens, so weit es nur möglich wäre, fortzusezen. Und darum sollen wir aufmerksam sein auf uns selbst, daß wir alles, was der göttliche Geist um uns her schafft, in der Hinsicht so nahe als möglich auf uns selbst beziehen, daß wir es uns nicht nur selbst zur Erinnerung und Erwekung gereichen lassen, sondern auch durch Mittheilung an Andere ihren Beruf und ihre Erwählung immer mehr befestigen helfen. | 39–40 Vgl. 2Petr 1,10

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II. Und das führt uns auf die zweite Betrachtung, die aus den Worten unsers Textes entwikelt werden kann, wo nämlich der Apostel sagt: er achte es für seine Pflicht, so lange er seine irdische Hütte bewohne, damit fortzufahren, daß er die Khristen in dem eben angegebenen Sinne erweke und erinnere. Wie das menschliche Leben gestaltet ist, m. g. F., so haben wir alle ein gewisses Gefühl davon, daß der Mensch erst allmälig in den ganzen Wirkungskreis, der ihm bestimmt ist, eintrete, daß er erst allmälig zum vollen Gebrauch seiner Kräfte und zu der Erkenntniß desjenigen gelange, was er durch dieselben in der Welt nach Gottes heiligem Willen ausrichten | soll. Aber eben so fühlen wir, daß das gegenwärtige irdische Leben des Menschen, wie es sich allmälig bildet, auch auf einen gewissen Zeitraum beschränkt ist, und daß eine Zeit kommt, wo das menschliche Leben seine Grenze erreicht, wo wir uns weniger geschikt fühlen in dem uns angewiesenen Wirkungskreise mit unseren Kräften thätig zu sein, und wo sich der Mensch allmälig, was bisher der Gegenstand seiner Sorgen und seiner Arbeit gewesen ist, zurükzieht, und sich dazu entschließt andern kräftigen und rüstigen Werkzeugen des Guten die Stelle einzuräumen, die er selbst bisher mit seiner Thätigkeit erfüllt hat. Und so hat jeder ein Gefühl davon, wie wichtig | es sei seine Wirksamkeit abzubrechen, und die Geschäfte und Sorgen des Lebens Andern zu überlassen. Und das ist nicht nur in Rüksicht auf uns selbst, sondern es ist rein aus dem gesunden Gefühl des gemeinsamen Lebens heraus, und eben deshalb untadelhaft und gut. Aber etwas weiset uns der Apostel an als ein Geschäft, welches wir niemals aufgeben sollen, wie er durch sein eigenes Beispiel uns lehret; sondern in welchem wir fortfahren sollen, so lange wir in dieser Hütte sind, und das ist jene Mittheilung dessen, was in unserem innersten Gemüth durch die göttliche Gnade gebildet ist, eine Mittheilung, die Allen zur Erwekung und zur Erinnerung gereichen soll | und muß, welche sich ihrer auf die rechte Weise bedienen. Das ist doch wohl gewiß, m. g. F., so lange wir nur den Zusammenhang und den Faden unseres gegenwärtigen Lebens festhalten, und die frühere Zeit desselben im treuen Gedächtnisse bewahren, so lange nur unsere Sinne geöffnet sind, und alles, was in uns selbst und um uns her vorgeht, zu schauen: so lange vermögen wir noch jenen Antheil an dem gemeinsamen Leben zu nehmen, den der Apostel in den Worten unseres Textes sich selbst zuschreibt; und was wir noch können, wovon wir fühlen, daß wir es noch eben so gut können als früher, davon sollen wir uns nicht zurükziehen. Aber, m. g. F., | es gehört dazu doch noch etwas Besonderes, worauf sich unsere Aufmerksamkeit noch richten muß. Denn, m. g. F., daß die Mittheilung unseres Innern Andern zur Erinnerung und zur Erwekung gereiche, das beruht darauf, daß wir noch ein gemeinsames Leben mit ihnen führen. 26 Vgl. 2Kor 5,1.4

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Nun aber ist es leider eine allzu gewöhnliche Bemerkung, daß das Alter und die Jugend immer weiter auseinandergeht, und die Gemeinschaft des Lebens zwischen ihnen aufhört. Ist das nun geschehen, ja dann kann es auch keine Erwekung und Erinnerung des Einen für den Andern mehr geben, und dann ist es bei dem besten Willen nicht möglich, der Vorschrift des Apostels zu folgen. Wir sehen aber, daß er dies angesehen hat als etwas was in der Gemeine | der Khristen nicht vorkommen soll, und daß ihm dies als etwas Unmögliches vorgeschwebt hat, wenn der Zustand der Khristen so ist, wie er sein soll. Indem er nun sich selbst für freudig und bereit hält fortzufahren, in der Erwekung und der Erinnerung nach der Vorschrift des Herrn: so erklärt er, daß seiner Ueberzeugung nach in der Gemeine des Herrn dem kein Hinderniß dürfe entgegenstehen, das heißt er hat es so gefühlt und eingesehen, daß ein lebendiges Band der Gemeinschaft auch in den verschiedenen Altern des menschlichen Lebens in der Gemeine Khristi Statt finden könne, und wo dies nicht geschieht, da muß gefehlt werden von | beiden Seiten. In allem, was sich auf das irdische Leben bezieht, sehen wir der Ursachen viele, die dazu wirken, die Jugend und das Alter auseinander zu treiben, so daß das Alter der Jugend schwer fällt, und die Jugend das Alter beunruhigt, so daß beide Theile sich voneinander entfernen. In der Gemeine Khristi aber soll es nicht so sein, und in der That, wenn es darauf ankommt, daß der Mensch sich erbaue in der Gottseligkeit, was kann die Jugend besseres thun als sich an diejenigen zu halten, die einen größeren Reichthum von Erfahrungen haben. Denn die äußere Gestalt des menschlichen Lebens ändert sich gar vielfältig, so daß in dem Laufe der Zeit die Erfahrungen derer, die schon eine Reihe von Jahren | hinter sich haben, der Jugend, die unter ihnen aufwächst, wenig nüzen können, weil sie nicht im Stande ist Gebrauch davon zu machen. Aber das innere Leben ist viel weniger Abwechselungen unterworfen, die Gnade Gottes in Khristo ist ein und dieselbe, unveränderlich ihrem inneren Wesen und ihrer göttlichen Kraft nach. Aber eben so ist auch in dem Menschen das fleischlich Gesinntsein, welches eine Feindschaft ist wider Gott, immer dasselbige. Die Widersezlichkeit wider die göttliche Gnade, alle Gebrechen und Schwächen der menschlichen Seele, sie sind und bleiben dasselbe, und grade wenn man sie nicht betrachtet in ihrer Beziehung auf das Leben, sondern in dem Verhältniß zu dieser sich | selbst gleichbleibenden göttlichen Gnade, so erscheinen sie weniger wandelbar. Wie oft sich auch die Zeit ändern mag, wie viel es auch von der innern und äußern Gestalt des menschlichen Lebens umgewandelt werden mag, wie mancherlei Veränderungen alle Verhältnisse erfahren mögen, so ist es doch nicht so mit dem, worauf der Sinn des Khristen gerichtet ist, sondern das finden wir, wie es nur Ein Heil giebt, so auch was sich diesem Heile widersezt, überall als dasselbe. So wir recht verstehen, worauf es ankommt, so wird es in der Gemeine der Khristen

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immer der Fall sein, daß die Jüngeren sich losreißen wollen von dem, dem Gott ein heiliges Leben verliehen durch seine Gnade, und bei dem sie | die reichsten Schäze khristlicher Weisheit finden können. Aber eben so würde es jenes geistige Ueberwundensein von dem Äußern der menschlichen Dinge verrathen, wenn sich in dieser größten und tiefsten Beziehung das Alter zurükziehen wollte von der Jugend. Denn sehen wir weniger auf das Äußere als auf das Innere, so ist auch der Abstand geringer, und in der gegenwärtigen Zeit geringer als je. Es muß etwas Selbstsüchtiges dabei zum Grunde liegen, wenn wir früher oder später die lebendige Theilnahme, in welcher wir thätig sind für das, was die Jugend am meisten bewegt, in uns ersterben lassen. Der Apostel giebt uns davon ein herrliches Beispiel in den Schlußworten | unseres Textes, daß er nämlich nie aufhören werde, so lange der Herr ihm noch vergönne in seiner irdischen Hütte zu bleiben, die Khristen zu erinnern und zu erweken. Und so sollen wir alle seinem Beispiel folgen, und je mehr wir zunehmen an Erfahrungen und an Weisheit, desto mehr sollen wir achten, daß wir aus dem lebendigen Zusammenhang des gemeinsamen Lebens nicht herausgehen. Nur in diesem unentbehrlichen Zusammenhange hat die Kirche Khristi wirklich eine und dieselbe Quelle, und aus derselben Friede und Liebe von einem Geschlecht zum andern. So möge uns denn der Herr in seiner Liebe erhalten, und darin immer mehr wachsen lassen, damit ein jeder in dem gemein|samen Beruf, den er empfangen und mit den Kräften, die ihm der Herr verliehen hat, das Reich Gottes auf Erden baue, bis ihm beschieden ist, nach dem gnädigen Willen Gottes, hinüber zu gehen in die ungestörte Ruhe des Friedens. Amen.

1 Jüngeren] Jünger 13 Vgl. 2Kor 5,1.4

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Am 16. September 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

13. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr St. Nikolai-Kirche zu Berlin Lk 10,23–37 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 102, S. 424–451; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 92r–93r; Gemberg Tageskalender: „über das Evangelium“

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Predigt am dreizehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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M. a. F., das ganze Leben unseres Herrn und Erlösers auf Erden bestand darin, das Reich Gottes zu verkündigen, welches durch ihn sollte gegründet werden, um das göttliche Leben, welches in ihm selbst war den Menschen, die ihn umgaben, mitzutheilen, und so konnte jeder, der seinen Belehrungen folgte, und in seiner Nähe wandelte, leicht inne werden, worauf es ankomme, damit der Mensch die ihm von Gott beschiedene Seligkeit genieße. Zweimal aber erzählen das unsere Evangelien, daß er befragt worden ist: Meister, was soll ich thun, daß ich das Leben ererbe? und daß er darauf statt der ausführlichen Antwort, die sein ganzes Leben und seine ganze Lehre gab, eine kurze und bündige in wenigen Worten geben mußte. Da konnte er denn nicht anders als an die Erkenntniß, die der Frage schon mitgetheilt war, anknüpfen, und so fragt er denn das einemal den Fragenden wieder: „Kennst du die Gebote nicht?“ Der aber antwortete ihm: „Herr, das alles habe ich schon gethan | von Kindheit auf.“ Da freute sich der Herr, daß ihm das nicht genügte nach seiner besten Erkenntniß, was das göttliche Gesetz als recht und gut aussprach, vollbracht zu haben, da ahndete er, es sei in dieser Seele das Bedürfniß eines Höheren und Besseren, und glaubte ihm dem gemäß die Zumuthung machen zu dürfen, daß er sich ganz an ihn anschließen sollte, um eben dadurch jenes höheren Lebens, welches er suchte, theilhaftig zu werden. Als er aber sagte: wenn dir noch

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1 1821] 1822 1 Die Nachschrift wurde im Traditionsprozess statt 1821 auf 1822 datiert und findet sich deshalb eingebunden in SAr 102. 8–9 In der Geschichte vom reichen Jüngling (Mt 19,16–26; Mk 10,17–27; Lk 18,18–27) und in der vorliegenden Perikope 9 Mt 19,16; Mk 10,17; Lk 10,25; 18,18 14–15 Vgl. Mt 19,17–20; Mk 10,19–20; Lk 18,20–21

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etwas fehlt, so gehe hin, und verkaufe alle deine Güter, und gieb sie den Armen, und folge mir nach: da ward der Jüngling betrübt, denn er hatte viele Güter. Wir wollen seine Betrübniß auf’s beste auslegen, m. g. F., und uns denken, nicht, daß er an den Gütern der Erde um ihrer selbst willen gehangen habe, sondern daß er sie bisher gebraucht hatte, um das göttliche Gesetz in allen Punkten desto richtiger und voll|ständiger erfüllen zu können, und daß es ihm zu schwer war, sich von dieser gewohnten Bahn und von der gewohnten Handlungsweise zu trennen, und sich gewissermaßen auf’s Unbekannte und Ungewisse demjenigen hinzugeben, der ihn zu sich rief. O wenn er gewußt hätte, was der Herr anderwärts zu verschiedenen Malen angedeutet hatte, und je näher das Ende seiner Tage kam, um desto deutlicher aussprach, daß nämlich bald der ganze damalige Zustand der Dinge untergehen würde, und eine Verwirrung eintreten, aus der fast keiner sein irdisches Wohlbefinden würde retten mögen, hätte er das gewußt, so hätte er von dem Gefühl des tiefen Verderbens, das solche Gerichte Gottes unvermeidlich macht, durchdrungen, gewiß leicht und gern die vergängliche Habe, die doch nicht zu retten war, hingegeben, um das Leben, welches er suchte, zu erlangen. | Die zweite ähnliche Geschichte ist die, welche unser heutiges Evangelium enthält. Da verwies der Erlöser den Fragenden nicht auf die einzelnen Gebote, sondern gleich auf die Hauptsumme derselben, um ihm anzudeuten, daß, so er diese zu erfüllen wisse, ihm das ewige Leben, welches er suche, nicht fehlen könne. Der aber fragte ihn wieder: wer ist denn mein Nächster? Und o wie gern, m. g. F., hätte gewiß der Erlöser ihm geantwortet wie jenem; was für eine würdigere, treffendere und wahrhaftigere Antwort hätte er ihm geben können, als wenn er ihm gesagt hätte: Ich bin dein Nächster, komm und liebe mich, mich, in dem du Gott und alle deine Brüder lieben kannst, mich, in dessen Liebe du im Stande bist das ganze Gesetz und den ganzen Sinn der göttlichen Gebote zu erfüllen. Aber weil der Fragende nicht fragte aus guter Meinung, sondern um sich selbst zu rechtfertigen, | und also in der Voraussetzung, auch der Erlöser werde nicht im Stande sein, die Frage zu lösen, oder wenn er sie auch lösen möchte, so würde er nie im Stande sein, Zweifel und Einwendungen dagegen vorzubringen: so gab das dem Erlöser einen so tiefen Blick in das Verderben nicht nur dieses einzelnen Menschen selbst, sondern in den verderbten Zustand der Zeit, die eben die einfache Frage: „wer ist der Nächste?“ zu einer so verwickelten und schwierigen gemacht hatte; und das nöthigte den Erlöser zu einer Antwort, die wir nur ganz verstehen können, wenn wir sie eben auf den Zustand der Dinge, der ihm damals vor Augen lag, beziehen. Das wollen wir denn in der gegenwärtigen Stunde mit einander thun, und bitten dazu Gott um seinen Segen und Beistand in einem stillen Gebet. | 24 geantwortet] geantwortet;

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Tex t. Lukas X, 23–37. Und er wandte sich zu seinen Jüngern, und sprach insonderheit: Selig sind die Augen, die da sehen, das ihr sehet; denn ich sage euch: viele Propheten und Könige wollten sehen, das ihr sehet, und haben es nicht gesehen, und hören, das ihr höret, und haben es nicht gehöret. Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn, und sprach: Meister, was muß ich thun, daß ich das ewige Leben ererbe? Er aber sprach zu ihm: wie stehet im Gesetz geschrieben? wie liesest du? Er antwortete und sprach: du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüth, und deinen Nächsten als dich selbst. Er aber sprach zu ihm: du hast recht geantwortet; thue das, so wirst du leben. Er aber wollte sich selbst rechtfertigen, und sprach zu | Jesu: wer ist denn mein Nächster? Da antwortete Jesus, und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab gen Jericho, und fiel unter die Mörder; die zogen ihn aus, und schlugen ihn, und gingen davon, und ließen ihn halb todt liegen. Es begab sich aber ohngefähr, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und da er ihn sahe, ging er vorüber. Desselbigengleichen auch ein Levit, da er kam bei die Stätte, und sahe ihn, ging er vorüber. Ein Samariter aber reisete und kam dahin, und da er ihn sahe, jammerte ihn seiner, ging zu ihm, verband ihm seine Wunden, und goß darein Öl und Wein; und hob ihn auf sein Thier, und führte ihn in die Herberge, und pflegte seiner. Des andern Tages reisete er, und zog heraus zween Groschen, und gab sie dem Wirth, und sprach zu ihm: pflege seiner, und so du was mehr wirst dar thun, will ich dir’s bezahlen, wenn ich wiederkomme. Welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der unter die | Mörder gefallen war? Er sprach: der die Barmherzigkeit an ihm that. Da sprach Jesus zu ihm: so gehe hin und thue desgleichen. Gewiß, m. g. F., deutet es auf einen traurigen Zustand der menschlichen Angelegenheiten überhaupt hin, daß jener Schriftgelehrte sich selbst hinter der Frage, die er dem Erlöser vorgelegt hatte, glaubte rechtfertigen zu können, indem er ihm dies gleichsam als ein großes Räthsel vorlegte: „Wer ist mein Nächster?“ Denn wenn die menschlichen Angelegenheiten nur einigermaßen der Natur der Sache gemäß geordnet sind, wenn die ursprünglichen Gefühle des menschlichen Herzens nicht gestört sind: so kann niemand darüber einen Zweifel erheben, daß dem Mächtigen der Hilflose, dem Kranken der Arzt, dem Armen der Reiche, dem Unerfahrenen der Weise der Nächste ist. Das sagt uns gewiß allen unser Herz. Und so fühlen wir es, daß wie Gott der Herr auf Erden die bösen Tage neben den guten geordnet hat, so auch | hat er Überfluß und Bedürfniß in allen verschiedenen Gebieten des menschlichen Lebens geordnet, damit Einer dem Andern nahe sei, da-

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mit das Verlangen sich aussprechen könne, und sich nie vergeblich sehen, damit der Überfluß nur deshalb vorhanden sei, um in einem vollständigen Maaße den göttlichen Willen auszuführen, und dem innern Gefühl der Kraft zu genügen. Solches aber mußte durch eine verkehrte Beschaffenheit der menschlichen Dinge, und durch eine falsche Richtung des menschlichen Gemüths aus seiner natürlichen Ordnung gekommen sein, wenn eine solche Frage, wie die Erwähnte, konnte vorgelegt werden. Auf diese Voraussetzung nun gründete sich die Antwort des Erlösers, und wir werden also sehen können, was unser Herr und Meister in Beziehung auf diese Anordnung in der menschlichen Natur, die das Gefühl der Nächsten Liebe verdunkelt, was für Belehrungen er in dieser Beziehung | für das Nothwendigste gehalten hat. Es sind aber zwei, welche uns die Erzählung, in die er seine Antwort einkleidet, vorzüglich in’s Licht setzt. Die erste nämlich ist die, daß der Erlöser eben unter diesen Umständen es nothwendig fand, den herrschenden Vorurtheilen, die das natürliche Gefühl verunreinigten und trübten, mit Macht entgegenzutreten. Die zweite ist die, daß er es grade unter solchen Beziehungen für das Nothwendigste hielt, daß keiner etwas von sich abschöbe auf einen andern, sondern jeder frisch zugriffe, wo ihm im Leben etwas Gutes und Heilsames vorkommt. Dies beides nun laßt uns nach Anleitung der Erzählung unseres Evangeliums jetzt näher mit einander erwägen. I. Es geht zuerst, m. g. F., aus unserer Erzählung hervor, wie dringend nothwendig es der Erlöser gehalten unter solchen Umständen und in dieser Beziehung, den herrschenden Vorur|theilen entgegenzutreten. Wir dürften uns sonst wohl mit Recht wundern, daß er in einer Erzählung, welche er zur Belehrung selbst vortrug, und die nicht eine einzelne wirkliche Begebenheit darstellt, daß er darin Priester und Leviten als Beispiele der Hartherzigkeit, die er tadeln wollte, vor Augen stellt, und den Samariter ihnen gegenüber als das lobenswürdige Beispiel der Barmherzigkeit und der Milde. Denn wenn wir in dem gewöhnlichen Leben auf eine ähnliche Weise verstehen wollten, diejenigen, welche die Angesehenen sind, und mit einer besondern Würde bekleidet, wie es unter dem Volke Israels die Priester und Leviten waren, diejenigen, welche den Gegenstand der Achtung und der Verehrung für die große Menge sein sollten, als selige zu bezeichnen, die vorzüglich geneigt wären das Gesetz Gottes unerfüllt zu lassen, und ohne eine Regung der Liebe bei den | Bedürfnissen ihrer Nächsten vorüberzugehen: so würden wir fühlen, daß wir nicht weislich geredet hätten, sondern allerdings dazu beitrügen das Gefühl der Achtung für die bestehenden menschlichen Verhältnisse zu schwächen. Und eben so, wenn wir wollten die Beispiele des Löblichen von solchen hernehmen, welche ähnlich wären den Samaritern der damaligen Zeit, die das Wort Gottes theilten, die göttlichen Offen-

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barungen nach ihrem eigenen Gutdünken sonderten, und von Anfang an dem Werke der Wiederherstellung des Volkes in seinem ursprünglichen Besitz zuwider gewesen waren: so würden wir uns ebenfalls den Vorwurf machen, daß wir dazu beitrügen als das Achtungswerthe und als den Sitz des Achtungswerthen dasjenige darzustellen, was im Ganzen angesehen, verwerflich ist. Aber, m. g. F., in welchem Falle befand sich der Erlöser? Er fühlte in der Tiefe seines Gemüths, wie sehr eben das na|türliche und richtige Gefühl der menschlichen Verhältnisse müßte getrübt sein, weil eine solche Frage an ihn konnte gerichtet werden, und der Ungewißheit, die in der Frage liegt, „wer ist mein Nächster?“ wußte er nicht besser zu begegnen als daß er den beiden Vorurtheilen zu gleicher Zeit entgegentrat, als ob es nämlich auf der einen Seite Menschen gäbe, welche unter allen Umständen, für alle Fälle, und in allen Beziehungen unsere Nächsten wären, und eben so auf der andern Seite, als ob es solche gäbe, die es immer und unter keinen Umständen werden könnten. Denn dies war die Ansicht der damaligen Zeit und der großen Menge. Die Priester und Leviten, welche den Dienst in dem Heiligthum des Herrn verrichteten, welche abstammten von demjenigen, den er zum Gründer und Gesetzgeber des Volkes auserlesen hatte, diese genossen einer solchen | unbedingten und unumschränkten Achtung unter dem Volke, und ebenso war es in eine Feindschaft gegen die Samariter von Geschlecht zu Geschlecht verwickelt worden, die denselben nichts Gutes, nichts Lobenswürdiges zugestehen, und nichts in dem ganzen Umfang des Lebens, auch nicht das Alleräußerlichste, mit ihnen theilen wollte. Darum gab der Erlöser seiner Antwort eine solche Wendung, daß der Fragende daraus abnehmen sollte, es gäbe wohl Umstände und Verhältnisse, unter welchen er selbst nicht würde behaupten können, daß der Priester und der Levit seine Nächsten wären, eine verkehrte Handlungsweise vermöge dann aufzuheben die Achtung, die in den äußern Verhältnissen gegründet ist; und eben so zwang er ihn, zu gestehen, es gäbe Fälle, wo der Samariter ihm näher stehe, als die Priester und Leviten seines eigenen Volkes ihm sein könnten. | Gewiß nicht, m. g. F., als ob der Erlöser darauf ausgegangen wäre, diesen nun in den Geschäften ihres Lebens, in den Verrichtungen ihres Amts, in dem löblichen Vertrauen, welches sie fordern konnten in Beziehung auf ihre Geschäfte und auf die denselben zum Grunde liegende Kenntniß des göttlichen Wortes, nicht als ob er in dieser Beziehung die Achtung, welche sie hatten, vermindern wollte; und eben so wenig auch, als ob er habe die Samariter im Ganzen genommen für eine bessere oder für eine lobenswürdigere Gesellschaft zu erklären im Sinne gehabt. Denn er selbst, wie wohl er, der als der einige Arzt allen Kranken der Nächste war, sich auch zu ihnen wendete, um ihnen das Heil darzubringen, vor welchem alle jene Unterschiede verschwinden sollen: so giebt er doch seinen Tadel gegen sie zu erkennen, indem er in dem Gespräch zu

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der Samaritischen Frau sagt: „Ihr wisset | nicht, was ihr anbetet, wir aber wissen es, denn das Heil kommt von uns her.“ Sondern das wollte er nur, daß jene Achtung und diese Mißbilligung in ihren gehörigen Schranken sollten erhalten werden, und ein Gefühl erregt für den innern Werth des Menschen, in Beziehung auf welchen diejenigen geringer erscheinen können, die auf eine äußere Achtung mit Recht Anspruch haben, und diejenigen höher stehen, die in vielen andern und auch in den meisten Beziehungen die Gegenstände eines wohlgegründeten Mitleidens sein können. Wie nothwendig dies ist, wenn der Verderbtniß, welche das natürliche Gefühl des Herzens ergriffen hat, gesteuert werden soll, davon können wir uns leicht überzeugen, wenn wir nur die Erzählung unseres Erlösers uns etwas weiter ausbilden. Der Priester und der Levit waren vorübergegangen, und hatten den, der unter die Mörder gefallen | war, seinem Schicksale überlassen. Wenn nun Andere gefolgt wären, im Begriff sich seiner anzunehmen, hätten aber gesehen, wie der Priester und der Levit vorübergegangen, und dann bei sich selbst gedacht: Ei wenn du ihm helfen wolltest, so würdest du ja scheinbar besser sein wollen als die, welche die Geachtesten sind in dem Volk, so würdest du sie der Vernachlässigung oder der Untreue zeihen, und ihnen stillschweigend einen Vorwurf machen durch deine That: das hätte natürlich manchem Menschen in der damaligen Zeit begegnen können; und so sehen wir, wie eine parteiische Beschränkung des natürlichen Gefühls so ausarten kann, daß sie das Gefühl der Menschenliebe und das Mitgefühl schwächt und erstickt. Und auf der andern Seite, wenn wir uns denken das Gefühl der Verachtung, welchem sich der | größte Theil des jüdischen Volkes überließ, gegen die Samariter als die alten Feinde ihrer Wiederherstellung, habe auch ergriffen gehabt das Herz desjenigen, dessen sich der Samariter annahm: können wir uns nicht denken den Parteienhaß in ihm zu einer solchen Höhe gestiegen, daß, nachdem er wieder genesen, er zu sich selbst oder zu Andern gesagt hätte, nächst dem, daß ihn Gott unter die Mörder habe fallen lassen, sei ihm doch nichts Ärgeres begegnet in seinem Leben, als daß er gerettet worden sei durch einen Samariter? Ja so weit kann sich der Haß, kann sich der Parteigeist in dem Menschen verirren, so tiefe Wurzel kann er schlagen, und das natürliche Gefühl völlig umkehren und zerstören. Nur wenn der Erlöser mit seiner Frage dazwischentritt, und spricht: was meinst du denn, welcher dünkt dich, der unter diesen dreien der Nächste sei gewesen dem, der | unter die Mörder gefallen war? Dann verstummt der Parteigeist für den Einen und gegen den Andern, dann fordert die Wahrheit ihr Recht, und nöthigt selbst den, der sich rechtfertigen will, demjenigen die Ehre zu geben, was Gott nach seiner ewigen Anordnung in das menschliche Herz unbefleckt, wie es sein soll, gepflanzt hat. Wie nur, m. g. F., grade durch ein solches Verderbniß in der Einrichtung 1–2 Vgl. Joh 4,22

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der menschlichen Dinge das natürliche Gefühl, welches entscheiden soll, wer in jedem Falle der Nächste sei, geschwächt wird, und wie, wenn dies einmal geschehen ist, jenes Verderbniß immer tiefer eindringt, darüber bedarf es keiner weitern Erörterung, und wir müssen auch hierin dem Erlöser Recht geben, selbst auf die Gefahr mißverstanden und mißdeutet zu werden, konnte er nicht anders als unter solchen Unständen jenen schon tief eingewurzelten Vor|urtheilen mit der Strenge und mit der Gewalt der reinen Wahrheit entgegenzutreten. II. Die zweite Belehrung aber, m. g. F., die in unserer Erzählung liegt, ist die, daß grade unter solchen Umständen es am nothwendigsten sei, daß keiner ein Werk der Liebe von sich ab und dem Andern zuschiebe, sondern jeder zugreife, und sich selbst für den Nächsten halte, sobald ihm etwas Gutes im Leben vorkommt zu thun. Wir könnten uns, m. g. F., sonst wohl billig wundern, wie der Erlöser, als er die Frage beantworten sollte: „wer ist der Nächste“, ihr eine solche Wendung gab, daß der Schriftgelehrte antworten mußte: „der, welcher die Barmherzigkeit an ihm gethan hat“. Denn unmöglich können wir das für den allgemeinen Maaßstab halten, nach welchem sich das Gefühl, wer der Nächste sei, zu richten habe; sonst wären freilich diejenigen gut daran im menschlichen Leben, denen es am meisten | überall fehlt, die überall am meisten der Hilfe und des Beistandes Anderer bedürfen, denn wenn ihnen die zu Theil würde, wenn an ihnen eine Barmherzigkeit gethan würde, dann wüßten sie, wer ihr Nächster sei. Aber wehe dann, wenn es so stände, wehe dann den Glücklichen, den Reichen, den Mächtigen dieser Erde, die immer nur Beistand zu geben haben, aber keinen empfangen, die müßten dann, wenn sie am meisten von den äußern Gütern des Lebens besitzen von den innern Gaben des Geistes am wenigsten haben, und darben, weil sie nicht wüßten, und keine Gelegenheit hätten zu erfahren, wer ihr Nächster sei. Aber der Erlöser mußte einen solchen Fall aufstellen, wo, indem er eben diese Belehrung geben wollte, es leicht und natürlich war, daß viele Menschen in den Fall kämen, das Werk der Liebe verrichten zu können, und er wollte nur entgegensetzen denjenigen, der es von sich selbst abwälzt, und den, der ohne danach zu fragen, ob nicht Andere es eben so gut verrichten | können, es gern und willig auf sich nimmt. Denn gewiß härter will der Erlöser nicht, daß wir den Priester und den Leviten, die er in seiner Erzählung aufstellt, beurtheilen sollen. Er sagt uns durchaus nicht, daß sie lieblos und hartherzig gewesen wären, sondern sie reisen eine häufig besuchte und große Straße. Nun freilich verräth es schon einen üblen Zustand der äußern menschlichen Ordnung, daß da konnte einer unter die Mörder fallen, und getödtet werden; aber da es 27–28 wenigsten] wenigstens

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einmal geschehen war, so dachten sie, es würden wohl mehrere Menschen des Weges kommen, und zwar solche, denen es bequemer wäre und leichter, sich des Unglücklichen anzunehmen, und darum reiseten sie weiter, und ließen ihn liegen, wo er lag. Der Samariter aber, der eben so hätte denken können, der gewiß auch in Geschäften seines äußern Berufs reisete, und in dieser Gegend am wenigsten Grund hatte, vorauszusetzen, | daß der, der unter die Mörder gefallen war, ein Genosse seines Volkes und seines Glaubens wäre, und so noch vielmehr Grund gehabt hätte, bei sich zu denken: Ei es werden ja wohl noch mehrere reisen, die ihm näher sind als ich und Genossen seines Glaubens, und also eher hätte fürbas gehen können, der nahm sich seiner an, hob ihn auf sein Thier, führte ihn in die Herberge, und pflegte seiner. Wenn alles in menschlichen Dingen auf dem natürlichen Grund des Gefühls der Menschenliebe geordnet ist, so sollen Fälle dieser Art weniger vorkommen, alle menschliche Dinge sollen auf eine bestimmte Weise getheilt sein; diejenigen, welche sich auf diesem oder jenem Gebiete des menschlichen Lebens die Nächsten fühlen, sollen sich vereinigen zu einem Geschäft, und so sollte es auch damals gewesen sein mit der Wohlthätigkeit. Wäre es so gewesen, so hätten Priester und | Levit keinen Tadel verdient, nur mit dem Vorbehalt, denen, die dafür zu sorgen hatten, Kenntniß davon zu geben, und so hätte der Erlöser sie nicht getadelt. Und so stellt er uns auch den Samariter nicht als einen Menschen dar, der den Trieb hatte, sich in den Beruf Anderer zu mischen, sondern nur weil es sich ihm auf eine natürliche Weise ergab, weil er in der allgemeinen Verwirrung und Unordnung über diese Gegenstände er in sich selbst sagen konnte, ich kann nicht wissen, ob ein Anderer dazu kommen wird, der sich ihm wieder näher fühlt, und ihm bereitwillig hilft, so griff er zu, und verrichtete das Werk der Barmherzigkeit, welches ihm die göttliche Gnade zuführte. Und das, m. g. F. ist es, was der Erlöser uns in den Worten unseres Textes vorhält, und eben durch beide Belehrungen, die tief in die Seele des Fragenden eingriffen, nöthigte er ihn die Antwort zu geben, die er wollte: nicht Priester und Levit seien immer die Nächsten, | und auch der Samariter könne es sein, wenn er sich auf die rechte Art und in dem rechten Sinne der verworrenen menschlichen Dinge annahm. Niemals aber m. g. F., fehlt es ganz an den Mängeln, die in der damaligen Zeit so tief gewurzelt waren und so sehr herrschend geworden, und in Beziehung auf alles Mangelhafte in menschlichen Dingen dieser Art, wird immer unsere Weisheit darauf beruhen, daß wir, dem Beispiele und der Belehrung des Erlösers folgend, alle äußern Verhältnisse in Ehren halten, und nach unseren Kräften aufrecht erhalten, aber auch jeder Verderbniß des Gefühls, so weit wir es vermögen, entgegen treten, wenn daraus der Maaßstab für den Werth des Menschen will hergenommen werden, und überall, wo nicht alle gemeinsame Angelegenheiten und Pflichten der Menschen in bestimmte Grenzen gewiesen sind, überall, wo uns etwas vorkommt, wozu wir nicht den bestimmten Beruf eines An-

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dern nachweisen können, so daß es | für uns ein tadelnswerthes Geschäft sein würde, wenn wir da überall zugreifen, und es als ein uns angemessenes Geschäft ansehen, welches der Herr uns auflegt. Wenn wir das thun, so wird sich allmählich das Gefühl des menschlichen Herzens wieder reinigen und berichtigen, so wird das, was in der Zeit mangelhaft ist, durch ein freies und liebevolles Wirken ergänzt werden, und indem die Menschen an lebendigen Beispielen den großen Unterschied sehen zwischen denen, die einem natürlichen und geistigen Gefühl gehorchen, und zwischen denen, die, sei es aus Eigennutz oder aus Vorurtheil, nur den herrschenden Irrthümern der Zeit folgen, und sich von ihnen leiten lassen, je mehr die Menschen diesen Unterschied sehen, um desto leichter werden sie dann zu der natürlichen Wahrheit zurückkehren, bei welcher keinem mehr nöthig ist, zu fragen, wer ist mein Nächster? sondern wenigstens in dieser ein|fachen Angelegenheit des Lebens jeder von Gott gelehrt. Aber um desto mehr, m. g. F., werden wir auch alle zurückgeführt werden auf den Einen, der in der That uns allen der Nächste ist. Denn wer so der reinen Wahrheit folgt, wer so jedes gute Werk frisch thut, was ihm vorkommt zu thun: o der ist der demüthige Jünger des Erlösers, der fördert immer mehr sein Reich, der läßt sich durch seine Stimme leiten, durch die Stimme des Hirten, der die zerstreuten Schaafe, als der Bischof ihrer Seelen, in eine höchste, befriedigende und sich immer mehr verklärende Ordnung des Heils sammeln will. Er allein ist dann der einige und ewige Nächste für uns alle; denn von ihm kommt uns die Kraft das Rechte zu sehen, und das Gute zu thun, sein Geist ist es allein, der uns auf eine truglose Weise erheben kann über die herrschenden Vorurtheile und Beschränkungen des Geistes, sein Geist ist es allein, der uns in jedem Augenblicke lehrt, was in demselben Gott | von uns fordert, und welche unter unsern Brüdern er uns zunächst gestellt hat als die Gegenstände unserer Liebe. Lieben wir ihn, den Einen, dann wird unser Auge hell sein und geöffnet, daß wir um uns her schauen, welches da sei der heilige, wohlgefällige Wille Gottes; und so werden wir immer enger zusammenwachsen in treuer und inniger Liebe; und je mehr das geschieht, je mehr wir fühlen, daß wir nicht Viele sind, sondern Eins, Eins als Glieder an seinem Leibe, um desto mehr wird auch dieser Zweifel uns schwinden, und keinem mehr einfallen zu fragen, „wer ist mein Nächster?“ Amen.

19–20 Vgl. Joh 10,3.4.16.27; 1Petr 2,25 29–30 Vgl. Röm 12,2 Joh 17,11.21–23; 1Kor 6,15; 12,27; Eph 5,30

32–33 Vgl.

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Am 23. September 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

14. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,26b–27 Nachschrift; SAr 80, Bl. 77v–106r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 270–290 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 101, Bl. 136v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 93r–93v; Gemberg Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis 1821 am dreiundzwanzigsten Herbstmonds. |

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Tex t. Matthäi X, 26–27. Es ist nichts verborgen das nicht offenbart werde, und ist nichts heimlich das man nicht wißen werde. Was ich euch sage im Finsterniß, das redet im Licht, und was ihr höret in das Ohr das prediget auf den Dächern. M. a. F. Unser Erlöser hat niemals, so lange er auf dieser Erde lebte und lehrte, irgend eine geheime Lehre gepredigt, die er nur seinen Jüngern in das Ohr gesagt, und deren weitere Verbreitung er einer späteren Zukunft aufbehalten. Wir finden viel mehr, daß auch das Tiefsinnigste und Geheimnißvollste, über seine Sendung, über seine Herrlichkeit bei dem Vater, | über das innere Einwohnen Gottes in der menschlichen Seele, welches durch ihn sollte vermittelt werden, daß er alles dies, wiewohl es von den Wenigsten verstanden ward, wiewohl es vielen sogar zum Ärgerniß gereichte, doch mitten in der größten Versammlung des Volkes ohne Scheu geredet und verkündigt hat. Wenn er also in den Worten unsers Textes sagt „was ich im Finstern geredet habe das redet ihr im Lichte, was ihr von mir in das Ohr gehört habt das prediget auf den Dächern“, so können wir das nicht so erklären, als wenn wir eben das voraussezen müßten, wovon uns die Bücher unsrer heiligen Schrift das klare Gegentheil sagen, sondern der | Erlöser bedient sich hier nur einer damals gebräuchlichen ja fast sprichwörtlichen 5 im Finsterniß] vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 161

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Redensart, um den Gegensaz darzustellen zwischen dem kleinen Kreise, für welchen er wirkte, und dem größern, in welchem seinen Jüngern vergönnt sein würde zu wirken. Und eben darum, wiewohl die Worte unsers Textes wie sie sich anhören mehr als eine Ermahnung klingen, die der Herr seinen Jüngern giebt, so schließen sie doch zugleich die herrlichste Verheißung in sich, eben deswegen weil das nicht eine Ermahnung sein konnte, von welcher der Erlöser glauben durfte, sie würde nicht in ihrem ganzen Umfange befolgt werden; es schließen seine Worte die herrlichste Verheißung in sich | über das Gedeihen seiner Lehre und des Lichtes, welches dieselbe über das menschliche Geschlecht verbreiten sollte; aber zugleich enthalten sie freilich eine Anweisung, und das ist auch natürlich, weil der göttliche Segen über das menschliche Geschlecht nie anders als durch den Dienst der Menschen kommen kann, deren sich der Höchste zu seinen großen und weisen Endzweken bedient. So laßt uns denn auf beides Rüksicht nehmen, und indem wir nach Anleitung der Worte unsers Textes an die auf Erden immer zunehmende Erkenntniß der khristlichen Wahrheit denken, so laßt uns zuerst das Herrliche dieser Verheißung des Erlösers recht ins Auge faßen, dann aber auch zweitens | auf dasjenige sehen, was uns selbst obliegt, damit diese Verheißung immer mehr in Erfüllung gehe. I. Was nun das Erste betrifft, die Herrlichkeit der Verheißung, die der Erlöser hier ausspricht, so haben wir keine Ursache, uns den Inhalt seiner Worte geringer zu denken als wir schon die Erfüllung voraussehen. Denn bei der felsenfesten und göttlichen Ueberzeugung, welche der Erlöser auch als Mensch und in seinem menschlichen Leben und Thun von seiner großen Bestimmung hatte, bei der göttlichen Kraft, der er sich in jedem Augenblik seines Lebens und Wirkens bewußt war, bei der Art, | wie er sich an andern Orten öfters über die Gewalt die ihm gegeben, über die Herrlichkeit, die ihm aufbehalten sei, auch nach den Schriften unsrer heiligen Bücher geäußert hat, dürfen wir nicht zweifeln, er eben so gewiß als hernach seine Jünger und jezt wir alle ist überzeugt gewesen, daß in ihm allein für das ganze Geschlecht der Menschen Heil zu finden sei und in keinem andern. Da erschien ihm nun der keine Kreis von Menschen, welche damals aus seinem eigenen Munde seine göttlichen Worte hörten, wie eine kleine Versammlung in eine dunkle Kammer eingeschlossen, und die immer weiter fortgehende Predigt des göttlichen Wortes von einem Geschlecht zum | andern, von einem Volk zum andern, von einem Jahrhundert zum andern, wie das überall hie sich verbreitende Licht. Und wie damals als er selbst 5 sie doch] Ergänzung aus SW II/10, S. 271 28 Vgl. Mt 28,18

28–29 Vgl. Joh 17,22.24

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redete und lebte, nur da wo er eben sprach, nur in dem ersten Ergriffensein von der Gewalt seiner Rede, die göttliche Wahrheit nur vorübergehend in den Seelen der Menschen aufblizte, ihm aber deutlich war und lebendig vorschwebte, daß sie dereinst etwas werden müsse, was den Seelen der Gläubigen immer gegenwärtig und immer lebendig wäre, was mit seiner heiligen Kraft ihr ganzes Leben regierte, und sich in allen ihren Gedanken, in allen ihren Reden erweisen würde, was sich in alle ihre Handlungen, wenn auch nicht | immer wörtlich und buchstäblich, so doch dem innern Wesen und der That nach einmischt: so spricht er zu seinen Jüngern, was sie nur in das Ohr gehört hätten, was auch ihnen selbst etwas im Augenblike ihnen Kommendes mehr oder weniger aber bald Verschwindendes gewesen wäre, das sollten auch sie schon so predigen, daß es das Gespräch würde auf den Dächern, wo die Menschen sich versammelten, um freundliche Rede unter einander zu führen, und um das tägliche Leben und Weben der Menschen vor sich vorübergehen zu lassen. So sehen wir, m. g. F., wie lebendig dem Erlöser das Bild vorschwebte von einer Zeit, wo sich das Evangelium von ihm, von der Erlösung durch ihn, und das Gefühl und der Besiz der Seligkeit, die | er allein den Menschen mittheilen konnte, weil über die engen Gränzen des kleines Landes, in welchem er selbst lebte und lehrte, verbreiten würde, wo seine Lehre nicht mehr erscheinen würde als eine richtigere Ansicht und Erklärung von dem Geseze eines einzelnen Volkes, nicht mehr als ein tieferer Aufschluß über die Offenbarungen, die einem einzelnen Volke in früheren Zeiten zu Theil geworden waren, wo also auch nicht in dem besonderen Gebiet allein, worauf eben diese sich erstrekten, seine Lehre herrschen, sondern wo er mit seiner himmlischen Kraft und mit seiner unsichtbaren Wirksamkeit das ganze Leben aller derer regieren würde, die an seinen Namen glaubten. Das ist das Reden im Licht, das ist das | Predigen auf den Dächern. Und wie herrlich, m. g. F., ist diese schöne Verheißung unsers Herrn schon in Erfüllung gegangen. Wie klein und geringfügig erscheint uns die Zahl seiner ersten Gläubigen und Verehrer gegen die jezige Ausbreitung seines Namens, seiner Lehre und seiner Kirche. Und wenn bei dem Volk, in welchem der Herr lebte, das gottesdienstliche Leben mit seinen heiligen Gebräuchen gleichsam einen besondern Theil, ein abgeschlossenes Gebiet des menschlichen Lebens für sich bildete: o wie sehr ist schon unter denen, welche in Wahrheit durchdrungen sind von der Kraft des göttlichen Wortes, jede Scheidewand niedergefallen zwischen dem Himmlischen und dem Irdischen, dem Geistigen und dem Weltlichen; wie tief fühlen wir | es, und wie lebendig sind wir davon überzeugt, daß die Verehrung Gottes und des Erlösers hier an der heiligen Stätte unsrer gemeinsamen Andacht, daß ihre stille Verehrung im häuslichen und einsamen Gebet und Flehen, daß das alles nichts sei, wenn nicht das ganze Leben in seinen Verzweigungen, wenn nicht alles was wir zu unserm Beruf in dieser Welt, was wir zum freudigen Genuß unsers Daseins rechnen, von

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derselben Kraft durchdrungen und geheiligt, eben so sich immer mehr verklärt zur lebendigen Verehrung Gottes und des Erlösers, so daß nicht mehr in einer einsamen dunkeln Kammer des Herzens gleichsam, sondern in dem ganzen öffentlichen Leben er allein herrsche und regiere. Und was schon | in Erfüllung gegangen ist, o wir fühlen es dennoch, daß das Wort Gottes seine Kraft noch keinesweges erschöpft hat, wir hoffen es und wir sehen es jezt lebendiger als in manchen andern Zeiten der khristlichen Kirche, wie es immer weiter strebt, auch zu den Geschlechtern der Menschen, die bisher noch in dem Schatten und in der Finsterniß des Todes gelebt haben, wie das göttliche Licht sich immer weiter verbreiten will über die ohne dasselbe dunkle und kalte Erde, und wie es auch unter uns, wo der Name des Herrn schon lange genannt wird, wo sein Gesez, das ewige Gesez der Liebe, schon lange das ist, welchem sich alles unterworfen bekennt, wie auch unter uns noch sein Reich immer herrlicher muß aufgerichtet werden, | und alles noch immer mehr seiner Gewalt unterworfen und von seinem Geiste verklärt und geheiligt. Aber eben deßwegen, m. g. F., ist es nicht allein die äußere Verbreitung seiner Lehre und seiner Kirche über die Welt, von welcher der Erlöser in den Worten unsers Textes redet, sondern noch weit mehr die innere immer fortschreitende Verklärung derselben in jeder einzelnen Seele. Wenn wir, m. g. F., in uns selbst hineinschauen, und uns vorhalten unser ganzes Verhältniß zu unserm Erlöser und zu seinem Wort: o wie erscheint uns dasselbe allerdings überall als das göttliche Licht, welches allein die Seelen der Menschen erleuchtet; aber welchen großen Unterschied der Klarheit finden wir, | nicht nur wenn wir die Bekenner des Erlösers und die Gläubigen an seinen Namen unter einander vergleichen, sondern auch wenn jeder bei sich selbst stehen bleibt. Da giebt es vieles in unserm Glauben, in unserm Bekenntniß, in unsern Lebensregeln, in unsern Hoffnungen, was uns so klar ist und so deutlich, daß wir jeden Augenblik im Stande sind Rechenschaft davon abzulegen, und daß wir jeder Versammlung von Menschen, möchte sie nun schon nahe sein dem Reiche Gottes, oder auch noch weit von demselben entfernt, doch die Grundzüge unsers Glaubens und unsrer Hoffnungen in einer klaren Anschaulichkeit vorlegen könnten; aber wie vieles giebt es nicht auch, welches wenn wir zu uns selbst in dem Innern unsers | Herzens darüber reden mit unausgesprochenen Worten das Licht jener himmlischen Klarheit noch nicht theilt, wo wir noch schwankend von diesem zu jenem gezogen werden, und kein sicheres Gefühl der Wahrheit und der unumstößlichen Überzeugung haben. Ja wenn wir das nicht in uns fänden, so müßten wir gewiß weit das Ziel, wonach dem Menschen zu streben vergönnt ist in diesem Leben, schon überschritten haben. Aber auch das wird eine Erfahrung sein, die wir alle theilen, daß je weniger noch irgend etwas, was zu unserm Verhältniß gegen den Erlöser, 8–9 Vgl. Mt 4,16; Lk 1,79

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zu unserem Glauben an ihn gehört, je weniger es uns noch in bestimmter Klarheit eröffnet ist, desto weniger auch vermögen wir uns auf eine erfolgreiche Weise darüber | mitzutheilen. Worte zwar giebt es in großer Fülle schon über alles was zum khristlichen Glauben gehört, weil er in seinem ganzen Umfange schon so viele Jahrhunderte hindurch der Gegenstand des heiligsten Nachdenkens der besten und der erleuchtetsten Menschen gewesen ist; aber viele von diesen Worten sie gehen von Munde zu Munde, von Ohr zu Ohr, ohne daß bei ihrem Ton etwas Lebendiges in der menschlichen Seele erklingt, ohne daß diejenigen, welche sich ihrer bedienen, eine bestimmte Rechenschaft von dem Werth und von der Geltung derselben abzulegen wißen. Und wenn wir uns denken, wir wollten mit solchen Worten über dasjenige reden, wovon wir wohl fühlen, | daß es uns noch nicht ganz klar und licht geworden ist, wir dächten uns aber einen Menschen gegenüber, der von der heiligsten Wahrheitsliebe entzündet sich mit keinem Worte begnügt, welches nicht auch wirklich ein Licht in der Seele anzündet, wie leicht es dem sein würde uns dahin zu führen, daß die Fülle von Worten nur leere Schaale sei, mit der wir würfeln, daß wir aber den Kern derselben uns noch nicht angeeignet haben: ja, m. g. F., so müssen wir wohl gestehen, es giebt auch für uns noch manches in dem Umfang der göttlichen Lehre der Erlösers, was nur im Finstern geredet, nur leise in das Ohr gesagt werden kann, daß wir es selbst kaum vernehmen, | viel weniger einem andern vernehmlich machen können. Es ist etwas, denn es geht aus von demjenigen was die alleinige Quelle alles Lichtes und alles Lebens ist; es ist etwas, denn es öffnet sich das sehnsüchtige Ohr des Gläubigen sobald nur geredet wird, von diesen heiligen Gegenständen, es öffnet sich und schärft sich das Auge seines Geistes, um durch jede Öffnung die sich aufthut, hindurchzuschauen, und immer neue Strahlen des Lichtes einzusaugen – aber doch bleibt es dunkel, doch dämmert es nur. Aber das auch soll nicht so bleiben; was jezt nur in das Ohr geredet wird leise und unvernehmlich, das soll dereinst laut und deutlich gepredigt werden | von den Dächern; was jezt unserer Seele nur noch der erste Uebergang ist aus der Finsterniß der Unwißenheit in das aufdämmernde Licht der Erkenntniß, das soll dereinst ganz licht werden und im Lichte geredet, und durch keine andre als durch dieselbe Kraft des ausströmenden göttlichen Lichtes der Wahrheit und des empfangenden verlangenden aufnehmenden Glaubens der Seele. Und so ist denn, m. g. F., mitten in dem Gefühl unsrer eigenen Unvollkommenheit, mitten in der Erkenntniß, wie viel auch uns noch fehlt um zu schauen in dem reinen Lichte der Wahrheit, diese Verheißung des Erlösers ein köstliches Kleinod. Denn wir, die wir an seinen Namen glauben, wir müs|sen auch entzündet sein von seiner Liebe der gränzenlosen göttlichen, die das ganze Geschlecht seiner Brüder umfaßte; und vermöge dieser Liebe, wo wir selbst noch wandeln müssen in der unwillkommnen Dämmerung, die sich noch nicht zerstreuen will, und dem herrlichen Lichte des

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Tages Plaz machen, freuen wir uns in heiligem Glauben des Lichtes, welches reiner und heller aufgehen wird über die künftigen Geschlechter, und der Zeit, wo ein Schatten nach dem andern fliehen, und am Ende nichts mehr sein wird, was dem allverbreitenden Lichte, im Wege stände. Aber wie ich vorher schon gesagt, jede Verheißung des Erlösers ist zugleich ein Gebot. Denn das Werk, wozu er den Grund | gelegt hat, was er, wenn wir es in seinem tiefsten ewigen zeitlosen Sinne auffaßend, zu gleicher Zeit begonnen und vollendet hat, dieses Werk aber in seiner zeitlichen Entwiklung unter dem Geschlecht der Menschen kann nachdem er seine Laufbahn die irdische vollendet hat, nicht anders vollendet werden als durch diejenigen, die seine sind, und sich von seinem Geiste regieren laßen. Darum was er dem Geschlecht der Menschen verheißt das kann nur in Erfüllung gehen durch die Treue dieser seiner Jünger. Darum war sein Wort, die Verheißung an seine Jünger, zugleich ein Gebot; und wenn wir schon auf das seligste die Früchte genießen von ihrem Gehorsam, | so führt uns doch eben das Gefühl unsrer Unvollkommenheit darauf, daß das Werk noch nicht vollendet ist, und daß zur Förderung desselben auch wir das Unsrige zu thun haben. II. So laßt uns denn zweitens noch eben diese Frage uns vorlegen, was denn uns obliegt, damit diese Verheißung des Erlösers immer vollkommner in Erfüllung gehe. Ehe der Herr auf Erden erschien, m. g. F., vermochten alle Veranstaltungen der göttlichen Weisheit und Liebe nichts anderes und nichts mehr, als daß durch die Geseze, die Gott dem Menschen in das Herz geschrieben hat, und an die er äußerlich durch gesprochene Worte überall im geselligen Leben wieder erinnert | wird, Erkenntniß der Sünde hervorgebracht werde; und nichts anderes als diese war es, die dem Erlöser in der menschlichen Seele entgegenkam. Die Kraft der Wahrheit und die Kraft des göttlichen Lebens war und ist in ihm allein und in dem Geist, der in der Gemeinde seiner Gläubigen waltet von dem Seinigen es nehmend und ihn verherrlichend. Wir aber verhalten uns in Beziehung auf den Gegenstand dieser Verheißung des Erlösers auf eine vollkommen gegenseitige Weise. Keiner kann darauf Anspruch machen nach seinem Namen genannt zu werden, der nicht in einem gewissen Grunde von Gott erleuchtet und gelehrt ist, eben indem er den Geist in sich wohnen hat, | ohne welchen niemand Khristo angehören kann. Aber in uns allen ist auch auf der andern Seite immer noch als unsre persönliche Eigenthümlichkeit nur die Erkenntniß der Sünde, nur das Gefühl der Hülfsbedürftigkeit, der die Kraft des Lebens erst muß mitgetheilt und eingeflößt werden; und eben so auch neben der Wahrheit, welche die göttliche Gabe in unserer Seele ist, ist in ihr als unsre persönliche Eigenthümlichkeit nur das Bewußtsein daß wir nichts wissen, nur 33–34 Vgl. Joh 6,45

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das Bewußtsein der Finsterniß, in welcher wir ohne den, der das Licht auf Erden gebracht hat, noch wandeln würden, nichts als das Gefühl der Unwissenheit, welcher hülfreich das Licht der Wahrheit aus dem göttlichen | Worte entgegen kommen muß. Und indem nun der Geist des Erlösers nicht anders lebt und waltet als in den Seelen der Gläubigen selbst, so können auch wir, in wiefern wir bedürfen nur empfangen durch das was der göttliche Geist in den Seelen der Gläubigen hervorgebracht hat, und wiederum denjenigen welche bedürfen nur das mittheilen, was er in uns selbst schon von dem Lichte der Wahrheit angezündet hat, und durch die Gluth des göttlichen Wortes erhält. Wir alle also stehen in Beziehung auf diese Verheißung des Erlösers und auf die immer vollkommnere Erfüllung derselben in einem zwiefachen Verhältniß: einmal sind wir selbst mittheilend, weil das Licht der Wahrheit, | welches in uns angezündet ist, ein von Gott uns anvertrautes Pfund ist, mit welchem wir wuchern sollen in seinem Dienst an den Seelen der Menschen; auf der andern Seite aber sind wir alle empfangend, indem wir wohl fühlen, daß noch immer mehr Wahrheit und immer mehr Licht in unsrer Seele muß verbreitet werden; und nur indem wir in beider Hinsicht das Unsrige thun, auf die rechte Weise mittheilen, und auf die rechte Weise uns betragen in Beziehung auf die Mittheilung andrer, kann die Verheißung des Erlösers unter uns und durch uns immer reichlicher in Erfüllung gehen. So laßt uns denn zuerst fragen, wie sollen wir recht verwalten den theuren Schaz khristlicher Wahrheit, den uns der Vater im Himmel | durch die Erleuchtung seines Geistes schon gewürdigt hat zu besizen, wie sollen wir mit demselben umgehen, damit das Licht des göttlichen Wortes immer kräftiger verbreitet werde, und auch durch uns die Finsterniß aus den menschlichen Seelen immer mehr verschwindet? Wir können dies, m. g. F., lernen ohne irgend über die Worte unsers Textes hinauszugehen; denn sie enthalten, wenn wir sie nur so auffassen, wie der Erlöser sie seinen Jüngern sagt, denen ja sein ganzes Leben und Wirken gegenwärtig vor Augen stand, die allervollständigste Belehrung darüber. Zuerst nämlich enthalten sie die Anweisung, daß wir dasjenige, was in uns reine Überzeugung ist von göttlicher Wahrheit, auch mittheilen sollen in | dem ganzen Kreise unsers Lebens, ohne irgend eine Mißdeutung oder irgend einen Mißbrauch, der davon gemacht werden könnte, zu fürchten. Denn wenn der Erlöser sagt „was ich geredet habe im Finstern, das redet ihr im Lichte“, wenn er sagt, „was ihr in das Ohr gehört habt – natürlich von mir – und ich also leise in euer Ohr geredet, das sollt ihr predigen auf den Dächern“: so wissen wir es ja, wenn wir den ganzen Umfang unsers khristlichen Glaubens vergleichen mit demjenigen was wir als das Wort des Erlösers in unsern heiligen Büchern lesen, und wenn wir auch nur stehen bleiben bei den Worten, die er in großen sehr mannichfaltig zusammengesezten Versammlungen von Menschen geredet hat, | daß jener ganze Umfang in diesen Worten enthalten

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ist. Also nicht so hat der Erlöser im Finstern geredet, nicht so hat er in das Ohr seiner Jünger hineingesprochen, daß er den Menschen dieses oder jenes verborgen hätte, weil er, der nicht bedurfte, daß man ihm sagte was in den Menschen war, hätte voraussehen können, daß sie es mißbrauchen oder mißdeuten würden. Wenn er sich selbst als den Sohn Gottes zu erkennen gab, so geschah es auch vor denen welche sagten, dieser lästert Gott, indem er ihn seinen Vater nennt. Wenn er zu gedrükten und gebeugten Seelen das tröstende Wort sprach „gehe hin deine Sünden sind dir vergeben, dein Glaube hat dir geholfen“: | so sprach er es unverhohlen auch vor solchen aus, die auch das wieder als eine Gotteslästerung ihm auslegten. Wenn er von den Geheimnißen seiner Lehre und seiner Sendung redete, und sich selbst zu erkennen gab als das Brot, welches Gott von Himmel gesandt habe um die hungrigen Seelen der Menschen zu speisen, und sie als die Bedürftigen einlud, ja ihnen sagte, daß ohne dies kein Heil für sie sein würde, daß sie sollten sein Fleisch eßen und sein Blut trinken: so thut er das vor den Ohren größtentheils sehr unverständiger Menschen, denen das eine harte Rede war; ja selbst viele von seinen Jüngern gingen hinter sich, und er gewiß der Herzenskündiger hat es ge|wußt, und es ihnen doch nicht vorenthalten, sondern wenn er ihnen sagt „was ich euch sage im Finstern das redet im Lichte“, so meint er damit nichts anderes, als: indem es von menschlicher Rede ausging noch kein Licht hatte werden können, um die Dunkelheit zu erleuchten, weil diese zu sehr die Seelen der Menschen umgab, das werdet ihr im Lichte reden; denn schon während der Zeit euers Lebens wird die Zeit kommen, wo jene Dunkelheit sich zerstreuen wird. Und wenn er zu seinen Jüngern sagt „was ihr von mir leise in das Ohr gehört habt, das prediget auf den Dächern“, so dürfen wir dies nicht so ansehen, als habe er dem vertrauten Kreise seiner Freunde Lehren mitgetheilt, die | er da wo er öffentlich auftrat verschwieg – denn es giebt in dem ganzen Umfange unsers Glaubens nicht solche – sondern so: dasjenige, was indem ich es laut und öffentlich predigte nur so geschehen konnte, als wäre es auch in das Ohr gesagt, das werdet ihr auf den Dächern predigen, überall wird man lichte Reden mit einander führen, und die Menschen werden euch auf solche Weise verstehen, und so wird es in ihren Seelen licht werden. Wenn also der Erlöser aus seiner heiligsten Ueberzeugung, aus der geheimnißvollsten Wahrheit, die nur derjenige in sich trug und aussprechen konnte, der vom Vater in die Welt gesandt war, wenn er aus der kein Geheimniß gemacht hat, sondern sie öffentlich | verkündigte immer ermahnend und hinzufügend „wer Ohren hat zu hören der höre“, damit wenigstens sie in die Seelen derer hineingehen könnte, denen das Ohr der Seele schon geöffnet war: so sollen eben dazu auch wir die Ermah8–9 Lk 7,48.50; vgl. Mt 9,2; Mk 2,5; 10,52; Lk 5,20; 8,48; 17,19 12–13 Vgl. Joh 6,51 14–15 Vgl. Joh 6,53 17–18 Joh 6,66 38 Mt 11,15; 13,9; 13,43; Mk 4,9.23; 7,15; Lk 8,8; 14,35

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nung in seinen Worten finden. Jeder möge sich das freilich sagen: manches von dem was du verkündigst, manches von dem was du aussprichst, als die klare und lebendige Ueberzeugung deiner Seele, wird den meisten dunkel bleiben und unverständlich; so laut du es vorträgst, es wird doch nur Einzelnen in das Ohr geredet sein; so licht du es aussprichst, doch wird immer noch viel Finsterniß in diesen und jenen bleiben, zu denen du redest. So klar wir das auch | sagen mögen; keiner laße sich deswegen abhalten, das Licht leuchten zu lassen vor den Menschen, welches der göttliche Geist in seinem Herzen und in seinem Verstande angezündet hat. Wie, m. g. F., wie sollte wohl das Reich der Wahrheit verbreitet werden, wenn diejenigen, die sich der Geist Gottes zur Erkenntniß der Wahrheit geweiht hat, wenn sie furchtsam das was ihnen geoffenbart worden ist in sich verschließen wollten. Aber, m. g. F., was könnte uns auch dazu wohl bewegen? Doch nicht die Furcht vor irgend etwas Üblem, was uns selbst deßwegen begegnen könnte? O dann müßten wir uns ja im Namen des Herrn das Wort zurufen, welches er dem Petrus zurief, als dieser ihn warnend anredete „Herr | schone deiner selbst, das begegne dir ja nicht“. Und noch viel weniger also die Furcht, daß wir ein vergebliches Werk thun, und daß es beßer sei zu schweigen, wenn man eben so gewiß als man von der Wahrheit überzeugt ist, die man aussprechen möchte, auch davon überzeugt ist, daß fruchtlos die Rede sein werde. Nein, m. g. F., auch das darf uns nicht abhalten, eben weil wir diese Ueberzeugung nie so fest haben können als jene. Wir würden uns dadurch zuerst demjenigen gleichstellen, dem allein der Ruhm gebührt, daß er wußte was in dem Herzen des Menschen war. Ach und wie oft sollte das nicht ein jeder unter uns erfahren haben; wie klein auch unser Kreis sein möge, sind wir nicht oft schon auf das freudigste überrascht worden, | wenn wir mitten in der Verzagtheit, mitten in der Unlust, die Worte der Wahrheit zu reden, weil wir glauben sie würden abprellen von der Seele, doch dann die eine oder die andre gefunden haben, die da empfänglich war für die Wahrheit, in welche das Wort einging und Frucht hervorbrachte nach ihrem Maaße. Aber gesezt auch das wäre nicht, wir sind nicht dazu, m. g. F., den Erfolg zu berechnen in dem was wir thun als Diener Gottes und Verkündiger unsers Erlösers und Werkzeuge seiner Wahrheit; nein sondern wie die Apostel des Herrn nicht dazu gekommen wären, was der Herr in Finstern redete im Lichte zu sprechen, und was er ihnen in das Ohr sagte auf den Dächern zu predigen, wenn nicht das ihr Wahlspruch gewesen wäre | „die Liebe Khristi dringet uns also auch zu bitten und zu flehen, laßt euch versöhnen mit Gott“: so auch soll uns allein die Liebe Khristi, die Liebe zu seiner Wahrheit und die freudige Ueberzeugung von der Seligkeit, die nur in dieser ist, die soll uns so dringen, daß wir nicht anders können als 15–16 Vgl. Mt 16,23 16–17 Mt 16,22 24 Vgl. Mt 9,4; Mk 2,8; Lk 5,22 31 Vgl. Mt 13,23; Lk 8,15 37–38 Vgl. 2Kor 5,20

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das reden, wovon unser Herz voll ist, als den Mund übergehen laßen in das, was in unserm Herzen quillt durch die göttliche Wahrheit, wir sollen nicht anders können als der Wahrheit, die uns frei gemacht hat und uns seliger macht von einem Tage zum andern, Zeugniß geben wo wir vermögen. Aber dabei, m. g. F., sollen wir auch, indem wir auf das Beispiel unsers Erlösers sehen, in weiser Mäßigung den langsamen | Fortschritt der Wahrheit erwarten, und nicht verlangen, daß ehe es im Finstern geredet, ehe es leise in das Ohr gesprochen wird, alles im Lichte gesagt und auf den Dächern verkündigt werde. So, m. g. F., der Erlöser; unermüdet ging er umher, und redete zu allen, die ihm auch nur das leibliche Ohr vergönnen wollten, von den hohen Geheimnißen Gottes und seiner Weisheit; aber er wußte es, daß er im Finstern redete, er wußte es, daß wie groß auch die Menge war die sich um ihn versammelte, so oft er öffentlich auftrat, daß er nur Einzelnen in das Ohr hineinreden konnte die Worte des ewigen Lebens, er wußte es daß damit sein großes Werk mußte begonnen werden. Hätte auch er schweigen wollen und warten, | bis eine Zeit komme, wo auf einmal Licht würde und das Reich Gottes auf den Dächern gepredigt werden könnte: o so hätte ja der Tag der Wahrheit nie anbrechen, so hätte ja die himmlische Sonne des Evangeliums nie aufgehen können über der Erde. So also, m. g. F., sollen auch wir das wissen und so halten. So lange auch schon das Wort Gottes jezt wirksam ist auf Erden, so viel auch darüber geredet und geschrieben, so viel darüber gedacht und daraus empfunden worden: zu allen Zeiten giebt es immer etwas, bald dies bald jenes, was wenn es auch früher schon hell gewesen ist sich wieder verdunkelt, so daß es immer aufs neue in den Seelen der Menschen muß erleuchtet werden. Alle die das Evan|gelium Jesu von Herzen bekennen, und treue Verkündiger desselben sein wollen, sind in irgend einer Hinsicht in einen solchen Anfang desselben gestellt. Wenn es uns nun so bedünkt, sei es wahr oder sei es falsch: o so laßt uns die Demuth unsers Herrn zum Muster nehmen. Indem wir ihm folgen in dem Muth und in der Tapferkeit nichts zu verschweigen und zu verheimlichen was der göttliche Geist in uns gewirkt hat, so laßt uns auch das wißen, daß das Reich Gottes nicht kann erbaut werden mit Einem Tage, daß nicht durch die Bemühungen Eines Lebens, ja nicht Eines Geschlechtes, das Licht kommt, um die Finsterniß, in welcher die Seelen der Menschen noch befangen sind, zu zerstreuen; sondern von einem geringen Anfange schreitet | das Wahre und Gute zum herrlichen Ziele fort. Wer aber, m. g. F., wer aber war der Größere? der Herr, dem nur vergönnt war im Finstern zu reden und in das Ohr? oder die Jünger, die im Lichte sprachen und auf den Dächern predigten? Nicht, m. g. F., als ob wir uns erheben wollten; aber das können wir sehen aus dieser Weise der göttlichen Haushaltung, daß der Wert der Menschen als Diener Gottes und seines Wortes nicht abhängt von dem 3 Vgl. Joh 8,32

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Erfolg den sie haben, sondern von der Treue und Sicherheit, mit der sie selbst die Schäze besizen und verwahren, welche der Welt mitzutheilen ihr höchstes Bestreben sein soll. Aber nun, m. g. F., laßt uns auch zweitens sehen, wie haben wir denn mit demjenigen, | was uns verkündigt und mitgetheilt ist aus dem Schaze der khristlichen Erkenntnis und Weisheit, wie haben wir mit dem zu verfahren? Auch das lernen wir wenn wir auf die Worte unsers Textes achten. Als der Herr anfing das Wort vom Reiche Gottes zu verkündigen, daß nämlich das Himmelreich nahe herbeigekommen sei, und daß es das Erbe aller sein sollte die an seinen Namen glauben würden: da war früher vorangegangen Johannes mit der gleichen Verkündigung, und viele Menschen waren ihm zugeeilt um seine Lehre zu hören. Wenn wir aber nach dem Erfolg dieses Vorläufers des Erlösers fragen, so müssen wir folgendes sagen; vielen hatte er es in das Ohr nur geredet, wenn er sprach „siehe das | ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt“. Auf den Dächern aber wurde damals ganz anders gepredigt; diejenigen, welche auf dem Stuhle Mosis saßen, verkündigten ihren Zeitgenossen nichts weniger als den wahren Sinn der früheren Offenbarungen Gottes, sondern das Volk überhäufend mit menschlichen Sazungen und Geboten wälzten sie immer neue Lasten auf die mühseligen und beladenen Gemüther. Wenn nun alle Menschen der damaligen Zeit nur auf das gehört hätten, was auf den Dächern gepredigt wurde, und gar nicht auf dasjenige was nur noch im Finstern und leise in das Ohr gesprochen ward, was aber zu seiner Zeit allen offenbar werden sollte: | nun so hätte keiner vernommen dasjenige was das Licht werden würde, welches die Welt erleuchten sollte. Dieses Beispiel also laßt uns zu Herzen nehmen, und es uns als unsre Pflicht vorhalten, daß auch in Beziehung auf das Evangelium wir uns nicht begnügen mit dem was auf den Dächern und im Lichte gepredigt, sondern auch sorgfältig auf das lauschen, was im Finstern und nur in das Ohr geredet wird. Ja, m. g. F., wenn wir alle solch ein tiefes und lebendiges Verlangen nach der Wahrheit, und welches immer seiner Befriedigung gewiß wäre, wenn wir ein solches hätten, wie ich vorher schon erwähnt habe, daß wir es nicht haben; wenn in uns selbst nicht so manches, was in das Gebiet der Erkenntniß von göttlichen | Dingen gehört, dunkel wäre: dann möchten wir sagen, es ist ganz Tag; es giebt nichts Heimliches mehr was nur in das Ohr gesagt werden, es giebt nichts Verborgenes mehr was im Finstern geredet werden müßte; alles, alles wird ja schon im Lichte geredet und auf den Dächern gepredigt. Aber, m. g. F., das können wir ja nicht; nicht nur tragen wir das Zeugnis davon in unserm Innern in jedem unvollkommnen Zustande unsrer Erkenntniß, sondern wir sehen es auch vor uns mit unsern eigenen Augen. Denn Ein und dasselbe Evangelium, Ein und 9 Vgl. Mt 4,17 16 Vgl. Mt 23,2

9–10 Vgl. Joh 3,15 10–11 Vgl. Mt 3,2 24–25 Vgl. Lk 1,32; Joh 8,12

14–15 Joh 1,29

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dasselbe göttliche Wort, in dem Namen Eines und desselben Erlösers, auf dem Grund Einer und derselben Sammlung heiliger Schriften: wie wird es auf den Dächern gepredigt? Hier so und | dort auf die entgegengesezte Weise; überall Streit und Kampf zwischen denen, von denen jeder glaubt, mit fester Ueberzeugung und aus dem rechten Grunde des Herzens das Evangelium zu verkündigen, und das Wahre ergriffen zu haben. O so lange es noch so steht mit der Wahrheit des Khristenthums, wie können wir anders als bekennen, es giebt noch manches Heimliche, was erst muß offenbart werden, damit diejenigen vereinigt werden können, die so entgegengesezt verkündigen; es giebt noch manches was verborgen ist und nicht vernommen wird, wiewohl es schon ausgesprochen ist, und was recht verstanden den Mißverstand aufheben und die Streitenden versöhnen wird. Daraus können wir deutlich sehen, auch | für uns alle ist eine Zeit und wird noch lange bleiben, wo wir nicht allein auf dasjenige hören müßen was auf den Dächern gepredigt wird, und uns begnügen mit dem was als vollkommen im Lichte geredet dasteht, sondern zu lauschen haben wir auch auf manche Erleuchtung, die der göttliche Geist noch uns und den künftigen Geschlechtern wird zu Theil werden laßen. Wollen wir nicht darauf achten, wollen wir uns nicht zu der Ueberzeugung erheben, daß manches, was in den großen Umfang der göttlichen Wahrheit gehört, und was durch das Licht von oben in menschlichen Seelen erwekt worden ist, uns in das Ohr gesagt werden muß: so schließen wir das Reich der | Erkenntniß ab; so müßte es bei demjenigen bleiben was auf den Dächern gepredigt wird, und gewiß auch bei der großen Unwissenheit vieler wahrheitsliebender Menschen, die wir dann nicht anders könnten als bedauern. Wohlan, m. g. F., so laßt uns aufmerksame Schüler sein des göttlichen Geistes, laßt uns merken auf jedes geheime Wort aus dem Reiche der Wahrheit, welches uns in das Ohr geredet wird, laßt uns horchen auf jede leise Stimme, ob sie uns etwas verkündigen, was Noth thut, und was dazu beitragen kann den Streit zu schlichten, den Kampf zu beendigen, der noch immer auf dem Gebiete des geistigen Lebens geführt wird, und ein immer helleres Licht denen | anzuzünden, die dessen bedürfen. Aber wie würden wir dieses vermögen, wenn wir schon im Voraus urtheilen wollten über dasjenige, was uns unbekannt ist, was uns fremd erscheint, was sich aber bezieht auf den Gegenstand unseres Glaubens und auf das innerste Verlangen unseres Gemüths. Und doch, m. g. F., wie häufig ist dieser Fehler auch unter den ehrwürdigsten Khristen. Ja mitten in diesem Streit um die göttliche Wahrheit, wie oft ist es nur eine verschiedene Ueberlegung der heiligen Schrift, was die Geister entzweit, wie fest und hartnäkig vertheidigt jeder seine Meinung, und verschließt das Ohr gegen die fremde Stimme, | fest überzeugt, was der andere aus dem Schaze seiner Erkenntniß vorbringt mit eben solcher Ueberzeugung, mit eben solcher Klarheit: das müsse das Falsche sein, und so etwas Neues, etwas noch nicht Gesprochenes ertönt, schnell wird

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das Urtheil der Verwerfung ausgesprochen, eben weil es nicht auf den Dächern gepredigt wird, weil wir es sonst nicht zu hören gewohnt sind. O wie viel weniger hätte das Evangelium die Finsterniß durchdringen können, wenn von allen Menschen, die der khristlichen Kirche angehörten, von je an wäre so gehandelt worden! Aber wie herrlich erscheint uns auch auf der andern Seite der bescheidene und demüthige Sinn, mit welchem wir alle sprechen müssen: Noch schauen | wir durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort, die vollkommene Erkenntniß ist uns noch nicht gegeben, und noch viel weniger können wir sagen, daß wir sie errungen haben; aber vergessen sollen wir, was da hinten liegt, und uns streken nach dem, was vor uns ist. Und wie sehr sind wir bei einer solchen Handlungsweise in Gefahr, den göttlichen Geist zu betrüben. Denn wenn er sich eine menschliche Seele erkoren hat, um ihr deutlich zu machen das Geheimniß seines Wirkens und Waltens, und wenn wir dann, was eine solche Seele aus ihrem Innersten offenbart, verdammen, weil es nicht mit dem Unsrigen gleichlautet, betrüben wir dann nicht den göttlichen Geist? Und wenn wir diejenigen richten, die seine Werkzeuge | sind, und die von ihm erleuchtet der Welt die Mängel aufdeken, an denen man erkennen soll, wieweit der Geist Gottes das menschliche Leben durchdrungen hat, wenn sie das thun mit jener reinen Wahrheitsliebe, die sich nicht scheut, das, was der öffentlichen Meinung zuwider ist, frei herauszureden, und wenn wir sie dann nicht hören wollen, weil, was sie sagen, nicht auf den Dächern gepredigt wird: o welche schwere Verantwortung laden wir dann auf uns! Wie soll der Geist eindringen in die noch unerleuchteten Tiefen unserer Seele, wie soll er Licht bringen in die Finsterniß, die noch unsere Seele umlagert, wie soll er herabsteigen in die geheimsten Falten, damit sie von der Kraft der Wahrheit erfüllt werden. | Aber der Herr sagt: es ist nichts verborgen, das nicht offenbar werde, und es ist nichts heimlich, das man nicht wissen werde. Und auch das, m. g. F., ist keine Verheißung allein, sondern es ist ein Gebot. Ja so lieb uns die Wahrheit ist, so wenig sollen wir es wagen irgend einem zu wehren, der aus der Liebe zur Wahrheit redet, weil, was er sagt, uns fremd ist; sondern gern sollen wir uns hergeben zu Werkzeugen der Verbreitung der Wahrheit, und dazu beitragen, daß alles Heimliche immer mehr bekannt werde, und alles Verborgene immer mehr offenbar. Denn ist es wahr, so werden wir die Wahrheit selbst fördern, ist es falsch, so kann es als falsch nicht eher erkannt werden als bis | es an das Licht der Sonne gekommen ist, und sich mitgetheilt hat durch den freien Austausch der Gedanken. Darum ist es eine schwere Versündigung, wer immer das hemmen will, was der Mensch als wahr erkannt hat, so daß er es Andern nicht mittheilen kann. Wer es wagt den Lauf der menschlichen 7–8 1Kor 13,12

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Gedanken zu hemmen, indem er nicht weiß, ob es nicht vielleicht das Gute und Gottgefällige sei, was er zu hindern sucht, der stellt sich dem Erlöser entgegen; denn der will, daß nichts verborgen bleibe, was offenbar werden soll, und nichts heimlich, das man wissen soll. Der allein hemmt den Lauf der Geister, der hemmt den Lauf des Lichtes selbst: Aber der Erlöser hat auch jedes solches | Bestreben durch die Worte unseres Textes der Vernichtung Preis gegeben, er hat es bezeichnet als etwas, was nothwendig immer vergeblich ist. Denn das ewige Gesez hat er ausgesprochen, daß das Himmelreich kein Ende haben soll, und weder irgend eine menschliche Macht, noch die Pforten der Hölle jemals im Stande sein sollen, es zu überwältigen. Denn was ist der Mensch, daß er sich dem will entgegenstellen, und wie schlecht berathet er sich, wenn er sich eine Gewalt anmaßt, die Gott keinem gegeben hat, wenn er hindern will den freien Gebrauch alles dessen, was die göttliche Gnade den Menschen verliehen hat, um die Tiefen der Wahrheit immer mehr zu durchdringen, um den | Gedankenverkehr der Gläubigen zu unterstüzen, und die dunklen Gegenden der menschlichen Seele immer mehr zu erleuchten, damit das himmlische Licht in derselben immer herrlicher glänze. Jeder, der diese Bestrebungen hemmen will, der wiederstrebt dem Reiche Gottes. Aber alles, was dem Reiche Gottes wiederstrebt, wird auch überwunden durch den Sieg, der die ganze Welt überwindet, nämlich durch die Gewalt des Glaubens. An diesem also laßt uns festhalten, an der Ueberzeugung, daß, nachdem der Sohn Gottes Unsterblichkeit und ewiges Leben an das Licht gebracht, nachdem er, der die Wahrheit ist, und uns den Weg zu ihr gezeigt hat, auch das Reich der Wahrheit sich immer mehr ausbreiten | und ihr Licht immer herrlicher leuchten muß, nur unter der Einen Bedingung, daß wir immer wieder zu ihm zurükkehren als zu der ewigen Quelle des Lichtes und der Wahrheit, daß wir an seinem Worte alles prüfen, was unsere Seele in ihren geheimsten Tiefen erzeugt, um davon zu unterscheiden, ob es der eigene Geist ist, der es hervorbringt, oder ob es sein Geist ist, der es von dem Seinen nimmt und ihn verklärt. Wenn wir das thun, und gern merken auf jedes Werk des göttlichen Geistes in dem Herzen Anderer: o dann wird uns immer schneller und immer herrlicher wahr werden, was der Erlöser in den Worten unseres Textes gesagt hat, und mit immer | schnelleren Schritten die Zeit herbeikommen, wo alle Finsterniß verschwindet, und das ewige Licht immer mehr die Seele der Menschen erleuchtet. Amen.

8–10 Vgl. Mt 16,18 20–21 Vgl. 1Joh 5,4 Joh 14,6 30 Vgl. Joh 16,14.15

22–23 Vgl. 2Tim 1,10

23–24 Vgl.

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[Liederblatt vom 23. September 1821:] Am 14. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t uns etc. [1.] Kommt, betet an am Tag des Herrn! / Zu Gottes Preise nah und fern / Erwacht der Christen Menge. / Ihr Lobgesang ertönt schon früh, / Zum Heiligthume wallen sie / Im festlichen Gedränge. / Kommt denn singet fromme Lieder / Wo die Brüder / Sich vereinen, / Gott zu preisen mit den Seinen. // [2.] Kommt hebt den Geist zu Gott empor, / Und weiht ihm Herzen, Mund und Ohr, / Sein Himmel steht euch offen. / Euch mit dem Wort der Seeligkeit / Zu stärken ist sein Gott bereit / Im Glauben, Lieben, Hoffen. / Kommt denn! stärkt euch, sammelt Kräfte / Dem Geschäfte, / Frei von Sünden / Euer ewges Heil zu gründen. // [3.] Kommt her, der Geist der frommen Ruh / Bereitet unsern Tempel zu / In heilger Andacht Stille. / Er macht den Geist vom Irrthum frei, / Er lehrt was rechte Wahrheit sei, / Was Gottes heilger Wille. / Fromme Liebe, feste Treue / Wird aufs neue / Euch beleben, / Jesu Vorbild nachzustreben. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Dir dir Jehova etc. [1.] Von dir mein Gott strömt Licht und Leben, / Du bist des Lebens und des Lichtes Quell! / Noch hält mich Finsterniß umgeben, / O zeige mir die Wahrheit rein und hell! / Ja laß dein Wort, Herr, kräftig in mir sein; / Belebt es mich, so leb ich dir allein. // [2.] Dich hat noch niemand je gesehen, / Dein Sohn allein hat dich bei uns verklärt; / Doch wie kann ich ihn recht verstehen, / Wenn nicht dein Geist mich durch das Wort belehrt? / Drum möge mich der Geist der Frömmigkeit / Erleuchten hier in dieser Dunkelheit. // [3.] Dann werd ich, Herr, dich recht erkennen, / Wenn stets mein Herz nur deine Wege liebt, / Nur dann erst froh dich Vater nennen, / Wenn mir dein Geist der Kindschaft Zeugniß giebt. / Dann wird mir erst die hohe Weisheit klar, / Die nur in Jesu rein auf Erden war. // [4.] Daß ich auch zeuge von der Wahrheit, / Und retten helf aus Irrthum und aus Nacht, / Senk in mich deines Wortes Klarheit, / Verleih ihm auch in mir des Donners Macht; / Damit erschreckt der Sünder um sich seh, / Und wehmuthsvoll zu dir um Gnade fleh. // [5.] Und wenn er nun mit bangem Herzen / Es tief bereut, daß er von dir entwich, / Dann still ich seine Seelenschmerzen / Durch jenen Trost, der Herr erlöst’ auch dich. / Zeig du ihm dann sein Heil, sein höchstes Gut, / Und gieb ihm selbst zum neuen Leben Muth. // [6.] Um dieses, Herr, in uns zu mehren, / Führ uns von Licht zu immer reinerm Licht! / Dein Geist mag alles uns verklären, / Wo noch die rechte Weisheit uns gebricht! / Und so vererbe sich dein heiliges Recht / Von Vätern auf das künftige Geschlecht. // (Jauersch. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Komm heilger Geist etc. Auch uns hat seines Geistes Kraft / Zu der beglückten Bürgerschaft / In Jesu großem Reich erhoben; / Laßt uns ihn ewig loben, / Und um uns seines Heils zu freun, / Ihm unser ganzes Leben weihn. / Einst hebt er, wenn wir ihm vertrauen, / Vom Glauben uns empor zum Schauen. / Hallelujah, Hallelujah. //

Am 14. Oktober 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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17. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,16–18 Nachschrift; SAr 80, Bl. 106v–122r; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 137r–147r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 93v–94v; Gemberg Teil der vom 8. Juli 1821 bis zum 11. November 1821 gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Predigt am siebenzehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. 2. Petri I, 16–18. Denn wir haben nicht den klugen Fabeln gefolgt, da wir euch kund gethan haben die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi, [sondern wir haben seine Herrlichkeit selber gesehen;] da er empfing von Gott dem Vater Ehre und Preis durch eine Stimme, die zu ihm geschah von der großen Herrlichkeit dermaßen: dies ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Und diese Stimme haben wir gehöret vom Himmel gebracht, da wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge. M. a. F., Es begegnet gewiß einem jeden aufmerksamen Leser der heiligen Schrift nicht selten, daß wenn er auf den | Zusammenhang der Gedanken in derselben achtet, er sich an manchen Stellen wundert, wieso nicht die heiligen Männer etwas ganz anderes gesagt haben als da steht; aber geht man dem Grund der Sache näher nach, so findet sich dann darin jedesmal ein Zuwachs für unsere khristliche Weisheit. So ist es mir auch gegangen mit dieser Stelle unseres Briefes, die wir jezt mit einander erklären wollen, als ich sie zum Gegenstand meines Nachdenkens machte: Der Apostel hatte vorher den Khristen, an die er schreibt, gesagt, wie er nicht ablassen werde, sie zu erinnern und zu erweken, damit sie sich die Erinnerung in der Seele 2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 17. n. Trin. 1821. 18–6 Vgl. 2Petr 1,12–15

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so offen erhalten | möchten, daß ihnen immer reichlicher dargereicht werde der Eingang zu dem ewigen Reiche unseres Herrn Jesu Khristi, und wie er Fleiß thun werde, wiewohl er wisse, daß er seine Hütte bald werde ablegen müssen, wie er zum Abschiede alles thun werde, sie zu erinnern und zu erweken, damit sie solches allenthalben im Gedächtniß halten mögen. Und hierauf fügt er die Worte hinzu, die ich soeben gelesen habe, indem er ihnen sagt, er sei nicht gefolgt den klugen Fabeln, da er den Khristen kund gethan die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi; sondern er habe seine Herrlichkeit selbst gesehen. Woran könnte man dabei wohl näher | denken als einmal an jene Worte, welche der Apostel Johannes in seinem Evangelio ausspricht, nachdem er gesagt, wie das Wort Fleisch geworden sei, und unter uns gewohnt habe, da fügt er hinzu: und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Damit spricht er aus den Eindruk, den des Herrn ganzes Wesen und Leben auf sie gemacht, und wie seine Jünger eben darin die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes erkannt hätten. Oder wenn wir an den Apostel Petrus selbst denken, was sollten wir mehr erwarten, als daß er sich hier erinnert haben werde jenes Vorganges | zwischen ihm und dem Erlöser, den uns ebenfalls die meisten Evangelisten berichten, daß nämlich als der Herr seine Jünger ausgesandt habe um das Reich Gottes zu verkündigen, und sie zu ihm zurükkehrten, er ihnen die Frage aufgeworfen habe: wer sagen die Leute daß des Menschen Sohn sei? Da antworteten sie, je nachdem sie es erfahren hatten, die Einen hielten ihn für den Elias, die Andern für den Jeremias, die Andern für sonst einen der Propheten, und da habe er die Frage hinzugefügt: aber ihr, was sagt denn ihr, daß ich sei? Da nahm nun Petrus das Wort und rief aus: Wir glauben, daß du | Khristus bist, der Sohn des lebendigen Gottes. Wenn nun der Herr damals dem Apostel antwortete: Simon, ich sage dir, du bist selig, denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbaret, sondern der Vater im Himmel: so sagte ja der Erlöser selbst, daß dies ihm ein Zeugniß sei, welches sein Vater für ihn abgelegt habe, nämlich in dem Herzen seiner Jünger. Und auf dies beides zusammengenommen, auf den Eindruk, den das ganze Wesen des Erlösers, wie es uns, wenn gleich nur in zerstreuten Zügen, in unseren heiligen Büchern dargestellt ist, auf die Seele macht, die nach dem Göttlichen ver|langt. Und auf die Zuversicht, welche der heilige Geist in unser Herz giebt, gründen wir ja alle nicht allein unseren Glauben, denn er ist dies selbst, sondern auch das Recht, welches wir haben, andern Menschen diesen Glauben zuzurufen und zu befestigen, von demselben mit ihnen zu 22 Menschen Sohn] Menschensohn 11–14 Joh 1,14 26–27 Mt 16,16

20–27 Mt 16,13–20; Mk 8,27–30; Lk 9,18–21 28–29 Mt 16,17

22 Mt 16,13

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reden, und ihnen auch, wie der Apostel hier sagt, die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi kund zu thun. Da nun der Apostel eben so wie sein Freund und Genosse Johannes während seines ganzen Umgangs mit unserem Herrn seine Herrlichkeit als die des eingebornen Sohnes vom Vater geschaut hatte, da er selbst das Zeugniß des | heiligen Geistes so tief in seinem Herzen trug, daß er sich berufen fühlte im Namen aller andern auf die Frage des Herrn zu antworten: warum verweist er nicht die Khristen, an welche er schreibt, eben darauf und sagt zu ihnen: und wir, als wir euch kund gethan haben die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi, sind nie den klugen Fabeln gefolgt, sondern haben seine Herrlichkeit selbst gesehen, nämlich in seinem ganzen Leben als die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes, und der Vater im Himmel hat uns das selbst offenbart, daß dieser Jesus von Nazareth nichts anderes | sei, als Khristus, der Sohn des lebendigen Gottes, warum sagt er dies nicht zu den Khristen, sondern führt sie dagegen auf diese einzelne Begebenheit in dem Leben unseres Herrn? Es ist diese dieselbe, die auch die drei ersten Evangelisten uns mitgetheilt haben, und die wir mit dem Namen der Verklärung des Herrn bezeichnen, das sehen wir aus den Worten des Apostels, wenn er sagt: „und diese Stimme haben wir gehört vom Himmel gebracht, da wir mit ihm waren auf dem heiligen Berge.“ Nun fragte ich mich selbst, und es nahm mich anfangs wunder, wie doch der Apostel jener Erfahrung, die sein | ganzes Leben bestimmte, jenem Zeugniß des göttlichen Geistes, welchem er fest vertraute, diese einzelne Begebenheit gleichsam vorzuziehen scheint, und sich darauf vorzüglich beruft als auf ein Recht, welches er habe, die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi kund zu thun. Indem ich aber näher darüber nachdachte, so ist mir Folgendes nicht entgangen, wovon ich jetzt Rechenschaft vor euch ablegen will. Nämlich zuerst, wie in der khristlichen Kirche überall nicht wenig Nachtheil und Verwirrung zu allen Zeiten daraus entstanden ist, daß einer den andern gleichsam ausschließ|lich auf die innern Erfahrungen seines eigenen Herzens verweisen soll, und wie eben deswegen nothwendig ist, daß zu diesem innern Zeugniß des göttlichen Geistes in dem Herzen der Gläubigen auch ein äußeres komme, an welches sich das Bestreben, die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi kund zu thun, halten müsse. Was das Erste betrifft, so glaube ich wird keine große Auseinandersezung nöthig sein, sondern wird allen von selbst einleuchten; denn es ist etwas, was wir noch täglich in dem Leben der Khristen wahrnehmen, und was alle, die es mit der Sache des Herrn und mit dem | Heil ihrer Seele ernstlich meinen, nicht 10 nie] wir

20 ich] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 140r

4–5 Vgl. Joh 1,14 12 Joh 1,14 12–13 Vgl. Mt 16,17 15–18 Mt 17,1–13; Mk 9,2–13; Lk 9,28–36

13–14 Mt 16,16

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anders als mit Schmerz und Bekümmerniß erfüllen kann. Denn so sehen wir es an uns selbst, daß die besondere Art, wie sich der Herr in dem Herzen des Menschen kund thut, die nun gar sehr verschieden sein kann nach der Art und Weise des Gemüths, und verschieden nach den mancherlei Verhältnissen des äußern Lebens, wie die nicht nur verschieden sein kann, sondern verschieden sein muß nach dem ganzen unerschöpflichen Reichthum der göttlichen Gnade, die in dem Herzen und dem Leben der Gläubigen wirkt. Aber viele Khristen wollen diese innern | Erfahrungen in ihrer besondern Gestalt und Beschaffenheit zu etwas allgemeinem machen, und in dem sie nun andern die Kraft und Zukunft unseres Herrn und Heilandes kund thun, so beschreiben sie nichts anderes als die Art, wie sie diese Kraft in dem Innern ihres Herzens erfahren haben, und indem sie Andern zumuthen, dieselbe zu erfahren, so fügen sie hinzu, wer es nicht eben so auf dieselbe Weise wie sie erfahren hat, mit denselben Schmerzen, die der geistigen Geburt des Menschen vorangehen, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit, | mit denselben Bewegungen des Gemüths, mit denselben Ausdrüken, welche aus der Tiefe des Herzens, sei es in der Schrift der heiligen Männer Gottes, sei es in dem Leben der Kirche, alle die auf eine vorzügliche Weise Diener des Evangeliums waren, hervorgebracht haben, der habe nicht von der Kraft und der Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi zu reden, der habe nicht, wodurch er ein Quell des lebendigen Wassers werden kann. Dadurch werden die Gemüther der Menschen verwirrt, und dem Reiche Gottes wird dadurch mehr zerstört als aufgebaut. Wenn wir denken den Apostel in seinem Verhältniß zu den | Khristen, an welche er schreibt, von welchen wir aber wenig wissen, so haben wir ein Recht zu glauben, sie werden gewußt haben, welche Stelle Petrus unter den Aposteln des Herrn eingenommen, und so gewiß sie diese gewußt haben, auf welche sich der Apostel in den Worten unseres Textes bezieht, eben so gewiß werden sie auch jenes Bekenntniß gewußt haben, welches das erste Zeugniß war, das die Jünger des Herrn vereinigte im Glauben an ihren Meister. Fremd also ist diese Erfahrung des Apostels denen, an welche er hier schreibt, nicht gewesen, sondern wie er schon früher an sie geschrieben, und sich auf | diesen früheren Brief beruft, so hat er auch zu ihnen geredet von dieser seiner eigenen innern Erfahrung, von seinem lebendigen Glauben und von der Art, wie dieser in ihm entstanden; aber er wollte sich darauf nicht allein berufen, sondern gab nun das Beispiel, wie man zu diesem innern Zeugniß ein äußeres hinzufügen müßte, damit die Kraft und das Heil unseres Erlösers den Menschen auf die rechte Art kund werde. Vorenthalten sollen wir unseren Brüdern die innern Erfahrungen unseres Herzens nicht; denn das ist das Wesen aller khristlichen Gemeinschaft, daß jeder Gelegenheit habe, nicht nur durch das, | was ihm 15–16 Eph 4,23–24

21–22 Vgl. Joh 4,14

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selbst begegnet, sondern auch in dem, was andern begegnet, die Gnade und Barmherzigkeit Gottes zu preisen. Aber indem wir wohl wissen, daß die innern Erfahrungen jedes Gemüths auch nach seiner besondern Beschaffenheit und nach dem, was ihm vorher begegnet ist, nach den früheren Erfahrungen seines Lebens sich gestalten, so sollen wir das Innere nicht hinstellen als eine allgemeine Regel für jede Offenbarung der Kraft und Herrlichkeit unseres Herrn; sondern wir sollen zwar Zeugniß geben von dem, was sich in uns erzeugt hat, und darauf hinweisen als auf einen Beweis von der Kraft und Zukunft | Jesu Khristi, und jeder soll denen, mit welchen er in Berührung kommt, mittheilen, wie sich die göttliche Gnade in Khristo in seinem Innern offenbart hat, aber das, was den Erlöser zu dem Erlöser der Welt macht, zu dem Herrn des Gemüths, vor dem alle Knie sich beugen sollen, das ist nicht eingeschlossen in irgend eine einzelne Gestalt innerer Erfahrung, sondern es zeigt sich darin seine göttliche Gewalt und seine unendliche geistige Mannigfaltigkeit, und nur indem wir sie in dieser zusammenfassen, geben wir in der That und Wahrheit Kunde von der Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi. | Aber eben dies ist nichts anderes als die äußere Erfahrung. Innerlich erfährt jeder das Eigenthümliche, aber das Gemeinsame können wir nicht anders als äußerlich erfahren. Daher fügt der Apostel zu seiner innern Erfahrung, von der er wußte, daß sie den Khristen bekannt war, noch das Äußere hinzu. Aber laßt uns noch zweitens sehen, von welcher Art und Beschaffenheit dieses Äußere ist, was der Apostel als eine Ergänzung zu der innern Erfahrung seines Gemüths hinzufügt. Da sehen wir zuerst wie er scheidet die geschichtliche Wahrheit dessen, was er in der Gemeinschaft mit Andern erfahren hatte, von den klugen | Fabeln, wie er es nennt, von denen er ausdrüklich sagt, daß er sich ihrer entschlage. Denn wir haben nicht, so spricht er, den klugen Fabeln gefolgt, als wir euch kund gethan die Kraft und Zukunft unsers Herrn Jesu Khristi. Was sind denn nun diese klugen Fabeln? was ist das Äußere wieder, dem wir nicht folgen, und worauf wir uns nicht berufen sollen? Wir dürfen nicht erst weit suchen, um nicht nur in den vergangenen Geschichten, sondern auch in dem gegenwärtigen Treiben und Leben vieles dergleichen zu finden. Es giebt in den heiligen Büchern des alten und neuen Testaments Einzelnes gar schwer Verständ|liches, was ebendeswegen wie das übrige der Grund unseres Glaubens und die Stüze unsers gemeinsamen Heils ist. Dahin gehört alles, was in dem weitesten Sinne des Wortes Weissagung ist, und es giebt immer ein Verlangen der menschlichen Seele, welches sich nach dieser Seite hinneigt. So wollten die Jünger oft, daß der Herr ihnen weissagen sollte, indem sie ihn fragten: wann wirst du denn das Reich Israel aufbauen? wann wirst du dich so ganz und vollkommen offenbaren, wie du es verheißen hast? Aber der Herr entzieht sich immer ihrem Verlangen, 12–13 Phil 2,10

39–41 Vgl. Mt 24,3; Mk 13,4; Lk 21,7; Apg 1,6

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er weicht ihnen aus, und giebt ihnen immer zu verstehen, daß Zeit und Stunde der | Vater allein seiner Macht vorbehalten habe. Wenn man sich dabei nicht begnügt, sondern das Verlangen befriedigt haben will, und so verbindet und zusammenhält, was nicht vereinigt werden darf, und das Unzertrennliche trennt, so entstehen daraus die klugen Fabeln. Und dergleichen finden wir denn unter den Khristen Vieles[,] kluge Fabeln, wodurch sie sich ausrechnen, wie lange die gegenwärtige Gestalt der Dinge noch dauere, wann der große und furchtbare Tag des Herrn, der das Ende aller irdischen Dinge herbeiführen soll, kommen, und wie lange das allgemeine Gericht dann dauern werde. Wenn | sie sich dabei berufen auf das Zeugniß der Schrift, von welcher sie eben keine richtige Kenntniß haben, so ist das eine kluge Fabel. Damit soll unser Glaube nichts zu schaffen haben, darauf soll unsere feste Zuversicht auf die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi nicht beruhen. Aber wenn wir fragen: von welcher Art war denn das Äußere, worauf sich der Apostel hier beruft? so finden wir, es war darin auch etwas Geheimnißvolles. Die Jünger sahen, indem sie aus dem Schlaf erwachten, aber noch nicht recht erwacht, den Herrn in einer besonders heitern Gestalt, und sahen ihm beigesellt zwei Männer, von denen sie mein|ten, es wäre Moses und Elias. Aber der Herr hat es ihnen nicht gesagt, und sie hatten auch kein äußeres Zeichen von jenen Gestalten. Ist das nicht auch etwas Unzuverlässiges, etwas Geheimnißvolles, woraus kluge Fabeln entstehen können? Und als die Jünger von der Voraussezung aus, daß Moses und Elias mit ihm geredet hätten, den Herrn fragten: ob nicht Elias zuvor kommen müsse, ehe er sein Reich aufbauen werde? so entzog er sich ihnen auch, und gab ihnen zu verstehen, daß die Weissagung von Elias, der zuvor kommen müsse, nicht auf diese Begebenheit zu beziehen wäre, sondern auf Johannes | den Täufer, der schon gekommen sei, aber nicht anerkannt worden. Und so sehen wir wie der Herr bei dieser Gelegenheit auf dasjenige, woraus leicht eine kluge Fabel entstehen konnte, keinen Werth legt, und so legt auch der Apostel hier keinen Werth darauf, in dem er nichts redet von den Gestalten, die ihm und seinen Genossen erschienen, sondern auf die Stimme, die er gehört, deren Inhalt aber nichts anderes war als das, was er selbst schon früher als seinen Glauben bekannt hatte, nämlich daß dieser Jesus von Nazareth sei der eingeborene Sohn des Vaters. Was ist durch diese Stimme anders gesagt worden, als der innerste Glaube des Her|zens dem Apostel schon früher gesagt hatte. So sehen wir bei der genauesten Unterscheidung, daß das äußere Zeugniß, auf welches wir uns berufen wollen, um die Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi kund zu thun, nichts anders ist als jenes Innere; aber nicht in seiner Besonderheit oder in seiner persönlichen Eigenthümlichkeit, sondern, wie es vielmehr mit 1–2 Mt 24,36; Mk 13,32; Apg 1,7 Mt 17,10–13

16–19 Vgl. Lk 9,30–32

22–28 Vgl.

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demselben verglichen als Eins und dasselbige erscheint, und wie auch bei dem Apostel an die unmittelbare Gegenwart die ganze Vergangenheit sich anknüpfte. Denn auf die ganze Vergangenheit des Volkes Gottes wurden die Apostel damals hingewiesen, und indem | sie das, was ihnen ihr Herz sagte, als eine Stimme vom Himmel fühlten, so wurde ihnen die Erfahrung ihres Herzens das, worin alle Vergangenheit und alle Gegenwart sich einigte. Wenn wir nun fragen: was ist das äußere Zeugniß, welches wir zu dem innern hinzufügen sollten, um Kunde zu geben von der Kraft und Zukunft unseres Herrn Jesu Khristi? so müssen wir antworten, eben das, worin Vergangenheit und Gegenwart Eins sind; es ist die ganze Geschichte von der Offenbarung des Herrn, worin sich diese Stimme vernehmen läßt, und das göttliche Zeugniß, worin sie sich wiederholt: „das ist mein lieber Sohn, | an welchem ich Wohlgefallen habe“, nicht auf die eine Weise, wie dieser oder jener es erfahren hat, sondern auf alle Weise in der großen Mannigfaltigkeit der göttlichen Offenbarungen, die Stimme, in welcher, wie sehr auch jene Offenbarungen verschieden sind, es doch etwas giebt, worin sie Eins sind. Das ist das Zeugniß von der Reinheit unseres Herrn und Heilandes, von der Uebereinstimmung seiner selbst mit seinem Vater, in welcher er eben als der Sohn Gottes erscheint. Indem wir nun aber in der Geschichte der christlichen Kirche in tausendfachen Offenbarungen den Herrn sehen, auf wie mancherlei Weise | er sich dem Herzen der Menschen offenbaret, und wie tausendfache Erfahrungen des Herzens am Ende auf das Eine zurükkommen: so sollen wir dadurch bewahrt werden vor der Einseitigkeit, die da verlangt, daß dasjenige, was uns begegnet ist, sich auch andern offenbare, und wir sollen eben in den verschiedenen Stimmen der menschlichen Herzen, daß der Herr sei der Sohn des Vaters, auf welchem das göttliche Wohlgefallen ruht, und daß ihm allein alle Gewalt über die menschlichen Gemüther gegeben ist, darin sollen wir den Reichthum und die Mannigfaltigkeit der göttlichen Gnade erkennen, | und darin soll sich die Kraft unsers Herrn und Heilandes offenbaren, der jeden auf eine eigene Weise von seinem Heil zu erfüllen, und ihm seine Herrlichkeit zu offenbaren sucht, und der die Zukunft vorzubereiten weiß, in der, wenn alle Schleier gefallen sind, wir alle ihn auf eine übereinstimmende Weise erkennen werden. Dies laßt uns aus den Worten des Apostels lernen und auf unser Leben anwenden, so daß, wie es den Khristen ziemt, wir auch in diesem Sinne nicht etwa schon vollkommen sein mögen, sondern uns geschikt zu machen suchen, den Herrn in der großen Mannigfaltig|keit seiner Gnadenerweisungen zu verstehen. So werden wir auch in dieser Beziehung suchen, was des Andern ist, so werden wir uns freuen, wenn sich der Herr auch in Andern offenbart nach seiner Gnade und nach der Fülle seiner Herrlichkeit, und immer wieder darauf zurükkommen, daß dem, welcher glaubt, alles, 5 Vgl. Mt 17,5; Mk 9,7; Lk 9,35

12–13 Mt 3,17; 17,5

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was er in der Welt sieht, zu einer solchen himmlischen Stimme werden muß: das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe. Amen.

Am 21. Oktober 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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18. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,32–33 Nachschrift; SAr 80, Bl. 122v–146r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 291–305 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 101, Bl. 147v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 94v–95r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 199r–204v; Woltersdorff Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am achtzehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. Matth. X, 32 und 33. Darum wer mich bekennet vor den Menschen, den will ich bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. M. a. F. Wenn wir diese Worte unseres Herrn abgerissen aus ihrem natürlichen Zusammenhang hören: so könnten wir sehr leicht glauben, es sei hier die Rede von jenem Gegensaz zwischen denjenigen, die überhaupt den Glauben an den Erlöser mit uns theilen, und zwischen denjenigen, welche ihn nicht haben annehmen mögen, und daß er unter den | Ersten diejenigen verstehe, die ihn bekennen und unter den Andern diejenigen, die ihn verleugnen. Aber der Erlöser hat diese Worte geredet in jener Unterweisung die er seinen Aposteln gab über die Art der Verkündigung, welche er ihnen anvertraut hatte, sie stehen in Verbindung mit den Worten aus dieser Rede, die wir neulich mit einander erwogen haben, wo nämlich der Herr seinen Jüngern sagt: es sei nichts verborgen, was nicht sollte offenbar werden und 2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 18. S. n. Trin. 1821. Ergänzung aus SW II/10, S. 291 13–15 Vgl. Mt 10,5–42 Mt 10,26b–27

16 Vgl. oben 23. September 1821 vorm.

11 mögen]

17–3 Vgl.

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Über Mt 10,32–33

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kund gemacht aller Welt, und was er nur im Stande gewesen sei, einem kleinen Kreise zu verkündigen, das sollten sie auf | den Dächern und so weit sie kommen könnten der ganzen Welt lehren. Nachdem er ihnen diese ihre Bestimmung aufs neue eingeschärft, so ermahnt er sie, sie sollten eben deswegen, weil es die Bestimmung des Evangeliums sei, der ganzen Welt kund zu werden, sich in der Erfüllung derselben vor denjenigen nicht fürchten, die doch am Ende nur den Leib tödten könnten. Und nachdem er ihnen dies auseinander gesezt, fügt er die Worte unseres Textes hinzu: „darum, wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater; wer aber mich verleugnet vor | den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Und so sieht man also, daß diese Worte eben an die Jünger des Herrn gerichtet sind, und also an alle diejenigen, die der Glaube an den Erlöser und der damit verbundene, wenn auch nicht besondere apostolische doch allgemeine khristliche Beruf, zu dem Bekenntniß des Herrn vor der Welt verpflichtet. Und eben deswegen, weil dies, wie ich gleich am Anfange dieser Reihe von Vorträgen erinnert habe, ein allgemeiner Beruf aller Khristen ist, wo und wie es ihnen nach Maaßgabe ihres | besondern Berufs in der Welt vergönnt ist, an der Verkündigung des Evangeliums Theil zu nehmen: so mögen wir wohl auch und müssen billig diese Worte des Herrn zu Herzen nehmen, und auf uns anwenden, und uns fragen: Was auch uns in unserem khristlichen Leben und Beruf damit soll gesagt sein. Es ist aber wohl einem jeden von selbst fühlbar, daß unter diesen Worten, die lezten, welche die ernste Warnung des Herrn enthalten, die wichtigsten sind, und das eigentliche Ziel dieses Theils seiner Rede; und bei dieser Warnung des Herrn ihn nicht zu | verleugnen vor der Welt bleiben wir stehen. Laßt uns aber unsere Betrachtung hierüber so einrichten, daß wir zuerst einzeln überlegen, was denn dasjenige sei, wo vor der Herr uns warnt, nämlich ihn nicht zu verleugnen, und was dasjenige sei, weshalb er uns davor warnt, nämlich, daß er dann uns auch verleugnen werde; und daß wir dann in dem zweiten Theil unserer Betrachtung uns den Zusammenhang zwischen jener Warnung und dieser Drohung des Herrn deutlich zu machen suchen. I. Zuerst also der Herr sagt: | „wer mich verleugnet vor der Welt, den werde auch ich verleugnen vor meinem himmlischen Vater“; und eben jene Verleugnung vor der Welt, darunter muß er sich dem ganzen Zusammenhange nach etwas gedacht haben, was auch denen begegnen könnte, die an ihn glauben, und die im Ganzen genommen dem daraus folgenden allgemei3 der ... lehren] Vgl. Adelung: Wörterbuch 3, 196 6–7 Vgl. Mt 10,28

16–17 Vgl. oben 1. Juli 1821 vorm.

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nen khristlichen Beruf obliegen. Um nun diese Worte des Herrn zu verstehen, mögen wir uns wohl zuerst billig an dasjenige erinnern, was seinen Jüngern in dem Beruf der Verkündigung des Evangeliums begegnete, und von der Art war, daß, | wenn auch sie und viele Andere, deren Herz schon fest geworden war, dadurch in dem treuen Bekenntniß des Herrn nicht gehindert wurden, doch manche deshalb strauchelten und wankten, denen die gleiche Festigkeit durch den göttlichen Geist noch nicht hatte gegeben werden können. Dies nämlich war die allgemeine Erfahrung, welche die Jünger des Herrn gar bald machten, nachdem sie seinem Befehl zufolge ausgegangen waren, um das Evangelium zu verkündigen unter den Völkern, daß es den Juden ein Ärgerniß sei und den Griechen eine Thorheit. Den Juden nämlich | war das ein Ärgerniß, daß ihnen die Verkündigung, Jesus von Nazareth sei der, von Gott seinem Volke und durch dasselbe der ganzen Welt verheißene Erretter, nichts vorhalte von der weltlichen Macht und Herrlichkeit, die ein großer Theil des Volks von diesem Retter erwartete. Durch die Niedergeschlagenheit dieser Hoffnung war das Evangelium ihnen ein Ärgerniß. Den Griechen aber war es eine Thorheit, weil es die Augen ihres Geistes und die Bestrebungen ihres Herzens auf Gegenstände zu richten suchte, von welchen sie glaubten, daß sie für den Menschen, | für den sterblichen und vergänglichen Sohn der Erde, viel zu hoch und zu groß wären, so daß es eine Thorheit wäre, darnach zu streben. Als Paulus denen von Athen von Gott, der da Himmel und Erde gemacht und alles, was das Geschlecht der Menschen betrifft, von Ewigkeit vorhergesehen habe, als er ihnen davon redete, so hörten sie noch zu; als er aber sprach von dem Manne, in welchem Gott beschlossen habe, den Erdkreis zu richten, an dem Tage, wo er auferweken wird diejenigen, welche da schlafen: da sprachen sie, sie wollten ihn darüber ein andermal hören, und das war nichts anderes, | als ein mild ausgesprochenes Zeugnis davon, daß diese Verkündigung ihren Herzen eine Thorheit wäre. Aber eben so thöricht erschien ihnen die Reinheit der Gesinnung, die Einfalt des Herzens, die Lauterkeit und Ungefärbtheit der Liebe, nach welcher, der Verkündigung der Apostel zufolge, alle diejenigen trachten sollten durch den göttlichen Beistand, die da erkannt hätten die Liebe, die uns Gott erwiesen in seinem Sohne. Und so war das Evangelium den Einen ein Ärgerniß, indem es ihre irdischen Hoffnungen niederschlug, den Andern eine Thorheit, indem es ihnen innere und geistige Verheißungen vorhielt, | welche zu fassen sie nicht fähig waren. Da war es denn wohl natürlich, m. g. F., daß diejenigen, deren Herz noch nicht fest geworden war, bei sich selbst gedachten: warum sollen wir den Einen von dem Evangelio dasjenige vorhalten, was ihnen ein Ärgerniß ist, und es nicht lieber mit Stillschweigen übergehen, damit sie erst den Grund der 9–10 Vgl. Mt 28,19 11 1Kor 1,23 Apg 17,31–32 30–31 Vgl. 2Kor 6,6

21–24 Vgl. Apg 17,24–26 34–36 Vgl. 1 Kor 1,23

24–27 Vgl.

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Wahrheit erkennen und annehmen, und allmählig erst das Auge ihres Geistes aufgethan werde? warum sollen wir den Andern von dem Evangelio gleich dasjenige verkündigen, was ihnen in ihrem damaligen Zustande nothwendig eine Thorheit | sein muß? Sondern wie auch die Apostel des Herrn darauf dachten zuerst die neuen Khristen zu nähren mit der einfachen Milch des Evangeliums, und erst späterhin überzugehen zu dem, was sie nicht gleich fassen konnten, warum, sage ich, so dachten viele, soll man es nicht auch eben so halten mit demjenigen, was zuerst das Herz der Menschen aufregen und es dem Erlöser zuführen soll, und ihnen auch erst etwas Geringeres mittheilen, was sich den Ansichten und der Erkenntniß, die sie schon haben, leicht und unmittelbar anschließt, dasjenige aber noch vor ihnen verbergen, weshalb ihnen das Evangelium von Jesu könnte zur Thorheit werden. Aber | davon eben sagt der Erlöser: „wer mich verleugnet vor der Welt, den werde ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Wer nicht gleich und allen ohne Unterschied bekennen und verkündigen will, es sei kein leibliches und irdisches, sondern ein geistiges und himmlisches Reich, nicht von dieser Welt, welches zu stiften der Sohn Gottes vom Himmel auf die Erde herabgekommen ist, der verleugnet ihn vor der Welt; und wer den Menschen nicht das Licht, die Wahrheit, die Unsterblichkeit, die er an den Tag gebracht hat, und die nur das fleischgewordene Wort an den Tag bringen konnte, wer ihnen die nicht verkündigt, der verleugnet ja den|jenigen selbst, der von sich gesagt hat, er sei der Weg, und die Wahrheit, und das Leben. Also auf irgend eine Weise den Menschen nicht das innerste Wesen des Evangeliums verkündigen, sondern bei demjenigen stehen bleiben, was auch aus irgend einer andern Quelle geschöpft werden könnte, und wozu es nicht bedurft hätte, daß der Sohn Gottes unter den Menschen erschienen wäre, das heißt den Sohn Gottes selbst verleugnen. Aber, m. g. F., ist es wohl jezt anders als damals? giebt es nicht noch immer Menschen genug auch unter denen, die nach dem Namen Khristi genannt werden, denen das Evangelium ein Ärgerniß ist, weil es ihre irdischen Hoffnungen nieder|schlägt, und das eitle Tichten und Trachten ihres Herzens auf einen andern Weg lenken will? Wenn wir nun vor denen, sei es auch aus der besten Meinung, nicht irgend dasjenige verkündigen und uns dazu bekennen, was ihnen Ärgerniß ist: so verleugnen wir vor ihnen den Herrn. Giebt es nicht noch Menschen genug, auch unter denen, die nach dem Namen Khristi genannt werden, welche, wiewohl sie vor sich haben die lange herrliche Geschichte des khristlichen Glaubens und der khristlichen Gemeinschaft, wiewohl sie durch die Sprache, deren sie sich bedienen, und durch tausend menschliche Gedanken, die täglich an ihr Ohr schlagen, wenn | sie auch in ihrem eigenen Herzen nicht aufkeimen, in 4–6 Vgl. 1Kor 3,2; Hebr 5,13–14 17 Vgl. Joh 18,36 22–23 Vgl. Joh 14,6 31–32 Vgl. Gen 6,5

20–21 Vgl. Joh 1,14

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jene heiligen Wahrheiten verflochten sind, in jene tiefsten Regungen des Gemüths, die uns von dem Irdischen losmachen und dem Ewigen zuführen sollen, dennoch das Trachten des Menschen nach dem Ewigen dennoch die Richtung seines Denkens und seiner Bestrebungen abwärts von dem Irdischen und Vergänglichen immer noch für eine Thorheit halten? Wenn wir nun vor denen irgend das nicht bekennen, weshalb ihnen das Evangelium eine Thorheit ist: o so verleugnen wir den Herrn selbst vor ihnen, weil wir das Ansehen geben, als ließe er sich ihnen gleichstellen, und | als wäre er einer von ihnen. Aber was noch mehr ist, m. g. F., nicht immer kommt das Verleugnen des Herrn aus der guten Meinung, aus dem, wenngleich unverständigen und irregeleiteten Eifer, der auf einem Wege, den der Herr selbst verboten hat, und der auch unmöglich zum Ziel führen kann, die Menschen geneigter machen will, das Evangelium anzunehmen, nicht immer kommt das Verleugnen aus dieser Quelle, sondern eben weil das Evangelium Einigen ein Ärgerniß und Andern eine Thorheit ist, so giebt es gar viele unbefestigte Gemüther, die sich scheuen der Gegenstand des Spottes zu werden unter | denjenigen, die das Evangelium als eine Thorheit verlachen, und den innern Ingrimm derer auf sich zu ziehen, denen das Evangelium ein Ärgerniß sein muß. Und wer so, um sich besser zu bewahren und äußerlich zu erhalten, den großen und heilsamen khristlichen Beruf verleugnet, wie sollten wir von dem nicht gestehen, daß er in der That den Herrn selbst verleugnet vor der Welt. Aber, m. g. F., nicht so wohl damals und für die unmittelbaren und ersten Jünger des Herrn, wohl aber jezt unter uns giebt es noch eine andere Art, den Herrn zu verleugnen vor der Welt; sie besteht darin, wenn man zwar dasjenige | nichtzurükhält, was das Wesen des Evangeliums ausmacht, aber es nicht demjenigen, von welchem es seinen Ursprung hat, zuschreiben will, sondern es als ein Gut darstellt, welches ohne ihn und auf einem andern Wege wäre erworben worden. In der ersten Zeit des Khristenthums, sage ich, konnte dieses Verleugnen des Herrn nicht Statt haben, denn seine ersten Jünger waren von der Beschaffenheit, daß weder sie selbst es sich zuschreiben konnten, noch ein Anderer es ihnen würde geglaubt haben, daß die herrlichen Wahrheiten, die sie verkündigten, daß die Hoffnungen und die göttlichen Verheißungen, die sie vor den | Menschen aussprachen, ihnen unmittelbar wären offenbart oder in ihrem eigenen Gemüth an das Licht gefördert worden; sondern hätten sie es sich selbst zugeschrieben, so hätte jeder gesagt: woher kommt denen diese hohe Weisheit? Darum konnten sie wohl nicht anders als alles, was sie lehrten, und alles, was sie geboten, auf denjenigen zurükführen, von dem sie es empfangen hatten. Aber anders, m. g. F., ist es jezt, jezt sind die Schäze des Evangeliums so gemein geworden, die Wahrheit, die ohne dasselbe nicht wäre an das Licht gekom15 Vgl. 1Kor 1,23

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men, so alltäglich, das gereinigte Gefühl für dasjenige, was göttlicher Wille und göttliches Gebot | sein kann, so von Jugend auf durch alles, was die Menschen umgiebt und auf sie wirkt, erwacht, daß es nun gar nicht etwas Seltenes sein mag, daß Viele Vieles besizen von den Gütern, die der Herr uns gebracht hat, und von Vielem nicht einmal wissen, daß es von ihm allein herrührt, und daß, wie denn die Eigenliebe der natürliche Fehler des Menschen ist, sie den Einfluß, den das Evangelium auf alle Theile des menschlichen Lebens und auf alle Gebiete der menschlichen Erkenntniß gehabt hat, vergessen, und sich selbst oder den gemeinsamen Bestrebungen der Menschen zuschrei|ben, was nur dem Herrn und seinem Geiste und seinem Einfluß auf die Menschen gebührt. Und das, m. g. F., ist gewiß eben so sehr ein Verleugnen des Herrn als jenes, und wollen wir ihm recht die Ehre geben, so dürfen wir nie ablassen aus einem zwiefachen Grunde zu prüfen von allem, was irgend wie löblich ist und gut, und herrlich, und lauter, ob es nicht seinen Ursprung doch hat in ihm und in dem wesentlichen seiner Liebe. Aus einem zwiefachen Grunde, sage ich, einmal nämlich, weil unser Glaube uns sagen muß, wie alles, was nicht von ihm herrührt, auch nicht dasjenige sein kann, wobei | wir stehen bleiben dürfen, und dann aus eben dem Grunde, weil wir so leicht den großen Zusammenhang der Dinge übersehen und uns der Undankbarkeit gegen denjenigen schuldig machen, von dem wir wohl sagen mögen: alles, was es Gutes und Köstliches unter den Menschen dieser Zeit giebt, das trägt sein Gepräge, sein Bild und seine Ueberschrift an sich für jedes aufmerksame Auge. Aber nun, was ist denn das, was der Herr sagt: wer auf eine von diesen Weisen mich verleugnet vor der Welt, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater? Laßt uns dabei, | m. g. F., eben wegen des Zusammenhanges, in welchem diese Worte stehen, nicht etwa allein denken an jenen großen Tag des Gerichts, von welchem der Herr selbst und seine Apostel so oft reden, und an das Verleugnen derer, die an seinen Namen nicht glauben, von welchen er in solchem Zusammenhange spricht. Denn hier redet er von den Jüngern, von denen er wußte, gesezt auch, es waren Einige unter ihnen schwach genug, ihn auf jene Weise zu verleugnen, ihr Glaube werde doch, weil er für sie gebeten habe, nicht untergehen. Sondern laßt uns den Sinn dieser Rede des Herrn suchen in demjenigen, was uns allen | in unserem khristlichen Leben auch vor jenem Tage des Gerichts, was uns allen auf eine solche Weise begegnen kann, daß es, wenn wir zu dem treuen Bekenntniß des Herrn zurükkehren, auch wieder aufhört. Wenn aber der Herr sagt: Einige werde er verleugnen vor seinem himmlischen Vater: o wie können wir den Sinn dieser Worte anders finden, als eben wenn wir uns erinnern der theuersten Verheißungen unseres Herrn, deren Zurüknehmen auf irgend eine Weise in diesen seinen Worten muß angedeutet sein. Das freilich scheint ein unendliches Feld für unser khrist|li29–30 Vgl. Joh 5,38; 12,39; 16,9

33 Vgl. Lk 22,32

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ches Nachdenken, aber ich glaube, wir werden uns nur an ein paar Aussprüche unseres Herrn erinnern dürfen, unter welche sich alle diese herrlichen Verheißungen zusammenfassen lassen. An einem Orte sagt der Herr: „wer mich liebet, der wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen.“ Wenn wir den Zusammenhang und den Sinn dieser Worte erwägen, so dürfen wir nicht zweifeln, eben weil der Erlöser sagt: „wir werden kommen und Wohnung bei ihm machen,“ daß er dies darstellt als etwas, was von ihm ausgehen werde und von ihm allein ausgehen | könne, wie er denn auch anderwärts sagt: „es kenne niemand den Vater als der Sohn, und wem er es wolle offenbaren.“ Wenn er nun nicht kommt, mit dem Vater Wohnung zu machen in unserem Herzen, das ist ja wohl allerdings, daß er uns verleugnet vor demjenigen, der ihm alle die gegeben hat zum Lohne seiner Bemühungen und seiner Leiden, die reines Herzens an ihn glauben. An einem andern Orte sagt der Herr: „So ihr etwas bitten werdet, so will ich den Vater bitten, und Er wird es euch geben.“ Wenn er nun nicht den Vater bittet für uns, und ihm unsere | Wünsche vorträgt, und wir also eben deswegen, weil er nicht der Vermittler derselben ist, auch die Wünsche unseres Herzens nicht erlangen: gewiß das ist das, was er hier meint, wenn er sagt: den werde ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Denn wenn er sich zu uns bekennte vor ihm, dann würde er auch unsere Bitte ihm vortragen, und in seinem Namen würden wir die Gewährung derselben erlangen. Das ist es also, m. g. F., weshalb er uns warnt, ihn nicht zu verleugnen vor den Menschen, weil er sonst auch uns verleugnen werde vor seinem himmlischen | Vater. Wenn uns nun dies beides fehlt, m. g. F., daß der Herr nicht mit seinem Vater kommt, Wohnung zu machen in unserem Herzen, wenn uns das fehlt, daß er nicht der Vermittler unserer Wünsche wird und derjenige, der unser Herz stillen kann vor seinem himmlischen Vater: o wo ist dann für uns der Segen des Evangeliums? müssen wir nicht sagen, daß alles, was der Herr gekommen ist den Seinigen zu bereiten, in jenen beiden Punkten zusammenkommt, und daß die ganze Fülle alles göttlichen Segens darin begriffen ist? Denn wenn wir | uns betrachten für uns allein, was ist denn wohl der Friede, den uns der Herr verheißen hat, der Friede des Herzens mit Gott, als eben dieses Wohnung machen des Vaters in unserem Herzen, als eben die innige Gemeinschaft mit ihm, als eben das in ihm Leben und Weben und Sein, die ganze Erfüllung des herrlichen Wortes: „sie in mir und ich in ihnen, wie du in mir und ich in dir.“ Wenn uns nun das fehlt, was ist dann der Antheil, den wir für uns allein an unserem Herrn und Erlöser haben! Betrachten wir uns aber in unserem Verhältniß zur Welt als | diejenigen, die da arbeiten sollen in dem Weinberge des Herrn, als diejenigen, die 3–5.7–8 Joh 14,23 10–11 Mt 11,27 13–14 Vgl. Joh 17,2–3.6–8 15–16 Vgl. Joh 16,23 25–26 Vgl. Joh 14,23 35–36 Vgl. Apg 17,28 36–37 Joh 17,21.23 40 Mt 21,28–32

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der Welt die Erlösung verkündigen sollen nach seinem Geheiß, wo giebt es dann ein Gelingen für unsere kräftigsten Unternehmungen, wo giebt es dann eine Befriedigung unserer heiligsten Wünsche, wenn sie nicht von dem kommt, der allein sie erfüllen kann, wenn der Herr, der das Haupt seiner Gemeine ist, sein Ohr unseren Gebeten verschließt, wenn er uns nicht als die Seinigen seinem Vater im Himmel vorträgt, und mit den Wünschen unseres Herzens | vor ihm uns verleugnet als diejenigen, von denen er sagt: es werden Viele sagen zu mir Herr, Herr, ich aber werde ihnen antworten: ich kenne euch nicht. Das, m. g. F., ist die Drohung des Herrn, die er seiner Warnung hinzufügt, und heftig muß sie wohl ein jedes Gemüth erschüttern. II. Aber wir fragen dann auch billig, und das sei nun der zweite Theil unserer Betrachtung, nach dem Zusammenhang der Drohung mit der Warnung. Dann so fragen wir uns billig: Der Herr sagt „wer mich bekennt vor den Menschen, | den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater, wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater.“ Wie[,] ist er denn einer der da Gleiches mit Gleichem vergilt? Denn so erscheint er doch in seiner Rede. Wäre er ein solcher, so könnte er nicht der Erlöser der Welt sein, und wäre nicht der, von dem mit Recht gesagt wird, er habe uns geliebt, da wir noch Sünder waren, er habe sein Leben für uns gelassen, da wir noch Feinde waren. Aber, m. g. F., es ist auch in diesen Worten | keine Willkühr unseres Herrn, als wäre das so sein eigener und freier Entschluß auf diese Weise Gleiches mit Gleichem vergelten; sondern gewiß werden wir seine Rede nur verstehen, wenn wir zwischen der Warnung und Drohung einen natürlichen und nothwendigen Zusammenhang finden, so daß wir einsehen müssen, mit aller seiner Liebe kann er doch nicht anders als in diesem Sinne und auf diese Weise Gleiches mit Gleichem vergelten. Wenn wir zuerst, m. g. F., bei dem lezten stehen bleiben, bei der Verheißung des Herrn: „So ihr etwas bitten werdet, so will ich den Vater bitten, und er wird es euch geben“; so | dürfen wir nicht vergessen, er fügt dieser Verheißung hinzu: „so ihr etwas bitten werdet in meinem Namen“. Und kann er auch wohl ein anderes Gebet als das in seinem Namen, und das, wobei unser Herz keinen andern Zwek hat als das Beste seines Reiches, die Förderung seines Werkes, kann er ein anderes seinem Vater vortragen, und für ein andres Gewährung versichern? Gewiß nicht. Ach wer nun so, wie wir vorher uns es klargemacht haben, den Herrn verleugnet vor der Welt, kann der denn in seinem Namen bitten? Wer sich begnügen will damit, daß die Menschen den Herrn auf eine solche Weise | erkennen lernen und verehren, daß ihnen dasjenige 4–5 Eph 1,22; Kol 1,18 30 Vgl. Joh 15,16; 16,23

8–9 Vgl. Mt 7,22–23 31–32 Joh 15,16; 16,23

20–21 Röm 5,8.10

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verborgen bleibt, was ihnen in ihren Herzen zu einem Ärgerniß gereichen würde, und seine Lehre und seine Foderungen an die Menschen ihnen als eine Thorheit darstellt, sei es daß er es thue in guter Meinung, sei es, weil er, nicht achtend der Rede des Herrn, diejenigen fürchtet, die nur den Leib tödten können und nicht die Seele, und nur auf eine vorübergehende Weise mit irdischem Schmerze erfüllen können: können wir von dem sagen, daß das Reich des Herrn sein Tichten und Trachten sei, und was er wünscht | und bittet[,] in dem Namen des Herrn gebeten sei? Nein, m. g. F., das können wir nicht. Wer nämlich so sich leiten läßt von dem Tichten und Trachten der Menschen, von dem verderbten Sinne ihres Herzens, von ihrem sich unter einander verklagenden und entschuldigenden Gedanken, der hat nicht das Reich des Herrn auf Erden zu seinem Augenmerk, und er kann auch keinen Anspruch darauf machen, daß der Herr seine Bitten seinem Vater vortragen werde. Denn aus einem so verkehrten Grunde, wie viele verkehrte Bitten können da hervorsprießen, und was | das Reich des Herrn nur stören könnte, statt dasselbe zu fördern. Und wenn wir auf das Andere sehen, auf die herrliche Verheißung, daß er mit seinem Vater kommen werde, und Wohnung machen in unseren Herzen: so laßt uns bedenken, was er an einem andern Orte zu seinen Jüngern sagt, als sie ihn fragten, „zeige uns doch den Vater,“ „wer mich siehet,” sagt er, „der siehet den Vater”. Aber muß nicht, m. g. F., muß nicht ein Wunsch des Menschen, daß Gott in sein Herz hinabsteigen möge, Gott wie er ist seinem innersten Wesen nach, muß der nicht voran gehen, ehe er wirklich in dem Herzen | Wohnung machen kann? Wer nun Gott noch nicht siehet, wie er ist, der kann auch diesen Wunsch nicht hegen, und dem kann er also auch nicht erfüllt werden. Der Herr aber sagt: „Wer mich siehet, der siehet den Vater.“ Aber kann wohl der, der den Herrn verleugnet vor der Welt, sagen, daß er ihn sieht? kann der, welcher beständig bestrebt ist, seine Gestalt zu verbergen vor den Menschen oder zu verändern, kann der sie noch lange in seinem eigenen Herzen festhalten? muß er nicht nothwendig früher oder später Theil nehmen an den Nebeln, mit welchen er die Gestalt des Herrn verhüllen will? muß sie sich ihm nicht selbst verber|gen? Darum m. g. F., bleibt es bei dem alten Wort, auf welches sich auch der Herr und seine Jünger oft berufen: „die reines Herzens sind, werden Gott schauen.“ Aber die Reinigkeit des Herzen, die ist unzertrennlich von der reinen Liebe zur Wahrheit. Wo diese in dem Menschen nicht wohnt, da ist auch der ganze Mensch finster, weil das Auge seiner Seele verfinstert ist. Aus dieser Finsterniß heraus vermag er nicht den Herrn zu schauen, und keinen reinen Wunsch gen Himmel zu schiken, daß er kommen möge um Wohnung zu machen in seinem Herzen. Und so hat also hier, m. g. F., der Herr nicht gesprochen aus irgend einer 4–5 Vgl. Mt 10,28 7 Vgl. Mt 6,33 9–10 Vgl. Gen 6,5 10–11 Vgl. Röm 2,15 17–18 Vgl. Joh 14,23 20 Vgl. Joh 14,8–9 34 Mt 5,8

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Willkühr; er | hat uns nur gezeigt die Grenze, welche die Verkehrtheit der Menschen selbst ihm sezt. O wie gern wollte er alle Theil nehmen lassen an seinen herrlichen Verheißungen! Die Versicherung, die so oft sein ganzes Herz erfüllte, er wolle schon wahrmachen, daß viele Wohnungen sind in dem Hause seines Vaters, und daß jedes ihm ergebene menschliche Herz ein Tempel Gottes und eine Wohnung seines Geistes sein kann, gern wollte er allen diese Verheißung erfüllen. Aber wer ihn nicht bekennt, wer noch auf irgend eine Weise ihn verleugnet vor den Menschen, dem kann er sie nicht erfüllen. Was aber, m. g. F., was | ist denn wohl die Quelle jener Irrthümer; auf welche sich die Warnung unseres Herrn bezieht? „Wer mich liebt, der wird mein Wort halten, und dann wird der Vater ihn lieben und wir werden kommen und Wohnung machen in seinem Herzen.“ Was aber war sein Wort? Das war das neue Gebot, welches er uns gegeben hat, daß wir uns unter einander lieben sollen, wie er uns geliebt hat. Wer ihn liebt, der wird dieses Wort halten. Wenn wir aber alle Menschen lieben, wie der Herr uns geliebt hat, da wir noch Sünder, da wir noch Feinde waren: o so können wir sie auch nur lieben mit seiner erlösenden Liebe, und die muß uns | ja treiben zu dem reinsten und ungeheuchelsten Bekenntniß des Herrn vor aller Welt. Daran also muß es fehlen, wo der Herr nicht bekannt wird, sondern verleugnet vor der Welt, an der reinen Liebe des Herzens, die sich ihm ganz hingeben soll, und an nichts Anderem Theil haben; daran müssen dann alle die Theil haben, die den Herrn verleugnen vor den Menschen. So oft also, m. g. F., wir uns vereinigen, um in seinem Namen uns zu erbauen und zu belehren, so oft der Tisch des Bekenntnisses unter uns aufgerichtet ist, an welchem wir das Zeugniß ablegen wollen, daß wir seine Jünger | sind: o so bleibe uns das eine große und theure Frage, die wir uns vorzulegen haben, eben die, welche er einst seinem Jünger vorlegte: „Simon Johanna, hast du mich lieb?“ Haben wir ihn lieb, wie er es um uns verdient hat, o dann werden wir auch gern und immer rein und ganz ihn bekennen vor aller Welt. Was das Herz so ergriffen hat, das kann es nicht verleugnen, denn weß das Herz voll ist, davon geht der Mund über. So also nur seine Liebe uns immer mehr dringen wird, wie sie von jeher diejenigen gedrungen hat, die ihn der Welt verkündigt haben: so werden wir auch, wie die ersten Apostel nichts anderes zu | bekennen wissen, als Jesum den Gekreuzigten, und so oft wir den Menschen ihr Heil vorzuhalten haben, mit nichts anderem kommen als mit der Bitte: „Laßt euch versöhnen mit Gott um Christi willen,“ und nichts von demjenigen scheuen, was denen, die noch in dem Schatten des Todes sizen, ein Ärgerniß sein mag oder eine Thorheit, sondern immer den Herrn bekennen, ob auch unser Bekenntniß ihm Frucht 4–5 Vgl. Joh 14,2 10–12 Joh 14,23 13–14 Vgl. Joh 13,34 14–15 Vgl. Joh 14,23 15–16 Vgl. Röm 5,10 27–28 Joh 21,16–17 31 Mt 12,34; Lk 6,45 33–35 Vgl. 1Kor 2,2 36–37 Vgl. 2Kor 5,20 37–38 Lk 1,79 38 Vgl. 1Kor 1,23

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bringe und Segen der Welt, und ob auch von da das Licht des Evangeliums sich immer weiter verbreite, und die Finsterniß je länger je mehr vertreibe, und die Herzen | der Menschen immer mehr erweiche um denjenigen zu suchen und aufzunehmen, der da selig machen will alles, was verloren ist. Amen.

[Liederblatt vom 21. Oktober 1821:] Am 18. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. In allen meinen Thaten etc. [1.] Die Nacht ist nun verschwunden, / Das Dunkel überwunden, / Des Himmels Licht regiert! / Und, was die finstern Schatten / Dicht überschleiert hatten, / Der güldnen Sonnen Klarheit ziert. // [2.] Wach auf mein Geist und singe / Dem ew’gen Vater! bringe / Ihm Dank für seine Macht! / Erkenne seine Gnade, / Die auch auf dunkelm Pfade / Dich leitet und dich stets bewacht. // [3.] Daß mit der äußern Erden / Mein Innres Licht möcht’ werden, / Mein Herz ein Himmel wär, / Die Veste, dran die Sonne, / Mein Jesus, meine Wonne / Möcht’ leuchten zu des Schöpfers Ehr! // [4.] O, daß der Nacht Geschäfte / Durch dieser Sonnen Kräfte / Vergingen, und mein Sinn / Zu ihrem Licht sich hübe, / Ihr Einfluß starker Triebe / Mich zöge zu ihr selber hin! // [5.] Dies ist mein fromm Begehren: / Wollst, Vater, es gewähren, / Sprich Amen selbst dazu! / So werd’ ich nach der Plage / Der dunkelvollen Tage / Genießen deines Lichtes Ruh! // Nach dem Gebet. – Mel. Wer nur den lieben Gott etc. [1.] Die Liebe leidet nicht Gesellen, / Im Fall sie treu und redlich brennt; / Zwo Sonnen mögen nicht erhellen, / Beisammen an dem Firmament. / Wer Herren, die einander feind, / Bedienen will, ist keines Freund. // [2.] Was hinkst du denn auf beiden Seiten / O Seel? Ist Gott der Herr dein Schatz; / Was haben dann die Eitelkeiten / Für einen Anspruch, Theil und Platz? / Soll er dich nennen seine Braut, / Kannst du nicht andern sein vertraut. // [3.] Im Fall du Christum willst behalten, / So halt ihn einig und allein; / Die ganze Welt soll dir erkalten, / Und nichts als lauter Gräuel sein; / Dein Fleisch muß sterben, eh die Noth / Der Sterblichkeit dir bringt den Tod. // [4.] Warum sollt ich doch das umfangen, / Was ich so bald verlassen muß? / Was mir nach abgestürztem Prangen / Brächt ewig Ekel und Verdruß? / Sollt ich um einen Dunst und Schein / Ein Scheusal heilges Geistes sein? // [5.] Die Augen dieser Erden lachen / Zwar weidlich in der Sterblichkeit, / Beweinen aber in dem Rachen / Der Höllen ihr unendlich Leid / Die Engel-Traub hergegen tränkt, / Den der mit Thränen hier sich kränkt. // [6.] Die Welt senkt ihre Todten nieder, / Und weckt sie nimmer wieder auf; / Mein Schatz ruft seine 3–5 Vgl. Mt 18,11; Lk 19,10

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Todten wieder / Zum unbeschränkten Lebenslauf; / Verklärt sie wie das Morgenroth, / Wenn jene nagt der andre Tod. // [7.] Was hab ich denn, o Welt, zu schaffen / Mit deiner leichten Rosenkron? / Fleuch hin und gieb sie deinen Affen; / Laß mir des Kreuzes Dorn und Hohn. / Besitz ich Jesum nur allein, / Ist alles, was zu wünschen, mein! // (Freylingh.) Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr etc. Das Gelübde will ich halten, / Ewig dir getreu zu sein, / Laß den Eifer nie erkalten, / Mehr und mehr mich dir zu weihn, / Dir zu folgen ist mein Glück; / Weich ich je von dir zurück, / Werd ich doch nach kurzen Freuden, / Schmerzen an der Seele leiden. //

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19. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Domkirche zu Berlin Mt 9,1–8 Nachschrift; SAr 60, Bl. 205r–208v; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 95r–95v; Gemberg Keine

Aus der Predigt am 19. S. nach Trinit. 1821. außer der Reihe. Matth. 9 v. 1–8 In dieser Erzählung sehen wir leibliche und geistige Noth, und leibliche und geistige Wohlthat. Nemlich in dem zu welchem der Erlöser sprach: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben: war die geistige Noth verbunden mit der leiblichen; wenn die geistige Noth nicht in ihm gewesen wäre, und das Bewußtsein der Sünde: so wäre das Wort ein vergebliches gewesen; denn die Wohlthat ist nur etwas wenn sie sich bezieht auf das Bedürfniß. Es steht aber jene und diese Noth nicht getrennt, sondern im Zusammenhange und so fand der Leidende vollkommne Hülfe bei dem Erlöser. Aber nicht dies allein zieht unsre Aufmerksamkeit auf sich sondern auch das Verhältniß des Erlösers gegen die Menschen in welchen die Einsicht von diesem Zusammenhange sich entweder nicht gebildet hatte, oder es war ihr Gefühl dagegen abgestumpft, und die Weisheit und Reinheit in der Handlungsweise des Erlösers, aus welcher wir lernen wie wir bei dem Zusammenhange zwischen den leiblichen und geistigen Bedürfnissen der Menschen zu Werk gehn sollen. Das 1. was wir aus diesem Betragen des Herrn lernen sollen ist: daß, wie sehr uns auch die leibliche Noth entgegen komme, wir doch unsre Aufmerksamkeit und Liebe zuerst auf die geistige Noth hinlenken. – 3 Matth 9 v. 1–8] Matth 9 v. 1– 2 Die Tradenten-Notiz bezieht sich darauf, dass diese Predigt außerhalb der Reihe der Vormittagspredigten zur Jüngerschaft steht, die Schleiermacher vom 17. Juni bis zum 18. November 1821 in der Dreifaltigkeitskirche hielt.

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Denn so handelte der Erlöser. Er war (wie es im Lucasevangelium ausführlich erzählt ist) im Lehren begriffen und umgeben von solchem Gedränge des Volks daß die gewöhnlichen Eingänge | unzugänglich waren aber sie ließen sich dadurch nicht zurückweisen sondern scheuten die Mühe nicht und das Aufsehen und ließen den Kranken durch das Dach vor den Erlöser nieder. Und als nun der Erlöser ihren Glauben sah, nemlich den Glauben an seine bereitwillige Liebe so daß er die Unterbrechung seines höhern Geschäfts nicht tadeln werde, als er diesen Glauben sah, sprach er nicht was sie zunächst erwarteten sondern woran sie nicht dachten, wonach er aber den innigsten Wunsch in der Seele des Leidenden erkannte, das tröstliche Wort: „Deine Sünden sind dir vergeben“: – Und so liegt eben darin auch für uns die Vorschrift christlicher Weisheit und Liebe. Freilich sind wir nicht begabt mit dem durchdringenden geistigen Blick des Erlösers, aber sind wir auch nicht so begabt o so verbergen sich doch unsern Augen nicht die geistigen Bedürfnisse der Menschen, denn die Liebe öffnet und schärft unser Auge daß wir erkennen was im Menschen ist; die Liebe die er selbst ausgeübt und den Herzen der Seinen eingepflanzt hat, sie ist das neue Gebot von dem er sagt: „Daran wird jedermann erkennen daß ihr meine Jünger seid, so ihr Liebe untereinander habt“: Dieses Gebot ist es dessen Erfüllung uns allen die christliche Weisheit zusichert; denn so hat er uns geliebt daß er gesucht was verloren war, ist nun diese Liebe in uns daß wir suchen was verloren, wie er, so kann sich uns die geistige Noth nicht verbergen. Der Zusammenhang aber zwischen der leiblichen und der geistigen Noth ist dieser: daß eins auf das andre hinweiset. Der Tod ist durch die Sünde in die Welt kommen | und ist der Sold der Sünde. Und alles was zum Tode führt, alles was ihm Macht giebt, alles was diese Macht ausspricht, alles was dem Menschen seine Abhängigkeit von der äußern Natur giebt, gehört zu dem Tode der durch die Sünde gekommen ist. Wie können wir nun das äußre Elend sehen ohne auf die geistige Quelle zurükgeführt zu werden! Wie kann der Christ dies Alles sehen ohne die Gewalt der Sünde zu erkennen der der Mensch unterliegen würde ohne die Hülfe welche der Herr gebracht hat. – Aber nicht deßwegen allein, weil das Leibliche auf das Geistige hinweist, weil es seinen Grund in demselben hat, und die leibliche Noth des einzelnen Menschen auf die Sündhaftigkeit im allgemeinen hinweist, sondern es ist auch der Spiegel seiner eignen persönlichen Sünde. In dem gewöhnlichen Zustande des Lebens verbirgt sich am leichtesten der innre Zustand des Menschen und im außergewöhnlichen enthüllt sich das Innre am leichtesten. Das irdische Glück hat freilich Blendendes und Zerstreuendes, es strahlt seinen Glanz von der Oberfläche zurück auf die Um1–2 Vgl. Lk 5,17–26 18–19 Joh 13,35 Röm 5,12 26 Röm 6,23

22 Vgl. Lk 19,10

25–26 Vgl.

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gebungen und hält sie an der Oberfläche fest. Wenn aber das Leiden des Menschen unsre Aufmerksamkeit auf sich zieht da erkennen wir dann auch bald das innre Wesen, und wie können wir anders helfen, als wir müßen suchen einen geistigen Halt in der Seele, denn sonst kann es leicht geschehen daß er die hülfreiche Hand von sich weiset oder sie erschlaffen macht: und das muß uns ja wol auf das Innigste bewegen. Und wenn wir unsern Nächsten lieben als uns selbst, oder was noch | mehr ist, wie der Erlöser uns liebt, wie könnten wir anders als, weil wir ihm alle himmlischen Güter verdanken und erwarten daß das Andre von selbst uns zufallen werde, an die geistige Noth uns wenden mit der Hülfe welche der Herr darbietet. Ja wir sollen den geknickten Seelen unsre Liebe zuwenden, sollen, wenn es fehlt, das Gefühl der Sünde zu erwecken suchen und das Verlangen nach Befreiung von derselben, dann wird durch die Gewalt der himmlischen Liebe es uns gelingen den Trost der Erlösung und die Kraft des Glaubens in ihr Herz zu bringen. Denn der Herr hat gesagt: „wem ihr die Sünde erlasset, dem ist sie erlassen“. Aber der Erlöser schien freilich die leibliche Noth zu vergessen, bald aber wurde er darauf zurückgeführt nicht durch seine Handlungsweise gegen die ihn Umgebenden sondern durch die Art wie sie sie beurtheilten. – Und damit beschäftige sich der zweite Theil unsrer Betrachtung. 2. Wir sehn daß die Bereitwilligkeit des Herrn geistige Hülfe zu leisten arge Gedanken in ihren Herzen erregte und daß er diesem Argwohn mit göttlicher Milde entgegen trat. Auch hierin werden wir Veranlassung finden dem Beispiel des Erlösers nachzufolgen. Als der Herr sprach: „Mein Sohn deine Sünden sind dir vergeben“: da sprachen die Schriftgelehrten: „der lästert Gott“: – Wie kamen sie doch zu diesem Gedanken? In dem Gesetz Mosis waren heilige Gebräuche vorgeschrieben um Gott zu versöhnen und gerecht zu werden vor ihm, und auf diesem Wege | verlangten sie sollten die Menschen immerfort gehn. Wer sich nun als Lehrer des Volks darstellte von dem erwarteten sie daß er die Menschen als Sünder auch hinweisen sollte auf jenes Gesetz. Als nun der Erlöser das nicht that sondern die Gewalt des Gesetztes gleichsam an sich reißend mit seiner Machtvollkommenheit sprach das Wort der Vergebung, da sagten sie: „Der lästert Gott“. Und eben dieses finden wir auch jetzt noch herschend wie damals. Wenn wir es ganz im allgemeinen betrachten so finden wir daß das Zusammenleben der Menschen sei es besser oder mangelhafter gestaltet, gestaltet ist durch Gesetz, und überall finden wir daß dies eine Mannigfaltigkeit um den Besitz geisti13 wird durch] wird

16 erlassen”.] Im Manuskript folgen zwei Leerzeilen.

6–7 Mt 5,43; 19,19 (Zitat aus Lev 19,18)

9 Vgl. Mt 6,33

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ger Güter zu erhöhen in sich begreift. In allen diesen Vorschriften ist etwas Ewiges und Göttliches aber auch etwas Zeitliches und Vergängliches und das ist das Menschliche daran, welches wenn die Zeit erfüllet ist ersterben muß. So war es auch damals mit jenem Gesetz und den vielen Zusätzen menschlicher Weisheit, oder auch Thorheit: von diesem nun als auch von dem Gesetze selbst, abgesehn von dem Grund der Wahrheit und Gerechtigkeit darin, sagt der Apostel des Herrn sie seien etwas zwischen Eingetretenes als Zuchtmeister der Menschen bis auf die Zeit da der Glaube kommen werde. Das übersahen jene und glaubten auch das sei ewig, auch die unvollkommne Gestalt, auch das was der Gesetzgeber um der Herzenshärtigkeit willen hingestellt, sei Ewiges und Unvergängliches. Und so finden wir es auch jezt, daß die größte Zahl der Menschen [ ] | was an den Werken früherer Zeit das Vergängliche ist. Aber als der Erlöser erschien da hatte sich schon sehr tief in den Seelen der Menschen das Gefühl gewurzelt, daß der Böcke und der Kälber Blut nicht vermöge die Sünde wegzunehmen, daß das Gesetz nicht gerecht mache. Und so kommt immer eine Zeit, wo sich der menschlichen Seele das Gefühl bemächtigt hat daß das nicht mehr zureicht die geistigen Bedürfnisse zu befriedigen woraus das entschwunden ist, wodurch es heilig war. In welchen sich nun das Gefühl gestaltet zu deutlichem Bewußtsein, welchen der Herr die Seelen erleuchtet und die dann nach ihrer besten Ueberzeugung in der Kraft des Glaubens hinzutreten und helfen, indem sie zeigen den einfacheren und edleren Weg um zu der Freiheit der Kinder Gottes zu gelangen den der Herr selbst vorgezeichnet, gewiß gegen die richtet sich der kurzsichtige Argwohn, wie gegen den Erlöser selbst, was that aber der Erlöser? in seiner Kenntniß des menschlichen Herzens, entbrannte er nicht im Zorn, sondern in der milden Liebe sagte er: Wie kommen so arge Gedanken in euch? und suchte dadurch ihr tiefstes innerstes Gefühl zu ergreifen ihre Aufmerksamkeit so auf sich zu lenken daß sie auf leichte Weise den Irrthum erkennen sollten und nach der Ueberzeugung suchen: Es könne nicht so sein: – Und nur diese Liebe vermag es den Argwohn aufzuhalten und zurückzudrängen. Das ist das ewige Gesetz der göttlichen Liebe: Und das reine Bestreben nach Besserung, das Verlangen den Weg | Gottes immer mehr zu verkünden, das weiß auch der bittersten Verläumdung nichts anders entgegen zu setzen als solch Wort wie der Herr sprach da sie ihn auf das Härteste beschuldigten. – Aber eben dieses führte den Erlöser auf das leibliche Elend zurück. Er gedachte: wenn ich gleich gesprochen hätte: Stehe auf – : so würden sie nicht gesagt haben: der lästert Gott: nun sollten 12 Menschen] Im Manuskript folgt eine Leerzeile; zu ergänzen wohl: auch dasjenige für unvergänglich hält 7–9 Vgl. Gal 3,24–25

15 Vgl. Hebr 9,12

23 Röm 8,21

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sie aber doch gefühlt haben, daß der mehr ihre Achtung verdiene welcher so das Innre heilte. Darum fragte er was leichter sei die innre Last von ihm nehmen und ihn mit der Hoffnung einer gottgefälligen Zukunft erfüllen, oder jenes. Aber eben weil er die Verworrenheit ihres Gefühls sah fügte er gleich das dazu nicht um sein Recht zu bewähren fügte er hinzu: – Meinte der Erlöser daß die Linderung der leiblichen Noth ein Beweis sei für die Macht die Sünde zu vergeben? Gewiß nicht! denn wie viel Noth kann gelindert werden auf gewöhnliche irdische Weise ohne daß das geistige Elend schwindet aber selbst das Wunderthätige war kein Beweis dafür, denn als einst dem Herrn Schuld gegeben wurde er treibe die Teufel aus durch den obersten der Teufel, fragte er: „wodurch thun es denn eure Söhne und Töchter“: und damit gab er zu daß Wunder in der Zeit konnten geübt werden, und zwar auch von solchen welche gar nicht mit ihm in Verbindung standen. – Aber um dem Argwohn der Menschen Einhalt zu thun, um sie zu nöthigen daß sie verstummen mußten darum fügte er die leibliche Hülfe zu der geistigen. – Bei den verschiedenen Einsichten über die geistige Noth | und Hülfe giebt es da ein schöneres Mittel um Argwohn und Zwietracht zu enden als wenn alle zusammenkommen zu Einer menschenfreundlichen Bemühung? Daher auch die nie ohne Schuld sind, welche indem sie darauf bedacht sind die geistige Noth aufzudecken und zu lindern, das kleinere versäumen, und nicht gedenken der Worte des Herrn: „Wer im Kleinen getreu ist pp.“ So war dem Erlöser das Sündevergeben das große Werk, und das was er übrigens für die Menschen that, das Kleine: so wie für uns alles wodurch wir äußere Hülfe leisten das Kleine ist, das Große aber unser Antheil an dem Erlösungswerke selbst. So laßt uns durch die Kraft des Herrn in uns hierin beständig thätig sein, damit uns aber der Argwohn der Menschen nicht treffe und dem Werke schade so wollen wir auch treu sein im Kleinen, wollen auch die Thräne zu trocknen suchen die nicht aus zerknirschtem Herzen herrührt, dann wird sich das Gemüth der Menschen erweichen und der erlösenden Liebe zugänglicher werden. Und so sei es im Reiche des Herrn jezt und immerdar!

8 irdische] ir / sche 10–11 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15 21–22 Vgl. Lk 16,10

11–12 Vgl. Mt 12,27; Lk 11,19

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Am 28. Oktober 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

19. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 4,22–28 (Anlehnung an die Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 80, Bl. 146–163; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 148r–158v; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 60, Bl. 209r–214r; Woltersdorff Liederangabe (nur in SAr 60)

Predigt am neunzehnten Sonntage nach Trinitatis 1821. eine Nachmittagspredigt. |

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Tex t. Epheser IV, 22–28. So leget nun von euch ab nach dem vorigen Wandel den alten Menschen, der durch Lüste in Irrthum sich verderbet, erneuert euch aber im Geist euers Gemüths, und ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit. Darum leget die Lügen ab, und redet die Wahrheit, ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind. Zürnet und sündiget nicht, lasset die Sonne nicht über eurem Zorn untergehen, gebet auch nicht Raum dem Lästerer. Wer gestohlen hat, der stehle nicht mehr, sondern arbeite | und schaffe mit den Händen etwas Gutes, auf daß er habe zu geben dem Dürftigen. Wir finden, m. a. F., in diesem Abschnitt eine große Fülle von einzelnen Regeln khristlicher Gottseligkeit, aber das wesentliche des Ganzen finden wir gleich am Anfange desselben, und wenn wir das recht zu Herzen genommen haben, so wird dann ein jeder desto leichter und von selbst auch das Einzelne in seinem rechten Umfange zu sehen und auf sein Leben anzuwenden im Stande sein, dieser Anfang aber unserer Epistel besteht in demjenigen, was der Apostel von dem alten Men|schen sagt, daß er sich näm3 Tex t.] darüber von Schleiermachers Hand: Am 19. S. n. Trin. 1821. 0 Liederangabe in SAr 60; Bl. 209r: „Lied 796. 789“; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 796 „Ich hab oft bey mir selbst bedacht“ (Melodie von „Vater unser im Himmelreich“; Lied Nr. 789: „Heiligster Jesu, Heilgungsquelle“ (Melodie von „Wachet auf! ruft uns die Stimme“)

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lich durch Lüste in Irrthum verderbe. Damit beschreibt er das Wesentliche alles desjenigen Gott Mißfälligen, und in dem Reiche Gottes Unzulässigen, worauf die einzelnen Regeln unseres Abschnittes sich beziehen. Laßt uns also zuerst sehen, was der Apostel mit dieser Beschreibung des alten Menschen meint, und zweitens darauf achten, welche allgemeine Vorschrift er uns in dieser Hinsicht giebt, aus der dann das Einzelne Alles von selbst herrührt.

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I. Der Apostel sagt, der alte Mensch, in welchem auch die Khristen, an die er schreibt, ihren vorigen Wandel geführt hatten, der | verderbe sich durch Lüste in Irrthum, und er stellt eben dadurch den Irrthum gleichsam als das Ziel hin, worauf er auch vorzüglich die Aufmerksamkeit der Khristen in dieser Epistel hinlenkt, indem auch in dem folgenden in allem Einzelnen davon die Rede ist: Achten wir nun darauf, wie es in dem Menschen zugeht, der das Verderben des alten Menschen in sich nährt: so müssen wir allerdings gestehen, solche unter ihnen giebt es wenige, welche ganz und gar über das, was sie thun, nicht nachdenken, und also gar keine Einsicht in Beziehung darauf haben; und wiederum | auf der andern Seite sehen wir auch wohl ein, mit denen steht es am wenigsten schlimm, die zwar noch vieles in sich haben, was mit dem neuen Menschen nicht übereinstimmt, aber sie haben keinen Irrthum in Beziehung auf dasselbige, sondern erkennen es dafür an, was es ist; denn alsdann kann es auch nicht fehlen, daß nicht ein Bestreben in ihnen sein sollte, es abzulegen. Wir sehen hieraus, daß der ganze Kern des menschlichen Verderbens darin besteht, wenn der Irrthum in der Seele des Menschen entsteht in Beziehung auf alles das, was sich auf den Unterschied des alten und neuen Menschen bezieht. Der Apostel nun lehrt uns erkennen, wie | dieser Irrthum über das Gute und das Böse in die Seele des Menschen kommt. Gewiß, m. g. F., ist das unsere allgemeine Erfahrung, wenn wir auf diejenigen sehen, die uns in ihrem Leben am meisten darbieten von dem, was mit dem göttlichen Geseze und mit dem göttlichen Willen übereinstimmt, es ist die allgemeine Erfahrung, die wir dann machen, daß sie immer etwas haben, womit sie sich selbst entschuldigen und sich selbst rechtfertigen, bald indem sie zu zeigen suchen, das, was sie thun sei nicht so böse, wie es von Andern gehalten wird, bald indem sie sich zu rechtfertigen suchen, durch die guten | Folgen, die sie davon erwarten, und indem sie unterscheiden zwischen dem Bösen, welches der Mensch meiden könne und lassen, und zwischen der unvermeidlichen Schwachheit seiner Natur und allem, was mit dieser zusammenhängt. Das alles ist der Irrthum, von welchem der Apostel redet, und wir können nicht leugnen, wenn der Mensch diesen wählt, so ist er in demselben Sinn ein 40 demselben] denselben zeuge: ein verderbt

40–1 Sinn ein verderbter] so SAr 101, Bl. 150r; Text-

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verderbter; denn es kann auf diese Weise in dem Menschen selbst weder ein Streben sein, das Böse abzulegen, und das Gute in sich zu begründen, noch auch ein Bestreben Befreiung zu suchen aus dem Zustande des Verderbens, und | sich nach einer rettenden Hand umzusehen. Sondern so wie er eine Ueberzeugung davon gewonnen hat, daß das recht sei, was er thut und in seiner Seele nährt, so ist auch eine gewisse Ruhe in seine Seele gekehrt, und auf diese Weise ist der Irrthum hierüber das tiefste Verderben des Menschen. Wenn wir nun fragen: woher kommt denn dies? so sagt der Apostel: „der alte Mensch werde durch die Lust in den Irrthum verderbt“, und also diese unrichtige Einsicht, die schreibt er nicht etwa der ursprünglichen Schwäche und der ursprünglichen Verfinsterung des menschlichen Verstandes zu, sondern er sagt, daß sie aus dem Willen und | aus dem Herzen in den Verstand dringe. Denn unter Lust versteht die Schrift alles, was eine Verkehrtheit des menschlichen Herzens, was eine falsche und dem göttlichen Gesez zuwiederlaufende Richtung des menschlichen Willens ist, von welcher Art es auch sei. Und, wie ist es, m. g. F.? wenn wir uns selbst fragen, was wir nun weniger aus der Betrachtung Anderer sehen können – denn die zeigt uns zwar den Irrthum, aber wie er in ihrer Seele entstanden ist, das verbirgt sie uns gewöhnlich – wenn wir uns aber selbst fragen über das, sei es viel oder wenig, was von dieser Art in uns nicht jezt ist – denn dann wäre es nicht der Irrthum, | in welchen sich der alte Mensch durch die Lust verderbt – aber doch gewesen ist, und wovon wir durch die Gnade Gottes zurükgekommen sind, wenn wir fragen, wie ist es damit zugegangen? so werden wir die Antwort des Apostels erkennen. Es ist erst der falsche und verkehrte Wille des Menschen, der ihn lokt zu dem, was dem göttlichen Willen und dem göttlichen Gesez zuwieder ist; mit der unrichtigen Einsicht über das Gute und Böse fängt der Mensch nicht an, sondern die Lust ist das erste, und der Irrthum das zweite, was in ihm entsteht. Aber wenn wir denken in dem Augenblik, wo die Lust in der Seele des Menschen ist, und ehe sie den Irrthum | erzeugt hat, ist doch in den Wenigsten eine gänzliche Gedankenlosigkeit, und ein völliger Schlummer des Verstandes, wie steht es also dann, ehe der Irrthum in die Seele gekommen ist, in Absicht auf das Verhältniß des Irrthums zu dem Verstande, in welchem der Irrthum wohnt? Offenbar so, daß der Mensch, ehe er aus der Gedankenlosigkeit erwacht, die Lust als Sünde erkennt, und also eine Einsicht hat in das, was sie ist. Wie entsteht aber aus dieser Einsicht hernach der Irrthum? Hier sehen wir nun unmittelbar kann das Eine in das Andere nicht übergehen, sondern der Mensch muß sich selbst aus der Wahrheit, die in seiner Seele | war, in den Irrthum verkehren; und so liegt zwischen dem Leben des Menschen in der 24 , wie ... zugegangen] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 151r übergehen

38 nicht übergehen]

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Lust, und zwischen dem Irrthum über die Lust die Lüge. In der Zwischenzeit zwischen dem erwachten Gewissen, welches die Lust als Lust erkennt, und zwischen dem Irrthum, der sie für etwas Gutes und Rechtes ausgiebt, dazwischen liegt dies, daß der Mensch sich selbst bethört und hintergeht, daß das verkehrte und von der Lust eingenommene Herz den Verstand verfinstert, daß Gedanken in dem Menschen entstehen, und sich selbst rechtfertigen, die ihnen das verkehrte Herz eingiebt, und denen er Anfangs nicht | glaubt, sondern ihnen die innere Wahrheit des Gewissens, die ihm die Lust als Sünde vorhält, gegenüberstellt. Soll nun der Irrthum entstehen, von dem der Apostel sagt, daß der alte Mensch durch die Lust sich in ihn verderbe, so muß die Wahrheit beseitigt werden, und eben dadurch, daß die Wahrheit beseitigt wird, auch die Lüge entstehen, und das Siegel werden, welches der Lust aufgedrükt ist: Das ist der Weg des alten Menschen in dem vorigen Wandel, wie ihn der Apostel vor Augen hat, und man sollte denken, so lange noch in der Seele zugleich die Lust, freilich die verkehrte und sündige, aber auch die | reine Erkenntniß davon, daß sie dem Willen Gottes zuwieder ist, so lange beides noch in dem Menschen wohnt, so lange sollte man denken wäre der Mensch im Stande sich selbst zu helfen, deshalb, weil die Kraft des Gewissens in ihm eine göttliche Kraft ist. Ist aber der Streit entstanden der Gedanken die einander verklagen und entschuldigen, und hat die fortwährende Lust die verklagenden Gedanken besiegt: dann ist die Lüge zum Irrthum geworden, und der Mensch hat sich selbst eine Ueberzeugung angedichtet, die ihm freilich zusagt, aber die keinesweges die richtige ist, und nun ist alles aus | seiner Seele herausgeschafft, was der Lust wiederspricht, und was ihn aus dem Verderben, in welches er versunken ist, wieder retten kann. Diese Warnung aber, m. g. F., den alten Menschen abzulegen, der sich durch Lüste in den Irrthum verderbt hat, diese Warnung giebt der Apostel nicht etwa solchen, zu denen die Lehre des Evangeliums noch nicht hindurchgedrungen war, nicht solchen, denen er zuerst die großen Wahrheiten des Heils verkündigte; sondern er giebt sie Khristen, unter welchen die Stimme des Evangeliums schon seit einer Reihe von Jahren gehört wurde, denen schon alle Hülfsmittel der Ermah|nung und alle Unterstüzungen, die in jener Gemeinschaft liegen, zu Gebote standen, und doch hielt der Apostel es für nöthig, ihnen die Warnung zu geben, den alten Menschen abzulegen, welches voraussezt, daß sie ihn noch hatten. Und gewiß, m. g. F., werden wir uns noch gestehen müssen, es ist dies der Kampf, den der Mensch in dieser Welt beständig zu bestehen hat, es ist der schleichende Gang des Verderbens, vor welchem wir uns alle nicht nur zu hüten haben, sondern den wir auch, so lange wir in dieser irdischen Welt leben, 5 eingenommene] angenommene 20 Vgl. Röm 2,15

19 Kraft ist] Kraft

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in unserem Gemüthe immer lebendig erhalten, | das ist die menschliche Gebrechlichkeit, daß sie zu allen Zeiten des Lebens immer aufs neue, ist eine Zeit vorüber, unter andern Gestalten, die Lust in der Seele erzeugt. Auch der Wille des Menschen, der sich dem Evangelio hingegeben hat, wird nur allmälig geheiligt, und so wie sich ihm ein neues Gebiet des Lebens aufschließt, so ist er auch aufs neue dem ausgesezt, eine verkehrte Richtung zu nehmen, und der Lust nachzugehen. So hat jedes Alter des Lebens eine eigene Lust, der es nachgeht, so jede Lage und jede Gesellschaft der Menschen eine Lust, der sie unterworfen sind, und so bringt jeder Wechsel des Lebens, | der natürliche sowohl als der zufällige, dem Menschen einen neuen Kampf. Derjenige nun, welcher den Willen Gottes erkannt hat, in dem ist dann die Stimme des Gewissens erwacht, welches ihm die Lust als Sünde vorhält; aber in dem Maaße als er die Lust schon gekostet hat, als die verkehrte Richtung des Willens in ihm schon lebendig geworden ist, in dem Maaße entwikelt sich in ihm jener verderbliche Einfluß des Herzens auf die Einsicht, wodurch entgegengesezte Gedanken entstehen, und sich aus der Lüge der Irrthum erzeugt. Wie wir nun aber selbst nicht nur, sondern | auch alle diejenigen, die uns theuer und werth sind, und denen wir unsere Achtung nicht versagen können als solchen, die das Gute wollen, nicht frei sind von solchen Irrthümern, die sich eben auf dasjenige beziehen, was in dem Leben des Menschen dem göttlichen Willen gemäß ist oder zuwider: so müssen wir sagen, das ist die Art und Weise wie die Sünde entsteht, und auf eine andere Weise als durch diesen Durchgang durch die Lüge entsteht sie nicht. Und so mögen wir gestehen, daß die Warnung des Apostels an uns alle gerichtet ist, und uns eine Gefahr darstellt, | der keiner unter uns schon ganz enthoben ist. II. Darum laßt uns nun zweitens sehen, was sagt der Apostel im allgemeinen und abgesehen von den einzelnen Vorschriften, die das Ende unserer Epistel sind. Was sagt er im Allgemeinen, wie wir den alten Menschen ablegen sollen, der sich durch Lüste in den Irrthum verderbt? Nichts anderes sagt er, und kann auch nichts anderes sagen als: „ziehet den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ Laßt uns, m. g. F., nur sehen, | daß wir diesen Rath und diese Vorschrift des Apostels recht verstehen. Da ist nun zuerst zu bemerken der bildliche Ausdruk, dessen er sich bedient, und der uns in der That auf den ersten Anblik wohl wundern kann. Aber es ist mit jedem bildlichen Ausdruk so, daß etwas darin ähnlich ist und etwas unähnlich, und es kommt darauf an, daß man bei dem ersteren verweilt. Den neuen Menschen anziehen, und den alten Menschen ausziehen, das erscheint uns auf den ersten Anblik so, als könne der Apostel es darstellen wollen als etwas Äußerliches; denn das ist etwas, was | das Äußere des Menschen betrifft, daß man das Eine aus-

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zieht und das Andere anzieht, und das Innere bleibe dabei dasselbige. Aber auf einen Schein, der dadurch hervorgebracht werden soll, hat es der Apostel nicht abgesehen, und das ist nicht dasjenige, was er durch diesen bildlichen Ausdruk hat sagen wollen. Denn auch zweitens, was ist leichter als anziehen und ausziehen, so daß die Schrift selbst, wenn sie uns die göttliche Allmacht darstellen will, auf die auffallendste Weise, so daß auch das Größeste das Leichteste ist, und daß die göttliche | Allmacht zu dem, was wir mit unserem Verstande nicht begreifen können keiner Mühe bedarf: so drükt sie sich so aus, daß der Herr die Himmel zusammenrollt wie ein Gewand. Soll nun der Apostel es so gemeint haben; es sei etwas so leichtes, den alten Menschen ausziehen und den neuen Menschen anziehen, eben so leicht, wie wir ein Gewand mit dem andern wechseln? Gewiß, m. g. F., wer es selbst erfahren hat, was es um den Kampf des Menschen gegen das Verderben in ihm sagen will, wer sich erinnert an so viele andere Stellen der Schrift, wo uns das Werk der Heiligung | unter dem Bilde eines Streites, den wir übernehmen und durchkämpfen sollen, dargestellt wird, und wo uns alle Waffen zu diesem Streite angeboten werden: o der wird nicht glauben wollen, daß der Apostel uns durch diesen Ausdruk habe andeuten wollen, als sei es etwas Leichtes um diese Veränderung aus dem alten Menschen in den neuen. Was er aber damit hat sagen wollen ist dies: man kann ein Gewand nicht anders anziehen als ganz, und eben so kann man ein Gewand nicht anders ausziehen als ganz; es ist dies ein Geschäft, bei welchem keine | Theilung und nichts Halbes Statt findet. Und das ist es, worauf der Apostel hier hindeutet, so daß er den Khristen sagt: so lange ihr noch etwas habt von dem alten Menschen, der sich durch Lüste in den Irrthum verderbt, so lange habt ihr ihn noch ganz und als eine Einheit. Und auch den neuen Menschen kann man nicht anders anlegen als ganz und ungetheilt; man kann nicht die Gerechtigkeit und Heiligkeit wollen, und damit zugleich die Lüge und die Ungerechtigkeit. Aber indem er uns ermahnt: „ziehet an den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist in Gerech|tigkeit und Heiligkeit, so hat er uns nicht bloß verweisen wollen auf das Ende der Heiligung, sondern auch auf den Anfang derselben, indem er nämlich sagt: ziehet an den neuen Menschen, der nach Gott geschaffen ist. Das Geschaffensein, m. g. F., das deutet auf den Anfang des Daseins, und von dem gilt alles dasjenige, was allmälige Entwiklung, allmälige Ausbildung und Verbesserung ist, und das ist der Sinn des Apostels bei diesen Worten. Der Anfang der Heiligung muß sein das Anziehen des neuen Menschen, eher ist er nicht da, als bis der Mensch das Gute, was das Reich Gottes 1 und ... anzieht,] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 154v 9–10 Hebr 1,12 15–16 Vgl. Röm 7,22–23; Gal 5,17 2Kor 6,6–7; Eph 6,10–17

17 Vgl. Röm 6,11–14;

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fördert, | und den göttlichen Willen ganz und ungetheilt will: dann hat er den neuen Menschen angezogen, der nach Gott geschaffen ist zur rechtschaffenen Gerechtigkeit und Heiligkeit: Aber nur allmälig entwikelt sich die Gewalt desselben in der Seele, und eben deswegen müssen wir immer darauf achten, ob wir noch von dem alten Menschen etwas abzulegen haben. So lange dies ist, und das ist der Zustand des Menschen in dieser Welt, so lange befinden wir uns noch in einem solchen Wechsel des Innern, wie in unserem Leben der Wechsel der Gedanken Statt findet. Es giebt dann Zeiten, wo die Seele angethan ist mit dem | neuen Menschen, wo sie Fortschritte macht in der Gerechtigkeit und Heiligkeit wo das Streben nach dem Guten sie treibt, wo das Licht der Wahrheit sie durchdringt. Aber es giebt dann wieder Zeiten, wo sie gleichsam den neuen Menschen ausgezogen hat, eben weil sie noch in irgend etwas der Lust so dient, daß sie sich in den Irrthum verderbt, und dann hat sie den alten Menschen angezogen. Und der Apostel will eben dies uns als das Ziel unserer Bestrebungen vorlegen, daß dieser Wechsel ein Ende nehmen soll, indem er sagt: Leget den alten Menschen ab und ziehet den neuen an auf | eine solche Weise, daß der alte euch zu keiner Zeit mehr befällt. Von diesem neuen Menschen sagt er nun, er sei nach Gott geschaffen in rechtschaffener Gerechtigkeit und Heiligkeit; und da sehen wir wieder, wie in der Beschreibung des alten Menschen die Lust, das heißt die Verkehrtheit des Willens und der Irrthum, das heißt die Verkehrtheit des Verstandes, nebeneinander gestellt waren, so auch hier sehen wir die Gerechtigkeit, das heißt daß die vollkommne Tüchtigkeit des Willens, und die Heiligkeit, das heißt die unbedingte Wahrheit nebeneinander gestellt, und der neue Mensch ist nach Gott geschaffen | in beidem. Aber wie es mit dem Verderben so zugeht, daß der alte Mensch sich aus der Lust in den Irrthum verderbt, so geht es mit dem neuen Menschen so zu, daß er sich aus der Wahrheit in die Gerechtigkeit hinein heiligt. Das ist der Anfang, die Gerechtigkeit zu wollen; aber indem der Mensch sich der Wahrheit hingiebt, indem er jede Selbsttäuschung, jede Lüge haßt, das ist die Heiligkeit, das Ziel seines Lebens. In dem Maaße, als diese in dem Menschen gegründet ist, gelingt es der Lust nicht mehr, daß sie die Wahrheit verbirgt und den Irrthum erzeugt; und hat sie diese Haltung nicht mehr, so hat sie auch keine Macht mehr die | Sünde zu erzeugen. Dafür wächst dann unter dem reinen Schirm der Wahrheitsliebe in der menschlichen Seele Gerechtigkeit; und so gegen die Lüge zu streiten, so überall die reinste und tiefste Wahrheit zu suchen, sich selbst mißtrauend, aber die Wahrheit schöpfend da, wo sie uns allen zugänglich ist, in dem reinen und heiligen Worte Gottes, welches unter uns verkündiget wird, das ist der reine Streit des neuen Menschen, den wir angezogen haben gegen den alten, den wir ausgezogen haben. Behalten wir jenen neuen Menschen an, und werden immer gleichgültiger gegen die Lüge, die aus der Lust entspringt: dann gedeiht durch den | neuen Menschen, der geschaffen ist zur recht-

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schaffenen Gerechtigkeit und Heiligkeit, der vollkommne Mensch Gottes, der zu allem guten Werk geschikt ist, in dem die Gerechtigkeit reif geworden ist, in dem die Lust zwar nie aufhört zu entstehen, aber durch die Stimme der Wahrheit unterdrükt wird, und der eben deswegen auch, weil er alles Böse allmälig besiegt, jedes gute Werk freudig vollbringt. Das, m. g. F., das ist der Weg, den der Apostel uns zeigte, und der einzige, auf welchem wir Fortschritte machen können. Darum sagt auch der Erlöser auf gleiche Weise von sich, er sei der Weg, das Leben und die Wahrheit. Aus der | Wahrheit nur kann das Leben hervorgehen, und nur in der Kraft der Wahrheit können wir den Weg gehen, den er uns gezeigt hat. Aber wie könnte sie uns auch liebenswürdiger, wie könnte sie uns göttlicher erscheinen, wie könnte sie unsere ganze Seele mehr gefangen nehmen und von der Gewalt der Lust und der Sünde befreien, als wenn wir das Auge immer auf ihn gerichtet behalten, und die reine göttliche Einfalt, zu der wir berufen sind, in demjenigen sehen, der nie in seinem Leben der Lust gedient, in dem sich nie das reine Gefühl der Wahrheit verdunkelt hat, und der nicht nur in den Tagen seines Fleisches die himmlische Wahrheit einem | jeden gezeigt hat, sondern sie auch jezt noch einem jeden zeigt, der ihn aufrichtig sucht, und der einmal durch die Gnade Gottes und durch den Beistand seines Geistes den Glauben gewonnen hat, das heißt das lebendige Gefühl, daß er uns der Weg und die Wahrheit geworden ist. Amen.

1–2 Vgl. 2Tim 3,17

8.21 Vgl. Joh 14,6

14–15 Vgl. 2Kor 1,12; 9,11

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Am 4. November 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 10,38 Nachschrift; SAr 81, Bl. 1v–19r; Slg. Wwe. SM, Andrae SW II/10, 1856, S. 306–317 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 95v–96r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 215r–218v; Woltersdorff Teil der vom 17. Juni 1821 bis zum 18. November 1821 gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt am zwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1821. | Tex t. Matth. X, 38. Und wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht werth. 5

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Auch diese Worte, m. a. F., sind aus jenen Unterweisungen unsers Erlösers genommen, die uns oft schon in unseren Morgenbetrachtungen beschäftigt haben, aus den Unterweisungen, die er seinen Jüngern ertheilt über ihren Beruf, als er sie aussandte, das Reich Gottes zu predigen. Wenn also der Erlöser hier sagt: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, und folget mir nach, der ist meiner nicht werth, das heißt, er kann nicht mein Jünger sein: so ist die Rede | nicht von denjenigen Trübsalen und Wiederwärtigkeiten, die uns ohne irgend einen näheren Zusammenhang mit unserem Verhältnisse zu ihm aus den gewöhnlichen Verwikelungen des menschlichen Lebens herkommen; sondern nur von denjenigen Leiden und Widerwärtigkeiten, die auch uns nicht selten vermöge unseres heiligen Berufs als Khristen, indem wir mit Wort und That unsern Heiland vor der Welt bekennen, von der Seite derjenigen treffen, welche dem Worte Gottes, das uns durch ihn gegeben ist zuwieder sind: Diese Wiederwärtigkeiten geduldig zu ertragen ohne sich stören oder irre machen zu lassen in dem, was | allen Jüngern des Herrn obliegt, das ist es, wozu uns der Erlöser in den Worten unseres Textes auffordert; und über diese Bereitwilligkeit, das Kreuz des Herrn zu tragen, laßt jezt uns mit einander reden. 10 Vgl. Lk 14,27

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Es führt uns aber der Evangelist Matthäus zweimal diese Worte des Erlösers an; das eine mal in diesem Abschnitt, woraus ich sie gelesen habe, wo er vorher sagt, es werde der Vater sein gegen den Sohn, und die Tochter gegen die Mutter und der Bruder und die Schwester gegen einander, und wer dann Vater oder Mutter oder Bruder oder Schwester mehr liebe als ihn, der sei seiner nicht | werth; und das Kreuz also, welches aus diesem Gegeneinanderaufstehen der Menschen uns hervorgeht, das sollen wir tragen. Das andere mal führt uns der Evangelist diese Worte an, nachdem der Herr seine Jünger gefragt hatte, als sie zurükkamen von derselben Sendung, zu welcher er sie hier mit seiner Lehre ausrüstete, was denn die Menschen, und was denn sie selbst von ihm hielten. Und nachdem nun Petrus geantwortet hatte: Wir glauben, daß du der Khristus bist, der Sohn des lebendigen Gottes, da fing der Herr an auf dem Grunde ihres Glaubens ihnen vorher zu sagen, was sich er|eignen würde, und wie er müsse überantwortet werden in Jerusalem und gekreuzigt. Da sprach Petrus: Herr, das begegne dir nicht; und der Herr antwortete: gehe hinter mich, du Wiedersacher, du siehest nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist; denn wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt, und folget mir nach, der kann mein Jünger nicht sein. Wenn also die erste Stelle, wo diese Worte vorkommen, uns besonders darüber unterweiset, woher uns das Kreuz entsteht, welches wir tragen sollen: so giebt uns die zweite einen näheren Aufschluß darüber, weshalb denn wohl die Ermahnung, die der Erlöser wiederholt ausspricht, allen den | Seinigen nothwendig sei. Und das sind die beiden Gegenstände, in welche unsere heutige Unterredung von selbst zerfällt. I. Zuerst also laßt uns nach Anleitung des ersten Zusammenhangs näher erwägen, woher denn dem Khristen das Kreuz kommt, welches der Herr ihn ermahnt zu tragen? Er fängt den Abschnitt seiner Rede, von welchem die verlesenen Textesworte der Schluß sind, damit an, daß er sagt, er sei nicht gekommen Frieden zu bringen auf Erden, sondern das Schwert; denn so werde es geschehen, daß ein Mensch aufstehen werde gegen den andern. Hart ist diese Rede, und vielleicht schwer | zu begreifen, daß der Erlöser sagt, nicht etwa, es werde ein natürlicher unvermeidlicher Erfolg sein, daß unter den Menschen Streit entstehen werde über seine Lehre; sondern daß er es sogar als seine Absicht aufnimmt, und was nicht wieder seinen Willen geschehe, indem er sagt: Ich bin nicht gekommen Frieden zu bringen auf Erden, sondern das Schwert. Wie? daß die Menschen gegen einander aufstehen, daß diejenigen sich anfeinden und verfolgen, die sich lieben sollten schon von Natur, und die der Herr mit seiner noch höheren Liebe ausrüstet 3–6 Vgl. Mt 10,35–37 37 Vgl. Mt 10,34–36

10–19 Vgl. Mt 16,13–16.21–24; Lk 14,27

29–31.36–

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aus seiner neuen über das menschliche Geschlecht gekommenen Kraft, das sollte seine | Absicht gewesen sein und sein Werk? Und doch, m. g. F., können wir das nicht ganz hinweglesen oder hinwegdenken aus den Worten, die er redet. Aber wem fällt nicht dabei ein jenes andere Wort der Schrift: „das Wort des Herrn ist schärfer, denn ein zweischneidiges Schwert, und scheidet Mark und Bein.“ So ist es. Das ist das Schwert, welches der Herr gekommen ist auf Erden zu bringen, scharf und zweischneidig, die eine Schneide die schärfste, das ist die Schneide des Heils, wenn das Schwert des göttlichen Wortes das Innerste des Menschen durchdringt, und den alten Menschen tödtet mit seiner göttlichen Kraft, womit das freiere und schönere Leben des neuen sich entwikeln | könne. Wohl dem, der getroffen wird von dieser Schärfe des Heils. Aber die andere Schneide, das ist die, welche ihm auch nothwendig ist, und die zuerst die Seele des Menschen zu treffen pflegt, das ist die, welche da bringt Erkenntniß der Sünde, aber nur Erkenntniß der Sünde; die scheidet auch Mark und Gebein, aber der alte Mensch stirbt noch nicht an der heilsamen Wunde, sondern er windet sich und krümmt sich, und daraus entstehen die Zustände der Krankheit und des Krampfes, die Ausbrüche der Wuth, und der Verzweiflung und des Hasses, wenn er nicht will von der Erkenntniß der Sünde getroffen sein, wenn das | trozige und zaghafte Herz Gedanken sendet in seinen Verstand, die sich entschuldigen und verklagen abwechselnd, wenn er fühlt die Ruhe habe er verloren, in welcher er bisher wandelte, weil er, wenn kein Gesez ist und kein Wort Gottes auch die Sünde nicht erkennt; er fühlt sie ist dahin, aber weil ihn die andere Schneide noch nicht getroffen, so hat er auch noch nicht gefunden den höheren Frieden aus Gott. In diesem Zustande, da geschieht es, wie der Herr sagt, daß ein Mensch aufsteht gegen den andern. Sei es der freundlichste, sei es der, den ihm die Natur am nächsten gestellt hat, sei es derjenige, dem er sich nicht verhindern kann die Achtung | zu zollen, die man menschlicher Weisheit und der Stärke des Geistes schuldig ist, wer ihm predigt das Wort Gottes – o das bringt die Erkenntniß der Sünde – wer die Wunde wieder tiefer aufreißt, die ihm geschlagen ist, den sieht er an als seinen Feind; und so steht er gegen ihn auf zuerst ihn zu zeihen einer falschen Rede, dann zu suchen, ob er auch nicht an ihm finde die Sünde, deren Erkenntniß er ihm wider Dank und Willen gebracht hat, denn damit er suche, ihn zum Verstummen zu bringen, daß die Töne der spaltenden Rede sein Ohr nicht erreichen. Und daraus ist in jenen ersten Zeiten der Kirche, an | welche der Herr in diesen Worten zunächst dachte, seinen Jüngern hervorgegangen Trübsal und Verfolgung. Sie sind gezogen worden vor die Richterstühle der Menschen, und Verbrechen sind ihnen 5–6 Vgl. Hebr 4,12 20 Vgl. Jer 17,9 Röm 3,20 38 Vgl. Röm 8,35

20–21 Vgl. Röm 2,15

22–23 Vgl.

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Schuld gegeben worden, welche sie nicht begangen hatten; sie die nichts suchten als das ewige Reich der Wahrheit, und die allen Menschen den Frieden bringen wollten, sie sind erachtet worden als Feinde des menschlichen Geschlechts. Und so, m. g. F., geht es auch noch immer. So lange das Wort Gottes mit dieser Schneide der Erkenntniß der Sünde das menschliche Herz trifft, so | lange diejenigen, welche noch nicht verlangen nach der Erkenntniß der Sünde, auf die allein etwas Besseres folgen kann, noch nicht ganz einzeln und zerstreut stehen in der Welt, sondern sich erreichen können und verabreden, und einen Bund des Verderbens in der Verkehrtheit ihres Herzens schließen gegen die Jünger und Diener des Herrn: so lange auch noch werden gegen einander aufstehen Vater und Sohn, und Mutter und Tochter, und Bruder und Schwester. So, m. g. F., hatte es der Erlöser selbst, und nicht besser, in seinem eigenen Hause eine gläubige Mutter und ungläubige | Brüder, in seinem eigenen Volke Stammesgenossen, die es wohl fühlten, so habe noch keiner geredet wie dieser und eine andere Weisheit bringe er, als ihre Schriftgelehrten und Pharisäer, und solche, welche sagten, er treibe die bösen Geister aus durch den obersten derselben; solche, die vor ihm niederfielen, und Heil erbaten für Leib und Seele von dem Sohne Davids, und solche die ihn seinen Richtern überlieferten, sagend, er habe Gott gelästert. Wenn aber, m. g. F., der Erlöser sagt: wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht werth: o m. g. F., so liegt uns zuerst | ob, das Kreuz des Herrn heilig zu halten; und wenn wir auf uns, sei es nun Großes oder Geringes, was uns dieser Art begegnet, das Wort des Herrn anwenden wollen, uns tiefprüfend zu fragen: ist es auch das Kreuz des Herrn, was du glaubst und hoffst zu tragen? hast du nichts gethan, als sein Wort verkündigt? hast du nichts gewollt als den Menschen zurufen und sie loken in das Reich Gottes, welches ihnen so nahe gestanden ist? hast du nichts Menschliches gesucht, sondern nur Göttliches? hast du nicht dich selbst gemeint, sondern nur den Herrn? hast du nichts hinzugethan von deinem Eige|nen? sondern nur, wie auch der Herr sagt, des Menschen Sohn kann nicht reden von ihm selbst, sondern nur was er von dem Vater gehört hat, das redet er, kannst auch du so von dir sagen: nichts anderes hast du den Menschen geredet als das Wort des Herrn, kein anderes Gesez ihnen vorgehalten, als das neue Gebot der Liebe, woran alle erkennen sollen, daß wir seine Jünger sind? Und wenn wir uns 1 sie die] so SW II/10, S. 310; Textzeuge: in die Textzeuge: verachtet

3 erachtet] so SAr 60, Bl. 216r;

14 Vgl. Joh 7,5 15–16 Vgl. Mt 7,29; 13,54; Mk 1,22; Mk 6,2 16–17 Vgl. Mt 9,34; 12,24; Mk 3,22; Lk 11,15 18–19 Vgl. Mt 9,27; 15,22.25; 20,30.31; Mk 3,11; 7,25; 10,47.48; Lk 18,38.39 19–20 Vgl. Mt 26,61–66 31–32 Vgl. Joh 14,10.24 34–35 Vgl. Joh 13,34–35

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dann dieses Zeugniß geben können, m. g. F., o dann laßt uns, damit wir seiner werth seien, unser Kreuz auf uns nehmen und es tragend ihm nachfolgen, das heißt, es tragen wie er es getragen hat. | Und wie hat er es getragen, m. g. F.? So wie alle diejenigen, die uns sein heiliges Leben beschreiben, ihm das Zeugniß davon gegeben haben, so daß nie in einem Augenblik sein Glaube an das Werk, welches ihm sein Vater befohlen hatte zu thun, aufhörte oder sich schwächte, so daß er, als die Töchter Jerusalems, da er sein Kreuz trug und den Weg des Todes ging, ihm weinend nachfolgten, zu ihnen sprach: „Weinet nicht über mich, sondern über euch, und über eure Kinder“, daß das Herz erfüllt auf der einen Seite mit tiefem Mitleid gegen diejenigen, die, weil sie | das Wort Gottes von sich gestoßen, auch den göttlichen Beistand von sich stießen, und sich selbst dem Verderben ergaben, welches früher oder später diejenigen treffen muß, die gegen Gott streiten; auf der andern Seite voll von dem festen herrlichen Glauben, der nicht auf das sieht, was da hinten ist, sondern auf das, was vor uns liegt, und mit gen Himmel gerichtetem Blike die Zuversicht in sich trägt, daß der Herr alles herrlich werde hinausführen. Und sind wir, m. g. F., durchdrungen von dem Bilde unseres Herrn, wie ihn die Schrift uns malt in allen einzelnen Zügen, hat das Schwert seines Wortes in uns den alten | Menschen getödtet, und ist der neue erstarkt dadurch, daß der Herr mit seinem Vater gekommen ist Wohnung in dem gläubigen Herzen zu machen: o so ist das so sehr die natürliche Gemüthsstimmung des Khristen, daß wir uns fragen müssen: wie könnte wohl der Jünger anders als sein Meister und wozu ist es, daß der Herr, eben nachdem er das Wesentliche seines Wortes seinen Jüngern auseinander gesetzt hat, ihnen doch noch diese Ermahnung zu geben für nöthig hält, diese drohende Ermahnung, wer sein Kreuz nicht auf sich nehme und folge ihm nach, der sei seiner nicht werth. Das ist die zweite Frage, die | wir uns beantworten wollen, und über welche uns der andere Zusammenhang, in dem diese Worte vorkommen, den besten Aufschluß giebt. II. Es war, m. g. F., der reine und echte Glaube an den Erlöser, der felsenfeste Grund, auf welchem seine ganze Kirche erbaut ist, der aus dem Apostel Petrus sprach, als er dem Herrn antwortete: wir aber wissen, daß du bist Khristus, der Sohn des lebendigen Gottes. Und doch als der Erlöser nun von seiner nächsten Zukunft redete, als er ihn darauf gefaßt machte, daß auch der Sohn des lebendigen Gottes in seine Herrlichkeit nur eingehen | könne 3 wie ... getragen] Ergänzung aus SW II/10, S. 311 und SAr 60, Bl. 216v 9–10 Lk 23,28 15 Vgl. Phil 3,13 20–21 Vgl. Joh 14,23 23 Vgl. Mt 10,25 32–35 Vgl. Mt 16,16.18 34–35 Vgl. Mt 16,16; auch Joh 6,69 37–1 Vgl. Mt 16,21

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durch Trübsal und Leiden: da erschrak der feste, standhafte und gläubige Jünger, und sprach: „Herr das widerfahre dir nicht“, und darauf traf ihn die harte Rede, die der Erlöser nun mit den Worten unseres Textes beschließt: „denn wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der kann mein Jünger nicht sein.“ Was war es denn, m. g. F., was so schnell den Apostel aus dem zuversichtlichen Glauben in die bange Besorgniß versezte? An sich selbst dachte er dabei nicht, daß auch er könnte mit verwikelt werden in dasjenige, wovon der Herr sagte, daß es ihm so nahe bevorstehe, wir | haben keine Spur davon, daß es ihm eingefallen sei. Aber „Herr das widerfahre dir nicht“, das war der unwillkürliche Ausdruk seines Herzens. So ist es nun auch unter uns, m. g. F. Feigherzig, um sein eigenes Leben und sein irdisches Wohlbefinden besorgt kann der Khrist nicht sein. „Wer sein Leben sucht, der wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert, der wird es erhalten“, das ist sein Wahlspruch von dem ersten Anfang des Glaubens an, und sobald er die Seligkeit des ewigen Lebens, welches der Gläubige hat, wie der Erlöser sagt, sobald er diese geschmekt hat, so fühlt er es auch in Wahrheit, und eben das ist sein innerstes theu|erstes Lebensgefühl, daß alle Leiden dieser Zeit nicht werth sind der Herrlichkeit, die ihm schon offenbart ist in seinem Innern. Aber „Herr, das widerfahre dir nicht“, das ist die Klippe, an welcher wir alle in Gefahr sind zu scheitern. Um die zu vermeiden, müssen auch wir uns die harte Rede des Herrn aneignen, um die zu vermeiden, müssen auch wir die Ermahnung zu Herzen nehmen: Wer nicht sein Kreuz auf sich nimmt und folget mir nach, der ist meiner nicht werth. Gar zu leicht, eben indem wir nichts anderes suchen als die Sache unseres Herrn und das Wohl seines Reiches auf Erden, | fürchten wir doch, daß, wenn uns selbst etwas Menschliches begegnet, der Herr dadurch schon leiden möchte, und aus keinem andern Grunde als aus dieser Besorgniß für seine Sache und sein Reich, aus welcher auch Petrus ausrief: „Herr das widerfahre dir nicht“, suchen wir uns zu schonen und das Kreuz von uns zu weisen, welches wir auf uns nehmen sollen. Ja wir werden es nicht leugnen können, m. g. F., das ist die Versuchung, an welcher, so es möglich wäre, auch die Gläubigen scheiterten und zu Schanden würden. Je mehr wir nichts anders wollen und suchen als unserem Erlöser zu dienen und sein Reich auf Erden zu fördern, je mehr | wir uns demüthig und bescheiden an dem geringen Theil, welches irgend einem einzelnen hier zugewiesen ist, genügen lassen, je mehr wir das als den herrrlichsten Beweis seiner Gnade fühlen, wenn auch durch unser Wort, verwundend und heilend, der Segen des göttlichen Wortes in die Seelen der Menschen dringt; wenn der Geist der Liebe sich auch aus unserem Leben den Menschen bewährt, und sie mit den heiligsten Banden zusammenknüpft, je mehr wir uns darüber 2.8–9.14.28–29 Mt 16,22 4–5 Vgl. Mt 16,24; Lk 14,27 15–16 Vgl. Joh 5,24 18–19 Vgl. Röm 8,18

12–14 Vgl. Mt 16,25

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freuen, und nichts anderes suchen als dies: o desto weniger möchten wir scheiden von dieser süßen Gewohnheit des höheren geistigen Lebens, | desto weniger wollen wir, daß irgend etwas untergehe in dem Dienste des Opfers und des Gehorsams, welchen wir dem so gern bringen wollen, der auch uns zur Erlösung und zur Gerechtigkeit geworden ist, und so schleicht sich die Sünde und der Verrath an dem Herrn ein in das Herz auch derer, die ihn lieben, und ihn loben. Denn der Herr sagt zu seinem Jünger: „du suchest nicht was göttlich ist, sondern was menschlich ist.“ Denn derjenige, der auf irgend eine solche Art sich selbst schonen will, und das Kreuz nicht auf sich nehmen, welches seine bisherige Wirksamkeit unterbrechen könnte, der diese zu schonen | glaubt in der reinsten Absicht, damit das Reich Gottes keinen Schaden leide, der sucht doch was menschlich ist und nicht was göttlich ist. Denn, m. g. F., wären wir recht durchdrungen von dem Göttlichen, von dem Bewußtsein desselben und von dem Verlangen darnach, hätten wir den Vater, den großen Schöpfer aller Dinge, der alles trägt und erhält mit seinem kräftigen Wort, und den der Erlöser in unser Herz bringt um Wohnung darin zu machen, hätten wir den immer lebendig und gegenwärtig in unserer Seele, wie könnten wir wohl bange sein, daß seinem Reiche irgend ein Schade widerfahren könnte? Wie könnten | wir bange sein, daß irgend wie seine ewigen Rathschlüsse könnten gestört werden in ihrer Erfüllung? Müßten wir nicht, wie der Herr dereinst sagte: „wenn diese nicht redeten, so würden die Steine schreien“, ebenfalls zu uns selbst sagen, wenn auch du nicht mehr kannst und darfst den Dienst in dem Heiligthum des Herrn verrichten, den du so gern leistest, wenn auch du nicht mehr kannst auf die gewohnte Weise an dem Reiche Gottes arbeiten: o der Allmächtige richtet sich neue Werkzeuge zu da, wo man es am wenigsten erwartet; das ewige Wort, welches einmal Fleisch geworden ist, ist nun eingedrungen in die innersten Tiefen | der menschlichen Natur, ja man möchte sagen der Erde, die wir bewohnen, und überall wird es sich hören lassen und ausbreiten, wenn auch du verstummen mußt. Und wie der Herr ein andermal sagt, als ihm der Versucher zuredete, er möge doch den Herrn bitten, so würden diese Steine Brot werden: „der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“: sollten wir nicht, wenn wir recht durchdrungen sind von dieser göttlichen Kraft, zu uns selbst sagen, „auch von dem göttlichen geistigen Brot, welches wir genießen, wovon | wir uns stärken, wenn wir dem Herrn dienen in unserem Leben, auch von dem lebt der Mensch nicht allein, Ein Wort 5 Gerechtigkeit] so SW /10, S. 314 und SAr 60, Bl. 218r; Textzeuge: Herrlichkeit 20 wie] so SW II/10, S. 315; Textzeuge: in 4–5 Vgl. 1Kor 1,30 7–8 Vgl. Mt 16,23 15–16 Vgl. Hebr 1,3 Joh 14,23 21–22 Vgl. Lk 19,40 27 Joh 1,14 32–34 Mt 4,4

16–17 Vgl.

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giebt es, Ein Wort aus dem göttlichen Munde, davon allein lebt er immer: „wie könnte ich ein so großes Uebel thun und wider den Herrn, meinen Gott sündigen,“ wie könnte ich Böses thun, damit Gutes herauskomme, oder wie könnte ich das Böse anders überwinden wollen als mit dem Guten.“ Wenn er das zu sich sagt, dann nimmt er sein Kreuz auf sich, wo er Böses thun müßte, um es nicht zu tragen, wo er auch nur einmal den Dienst Gott seinem Herrn versagen müßte, den er ihm schuldig | ist, wo auch nur einmal mit seinem Wissen ein Wort aus seinem Munde gehen müßte, welches er nicht verantworten könnte vor seinem Herrn und Meister, wo er auch nur einmal schweigen müßte, wenn er den Beruf hat zu reden. Denn wer das nicht will, wer da zaghaft zittert für das Reich Gottes, der sucht nicht dieses allein, sondern es ist in dem Innersten seiner Seele etwas Menschliches; das möge er aufsuchen an dem Lichte des göttlichen Wortes, und es dem Herrn bringen zum Opfer, daß nur das Göttliche ihn erfülle, und dieses allein sein Ziel sei, und sein Bestreben. So, m. g. F., suchte der | Herr nur das Göttliche, und nicht das Menschliche, und wie wenig ihm auch sein menschliches Auge zeigen konnte von dem, was er auf Erden schon ausgerichtet hatte, wie sehr er auch menschlicher Weise wünschen mußte, noch länger und kräftiger wirksam zu sein auf Erden, dennoch schwieg er nicht als er mußte sagen oder leugnen, ob er sei Khristus der Sohn Gottes, sondern Ja sagte er, wiewohl er wußte, daß dies seinem irdischen Wirken ein Ende machte, und der Anfang sei, seines Aufgenommenwerdens, wenn auch in den Himmel, doch auf immer hinweg von dem Werk, welches zu fördern er bestimmt war. | Und so sollen wir dem Herrn nachfolgen, und eben so sein Kreuz auf uns nehmen, wenn wir wollen seiner werth sein, nicht gedenken dessen, was wir vielleicht noch Gutes thun könnten und wirken, wenn wir diese oder jene menschliche Wiederwärtigkeit könnten von uns fern halten; sondern fest überzeugt sein, daß der das Reich Gottes nicht fördern kann, daß dem die Kraft des Glaubens gelähmt ist und immer mehr gelähmt werden muß, der einmal das Göttliche hintangesezt hat um irgend ein Menschliches zu suchen, der einmal um eines Erfolges willen, sei er auch noch so rein, von | der einfältigen Bahn des treuen Gehorsams gegen den Erlöser gewichen ist. O, m. g. F., so lange dem Reiche Gottes auf Erden noch Kämpfe bevorstehen der einen oder der andern Art, so ist es wichtig und nothwendig, daß wir uns oft diese Ermahnung des Herrn zurufen. Jeder hat den angewiesenen Kreis seines besondern Berufs in der menschlichen Gesellschaft, und den allgemeinen Beruf als Mitglied in dem Reiche des Herrn. Wer in jenem etwas versäumt, und nicht thut das Gute, was ihm vorhanden liegt zu thun in Rüksicht auf irgend eine bessere Zukunft; wer in diesem schweigt und nicht redet, was die Wahrheit seines 2–3 Gen 39,9 Lk 22,70

4 Vgl. Röm 12,21

20–21 Vgl. Mt 26,63–64; Mk 14,61–62;

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innersten | Gemüths ist, damit etwas abgewendet werde, was ihm seine längere und weitere Wirksamkeit stören könnte, der versagt dem Herrn das Kreuz zu tragen, welches er ihm auflegen will, und indem er das versäumt, was ihm obliegt, so nimmt er eine Rechenschaft auf, die er nicht tragen soll. Denn wie der Herr dies oder jenes lenken will, das ist sein allein und nicht unser. Unser ist reden und thun nach seinem heiligen Willen, was uns obliegt, und wenn es sein Wille ist durch Leiden festhalten die Herrlichkeit eines guten Gewissens und des unverlezten Bundes der Treue, den | wir geschlossen haben mit demjenigen, in welchem allein Heil zu finden ist, und welchem allein sei Preis und Ehre in Ewigkeit. Amen.

[Liederblatt vom 4. November 1821:] Am 20. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Gott des Himmels etc. [1.] Dankt dem Herrn ihr Gottesknechte, / Kommt erhebet seinen Ruhm! / Das erlösete Geschlechte / Ist und bleibt sein Eigenthum; / Jesus Christus ist noch heut / Gestern und in Ewigkeit. // [2.] Segnend walten nun die Hände / Eures Gottes euch zum Heil, / Seine Liebe sonder Ende / Reichet jeglichem sein Theil, / Er bleibt allen zugewandt / Die durch Jesum ihn erkannt. // [3.] Haltet nur in allen Dingen / Euch nach unsres Gottes Treu! / Laßt euch nichts zur Freude bringen / Eh euch unser Gott erfreu! / Und betrifft euch Schmerz und Noth, / Jesus steht für euch zu Gott. // [4.] Alle die auf Menschen bauen, / Sehn zu Grund in ihrem Wahn; / Nur die unserm Gott vertrauen, / Wandeln auf der sichern Bahn. / Jesu Jüngern wird bekannt / Gottes Hülf und starke Hand. // (Neuß.) Nach dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne etc. [1.] Dem Heiland nach, mein Geist und Herz, / Auf seinen Dornenwegen! / Bekämpfe muthig Leid und Schmerz; / Auf Siege folget Segen! / Nur fröhlich aufgefaßt / Die leichte Liebeslast! / Sind doch die Leiden dieser Zeit / Nicht werth der künftgen Herrlichkeit. // [2.] Du Herr siehst meine Schwachheit an / Du kennest mein Vermögen, / Und mehr als ich ertragen kann / Wirst du nicht auferlegen. / Leg auf, ich halte still; / Denn was dein Rathschluß will, / Das ist mein allerbestes Theil, / Du willst der Deinen wahres Heil. // [3.] Du selber gingst zu Ehren ein / Durch Schmerz und bittres Leiden; / Wie könnt ich wol dein Jünger sein / Wollt ich in Rosen weiden? / Der Himmelslilien Glanz / Wächst aus dem Dornenkranz; / Dem, der die Schmach des Kreuzes trägt, / Wird Herrlichkeit dort beigelegt. // [4.] Wie ständ es um der Gärten Pracht, / Wenn alle Lüfte schliefen? / Nur Sturm und sanftes Wehen macht, / Daß sie von Balsam triefen. / Doch auch im Sturm bist du, / Herr, meiner Seele Ruh, / Die Sonne, die mich mild ergötzt, / Wenn mich des Kreuzes

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Druck verletzt. // [5.] Ja Heiland du bist Schirm und Schild / Den Gläubigen auf Erden, / Die deinem frommen Leidensbild / Hier sollen ähnlich werden, / Eh sie die Herrlichkeit / Der künftgen Welt erfreut, / Die dem die Siegespalme reicht, / Der dir im Kampf des Leidens gleicht. // [6.] Mein Herz kann diese Leidensehr, / O Jesu, kaum recht fassen. / Doch reiche mir die Bürde her! / Wer kann sein Heil wol hassen? / Mit Jesu hier gehöhnt, / Mit Jesu dort gekrönt; / Mit Jesu hier am Kreuz gedrückt, / Mit Jesu ewig dort erquickt. // (Deßler.) Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Dich will ich immer treuer lieben / Mein Heiland, gieb mir Kraft dazu, / Will mich in deinen Wegen üben, / Denn nur bei dir ist wahre Ruh. / Die Ruh, mit der nichts zu vergleichen, / Der alle Herrlichkeiten weichen, / Die uns schon hier den Himmel giebt! / Ach nimm für alle deine Treue / Mein Herz, das dir allein ich weihe, / Und ewig bleib’s von dir geliebt. //

Am 11. November 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

21. Sonntag nach Trinitatis, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Petr 1,19–21 Nachschrift; SAr 81, Bl. 19v–37v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 159r–170r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 96v; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 219r–222r; Woltersdorff Ende der vom 8. Juli 1821 an gehaltenen Homilienreihe über den 2. Petrusbrief (vgl. Einleitung, I.4.B.)

Frühpredigt am einundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. 2. Petri I, 19–21. Wir haben ein festes prophetisches Wort, und ihr thut wohl daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in eurem Herzen. Und das sollt ihr für das erste wissen, daß keine Weissagung in der Schrift geschieht aus eigener Auslegung. Denn es ist noch nie eine Weissagung aus menschlichem Willen hervorgebracht, sondern die heiligen Menschen Gottes haben geredet, getrieben von dem heiligen Geist.

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Der Apostel, m. a. F., hatte in den vorhergehenden Worten | zu den Khristen, an welche sein Brief gerichtet ist, gesagt, er habe nicht den klugen Fabeln gefolgt, als er ihnen das Evangelium von Khristo verkündigt, und sich dabei berufen auf das besondere Wort Gottes, welches ihm und seinen Genossen geworden durch eine Stimme vom Himmel bei der Verklärung unseres Herrn. Aber indem er wohl fühlt, daß dies als etwas Besonderes mehr ein Wort Gottes an ihn gewesen war als ein allgemeines, so weiset er die Khristen nun als Fortsezung seiner früheren Rede, daß er nicht den klugen Fabeln gefolgt sei, als er ihnen kund gethan die Kraft und Zukunft Khristi, | sondern seine Herrlichkeit selbst gesehen habe; er weiset sie an

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2 Te x t .] darüber von Schleiermachers Hand: Am 21. S. n. Trin. 1821. keine 11–19 Vgl. 2Petr 1,16–18

13–15 Vgl. Mt 17,5

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das feste prophetische Wort, wobei er allerdings damals nur im Auge haben konnte das Wort Gottes im alten Bunde, und die Verkündigung vom Reiche Gottes, die in demselben enthalten ist. Allein was er sagt, das können wir auf jedes Wort Gottes und am meisten auf dasjenige, welches in den Büchern des neuen Bundes enthalten ist, anwenden. Denn wie in dem Briefe an die Hebräer gesagt wird: nachdem Gott vor Zeiten manchmal und auf mancherlei Weise zu den Vätern geredet, habe er zulezt geredet durch seinen Sohn, und also die Ankunft des Herrn, das | unmittelbarste Wort Gottes war, welches an die Menschen erging, so sagt ja der Herr selbst, daß der Geist, den er seinen Jüngern senden werde, und in dessen Kraft sie geschikt sein sollten seine Zeugen zu sein auf Erden, es nur von dem Seinigen nehmen werde und ihnen verklären. Und wenn von den Propheten des alten Bundes gesagt wird, daß der Geist Gottes über sie kommt, und das Wort des Herrn zu ihnen geschah: so also als ob sie diesen Geist nicht immer hätten in sich gehabt, und das Wort Gottes auch nicht immer in sich wohnend, sondern nur vorübergehend in solchen Augenbliken, wo sie bestimmt | waren in dem Namen des Herrn zu reden, geschah das Wort Gottes an sie; von den Jüngern des Herrn aber gesagt wird, daß sie den Geist des Herrn in sich wohnen hatten: so können wir also umso mehr und mit noch stärkerem Rechte alles, was der Apostel in diesen Worten sagt auf dasjenige Wort Gottes anwenden, welches uns in den heiligen Büchern des neuen Bundes übergeben ist. Er redet aber in den verlesenen Worten zuerst von dem Ursprung und von der Beschaffenheit des göttlichen Worts, dann aber auch von dem, was durch dasselbe an uns soll erreicht werden, und auf beides laßt uns jezt unsere khristliche Aufmerksamkeit richten. | I. Zuerst also redet der Apostel von dem Ursprung und von der Beschaffenheit des göttlichen Wortes, indem er sagt: wir haben ein festes prophetisches Wort, und ihr thut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheint in einem dunkeln Ort. Wir können diese Worte nicht lesen ohne uns versichert zu halten, es sei die Meinung des Apostels, daß es kein anderes Licht gäbe als das des göttlichen Wortes. Denn wenn es noch ein anderes gäbe, so könnte er nicht davon sagen, daß es scheine an einem dunkeln Ort, sondern es schiene dann heller vielleicht, reiner glänzend aber doch an einem Ort, der | durch ein anderes Licht erleuchtet wird. Licht und Finsterniß, das ist es, was die heilige Schrift beständig entgegensezt, das ist der Gegensaz, m. g. F., den auch wir alle sowohl in der tiefsten Tiefe unseres Gemüths, als auch in allem, was sich aus demselben offenbart, erkennen. Wie es Licht oder Finsterniß ist, was in uns wohnt, so auch gehen von uns 6–8 Vgl. Hebr 1,1–2 10–12 Vgl. Joh 16,13–14 10–11 Vgl. Apg 1,8 14 Vgl. z. B. 1Sam 10,10; Jer 1,4 35–36 Vgl. z. B. Gen 1,4; Joh 1,5

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aus Werke des Lichts und Werke der Finsterniß, und ein drittes, was zwischen beiden läge, giebt es nicht, ausgenommen, daß der dunkle Ort der menschlichen Seele, in welchen das Wort Gottes hineinscheint, nie so vollkommen von demselben durchdrungen wird, und also auch nie so vollkommen erleuchtet ist, | wie der, welcher selbst das versinnlichte Wort Gottes war, und der, der sich selbst das Licht nannte, es ist gewesen. Daß also das Licht in uns und die Werke des Lichtes, die aus uns hervorgehen, immer noch die Spuren der Finsterniß an sich tragen, die von dem Lichte müssen erleuchtet werden. Also darüber läßt uns der Apostel keinen Zweifel, daß alles, was Licht ist in der menschlichen Seele und in dem Geschlecht der Menschen, von dem festen prophetischen Worte Gottes ausgegangen ist, und daß ohne dieses unser ganzes Leben und unser ganzes Wesen dunkel sein würde. Eben dies, m. g. F., ist aber ein Gegenstand des Zweifels gar häufig gewesen, und er|scheint auch jezt noch vielen und nicht etwa ungläubigen und verfinsterten Gemüthern auf mancherlei Weise bedenklich. Wenn wir nämlich zurükgehen sowohl in die vergangenen Zeiten des menschlichen Geschlechts, als auch wenn wir überlegen und näher betrachten, was um uns her ist, und die eigenthümliche Beschaffenheit unseres eigenen Lebens und Seins: so erkennen wir freilich den Gegensaz zwischen Licht und Finsterniß, aber Vieles, was uns die Stimme unseres Herzens als Licht zu erkennen giebt, als Wahrheit, die den Menschen zum Guten leitet, scheint uns doch hervorgegangen zu sein aus dem eigenen Innern der Menschen, und nicht abgeleitet aus dem prophe|tischen Worte Gottes, auf welches der Apostel uns hinweist, wie denn auch der Apostel Paulus das selbst anerkennt, indem er von den Menschen sagt im Allgemeinen, daß Gott sei, das sei ihnen offenbar; denn es sei ihnen offenbart durch die Werke der Schöpfung, so sie darauf achten wollten; und da redet er nicht davon, daß erst das besondere Licht des göttlichen Worts ihnen dabei zu Hülfe kommen müsse, sondern er redet eben diese Worte in Beziehung auf die Heiden, welche die Stimme der Offenbarung Gottes nicht hatten, und sagt doch, daß Gott sich ihnen offenbart habe durch die Schöpfung der Welt, so sie dieß wahrnehmen | wollten an seinen Werken, und führt also die Erkenntniß des Menschen von Gott auf ihre eigene Wahrnehmung zurük; wogegen der Apostel Petrus in den Worten unseres Textes sagt, es gäbe kein anderes Licht als das, welches uns allen in dem festen prophetischen Worte Gottes scheint. Wie bringen wir nun beides mit einander in Uebereinstimmung? Gewiß, m. g. F., nur auf die Weise, daß wir noch weiter zurükgehen auf dasjenige, was uns das Wort Gottes lehrt von der Schöpfung des Menschen und von dem ersten Beginn des menschlichen Ge1 Röm 13,12; Eph 5,11

6 Vgl. Joh 8,12

26–27 Vgl. Röm 1,19–20

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schlechts. Denn da steht geschrieben, daß Gott der Herr dem Menschen eingehaucht habe, eine leben|dige Seele, daß also das Vermögen, welches der Mensch hat, Gott wahrzunehmen aus seinen Werken, weil nämlich Gott sich ihm offenbart hat, so daß, wie der Apostel Paulus an einem andern Orte sagt, er Alles in der Welt so geordnet hat, ob die Menschen etwa dadurch ihn fühlen und finden möchten, und daß er das Vermögen ihn zu fühlen und zu finden und die Sehnsucht darnach in ihre Seele gelegt hat, das ist nichts anderes gewesen als die ursprüngliche Offenbarung Gottes, das war der Geist, den Gott dem Menschen eingehaucht hat. Aber wenn der Apostel Paulus sagt: sie haben hernach diese Offenbarung Gottes, diese innere | Wahrheit, die ihnen der Herr mitgegeben, durch Ungerechtigkeit verkehrt, und das Bild Gottes in ihrer Seele verunstaltet: das war ein schwaches Licht, welches so ursprünglich in der menschlichen Seele schien, wie wohl auch das Licht des göttlichen Wortes, und es wurde entstellt durch Ungerechtigkeit, und die Dunkelheit nahm überhand in der menschlichen Seele, und nachdem dieses geschehen, so hat sich das Wort Gottes erneuert durch die folgenden Offenbarungen Gottes, welche die Menschen aber nicht fähig gewesen wären zu erfahren, und der Geist Gottes wäre nicht fähig gewesen, sich in ihnen und aus ihnen | eine Stimme zu bereiten, wenn nicht die ursprüngliche Offenbarung Gottes vorangegangen wäre. Was also mit demjenigen zusammenhängt, wodurch das ursprüngliche Wort Gottes in der menschlichen Seele ist getrübt worden mit der Lust, die sich wieder den göttlichen Geist erhebt, das ist die Dunkelheit in der menschlichen Seele. Daß aber der Mensch vernehmen kann die Offenbarung Gottes sowohl in der Schöpfung, welche das ursprüngliche Wort Gottes ist; denn durch Gottes Wort ist die Welt geworden, als auch durch das prophetische Wort, welches der Herr in die Seele des Menschen gelegt: das ist das Licht, welches an einem | dunklen Orte scheint. Und eben dies, m. g. F., giebt uns der Apostel noch weiter zu vernehmen, in den folgenden Worten unseres Textes, indem er sagt: keine Weissagung, das heißt keine Kunde jenes festen prophetischen Wortes, worauf wir trauen, ist aus dem menschlichen Willen hervorgegangen; sondern die heiligen Männer Gottes haben geredet, getrieben von dem heiligen Geist. Diese Worte, m. g. F., sind nichts anders als die natürliche und nothwendige Fortsezung von jenen, indem sie uns lehren, was aus dem Willen des Menschen hervorgeht, das sei nicht das Werk des Lichts; denn aus dem menschlichen Willen sei kein Theil des göttlichen | Wortes hervorgegangen, sondern nur wenn der Mensch getrieben wird von dem heiligen Geist, daraus werden die einzelnen Theile und Elemente jenes göttlichen Worts zusammengesezt. Wenn andererwärts die Schrift sagt, daß der Mensch Gottes, der wir doch alle 1–2 Vgl. Gen 2,7 17 Vgl. Röm 3,21

5 Vgl. Apg 17, 26–27 10–16 Vgl. Röm 1,18–23 26 Vgl. Gen 1,1–2,4 40–1 Vgl. 2Tim 3,17

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werden sollen, geschikt sein müsse zu einem jeglichen guten Werk, und wir alle unsere Werke doch zurükführen auf unseren Willen, so scheint auch in diesen Worten die Schrift zu sagen, daß aus dem Willen des Menschen allerdings hervorgehen könne das Gute und Herrliche; denn ein Werk Gottes, das ist auch ein Licht, das da scheinet in einem dunklen | Ort, weil es auf einem Worte Gottes ruht. Aber der Wille, der den Menschen geschikt macht und geschikt beweist zu einem jeglichen guten Werk, das ist der Wille, der von dem göttlichen Worte erleuchtet ist, das göttliche Wort selbst aber geht nicht aus dem Willen des Menschen hervor; sondern diejenigen, welche uns die Offenbarungen Gottes mitgetheilt haben, die haben geredet, getrieben von dem heiligen Geist. Auch wir, m. g. F., machen diesen Unterschied in uns selbst, in sofern wir dasjenige vorzüglich unserem Willen als dem menschlichen Willen zuschreiben, wobei Statt findet ein Ueberlegen hin und her, ein Auswählen des Besten, ein Abwägen der Gründe. | Was ist das aber anderes, m. g. F., als ein Beweis von dem Zweifel und von der Unsicherheit, die noch in der menschlichen Seele ist? Und woher kommt Zweifel und Unsicherheit anders als von der Finsterniß des Geistes und von der Dunkelheit des Orts, in welchem das Licht noch nicht scheint? denn wenn das Licht hineinscheint, so findet der Mensch das Wahre und Rechte, und zweifelt nicht. Was also aus dem menschlichen Willen hervorgeht, das geht noch aus dem Zweifel und der Unsicherheit hervor, und ist deswegen Dunkelheit. Wenn aber eine innere Gewißheit, wenn aber eine höhere Nothwendigkeit, der nichts | in der Seele widersteht, den Menschen treibt, das ist der Geist Gottes. Denn indem der Apostel, hier nur zu solchen Menschen redet, welche Licht und Finsterniß zu unterscheiden wissen, so sezt er auch voraus, daß das Böse und das Verkehrte in den Menschen etwas findet, was ihnen entgegensteht. Wenn also die Lust in dem Menschen aufgeht die Bewegungen, welche dem göttlichen Geiste zuwider sind, so sind das auch Bewegungen, die nicht aus dem Lichte hervorgehen; aber in ihrem ersten Entstehen finden sie etwas in der Seele, was ihnen widerspricht, und das ist die erste dunkle Stimme des göttlichen Wortes, | welche durch das göttliche Licht erregt wird; und dann entstehen in der menschlichen Seele die Gedanken, die sich unter einander verklagen und entschuldigen, und was aus diesen hervorgeht, das wird ein Werk des menschlichen Willens. Aber wenn der Geist Gottes rein und ursprünglich waltet in der menschlichen Seele, dann fühlt sich der Mensch von ihm getrieben, und was aus diesem reinen Triebe des göttlichen Geistes hervorgeht, das ist auch ein reines Werk dieses Geistes. Und so finden wir es in dem Leben und Wirken unsers Erlösers. Der war immer getrieben von dem göttlichen Geist, und eben | so seine Jünger, wo sie in seinem Namen 22 eine innere] ein innerer 33–34 Vgl. Röm 2,15

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redeten, und eben so ihr Wort, welches sie den Menschen verkündigten und die Werke, die sie vollbrachten.

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II. Und dies, m. g. F., bahnt uns den Weg zu unserer zweiten Betrachtung, von dem, was durch das göttliche Wort in unserer Seele soll erreicht werden. Das finden wir in den Worten des Apostels: „Ihr thut wohl, daß ihr darauf achtet, nämlich auf das feste prophetische Wort, als auf ein Licht, das da scheint in einem dunklen Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in eurem Herzen.“ Der Anfang | also von dem Geschäfte des göttlichen Worts in uns, das ist dies, daß es als ein Licht hineinscheint in den dunklen Ort unserer Seele; die Fortsezung ist diese, daß wir darauf trauen, und uns das Licht leuchten lassen auf unserem Wege, damit alles, was durch die Verkehrtheit des menschlichen Willens, durch den Zwiespalt zwischen Licht und Finsterniß in unserer Seele entsteht, immer mehr ein Werk des Lichtes werde; aber das Ende – denn dabei sagt der Apostel ja sollen wir nicht stehen bleiben, sondern auf das feste prophetische Wort trauen bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe, in unse|ren Herzen, das heißt also durch das göttliche Wort und das Hineinscheinen desselben in den dunklen Ort unserer Seele, und durch das gläubige Vertrauen, welches wir auf dasselbige sezen, soll es dahin kommen, daß allmälig das Licht des göttlichen Wortes in unserem eigenen Herzen anbreche, indem der Morgenstern darin anfängt aufzugehen, damit der dunkle Ort nicht mehr sei, sondern wir das Licht selbst wohnen haben in unserem Innern – das ist das Ziel, welches das Wort Gottes in uns selbst erreicht, so will es unser Eigenthum werden, und das soll das Ende und das Ziel desselben sein, daß es in uns selbst Licht | werde. Zuerst also, m. g. F., ist es für uns alle ein Äußerliches; wir vernehmen seine Stimme, sie dringt zu unserem Ohr durch das Wort Gottes und durch diejenigen, die uns dasselbige verkündigen. So scheint es in dem dunklen Ort, und erwekt in demselben das Gefühl für den Unterschied zwischen Licht und Finsterniß. Und wenn dann die Seele anfängt die Finsterniß zu verabscheuen und sich nach dem Lichte zu sehnen, dann strekt sie sich nach demjenigen, was in den dunklen Ort hineinscheint, und das Wort, welches dann zu ihr geredet wird, geht nach und nach in sie über. In dem Maaße | als sie dem traut, und nicht gelokt wird durch die dunklen Mächte in der Seele selbst und in dem Leben, in welches wir gesezt sind, in dem Maaße treibt sie das göttliche Wort, wenn sie dem Schein des Lichtes folgt, der aus demselben in der Seele entsteht; und so entsagt sie immer mehr den Werken der Finsterniß, und wird gehorsam der Stimme des göttlichen Geistes. Aber wie geschikt auch der Mensch auf 12 Vgl. Ps 119,105

38 Vgl. Röm 13,12

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diese Weise werde das Wort Gottes zu vernehmen, wie stark er auch sei in der Befolgung desselben, wenn er dabei stehen bleibt, so hat die Seele das Werk doch nicht vollendet, welches ihr aufgetragen ist; sondern | sie soll selbst Licht werden und das Licht die Finsterniß aus ihr vertreiben: dann leuchtet das Licht, welches die menschliche Seele erfüllt nicht mehr als ein äußerliches in dem dunklen Ort, der in ihr ist, sondern es scheint aus ihr heraus in den dunklen Ort hinein, der sie umgiebt, das Licht des göttlichen Wortes, welches in ihr selbst wohnt, wird im Stande sein auch andere Seelen zu erleuchten, sie empfänglich zu machen für den Unterschied zwischen dem Lichte und der Finsterniß, ihnen selbst Licht zu werden auf dem Wege des Lebens, und als das Wort Gottes, welches ursprünglich zu uns geredet ist, von dem | Sohne Gottes durch seine Jünger, sich immer weiter auszubreiten in der Welt, und seinen heilsamen Schein in die menschlichen Seelen zu senden. Wenn dann der Tag in uns aufgeht und der Morgenstern hervorbricht, der da andeutet, daß die Sonne aufgehen werde in dem Herzen, was, m. g. F, was sind wir dann selbst anders als auch Menschen getrieben von dem göttlichen Geist? was wird dann in uns hervorgebracht, und was geschieht dann durch uns? Auch nicht dasjenige, was aus menschlichem Willen hervorgeht, sondern was das göttliche Licht in uns gebiert, was die Stimme des Geistes Gottes fordert, der uns treibt. Je mehr | wir auf diese Weise von dem Lichte des göttlichen Wortes uns selbst erleuchtet fühlen, um desto mehr und desto sicherer haben wir die göttliche Kraft, die durch das Wort Gottes in unserer Seele erregt wird, um desto mehr leben wir nicht mehr uns selbst und in uns selbst, sondern wir leben Khristo, und Khristus lebt in uns, denn er allein ist ja das Licht. Wenn also der Tag angebrochen ist in unserer Seele, so haben wir selbst das Licht, welches gekommen ist die Welt zu erleuchten, in uns wohnen; dann haben wir ihn nicht bloß wohnen in seinem Wort, sondern in unserer | Seele wohnt er nach dem Worte der Verheißung, welches er zu seinen Jüngern geredet hat: „Ich werde kommen mit dem Vater, und Wohnung machen in euren Herzen“. Und hört dann etwa auf, daß wir auf das feste prophetische Wort trauen, wie der Apostel sagt: „Ihr thut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunklen Ort bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in eurem Herzen.“ O wir fühlen es wohl, daß dies ein Uebermuth wäre, der uns wieder in die alte Verkehrtheit zurük versezen würde, wir fühlen es wohl, daß wir nie aufhören dürfen, auf das Wort Gottes | zu trauen, welches in jenem dunklen Ort scheint, und daß nur dadurch 1 Weise] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 166v lichem] menschlichen 23–24 Vgl. Röm 14,7–8 30–31 Vgl. Joh 14,23

8 Stande sein] Stande

25 Vgl. Joh 8,12

18–19 mensch-

26–27 Vgl. Lk 2,32; Joh 1,9; 12,46

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der Herr wohnen bleibt in unserem Herzen, wenn wir uns erhalten in dem lebendigen Verkehr mit dem Worte Gottes, welches er geredet hat als er auf Erden wandelte, und welches uns überliefert ist durch den Mund und durch den Dienst seiner Jünger. Daher, m. g. F., drükt sich der Apostel nicht anders aus über diese lezte Wirkung des göttlichen Worts in unserer Seele als daß der Tag anbrechen soll und der Morgenstern aufgehen in unserem Herzen. Zu einem vollkommnen selbstständigen Lichte gelangen wir nicht in diesem Leben; die | Seele wird hell, aber um es zu bleiben muß sie sich halten an das göttliche Wort. Und wenn der Tag angebrochen ist, und der Morgenstern aufgegangen ist in unserem Herzen, dann erkennen wir in dieser Dämmerung noch die Spuren der Dunkelheit, welche durch das göttliche Licht in uns erleuchtet ist; denn eben dieser Zustand, in dem der Tag anbricht und der Morgenstern aufgeht in unserem Herzen, ist der Uebergang zu dem lichten Tage, in welchem die Seele wandeln soll, aber doch nicht ohne die Spuren der früheren Dunkelheit, die aber immer mehr verschwinden soll durch das Licht. Und so ist es der Strahl des | himmlischen Lichtes, welches sich in der Seele immer mehr entzünden soll. Nur wenn wir jemahl aufhören wollten auf das feste prophetische Wort zu trauen, welches wir haben, wenn wir uns jemals verlassen wollten auf den Tag, der in unserer Seele angebrochen ist, dann würde uns der Hochmuth, der darin liegt, wenn wir das göttliche Wort verachten, und den Geist von uns weisen, der uns aus demselben leiten soll in alle Wahrheit, uns wieder zurükführen zu der Dunkelheit, welche durch das Licht der göttlichen Gnade in uns zerstreut ist. Wie könnten wir aber auch jemals das Wort Gottes, | welches sich in uns offenbart, trennen wollen von dem Worte Gottes in der Schrift, und von dem Geist, in welchem der Mensch Gottes geschikt ist zu einem jeglichen guten Werke? Es ist ja beides Eins und das selbige, und so kann es nicht anders sein, als daß das Befreundete sich sucht und liebt. Das Wort Gottes scheint nur so hell in der Seele, in welcher der Tag schon angebrochen ist; aber die Seele, in welcher der Tag angebrochen ist, die sehnt sich auch desto lebendiger, und liebt und sucht desto inniger das prophetische Wort, um so den vollen Glanz und das volle Licht des göttlichen Sohnes zu erkennen. Und so hören wir niemals auf | zu trauen auf das feste prophetische Wort; und ist der Tag angebrochen, so kehren wir immer wieder zu demselben zurük, und schöpfen daraus neue Kräfte für das höhere Leben in uns. Und wenn wir dann dankbaren Herzens gegen Gott fühlen, daß die Dunkelheit gewichen ist in unserer Seele: o so entgeht uns das nicht, daß immer eine Quelle der Finsterniß in dem Tiefsten der Seele wohnt, die sich bald ausbreiten würde, wenn die Kraft des göttlichen Wortes und des 19 Tag,] Tag; 7–8 Vgl. 1Kor 13,9–12

21–22 Vgl. Joh 16,13

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himmlischen Lichtes in uns schwächer würde. Darum ist der anbrechende Tag in unserer Seele nichts anderes als das fortwährende Ver|langen nach der Kraft und der Erleuchtung Khristi; und indem wir uns bewußt werden, daß der anbrechende Tag und das Licht, welches er verbreitet, nichts anders ist als sein Licht, so begehren wir ja den ganzen Khristus in uns wohnen zu haben. Der aber ist nur in seinem Wort. Ganz also können wir ihn nur haben, indem der Tag anbricht in unserer Seele und das Licht in uns aufgeht, welches der Wiederschein ist seines lebendigen Wortes. Und dies denn drükt die Schrift so aus: „dann werden wir abgelegt haben, was kindlich ist, und gereift sein zu dem vollkommnen Mannesalter Khristi.“ Aber, m. g. F., das ist es auch, wovon der | Apostel Johannes sagt, „es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden“, wenn gleich uns der Herr die Liebe erzeigt hat, daß wir Kinder Gottes heißen sollen, „wir wissen aber, daß, wenn es erscheinen wird, dann werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Amen.

13 Gottes heißen sollen] Gottes 9–10 Vgl. Eph 4,12–14; 1Kor 13,11 1Joh 3,1

11–12.13–15 1Joh 3,2.13–15

12–13 Vgl.

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Am 18. November 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 15,13–14 Nachschrift; SAr 81, Bl. 52r–61v; Andrae SW II/10, 1856, S. 318–334 (Textzeugenparallele; Titelblatt der Vorlage in SAr 101, Bl. 107v; Andrae) Nachschrift; SAr 52, Bl. 79v–80r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 223r–228r; Woltersdorff Ende der vom 17. Juni 1821 an gehaltenen Predigtreihe zur Jüngerschaft (vgl. Einleitung, I.4.B.) Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am zweiundzwanzigsten Sonntage nach Trinitatis 1821. |

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Tex t. Matth. XV, 13 u. 14. Aber er antwortete und sprach: Alle Pflanzen, die mein himmlischer Vater nicht gepflanzt, die werden ausgereutet; lasset sie fahren, sie sind blinde Blindenleiter; wenn aber ein Blinder den andern leitet; so fallen sie beide in die Grube.

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M. a. F. Wir haben in dieser zweiten Hälfte unseres Kirchenjahres seit dem heiligen Pfingstfest in unsern vormittägigen Andachtsstunden uns damit beschäftigt, die Unterweisungen zu vernehmen, welche der Erlöser seinen Jüngern in Beziehung auf ihren künftigen Beruf ertheilte, und dieselben auch auf uns an|zuwenden, was wir an unserem Ort der erkannten Wahrheit des Evangeliums schuldig sind, und wie auch wir hauszuhalten haben mit den geistigen Gaben und Früchten, die uns von oben geworden sind. Es ist heute die lezte dieser Betrachtungen, und für sie schienen mir die verlesenen Worte des Erlösers ein ganz besonders schiklicher Gegenstand deswegen weil sie uns bei diesem großen Beruf, den wir mit den Jüngern des Herrn gemein haben an dasjenige erinnern, was alles Menschliche begleitet, woran wir alle doch nie ohne Wehmuth denken mögen, nämlich daran, daß auch wir oft unseren Bemühungen, das Licht der Wahrheit zu verbrei|ten und in die Herzen dringen zu machen, Grenzen sezen müssen, die wir nicht übersteigen können, und daß uns dann nichts anderes übrigbleibt als was wir eben in unserem Gesange gethan, die Seelen derjenigen, 13 Vgl. Jak 1,17

22–2 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang)

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auf die wir nicht weiter wirken können, in menschenfreundlichen und liebreichen Gebeten demjenigen zu empfehlen, der Alles lenkt. Denn, m. g. F., auf diese Grenzen unserer Wirksamkeit in der Verbreitung der Wahrheit besonders in Beziehung auf diejenigen, die über die wichtigsten Gegenstände des menschlichen Lebens entgegengesezter Ansicht sind als wir, darauf führen uns die Worte | unseres Erlösers in dem verlesenen Texte zurük, und das ist es, was wir ihnen gemäß zum Gegenstande unserer heutigen Betrachtung machen wollen. Nämlich indem der Erlöser seinen Jüngern auf die Frage: „Hast du wohl gemerkt, wie die Pharisäer sich ärgerten, da sie das Wort hörten?“ nichts anderes antwortete als „Laß sie“: so sehen wir daraus, er fand daß er nichts weiter thun könne um eine Änderung in demjenigen zu treffen, was in ihren Gemüthern vorgegangen war, daß er sie ganz sich selbst überließ. Aber, m. g. F., um in dieser und in ähnlicher Hinsicht dasjenige, was der Erlöser gethan, uns zum Vorbilde zu sezen, dazu gehört | besonders Vorsicht und khristliche Weisheit; denn nur gar zu leicht begegnet es der menschlichen Trägheit oder Ungeduld solche Vorschriften weiter auszudehnen als sie in der Handlungsweise des Erlösers selbst es waren. Und darum um seine Worte recht zu verstehen und ihn uns auch hierin zum Vorbilde zu sezen, werden wir zuerst darauf mit einander achten müssen, wie es denn eigentlich um diejenigen stand, von denen der Erlöser einsah, daß er sie sich selbst überlassen müsse; und dann werden wir zweitens seine Äußerung in unserem Texte in ihrem Zusammenhange betrachten müssen mit dem, | was er anderwärts und bisher in Beziehung auf eben diese Menschen gethan hatte. Denn gewiß nur so wird uns auch hier seine Handlungsweise ein Vorbild sein können der khristlichen Weisheit, die doch immer aus keinem andern Grunde als aus dem der reinsten und innigsten Liebe hervorgehen kann. I. Zuerst also müssen wir mit einander erwägen, wer denn die waren, in Beziehung auf welche der Erlöser seinen Jüngern eine solche Antwort gab. Es waren diejenigen seiner Zeitgenossen, welche wir aus gar vielen Stellen unserer Evangelien unter dem Namen der Pharisäer kennen, es waren diejenigen, welche, wie der Herr anderwärts sagt, die Schlüssel des | Himmelreichs hatten, welche durch ihre Kenntniß des Gesezes das Volk leiteten, und welche er uns in den Worten unseres Textes so beschreibt, „sie waren die blinden Leiter der Blinden.“ Unter den Blinden, welche sie leiteten, verstand er den großen Haufen des Volks. Wir wissen es, m. g. F., wie es immer noch – denn freilich müssen wir hoffen zu der göttlichen Erbarmung, daß es nicht immer so bleiben werde – aber wie es immer noch dem großen Haufen der Menschen an der richtigen Einsicht in dasjenige, was zu seinem 9–10 Mt 15,12

33–34 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52

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Frieden dient, fehlt, wie unter diesem großen Haufen es nur wenige sind, die auf ihrem eigenen | Urtheil stehen, und ihrer eigenen Ueberzeugung folgen, vielmehr, sobald einer das thut und vermag, übrigens seine äußeren Verhältnisse seien, welche sie wollen, so nehmen wir ihn in unserem Urtheil und in unserer Empfindung schon aus dieser Benennung des großen Haufens heraus; diejenigen aber, welche wir so benennen, die bedürfen es überall sich an andere zu halten, und immer werden sie bewegt von verschiedenen Antrieben, die ihnen von außen kommen; und wie leicht diese wechseln, eben so leicht auch wechseln ihre Meinungen, ihre Ansichten, und ihre Art und Weise sich zu betragen. Die Einsicht nun, das ist das Eine Licht des Menschen, und eben, weil | es dem Volke seiner Zeit an dieser fehlte, so nennt der Erlöser sie Blinde, die Pharisäer nun, über welche er eigentlich spricht, die waren es, welche sich herausgenommen hatten, die Leiter dieser Blinden zu sein, eben deswegen, weil sie allerdings mehr Kenntnisse hatten als das Volk, und namentlich mehr Kenntnisse von dessen Gesez, von dessen Herkommen und Geschichte. Darin glaubten sie läge das Recht und das Vermögen Führer des Volks zu sein, und diejenigen, die selbst nicht zu sehen und zu unterscheiden vermöchten, auf den rechten Weg hinzuleiten. Aber m. g. F., so war es denn nicht ein Schaz, den sie sich erworben hatten aus rei|ner Liebe des Gemüths zur Wahrheit, die in ihnen aufgegangen war, durch eine reine Einsicht und durch eine unbefangene Betrachtung dessen, was in dem Innersten des Menschen ist; und dessen was von außen seine Kräfte in Anspruch nimmt; sondern es war eine ererbte Wissenschaft, es war eine überlieferte Kunde, ruhend, wie sie sagten auf dem Ansehen des Alterthums, was ihnen diesen Stolz einflößte, die Führer des Volks zu sein. Und der Erlöser klagt an anderen Stellen, wie sie sich dennoch dieses übernommenen Berufs entledigten, indem er auf der einen Seite sagt: sie hätten die Schlüssel des Himmelreichs, aber sie gingen selbst nicht | hinein, und ließen auch keinen andern hinein, womit er ihnen denn sagen will, es fehle ihnen der rechte Trieb nach dem Reiche Gottes, welcher die Schritte des Menschen auf den graden Weg leitet und erhellt, der dahin führt; auf der andern Seite sagt er über sie zu dem Volke: sie sollten zwar ihren Worten, insofern als solche ihnen die geschichtliche Wahrheit mittheilten, traun, aber sie sollten sich nicht bilden nach ihren Werken; und damit zieh er sie denn ganz vorzüglich einer solchen Uneinigkeit mit sich selbst, eines solchen innern Wiederspruches, bei welchem der Mensch für sich entweder gar keine oder nur eine eingebildete Sicherheit haben kann, | auf jeden Fall aber unfähig ist, der Führer eines Andern zu sein, indem dieser zwischen dem Wiedersprechenden hin und her geworfen wird, ohne ein sicheres Kennzeichen zu haben, was das Rechte sei. Denn aus den Werken des Menschen soll seine innerste Ueberzeugung von der Wahrheit sprechen, und in 27–29 Vgl. Mt 23,13; Lk 11,52

32–34 Vgl. Mt 23,3

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seinen Worten soll sie auch liegen und sich offenbaren. Wenn also das Eine dem Andern widerspricht, so ist es nicht mehr zu erkennen, was denn eigentlich der Schaz und die Ueberzeugung des Menschen ist. So waren diejenigen, über welche der Erlöser das: „Laßt sie“, ausspricht. Aber, m. g. F., laßt uns noch | besonders darauf achten, weshalb er sie denn in den Worten unseres Textes die blinden Leiter der Blinden nennt. Wie nun die Blindheit, auch die leibliche, nicht überall dieselbe ist, sondern aus gar verschiedenen Ursachen her und von verschiedener Art und Beschaffenheit: so auch die geistige Blindheit. Denn es fehlte den Pharisäern und Schriftgelehrten, über welche er hier redet, keinesweges an derjenigen Kunde und Einsicht, an der es dem Volk fehlte; sie kannten das Gesez und die Propheten, und als Herodes sie zusammenberief und fragte: von wo der Messias kommen müsse, so wußten sie richtige Antwort zu geben | aus ihrer Kenntniß der Propheten. Und oft auch ließ sich der Erlöser mit ihnen ein in Erklärungen und Auslegungen der Schrift. Aber weswegen nannte er sie denn Blinde? Ach, m. g. F., es giebt noch ein anderes Auge des Geistes als den Verstand und die Einsicht: das ist die Liebe. Wenn dieses Auge hell ist und rein, dann ist es auch der ganze Mensch; wenn aber dieses Auge verdunkelt ist, dann erlischt allmälig immer mehr auch das Licht des andern, und die Finsterniß nahet sich ihm mit furchtbar starken Schritten, um sein ganzes Wesen zu bedeken. An der fehlt es ihnen, das zeigt sich in ihrem ganzen Betragen so wohl gegen das Volk, | als auch gegen unsern Erlöser, wie es sich uns in dem neuen Testament darstellt. Denn wenn sie das Volk leiteten, so geschah es nur so, wie sie glaubten am sichersten ihr eigenes Ansehen und ihre eigene Macht so lange als möglich aufrecht zu erhalten, und eben dies leitete sie in allen ihren Schritten in Beziehung auf unseren Erlöser und gegen ihn. Die Liebe aber, die sucht nicht das Ihrige, sondern das, was des Andern ist. Hätten sie das Volk geliebt, welches sie leiten wollten, so hätte der Erlöser nicht mit Recht von ihnen sagen können, sie legten auf dasselbe eine Last nach der andern, ohne selbst einen Finger daran | zu legen. Aber nicht nur sucht die Liebe, was des Andern ist und vergißt ihr Eigenes, sondern, wie der Apostel sagt, die Liebe sezt auch überall das Beste voraus. O hätten sie das gethan in Beziehung auf den Erlöser, hätten sie in dieser Voraussezung, daß in einem Manne, der auf eine solche Weise auftrat, wenn sie ihn auch ganz menschlicher Weise betrachtet hätten, doch etwas Großes und Gutes, etwas Eigenthümliches und Ewiges sein müsse, hätten sie ihn in dieser Voraussezung angesehen, wie bald würden sie dahin gekommen sein, als Schüler zu seinen Füßen zu sizen, anstatt sich stolz über ihn zu erheben, und ihn hinter | seinem Rüken zu verleumden gegen das Volk: 12–14 Vgl. Mt 2,3–6 (mit Zitat aus Mi 5,1) 31 Vgl. Mt 23,4

28–29 Vgl. 1Kor 13,5

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Denn gegen ihn selbst wußten sie nichts anderes zu thun als daß sie suchten ihn zu fangen in seinen Reden. Ach, das aber war ein Unternehmen, wobei nichts als die Lieblosigkeit und der Argwohn zum Grunde lag und liegen konnte. Denn wenn man bei dem Andern das Gute und das Rechte voraussezt, so kann man nicht glauben, er werde sich fangen oder fangen lassen in seinen Reden; denn die Wahrheit und der sichere feste Sinn kann sich nicht fangen. Daher wenn es ihnen nicht an dieser Liebe gefehlt hätte, wie würden sie in ihren Reden an das Volk wohl immer ausgegangen | sein von der Voraussezung, er sei ein Verführer des Volks, ohne daß sie doch etwas anderes gegen ihn aufzubringen wußten, als was immer wiederkehrte: Glaubte auch wohl irgend einer der Obersten an ihn? haben wohl diejenigen, bei denen die Macht ist und das Ansehn, dieselbe Gesinnung wie er? So gingen Stolz und Lieblosigkeit, wie natürlich, bei ihnen Hand in Hand, und eben weil ihnen das helleste Auge und das helleste Licht des Geistes, die Liebe, fehlte: so nannte der Erlöser sie, und konnte sie nicht anders nennen als die blinden Leiter der Blinden. So, m. g. F. war also das Urtheil des Erlösers begründet. | Niemals hätte er dasselbe gesagt in Beziehung auf das Volk, welches von diesen Gegnern seiner Lehre und seines Heils verführt war. Gegen dieses war er immer derselbe, und ging den verlorenen Schaafen nach mit gleicher Milde und mit gleicher Langmuth bis an das Ende seines Lebens. Von diesen aber, nachdem er lange genug versucht hatte und auf alle Weise das Seinige gethan um ihr Ohr zu öffnen für die Wahrheit, um ihnen den Unterschied fühlbar zu machen zwischen den Sazungen der Väter, für welche sie kämpften, und zwischen dem ewigen und reinen Wesen des göttlichen Willens, nachdem | sie sich immer mehr in dem Stolz und in der Lieblosigkeit verhärtet hatten, so sprach er von ihnen aus eben das: „Laßt sie.“ II. Aber um auch hierin den Erlöser recht zu verstehen, m. g. F., müssen wir nicht übersehen, weil ein jeder Augenblik in seinem Leben nur im Zusammenhange mit allen andern verständlich ist; so auch dieser Ausspruch, durch welchen er seiner Wirksamkeit auf sie Grenzen sezt, und gleichsam das Ende derselben verkündigt, ist nur zu verstehen im Zusammenhange mit allem Vorgehenden. Darum laßt uns nun auch einmal rükwärts sehend betrachten, wie denn der Erlöser sich bisher gegen | diejenigen verhalten hatte, die er nun sich selbst überließ, und dann vorwärts sehend auf den Augenblik selbst und auf die Zukunft, die der Herr darin andeutet, betrachten, welcher Folgen von dieser Grenze seiner Wirksamkeit er sich dabei bewußt war. Der Erlöser, m. g. F., von dem Augenblik an, wo die Zeit erfüllet war, und er durch die Taufe des Johannes geweiht gleichsam auch äußerlich 1–2 Vgl. Mt 22,15; Mk 12,13; Lk 20,20

11 Joh 7,48

23–25 Vgl. Mt 15,6

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zu seinem großen Beruf, von diesem Augenblik an hörte er nicht auf zu verkündigen das Reich Gottes, und seine Stimme erscholl frei und öffentlich in seiner Heimath und überall, wohin ihn die Verhältniße des Lebens brach|ten, in vertrauten Kreisen, unter vier Augen, bei nächtlicher Weile und in den Höfen und Hallen des Tempels, wo er nicht wußte, wer ihn hörte und keinen scheute und jemals gescheut hat, der ihn hören wollte. Und konnten denn auch die Pharisäer nicht sagen, ihnen wäre das nicht geworden, die Worte der Weisheit von seinen Lippen zu hören, sie wären nicht erleuchtet worden durch seine Reden, nicht gewarnt worden durch seine Drohungen, nicht gelokt worden durch seine liebreiche und milde Stimme; sondern alles dieses war ihnen ausgetheilt worden wie allen Andern. Hätten sie nur den Sinn gehabt in ihm zu sehen den Mann Gottes, kräftig in Worten | und Thaten, so wären sie dann aufmerksam geworden auch auf diejenigen Reden des Herrn, welche sie selbst näher betrafen. Denn von Anfang an hatte er nie unterlassen auch ausdrüklich den Gegensaz aufzudeken, welcher Statt fand zwischen seiner einfachen Lehre von dem Willen seines himmlischen Vaters, der im Glauben an ihn sollte gethan werden, und zwischen den Menschensazungen, wodurch sie auch noch das frühere und auf einen unvollkommnen Zustand der Menschen berechnete göttliche Gesez verunreinigten und verunstalteten. Diese graden und offenen Reden des Herrn hatten sie oft vernehmen können, und sie sind ihnen nicht verborgen | geblieben. Sie mußten also wissen sowohl was er selbst lehrte und von welchen Grundsäzen er ausging, und welches das Ziel seiner Bestrebungen sei, als auch sie wissen mußten, wie er über sie dachte, und in welches Verhältniß er ihre Bestrebungen mit den seinigen stellte. Und wie der Herr sich keinem entzog, der ihn lehrbegierig fragte, mochte er sein, wer er wolle, so stand ihnen auch dies Mittel zu Gebote, wenn ihr Inneres wäre getroffen worden von der Kraft der Wahrheit, sich noch weiter von ihm leiten zu lassen in alle Wahrheit; aber sie hatten es verschmäht die ganze Zeit über, wo er öffentlich das Reich Gottes verkündigte. | Aber nicht nur in seiner öffentlichen Wirksamkeit, sondern auch in seinem besondern menschlichen Leben entzog er sich ihnen nie. Wie er auf der einen Seite mit den Zöllnern und Sündern aß, welche eine zum großen Theil ungerechte und immer übertriebene Geringschäzung des Volkes traf: so auch finden wir ihn nicht selten geladen zu einem Gastmahl der Obersten des Volks und der Schriftgelehrten. Sein Stand und sein Beruf als Lehrer brachte ihn schon auf eine gewisse Weise ihnen näher, und wenn es gleich nur äußere Rüksichten waren, aus denen sie nicht ganz vermeiden konnten, ihn bisweilen als ihres gleichen anzusehen und zu hören; | so entzog er sich ihnen demohnerachtet nicht. Also nicht nur öffentlich, sondern auch in den stillen und vertrauten Kreisen der Geselligkeit hatten sie oft Gelegenheit 12–13 Vgl. Apg 2,22

29 Joh 16,13

35–36 Vgl. Lk 7,36; 14,1

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gehabt, das Wort der Wahrheit von seinen Lippen zu hören, und auch da hielt er das schärfere nicht zurük, um sie desto sicherer zu treffen. Denn nicht selten redet er so in ihren gastfreundlichen Versammlungen, daß sie sich getroffen fühlten und zu ihm sagten: damit aber Herr schmähst du ja auch uns, und dann entzog er ihnen nicht seinen strengen aber auch milden Tadel. Er hatte also alles gethan, was ihm in Beziehung auf sie zu thun oblag; und wenn er sie auch nun | sich selbst überließ, so konnten sie auch, wenn sie anders gewollt hätten, ihren Theil hinnehmen von seinen öffentlichen Belehrungen, und sich ohne daß er eine besondere Aufmerksamkeit auf sie richtete, von der Wahrheit, die aus seinem Mund kam, erleuchten lassen. Insofern also, m. g. F. war das kein Verstoßen, was er gegen sie ausübte, wenn er sagte: „Laß sie, denn sie sind blinde Leiter der Blinden;“ sondern es war nur die Einsicht, daß es nichts helfen könne, wenn er sich näher um sie bekümmerte und sich länger mit ihnen einließ. Denn wie sie schon mit ihm selbst kein anderes Gespräch anfingen als eben um ihn zu fangen in | seinen Reden, und wenn er ihnen selbst schwierige Fragen vorlegte, durch deren Beantwortung sie ihr angemaßtes Ansehen hätten behaupten und der Wahrheit die Ehre geben mögen, und was ihm hätte Veranlassung geben können, ihnen dasjenige aufzuschließen, was sie bisher nicht gesehen hatten, da sie ihm nicht hatten Rede stehen wollen: so waren ihm alle Mittel benommen unmittelbar auf sie zu wirken. Und das, m. g. F., das ist die Grenze, in welche die Vorschrift des Herrn auch für uns alle eingeschlossen ist, und wie wir seine Äußerung, die er gegen seine Apostel machte, auch auf uns anwenden können. Es | giebt eine solche Verwirrung aller Verhältnisse zwischen denen, die über die wichtigsten Gegenstände des menschlichen Lebens entgegengesezter Meinung sind, daß sich unmittelbar an sie wenden, unmittelbar die Gedanken mit ihnen austauschen wollen, unmittelbar mit ihnen auf die Verschiedenheit der Grundsäze zurükgehen wollen, daß dies nichts anderes als entweder eine leere Bemühung sein kann, der sich der andere entzieht, oder aus der nichts anderes als ein leeres und unfruchtbares Treiben hervorgehen kann. Wenn das reine Gefühl für die menschlichen Verhältnisse, wenn die immer wiederholte Erfahrung | von demselben Erfolg das außer Zweifel gesezt hat: ja dann mögen auch wir unsererseits in jedem ähnlichen Falle das Laß sie," aussprechen, und wenn es auch von demselben Bewußtsein begleitet wird, welches in diesem Augenblik der Erlöser hatte, und welches wir zulezt mit einander betrachten müssen. Der Herr hatte unmittelbar vorher eben einen solchen Gegenstand behandelt, wo seine Ansicht über das, was wesentlich und wichtig, und über das, was zufällig und unbedeutend ist, in dem reinsten Gegensaz mit der 3–6 Vgl. Lk 11,45–46 1 Vgl. Mt 15,1–9

15–16 Vgl. Mt 22,15; Mk 12,13; Lk 20,20

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Lehre der Pharisäer stand; und darauf sagten die Jünger zu ihm, als er das Volk zu sich gerufen und in einem | kurzen kernigen Spruch, dessen Sinn nicht erkannt werden konnte, seine Ansicht dieses Gegenstandes ihnen mitgetheilt hatte: da sagten seine Jünger zu ihm: „Merkst du wohl, wie sich die Pharisäer ärgerten, da sie das Wort hörten?“ Wenn aber die Jünger sagten: sie ärgerten sich, so ist das ganz dasselbe, was auch der Erlöser sonst unter dem Worte Ärgerniß versteht, und was auch sonst in der heiligen Schrift durch den Ausdruk eines Anstoßes bezeichnet wird. Und beides zusammen Anstoß und Ärgerniß ist nichts anders als eine Verwirrung des Gewissens; und davon sagt der | Erlöser sonst: „es muß Ärgerniß kommen, aber wehe dem Menschen, durch welchen es kommt; es wäre besser, daß ihm ein Mühlstein um den Hals gehängt und er ertränkt würde im Wasser.“ So fühlte der Herr das Elend, welches am meisten aus dem Ärgerniß der Verwirrung des Gewissens entsteht, und doch, als die Apostel ihn nun aufmerksam darauf machen, wie die Pharisäer sich ärgerten, weil sie seinen Reden nicht zu begegnen wußten, und doch von der Meinung, auf welcher ihr Ansehen und ihr Vorzug ruhte, nicht lassen mochten: so spricht er, derselbe, der das sonst so tief empfand, von dem wir | wissen, daß nichts in ihm war als Liebe und Milde für die Brüder, doch nichts anderes aus, als: „Laß sie, sie sind blinde Leiter der Blinden,“ und so erklärt er sich, keine Kenntniß mehr nehmen zu wollen von allen den unruhigen und leidenschaftlichen Bewegungen der Gemüther, die seine Sendung begleiteten, wie von den Widersachern seiner Lehre, die jene nicht heben konnten. Und auch darin, m. g. F., dürfen und sollen wir in ähnlichen Fällen seinem Beispiele folgen, wenn uns, nachdem wir eben so vielfältig wie er das Unsrige gethan haben, unser Gefühl und unser Gewissen sagt, daß wenn wir auch mit Liebe und Ernst | an das auf eine so unselige Weise bewegte Gemüth herantreten wollten, wir doch nichts dadurch erreichen, denn anders als aus dieser Überzeugung von der gänzlichen Unfruchtbarkeit alles dessen, was er auch noch für die Pharisäer thun möchte, konnte bei dem Erlöser das: „Laß sie“, nicht herrühren. Aber, m. g. F., es war nicht nur die gegenwärtige Verwirrung der Gemüther, es war nicht nur die hoffärtige Aufregung, welche der Erlöser sah und mitfühlte, und doch eben das gleichgültig scheinende, aber nur gleichmüthige und ernste: „Laß sie,“ darüber aussprach; sondern eben seine liebende Seele sah auch in die Zukunft, | die ihm so oft bei seinen Bemühungen um sein verirrtes Volk vorschwebte, denn er sprach: „Wenn aber ein Blinder den andern leitet, so müssen sie beide in die Grube fallen.“ Wenn das Volk, dem eigene Einsicht und Festigkeit und lebendige Ueberzeugung gebricht, immer nur geleitet wird und geführt von denen, die nichts aufzuweisen haben als den Buchstaben eines äußern Gesezes, das Vorurtheil eines äußern Ansehens, die Kunde von und die 1–4 Vgl. Mt 15,10–11 1–2

4–5 Mt 15,12

10–12 Vgl. Mt 18,6; Mk 9,42; Lk 17,

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Liebe zu einem alten Herkommen, was anders kann daraus erfolgen als daß beide in die Grube fallen. Das war das Verderben, welches er seinem Volke in dem Zusammenhange mit seiner Verwerfung oft vorher gesagt hatte, das war | die Zerstörung, vor welcher er sie gewarnt; auch diese schwebte ihm in dem Augenblike, wo er die Worte unseres Textes redete, vor Augen, wie ihm denn immer bei der Gegenwart die Vergangenheit und die Zukunft lebendig war in seinem Gemüthe. Und wiewohl er das Unglük voraus sah, von welchem er doch fest überzeugt war, daß er es nicht ändern könne, dennoch rief er aus: „Laß sie.“ Laß sie also, laß sie mit einander in die Grube fallen; das sprach er, weil er sich unvermögend fühlte, sie zu halten. Und wie der Sohn Gottes nichts von sich selbst that, wie er uns dies bezeugt hat, sondern nur, was er von dem Vater gesehen hatte, das that er; und nur | den Willen des himmlischen Vaters zu erfüllen war sein Werk und sein Streben. So konnte auch in ihm dies, daß er sich unvermögend fühlte, ihnen zu helfen nichts anderes sein als das bestimmteste Gefühl davon, daß es also in dem Rathschluß des Ewigen bestimmt sei. So ist es, m. g. F., die göttliche erbarmende Liebe hat kein angenehmeres und kein wichtigeres Geschäft als alle Verwirrungen, welche die Menschen theilen, zu lösen, alle Mißverständnisse, welche sie entzweien, zu heben, und indem sie sie mit ihren himmlischen Banden umschlingt, und indem die Liebe auch das andere geistige Auge der Menschen erleuchtet, sie so mit der Kraft der Liebe | und unter dem Schuze des Rechtes, auch dem Lichte der Wahrheit und allen Gütern, die von daher kommen, immer näher zu führen. Aber sie weiß auch, daß alles Menschliche seine bestimmten Grenzen hat, die Gott selbst gesezt hat, und wenn gleich die Wege des Herrn unerforschlich sind und verborgen, und wir niemals zu sagen vermögen, wie sich die menschlichen Dinge entfalten werden: so haben wir doch das vor uns als eine oft wiederholte Erfahrung in den Führungen des menschlichen Geschlechts seit einer langen Reihe von Jahrhunderten, daß Zerstörungen vorangehen müssen, aus denen sich dann ein herrlicherer und würdigerer Bau erhebt. So stand der Herr vor dem Tempel, und beschaute dessen | Gaben, und in der Bewunderung der Vergangenheit überfiel ihn das gewisse Gefühl der Zukunft, kein Stein werde auf dem andern bleiben. So stand er hier vor dem Volk; welches er noch eben auf die angemessenste Weise lehrend gewarnt hatte, und vor denen, die sich anmaßten dasselbe zu leiten, und in dieser Verbindung, die er nicht vermocht hatte zu lösen, sah er das künftige Schiksal desselben voraus: Laß sie, sie werden beide in die Grube fallen. Und nicht mit den Thränen, die wir sonst an dem Erlöser kennen, nicht mit dem weichen Gefühl: „Wie oft Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre | Küchlein unter ihre Flügel, wie 11–12 Joh 5,19 25 Röm 11,33 30–33 Vgl. Mt 24,1–2; Mk 13,1–2; Lk 21,5–6 39–2 Vgl. Mt 23,37; Lk 13,34; 19,42

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oft habe ich dir gesagt was zu deinem Frieden dient, aber du hast nicht gehört“, nicht mit diesem weichen mitleidigen Gefühl, sondern mit dem kalten, trokenen, ernsten: „Laß sie,“ spricht er hier die Ahnung der Zukunft aus. Das Eine, m. g. F., wie das Andere war seiner würdig, und in beiden spricht sich sein ganzes göttliches Gemüth aus. Dachte er an die große Menge, die Verleiteten und Verführten, die nicht fähig gewesen waren sich selbst zu leiten, und von denen man nicht fodern konnte, daß sie ihr eigenes Heil schaffen und gründen sollten; o dann wurde er zu mitleidigen Seufzern und zu Thränen bewegt, daß die äußern Verhältnisse, daß die gege|benen Umstände ihm nicht gestattet hatten eine große Anzahl derselben an sich zu ziehen und von dem bevorstehenden Verderben in das schöne und heilige Reich Gottes zu retten. Wenn er aber an diejenigen vorzüglich dachte, deren verkehrter Sinn der eigentliche Grund gewesen war und auch werden mußte von dem Verderben, welches er kommen sah, wenn er derer vorzüglich gedachte, die eben deswegen, weil sie mehr von Gott empfangen hatten, auch eine schwerere Rechenschaft von der Art und Weise, wie sie das ihnen verliehene Pfund verwaltet hätten, vor sich sahen, und denen wohl gegeben gewesen wäre seine Worte zu vernehmen | und sein Reich zu erkennen, wenn das Auge ihres Geistes nicht wäre verdunkelt gewesen: dann äußerte er sich auf diese ruhige, gleichmüthige ihn selbst nicht mehr erschütternde Weise über das, was ihnen bevorstand. Aber diese Ruhe, m. g. F., dieser Gleichmuth bei allem, was wir noch Verwirrendes und Zerstörendes in den künftigen Schiksalen des menschlichen Geschlechts und der khristlichen Kirche ahnden mit größerer oder geringerer Zuversicht, wie denn unser Vermögen auch in dieser Hinsicht beschränkt: wir können diese Ruhe und diesen Gleichmuth nur haben auf demselben Wege, auf welchem der Erlöser sie hatte. Nur wenn wir uns sagen können, wie | oft habe ich dir gesagt, was zu deinem Frieden dient, aber du hast nicht gehört, nur wenn wir uns sagen können, wir hätten das Unsrige gethan, um die Menschen unter die Flügel des Reichs der Wahrheit und der Liebe zu sammeln, und durch den Sohn Gottes selig machen zu lassen, nur wenn wir den Glanz des Lichtes und der Wahrheit niemals vor ihnen verborgen, sondern ihnen Rede gestanden haben und ihnen nicht verschwiegen die von Gott offenbarte Wahrheit: nur dann können wir den Gleichmuth des Erlösers teilen. Aber wer möchte leugnen, m. g. F., daß das ein großer Schaz ist, wer möchte leugnen, daß es keine Offenbarung giebt eines Gott erge|benen Gemüths auf der einen Seite, und keine Festigkeit khristlicher Gottseligkeit und Liebe auf der andern als eben, indem wir das Eine mit dem Andern zu verbinden suchen an der rechten Stelle, an der einen die Seufzer und 32 und] Ergänzung aus SW II/10, S. 333 15–17 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,11–27

28 Vgl. Lk 19,42

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die mitleidigen Thränen, an der andern den ruhigen Gleichmuth, der das kommen sieht, was der Herr beschlossen hat, und was uns als das Unvermeidliche um die Verwiklungen, welche die Menschen herbeigeführt haben, zu lösen, in der Seele erscheint. So führt uns denn, m. g. F., auch diese Betrachtung auf Alles zurük, was wir in der nun beendigten Reihe von Betrachtungen gesucht haben uns vorzuhalten, und unseren Gemüthern einzuprägen. O laßt | uns immer treue Haushalter sein, mit den Gaben, die Gott uns verliehen hat, laßt uns nicht durch die Sorgen und durch die Geschäfte des irdischen Lebens den hohen Beruf aus den Augen verlieren, den wir alle, die wir den Namen Khristi bekennen, mit einander theilen, den Beruf die Wahrheit zu verkündigen, und sein Wort in die Seelen der Menschen hineindringen zu machen. Laßt uns jede Gelegenheit wahrnehmen, wo wir, sei es auch im Kleinsten, diesen Beruf erfüllen können, und auch das Niedrigste nicht verschmähen. Dann wird die Treue mit den Gaben, die der Herr uns verliehen hat, auch unsere Seele stärken zu der ruhigen Ergebung, und zu dem | gleichmüthigen Hinnehmen alles dessen, was er nach seiner Weisheit über uns und über unsere Brüder vielleicht noch beschlossen hat. Dann werden wir, indem wir mit Recht unsere Hände in Unschuld waschen, und sagen, wir seien nicht schuld an den Verwirrungen, die das Licht des göttlichen Wortes verdunkeln und das Leben der Menschen zerreißen; und indem wir uns so fühlen zwar als getreue Haushalter mit den Gaben Gottes, aber auch nach der menschlichen Schwachheit als unnüze Knechte, die nur Weniges haben leisten können: so wird es uns freuen, wenn der Herr, sei es auf welche Weise es wolle, durch Prüfungen, durch Widerwärtigkeiten | und Zerstörungen das ergänzt, was dem Werke der Liebe und der Wahrheit nicht hat gelingen können, und wenn er nach seiner Weisheit die Menschen zu einem größeren Genuß seines Heils führt. Denn so geschehe jezt und immerdar sein Wille. Amen.

[Liederblatt vom 18. November 1821:] Am 22. Sonnt. nach Trinit. 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Meinen Jesum laß etc. [1.] Licht vom Licht erleuchte mich / Bei des neuen Tages Lichte! / Gnadensonne, zeige dich / Meinem frohen Angesichte! / Deiner Weisheit Himmelsglanz / Scheine meinem Sabbat ganz. // [2.] Dieser Tag sei dir geweiht; / Weg 4 führt] schärft 7 Vgl. Lk 12,42

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mit allen Eitelkeiten! / Ich will deiner Herrlichkeit / Mich zum Tempel zubereiten; / Nichts begehren und nichts thun, / Als in deiner Liebe ruhn. // [3.] Brunnquell aller Seligkeit, / Laß mir deine Ströme fließen! / Mache Mund und Herz bereit, / Ihre Fülle zu genießen! / Streu das Wort im Segen ein, / Laß es hundertfrüchtig sein! // [4.] Zünde selbst mein Opfer an, / Das schon auf den Lippen lieget! / Leucht mir auf die richtge Bahn, / Wo kein Irrthum mich betrüget, / Wo kein falsches Feuer brennt, / Welches dein Altar nicht kennt. // [5.] Mache Wohnung Herr bei mir, / Bau ein Paradies im Herzen! / Ruh in mir, und ich in dir, / So quillt Freude selbst aus Schmerzen, / und ich schmecke dann schon hier, / Wie’s im Himmel ist bei dir. // (Schmolke.) Nach dem Gebet. – Mel. Nun laßt uns den Leib etc. [1.] Für unsre Brüder beten wir, / O Vater, wie für uns zu dir. / Gieb, der du Aller Vater bist, / Gieb jedem was ihm heilsam ist! // [2.] Dir opfert unser Lobgesang / Anbetung, Ehre, Preis und Dank, / Daß du auch unsre Brüder liebst, / Und ihnen täglich Gutes giebst. // [3.] Dank daß du auch an sie gedenkst, / Und deinen Sohn auch ihnen schenkst, / Auch sie für deinen Himmel schufst, / Zu deinem Reiche sie berufst. // [4.] Deß freun wir uns und danken dir! / Und innig, Vater, stehen wir, / Laß stets sie deine Kinder sein, / Und ewig deiner Huld sich freun. // [5.] Nimm väterlich dich aller an, / Und leite sie auf deiner Bahn, / Und bilde sie für deinen Ruhm / Zu deinem Volk und Eigenthum. // [6.] Verirrte führe Herr zurück / Zu dir, zu ihrem wahren Glück! / Und wer von dir sich führen läßt, / Den mach im Glauben treu und fest. // [7.] Zerbrich der Sünde Tirannei, / Und mache, Gott, die Sünder frei, / Daß sie auf deinen Pfaden gehn, / Und einst dein Vaterantlitz sehn. // [8.] Du der ob deinem Worte wacht, / Vertreibe du des Irrthums Nacht, / Und wer verdunkeln will dein Licht, / O dem geling der Frevel nicht! // [9.] Die zweifelnden verlasse nie, / Zur rechten Stund erleuchte sie, / Durchdring sie mit des Glaubens Kraft, / Der Seelenruh und Frieden schafft. // [10.] O welche Wonne wird es sein, / Wenn alle wir durch Jesum rein / Versöhnt vor dir dem Vater stehn, / Dein gnadenvolles Antlitz sehn. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Laß uns dein Wort beständig sein / Ein Licht auf unsern Wegen, / Erhalte du es hell und rein, / Auf daß wir dessen Segen, / Rath, Kraft und Trost in aller Noth, / Im Leben und dereinst im Tod / Nach deinem Willen erndten. // [2.] Laß Gott dein Wort zu deiner Ehr / Sich immer mehr verbreiten! / Es müsse Jesu Christi Lehr / Erleuchtend alle leiten. / Laß uns des heilgen Geistes Kraft, / Des heilgen Wortes Lebenssaft / In Glaub und Liebe zeigen. //

Am 25. November 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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23. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kor 15,55–58 Nachschrift; SAr 81, Bl. 62r–73v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 101, Bl. 171r–179r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 60, Bl. 229r–234r; Woltersdorff Liederangabe (nur SAr 60) Textergänzung aus SAr 101, Bl. 178v–179r

Frühpredigt am Todtenfeste 1821. den dreiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis. | Tex t. 1. Korinth. XV, 55–58. Der Tod ist verschlungen in den Sieg. Tod wo ist dein Stachel? Hölle wo ist dein Sieg? Aber der Stachel des Todes ist die Sünde, die Kraft aber der Sünde das Gesez. Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Khristum. Darum, meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn, sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn. M. a. F. Wenn wir uns das auf den heutigen Tag an das Ende unseres kirchlichen Jahres geordnete Fest denken, wie es diejenigen, die sich als Mitglie|der einer und derselben khristlichen Gemeine zu dieser gottesdienstlichen Feier versammeln, bewegt; so ist wohl das Erste, was uns dabei auffällt, die Ungleichheit, in welcher sie sich in dieser Beziehung finden. Denn nicht leicht mag es wohl eine khristliche Gemeine geben in dem Umfange unseres Landes, sei sie auch noch so beschränkt an Zahl, in welcher nicht der Eine oder der Andere in dem Laufe eines Jahres verloren hätte einen solchen, der ihm lieb war, entweder durch die Bande der Natur oder auf eine eigene geistige Weise mit ihm vereint: Der größere Theil aber besteht immer aus solchen, wenn nicht außerordentliche Schikungen Gottes | dem 0 Liederangabe in SAr 60, Bl. 229r: „Lied Nr. 869, v. 1–8; Nr. 882, v. 10–11; Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Lied Nr. 869 „Lasset ab! ihr meine Lieben“ (Melodie von „Zion klagt mit Angst und Schmerzen“); Lied Nr. 882 „So komm, geliebte Todesstund“ (Melodie von „Was mein Gott will, das gescheh all’zeit“)

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Tode eine außerordentliche Gewalt einräumen über das menschliche Leben, die der Herr verschont hat mit einer eigenen Trauer in ihrem Hause und für ihr Herz. Wie nun kann aus einer solchen Ungleichheit eine gemeinsame Feier entstehen, wenn die Einen nur sich selbst betrübt fühlen von dem Herrn, und nicht anders können als diejenigen glüklich preisen, denen dieses Fest für sie selbst etwas Fremdes ist, so daß sie keine eigene und persönliche Trauer dabei empfinden; und eben so die andern zwar so sie überhaupt brüderliche Liebe in ihrem Herzen fühlen, sich eines Bedauerns sich nicht erwehren können derer, | die der Herr betrübt hat, auf ihr eigenes zurükgelegtes Jahr aber nicht anders als mit einer ruhigen Freude hinsehen können. Wie wir uns hier als Brüder und Schwestern in dem Herrn vereinigen, so muß uns nicht mehr einigen als der Wunsch unsere Empfindungen gegen einander auszugleichen, und die Stimmung unserer Gemüther einander anzunähern. Dazu nun, m. g. F., geben uns die verlesenen Worte des Apostels die beste Anleitung, und zwar sowohl indem wir zuerst auf das Gefühl an und für sich selbst sehen, zweitens aber auch auf die Art, wie es in unser Leben übergeht, und auf die Wirkungen, die es darin | hervorbringen soll. Das also sei der Gegenstand unserer gemeinsamen andächtigen Betrachtung. I. Zuerst, m. g. F., führt das Gefühl, welches uns beherrschen soll, wenn wir zurükdenken an die Opfer, welche jede khristliche Gemeine in einem zurükgelegten Jahre dem Tode dargebracht hat, so beschreibt es uns der Apostel in den ersten Worten unseres Textes, indem er sagt: „Der Stachel des Todes ist die Sünde; Gott aber sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Khristum.“ Denn, m. g. F., laßt uns nur zuerst mit unseren Gedanken und mit | unserem Mitgefühl uns zu denjenigen wenden, welchen der Herr in dem verflossenen Jahre Trauer bereitet hat in ihrem Hause. Sie müssen ja die Erfahrung gemacht haben, daß der Khrist nicht trauert wie diejenigen, welche keine Hoffnung haben, sie müssen es mitten in dem Schmerz empfunden haben, welch ein Unterschied ist zwischen denjenigen, auf welche man kein anderes Wort der Schrift anwenden kann als das: „Es ist dem Menschen gesezt einmal zu sterben und dann das Gericht“, und zwischen denjenigen, auf welche man das Wort der Erlösers anwenden kann: Wer an mich glaubt, der kommt nicht ins Gericht, denn er ist vom Tode zum Leben hindurch|gedrungen. Wie das ganze Leben des Khristen nichts anderes sein soll durch die göttliche Gnade, als diese Darstellung von der Ueberwindung des Todes, von dem Siege über alles Sterb12 mehr] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 172r 33–34 Vgl. Hebr 9,27

35–36 Vgl. Joh 5,24

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liche und Nichtige, welchen der Herr durch die Worte bezeichnet: „schon jezt vom Tode zum Leben hindurchgedrungen sein“: so ist auch in dem Augenblike des Scheidens der lezten irdischen Trennung selbst dem Tode der Stachel genommen, weil die Sünde hinweggenommen ist eben durch den, der sie getragen für uns, und der ihre Macht überwunden hat; und mitten in dem Schmerz hat der Khrist das Gefühl der lebendig machenden und selig machenden Hoffnung, und auf das | innigste haben sich in seiner Seele vereinigt das Bild dessen, der den irdischen Schauplaz verlassen hat, und das Bild dessen, durch den Gott uns allen den Sieg gegeben hat, der Erlöser und der Erlöste, wie in sich selbst, so auch in dem Gefühle und in dem Herzen derer, die beide lieben, sind auf das innigste mit einander vereint. O wie könnten also auch die, welche der Herr betrübt hat, nicht aufgelegt sein mit dem Apostel in die Worte auszubrechen: „Gott sei aber Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum,“ den Sieg über den Tod selbst, von dessen Furcht derjenige, welcher die Kraft der Erlösung noch nicht geschmekt hat, ein Knecht sein muß sein Lebelang; aber auch den Sieg über den Stachel des Todes, den | auch der Trauernde fühlen muß, wenn er sich die Dahingeschiedenen nur denken kann unter der Gewalt der Sünde; aber in der Vereinigung mit dem, der die Sünde besiegt hat, ist auch dem Tode sein Stachel genommen, und der Sieg des Grabes ist verschwunden, auch das Mitgefühl gleichsam und das schmerzliche Andenken an den Tod vermögen nicht das Gefühl zu überwältigen oder zu unterdrüken, daß wir vom Tode hindurchgedrungen sind zum Leben. Aber diejenigen auf der andern Seite, denen der Herr in dem ganzen Umkreise ihres häuslichen Lebens, ihrer Berufsgeschäfte, ihrer herzlichen und gemüthlichen Verbindungen ein fröhliches und | schmerzloses Jahr bereitet hat, wenn es dennoch ein Jahr gewesen ist, in welchem sie zugenommen haben an Kraft des Glaubens und der Liebe, in welchem die Gemeinschaft, in der sie stehen mit Christo unserm Herrn und durch ihn mit seinem und unserem Vater, das Liebste gewesen ist und das Seligste, dessen sie sich zu getrösten hatten: wozu können sie mehr aufgelegt sein am Schlusse eines Jahres als denjenigen zu loben und preisen, von dem ihnen die Fülle des Guten gekommen ist. Aber, m. g. F., preisen wir nicht jeden, der uns werth ist, am liebsten um sein größtes und herrlichstes Wirken, ist es das nicht, worauf wir immer wieder zurükkommen? So laßt uns denn gedenken der begeisterten | Schilderung, die uns in den Worten unseres Textes der Apostel macht von dem größten Werk unseres Herrn. Denn daß er in der Gestalt des sterblichen Menschen einherging, und obwohl dem Tode selbst leiblicher Weise unterworfen, dennoch den Tod besiegt und dem der dessen Gewalt hatte, seine Macht genommen hat, und für alle, die an ihn glauben, den Stachel des Todes ausgerissen: das ist das größte Werk 1–2 Vgl. Joh 5,24–25

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dessen, der eben um dessen willen der Fürst des Lebens genannt wird. Wo also, m. g. F., und wie sollten wir alle kräftiger und inniger unsern Herrn und Erlöser preisen können als da, wo wir den lebendigen Beweis | von dem seligen Fortgang dieses seines größten Werkes sehen? Ja, m. g. F., wenn wir sehen, wie der Khrist unter dem Schuze des Glaubens nicht nur selbst die Schreken des Todes überwinden, und in dem Gefühl schon in der irdischen Laufbahn zum Leben hindurchgedrungen zu sein nur die Fortsezung des Lebens unter dem Schuz und in der Gemeinschaft dessen, der das Leben und die Unsterblichkeit ans Licht gebracht hat, in dem Innern seines Gemüths als die tiefste Wahrheit empfinden kann; sondern wie auch die, welche zurükbleiben auf der Erde, die Trauer, die hoffnungslose Trauer des Todes überwinden, und den Schmerz desselben überwältigen in dem lebendigen Bewußtsein | einer geistigen Gemeinschaft, an welcher es denen nicht fehlen kann, die einig sind unter einander in ihrem Herrn und Meister, wo wir dies sehen, da tritt uns das herrliche Werk der Erlösung in seinem ganzen Glanze und in seiner höchsten Würde entgegen, da fühlen wir die Wahrheit desselben mit einer unüberwindlichen Kraft und da werden wir am meisten durchdrungen von der Herrlichkeit dessen, der auch dem Tode die Macht genommen und unvergängliches Leben gewirkt hat. Wie könnten also die Fröhlichen und Ungetrübten, aber die voll Eifer sind und voll Begierde, den Herrn zu loben und zu preisen, wie könnten | sie anders als aufgeregt sein zu dem sanftesten und innigsten Mitgefühl mit dem was ihre Brüder und Schwestern getroffen hat, wie könnten sie anders als eben um den Herrn desto kräftiger zu loben und seine heilige Macht mitzufühlen, sich in die Empfindungen derer hineindenken, die nach seinem ewigen Rathschluß, der welcher Tod und Leben ordnet, in dem vergangenen Jahre betrübt hat, um mit ihnen und in ihnen zu schmeken die Kraft des Glaubens, die Gewalt der Wahrheit, die Unüberwindlichkeit der Hoffnung eben in der Liebe, die alle Furcht und allen Schmerz austreibt. Indem nun die Einen immer kräftiger gerichtet werden auf den hin, von | dem ihnen die Kraft gekommen ist, den Stachel des Todes nicht zu schmeken, und die Andern immer mehr geneigt werden sich in das Innere derer zu versezen, die der Herr so in der Betrübniß begnadigt und unter Thränen verherrlicht hat: so gleichen sich unsere Empfindungen aus, und mit Einem und demselben Gefühl in dem Bewußtsein, daß dem Tode seine Macht genommen ist, in dem Reiche des Herrn, und mit Dankbarkeit gegen Gott, der uns durch ihn diesen Sieg bereitet hat, und in froher Verherrlichung unseres Erlösers, damit begehen wir denn auf gleiche Weise diesen Tag christlicher Feier. II. Aber das Gleiche, m. g. F., muß | uns auch begegnen, wenn wir zweitens auf die Art sehen, wie dieses Gefühl in unserem Leben sich soll wirksam

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beweisen. Das beschreibt uns der Apostel in den lezten Worten unseres Textes, indem er sagt: „Darum meine lieben Brüder, seid fest, unbeweglich, und nehmet immer zu in dem Wort des Herrn; sintemal ihr wisset, daß eure Arbeit nicht vergeblich ist in dem Herrn.“ Das, m. g. F., das rufen wir alle mit einem besonders innigen Gefühl denen zu, die der Herr auf eine solche Weise getrübt hat, daß ihr Schmerz allen, die sie näher umgeben, zu einer khristlichen Erbauung gereicht hat, und in denen sich die herrliche Macht dessen | offenbart hat, der dem Tode seinen Stachel genommen. „O sie haben es eben darin am meisten gefühlt, daß ihre Arbeit, die Arbeit an dem eigenen Gemüth, nicht vergeblich gewesen ist in dem Herrn, daß das Bestreben sich aus der Gewalt des Vergänglichen loszureißen und mit allem Tichten und Trachten des Herzens, sich dem Ewigen zuzuwenden, nicht vergeblich gewesen ist, sondern sie herrlich erquikt hat und gestärkt in der Stunde der Betrübniß, sie haben es gefühlt wie die Trauer des Fleisches überwunden worden ist durch die Kraft des Geistes, und indem sie sich in diese Tage eines khristlichen Schmerzes zurükversezen, | was können sie anders als zu sich selbst sagen: so stehe nur fest und unbeweglich, dasselbe Gefühl und dieselbe Kraft des Glaubens erhalte die, wenn dich irgend einmal die Versuchung zur Sünde beschleicht, die, wenn sie begangen ist, den Stachel des Todes aufs neue schärft, in diesem Gefühl des ewigen Lebens durch den Glauben, in diesem erhalte dich, wenn dir nahen will die sinnliche Lust, und stehe fest und unbeweglich auf das Ewige gerichtet, damit du nicht das Vergängliche wieder in dich aufnehmest, und wie alle, die auf das Fleisch säen, von dem Fleische wiederum das Sterben erntest, welches du schon glüklich überwunden hast in der Kraft des Herrn. | Aber nicht nur das, m. g. F., sondern jeder, dessen Verlust uns auf eine gerechte Weise betrübt hat, ist ja auch ein Arbeiter gewesen mit uns an dem Werke des Herrn. Das, m. g. F., gilt nicht etwa nur von denen, die sehr ausgezeichnet gewesen sind in ihrem Leben durch die Kraft der Gnade Gottes, durch die Fülle der khristlichen Weisheit, und vielleicht gar gestellt gewesen auf einen ausgezeichneten Plaz khristlicher Wirksamkeit, es gilt von allen, die den Glauben an unseren Herrn und die Liebe zu ihm und zu den Seinigen in ihr Herz aufgenommen haben, ja es gilt sogar von denen, die uns der Rathschluß Gottes | schon auf der ersten Stufe ihres Lebens schon entrissen hat. Denn so lange sie uns gewesen, fühlten wir tief und lebendig, wie sie uns Freude bereitet durch ihr Dasein, wie der Einfluß, den sie auf uns ausübten, uns selbst zur Stärkung gereicht und zur Erbauung, wie die Dankbarkeit, die wir um ihretwillen Gott darbringen, unser Herz gereinigt hat. Wo also einer, sei er gewesen wer er wolle, den Schauplaz unseres khristlichen Lebens verlassen hat; das ist eine leere Stelle, die wir zu ersezen haben, und die, welche den Verlust am meisten fühlen, die fühlen auch diese am 22 fest] Ergänzung aus SAr 101, Bl. 177r

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tiefsten. Und darum sagt der Apostel: „So | seid denn fest und unbeweglich, und nehmet immer zu in dem Werk des Herrn, sammelt eure Kräfte in ihm, damit der Verlust, den ihr erlitten habt von außen, auch von innen ersezt werde; laßt das geliebte Bild, welches in eurer Seele zurükbleibt, wirksam bleiben in eurem ganzen Leben, und euch fest und unbeweglich stehen machen in der Kraft, die euch auch in den Augenbliken gestärkt hat, wo der äußere Anblik euch entzogen ward, und nur das innere Bild zurükblieb. Aber ist das nicht ein Bestreben, welches auch diejenigen auf das lebendigste theilen müssen, die der Herr nicht selbst und un|mittelbar betrübt hat. O wenn auch sie nur ausgehen von dem Gefühl, mit welchem sie der erste Theil unserer Betrachtung verlassen hat, daß sie Dankbarkeit üben wollten gegen den, der uns den Sieg gegeben hat, durch unsern Herrn Jesum Khristum: wie können sie anders aus einem Jahre des Lebens in ein anders übergehen, aus einem, in welchem sie nichts Schmerzliches unmittelbar getroffen hat, in ein anderes, wovon sie nicht wissen können, was ihnen darin bevorsteht – denn wechselnd ist ja das Leben für alle – als eben mit dem Vorsaz: So stehet denn fest und unbeweglich, rüstet euch im voraus mit göttlicher Kraft auf dasjenige, | was euch begegnen kann, werdet nicht müde in dem Werk des Herrn, damit jedes irdische Ereigniß, welches euch trifft, euch um desto gerüsteter finde mit geistiger Kraft. Und wie könnten auch sie ein besseres Zeugniß mitnehmen von einem Jahre des vergänglichen Lebens in das andere hinüber, als eben dies: „denn eure Arbeit ist nicht vergeblich gewesen in dem Herrn.“ Ja, m. g. F., auch die Mäßigung, mit welcher der Khrist den Schmerz der Trennung erträgt, auch die himmlische Freude, die durch seine unvermeidlichen Thränen hindurchlächelt, auch die Hoffnung der Unsterblichkeit und die freudige Zuversicht | des Lebens, zu welchem wir durch den Tod hindurchgedrungen sind, sie ist ein gemeinsames Werk, keiner kann sie sich selbst zuschreiben, nur in dem Bunde der Liebe, in welchem wir stehen, wächst sie, nur durch das Wort des Herrn, in welchem wir uns untereinander empfangen, wird sie gestärkt, und so ist sie ein gemeinsames Werk aller. Und wenn wir sie sehen an uns, und uns freuen derselben | an unsern Brüdern: dann mögen wir sagen: unsere Arbeit ist nicht vergeblich gewesen in dem Herrn und uns im Voraus ihre Hülfe und ihren Beistand erbitten für das, was uns die Zukunft bringen mag. So feiern wir denn in einem und demselben allen gleichen Gefühl das Andenken derer, die der Herr unter uns vollendet hat und hingenommen aus dem Leben des Wechsels und der Thränen, und die himmlische Kraft 26 Zuversicht] Hier endet die fragmentarisierte Predigtnachschrift des Textzeugen Andrae in SAr 80. 26–8 des ... Amen.] Ergänzung aus dem parallelen Textzeugen SAr 101, Bl. 178v–179r 26–27 Vgl. Joh 5,24

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dessen, der dem Tode den Stachel und dem Grabe den Sieg entrissen, und durch den uns der Herr den Sieg gegeben hat über alles, was unsere Kraft lähmen und unsern Muth niederschlagen will. Darum ihm allein sei von uns Allen Preis und Ehre, und auf ihn Alles Sehen und Tichten unserer Seele gerichtet, der uns gewesen ist zur Gerechtigkeit, der uns geworden ist zur Herrlichkeit und zu Heiligung, aber auch zur Hoffnung und zur Gewißheit des ewigen Lebens, welches diejenigen schon haben, die an ihn glauben, und sein Wort halten. Amen.

5–6 Vgl. 1Kor 1,30

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Am 25. November 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

23. Sonntag nach Trinitatis (Totensonntag), 11 Uhr Friedrichswerderkirche zu Berlin 1Joh 3,14 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 252–265 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 282–292; ²1844, S. 331–341 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 230–239 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 101, Bl. 179–194r; Slg. Wwe. SM, Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 80r–80v; Gemberg Besonderheiten: Liedangabe (nur in SAr 101) unten zu S. 972,7

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Der heutige Tag, m. a. Fr., ist bestimmt zum frommen Gedächtniß derer, die in dem Lauf unsers nun beendigten kirchlichen Jahres von diesem Schauplatz unseres irdischen Lebens hinweggenommen worden sind. Wie einzelne Fälle näher oder ferner hiebei einen Jeden berühren, das sey dem stillen Nachdenken überlassen. Aber in einer großen Gemeinschaft befanden wir uns Alle mit denen, die dahingeschieden sind; denn sie sind entschlafen in dem Herrn, in demselben, an welchen wir glauben, und auf den unsre Hoffnung gerichtet ist. Diese Gemeinschaft, m. gel. Fr., muß sich bewähren, wie im Leben, so auch im Tode; wie unser christliches Leben ein gemeinschaftliches Werk, und ein gemeinschaftlicher Kampf ist, so ist dasselbe auch der Tod. Ja wir können es uns bei dieser Gelegenheit wohl am wenigsten verbergen, daß unser ganzes irdisches Leben von seiner natürlichen Seite angesehen, nichts Anderes ist, als ein Kampf gegen den Tod. Die zarteste Sorgfalt wird dem aufkeimenden Leben gewidmet; die mannichfaltigsten Anstalten menschlicher Kunst und Weisheit sind darauf gerichtet, die Gewalt des Todes zu brechen, und das menschliche Leben zu erhalten gegen alle zerstörende Gewalten. Wir, die wir aus einem Jahre hinüberwandelten in das andere, wir sind bis jetzt die Sieger gewesen in diesem Kampf; diejenigen, welche der Herr hinüber genommen hat, sind die unvermeidlichen Opfer, die in demselben ge8 Vgl. 1Kor 15,18

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fallen sind. Und wie wir nun Jeder in der Stille seines Herzens ihr Andenken feiern dürfen, das muß sehr wesentlich | dadurch bestimmt werden, ob unser Gewissen uns das Zeugniß giebt, daß wir als ihre Genossen in diesem Kampfe die Pflichten der Gemeinschaft erfüllt haben, so sey denn dies, als die beste gemeinsame Vorbereitung zu der stillen frommen Betrachtung eines Jeden, der Gegenstand unserer jetzigen Betrachtung.

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Text. 1. Joh. 3, 14. Dies, m. g. Fr., ist ja die Art und Weise, wie der wahre Christ den Abschied aus dem irdischen Leben betrachten soll, daß nämlich für ihn eigentlich der Tod nicht mehr ist, weil er aus dem Tode schon in das Leben durchgedrungen ist, daß für ihn der Tod seinen Stachel, seine verwundende und zerstörende Gewalt verloren hat, und daß diese untergegangen ist in der Kraft des Glaubens und der Liebe. Aber der Apostel sagt: „nur daran wissen wir, daß wir aus dem Tode in das Leben gekommen sind, weil wir die Brüder lieben;“ und so mögen wir in Anwendung auf unsern heutigen Gegenstand diese Worte auch gleich so wenden: nur daran wissen wir, ob wir in dem gemeinsamen Kampf zwischen Leben und Tod gegen unsere dahingegangene Brüder die Pflichten der Gemeinschaft erfüllt haben, wenn bis an den letzten Augenblick ihres Lebens in dem ganzen heiligen Umfang des Worts die Liebe thätig gewesen ist. – Es giebt aber, m. g. Fr., einen zwiefachen Gesichtspunkt, aus welchem wir den Tod, und also auch den Kampf des Lebens gegen den Tod ansehen können. Zuerst der ganz natürliche, daß auch der Mensch mit seinem irdischen Leben der Vergänglichkeit unterworfen ist, und Gott allen Menschen, wie sie hier auf Erden wandeln, einmal gesetzt hat, zu sterben. Dann aber wissen wir auch, der Tod ist der Sünde Sold. Beides zwar lehrt uns die Schrift 14 des] der 7 In SAr 101, Bl. 181r folgt der Satz: „Wir bitten dazu Gott um seinen Segen und Beistand in dem Gebet des Herrn, wenn wir vorher miteinander gesungen haben aus dem dreihundertvierundachtzigsten Gesange den sechsten Vers, der sich anfängt: Dein Name sei mir ewig werth, und was dein Wort von mir begehrt, das lass mich treulich üben pp.“ Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den königlich-preußischen Landen, Berlin (bei August Mylius) 1781, Lied Nr. 384 „Erhöhter Jesu, Gottes Sohn“ (Melodie von „Mein Glaub ist meines Lebens Ruh“); V. 6 lautet vollständig: „Deyn Name sey mir ewig werth; und was dein Wort von mir begehrt, das laß mich treulich üben. Dich, den der ganze Himmel preist, dich müsse hier auch schon mein Geist aus allen Kräften lieben: so schreckt mich deine Zukunft nicht, so hab ich Muth auch im Gericht.“ 12 Vgl. 1Kor 15,55–56 28 Röm 6,23

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gewissermaßen als Eins und dasselbige ansehen, und auch unser natürliches Gefühl widerspricht dem nicht. Denn wir können uns nicht abläugnen, die Sünde und die Ver|gänglichkeit, der auch die höchste Gestalt des Lebens auf der Erde unterworfen ist, hängen so genau zusammen, daß wenn wir uns das ganze Geschlecht der Menschen denken könnten seiner Natur nach ohne Sünde, wir fast glauben müßten, auch der Tod könne für dasselbe kein natürliches Ereigniß mehr seyn. Aber in unserer vorherrschenden Betrachtungsweise, in unserm gewöhnlichen Gefühl pflegen wir Beides, und auch nicht mit Unrecht, zu unterscheiden. Der Mensch bringt den Keim des Todes mit in das irdische Leben hinein, die verborgenen Kräfte der Natur entwickeln ihn, die Gewalt der Zeit unterstützt diese Entwickelung, und wenn auf diese Weise das Leben zu Ende geht, so können wir auch den Tod nur von jener natürlichen Seite betrachten. Aber wenn wir sehen, wie viele aufreibende Gemüthsbewegungen das Leben verbittern, und eben dadurch auch verkürzen, wie feindselig die Menschen gegen einander treten, um die Gewalt der Natur gegen das Leben zu unterstützen, welches sie vielmehr gemeinschaftlich vertheidigen sollten: so sehen wir darin den Tod, welcher der Sünden Sold ist. So laßt uns denn auf Beides gegenwärtig unsere Aufmerksamkeit richten, und zuerst in Beziehung auf das Eine und dann auf das Andere uns fragen: wie können wir uns das Zeugniß geben, in dem Kampf des Lebens gegen den Tod überall die Pflichten der Gemeinschaft erfüllt, und in dem Geist der Liebe gehandelt zu haben gegen unsere Nächsten? I. Zuerst also, m. g. Fr., richten wir diese Frage an uns, insofern der Tod aus der irdischen Natur hervorgeht. Weil aber, m. g. Fr., alle menschliche Dinge schärfer in’s Auge gefaßt werden können, und also auch ein richtigeres Urtheil darüber entsteht, wenn wir sie im Großen betrachten: so laßt uns denn unser Auge dahin richten, wo wir den Kampf der verborgenen Gewalten der Natur gegen das menschliche Leben im | Großen betrachten können. Die Gelegenheit dazu fehlt uns nicht. Richtet euer Auge mit mir auf jenes unglückliche Land, das so lange schon heimgesucht wird von dem Verderben einer ansteckenden Seuche; wo ganze Häuser ausgestorben sind, und Städte verödet; wo, sobald die erste Nachricht 4 Lebens] Leben 19 Röm 6,23 35–6 Im Jahr 1821 wurde die katalanische Stadt Barcelona von einer Gelbfieberseuche heimgesucht, an der tausende Menschen starben.

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ertönt, daß in den Mauern eines Hauses einer erkrankt sey, Alle auch schon den ersten Schauer des Todes fühlen; wo menschliche Kunst bis jetzt nichts vermocht hat, als fruchtlos zu beobachten; wo alle Maaßregeln der Vorsicht vergeblich gewesen sind, und selbst die lindernde Kraft der Jahreszeit nicht im Stande gewesen ist, die Gewalt des Verderbens zu brechen. Wenn nun rohe Menschen, welche der niedrigsten Begierden auch im Angesichte solcher Verwüstungen nicht vergessen können, – wenn solche, deren Wahlspruch: „laßt uns essen und trinken, denn morgen sind wir todt,“ unter solchen Umständen nichts Anderes ist, als der Ausdruck einer leichtsinnigen Verzweiflung; – wenn diese in verödeten Städten, mit gierigen Händen eindringen, um sich einen Raub zu suchen unter dem verlassenen Eigenthum; wenn rohe Gewinnsucht, bald mit List, bald mit Gewalt, die heilsamen Schranken, durch welche die gesunden Gegenden von denen, in welchen die Krankheit wüthet, getrennt werden sollen, durchbricht, und mit Gefahr des eigenen Lebens, auch fremdes Leben in Gefahr bringt, um des schnöden Gewinnes willen: welcher gänzliche Mangel an Liebe in dem gemeinsamen Kampfe des Lebens gegen den Tod: welche tiefste Stufe der Erniedrigung, auf welcher wir doch auch solche menschliche Seelen erblicken, welche den Namen Christi nennen, und das Gebot der Liebe vernommen haben! – Sehen wir nun in ähnlichen Umständen Andere aus ängstlicher Sorge für das eigene Leben allen Pflichten für die Ihrigen den Abschied geben, und wiewohl sie sich sagen könnten, daß sie nicht im Stande sind, sich selbst sicher zu stellen, doch sich ängstlich zurückziehen und verschließen, allein auf sich bedacht, gleichgültig gegen die Leiden auch derer, die ihnen von Natur die Nächsten | sind, und denen Hülfe zu leisten sie also auch am meisten berufen wären als Menschen, die der Stimme der Liebe Gehör geben sollen: o das ist die niedrigste Selbstsucht, das ist die kleinlichste Liebe zu einem Leben, an welchem, so gebraucht und geliebt, so wenig zu verlieren ist, daß wir hier kaum noch das Wort anwenden können: „wer aber sein Leben sucht, der wird es verlieren.“ Wenn hingegen treue Sorgfalt zärtlicher Liebe die befreundeten Kranken nicht verläßt, ohne daran zu denken, wie leicht das Gift des Todes von ihnen übergehen kann in das eigene Blut; wenn auch von fern her hülfreiche Hände kommen, und scharfsichtige Augen, um zu sehen, ob irgend wie die verderbliche Gewalt geschwächt werden könne; wenn solche, die sich besonders berufen fühlen, ihr Leben den Werken der Barmherzigkeit zu weihen, die Nähe des Todes nicht scheuen, um denen hülfreich zu seyn, die schon verlassen sind von 9–10 1Kor 15,32

33 Vgl. Joh 12,25

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Allen, welchen Gott sie zunächst anvertrauet hat: o das ist die edelste Gemeinschaft in dem Kampfe des Lebens gegen den Tod, und in derselben die reinste und herrlichste Kraft der Liebe; hiebei fühlen wir, wie weit sich der Mensch erheben kann über irdische Sorge und irdische Begierde, hier erscheint uns der Geist des Christenthums in seiner schönsten Gestalt, und wir fühlen, wie der, der aus Liebe sein Leben ließ, eben solche Liebe auch eingehaucht hat denen, die an ihn glauben und ihm folgen. Aber vielleicht fragt ihr doch, was können denn wir uns Lehrreiches nehmen aus diesem auf der einen Seite so traurigen und erschütternden, auf der andern so belebenden und stärkenden Bilde? M. g. Fr., der Kampf ist überall derselbe, die verschiedenen Geschäfte dabei sind überall dieselben. Laßt uns nun unsern Blick, nachdem er geschärft ist durch die Betrachtung des Gegenstandes im Großen, auch auf dasjenige wenden, was sich Aehnliches im Einzelnen und Kleinen auch unter uns darstellt. – Es sey unter uns ein verdientes und angesehenes Glied der Gesellschaft dem Tode nahe, der Ruf davon erschalle in den ver|schiedenen Kreisen, in welchem sich das Leben des Sterbenden bewegt hat: wenn dann Dieser und Jener sogleich seine Rechnung anlegt, was für Veränderungen der Todesfall sowohl nach sich ziehen könne in dem Gange seines eigenen Lebens. – Es sey ein beachtetes Haus getroffen von der Hand des Todes; wenn dann der Hinterbliebenen Gemüth zunächst von der Sorge erfüllt ist, daß doch ja bei der Bestattung des Entschlafenen das Gepränge des Reichthums und des Wohlstandes ausgestellt, und dabei die schaulustige Neugier einer gleichgültigen Menge befriediget werde; wenn dann diese schaulustige Menge sich einfindet, durch lärmendes Getöse das Ehrwürdige des stillen Zuges stört, und jeden tiefer Fühlenden schmerzlich verletzt, selbst aber, ohne von irgend einem frommen Eindruck auch nur leise berührt zu seyn, sich an dem Trauergepränge sättigt: da müssen wir ja wohl dieselbe Rohheit und dieselbe Verläugnung alles Edleren erkennen, die wir dort im Großen gesehen, da erscheint eben so der Geist der Liebe erstorben und verstummt, und die Seele nur dem Eitlen und Vergänglichen hingegeben! Jede Erinnerung an etwas Aehnliches in unserer Nähe, muß uns diesen Tag der Feier stören, und das christliche Gefühl verletzen, welches gläubig und liebend dem Entschlafenen nachsieht; und doch werden wir gestehen müssen, daß auch solche Erscheinungen uns keinesweges fremd sind. – Oder wenn bei uns Jemand an gefährlichen Leiden darniederliegt, von unerträglichen Schmerzen gequält, und menschliche Kunst es schon aufgegeben hat, den Tod abzuwehren: können wir wohl sa6–7 Vgl. 1Joh 3,16

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gen, daß unter uns keine so weichherzige Seelen angetroffen werden, die in dergleichen Fällen nichts Angelegentlicheres haben, als sich dem Anblick der Leiden zu entziehen, um nur nicht von schmerzlichem Mitgefühl überfallen, und von dem sich immer wieder aufdringenden Bilde des Todes in der gewohnten Ruhe ohne Nutzen gestört zu werden, weil sie nämlich ja doch nicht helfen zu können glauben; denn daß Beweise der Liebe und ausgesprochenen Mitgefühls auch für etwas zu rechnen sey, fällt ihnen nicht ein. Und ist das nicht dieselbe kleinliche Selbstsucht, die nämliche Sorge allein | für sinnliches Wohlbefinden, zum Nachtheil aller edleren Regungen des Herzens, wie sie sich uns schon oben dargestellt hat? und können so gesinnte Menschen sich wohl ohne zu erröthen in eine heilige Feier der Christen, wie die heutige ist, einmischen, und unsere Empfindungen über die letzten Stunden des irdischen Lebens theilen, deren Anblick sie doch niemals haben zu ertragen und zu benutzen vermocht. Doch es hat gewiß unter uns auf der andern Seite auch nicht gefehlt an treuer und sorgsamer Liebe, welche den Leidenden begleitete bis zum letzten Augenblick, ihn aufrichtete und stärkte durch die höhere Kraft, die wir Alle nehmen können aus dem göttlichen Wort, und aus der nie getäuschten Sehnsucht des Herzens nach Dem, der Unsterblichkeit an das Licht gebracht hat. Gewiß haben wir oft gesehen, wie wahre Christen am Sterbebette der Brüder weder eigener Beschwerden geachtet haben, noch sich durch die tiefer schneidenden Empfindungen des Herzens übermannen ließen, sondern den Kelch des Mitgefühls lindernd und hülfeleistend ausleerten bis auf die letzten bittersten Tropfen, um das Werk der Liebe, bis der Athem still stand, zu vollbringen. Das, m. g. Fr., das ist der rechte gemeinsame Kampf des Lebens gegen den Tod, welcher auch den mit zum Sieger macht, der unterliegt, wenn fromme Liebe und liebreiche Frömmigkeit die letzten sonst bitteren und schweren Stunden des Lebens versüßt, daß mit der zunehmenden körperlichen Schwäche das Gefühl der geistigen Kraft nicht sinkt, sondern steigt durch die Kraft der Gemeinschaft, daß, wenn die Erde sich aufschließt, und das leibliche Auge sich dem Lichte der Sonne schließt, dann der Himmel sich aufthut, und das Licht des ewigen Lebens in die ruhig dahinscheidende Seele hineinscheint; da ist durch gemeinsame Kraft der Stachel des Todes gebrochen, und das Grab verschlungen in den Sieg. | II. Nun aber, m. g. Fr., laßt uns auch die größere, die wichtigere Seite unseres Gegenstandes in das Auge fassen: den Kampf des Lebens ge20–21 Vgl. 2Tim 1,10

36–37 Vgl. 1Kor 15,55–56

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gen den Tod, der der Sünde Sold ist, wie wir uns zu betragen haben als solche, die mit einander und für einander auch in diesem gemeinsamen Kampfe stehen, bis wir nach einander abgerufen werden von hinnen. Wenn wir auch dies zur besseren Beurtheilung der Sache im Großen betrachten wollen, so laßt uns hinsehen auf jenes andere unglückliche und zerstörte Land im Morgen. Ein Volk, nicht nur in der dunkeln Zeit des Aberglaubens und des Heidenthums die geistige Blüthe unseres Geschlechtes, sondern auch in den ersten Zeiten des Christenthums ein Licht der Welt, seufzt schon seit Jahrhunderten unter einem unwürdigen Joche, ähnlich dem Joche, von welchem schon der Apostel zu den Christen sagt: „so ihr aber frei werden könnt, so thut es viel lieber.“ – Es fühlt, wie unter diesem unwürdigen Joche ihm auch die geistigen Kräfte verschwunden sind; und nachdem es lange geduldet hat, in einem Zustande, in welchem auch die geistige Freiheit der Kinder Gottes nur spärlich aufblühen kann, rafft es sich auf, um ein besseres Loos zu erringen! Ein Theil bricht bewaffnet auf, um sich loszumachen von dem unterdrückenden Sieger, bei dem kein gegebenes Wort gilt, und unter dem es keinen Zustand des Rechtes giebt, sondern nur einer Gewalt, gegen deren Mißbrauch auch der Gehorsam nicht schützt, geleitet und gesegnet von denen, die das göttliche Recht und den Dienst am göttlichen Worte unter dem unterdrückten Volke versehen, und allerdings mit Recht dafür haltend, daß da, wo der höchsten Obrigkeit die Macht fehlt, ihre untergeordneten Diener und Werkzeuge in den Schranken der Ordnung zu halten, auch das Wort nicht mehr gelten kann: „seyd unterthan der Obrigkeit, die Gewalt über euch hat“ – so bewaffnet und geleitet macht sich ein Theil auf gegen die Unterdrücker; der andere aber bleibt ihnen wehrlos verpfändet. In herben wiederholten Kämpfen, von weni|gem Erfolg gekrönt, fallen die Einen; der wilden Mordlust preisgegeben, werden die Andern zu Hunderten geschlachtet. O welch eine reiche Erndte des Todes! aber des Todes, der der Sünde Sold ist. Nicht ohne eigene Sünde war das Volk in diesen Zustand der Unterdrückung gerathen, sondern es hatte seine Kraft vergeudet in eitler Lust und innerem Streit, und so war es eine leichte Beute wilder Verheerungssucht geworden. Aber auch nicht ohne fremde Sünde war es dahin gekommen; denn wie hätte damals Alles, was den christlichen Namen trug, zusammentreten sollen, um der hereinbrechenden rohen Schaar Einhalt zu thun, die auch jetzt noch den Namen des Herrn schändet, und sein 1.32 Röm 6,23 6–979,5 Anspielung auf den im März 1821 begonnenen griechischen Freiheitskampf gegen die osmanische Herrschaft 12–13 Vgl. 1Kor 7,21 26– 27 Röm 13,1

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Heiligthum mit Füßen tritt. Herbeigeführt also war der Zustand durch die Sünde; und der Tod, der nun seine Opfer fordert, ist, wenn auch der Uebergang zu einem neuen Leben, doch immer noch der Sold der Sünde. Wohlan also, wenn wir sehen, daß von den Wehrlosen Einige lieber dem Bunde der Christen abtrünnig werden, und den Namen des Herrn verleugnen, als daß sie die Gefahr mit ihren Brüdern theilen; wenn wir auf der Seite der Unterdrücker die wilde Raubgier, und die rohe Mordlust ungerührt von dem Anblick der wehrlosen Schwachheit sich in ihrem Blute sättigen sehen: so ist Beides: die Sache des Todes suchen, und die des Lebens im Stich lassen, die tiefste Rohheit, zu welcher der Mensch herabsinken kann. – Wenn uns berichtet wird, wie auch diejenigen, die für die Sache des Rechts kämpfen, und überzeugt sind, nichts zu thun, als was gegründet ist in dem Rechte des Menschen, und nichts, was sie nicht thäten zur Ehre des Herrn; wenn auch diese dennoch in ihren Kampf einmischen rachsüchtige Leidenschaften und persönliche Erbitterung, und auch an ihrem Theil menschliche Leiden mehren aus unreinem Triebe; wenn Schwache, zitternd vor jeder Gefahr, wünschen, die Brüder möchten lieber das Schwerdt der Befreiung nicht ergriffen haben, sondern vorgezogen, noch länger zu beharren in dem Zustande der Unterdrückung und Rechtlosigkeit: so zeigt uns Beides, wie auch, wenn der Keim des Guten in dem Gemüth nicht ganz erstorben ist, | auch wenn edlere Triebe die Seele in Bewegung gesetzt haben, doch die Schwachheit der sinnlichen Natur, doch die Fähigkeit, leidenschaftlich erregt zu werden, auf das bessere Bestreben verunreinigend einwirken, und der Sünde den Zugang verschaffen. Sehen wir hingegen auf der andern Seite heldenmüthige Seelen, weder ihre eigene Gefahr achtend, noch die Gefahr derer, die ihnen vielleicht die Nächsten sind durch die Bande des Blutes, verwandt auf jeden Fall durch die gemeinsame Abkunft und die gemeinsamen Schicksale, – den heiligen Zweck, den sie sich einmal gesetzt haben, verfolgen, aber immer geregelt durch das Gesetz der Liebe und der Gerechtigkeit, die Leiden, welche unvermeidlich sind, nicht erschwerend, dem besiegten Feind Milde erzeigend, durch die Ungerechtigkeit nicht verleitet, Böses mit Bösem zu überwinden, sondern Wort und Treue festhaltend, und mitten unter den wilden stürmischen Kämpfen bemüht, den ersten Grund zu legen zu einem künftigen würdigeren und heiterern Leben; sehen wir eben diejenigen unter ihnen, welche den Feinden ihres Volkes hingegeben sind, mit sehnsüchtigen Blicken den Kampf für die Freiheit verfolgen, und, wie nahe ihnen die Gefahr 22–23 Triebe die] Triebe, die die 2–45 Vgl. Röm 6,23

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auch drohe, selbst in den nächsten Augenblicken als Opfer wilder Rache zu fallen, doch mit inbrünstigen Wünschen ihre in der Ferne kämpfenden Brüder begleiten, und sich stärken durch die Hoffnung und das Bild eines schöneren Lebens, welches auf den Trümmern des alten entstehen soll: o das ist ein christlicher Heldenmuth, nicht unwürdig jener Zeiten, als die ersten Zeugen des Erlösers ihr Blut vergossen für die Wahrheit des Christenthums, nicht unwürdig aller Zeiten, welche köstliche Güter des Lebens erstreiten mußten, durch muthigen Kampf gegen Wahn und Verkehrtheit, und so auch nicht unwürdig der Jahre, die uns die erste Veranlassung gegeben haben zu diesem Feste. So kann denn auch die Anwendung hiervon auf unsern jetzigen ruhigen und sicheren Zustand uns nicht schwer werden. | Denn ruhiger wohl ist er, und sicherer als der vorige; aber ist er schon ein solcher, der ganz frei wäre von eben der Sünde, in deren Gefolge wir dort den Tod seine reiche Erndte halten sehen? ist unser Zustand ein solcher, daß Jeder die Macht, welche ihm die Gesetze anvertrauet haben, nur gebraucht, um das gemeinsame Wohl Aller zu fördern, und aus allen Kräften das Recht jedes Einzelnen zu schützen, daß Alle, die zu unserm gesellschaftlichen Bunde gehören, auch einander wahrhaft befreundet und verbrüdert sind, und nicht doch der Eine Diesen, der Andere Jenen auszeichnet als einen solchen, der ihm feindlich gegenüber stehe auf der Bahn der Thätigkeit sowohl, als des Genusses? Sind wir hierüber noch nicht dadurch sicher gestellt, daß Jeder den Platz, aber auch nur den einnimmt in der gemeinsamen Ordnung, den die Kräfte, die ihm Gott gegeben, den der würdige Gebrauch, den er davon macht, den die Schätze seiner Erfahrung und Weisheit ihm anweisen: dann ist auch noch immer Veranlassung zu ruhestörenden und aufreibenden Gemüthsbewegungen, und wir fragen uns dann billig bei dem Andenken an unsere Verstorbenen, wie wir uns gegen sie gehalten haben in dem gemeinsamen Kampf gegen diese Gewalten, welche das Leben trüben, und also verkürzen. – Giebt es nun unter uns solche, die, eben weil Unruhe das Leben aufreibt, keine andere Sorge haben, als nur, wie sie selbst ruhig ihres Weges wandeln können, nie aber mit Gefahr eigener Unruhe mit dafür sorgen wollen, daß Andere nicht beunruhigt werden, sondern der eigenen Ruhe wegen ihre Meinungen über das Gute und Böse, über das Vortheilhafte und Nachtheilige, über Recht und Unrecht unwillkührlich wechseln, wie 10–11 Anspielung auf die Jahre der Freiheitskriege 1813–1815, die Anlass gegeben haben zur Einführung des Totensonntags, der ursprünglich dem Andenken der Gefallenen gewidmet war. König Friedrich Wilhelm III. hatte in Preußen durch Kabinettsorder vom 24. April und vom 17. November 1816 ein „Allgemeines Kirchenfest zur Erinnerung an die Verstorbenen am letzten Sonntag des Kirchenjahrs“ eingeführt.

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anders Gesinnte mächtig werden, und die einflußreichen Stellen ihres Kreises einnehmen; giebt es, wenn Andere, die unnöthigerweise, weil anderwärts das Unterste ist, zu oberst gekehrt worden, auch bei uns das Untere noch tiefer herabdrücken möchten, damit es langsamer emporkomme, und ihnen minder gefährlich werde, und die, ohne das gemeinsame Wohl im Auge zu haben, nur das zu bewirken suchen, wodurch ihr Ansehen und ihre Gewalt erhalten und gefördert wird: was ist das anders, als eben jene treulose | Entzweiung im Gemeinsamen für das Leben, die wir dort im Großen sahen? Und alles Unrecht, was sich auf diesem Wege vervielfältigt, aller Argwohn, der in die unbefangenen Gemüther geworfen wird, alle Verkürzung des Lebens, die aus der muthwilligen Verwirrung der Verhältnisse hervorgeht: wieviel Gewalt wird dadurch dem Tode eingeräumt, der der Sünde Sold ist! Und wenn die Wahrheit, die doch allein das Leben beruhigen kann, entstellt wird und verhüllt, um einen schmählichen Frieden zu schließen zwischen Gewissen und Vortheil, und ohne innere Vorwürfe thun zu können, was die Selbstsucht gebietet; wenn der Eifer für die gemeinsamen Angelegenheiten durch Einmischung persönlicher Beziehungen verunreinigt wird; wenn die gerechtesten Hoffnungen des gegenwärtigen Geschlechtes für das künftige getäuscht werden, indem diejenigen, welche am Besten dem gemeinsamen Wohle dienen würden, in ihrem natürlichen Laufe zurückgehalten werden, um minder Brauchbare zu begünstigen; kurz wo und wie nur immer menschliche Leidenschaften über dasjenige schalten, was allein durch Weisheit und Recht geordnet werden sollte: werden dadurch nicht dem armen Leben die kräftigsten Stützen geraubt, und wird nicht der Grund gelegt zu einem ähnlichen Verfall desselben, wie wir ihn dort gesehen haben? Aber, m. g. Fr., fehlt es auch unter uns nicht an reinen Seelen, die nichts wollen in dem gemeinsamen Leben, als den Frieden und die Eintracht auf dem Grunde der Wahrheit erbaut, die nicht suchen das Ihre, sondern das, was des Nächsten ist, aber auch wieder nicht dasjenige, was nicht in Wahrheit und im höchsten Sinne des Worts das Seine ist, und eben deßwegen nichts Anderes, als das Reich des gemeinsamen Herrn, dem wir Alle dienen sollen; fehlt es nicht an Solchen, die überall, wo sie können, die störende und vernichtende Kraft des Unrechts und der Leidenschaften zu dämpfen suchen, durch alle Erweisungen reiner Liebe, die sich hüten, den Streit gegen das Verkehrte, was früher oder später von selbst hinfällt, unnöthig zu verbittern, | vielmehr die nachtheiligen Eindrücke zu verwischen suchen, die sich unter solchen Verhältnissen nur zu leicht erzeugen; giebt es noch Solche, die Jeden, der ihnen auf dem Wege des Lebens entgegen kommt, nach dem Maaße der Gaben, die er von Gott empfangen hat, 13–14 Röm 6,23

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als ein Werkzeug ansehen, welches er sich zu seiner Ehre erwählt hat, und Jeden zu unterstützen suchen in jedem Dienst, den er Gott und dem gemeinsamen Erlöser leistet, und die in solchem Sinne das ohnehin schon trübe Leben des Menschen zu erheitern bemüht sind durch den reinsten, geistigen Genuß: – Diese, m. g. Fr., und Diese allein haben das Recht, ein Fest zu feiern, wie das heutige, denen allein steht zu Gebote ein Andenken an die Verstorbenen, welches durch keine Reue getrübt ist. Denn diese können sich sagen, sie haben jedes Leben, so weit es in ihren Kräften stand, geschirmt gegen die Eingriffe roher Gewalt und Verkehrtheit, sie haben Alles treulich gepflegt und bewahrt, was dem Leben einen Werth giebt, und jeder wohlthätigen Kraft des Geistes ihr Recht zu verschaffen gesucht. Ohne durch andere Empfindungen gestört zu werden, können diese bei dem Andenken an unsere dahingegangenen Brüder sich ganz der frohen Hoffnung des Christen überlassen, des Glaubens sich bewußt seyn, der den Tod überwunden hat, und der Liebe zu den Brüdern, gegen die sie sich nie versündigt haben. So ist denn, m. g. Fr., diese Feier für uns Alle zugleich eine ernste und heilige Prüfung. Jeder Dahingegangene, dem wir hätten Gutes erzeigen sollen, was wir ihm nicht erzeigt haben; jeder Dahingegangene, dessen Leben Störungen erfahren hat, welche wir, ich will nicht sagen, selbst herbeigeführt haben, aber gegen welche wir ihn hätten schützen können, wenn wir treu gefolgt wären: jeder Solcher macht uns Vorwürfe an einem Tage wie der heutige; das Andenken an ihn muß uns erfüllen mit dem Bewußtsein, daß auch wir der Sünde gedient haben, deren Sold der Tod ist, welcher herrschen wird, bis ganz und überall das Gesetz des Erlösers, das neue Gesetz der Liebe, | herrscht, und Alle mit gleicher Treue ihm folgen und seinen Willen thun. Dahin also laßt uns trachten, daß wir, Dem treu, der sich für uns Alle dahingegeben hat, uns eben so gern hingeben für unsere Brüder, und, in dem treusten Bunde der Liebe mit ihnen verharrend bis an den letzten Augenblick, bereit seyn, Jedem das zu gewähren, was wir sollen und können. Dann ist auch jedes Andenken an die Entschlafenen mild, ist jeder Schmerz um sie edel und würdig; und indem wir Die feiern, die dahingegangen sind, feiern wir zugleich den Fürsten des Lebens, der sie aus dem vergänglichen Leben in das ewige Reich des Friedens hinweggenommen hat. Amen. Schl.

25–26 Röm 6,23

27 Vgl. Joh 13,34

29–30 Vgl. Röm 8,32

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Am 2. Dezember 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 1,76–79 Nachschrift; SAr 81, Bl. 74r–90v; Slg. Wwe. SM, Andrae Predigten, ed. Billig, Bd 4, 1868, S. 1–9 (Textzeugenparallele) Nachschrift; SAr 52, Bl. 97r; Gemberg Nachschrift; SAr 60, Bl. 235r–238v; Woltersdorff Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am ersten Adventsonntage 1821. am zweiten Khristmonds. |

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Es ist eine sehr natürliche Einrichtung, daß die khristliche Gemeinde ihr neues Jahr beginnt mit der zur Feier der Ankunft des Erlösers auf Erden besonders bestimmten Zeit. In sein Reich sollen wir eingehen; und alles was uns unser irdisches Leben wünschenswerth macht, und uns darin das Bewußtsein des Ewigen und des Himmlischen giebt und sichert, das verdanken wir ihm. Wie könnten wir also einen neuen Abschnitt unsers Lebens aus einem andern Gesichtspunkte ansehen als aus diesem, daß er auch ein neuer Ansaz gleichsam sein soll und eine neue Ermunterung uns hervorgehen, das Reich des Erlösers auf der Erde zu fördern, und uns jeder sich selbst und alle insgesamt in den immer reichern Genuß seiner Wohlthaten zu versezen. Dies aber, m. g. F., können wir nur auf eine würdige und ihm wohlgefällige Weise, wenn wir in uns selbst hineingehend uns prüfen, was denn dem Reiche des | Herrn auf Erden noch fehlt, um seiner ganz würdig zu sein, und seine Herrlichkeit ganz und rein zu verkündigen. Alles, alles Höhere und Geistige fehlte der Welt ehe er erschien; aber ganz ist der Zweck seiner Sendung nicht erfüllt, und ganz offenbart sich seine göttliche Kraft nicht in seinem Reiche auf Erden, als bis alle Mächte, welche damals das menschliche Geschlecht drükten, aufgehoben sind, und die Fülle aller

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1 Predigt ... 1821.] über der Zeile I.

9 Gesichtspunkte] Geschichtspunkte

1 Die Zählung I. bezieht sich darauf, dass der Tradent Andrae über eine weitere Predigtnachschrift zum selben Datum verfügte, vgl. die Predigt vom 2. Dezember 1821 nachm.

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seiner Güter über die Seinigen ausgegoßen. Wenn wir also, m. g. F., mit einander in jene Zeiten zurükgehen, als der Erlöser noch nicht da war, aber alle, die noch fähig waren ihre Wünsche gen Himmel zu kehren, das Heil von oben erwarteten; wenn wir darauf achten, in welchem Zustand sich damals das menschliche Geschlecht befand, und aufsuchen was in unserm gegenwärtigen dem ähnlich ist, und die wenn gleich entfernte Ähnlichkeit daran zeigt: dann werden wir | erkennen, was uns noch fehlt, und dann werden unsre Bestrebungen für das neue Jahr unsres khristlichen und gottseligen Lebens ihre bestimmte Richtung erhalten. Dazu möge denn unsre heutige Betrachtung wirksam sein unter dem Segen Gottes, den wir anrufen in dem Gebete des Herrn, wenn wir vorher mit einander gesungen haben die beiden Verse die sich anfangen:

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Tex t. Lukas I, 76–79. Und du Kindlein wirst ein Prophet des Höchsten heißen; du wirst vor dem Herrn hergehen, daß du seinen Weg bereitest, und Erkenntniß des Heils gebest seinem Volk, die da ist in Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unsers Gottes, durch welche uns besucht hat der Aufgang aus der Höhe, auf daß er erscheine denen, die da sizen in Finsterniß und Schatten das Todes, und richte unsre Füße auf den Weg des Friedens. | Diese Worte, m. g. F., sind aus dem Lobgesang des Zacharias, des Vaters Johannes des Täufers, welchen er sprach, als sein Mund wieder aufgethan war, und das Kindlein geboren worden, und zu einem Mitgliede des Volkes Gottes eingeweiht war. Aber es bezieht sich darin alles nicht auf das Kind selbst, sondern auf denjenigen, vor welchem es hergehen sollte. Von ihm wird nur gesagt, er solle seinem Volke geben Erkenntniß des Heils, welches da sein würde in der Vergebung ihrer Sünden, und welches dadurch käme, daß der Aufgang aus der Höhe sie besuchte. Wenn wir nun, m. g. F., in Beziehung auf das, was ich vorher gesagt habe, aus diesen Worten uns ein Bild machen wollen von dem Zustand des menschlichen Geschlechts, als die Ankunft des Erlösers noch erwartet wurde: so scheint es freilich, als dürften wir dabei nicht allein sehen auf das Volk, unter welchem er sollte geboren | werden; denn diesem allein war sein Heil nicht bestimmt. Aber auch der Blik jenes begeisterten Mannes erhob sich über die Gränzen seines Volks und seines Landes. Von diesem spricht er, daß ihm Not thue Vergebung der Sünde zu empfahen, durch die Barmherzigkeit unsers Gottes, und weiset uns also hin auf den Zustand der Sünde, in welchem sein Volk gefan12 „Heiland den uns Gott verhieß“, vgl. Liederblatt, Lied unter der Predigt (unten Anhang)

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gen lag; aber dann sagt er weiter, der Aufgang aus der Höhe der habe sein Volk besucht, auf daß er auch erscheine denen, die da sizen in der Finsterniß und im Schatten des Todes – und darunter versteht er alle die Völker, die noch in der Dunkelheit des Gözendienstes wandelten, ohne den Einen Gott, der da Himmel und Erde gemacht hat, zu erkennen, wie denn unter den Beßern in jenem Volke des alten Bundes immer die Hoffnung lebendig war, daß wenn der Rathschluß Gottes an demselben würde ganz in Erfüllung gegangen sein, alsdann | die Erkenntniß Gottes sich auch über den andern Geschlechtern der Menschen ausbreiten würde. Indem er also von diesen sagt, daß sie noch in dem Schatten des Todes sizen, so richtet er unsre Aufmerksamkeit auf den Zustand der Verfinsterung, in welchem sie sich befinden. So laßt uns also auf dies beides nach der Anleitung unsers Textes achten, und dabei unsern eigenen Zustand nicht vergeßen, sondern von jenem diejenige Anwendung auf uns machen, die sich bei näherer Betrachtung dieser Worte uns von selbst ergeben wird. Dazu sei der Herr jezt mit uns allen. I. Wenn wir also zuerst unsre Aufmerksamkeit richten auf den Zustand, in welchem sich das Volk Israels befand, zu der Zeit, wo, wie wir es in den Erzählungen unsrer Evangelien wiederholt lesen, unter allen denen die den | Herrn fürchteten die nahe Erwartung seines Gesandten sich zu regen begann: so beschreibt uns Zacharias in seinem Lobgesange diesen Zustand nun dadurch, daß er sagt, es müße ihnen das Heil kommen durch die Vergebung ihrer Sünden vermöge der Barmherzigkeit unsers Gottes. Allein wenn wir auf dasjenige was wiederholt die Propheten das Höchsten unter jenem Volke verkündigt hatten, und weshalb sie es so oft drohend gewarnt hatten, wenn wir darauf sehen: so werden wir damit auch finden, was denn dem Zacharias vorzüglich vorschwebte, wenn er an die Sünden seines Volks dachte. Es war aber immer Eins von diesen beiden, worüber die Diener Gottes dasselbe suchten zur Erkenntniß zu bringen. Einmal war es besonders in den ältern Zeiten desselben nicht selten daß es zurükfiel von der Erkenntniß Gottes in die Abgötterei der Völker, | welche es umgaben. Als der Herr sich sein Volk auserwählte, so gehörte es unter die ersten Gebote, die er ihnen gab, daß sie sich von ihm kein Bildniß noch irgend ein Gleichniß machen sollten. Als in der Folge, da das Volk groß geworden war und mächtig vor dem Herrn, einer ihrer Könige dem Herrn einen prächtigen Tempel baute, da unterschied sich derselbe von allen Tempeln der Heiden dadurch, daß auch in dem innersten Heiligthum dennoch kein Bildniß des Höchsten Wesens zu schauen war. Und so wie auf diese Weise die Gedanken des Volkes von allem Sinnlichen sollten abgezogen werden, so hatten auch 34–35 Vgl. Ex 20,4; Dtn 5,8

36–39 Vgl. 1Kön 8,12

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die Gottesdienste desselben zwar viel Erhabenes und Feierliches, aber alles von der Art, daß es seine Bedeutung und seinen Werth nur erhielt durch einen höheren und geistigen Sinn, auf welchen das Gefühl sollte geleitet werden. Das Volk | aber war noch roh und vermochte nicht sich auf dieser Höhe zu halten; es wurde angelokt durch die sinnliche Pracht des heidnischen Gottesdienstes; und wie es schon in der Wüste, als Moses zögerte auf dem Berge, mit ungläubiger und verkehrter Andacht sich ein güldenes Kalb machte um es anzubeten, bis der Ruf von der Gesezgebung und der Verheißung, die er bringen wollte, sich erfüllen würde: so kehrte es auch in der Folge oft zurük zu dem heidnischen Aberglauben der Völker, welche es umgaben, wo alles Äußere etwas hatte, was die Sinne der Menschen unmittelbar an sich zog, und ihnen eine bald unschuldigere bald auch mehr verkehrte und sträfliche Befriedigung gab. Das Zweite aber, worüber die Propheten sehr oft dem Volke des Herrn Vorwürfe machten, das war, wenn sie sich ihm | auch naheten, daß sie es nur thaten mit ihren Lippen und mit ihren Händen, ihr Herz aber blieb fern von dem Herrn; daß sie zwar nicht fehlen ließen die Opfer, welche sein heiliges Testament foderte, und die Reinigungen, die ihnen das Gesez auflegte, aber deß nicht gedachten oder gedenken mochten, daß Gehorsam noch beßer sei denn Opfer, und daß nicht dasjenige den Menschen verunreinige was in ihn hineingeht, sondern das was aus ihm herausgeht. Und so mit Verabsäumung des Großen und Wichtigen, wie auch unser Herr noch eben dieses seinen Zeitgenoßen so oft vorwirft, hielten sie sich an das Kleine und unbedeutende Äußerliche, was nur in seiner natürlichen Beziehung auf jenes Innere und Höhere irgend einen Werth vor den Augen Gottes haben kann. Das waren die Verirrungen der Sünde, m. g. F., von welchen Zacharias fühlte daß | es seinem Volke Not thue Vergebung zu empfangen durch die Barmherzigkeit unsers Gottes. Aber wir, m. g. F., was können und sollen wir uns für eine Anwendung auf unsern Zustand machen von jenen Verirrungen des alten Bundesvolkes? Der Herr, m. th. F., hat uns das große Wort hinterlassen „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten die sollen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten“; aber wohl kennend die Schwäche der menschlichen Natur, weil er uns in Allem gleich geworden ist, ausgenommen die Sünde, hat er auch das andre tröstliche und erfreuende Wort gesprochen „wer mich siehet, der siehet den Vater“; und wenn wir beides auf die rechte Weise mit einander verbinden, so sind das die Grundlagen einer wahrhaft khristlichen Frömmigkeit, von welchen ein Abweg | weder in das Sinnliche der Abgötterei noch in die Verkehrtheit einer äußeren und eigenen Gerechtigkeit und Werkheiligkeit nicht möglich sein soll. Und dennoch, m. g. F., finden wir von beidem 6–8 Vgl. Ex 32,1–6 14–16 Vgl. Jes 29,13 (zitiert in Mt 15,8–9) 19 Vgl. 1Sam 15,22 20–21 Vgl. Mt 15,11 30–31 Joh 4,24 32–33 Vgl. Hebr 2,17; 4,15 34–35 Joh 14,9

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immer noch die Spuren in den Gemüthszuständen der Khristen, denn so oft wir auf irgend etwas in den schönen Gottesdiensten der khristlichen Kirche einen andern Werth legen als den, daß es ein Mittel ist, um die Gemüther zu vereinigen, denn der ein Geist ist im Geist und in der Wahrheit anzubeten, daß es ein Mittel ist, uns immer und unabläßig denjenigen gegenwärtig zu erhalten in dem Innern unsers Herzens, mit welchem und in welchem wir zugleich den Vater nicht nur sehen, sondern ihn auch in uns wohnen haben, wenn wir sage ich, auf irgend etwas was sich in dem Gottesdienst der Khristen | gebildet hat, einen Werth legen an und für sich selbst, und fürchten dies oder das daran zu ändern, wodurch doch jener Zwek der Vereinigung der Gemüther für den Einen wichtigen Gegenstand vollkommner würde erreicht werden oder dies und jenes beseitigt, was in der gegenwärtigen Zeit, wie denn jede darin ihre eigene Art und Weise hat, mehr geeignet ist die Gemüther an sich zu ziehen, und von dem Ewigen abzuwenden: was ist das anders als ein Verlaßen der reinen Anbetung Gottes im Geist und in der Wahrheit? was ist es anders als ein geheimer Fallstrick, den uns die Gewalt des Sinnlichen legt, um unsere Gottseligkeit und unsere Gottesverehrung zu verunreinigen? was ist es anders als ein Dienst, den wir dem Geschöpf leisten und dem Menschenwerk, und der uns abzieht von dem Dienst des Herzens und des Geistes, den wir dem Ewigen, | dem Vater unsers Herrn Jesu Khristi, und seinem Sohne allein leisten sollen? Wiederum, unser Herr und Erlöser hat uns gesagt, „wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben; wer zu mir kommt und trinket von dem Waßer, das ich ihm geben werde, in dem wird es werden eine lebendige Quelle, welche in das ewige Leben strömt“; und mit Einem Mund verkündigen uns seine Apostel, der Mensch werde nicht gerecht durch irgend ein Werk des Gesezes, sondern allein durch eben diesen Glauben an den Erlöser, durch den Glauben der durch die Liebe thätig ist. Aber, m. g. F., ist es wohl immer und überall so unter uns daß wir in nichts Anderem unsre Rechtfertigung vor Gott suchen als eben in der lebendigen Gemeinschaft mit dem Erlöser, dem wir den Glauben verdanken, und der die ewige Quelle in uns sein | soll der Liebe, von der er uns das herrlichste Vorbild gegeben hat, indem er für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren? Machen sich nicht auch die Khristen immer noch mehr oder weniger Werke der eigenen Gerechtigkeit, denen sie vertrauen? haben sie nicht noch Wünsche und Bestrebungen, von denen man nicht sagen kann, daß sie aus dem Glauben an den Erlöser hervorgehen, und daß die Liebe, die der seinigen nachgebildet ist, sich darin thätig zeigt? wollen sie nicht noch etwas Anderes bauen auf der Erde, die ihnen der Herr gegeben hat, als sein Reich, das Reich der Gottseligkeit und des Friedens? Und wo wir uns solche eigen gewählte Gegenstände 15–16 Vgl. Joh 4,23–24 22–23 Vgl. Joh 3,36; 6,40 23–25 Vgl. Joh 4,14 27 Vgl. Röm 3,20; Gal 2,16 27–28 Gal 5,6 32–33 Vgl. Röm 5,8

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unserer Bestrebungen machen, mögen sie uns auch noch so löblich erscheinen; wo irgend etwas anderes uns selbst Befriedigung gewährt in einem irregeleiteten Gewißen als der Glauben und die Liebe, durch welche er thätig ist: o da haben | wir uns verirrt von dem Wege, den der Erlöser und seine Jünger uns gezeigt haben; da ist uns irgend eine eigene Gerechtigkeit entstanden, die nicht die Gerechtigkeit des Herrn ist; und indem wir also dasjenige versäumen was sein heiliger Wille ist, und dagegen etwas anderes suchen und errichten, was nur aus dem unsrigen hervorgeht, was können wir dann anders sagen als wenn wir uns dem Herrn nahen, so geschieht es mit unsern Lippen, da doch wirklich unser Herz fern ist von ihm und von seinem heiligen Willen, und auf irgend etwas anderes, wonach unser Herz strebt, und was unser irdischer Verstand sich aufgebaut hat, gerichtet hat? So, m. g. F., so finden wir noch immer, wenn wir genau auf unser Leben und auf unsre inneren Bewegungen | achten, jene beiden verkehrten Neigungen in uns, welche gänzlich auszurotten der Herr eben erschienen war. Wenn wir uns noch nicht halten können an den Gott allein, der im Geist und in der Wahrheit angebetet sein will, an den ewigen Vater allein, den wir schauen in dem Sohne, welcher sein Ebenbild ist; wenn wir noch nicht dem kindlichen Gehorsam in der Erfüllung des neuen Gebotes, welches der Herr uns gegeben hat, uns unter einander zu lieben wie er uns geliebt hat, ein Gebot, zu deßen Erfüllung der Mensch ohne den Glauben an denjenigen, der mit dieser Liebe voranging, gar keine Kraft hat noch haben kann, wenn wir dem nicht allein unser ganzes Dasein weihen, und in ihm nicht unsre ganze Befriedigung finden: o so sind | wir noch auf dem verderblichen Wege einer eigenen Gerechtigkeit, von dem wir umkehren müßen, weil wir da das Reich Gottes nicht fördern können, und weil das nicht die Richtung unsrer Füße auf dem Weg des Friedens ist. II. Von den Heiden aber, m. g. F., zu denen wir uns in dem zweiten Theil unsrer Betrachtung wenden, sagt Zacharias, daß sie noch säßen in dem Schatten des Todes und will dadurch ausdrüken die tiefste Finsterniß, von welcher ihre Seelen umlagert waren, und den gänzlichen Mangel des himmlischen Lichtes, dem sie erlagen. Aber, m. g. F., das war kein natürlicher Mangel; denn der Apostel sagt „daß ein Gott ist, das ist ihnen offenbar; so sie deß wahrnehmen, sintemal es ihnen | kund wird durch die Werke der Schöpfung“. Aber er sagt, sie haben die angeborne Erkenntniß Gottes verkehrt durch Ungerechtigkeit – und das, m. th. F., das ist freilich nicht zu verkennen, der Gang, welchen die Menschen eingeschlagen haben, um in jene tiefe Nacht, in jenen Schatten des Todes zu versinken. Das Gemüth auf das 16–17 Vgl. Joh 4,24 17–18 Vgl. Joh 14,9; 2Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3 19– 20 Vgl. Joh 13,34 34–36 Vgl. Röm 1,19–20 36–1 Vgl. Röm 1,18.21–23

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Sinnliche und auf das Vergängliche gerichtet verfinstert den Verstand; und wenn der Verstand erst verfinstert ist, so bringt er dann solche Gedanken hervor, die dasjenige entschuldigen, um deßentwillen ihn sein innerstes Gefühl verklagt; und indem er so sich selbst hintergeht, so webt er um sich her jenen Schleier, der ihm immer mehr das göttliche Licht verbirgt; und durch seine eigene Thorheit und sein eigenes Werk versinkt er immer mehr in den Schatten | des Todes. Da erstarb mit der Erkenntniß des Einigen und lebendigen Gottes immer mehr auch das reine Gefühl für seinen heiligen Willen; da ward, was dem menschlichen Bewußtsein unauslöschlich tief eingeprägt zu sein scheint, Recht und Unrecht, Gutes und Böses immer mehr unter einander verwirrt; und so vermehrte die Finsterniß des Verstandes die Verkehrtheit des Herzens, und das verkehrte Herz litt nicht, daß der Verstand sich aus der Finsterniß erhob und das Dunkel zu zerreißen suchte, welches ihn umgab. So war es bis das ewige Licht kam, und in die Finsterniß hineinschien, und die Finsterniß nahm es zwar nicht auf, aber sie konnte doch nicht ganz seiner ewigen und göttlichen Kraft wehren, immer näher rükte es dieser Finsterniß, | immer sanfter und milder berührte als es die verblendeten und geschloßnen Augen, bis sie allmälig geöffnet werden, und sich nach Vermögen des Lichtes freuten. So auch wir, m. g. F., wir – deren Vorfahren ebenfalls Jahrhunderte lang in jenem Schatten des Todes saßen, und sich ebenfalls wie die Völker, von denen der Apostel redet, Bildniße der höheren Wesen gemacht haben, welche glichen den verkehrten Neigungen ihres eigenen Herzens, und welche ihre Wünsche und Leidenschaften verherrlichten; aber auch sie konnten nicht wiederstehen dem wiederholten Eindringen des himmlischen Lichtes durch einzelne zerstreute Gläubige, welche zufällig sich unter ihnen einfanden, und durch die Helden des Glaubens, die es zum Geschäft ihres Lebens machten ihn zu verkündigen und zu verbreiten – so ist auch uns | aufgegangen das Licht des Evangeliums in der Erkenntniß des Erlösers, und wir sind errettet aus dem Schatten des Todes, und es scheint uns so daß wir nicht mehr der Finsterniß angehören, sondern ein Theil sind von dem schönen und lieblichen Reiche des Lichtes. Wohlan! wir sind nun nicht mehr verwiesen an jenes angeborne Licht, welches sich so leicht in Finsterniß verwandeln ließ, und durch die Gewalt der menschlichen Leidenschaften erlöscht wurde; wir haben das Licht unter uns wohnen; es scheint uns aus dem göttlichen Wort, welches uns bewahrt worden ist durch so viele Jahrhunderte, und welches uns aufs neue geöffnet ist, nachdem es so lange geschloßen war, und in der Khristenheit selbst fast in Vergessenheit begraben. So ist es denn nun unser 30 uns] um 14–15 Vgl. Joh 1,5.11

21–23 Vgl. Röm 1,23

34–35 Vgl. Joh 1,4–5.14

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Beruf es uns zu erhalten; das | große Wort des Erlösers „forschet in der Schrift, sie ist es, die von mir zeuget“, das ist uns allen gesagt, und der erste Ruhm auch angehender Khristen und ihr schönster ist es immer gewesen, fleißig zu forschen in dem Worte des Herrn. Thun wir aber das? sichern wir durch treue Bewahrung und Benuzung dieses Schazes dem Reiche des Lichtes unter uns sein Bestehen, und wehren immer mehr der Finsterniß, damit das Licht auch in die verborgensten Winkel hineinscheine und glänze, und Alles von demselben durchdrungen werde, und sich nichts Dunkles mehr halten könne vor seinem Schein? Wenn wir es aber nicht thun wie wir sollen; wenn wir die Erkenntniß der heilsamen Wahrheit in Khristo Jesu, zu der wir alle berufen sind durch die Gnade unsers Gottes, wenn wir diese vernachläßigen: o was kann uns dann anders begegnen, m. g. F., als daß wir auf der einen Seite um desto leichter bewegt werden von einem jeden Winde der Lehre, daß wir dem Tone menschlicher Stimme folgen, und vergänglichem Lichte | mit unsern Schritten nachgehen, weil wir verlernt haben oder vergeßen, in das ewige hineinzuschauen? oder daß uns auf der andern Seite das Wort des Lebens, welches eben durch den fleißigen und reinen Gebrauch desselben eine lebendige Quelle für uns werden soll, die in das ewige Leben fließt, daß sich uns das verhärtet und erstirbt, in dem todten Buchstaben, der da tödtet weil der Geist aus demselben gewichen ist? oder endlich, wenn wir verabsäumen, uns durch das Licht des göttlichen Worts immer mehr zu erleuchten, daß uns dann begegnet, die köstliche Freiheit der Kinder Gottes, welche uns verliehen ist, zu mißbrauchen, der Sinnlichkeit, die durch den Geist überwunden sein soll, mehr oder weniger die Herrschaft wieder einzuräumen, das Gefühl für dasjenige, was Gott wohlgefällig ist, und die Erkenntniß seines heiligen Willens zu verunreinigen? Wo wir also diese Mängel sehen in der Khristenheit, | m. g. F., da ist noch das Verderben der heidnischen Finsterniß, da ist noch nicht ganz überwunden in uns was der Gewalt des Lichtes wiederstrebt, da ist das Herz noch nicht so geheiligt, daß es nicht durch seine Verkehrtheit den Verstand mehr oder weniger wieder verfinstert könnte. Und wenn dann, m. g. F., auf diese Weise das Auge des Geistes, welches forschen soll in der Schrift, sein reines Licht verloren hat, und wieder dunkel geworden ist: o was Wunder dann, wenn wir auch das nicht mehr finden was der Herr sagt, daß sie uns von ihm zeugt? was Wunder dann, wenn auch aus der einfachen Wahrheit des göttlichen Wortes jeder sich seine eigene Lehre bildet, und seine eigene Verflechtung von menschlichem Wahn und von verderblichem Irrthum? Und wie der Apostel sagt von den Heiden, daß sich auch 14 menschlicher] Ergänzung aus Predigten, ed. Billig, S. 7 1–2 Vgl. Joh 5,39 23 Vgl. Röm 8,21

10–11 Vgl. 1Tim 2,4; 2Petr 1,3

20–21 Vgl. 2Kor 3,6

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ihnen Gott nicht hätte unbezeugt gelassen, daß sie aber | durch die Schuld ihrer eigenen Verkehrtheit, statt sich des Lichtes zu freuen, in dem Schatten des Todes säßen: so, m. g. F., müßen wir es auch wohl von uns selbst gestehen, nach so vielen Kämpfen um das himmlische Licht des göttlichen Wortes, wie viel tiefer und gründlicher sollte es schon uns alle erleuchtet haben, wie viel klarer und einfacher sollte die große Wahrheit des Evangeliums schon uns allen fest stehen; wie sollte der Geist Gottes, der das Licht des Herrn dem Menschen immer näher bringen will, schon alle verkehrte menschliche Bestrebungen vernichtet haben, daß wir nicht mehr vermöchten menschlichen Fabeln und den Verirrungen des menschlichen Verstandes Gehör zu geben, sondern allein folgten dem reinen Licht von oben, welches uns gegeben ist in dem göttlichen Geist. O, m. g. F., so haben wir denn genug, um uns selbst zu prüfen, wie weit unter uns das Reich Gottes gediehen sei, mit welchen | Gefühlen reiner dankbarer Freude wir den Herrn gleichsam aufs neue unter uns bewillkommnen können, oder mit welchem Gefühl wehmüthiger Sehnsucht, daß er noch einmal gleichsam herabsteigen möge von dem Himmel auf die Erde, um immer wieder aufs neue die Dunkelheit zu erleuchten, und die verhärteten Herzen zu erweichen und an sich zu ziehen. Aber nur dann, m. g. F., wenn wir von diesen beiden Verirrungen, welchen die Welt vor der Erscheinung des Herrn zur Beute ward, umkehren; nur in dem Maaße als wir dem Lichte des göttlichen Wortes freimüthig Zeugniß geben mit unserm ganzen Leben von der Kraft des Glaubens, und den Dienst der Liebe demjenigen weihen, deßen ganzes Dasein auf Erden von seiner ersten | Erscheinung bis zu der Vollendung seiner irdischen Laufbahn nichts gewesen ist als liebende Mittheilung des göttlichen Lichtes, welches er selbst vom Himmel gebracht hat, und Verkündigung des Vaters, der in ihm wohnte, und durch ihn in uns allen wohnen will – nicht eher sage ich ist das Wort an uns wahr, daß unsre Füße den Weg des Friedens gehen. So lange wir nicht dem Einen ganz und allein folgen, welcher der Fürst des Friedens ist, so lange wird sich die Mangelhaftigkeit unsers Glaubens und die Getrübtheit unsers Khristenthums offenbaren durch den Zwiespalt, der in der Gemeinde des Herrn sich immer wieder erneuert, durch die Bewegungen des Haßes und der Lieblosigkeit, welche diejenigen entzweien, die Ein Herz und Eine Seele sein sollen in dem Herrn, | am meisten aber durch den Mangel des reinen und heiligen Friedens in dem Inneren des Gemüthes selbst und durch den immer wiederkehrenden Streit der Gedanken, die sich einander verklagen und entschuldigen, da wir doch durch den Fürsten des Friedens miteinander zur Ruhe 19 nur] wie

20 der] die

30.38 Vgl. Jes 9,5

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gebracht und in der innigsten Einheit mit ihm den Frieden mit Gott und mit der Welt sollen gefunden haben. O so laßt uns denn mit herzlicher Sehnsucht und Hoffnung aufs neue entgegen sehen dem Fürsten des Friedens, und in dem neuen Jahre des khristlichen Gottesdienstes, welches wir jezt durch die Gnade Gottes beginnen, mit gläubigem Auge in das Licht seines Wortes hineinschauen, um nur der Stimme deßen zu folgen, der allein im Stande ist, uns zu führen den Weg des Friedens zu dem Ziele der Gemeinschaft | mit unserm himmlischen Vater durch unsern Herrn Jesum Khristum. Amen. Heiliger barmherziger Gott und Vater, wir sagen dir Lob und Dank, daß du auch uns erleuchtet hast durch deinen Sohn, und uns aufgenommen in den heiligen Bund des Glaubens und der Liebe, den er gestiftet hat. O laß auch uns in dem neuen Jahre, welches wir jezt beginnen, die heiligen Schäze desselben ungefährdet benuzen, und verwalten als treue Haushalter, damit sich alle Gaben deines Geistes unter uns mehren, und laß das Wort der Verkündigung gesegnet sein unter uns und in allen khristlichen Gemeinden. Schaffe aber auch deiner Kirche Pfleger und Versorger an allen Herrschaften und Regenten, Fürsten und Königen khristlicher Völker. Vor allem laß deine Gnade und Barmherzigkeit | groß sein über unserm theuren König und dem königlichen Hause, und seze es unter uns immer zu einem erfreulichen Vorbild khristlicher Gottseligkeit. Dem Könige aber verleihe zu dem großen Beruf, den du ihm aufgelegt hast, immerdar den Beistand deines Geistes; umgieb ihn mit treuen und eifrigen Dienern, die ihm helfen erkennen und ausführen was recht und wohlgefällig ist vor dir. Erhalte ihm treue und gehorsame Unterthanen überall in seinem Reiche, damit wir unter seinem Schuz und Schirm auch in diesem neuen Jahre unsers khristlichen Lebens dem Ziele khristlicher Vollkommenheit immer näher kommen. Segne dazu, gütiger Gott, einen jeden unter uns in dem bescheidenen Theile seines Berufs, und laß es keinem fehlen an erfreulichen Erfahrungen daran, daß es für uns zu arbeiten giebt | in deinem Weinberge. Nimm dich überall der Verfolgten und Bedrängten an, und wenn sie in Trübsalen und Wiederwärtigkeiten des Lebens ihre Hoffnung auf dich sezen, so sei du in den Schwachen mächtig, und tröste und erquike sie, damit durch alles was um uns her vorgeht, der Glaube in uns immer fester werde, daß denen die dich lieben alle Dinge zum Besten gereichen müßen. Amen.

4 Vgl. Jes 9,5

33 Vgl. 2Kor 12,9

35 Vgl. Röm 8,28

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[Liederblatt vom 2. Dezember 1821:] Am 1. Advent-Sonntage 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Mit Ernst ihr Menschenkinder / Das Herz in euch bestellt! / Nun kommt das Heil der Sünder, / Der große Wunderheld; / Er, den aus Gnad’ allein / Der Welt zum Licht und Leben / Der Vater hat gegeben, / Will bei uns kehren ein. // [2.] Bereitet doch fein tüchtig / Den Weg dem großen Gast! / Macht seine Stege richtig / Räumt fort, was ihm verhaßt; / Die Thäler füllet aus, / Erniedriget die Höhen, / Und laßt ihm offen stehen / Ein jedes Herz und Haus. // [3.] Ein Herz, das Demuth liebet, / Bei Gott am höchsten steht, / Ein Herz, das Hochmuth übet, / In Angst zu Grunde geht. / Ein Herz, das lauter ist, / Und folget Gottes Leiten, / Das kann sich recht bereiten, / Zu dem kommt Jesus Christ. // [4.] Ach mache du mich Armen / In dieser Gnadenzeit / Aus Güt’ und aus Erbarmen, / Herr Jesu, selbst bereit! / Zeuch in mein Herz hinein, / O komm mit deinem Segen! / Ich harre dir entgegen / Dein ewig mich zu freun. // (Val. Thilo.) Nach dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der etc. [1.] Auf freuet euch von Herzensgrund / Ihr die ihr wart verloren! / Nun wird das große Wunder kund / Der Herr wird Mensch geboren! / Das Wunder was uns kommt zu gut / Weil Er nun unser Fleisch und Blut / Erneuet und versühnet. // [2.] Er ist das Wort, das alles schafft, / Das alles hebt und träget; / Der reine Glanz, die ew’ge Kraft, / Durch die sich alles reget, / Die sich in unsre Schwachheit hüllt, / Auf daß nun Gottes Ebenbild / In uns kann sichtbar werden. // [3.] Es lag die Welt in finstrer Nacht, / In Todesfurcht und Schrekken, / Sie konnte nicht aus eigner Macht / Sich Heil und Licht erwecken; / Nun kommt das unumschränkte Licht, / Und will mit hellem Angesicht / In alle Herzen leuchten. // [4.] Drum irr’ o Mensch nicht länger blind / Auf deinen Sündenwegen! / Umfasse den, der treu gesinnt / Dir gnädig kommt entgegen! / Komm! Folge deiner Trägheit nicht, / Christ will dir Leben Kraft und Licht / Aus seiner Fülle schenken. // [5.] So nimm das Herz, Herr Jesu Christ, / Mein Heiland Licht und Leben! / Gestalt’ es so, wie deines ist, / Dazu sei’s dir gegeben! / Vertreib die alte Finsterniß, / Und heil der Sünde Schlangenbiß, / Dann bist du mir geboren. // (Freilingsh. Ges. B.) Unter der Predigt. – Mel. Gott sei Dank etc. [1.] Heiland den uns Gott verhieß, / Den der Himmel jauchzend pries, / Als du Sterblichen zum Dienst / Huldreich auf der Erd’ erschienst. // [2.] Wie dein Nam’ ist auch dein Ruhm, / Jesu, wir dein Eigenthum / Ehren dankvoll und erfreut / Deine große Gütigkeit. // Nach der Predigt. – Mel. Von Gott will ich etc. Du Freund der Menschenkinder, / Verwirf uns Jesu nicht, / Dein Name, Heil der Sünder, / Ist unsre Zuversicht. / Wir sind auf ewig dein; / Einst wird uns nichts mehr fehlen, / Einst werden unsre Seelen / Vollkommen selig sein. //

Am 2. Dezember 1821 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag im Advent, 14 Uhr Domkirche zu Berlin Röm 8,31–32 Nachschrift; SAr 81, Bl. 91r–100v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Nachschrift; SAr 60, Bl. 239r–242r; Woltersdorff Liedangabe (nur in SAr 60)

Nachmittagspredigt am ersten Adventsonntage 1821. am zweiten Khristmonds, gesprochen in der Domkirche. |

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Tex t. Römer VIII, 31 u. 32. Ist Gott für uns, wer mag wieder uns sein? Welcher auch seines eigenen Sohnes nicht hat verschonet, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; wie sollte er uns mit ihm nicht Alles schenken? M. a. F. Indem wir heute zugleich ein neues kirchliches Jahr und die Feier derjenigen Zeit beginnen, welche der Freude über die Zukunft unsers Herrn und der Vorbereitung auf die würdige Feier seiner Geburt bestimmt ist, was kann uns beßer anstehen, als in dem Gefühl der großen Wohlthat, die uns Gott durch die Sendung unsers Erlösers erwiesen hat, den neuen Abschnitt unsers gemeinsamen ihm geweihten Lebens in dem herzlichen Vertrauen zu Gott zu beginnen, wozu die Dankbarkeit über das, | was er schon an uns gethan hat, in unserm Herzen den Grund legen muß. Dieses Vertrauen drüken denn die Worte unsers Textes auf eine eben so klare als innige Weise aus. Der Gott, der seines eigenen Sohnes nicht verschonet hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, wie sollte er uns denn mit ihm nicht Alles schenken? So laßt uns denn gegenwärtig nach Anleitung dieser Worte reden über das Vertrauen des gläubigen Khristen zu Gott, der seinen Sohn 1 Nachmittagspredigt ... 1821.] über der Zeile II.

16 denn] dem

0 Liedangabe in SAr 60, Bl. 269r: „Wie soll ich dich empfangen“, Geistliche und liebliche Lieder, ed. Porst, Nr. 20 (Melodie von „Valet will ich dir geben“) 1 Die Zählung II. bezieht sich darauf, dass der Tradent Andrae über eine weitere Predigtnachschrift zum selben Datum verfügte, vgl. die Predigt vom 2. Dezember 1821 vorm.

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für uns alle dahingegeben hat. Laßt uns zuerst sehen, worauf sich denn dieses Vertrauen erstrekt, zweitens aber auch, worauf es sich gründet.

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I. Indem wir uns nun die erste Frage beantworten, welches denn der Umfang und die Gränzen des Vertrauens seien, welches wir zu Gott unserm Vater hägen sollen: so scheint der Apostel in den Worten unsers Textes ihm alle Gränzen abzusprechen, und es als ein ganz unumschränktes zu erklären, indem er sagt: „wie sollte uns Gott mit seinem Sohn | nicht alles Andre schenken?“ Und gewiß, m. g. F., war auch der Apostel mit einem solchen unumschränkten Vertrauen erfüllt, aber es war auch der Gesinnung gemäß, die in ihm lebte. Allein die Schwäche der menschlichen Natur, die nie aufhört auch auf das Irdische mit ihren Bestrebungen gerichtet zu sein, könnte gar leicht die Worte des Apostels mißdeuten, als ob, indem wir in eine übrigens ungewiße Zukunft hineinsehen, wir als diejenigen, für welche Gott seinen Sohn dahingegeben hat, das Vertrauen haben dürften, alles was auch unsrer sinnlichen Natur angenehm und wünschenswerth ist von Gott zu erhalten. Das ist aber die Meinung des Apostels nicht gewesen, wie wir es deutlich sehen können aus der Zuversicht, in welcher er die Worte unsers Textes geschrieben hat; denn er sagt unmittelbar darauf: „wer will uns scheiden von der Liebe Gottes? Trübsal oder Angst oder Verfolgung | oder Hunger oder Blöße oder Fährlichkeit oder Schwert? aber in dem Allen überwinden wir weit um deßwillen, der uns geliebt hat.“ So sehen wir dann, der Apostel ist keinesweges der Meinung gewesen, indem er ausspricht, daß Gott uns mit Khristo alles schenken werde, daß etwa Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Dürftigkeit oder Fährlichkeit die Khristen nicht treffen könne, vielmehr scheint er, wie ihm denn selbst manches der Art schon begegnet war, seitdem er den großen Beruf eines Apostels des Herrn angetreten hatte, auch für die Zukunft das alles erwartet zu haben, aber durch diese Erfahrungen nicht gestört zu werden in dem Vertrauen, daß Gott ihm, wie er ihm Khristum geschenkt, mit ihm auch alles Andre schenken werde. So fragen wir denn billig, was bleibt denn übrig als der Gegenstand dieses Vertrauens, wenn es von der Art nicht sein soll, daß auch uns nach unserm Maaße und nach dem göttlichen Wohlgefallen | nicht könnten Dürftigkeit und Mangel, Trübsal und Fährlichkeit, ja Verfolgungen mancherlei Art bevorstehen? Das, m. g. F., was der Apostel in den Worten ausdrükt „was kann uns scheiden von der Liebe Gottes in Khristo Jesu?“ Das ist es, m. g. F., daß wir des Vertrauens voll sein dürfen, was Gott uns auch in irdischer Hinsicht 6 hägen] vgl. Adelung, Wörterbuch 2, 893 7 unumschränktes] unumschräktes 21 Allen] Allein 24 mit] nicht 25 Fährlichkeit] Fähigkeit 19–22 Röm 8,35.37

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möge beschieden oder was über uns verhängt haben, daß uns nichts solle scheiden können von der Liebe zu ihm, die da ist in unserm Herrn Khristo Jesu. Und wahrlich in dem Sinne des Apostels und in demjenigen, den alle gläubige und fromme Khristen mit ihm theilen sollen, ist dies auch Alles. Was bedürfen wir noch, m. g. F., wenn weder die irdische Lust, welche uns von dem Himmlischen wegwenden könnte, noch die irdischen Leiden, welche drohen dem Beßern in uns seine Gewalt zu rauben, indem sie uns nöthigen wollen dem Irdischen für uns unsre Aufmerksamkeit zu widmen, | wenn keins von beiden uns jemals scheiden kann von der Liebe Gottes in Khristo Jesu? Denn in der haben wir ja die Seligkeit, die wir nur in irgend einer seligen Zukunft erwarten können. Und worin soll, worin kann sie bestehen, als darin, daß unser Herz immer durchdrungen sei von der Liebe zu Gott, daß es sich seiner beständig und herzlich freuen lerne, zu ihm durch alles hingeführt, was uns sonst umgiebt und begegnet? Das ist die Seligkeit, von welcher der Apostel weiß, daß Gott sie ihm schenken werde, weil er seines eigenen Sohnes nicht verschonet hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben; das ist das Vertrauen, wovon er erfüllt ist, daß alles was sonst vermag den Menschen von der Liebe Gottes zu scheiden, und entweder ihm das höchste Wesen ganz zu verbergen, oder ihn wieder in den Zustand | der Furcht vor demselben zurükzusezen, immer mehr seine Gewalt verliere in dem Herzen, welches mit dem Glauben an Khristum erfüllt ist, und also je länger je mehr nichts uns scheiden könne von diesem höchsten Gute, der Liebe zu Gott. Eben dies beweist sich auch aus den Worten, die unserm Texte vorangehen, wo nämlich der Apostel sagt: „welche er verordnet hat, die hat er auch gerecht gemacht; welche er aber hat gerecht gemacht die hat er auch herrlich gemacht.“ Denn dazu ist der Sohn Gottes in die Welt gekommen, daß er suche, was verloren war, damit der Mensch, der durch keines Gesezes Werke gerecht werden konnte vor Gott, die Rechtfertigung empfinge durch den Glauben. Aber die Gott gerecht gemacht hat, die hat er auch herrlich gemacht, und wird sie immer herrlicher machen. Welches aber ist die Herrlichkeit, von der der Apostel redet? Es | ist dieselbige, von welcher der Apostel Johannes also schreibt in seinem ersten Briefe „meine Kindlein, es ist noch nicht erschienen was wir sein werden; wir wißen aber, wenn es erscheinen wird, daß wir ihm gleich sein werden, denn wir werden ihn sehen, wie er ist.“ Worin aber, m. g. F., könnten wir unserm Erlöser, den der Apostel bei diesen Worten im Sinne hat, gleich sein, als eben in dem Großen, was er selbst ausdrükt, mit den wenigen Worten „ich und der Vater sind Eins“? Seine Einheit aber mit dem Vater aber 31 der der] der 24–26 Röm 8,30 10,30

26–29 Vgl. Lk 19,10; Gal 2,16

33–38 Vgl. 1Joh 3,2

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bestand darin, daß ihn nichts in dem Innersten seines Bewußtseins von demselben trennen konnte, daß er die Werke desselben beständig vor Augen hatte, und der Vater ihm immer herrlichere zeigte, und daß er nichts vermochte und begehrte aus sich selbst zu thun, sondern nur den Willen seines himmlischen Vaters und das was er von ihm | gesehen und gehört hatte. Was aber ist das Alles zusammen, m. g. F., als eben jene ungeschiedene Liebe zu Gott, als eben jene Liebe des Vaters zu dem Sohn, vermöge deren er sich von ihm nicht trennt, sondern ihn liebt wie sich selbst? Wenn also der Apostel sagt, „die Gott gerecht gemacht hat“ – nämlich in unserm Herrn Jesu Khristo – „die hat er auch herrlich gemacht“, was kann er damit anders meinen als eben das beständige Wachsthum der Khristen in dieser Ähnlichkeit mit ihrem Erlöser, in der einigen Gemeinschaft mit Gott, zu welcher er sie leiten will, und wozu er eben uns allen zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung geworden ist? O, m. g. F., mögen wir alle jeder nach seinem Maaße in dem nun abgelaufenen Jahre unsers khristlichen und kirchlichen Lebens die Erfahrung gemacht haben, daß manches über uns gekommen ist, und doch nicht vermocht | hat uns zu scheiden von der Liebe Gottes, und daß, wie wir nicht gewichen sind von der Gerechtigkeit in Khristo Jesu, und nicht gemeint haben gerecht werden zu können und ihn wohlgefällig durch uns selbst, so wir auch zugenommen haben in der Herrlichkeit der Khristen, nämlich in der lebendigen Gewalt jener Liebe zu Gott durch unsern Herrn und Erlöser, und in der Herrschaft derselben in uns über alles Irdische und Vergängliche. II. In demselben Maaße werden wir auch im Stande sein, die zweite Frage zu beantworten: worauf gründet sich denn dieses Vertrauen des Khristen, daß Gott ihm mit seinem Sohn Alles schenken werde, daß nichts ihn scheiden könne von der Liebe Gottes in Khristo, und daß er in einem beständigen Wachstthum der wahren Herrlichkeit der Christen begriffen sei? Die Worte unsers Textes aber, m. g. F., geben uns die | Antwort in der kurzen und einfachen Frage: wenn Gott für uns ist, wer mag wieder uns sein? Ein Drittes freilich, m. g. F., verbirgt sich in dieser Frage, aber es scheint sich auch von selbst zu verstehen, nämlich daß nur der Mensch nicht wieder sich selbst sei. Wollte er das, ja dann könnte wohl auch nicht anders als Gott aufhören für ihn zu sein. Wieder uns selbst aber wären wir, wenn wir uns selbst wollten scheiden lassen von der Liebe zu Gott, wenn wir willig Gehör gäben den Lokungen des Irdischen und Vergänglichen, wenn wir nicht mehr zu kämpfen hätten gegen unsre Schwachheit, sondern schon empfangen hätten die Lust, die nicht anders kann als die Sünde gebären. So wir aber selbst 2–3 Vgl. Joh 5,20 3–5 Vgl. Joh 6,38 Röm 8,30 12–14 Vgl. 1Kor 1,30

5–6 Vgl. Joh 5,19; 8,38

9–10 Vgl.

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nicht wieder uns sind, so wir aufrichtig begehren ungeschieden zu bleiben von der Liebe Gottes in Khristo: dann | können wir auch unser Vertrauen gründen auf diese einfachen Worte des Apostels „ist Gott für uns, wer mag wieder uns sein?“ Und sollte jemand fragen, woher denn wißen wir, daß Gott für uns ist? o so könnten wir freilich darauf keine Antwort geben, wenn wir für unser Vertrauen eben auf solche Dinge sehen wollten, wie da sind die Verminderung irdischer Trübsal und Muth und der Besiz irdischer zeitlicher Güter. So wir aber nichts Anderes begehren und unser Vertrauen auf nichts sezen wollen als darauf, daß die himmlischen Güter uns nicht nur ungestört bleiben, sondern sich auch vielmehr über uns verbreiten: wie könnten wir dann zweifeln, daß Gott für uns ist? Denn so sagt der Apostel: eben deßhalb, weil er seinen Sohn für uns alle dahingegeben hat, und seiner nicht verschont: so folgt daraus, daß er uns mit ihm auch Alles schenken wolle, daß es seine Absicht | sei, und sein gnädiger wohlgefälliger Wille, uns immer mehr aller der Güter theilhaftig zu machen, welche die Ankunft unsers Herrn auf Erden und seine sich selbst hingebende und bis in den Tod aufopfernde Liebe uns erworben hat. Und wollte ein ängstliches Gemüth noch weiter gehen und fragen: woher denn weiß ich, daß Khristus auch für mich gestorben ist? so liegt die Antwort des Apostels in den Worten, die ich vorher gelesen habe „welche er verordnet hat die hat er auch berufen; welche er aber berufen hat die hat er auch gerecht gemacht; welche er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch herrlich gemacht.“ Daß er uns aber berufen hat, m. g. F., das wißen wir; das Wort des Evangeliums ist an uns alle ergangen; wir alle haben von Kindheit an die Einladung vernommen „kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, | ich will euch erquiken“; wir alle haben von Kindheit an den Ruf verkündigen gehört „das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen, ja es ist mitten unter euch“. Und so viele nun sich dem mit willigem Herzen zugeneigt haben, so viele von uns die Liebe Gottes, die er uns erwiesen hat dadurch, daß er seinen Sohn in die Welt gesandt hat, erkannt haben, die haben dann den heiligen Ruf, der an sie ergangen ist, angenommen. Und welche der Herr so berufen hat, und in welchen sein Ruf kräftig ist, die will er auch, so wie er selbst gerecht, und sie gerecht machen will durch die Gemeinschaft mit dem, in welchem sie gerettet sind, und der allein gerecht ist vor Gott durch sich selbst, die will er auch herrlich machen. Denn er kann nicht wollen, daß sein Sohn vergeblich auf die Erde gekommen sei, | und sich vergeblich für uns alle dahingegeben habe. Es ist also für sie aus der Fülle deßen, der für uns ist, zu nehmen Gnade um Gnade. Und weil er für sie ist, so kann nichts wieder sie sein, und nicht nur nicht die irdischen Dinge, deren der Apostel erwähnt, sondern auch wie er fortfährt „ich bin gewiß, das weder Tod noch Leben 20–22 Röm 8,30 25–26 Mt 11,28 Joh 1,16 40–3 Röm 8,38–39

26–27 Vgl. Lk 10,9; 17,21

37–38 Vgl.

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weder Engel noch Fürstenthum, noch Gewalt, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes, noch keine andre Kreatur mag uns scheiden von der Liebe Gottes, die da ist in Khristo Jesu, unserm Herrn.“ So können wir auf die Erscheinung unsers Herrn das Vertrauen gründen, daß es keine Macht gebe, welche die gnädigen Verheißungen Gottes zu Schanden machen könne an denen, für die Gott ist, und die nicht wieder sich selbst sind. Wenn sich uns nun, m. g. F., in diesen Tage besonders lebhaft darstellt, die Erscheinung unsers Herrn auf der | Erde, daß er gekommen ist und uns gleich geworden in Allem ausgenommen die Sünde; daß er die Knechtsgestalt des irdischen Lebens nicht verschmäht hat, damit, indem er sie an sich zöge und sich mit uns vereinigte, er auch uns seine Herrlichkeit geben könnte, wie er unsre Niedrigkeit getheilt hat: wie sollten wir nicht voll sein von eben diesem Vertrauen, welches der Apostel in den Worten unsers Textes ausspricht, daß der Gott, der seines eigenen Sohnes nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben, uns mit ihm alles andre schenken werde. Ja jedes neue Jahr unsers Lebens kann nichts bringen als neue Beweise von der Gnade Gottes gegen diejenigen, welche die Wohlthaten annehmen wollen, die er uns durch Khristum erzeigt hat; und unser gemeinsames khristliches und kirchliches Leben, in welchem wir uns hier vereinigen, das reicht uns die | Mittel dazu dar. Denn das Wort Gottes, zu deßen Betrachtung wir aufs neue auch in diesem Jahre hier vereinigt sein werden an der Stätte der gemeinsamen Andacht und Belehrung, das führt uns immer wieder auf den Einen zurük, der seinen Sohn für uns dahingegeben hat. Es öffnen sich uns in demselben die Schäze khristlicher Weisheit und Erfahrung, um den gnädigen Absichten Gottes in treuer Aufmerksamkeit auf die Stimme seines Geistes zu Hülfe zu kommen, die Waffen des Glaubens und der Gerechtigkeit, die da kommt aus dem Glauben, anzunehmen, um den Streit zu beginnen und siegreich durchzuführen gegen jede Gewalt, die uns gern scheiden möchte von der Liebe Gottes in Khristo Jesu. Und indem wir alles, was uns Irdisches auch in diesem Jahr begegnen mag, hie aus keinem andern Gesichtspunkt ansehen als wie es dazu dienen kann, den wohlthätigen | Rathschluß Gottes an uns in Erfüllung zu bringen, die Stärke seiner Liebe uns vor Augen zu stellen, und in unserm Innern zu befestigen, und uns einen Zuwachs in der Herrlichkeit des Khristen zu bereiten, o so werden wir gewiß jedesmal aufs neue gestärkt zurükkehren in das, was uns der Herr bereitet hat, sei es irdische und vergängliche Freude, oder seien es zeitliche und wechselnde Leiden und Trübsale mancher Art. Und so können wir denn mit demselben Vertrauen wie der Apostel in die Zukunft dieses Lebens hineinschauen, fest überzeugt, daß an uns allen Gott seinen gnädigen Rathschluß erfüllen werde, und daß, sofern wir nur dem treu bleiben und nie aufhören, in ihm und durch ihn zu leben, der sich 8–9 Vgl. Hebr 2,17; 4,15; Phil 2,7–9

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selbst für uns dahingegeben hat, wir auch dem immer näher kommen | werden, was erst dereinst in seiner vollkommnen Herrlichkeit erscheinen wird. Amen.

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Frühpredigt am zweiten Adventssonntage 1821. am neunten Khristmonds. |

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2. Sonntag im Advent, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 21,5–15 Nachschrift; SAr 81, Bl. 101r–118v; Slg. Wwe. SM, Andrae Keine Keine Keine

Tex t. Lukas XXI, 5–15 Und da etliche sagten von dem Tempel, daß er geschmückt wäre von feinen Steinen und Kleinodien, sprach er: „es wird die Zeit kommen, in welcher deß alles das ihr sehet, nicht ein Stein auf dem andern gelaßen wird, der nicht zerbrochen werde.“ Sie fragten ihn aber und sprachen: Meister, wann soll das werden, und welches ist das Zeichen, wann das geschehen wird? Er aber sprach: sehet zu laßt euch nicht verführen. Denn viele werden kommen in meinem Namen und sagen, ich sei es, und die Zeit ist herbeigekommen; folget ihnen nicht nach. Wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Empörungen, so entsezet euch nicht; denn solches muß zuvor geschehen, aber das Ende ist noch nicht so bald | da. Da sprach er zu ihnen: ein Volk wird sich erheben über das andre und ein Reich über das andre; und werden geschehen große Erdbeben hin und wieder, theure Zeit und Pestilenz; auch werden Schrekniße und große Zeichen vom Himmel geschehen. Aber vor diesem allen werden sie die Hände an euch legen und verfolgen, und werden euch überantworten in ihre Schulen und Gefängniße und vor Könige und Fürsten ziehen um meines Namens willen. Das wird euch aber wiederfahren zu einem Zeugniß. So nehmet nun zu Herzen, daß ihr nicht sorget, wie ihr euch verantworten sollt; denn ich will euch Mund und Weisheit geben, welche nicht sollen wiedersprechen mögen noch wiederstehen alle eure Wiederwärtige. | M. a. F. Mehrere von den khristlichen Abschnitten, welche besonders für diese Zeit der Vorbereitung auf die Feier der Geburt unsers Erlösers be3 –15] –14

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stimmt sind, weisen uns von seiner ersten heilbringenden Zukunft auf Erden auf diejenige hin, welche noch zu erwarten ist, da er, wie die Schrift sagt, kommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten. Dasselbige thun mehrere von unsern schönsten khristlichen Adventsliedern – und wenn es auch auf den ersten Anblik wunderbar erscheint, so müßen wir es doch näher betrachtet natürlich finden. Wir stehen mit der ganzen Khristenheit zwischen beiden; und wenn wir nun in diesen schönen fröhlichen Tagen rükwärts sehen auf die Zeit, wo er wieder kommen wird zum Gericht. Und wenn diese Zeit zugleich die ist, | worin sich unsre jährlichen Gottesdienste wieder erneuern, wie sollten wir nicht immer darauf bedacht sein mit einander zu betrachten, wie wir bestehen mögen vor ihm in seiner Zukunft. Einen ähnlichen Inhalt nun auch hat der Abschnitt, den ich eben verlesen habe; er ist der Anfang einer Rede Khristi, aus deren Fortsezung das heutige Sonntagsevangelium genommen ist; er verkündigt darin die Zerstörung des jüdischen Gottesdienstes und also auch den Untergang der ganzen Verfaßung des Volkes Gottes. Die Jünger fragen ihn neugierig: wann soll das werden, und welches ist das Zeichen, wann das geschehen wird? Es schwebte ihnen dabei vor, wie wir aus mehreren ihrer Äußerungen anderwärts sehen, daß beides nicht könne weit von einander getrennt sein, die Zerstörung Jerusalems und die Zukunft | des Herrn, wie sie denn überhaupt sich dieselbe damals näher dachten, und erst allmälig als sie sahen, auf welche Weise nach dem göttlichen Ratschluß das Evangelium sollte verbreitet werden, entfernte sich ihnen mehr das Bild ihres zurükkehrenden Meisters. Was thut aber der Herr auf ihre Frage, wann es geschehen werde, und welches das Zeichen davon sein werde? Er lenkt sie von dieser Frage vielmehr ab als er sie ihnen beantwortet, und macht sie nur aufmerksam auf das, was dazwischen liegt, was noch vorhergehen müße, und wie sie sich dabei verhalten müßten. Das nun, m. g. F., ist auch für uns ein würdiger Gegenstand der Betrachtung und des Nachdenkens in diesen Tagen. Mögen wir nun auch Theil haben an jener Ungeduld, mit der die | ersten Khristen der Wiederkunft des Herrn entgegensahen, oder mögen wir, die wir schon die große Geschichte der khristlichen Kirche hinter uns haben, schon vertraut sein mit dem Gedanken, daß noch vielmehr auf Erden geschehen müße, ehe die irdischen Schikungen des menschlichen Geschlechts erfüllt sein können; so machen wir uns doch in lezterer Absicht ein allgemeines Bild, und haben etwas, was wir erwarten in der Zukunft als einen neuen Akt der Offenbarung des Herrn, wie wir denn allem Großen und Bedeutenden, was sich in dem Reiche Gottes ereignet, eine Ähnlichkeit damit niemals absprechen können. Und so laßt uns denn nach Anleitung unsers Textes erwägen, was jedesmal dazwischenliegt, wenn | wir uns entweder die lezte 13–14 Vgl. Lk 21,5–36; das Evangelium für den 2. Adventssonntag umfasst die Verse 25–36.

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oder eine andre Zukunft des Herrn im Geiste denken, und wie wir seine Anweisungen zu befolgen haben. Es ist aber dreierlei, was der Herr in den Worten unsers Textes seinen Jüngern zu Gemüthe führt.

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I. Das Erste ist dies „laßt euch nicht verführen; denn viele werden kommen in meinem Namen und sagen, ich sei es, und die Zeit ist herbeigekommen; folget ihnen nicht nach.“ Gewiß, m. g. F., hat unser Herr das nicht so gemeint, als ob er nöthig habe seine Jünger zu erinnern, daß sie es nicht glauben sollten, wenn irgendein andrer von sich behaupten wollte, er sei ihr Meister, woraus denn folgen würde, er ihr Herr und Meister sei es in der That nicht gewesen, sondern habe sich nur fälschlich dafür ausgegeben. Dazu war ihr Glaube an ihn zu sehr befestigt und anerkannt, als daß er dies hätte besorgen können. Aber daß viele | kommen werden in seinem Namen und sagen, nun sei er im Begriff wieder zu kommen, und die Zeit, wonach sie verlangt haben, sei erfüllt und da, das konnten sie bei der Traurigkeit, von der sie erfüllt waren über das frühe Hinscheiden ihres Herrn, und bei der Sehnsucht, mit der sie seiner Wiederkehr entgegensahen, leicht denken; und darum giebt er ihnen die Regel: „laßt euch nicht verführen; sehet euch vor, daß ihr ihnen nicht nachfolget.“ Es ist m. g. F., ein gar gewöhnlicher Fehler des menschlichen Herzens, und gehört noch, wie denn auch der Herr gar gelind darüber redet, zu denen, die am leichtesten zu entschuldigen sind, daß der Mensch, wenn er in der Erwartung von irgend etwas Großem und Wichtigen begriffen ist, sich durch Ungeduld täuschen läßt, und meint, das, worauf seine Hoffnung gerichtet ist, sei schon da, und nicht bloß vorgebildet in seinem Geiste, und sich durch Zeichen, | die ihn keinesweges zwingen sein Inneres in eine solche Richtung einzuleiten, dazu verleiten läßt. Wie oft, m. g. F., ist das schon wiedergekehrt in der khristlichen Kirche, daß auf Veranlaßung besondrer Begebenheiten in der geistigen Welt und besondrer Erscheinungen in der Natur, oder aus innerer Aufregung eines sehnsüchtigen Herzens dem Menschen gesagt ist von vielen, die Zeit des Gerichtes sei nahe, und es sei gekommen daß der Herr wiederkehren werde in seiner Herrlichkeit, um die Menschenkinder zu sondern; und auch viele haben sich dann dieser Lehre des Herrn nicht erinnert, sondern haben sich irre führen laßen von denen, die dergleichen verkündigend selbst von dem rechten Wege khristlicher Weisheit und Besonnenheit gewichen waren, und sind ihnen nachgefolgt mit Gedanken und Hoffnungen, deren Nichtigkeit ihnen nicht lange | verborgen bleiben konnte. Gleichgültig, m. g. F., ist das nicht. Denn wenn wir in einem ruhigen Fortschreiten auf unserm Wege, in einer besonnenen Erfüllung alles deßen, was uns sei es Großes oder Geringes in unserm Beruf in Beziehung auf das Reich Gottes obliegt, begriffen bleiben wollen: so ist dazu nothwendig, daß wir uns nicht durch allzu große Erwartungen noch bevorstehender wichtiger Veränderun-

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gen täuschen laßen. Denn sie legen es dem Menschen so nahe zu sich selbst zu sagen, was wir jezt noch thun können in dem Zustand der Dinge, der auf Erden herrscht, und der nicht mehr lange bestehen, sondern einem andern Plaz machen wird, das sei in der That nicht mehr wichtig und kaum der Mühe werth; sondern jezt sei es Zeit, seine ganze Aufmerksamkeit auf dasjenige zu richten was geschehen soll. So haben wir es oft erlebt bei dergleichen Verkündigungen, | daß der jüngste Tag und das Gericht des Herrn nahe sei, daß die Menschen die Geschäfte des irdischen Lebens haben liegen gelaßen, und sind als ob es sich nicht der Mühe verlohne, in dem bestehenden Zustande und der bestehenden Ordnung der Dinge die Hand an dasjenige zu legen was noch zu thun ist, darauf gerichtet gewesen mit ihrem Tichten und Trachten, die Zeichen zu beobachten, die der eingebildeten allgemeinen Umwälzung vorangehen möchten. So hätte es auch den Aposteln ergehen können, daß, wenn sie irre geleitet worden wären durch die Verkündigung einer nahe bevorstehenden Zukunft des Herrn, sie sich hätten stören laßen in dem großen Beruf, den ihnen der Herr aufgetragen hatte, und bei sich selbst gedacht, die Menschen werden ja doch nur langsam aus dem Zustande des Irrthums und der Finsterniß, in | welchem sie gefangen sind, und der Verkehrtheit des Herzens, der sie erliegen, hinübergeleitet in das Reich des Lichtes und der Gottseligkeit, welches auszubreiten wir verordnet sind; wozu also sollen wir das Evangelium denen verkündigen, die noch in dem Schatten des Todes sizen, und in denen wir doch nur die ersten Keime des neuen Lebens erwecken, und wozu sollen wir die Gränzen unsers Landes überschreitend uns unter andre Völker wagen, da der Herr doch bald erscheinen wird zum Gericht, und alle die Geschlechter der Menschen zusammenführen, die jezt noch in der Zerstreuung sind. Und so, m. g. F., kann es auch uns gehen, wenn wir irgend etwas Großes und Bedeutendes im Reiche Gottes erwarten, in Beziehung auf dasjenige, was uns in der gegenwärtigen Gestalt der Dinge obliegt; aber dann wären wir auch solche | ungetreue Knechte, die den großen Beruf nicht werth halten, der ihnen geworden ist, zu allen Zeiten auf gleiche Weise mit dem Pfunde zu wuchern, welches ihnen der Herr anvertraut hat, und wir glichen nicht etwa denen, die der Herr geradezu schlafend findet – denn diese Aufmerksamkeit auf die Zeichen der Zukunft ist wohl auch ein wachender Zustand – aber welche, wenn sie etwas versäumen was sie thun sollen in dem ihnen angewiesenen Kreise ihrer Thätigkeit in dem gegenwärtigen Augenblik, nicht beßer sind als diejenigen, welche wirklich schlafen in Beziehung auf den Dienst des Herrn. Fragen wir aber, m. g. F., was ist es, was uns am meisten sicher stellt in diesen Fehler nicht zu verfallen? so ist es wohl die Ruhe und Gelaßenheit des Herzens, die alles dem Herrn anheimstellt. Je mehr wir an der Ungeduld Theil haben, | mit welcher hier die Jünger des Herrn fragen: sage uns, wann soll das werden, und welches ist das Zeichen, wenn das geschehen wird? um desto mehr sind wir in

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Gefahr, nicht so zu handeln, wie der Erlöser hier befiehlt, sondern uns verführen zu laßen und denen zu folgen, welche falsche Erwartungen von großen Veränderungen der menschlichen Dinge oder von der Zukunft des Herrn selbst erregen. Der Herr muthet den Seinigen und seinen Zeitgenoßen oft zu, sie sollten die Zeichen der Zeit beurtheilen können, und indem er ihnen vorhält, wie sie dies in Beziehung auf äußere Dinge vermöchten, so legt er es ihnen als Trägheit und Unglaube des Herzens aus, daß sie es in geistigen Dingen nicht vermochten. So sollen, m. g. F. auch die, welche sich mit geistigen Dingen vorzüglich beschäftigen, welche das Auge offen haben für | die Fügungen Gottes mit dem menschlichen Geschlecht, denen das Wohl ihrer Brüder in jeder Hinsicht am Herzen liegt, und deren Aufmerksamkeit besonders gerichtet ist auf die Art und Weise, wie sich die Menschen zu betragen pflegen in jeder bewegten Zeit des Lebens, sie sollen verstehen die Zeichen der Zeit zu beurtheilen, sie sollen sich nicht durch falsche Hoffnungen täuschen laßen, als ob das Böse und Verkehrte, welches dem Geiste der Liebe und der Wahrheit in uns wiederstrebt, auf einmal herausgetrieben werden könne aus der menschlichen Seele, als ob das Reich des Lichtes und des Guten sich auf einmal und plözlich verbreite und befestige in den Gemüthern der Menschen, sie sollen wißen, wie der Geist Gottes immer nur im Stillen und allmälig erst durch mancherlei | Vorbereitungen wirkt, und wie diese langsamen Wirkungen desselben immer die gründlichsten kräftigsten und segensreichsten sind, alles aber was schnell und übereilt geschieht auch eine größere Unvollkommenheit offenbart. Und wenn wir uns diese Vorsicht und diese dem Walten des Herrn in der Welt ruhig zusehende Ergebung in die gnädigen Fügungen des Höchsten erhalten: so werden wir allezeit in der Gegegenwart das thun was der heilige Wille Gottes an uns ist, und nicht mit allzu großer Ungeduld in die Zukunft bliken, noch weniger mit getäuschter Hoffnung das für nahe halten was noch fern ist. II. Das zweite was der Herr seinen Jüngern einschärft ist dies „wenn ihr aber hören werdet von Kriegen und Empörungen, so entsezet euch nicht; denn solches muß zuvor ge|schehen, aber das Ende ist noch nicht sobald da.“ Wenn wir, m. g. F., auf die wesentlichen Wirkungen achten, welche das Evangelium und die Verkündigung desselben auf die Menschen haben soll: so ist doch wohl unter den wirksamsten diese, daß ein Zustand des wahren göttlichen Friedens unter ihnen hervorgebracht werden soll, daß sie immer mehr alle gesammelt werden sollen in Eine Heerde, vereinigt unter Ein Haupt, und in herzlicher Liebe unter einander Einem gemeinsamen Herrn und Meister dienen. Und so sollte man denn glauben, es hätte von jeher natürlich sein müßen, daß eben die Zunahme des Friedens unter den Menschen, daß eben die stille aber sichere Verbreitung des Reiches Gottes auf

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Erden | gehalten worden wäre für dasjenige, was bei der Annäherung der Zukunft des Herrn am schönsten und herrlichsten sich offenbaren werde. Stattdeßen aber finden wir immer, daß sich die ungeduldigen Gemüther am meisten gehalten haben an die Zustände der Verwirrung unter den Menschen, und geglaubt, daß aus diesen die Wiederkehr des Herrn zum Gericht und der jüngste Tag am sichersten zu schließen sei, welches seinen Grund hat vorzüglich darin, daß diese und ähnliche Reden Khristi, worin er seinen Jüngern Antwort giebt über das Ende des jüdischen Volks, verwechselt worden sind mit denen, die sich beziehen auf das Ende der Welt. Hier redet er aber von Kriegen und Empörungen auf der einen Seite, und von großen Bewegungen | und zerstörenden Ereignißen und Zeichen in der Natur auf der andern Seite, und sagt ihnen, sie sollten sich nicht davor entsezen, solches müße zuvor geschehen, aber das Ende sei sobald noch nicht da. Was nun, m. g. F., die großen Zeichen und die gewaltigen Bewegungen in der Natur betrifft, so wißen wir wohl, daß wir in die Geheimniße derselben nicht einzudringen vermögen, daß wir gar oft dem ausgesezt sind, hier mit unserm Urtheil zu irren, und etwas Großes und Bedeutendes für klein und unbedeutend zu halten, weil es uns nicht nahe genug trifft, und eben so das Kleine und Geringfügige für groß und wichtig anzusehen, weil es auf eine stärkere Weise unsre Sinne bewegt. | Was aber die Kriege und Empörungen und Verwirrungen unter den Menschen betrifft, so sollen wir sie nicht halten für Zeichen der nahen Wiederkehr des Herrn, sondern sollen denken und überzeugt sein, daß seine Verheißung erst muß in Erfüllung gegangen sein, ehe seine Zukunft zum Gericht erscheinen kann, daß sein Werk halb ausgeführt sein würde auf Erden, wenn er käme, und die Menschen noch in einem solchen Zustande der Bewegung gegen einander und der innern Uneinigkeit anträfe, daß erst die Kraft des Evangeliums alles muß aus der menschlichen Seele hinweggeschafft haben, was immer wieder Krieg und Empörung und Verwirrung unter den Menschen anrichtet, deren Bestimmung es ist das Reich Gottes in Frieden zu bauen, daß der | Geist der Liebe erst muß alle feindseligen Neigungen und Leidenschaften gedämpft haben, ehe sein Werk auf Erden vollendet sein kann. Und so lehrt auch der Herr, daß seine Jünger deßwegen nicht glauben sollten das Ende sei schon da, weil sie noch hören würden von Kriegen und Empörungen, indem sich ein Volk über das andre und ein Königreich über das andre erheben würde; aber eben so sagt er sie sollten sich nicht entsezen. Und das, m. g. F., sollen auch wir nicht, sondern so oft eine solche Zeit der Unruhe und Verwirrung auf Erden einbricht uns mit Bedauern gestehen, wie wenig tief der Geist des Evangeliums in den Herzen der Menschen gewurzelt hat, die an solchen Bewegungen Schuld sind, | und denen es immer noch möglich ist, aus niedrigen selbstsüchtigen Absichten und getrieben von ihren ungeregelten Neigungen und Leidenschaften eben so im großen und Allgemeinen, wie es noch täglich unter uns im Kleinen und

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Einzelnen geschieht, das Gesez der Liebe aus den Augen zu laßen, und sich gegenseitig zu behandeln nicht als solche etwa, die Einem Herrn und Meister angehören, sondern nicht einmal als solche, welche Ein und dieselbe geistige Natur von ihrem himmlischen Vater empfangen haben. So könnten wir uns denn freilich entsezen, wenn wir vorher geglaubt hätten, es stehe beßer um die Menschen nach diesem oder jenem Kampfe um das Gute, und allgemeiner sei unter ihnen die Kraft der Wahrheit und des Rechtes verbreitet, und nachher überraschten uns dann die Ausdrüke einer solchen unge|bändigten Sinnes, wie der ist, aus welchen Streit und Zwietracht hervorgehen. Aber der, der nach der Anleitung des Herrn die Zeichen der Zeit in dem geistigen Sinne zu beurtheilen versteht, der welcher im Stande ist im Kleinen das Große zu sehen, und sich zu denken, wie einzeln die Menschen von dem Einzelnen bewegt werden auf eine unkhristliche Weise, so kann es auch geschehen, daß in den großen Angelegenheiten des Ganzen sich eine allgemeine Verirrung von dem rechten Wege des Gottgefälligen offenbart – der kann dadurch niemals gestört werden in seiner Liebe gegen die Menschen. Wer sich diese Ruhe und diese Vorsicht und diese Kraft der khristlichen Weisheit erworben hat, der wird sich entsezen über das, was aus den ungesättigten | und ungerühmten Begierden der Menschen Unwürdiges im Kleinen und im Großen hervorgeht; aber eben so wird er sagen: das Ende könne noch nicht da sein; sondern die, welche den Herrn wahrhaft verehren, denen liege ob, immer kräftiger zu wirken in seinem Reiche, immer mehr mitzutheilen den Geist der Liebe und der Wahrheit, und in Frieden und Eintracht die Menschen zu versammeln, und dafür thätig zu sein, daß die Kraft des göttlichen Wortes alles dasjenige aus den Menschen verbanne, was sie immer wieder zum Krieg und zur Feindschaft und zur Empörung leitet. III. Und in dieser Hinsicht ist dann besonders das dritte wichtig, was der Herr seinen Jüngern sagt „vor diesem allen werden sie die Hände | an euch legen, und verfolgen, und werden euch überantworten in ihre Schulen und Gefängniße, und vor Könige und Fürsten ziehen um meines Namens willen, das wird euch aber wiederfahren zu einem Zeugniß. So nehmet nun zu Herzen, daß ihr nicht sorget, wie ihr euch verantworten sollt; denn ich will euch Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollen wiedersprechen können noch wiederstehen alle eure Wiederwärtigen.“ Es scheint nun freilich, m. g. F., als ob das Erste, was ich uns so eben gelesen habe, eben nicht tröstlich sei, daß nämlich die Jünger des Herrn sollten verfolgt und überantwortet werden in die Schulen ihrer Feinde, und in Gefängniße geworfen; aber der Herr sagt „das alles | wird euch wiederfahren zu einem Zeugniß.“ Das ist ja unser gemeinschaftlicher großer Beruf, seine Zeugen zu sein, auf Erden, und was uns wiederfährt zu einem Zeugniß, das soll uns immer lieb

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und willkommen sein; und meinen wir es ernstlich mit diesem unserm großen und himmlischen Beruf, den wir alle als Khristen theilen, o so kann es uns gleichgültig sein, was uns begegnet sei zu einem Zeugniß deßen, der unser Herr und Meister ist: die Trübsale und Wiederwärtigkeiten dieses Lebens sollen uns gereichen zu einem Zeugniß, daß wir nicht verzagend an dem heilsamen Worte der Förderung des Guten weichen von unsrer Stelle sondern treu aushaltend unsern Weg gehen; das Angenehme und Erfreuliche soll uns wiederfahren zu einem Zeugniß, indem wir dadurch beweisen, wie der | Jünger des Herrn sich nicht hingiebt in Eitelkeit und Uebermuth, wenn es ihm wohlgeht, ebenso wie auf der andern Seite dadurch, daß die Trübsal dieser Zeit ihn nicht soll scheiden können von der Liebe Gottes, die da ist in Khristo Jesu. Je mehr wir die Absicht haben, daß uns Kleines oder Großes, Angenehmes oder Wiederwärtiges, auf welchem Wege und in welcher Gestalt uns beides treffen mag, uns begegnen soll zu einem Zeugniß des Herrn: desto mehr haben wir die Aussicht, den Beruf, den uns der Herr in seinem Reiche angewiesen hat, auszuüben und dadurch sein Wort immer mehr zu fördern, und das ist das Tröstlichste, was uns gesagt ist von unserm Wandel auf Erden, | daß er sein soll ein Wandel im Himmel durch die Kraft des Geistes und durch die treue Liebe zu dem, der uns den Weg des Lebens gezeigt hat, weil er selbst die Wahrheit ist; das ist das Tröstlichste, was uns gesagt ist von unserm Wandel auf Erden, daß es uns niemals an Gelegenheit fehle, in dem Weinberge des Herrn als treue Arbeiter erfunden zu werden. Aber eben so ist es natürlich, daß die Wiederwärtigkeiten daß Leiden und Verfolgung und alles, was uns in diesem Leben Unangenehmes begegnet, ein köstliches Zeugniß sind, weil sie die Aufmerksamkeit der Menschen bestimmter auf sich ziehen, die das leichter zu bemerken im Stande sind, was die Kraft des Glaubens und der Heiligung in dem Menschen wirkt, | wenn er in einem wiederwärtigen Geschik sich als einen solchen bewährt, der im Hinblik auf das Unvergängliche und Ewige seine Seele über den Wechsel des irdischen Lebens erhoben hat, als wenn sie bemerken, wie die Gläubigen in einem ruhigern Zustande die Versuchungen einer künftigen und schöneren Zeit überwinden. Aber das Tröstliche ist dies, daß der Herr seinen Jüngern sagt, sie sollen nicht sorgen, wie sie sich zu verantworten hätten, denn er wolle ihnen Mund und Weisheit geben, welcher nicht sollten widersprechen mögen, noch widerstehen alle ihre Widerwärtige. Wenn wir also bedenken, m. g. F., eben deshalb weil Zwietracht und Feindseligkeit, weil Krieg und Verwirrungen immer | mehr wiederkehren unter den Menschen, wie viel wir alle zu thun haben jeder in seinem Kreise, um das Reich Gottes, welches der Erlöser 23 Wiederwärtigkeiten] Wiederwärtigkeit 11–12 Vgl. Röm 8,35.39

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gegründet, nach unseren Kräften zu fördern, und das Gesez der Liebe, welches in demselben walten soll, in den Herzen der Menschen immer mehr zu befestigen, und die Menschen, weil sie sonst immer nur in der Irre gehen, immer kräftiger unter die Fahnen dessen und zu den Füßen dessen zu sammeln, in welchem allein sie Heil finden können, wenn wir dabei bedenken, wie es in keiner Zeit, weder in derjenigen, die uns gezeichnet ist durch die Wirkungen des göttlichen Geistes, noch in der, die noch weit entfernt ist von dem Ziele khristlicher Vollkommenheit: wie kann es | eine tröstlichere Verheißung geben als die, daß der Herr uns Mund und Weisheit geben werde. Davon nun, m. g. F., giebt uns die Geschichte unsers Glaubens viele tröstliche und herrliche Beispiele, wie sich der Herr am meisten in den Zeiten der Finsterniß und der Zerrüttung durch den Mund der Einfältigen und Unwürdigen und derer, die für Thoren von der Welt gehalten werden, sein Lob bereitet hat, und in ihren Mund eine Weisheit gelegt hat, der, weil sie aus der Einfalt des Herzens hervorging, die Widerwärtigen nicht widerstehen konnten, sondern der sich alle Feinde der Wahrheit unterwerfen mußten. Wenn denn dazu, wie der Herr hier sagt, keine menschliche Kunst und keine | menschliche Weisheit gehört, sondern nur daß er die Weisheit in unser Herz legen und daß wir in einem so nahen Verhältniß zu ihm stehen, daß seine Weisheit tief in uns eindringt: so mögen wir uns auf der einen Seite gläubig freuen, wenn wir uns das Zeugniß geben können, daß, wenn wir in dieser Gemeinschaft mit ihm stehen, durch alles, was uns auch begegnen möge, dennoch seine gnädige Verheißung an uns in Erfüllung geht, auf der andern Seite aber auch nicht übersehen, wie wir uns dies machen können zu einem Prüfstein um daran unsere eigenen Bemühungen zu erforschen. Denn des Herrn Wort ist nun einmal mehr. Wenn also unsere Reden, | die er in unser Herz legt, die Widerwärtigen dennoch widerstehen, wenn sich unsern Reden nicht zu erfreuen haben, einer günstigen Aufnahme – günstig aber ist hier die, welche die verstokten Herzen der Menschen auflokert und vorbereitet den Herrn aufzunehmen – wenn unsere Worte doch Widerstand finden bei den Widerwärtigen: so muß uns dies ein sicheres Zeichen sein, daß sie wenigstens nicht ganz und nicht rein diejenigen sind, welche er in unser Herz legt, und daß wir noch etwas anderes wollen als die einfache Weisheit, die von oben kommt. Und gewiß werden wir auch hier der Wahrheit die Ehre geben, daß es nicht so viele Widerwärtige geben würde | und viele schon müßten überwunden sein, wenn die Jünger des Herrn überall sich hielten an die Weisheit die er selbst ihnen in das Herz zu legen verheißen hat. Und was könnten wir also uns besseres vornehmen für dieses neue Jahr unseres khristlichen Lebens, wo wir uns sonntäglich versammeln um auf die Weisheit zu merken, die von oben kommt, und die er aus seinem Munde in die Herzen der Gläubigen giebt, wo wir uns sonn12–14 Vgl. Mt 21,16

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täglich versammeln, um uns sein Wort zu vergegenwärtigen, damit wir den köstlichen Schaz vor uns haben in jedem Augenblik, was könnten wir uns besseres vornehmen als daß wir auch dieser Weisheit alles Andere | zum Opfer bringen, und dem Herrn immer mehr das Herz weihen, damit seine Weisheit in demselben Raum finde, und damit wir als rechte und wahre Diener Gottes seines Willens in Wort und That erfunden werden, und er uns dann das Zeugniß geben kann, daß auch nach unserem Maaße die Widerwärtigen uns nicht zu widerstehen vermögen: sondern die Weisheit, die er in unser Herz legt, Eingang finde bei den Menschen. Das wolle er uns denn geben, und uns dazu immer mehr bereiten zum Preise seines Namens und zu seiner Ehre jezt und immerdar. Amen.

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3. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 3,3–6 Drucktext Schleiermachers; Predigt am dritten AdventSonntage 1821, Berlin 1822 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 116–127 SW II/4, ²1844, S. 150–161 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 93–103 Andere Zeugen: Nachschrift; SAr 52, Bl. 97v–98r; Gemberg Besonderheiten: Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

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Predigt am dritten Advent-Sonntage 1821 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1822. Gedruckt bei G. Reimer. | Text. Lukas III, 3–6. Und er predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht in dem Buche der Reden Jesaiä des Propheten, der da sagt: es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste „bereitet den Weg des Herrn, und machet seine Steige richtig; alle Thäler sollen voll werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was krumm ist soll gerade werden, und was uneben ist soll ebener Weg werden; und alles Fleisch soll den Heiland Gottes sehen.“ So, m. g. F., ging Johannes vor unserm Erlöser her, die Menschen vorzubereiten auf seine Ankunft, daß sie dem erwarteten Gesandten Gottes die Wege ebnen sollten. Die Worte des Propheten nämlich, welche der Evangelist auf diese Predigt des Johannes anwendet, schildern gleichsam den prächtigen Einzug eines großen und siegreichen Königs, für den alle Hindernisse aus dem Wege geräumt werden, und alles | auf das herrlichste zu seiner Ankunft vorgerichtet. Aber diese Predigt, durch welche Johannes dem Herrn den Weg bereitete, sie war die Predigt der Buße. Auch wir, m. g. F., in dieser schönen Zeit, die wir jezt durch die Gnade Gottes mit einander erleben, suchen dem 9–13 Jes 40,3–5

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Herrn den Weg zu bereiten, damit das jährlich erneuerte Fest seiner Ankunft auf Erden dankbare, frohe und begierige Herzen finde, um sein ewiges Heil in einem immer reicheren Maaße sich anzueignen. Wenn er aber noch nicht seinen ganzen Segen über das menschliche Geschlecht hat ausschütten können; ja wenn auch wir, unter denen sich sein kräftiges und tröstliches Wort immer wieder erneuert, und denen er nach seiner Verheißung nahe ist, in unserer Mitte wohnend mit seinem Geiste, wenn auch wir dennoch fühlen, daß eine noch reichere Fülle geistiger Güter uns würde zugeströmt sein, hätten nicht wir selbst den Erguß derselben gehemmt: dann ist es auch für uns keine andre als die Predigt der Buße, welche dem Herrn den Weg bereiten muß, um noch wohlthätiger und beglückender aufs neue bei uns einzuziehen. Diese Predigt der Buße, m. g. F., laßt uns also in unsrer heutigen Betrachtung aus dem Munde des Johannes zu Herzen nehmen, und dabei auch auf unsern Zustand dasjenige anwenden, was er aus den Worten des Propheten zum Gegenstande seiner Predigt macht: „alle Hügel sollen erniedrigt werden; alle Thäler ausgefüllet, und alles was krumm ist soll gerade werden.“ | I. Wenn zuerst, m. g. F., Johannes der Vorläufer unsers Herrn, jener Worte des Propheten eingedenk, sie seinem Volke zurief, Bereitet dem Herrn den Weg, und damit er unter euch einziehen könne, muß alles Hohe und alles was sich erheben will erniedrigt werden: so gedachte er dabei zuerst und vornämlich jenes Ruhmes vor Gott, den sich die sorgfältigeren und gewissenhafteren unter den Kindern Israels, wegen treuer Befolgung des größtentheils nur äußerlichen Gesezes beilegten, und jener Vorrechte ihrer Abkunft von dem ältesten Gesegneten des Herrn, auf welche sie alle im Vergleich mit andern Völkern stolz waren, und über alle sich erhebend meinten, es könne ihnen die Gnade Gottes nicht fehlen. In diesem Sinne nun rief Johannes ihnen zu: was sich stolz erheben will aus irgend einem Grunde, das muß erst erniedrigt und jede eingebildete Höhe geebnet werden, damit des wahren Zions geistiger König einziehen könne. Ihr rühmet euch, sagte er, daß ihr Abrahams Kinder seid; aber Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Ihr rühmet euch, daß die Offenbarungen Gottes unter euch einheimisch sind; aber die Axt ist dem Baume schon an die Wurzel gelegt, um ihn umzuhauen, wenn er nicht Früchte bringt, die einer solchen ausgezeichneten göttlichen Pflege würdig sind. Ihr rühmet euch, daß ihr treu und gewissenhaft alles leistet, was das Gesez des Herrn von euch fodert, daß ihr es an keinem von den heiligen | Gebräuchen fehlen laßt, und euch einstellt 33 Vgl. Mt 3,9; Lk 3,8; Joh 8,39 3,10; Lk 3,9

33–34 Vgl. Mt 3,9; Lk 3,8

35–37 Vgl. Mt

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zu der gemeinsamen Verehrung des Herrn; aber gedenket jenes Wortes „dieses Volk nahet sich mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist fern von mir, darum will ich es verstoßen von meinem Angesicht, bis sie lernen, daß Gehorsam, der Gehorsam eines geheiligten Herzens, besser sei denn Opfer.“ Das war die Predigt der Buße, wodurch Johannes niedrig machen wollte und eben alles, was sich erhob vor dem Herrn. Wenn wir nun fragen, m. g. F., ob denn auch wir diese Predigt der Buße noch nöthig haben, wir, die wir zu dem in einem weit höheren Sinne als das jüdische Volk vorzüglich gesegneten Theile unsers Geschlechtes gehören, unter welchen nun schon so lange das beseligende Evangelium von Jesu dem Erlöser der Welt verkündigt wird, müssen wir nicht eben so fragen: Giebt es unter allen denen, die sich nach seinem Namen nennen, keine, welche in etwas Anderem ihr Heil suchen als in der lebendigen Gemeinschaft mit ihm? keine, die eine andre Zuversicht in ihrem Herzen nähren, als auf dasjenige was sie durch ihn geworden sind, und mit ihm immer mehr werden sollen? giebt es unter uns keine selbsterdachte Gerechtigkeit, welche diese oder jene einzelne Werke, immer nur zweideutige Beweise von einem Gott geheiligten Herzen, in Rechnung bringen will statt alles anderen? giebt es keine falsche Zuversicht auf den reinen Buchstaben der Lehre, dessen richtiges Auffassen so wie seine leidenschaftliche Vertheidigung doch nur ein sehr un|sicheres Merkmal davon ist, wie tief die seligmachende Wahrheit in das Herz eingedrungen sei? – Und auf solche Fragen werden wir uns wohl gestehen müssen, es giebt noch manche Höhe, die erst muß erniedrigt werden, damit der König der Ehren seinen Einzug halte unter uns. Ja auch diejenigen, welche sich keine eigene Gerechtigkeit erbauen wollen, welche immer aufs neue dem Herrn alles zum Opfer darbringen, was sie für ihr Eigenes halten könnten, und sich nichts Anderes rühmen wollen als Jesu des Gekreuzigten und dessen was sie von ihm schon empfangen haben, auch diese, m. g. F., wenn sie sich genügen lassen mit dem was sie schon besizen, wenn sie wie jener Pharisäer in einer Gleichnißrede unsers Herrn zwar auch der göttlichen Gnade als der Quelle gedenken, aus der ihnen alles Gute zugekommen ist, aber doch immer statt nur auf die Quelle selbst zu sehen, wie unaufhaltsam sie strömt und wie viel reichlicher sie hätten aus ihr schöpfen können, und statt sich dies durch das Beispiel derer zu bewähren, welche weit reicher geworden sind an Schäzen der Gottseligkeit, am liebsten nur auf diejenigen sehen, bei welchen sich noch weniger findet von den reichen und köstlichen Früchten des Geistes als bei ihnen selbst; so stellen auch diese sich auf eine eingebildete 2–3 Jes 29,13 zitiert in Mt 15,8–9 und Mk 7,6–7

4–5 Vgl. 1Sam 15,22; Hos 6,6

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Höhe, von welcher herabschauend sie vieles unter sich zu sehen glauben, die aber dem Herrn weichen muß, und wir müssen auch ihnen zurufen: die Höhe, wo ihr steht, muß erst geebnet werden, damit der Herr einziehen könne; ihr | müßt erst herabkommen aufs Blachfeld und auf eingebildete persönliche Vorzüge verzichtend euch in die gleiche Reihe stellen mit allen denen, die, das Maaß sei welches es wolle, der Gnade des Herrn schon gewürdiget, aber eben deshalb ihm tief verschuldet sind für das sowohl was sie haben als was sie nicht haben; ihr müßt vergessen alles was dahinten ist, und euch allein strecken nach dem was vorne ist. Und diese Predigt „alles was sich erheben will, das muß geniedriget werden und eben“, sie ist wol auch für uns nichts anderes als immer eine Predigt der Buße. Denn wenn der Christ in selbstgefälliger Zufriedenheit verweilt bei dem Maaße christlicher Gottseligkeit und Vollkommenheit, welches ihm schon zu Theil geworden ist: ach woher anders kann das kommen, als weil er über manche sündliche Regungen seines Herzens mit flüchtigem Blikke wegeilt? woher anders als weil er, auch nachdem das Wort Gottes ihm gezeigt hat wie er beschaffen sei, und er die Gestalt seines Angesichtes erkannt, doch allzuleicht, sobald nur das Auge wieder weggewendet ist von jenem reinen Spiegel, auch die Züge wieder vergißt, die er ihm dargestellt hat? darum ist für uns alle die Predigt „was hoch ist das soll geebnet werden“, keine andre als eine Predigt der Buße; sie soll uns lehren, daß es noch eine Einkehr giebt in uns selbst, daß es noch eine Zerknirschung des Herzens giebt und eine Demüthigung vor Gott, die uns fehlt, damit wir lernen immer hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit und | nach der Gnade, die da sind in Jesu Christo, und uns nicht dünken lassen, daß wir schon gesättiget wären. Wie viel mehr aber gilt dies alles noch von jenen Verblendeten, welche glauben, sich Christum zertheilen zu können und ihm dann doch vorzuhalten, wie sie dies oder jenes in seinem Namen gethan, um in sein himmlisches Reich einzugehen. O die Einladung, von der betrüglichen Höhe, auf welcher sie glauben, sich an das Gefolge des Herrn anschließen zu können, herabzusteigen, weil ihm kein Weg über sie bereitet werden kann, wenn sie nicht geebnet wird, sie muß diesen besonders eine Predigt der Buße seyn. Möchten sie der Worte des Propheten gedenken, welcher diejenigen scheltend und drohend anredet, welche meinten, hier ein Gebot und dort ein Gebot, hier eine Regel und da eine Regel, sei es des Glaubens oder des Lebens, damit könne der Mensch durchfinden, und könne gerecht und wohlgefällig erscheinen vor Gott. Eins nur giebt es: gieb mir mein Sohn dein Herz. Das Ganze der 18–22 Vgl. Jak 1,23–24

26–27 Mt 5,6

41 Spr 23,26

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Seele begehrt der Herr, um es durch seinen Geist umzuschaffen und zu erleuchten; und wer den Erlöser erkannt hat, der kann nichts Geringeres wollen als sein ganzes Wesen ihm darbringen, um es gestalten zu lassen in die Züge seines Ebenbildes. Wer aber mit dem Einen oder dem Andern allein zufrieden ist, der hat noch weder ihn noch sich selbst erkannt. 10

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II. Zweitens aber sagt der Prophet und Johannes mit ihm, Alle Thäler und was niedrig ist soll | ausgefüllt werden, damit der König der Ehren einziehe. – Es giebt, m. th. F., in den gebirgigen Gegenden der Erde enge und tiefe Thäler, so ungünstig gelegen, daß nur selten und in wenigen Stunden des Jahres ein Blikk der himmlischen Sonne hinscheint; und diejenigen, welche in denselben wohnen, haben nur eine schwache Vorstellung von dem Glanze des Himmels, von dem Reichthum des Lichtes, und von der Freudigkeit und Lust, mit welcher sich die, die dort oben wohnen, in den Strahlen der Sonne baden. Scheint sie dann aber einmal hinein, o dann entsteht in dem Herzen eine Sehnsucht aus der Tiefe hinauf, dann möchten auch sie gern einen reicheren Genuß haben von der Herrlichkeit, die sie nur sehr vorübergehend begrüßt; aber es nimmt sie das enge Leben ihres Berufes in dem abgeschloßnen Thale bald wieder gefangen, der flüchtige Wunsch erlischt, und sie fügen sich wieder in die alte Finsterniß und Beschränkung. Ach und wenn dann der königliche Wagen, auf welchem der Herr einzieht, nur auf irgend einer stolzen und kühnen Brücke über diese dunkeln Thäler hinwegzöge, daß sie das Rollen desselben zwar vernähmen, aber nicht wüßten, ob es sie anginge oder ihnen fremd wäre; ob es ihnen zum Heil wäre oder zum Verderben; wie übel wären sie dann berathen. Doch nein, diese Thale sollen ausgefüllt werden, und alle, die noch in dem Schatten des Todes wohnen, sollen aus dem Dunkel eines bloß irdischen kümmerlichen Daseins an das helle Licht eines neuen geistigen Lebens gezogen | werden; und wenn sie sich alle dessen erfreuen und den Herrn schauen, wie er mit gnädigem Blikk das ganze Geschlecht der Erlösten segnet, das ist sein herrlichster Einzug. – Aber, m. g. F., außer denen, die so, weil sie ganz beschränkt sind auf die niedrigen Angelegenheiten des irdischen Lebens, nur selten eine Ahndung bekommen von dem Höheren und Besseren, wozu der Mensch berufen ist, und auch diese bald wieder vergessen, weil sie ihnen vergeht unter den Sorgen des Lebens, die fast allein mit ihren Dornen aufschießen auf dem oft nicht sowol unfruchtbaren als vernachläßigten Boden ihres Gemüths, außer diesen giebt es noch Andre, die nicht in so tiefen Gründen wohnen, aber doch auch 28–30 Mt 4,16; vgl. Lk 1,79

37–39 Vgl. Mk 4,18

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in einem Thale, das noch geebnet werden muß. Der größte Theil der Menschen nämlich, zu welchen das Evangelium hindurch gedrungen ist, erfreut sich einer großen Menge köstlicher Güter, die, wenn es auch nicht von allen gleich deutlich erkannt wird, doch alle aus dieser Einen himmlischen Quelle ihren Ursprung haben; so vieles von dem, was das Leben der Menschen trübt und zerrüttet, ist aus dem Wege geräumt, die zerstörenden Leidenschaften und Begierden sind gedämpft durch Geseze und Ordnungen; ein Gefühl der Schaam, wenn einer auf Unkosten aller andern nur seinen eigenen Vortheil schaffen will, hat sich weit über die Menschen verbreitet, und sie halten es für Ehre und Ruhm, einem größeren Ganzen, in welchem Ordnung und Gesez, Schaam und Sitte einheimisch sind, anzugehören, für ein solches | zu leben und zu wirken, ja selbst zu leiden und zu sterben. Aus diesem gemeinsamen Zustand menschlicher Dinge nun geht dann auch ein würdigerer Zustand der menschlichen Seele selbst hervor. Nur unter solchen Bedingungen kann vieles sich entwikkeln was löblich ist und wohllautet vor den Menschen; da erwachen mancherlei Tugenden und edle Bestrebungen; und durch Wissenschaften und Künste bildet sich der menschliche Geist sich selbst und die Welt, die er beherrschen soll auf die mannigfaltigste Weise aus zum Preise seines Schöpfers. Aber unter der unübersehbaren Menge von Menschen, welche sich solcher edlen Güter erfreuen, giebt es nur eine kleine Anzahl – so erscheint sie wenigstens den Meisten – von solchen, welche außerdem noch einen besondern göttlichen Segen, den Segen christlicher Frömmigkeit zu genießen haben, und welchen auch das zu gering wäre, was sie von dem edelsten Verein menschlicher Kräfte empfangen, oder demselben wieder darbringen können, weil sie nach einem höheren Frieden streben als nur nach dem Frieden eines guten Gewissens mit der Welt, die Ansprüche hat an unsre Kräfte und an unsre Werke. Das sind diejenigen, welchen ihre Gemeinschaft mit Christo das höchste Gut ist, welche sich dessen über alles erfreuen, daß Er und nach seinem Worte mit ihm auch der Vater gekommen ist Wohnung zu machen in ihrem Herzen; das sind diejenigen, welche nicht allein bei allen nur äußeren Ereignissen, sondern auch, wenn jene köstlichen Güter selbst mehr als gewöhnlich bedroht und in die Ver|gänglichkeit des Irdischen verflochten erscheinen, selig und getrost ausrufen können: Herr, wenn ich nur Dich habe, was frage ich nach Himmel und Erde! Und jene große Anzahl der andern gebildeten und sittlichen Menschen erkennet es wohl und fühlt es, daß die Frömmigkeit ein eigener Segen ist und ein besonderes Gut, was ihnen fehlt; 16–18 Vgl. Phil 4,8 73,25

19–20 Vgl. Gen 1,28

32–33 Vgl. Joh 14,23

37–38 Ps

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aber sie täuschen sich mit der beschwichtigenden Vorstellung, es gehöre dazu eine besondere Beschaffenheit der menschlichen Seele, diese sei einmal nicht Allen gegeben, und wem es nun nicht gegeben sei, der müsse sich darüber, daß ihm die seligen Augenblicke des Frommen abgehen, zu trösten wissen mit dem beruhigenden Bewußtsein seines gewissenhaften und kräftigen Wirkens, durch welches er seinen Beruf in der menschlichen Gesellschaft erfüllt, und mit dem Gefühl des mancherlei Guten, welches eben durch diese Thätigkeit in ihm gegründet und befestiget worden, und welches er freilich auch dem Vater im Himmel zu verdanken habe und ihn dafür preise; endlich seien es die Freuden der Menschenliebe, und die Thränen des Mitleids, und die segensreichen Wirkungen, welche eine reifere Erfahrung auf diejenigen ausüben kann, die noch neu sind und unbefestigt, und das Licht der Weisheit, mit welchem der gereifte Geist den Unmündigen vorleuchten kann und sie erleuchten. Das alles meinen sie, sei es, was ihnen einen hinreichenden Ersaz gewähre, bei dem sie sich beruhigen könnten, und zufrieden sein mit dem Theil, das ihnen Gott beschieden hat. – Wir aber, die wir den Segen der Frömmigkeit über alles | schäzen, können uns dabei nicht beruhigen, wir müssen auch diesen Brüdern zurufen, Die Thale müssen ausgefüllt werden, die ihr bewohnt, die Täuschung muß aufhören in der ihr befangen seid, als ob die innige Gottseligkeit nicht ein gemeines Gut aller Menschen sein könnte, ihr müßt euch erheben zu dem muthigen Glauben, daß auch ihr berufen seid zu dem seligen Leben der Frommen! Lernt es erkennen und fühlen, daß alle jene Güter, seien sie auch noch so geistig und herrlich, doch das menschliche Herz nicht befriedigen können, dessen köstlichstes Gut, dessen höchster Beruf einmal der ist, Gottes wahrzunehmen und sein inne zu werden, indem es achtet auf alle Werke der Schöpfung und Vorherversehung. Wohlan, wenn es ihnen auch erscheinen sollte als eine übel angebrachte Predigt der Buße, doch wollen wir ihnen zurufen, Wenn ihr es doch anerkennt, daß Gott sich nicht hat unbezeugt gelassen allen Geschlechtern der Menschen, und daß die äußere und die innere Welt, je besser sie erkannt werden, desto mehr auf ihn hinführen: womit denn soll sich derjenige begnügen, dessen Blikk die Herzen durchdringt und prüft, der wie er selbst Geist ist und Wahrheit, auch in allem Geist und aller Wahrheit angebetet sein will? Derjenige, der überall gegenwärtig ist in der Welt, soll er nicht auch in jeder Bewegung eurer Seele sein, welche die Welt veranlaßt? 37 Derjenige] Derjenig 27–29 Vgl. Röm 1,19–21

31–32 Apg 14,17

35–37 Joh 4,23–24

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Derjenige der Alles ist und vor dem alles Uebrige nichts, hat er weniger zu fordern als alles? Soll nicht er allein eure Liebe sein und euer Frieden, er allein euer Preis und euer | Ruhm? Wenn ihr aber aus euch selbst nicht vermögt ihn so immer in euch zu tragen und euch sein immer zu freuen: warum wollt ihr nicht sehnsüchtige Hände emporstrecken und flehen: o daß du herabstiegest und zerrissest den Himmel, und wohnetest unter uns! Thut ihr das, dann ist schon das Thal geebnet, dann kann der König der Ehren bei euch einziehen, dann wird der Sohn euch den Vater verklären; und indem ihr mit ihm schließet den Bund brüderlicher Freundschaft und ununterbrochener geistiger Nähe, zu dem er alle Gläubigen beruft, so wird jenes selige Bewußtsein Gottes und des Erlösers, welches ihr, wie ihr zwar behauptet, ruhig und gleichmüthig, wie wir aber überzeugt sind, bisweilen wenigstens nicht ohne Neid in der Seele der Frommen lebendig und wirksam gefunden habt, auch in euch aufgehen, und indem es alle wahrhaft menschlichen Gefühle verklärt und erhöht, wird auch euch alles erst werden in dem Einen. – Aber freilich, m. g. F., eine Predigt christlicher Buße ist auch diese. Denn das der menschlichen Natur mitgegebne Bewußtsein des höchsten Wesens, dessen der Himmel und Erde bereitet hat, und vorher versehen wie die Geschlechter der Menschen wohnen sollten, dieses in uns ursprüngliche innere Gefühl von Gott, o es ist warlich noch nicht verstanden, sondern die Seele ist noch, daß ich so sage, gottlos oder gözendienerisch, wenn es nicht so begriffen ist, daß es das einige sein soll, was unser ganzes Leben regiert, daß es Alles in unsrer Seele sein und jedes andere in unserm Geiste sich einverlei|ben und aneignen soll, so daß wir darauf alles Andre beziehen, und uns darin alles Andre verschwinde. Und eben so gewiß als dieses ist, ist auch das zweite, daß wir den Beruf zur wahren Frömmigkeit nicht auffassen können ohne ein zerknirschendes Gefühl unseres Unvermögens, und ohne daß uns die innigste Sehnsucht entstehe nach dem Wort, welches Fleisch geworden ist, und ist gekommen Wohnung zu machen unter uns. Denn die Wahrheit davon, daß das Bewußtsein Gottes den Menschen ganz und gar beseelen und leiten, daß es sein Alles sein kann, diese Wahrheit ist nur in dem eingebornen Sohne Gottes. Jenes erkennen und diesen suchen, ist Eins; aber Gott sei gedankt, ihn suchen und ihn finden ist auch Eins und dasselbige. So wird denn was niedrig ist erhoben und gleich gemacht, so wir das nur erkennen, daß wir dem höchsten und größten, was Gott dem Menschen gegeben hat, noch immer sein volles Recht nicht haben widerfahren lassen, so lange wir nicht den Sohn umar1 Vgl. Ps 39,6.12; 62,10 6–7 Jes 64,1 8 Ps 24,7.9 20 Vgl. Röm 1,19–20 19–20 Vgl. Spr 3,19; Jer 51,15

9 Vgl. Joh 17,1 18– 31–32 Vgl. Joh 1,14

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men, in dem allein alle menschliche Herrlichkeit wahr geworden ist, und so lange sich nicht unsre Kniee beugen vor seinem Namen.

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III. Endlich spricht die Predigt des Propheten, Alles was krumm ist soll gerade werden m. g. F. Wenn wir bedenken, wie Menschen unter einander sich zu leiten pflegen von dem Geringern zu dem Vortrefflichern, von dem Niedrigen zu dem Höhern: so können wir nicht leugnen, es ist die bei weitem allgemeinste Art und Weise, daß dabei eingeschlagen werden krumme | Wege. Wollen wir den Menschen bewegen, daß er auf Recht, auf Ordnung und Gesez höre; wir stellen ihm vor, es sei sein eigener Vortheil. Wollen wir ihn bewegen, daß er Gott vertrauen lerne; wir stellen ihm vor, es werde vielerlei Umstände geben im menschlichen Leben, unter denen er keinen andern Trost haben werde als diesen. Kommen wir mit Menschen zusammen, welchen das Evangelium auch noch jedem nach seiner Weise ein Aergerniß ist oder eine Thorheit; wie suchen wir nicht oft dasjenige, was wir selbst in dem Tiefsten unsers Herzens anerkennen und preisen, gewissermaßen zu entschuldigen, um es ihnen näher zu bringen; mit dem oder jenem, was ihnen anstößig ist, brauche man es nicht so genau zu nehmen, das sei die Hauptsache eben nicht; sondern etwas anderes einzelnes halten wir ihnen dann vor, wovon wir glauben daß sie es eher ergreifen, und daß sie es leichter sich aneignen können. O, m. g. F., wenn wir so glauben, dem Herrn den Weg zu bereiten, wie sehr sind wir im Irrthum. Das sind die krummen Wege, auf welchen dem König der Ehren nicht anständig ist einzuziehen; und der Grundsaz, daß auch ein Umweg, wenn er nur besser ist und leichter und sanfter, vorzuziehen sei dem geraden, der ist es eben was er verschmäht. Wie den Königen, wenn sie einen feierlichen Einzug halten, die Wege müssen gerade gelegt werden, und darin sich ihre Hoheit und Würde zeigt, daß sie nicht genöthiget sind Umwege zu machen, sondern sie immer auf dem kürzesten Wege einziehen können: | so begehrt auch der Herr nicht anders als auf dem geraden Wege der Wahrheit in das menschliche Herz zu dringen: und nur wenn die Menschen auf diesem Wege geführt werden, gelangen sie zu dem Besiz der himmlischen Güter, die er zu spenden bereit ist, und können ihn aufnehmen in ihr Gemüth. So waren seine ersten Verkündiger; sie scheuten das nicht, daß den einen, zu denen sie redeten, das Wort vom Kreuze ein Aergerniß war, und den andern eine Thorheit, sondern sie blieben dabei, daß sie nichts anderes wissen wollten als Jesum den 2 Phil 2,10 1 1Kor 2,2

15 1Kor 1,23

24–30 Vgl. Ps 24,7.9.

36–37 1Kor 1,23

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Gekreuzigten, daß sie die Lehre von ihm und die Predigt der Zuversicht auf ihn nicht wollten bemänteln mit etwas fremdartigem, was den Menschen noch um irgend eines andern Grundes willen wohlgefällig werden konnte; nein sondern, Dieser Jesus, den ihr überantwortet habt den Hohenpriestern und in die Hände der Heiden überliefert, den hat Gott auferwekket von den Todten und ihn zum Herrn und Christ gemacht, dies Wort der Wahrheit donnerten sie in die Tiefe der Seele hinein, und auf diesem geraden Wege brachten sie die Menschen dazu, daß sie sich an ihre Brust schlugen und fragten, Ihr Männer lieben Brüder, was sollen wir thun, daß wir selig werden? – So giebt es auch jezt und zu allen Zeiten kein anderes Mittel, den Herrn in die menschlichen Herzen einzuführen, als den kurzen und geraden Weg der ofnen Wahrheit einzuschlagen; und wollen wir seinen noch immer fortwährenden Einzug unter das Geschlecht der Menschen be|fördern, so müssen wir alles krumme grade machen. Wer den christlichen Glauben unter irgend einem Vorwand gleichsam unvermerkt einschwärzen will in die Seele, oder wer ihn nur als Mittel zu irgend einem andern Zwekk empfehlen will, oder wer da meint ihn schneiden und färben zu können nach eines jeden Lust und Belieben, der bereitet nicht dem Herrn den Weg, sondern gehört zu denen von denen er sagt, Viele werden kommen und sagen, Hier ist Christus oder da ist er, aber glaubet ihnen nicht. Nur gerade zu müssen wir gehen wie seine ersten Jünger, dann gehen wir vor Ihm her. Fühlst du daß du berufen bist zu einer Seligkeit die dir noch fehlt, weißt du daß es ein ewiges Leben giebt für den Menschen welches du noch nicht führst, hast du gelernt das Irdische und Zeitliche zu gering achten für dich, und ist dein Blikk auf das Himmlische und Ewige gerichtet: so sprich, kannst du das dir selbst verschaffen? hast du selbst das Licht anzuzünden, welches deinen Weg erleuchten soll? weißt du dir selbst herauszuhelfen aus dem Schlamm der Erde, in welchen du versunken bist? antworte dir Ja oder Nein. Wenn so die einfache Wahrheit vor die Seele der Menschen gebracht wird, auf die Gefahr wie die Antwort ausfalle, dann haben wir das krumme grade gemacht. Und kann es irgendwie geschehen, so geschieht es auf diese Art, daß zur guten Stunde der Widerstand gebrochen wird, und leise oder laut, gern oder ungern eine innere Stimme das demüthige Bekenntniß ablegt, auf welches der Herr nur wartet | um die Seele zu sich zu ziehen. Nichts hindert sie dann mehr die freundliche Einladung auch auf sich zu beziehen, und ihr zu folgen, Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquiken; werfet alles von euch, und 4–7 Vgl. Lk 24,20; Apg 2,22–23.32.36 9–10 Vgl. Apg 2,37; 16,30 Mt 24,23; Mk 13,21 24 Vgl. 2Thess 2,13 39–40 Mt 11,28

21–22 Vgl.

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nehmet auf euch mein Joch, welches sanft ist, und meine Last welche leicht ist; und so viele dieses thun, verherrlichen dann den Triumfzug des Erlösers. Aber, m. g. F., nicht nur einmal zuerst muß der Herr einziehen in die Seele; sondern wie wir immer jährlich wieder das Fest seiner Ankunft feiern, so wissen wir, muß sich auch oft und immer wieder seine wirksame Gegenwart in der Seele erneuen. Darum sollten wir auch in uns selbst uns hineinvertiefen und fragen, wie denn ein jeder mit sich selbst umgehe, um das Werk der Heiligung in uns zu fördern, ob wir immer den geraden Weg der Wahrheit wandeln, oder ob wir uns auch Krümmungen erlauben, ob es nicht auch uns nicht selten ungelegen ist in die Tiefen des Herzens hineinzuschauen, so daß wir den Blikk lieber abgleiten lassen auf der Oberfläche, ob nicht auch wir uns oft über das Evangelium täuschen, und einer falschen Beruhigung zu Liebe, dies oder jenes uns wichtiger darstellen als billig und anderes schmeichlerisch verkleinern; ob nicht auch wir zu demjenigen, wovon wir fühlen, daß es der Herr fordert, und daß wir es ihm schuldig sind, falsche und unreine Beweggründe zu Hülfe rufen müssen um es uns abzugewinnen. O das alles sind die krummen Wege, auf denen der Herr nicht kommt. | Auf der ebenen geraden Straße kommt er, wo ihr schon von weitem ihm in das Angesicht schauen könnt! Seht ihm entgegen in dem reinen Spiegel seines Wortes! Wenn ihr darin sein Bild findet, und euer geistiges Auge sättigt sich an diesem; dann wird Er das Innere eures Herzens heimsuchen, und ihr werdet erkennen, wie weit ihr ihm schon ähnlich seid oder von ihm verschieden. So nichts anders wollen als ihm ähnlich werden, nichts anders suchen als was zu seinem Dienst gehört und was sein Reich fördert, und bei jeder Prüfung unsrer selbst, bei jeder Betrachtung unsers Lebens nie vergessen was er gesagt hat, Ich bin die Wahrheit, und darum nur bin ich das Leben – das ist der gerade Weg, auf welchem er nicht nur zuerst in das Herz des Menschen einzieht, sondern auf dem allein er auch jedesmal kommt um es zu erleuchten und zu erwärmen. Aber, m. g. F., laßt uns auch das nicht übersehen, was der Evangelist sagt von dem Johannes, indem er die Worte des Propheten auf ihn anwendet, Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste. Ja so ist es. Wo noch die Predigt der Buße erschallen muß, Machet die Thale voll, und erniedrigt die Höhen, und machet das Krumme gerade – da ist noch die Wüste, die Wüste, die nicht angebaut ist von dem göttlichen Geist, die Wüste, wo der Mensch allein ist und der Herr nicht mit ihm, sondern wo er nur den Versucher finden kann, wenn er dem Prediger der Buße nicht folgt; die Wüste, wo nichts von demjenigen 1–2 Mt 11,29–30

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wächst | und grünt und blüht, was die Herrlichkeit des Herrn verkündigt, und was den Menschen in Wahrheit zufrieden stellen kann. So laßt uns denn aus dieser hinauseilen, die Werke der Buße gern und willig vollbringen, alles in uns was zaghaft ist und aus Mangel an Vertrauen niedrig, gleich machen und ausfüllen, alles was sich stolz und übermüthig erheben will ebenen, damit in das demüthige Herz der König der Ehren einziehe! Laßt uns alles Krumme gerade machen, damit wir uns selbst sagen können, es ist uns um nichts zu thun als um das Heil, welches aus der Wahrheit kommt. Und nur auf diesem Wege geht die herrliche Verheißung in Erfüllung, mit welcher die Worte unsers Textes schließen, Alles Fleisch wird den Heiland Gottes sehen. Amen.

[Liederblatt vom 16. Dezember 1821:] Am 3. Advent-Sonntage 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Ach was soll ich etc. [1.] Kommst du, kommst du, Licht der Heiden? / Ja, du säumest länger nicht; / Denn du weißt, was uns gebricht, / O du starker Trost im Leiden! / Komm, o Jesu, auch zu mir, / Offen ist des Herzens Thür. // [2.] Ja du bist bereits zugegen, / Du Weltheiland, Gottes Sohn! / Meine Seele labt sich schon / An dem gnadenvollen Segen, / Welchen deine Gotteskraft / Durch den Glauben in uns schafft. // [3.] Heil’ge mich durch deine Liebe, / Die dem eitlen mich entreißt! / Und gieb Gnade, daß mein Geist / Sich in deinem Lieben übe! / Recht dich lieben, o mein Licht, / Kann aus eigner Kraft ich nicht. // [4.] Gieb mir deines Geistes Gaben, / Liebe, Glauben und Geduld, / Daß ich einst, durch deine Huld / Ueber Sünd’ und Welt erhaben, / Mit den Selgen singe dir / Hosiannah für und für! // (Homburg.) Nach dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] Vom hohen Himmelsthrone / Kommst du Herr Jesu Christ, / Und läßt zurück die Krone / Die dort dein Antheil ist! / Du, der den Königreichen / Und aller Erdenpracht / Gebieten kann zu weichen, / Verbirgest deine Macht. // [2.] Du bist zu uns gekommen / In der Erfüllungszeit, / Und hast an dich genommen / Des Menschen Niedrigkeit; / Du wolltest dich versenken / In arme Knechtsgestalt, / Um huldreich uns zu schenken / Die herrlichste Gewalt. // [3.] Dein Ansehn wird verachtet, / Der Welt erscheint es schlecht; / Und so wird noch betrachtet / Ein dir getreuer Knecht. / In welchem dein Sinn wohnet, / Und wer zu dir sich hält, / Der wird mit Schmach belohnet / Von dem Geschlecht der Welt. // [4.] Du Höchster wirst geringe, / Und for7 Ps 24,7.9

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derst auch von mir / Nicht schwer’ und hohe Dinge, / Nur deiner Demuth Zier. / Gieb daß ich von dir lerne / Von Herzen niedrig sein, / Daß ich mich gern entferne / Von allem falschen Schein. // [5.] Wie selig ist das Herze / Dem Demuth nicht gebricht! / Sie ist des Glaubens Kerze, / Der Tugend Glanz und Licht; / Sie kann uns unterweisen, / Wie man die Welt verschmäht, / Und lehrt uns würdig preisen / Des Höchsten Majestät. // (Sacer.) Nach der Predigt. – Mel. Sollt’ es gleich etc. [1.] Zu der Erde neigt sich wieder / Gott mit Wohlgefallen nieder; / Der den Sündern Tod gedräut, / Beut uns jetzt Barmherzigkeit. // [2.] Jesus ist zur Erde kommen, / Freut euch Sünder, jauchzt ihr Frommen, / Betet an, lobsingt, nun ist / Gott mit uns durch Jesum Christ! //

Am 25. Dezember 1821 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Textedition: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

1. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 1,31–32 Nachschrift; SBB Nl. 481, Predigten, Bl. 79r–88r Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Fünfte Sammlung, 1826, S. 87–110 (vgl. KGA III/2) Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, ²1843, S. 55–68. – Predigten. Fünfte Sammlung, Reutlingen, 1835, S. 71– 88. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 41–52. – Auswahl Predigten, ed. Langsdorff, 1889, S. 135–149. – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd 3, 1969, S. 176–189. Nachschrift; SAr 73, Bl. 12r–31v; Andrae Nachschrift; SAr 52, Bl. 98v–99v; Gemberg Zum Verhältnis des Textzeugen zu der Nachschrift in SAr 73 und zur literarischen Fassung in Pred. Slg. 5 vgl. Einleitung, II.3.G. Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Predigt gesprochen am 1. Weihnachtsfeiertage 1821 von Fr. Schleiermacher. | Preis und Ehre sey Gott unserem Vater, und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen. 5

Tex t. Luc I. v. 31. 32. „Siehe, du wirst einen Sohn gebären, deß Name sollst du Jesus heißen; der wird groß und ein Sohn des Höchsten genannt werden.“ Dieß, m. a. Fr., waren die verheißenden Worte des Engels an die Maria. Sie dachte dabei gewiß nicht einer fernen Zukunft, sondern dessen, was ihr 8 verheißenden] so Pred. Slg. 5, S. 87 (vgl. KGA III/2); Textzeuge: verheißenen 3–4 Als Kanzelgruß liturgische Formel in Anlehnung an Lk 2,14 5–7 Dieser Auszug ohne die Worte „du wirst schwanger werden im Leibe“ aus den Versen 31–32 entspricht dem Wortlaut, den Schleiermachers Druckfassung in der 5. Predigtsammlung S. 87 (vgl. KGA III/2) bietet und der auch in der parallelen Nachschrift SAr 73, Bl. 12v mitgeteilt wird.

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zunächst bevorstand und worauf sie durch die himmlischen Worte verwiesen war. Ein Sohn des Höchsten werde der, den sie gebären werde, genannt werden! Als ihr das gesagt ward, konnte sie nicht denken, er werde es etwa in Zukunft erst werden durch irgend ausgezeichnete Thaten oder durch später über ihn sich ergießende göttliche Gnade, sondern er werde es sein wie sie ihn geboren habe, wie sie von da an seinen Namen Jesus heißen sollte. Und eben dieß, m. g. Fr., ist der Sinn unsrer heutigen und jedesmaligen Weihnachtsfeier. Denn wenn der Erlöser der Welt geboren worden wäre gleich andern Menschenkindern und etwas später erst das Göttliche, was wir an ihm verehren, über ihn gekommen wäre von oben herab; dann ginge unser eigenthümliches Verhältniß mit ihm nicht an mit seiner Geburt, und wir hätten uns weniger zu halten an diese als an jenen Augen|blick, welcher es in ihm gewesen sein möge, wo er auf eine besondre Weise erfüllt worden wäre mit der Kraft des Höchsten. Dieß also, der Mittelpunkt, um welchen sich alles, was unser Herz in diesen festlichen Tagen bewegt, immer wieder dreht, dieß daß der Erlöser schon geboren ist als der Sohn Gottes, daß die göttliche Kraft, die ihn in den Stand setzte, die Welt zu erlösen, vom Anfang seines Lebens an in ihm war, das sei diesmal der besondre Gegenstand unserer andächtigen Betrachtung. Laßt uns sehen, wie nothwendig dieß zusammenhängt auf der einen Seite mit unserm gemeinschaftlichen christlichen Glauben; auf der andern aber auch mit der Liebe, durch welche der Glaube thätig ist. I. Wenn ich zuerst sage, m. g. F., es hängt mit dem Innersten unsers christlichen Glaubens zusammen, daß wir uns den Erlöser nicht anders denken können und dürfen als von dem Augenblick seiner Erscheinung in dieser Welt an schon der, der er immer gewesen ist, schon voll und in sich tragend das ewige göttliche Wort, schon ausgerüstet mit der Kraft aus der Höhe, ausgezeichnet vor allen Sündern und getrennt von der Gemeinschaft mit der Sünde, wenn ich dieß sage, so ist es freilich | auf der einen Seite eine harte Rede, weil es uns immer schwer ist und auch sein soll, auf dasjenige unser Vertrauen zu setzen, was wir uns nicht lebhaft in unserm Innersten vorstellen, und wir uns nicht zu einem bestimmten Bilde ausmahlen können; und so scheint es allerdings zu sein. Wenn wir auch gestehen, wir können uns wohl denken das göttliche Wesen auf das innigste vereint mit der menschlichen Natur, weil wir ja das Aehnliche davon an uns selbst erfahren, (so gewiß nehmlich als alle die sich rühmen Christo anzugehören auch wissen müssen und fühlen, daß sie seinen Geist haben und dessen voll sind, aber wir wissen auch daß wir dieser göttlichen Gabe erst fähig 1 verwiesen] so SAr 73, Bl. 12v; Textzeuge: verhießen SAr 73, Bl. 12v 21 Vgl. Gal 5,6

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werden, daß wir ihrer nicht eher inne werden können weder in uns selbst, noch in Andern, als bis alle andern Vermögen der menschlichen Seele entwickelt sind, bis das volle geistige Bewußtsein in dem Menschen aufgegangen ist,) eben daß wir uns denken sollen das Göttliche des Erlösers in dem unvollkommensten Zustande, in welchem uns sonst der Mensch erscheint, in dem neugebornen Kinde, in welchem noch alles dasjenige schlummert, woran sich die höhere geistige Kraft halten und wodurch sie sich offenbaren kann: das ist dasjenige, was uns schwer ist vorzustellen, und eben deßhalb auch zu glauben. | Daher hat es denn von jeher in der christlichen Kirche auch eine solche Vorstellung gegeben, wie ich sie vorher andeutete; als ob der Erlöser in den Jahren seiner Kindheit und bis alles Menschliche in ihm zur Reife gediehen nicht anders gewesen sei als andere Menschenkinder, und erst als er den großen Beruf, zu dem er bestimmt war, annehmen sollte, da erst sei die Kraft Gottes über ihn gekommen und habe sein ganzes Wesen durchdrungen. Daher auch kommt es, daß viele andre Khristen, dieser Meinung nicht zugethan doch Bedenken tragen, einzustimmen in die kindliche Andacht derjenigen, welche die ganze Verehrung, die die dankbare Seele dem Erlöser weiht, auch schon vor dem neugebornen Kinde, wie es in seiner Krippe liegt, niederlegen und auch für dieses schon dasselbe Gefühl haben der Anbetung, was der Erlöser, wie er im Namen seines Vaters zu uns redet und ihn uns verkündete, von uns fordert und uns abdringt. Aber deßungeachtet sehen wir auf den ganzen Zusammenhang unsers Glaubens, fragen wir uns genauer: wie mußte der Erlöser sein, um uns das zu leisten, um deßwillen wir an ihn glauben, und um deßwillen unser Herz an ihm hängt, so können wir nicht anders sagen als: schon bei seiner ersten Ankunft in dieser irdischen Welt, schon | als er zuerst menschlich athmete und ein menschliches Auge aufschlug, schon da muß das göttliche Wort in ihm Fleisch geworden sein. Denn, m. g. F., das wißen wir nicht nur aus unsrer eignen Erfahrung, sondern kühn und fest stellen wir es dar als die allgemeine aller Menschen von der niemals eine Ausnahme gefunden werden kann, daß alle welche geboren sind, so ausgerüstet wie jedes Menschenkind auf der Erde erscheint, mit eingeschlossen alle die oft freilich uns groß erscheinenden, im Grunde aber nur geringfügigen Verschiedenheiten in dem Maaße der Gaben und der geistigen Kräfte, daß in allen, sage ich, die so ausgerüstet ein menschliches Leben beginnen, früher oder später die Sünde sich entwickelt. Und so würde es auch dem Erlöser ergangen sein, wäre er geboren wie ein andres Menschenkind. Was für Verheißungen der Engel auch in die demüthige Seele der Maria hineinredete, wie sie sich auch in kindlicher und inniger Gottesfurcht sammelte und bereitete zu dem großen Geschäft, die Mutter und Pflegerin dessen zu sein, der ein Sohn des Höchsten sollte genannt werden: o sollte ihm das erst in Zukunft kommen, wie treu und weise sie auch über das zarte Gemüth möchte gewacht, wie 18–19 Vgl. Lk 2,12–20

27–28 Vgl. Joh 1,14

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fern von ihm gehalten haben alles was | ihn hätte anstecken können mit dem weit verbreiteten Gift, welches einmal ach! alle Menschenkinder – aushauchen und einathmen – eben deßwegen hätte sie es nicht zu hindern vermocht. Hier fühlen wir die Grenzen aller auch der vollkommensten menschlichen Lieb' und Treue und Weisheit. Wohlan, hätte also der Erlöser Theil genommen auch nur in dem geringsten Maße, welches wir uns denken können, an der Ansteckung der Sünde, wie könnte er derjenige sein und jemals auf irgend eine Weise hernach geworden sein, dem wir gläubig unser Herz hingeben? Denn, m. g. Fr., das wissen wir wohl, durch ein äußeres Gesetz, welches eben sowohl auf seinen steinernen oder ehernen Tafeln gegraben unmittelbar vom Himmel hätte herab fallen können, als durch einen Menschen dem menschlichen Geschlecht gegeben worden wäre, durch ein solches konnte der Mensch nicht erlößt werden, sondern immerdar auch durch den heiligsten Mund geredet und mit dem Finger Gottes geschrieben konnte es nur Erkenntniß der Sünde bewirken. Und durch ein Wunderbild, das plötzlich vom Himmel vollendet herabgekommen wäre, konnte und wollte der Höchste uns auch nicht erlösen. Denn es giebt keine andre Erlösung für den Menschen als durch die innigste Befreundung der Liebe, die wir nur gegen | denjenigen fühlen können, der mit uns die menschliche Natur theilt. Wäre aber der Erlöser hernach auch erfüllt worden mit göttlichem Geiste und mit göttlicher Kraft ohne Maaß, sollte er danach ein Mensch sein und bleiben: o so durfte das Gedächtniß seines früheren Daseins nicht ausgelöscht werden, sonst wäre er nichts anderes gewesen als ein solches plözlich vom Himmel herabgekommenes Wunderbild, welches wir hätten anstaunen, dem wir uns aber nicht hätten hingeben können in Glauben und Liebe. Bliebe aber das Gedächtniß seines früheren Zustandes, in welchem er auch der Sünde theilhaftig gewesen wäre, in ihm: o laßt uns wieder auf unsere eigne und die allgemeinste menschliche Erfahrung sehen, was daraus weiter hervorgeht. Wir fühlen es, m. g. F., es ist eine traurige Erfahrung, und die wir in mancher Hinsicht lieber verschweigen und verbergen als mittheilen, daß auch das fernste Gedächtniß früherer Sünde, welches in unsrer Seele zurükbleibt, niemals darin zurükbleibt nur als ein todtes Bild, nur als eine fremde Erinnerung, sondern es bleibt, es lebt und verunreinigt in uns oft die heiligsten Gedanken und Thaten, in deren erstem Ursprung wir die Kraft des göttlichen Geistes fühlen, es lebt in uns, um uns zu | zeigen, daß so lange der Mensch als sündiger Mensch auf Erden wandelt, wie reich auch die Gnade Gottes sich über ihn ergieße, niemals seine Seele der reinste Spiegel wird, der sie wäre, wenn sie nie von diesem giftigen Hauch wäre befleckt worden. Hätte das also der Erlöser mit uns getheilt, er hätte auch diese 40 das] Ergänzung aus SAr 73, Bl. 108 10–11.14–15 Vgl. Ex 31,18

13–15 Vgl. Röm 3,20

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Erfahrung mit uns getheilt. Und, m. g. F., wißen wir das nicht, daß jede Sünde, von der auch nur ein noch so leises Leben in unsrer Seele zurükgeblieben ist, auch irgendwie und irgendwann verfinsternd auf unsern Verstand wirkt, unser Urtheil verblendet und verfälscht, unsern Blik in den göttlichen Willen trübt und verunreinigt. Hätte der Erlöser auch irgend einen solchen lebendigen Schatten der Sünde in seiner Seele zurückbehalten, wie könnten wir von ihm hoffen, daß die Worte, in welchen er uns den Willen seines und unsers Vaters im Himmel verkündigt, ewige und unumstößliche Wahrheit wären, Wahrheit über welche es keine größere und keine reinere geben kann, Wahrheit vor welcher sich jede auch die vollkommenste und reinste menschliche Seele immer beugen muß in tiefer Ehrfurcht, Wahrheit welche wir nie hoffen dürfen ganz aufzunehmen in unsern Verstand, eben so wenig als ganz zu erschöpfen auch durch | den treusten Gehorsam. Und solchen Erlösers bedürfen wir doch, wenn wir uns sollen wahrhaft befreit fühlen von der Gewalt der Sünde, dessen Mund uns so rein, so unverfälscht und so vollkommen den Willen des himmlischen Vaters verkündigte. Und, m. th. F., wenn der Erlöser dasjenige, was ihn so wesentlich von allen andern Söhnen der Erde unterscheidet, mit so hohen und großen Worten beschreibt, daß er sagt „ich und der Vater sind Eins; wer mich siehet, der siehet den Vater“, o wie hätte er solche Worte reden können, wie müßte er uns nicht, hat er sie wirklich geredet, erscheinen als einer der sich entweder selbst täuscht, in eitlem Wahn, oder der wohlmeinend vielleicht andre täuschen will mit eitler Hoffnung. Ja so müßte er uns erscheinen, hätte er auch von ferne nur die Sünde geschmeckt. Denn wie könnte der, in welchem auch nur die leiseste Spur von ihr übrig gewesen ist, sagen daß er Eins ist mit dem Vater, dem Vater des Lichts, dem Urquell aller Vollkommenheiten und aller geistigen Güter? Sollen wir also das glauben – und glauben wir es nicht, wie kann er uns erlöst haben? – dann muß von Anfang seines Lebens an das Wort Gottes, welches er in sich trug, ihn behütet haben vor allem was auch nur von | ferne die Sünde begleitet, dann muß es bewacht haben jede Entwicklung der natürlichen sinnlichen Kräfte, daß er rein blieb und hoffend auf das Wirken des Geistes, und von Anfang an nichts andres war und sein wollte als ein Werkzeug der in ihm wohnenden göttlichen Kraft. Nur wenn es so in ihm war von Anfang seines Lebens an, nur dann konnte er dieß mit Recht von sich sagen. Und endlich, m. g. F., denken wir noch an die Heiligkeit desjenigen, vor dem wir allen Ruhm verloren hatten, den wir bei ihm haben sollten, eben durch die Sünde; denken wir daran, daß wir Eines bedurften, um deßwillen 15 Mund] so SAr 73; Bl. 21r; Textzeuge: Name 19 Joh 10,30 19–20 Joh 14,9 38 Vgl. Röm 3,23

25–26 Vgl. Joh 10,30

26 Jak 1,17

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der Heilige das ganze menschliche Geschlecht für rein achten und erklären konnte und der durch seine vollkommene Reinheit uns alle verträte bei seinem Vater, o vor dem heiligen Auge Gottes bleibt auch der leiseste Hauch des Verderbens und der Sünde nicht verborgen, und wenn vor ihm etwas, auch nur der kleinste Theil, was jedem andern Auge entginge, unrein ist, so ist das Ganze unrein. Also, m. g. F., unser Glaube an die Vertretung unsers Erlösers beim Vater, unser Glaube daran, daß wir in ihm das Bild unsres himmlischen Vaters und den Abglanz seiner Herrlichkeit schauen, unser Glaube an die Vollkommenheit und Unumstößlichkeit seiner Lehre und seiner Gebote – das Alles hängt davon ab, daß er schon auf dieser Welt erschienen ist als das ewige Wort, das Fleisch ward, als das Licht von oben, das in die Finsterniß hineinschien. | 85r

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II. Aber nun laßt uns zweitens sehen, wie ohne diesen Glauben auch die reine und ungefärbte Liebe, deren Quelle der Erlöser ist, nicht bestehen kann – insofern nämlich nicht, als er einmal derjenige sein soll und muß, um deßwillen überhaupt wir einer solchen reinen Liebe fähig sind, und dann auch insofern er derjenige ist, durch welchen allein wir im Stande sind alle unsere und seine Brüder zu lieben. Es ist, m. g. F., eine von den wunderbarsten Erscheinungen der menschlichen Seele der Kampf zwischen der Liebe, welche wir alle zu unsers Gleichen tragen, und zwischen dem reinen Gefühl für das Recht und Unrecht, für das Gute und Böse. Zieht uns menschliche Gestalt und menschliches Wesen mit Liebe an sich, so entzündet, wo wir das Verderben der Sünde, wo wir den Ausbruch menschlicher Verkehrtheit und menschlichen Wahnes sehen, die Seele sich, je mehr sie der Wahrheit und dem Guten ergeben ist, wieder mit Unwillen, der die Liebe zurückdrängt. Wären wir einer andern als einer solchen fähig, wenn wir immer nur unter einander wandelten als Genossen eines und deßelben Verderbens? Könnte auch die reinste, auch die innigste und herzlichste Liebe, könnte sie sein ununterbrochen von jener Aufwallung des Unwillens, gefärbt von jenem edlen und untadeligen Zorn gegen alles was dem göttlichen Willen zuwider ist? Nein, m. g. F., wir könnten nicht anders als so lieben eben so wenig uns selbst als unsre Brüder. Denn auch die natürliche Liebe eines jeden | zu sich selbst färbt sich so; und je strenger er ist, je lauter die Stimme des göttlichen Willens in ihm redet, desto leichter ist er oft auf dem Uebergange begriffen von der 1 achten] so Pred. Slg. 5, S. 98 (vgl. KGA III/2) und SAr 73, Bl. 22v; Textzeuge: halten 28 einer] Ergänzung aus Pred. Slg. 5, S. 100 und SAr 73, Bl. 24r 7–8 Vgl. Joh 14,9 Joh 13,34–35

8 Vgl. Hebr 1,3

11–12 Vgl. Joh 1,1.5.9.14

18–19 Vgl.

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natürlichsten Liebe gegen sich selbst zur edelsten Verachtung seiner selbst. Aber welche traurige Färbung, welcher düstre Schatten, der die Seligkeit, welche nur reine Liebe erweckt, ganz wieder hinwegnimmt! denn andres doch und höher als uns selbst können wir auch unsre Nächsten nicht lieben, und wenige wohl giebt es unter denen, die wir am höchsten preisen, die uns als die Edelsten und Besten erscheinen, in Beziehung auf welche, wenn wir am genausten mit ihnen verbunden sind, wenn ihr Innerstes am klarsten vor unsern Augen liegt, unsre Empfindung nicht ebenso wechselte als in Beziehung auf uns selbst. Aber zu ungefärbter Liebe fordert uns die Schrift auf; die reine und ungefärbte Liebe ist es, an welcher der Jünger des Herrn soll erkannt werden. Wie vermögen wir aber unsre Brüder so zu lieben, wie vermögen wir so uns selbst nachzusehen und zu verzeihen, wie anders als nur um seinetwillen, um deßwillen, in welchem keine Sünde gewesen ist, und der eben durch seine unendliche Reinheit die Sünde der menschlichen Natur tilgt und hinwegnimmt? wie anders können wir zur wahren und reinen Liebe gelangen, als wenn wir uns selbst und alle unsre Brüder nur betrachten in dem Lichte der Erlösung? da verschwindet uns, sind sie einmal eingeweiht in die Gemeinschaft mit dem, der ewiges Leben vom Himmel gebracht hat für alle die an ihn glauben, da verschwindet uns alles, was wir noch in ihnen übrig finden von menschlichem Verderben, als schon hinweggenommen und getilgt, indem wir auf den Vater im Himmel sehen, der allen, die an seinen Sohn glauben, schon vergeben hat um seinetwillen; so erscheint uns die | Sünde, die in dem Herzen und in dem Leben der Gläubigen noch übrig ist, als eine flüchtige Erscheinung die sie und uns mahnen soll daran, daß die höhere und reinere Liebe eine Gabe ist, die wir empfangen haben von oben, und die uns nur werden konnte durch den Einen, eine Erscheinung, die uns daran erinnern soll, was wir sein würden ohne ihn, um uns immer aufs neue durch Glauben und Liebe an ihn zu ketten. So können wir lieben um seinetwillen, aber nur wenn er derjenige war, der durch seine Reinheit die Sünde hinwegnehmen konnte, dem die Kraft gegeben ist, eben deßhalb weil er das Fleisch gewordene Wort war, die Menschen zu erfüllen mit dem Geist, der sie reinigt, der sie heiligt und ihm immer mehr ähnlich macht. Aber war er selbst in seinem irdischen Leben auch angesteckt wie wenig auch immer von der Sünde, konnte er selbst in seinem rein zusammenhängenden menschlichen Leben alsdann auch die lebendigen Spuren und 2 welcher] welche 12 nachzusehen] so SAr 73, Bl. 25r; Textzeuge: anzusehen 15–17 wie ... Erlösung] Ergänzung aus SAr 73, Bl. 25v 10–11 Vgl. Joh 13,34.35 11 Vgl. Joh 13,34 13 Vgl. Hebr 4,15 Röm 11,27; 1Joh 3,5; Hebr 9,28 31 Vgl. Joh 1,14

14–15 Vgl.

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die Erinnerung derselben nicht verwischen, wie wollen wir uns zähmen und hindern, daß, wenn er uns auch in der Folge in seinem öffentlichen Leben, in seiner heiligen Verkündigung des Reiches Gottes, in dem Muth und in der Sicherheit, mit welcher er die Menschen zu sich einladet und ihnen Erquickung verheißt und Ruhe, wenn er uns da auch erschiene als der Ausgezeichneteste unter allen Menschensöhnen, als das größte und vor allen auserwählte Werkzeug Gottes, wie wollen wir uns dennoch zähmen und hindern, frag | ich, daß nicht unser Auge nachginge den Spuren der Sünde, von denen wir wüßten, daß sie da sein müßten, und von denen wir nicht auch die Unvollkommenheiten und Mängel, die nothwendig daseyn müßten in seinem Leben aufzusuchen uns gedrungen fühlten? Und dann wäre er nicht mehr derjenige, um deßwillen wir überhaupt einer reinen und ungefärbten Liebe fähig wären; sondern wir könnten ihn lieben, o unendlich viel mehr als alle Andern, wir könnten an ihm hangen mit einer Verehrung, der sich keine andre vergleichen könnte, – aber es wäre doch auch eine unreine, eine gefärbte Liebe, sie wäre nicht von einer andern Art als die gegen andre Menschenkinder und könnte also nicht diese selbst heiligen und umwandeln. Aber es hängt die wahrhaft christliche Liebe auch zweitens deßhalb so nothwendig mit diesem Glauben zusammen, weil nur unter dieser Voraussetzung der Erlöser derjenige ist, durch welchen wir fähig sind alle Menschen zu lieben. Wir sehen zwar, m. g. F., das gewöhnlich an als einen ganz unabhängig von seiner Erscheinung in der menschlichen Natur liegenden Trieb und als ein der menschlichen Vernunft innewohnendes Gebot; wir glauben, wo wir irgend einen Menschen sehen, da werde auch in uns die Forderung der Liebe entstehen. Und doch, m. g. F., müßen wir gestehen, es ist eine der wehmüthigsten, eine der unverdächtigsten Folgen der Sünde, daß sie die Liebe in dem menschlichen Herzen einengt und beschränkt. Wo sind, ehe der Sohn Gottes erschienen ist, die Menschen gewesen; wo weiset sie uns die Geschichte nach, welche in der That eine unbegrenzte Liebe wahrhaft gefühlt und ausgeübt haben? Erhob sich | nicht zu allen Zeiten ein Volk wieder das andre und über das andre? war nicht zu allen Zeiten die Reinheit der Liebe nur einigen gegeben, und andre davon ausgeschloßen? bestand nicht zu allen Zeiten eine Feindschaft, die nie ganz erlöschen zu können schien, zwischen einem Volk und dem andern, zwischen einem Geschlecht und dem andern? Ja bis in die tiefsten Verzweigungen menschlicher Verhältnisse hinein finden wir die Abneigung, das Vorurtheil, den Wi5 verheißt] so Pred. Slg. 5, S. 104 (vgl. KGA III/2) und SAr 73, Bl. 27r; Textzeuge: verschafft 30 nach] Ergänzung aus Pred. Slg. 5, S. 105 (vgl. KGA III/2) 4–5 Vgl. Mt 11,28

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derwillen, welcher die Liebe beschränkt. Und davon wären wir nie frei geworden, durch alle Weisheit, die in der menschlichen Seele für sich allein aufgehen kann. Ja, wie deutlich wir auch hätten zu der Einsicht gelangen können, wie klar wir auch das Gefühl hätten erlangen können: wer vermag von sich zu sagen, daß er im Stande gewesen wäre, den wechselnden und entgegengesetzten Empfindungen, wodurch in den großen Bewegungen der Dinge die Menschen sich scheiden und in Zwietracht gerathen, denen nicht zu folgen, sondern kräftigen Widerstand zu leisten? So war es und so wäre es geblieben, weil es noch eben so ist in demselbigen Maaße und wir noch nicht ganz und vollkommen in der tiefsten Tiefe des Herzens dem Herrn gehuldigt haben, durch welchen und in welchem allein alle Eine Heerde unter einem Hirten werden können. Aber nur indem Einer, der unser Bruder ist, so über allen steht, nur wenn wenigstens einer so frei war von aller Beschränkung der Liebe, der die and|ren Menschen unterworfen sind, nur wenn Einer wenigstens im Herzen die ganze menschliche Natur trug und hegte – das nur kann uns erheben zu gleichem Gefühl, das nur kann uns läutern von allem beschränkenden Wahn, den die Sünde des Herzens dem Verstande erzeugt. Wenn er aber selbst an derselben Theil genommen hätte, er gerade geboren und erzogen unter einem Volke, welches die Beschränkung der Liebe gelernt hatte in dem göttlichen Gesetz selbst finden; welches mehr als andre sich über und gegen andre erhob eben wegen eines besondren Verhältnißes, in welchem es zu stehen glaubte zu dem göttlichen Wesen, in welchem also gerade das Edelste und Beste ausgeschlagen war zu dem, worin der Mensch allein leben und seine Seligkeit finden soll – o hätte er Theil gehabt an der Sünde, o dieser Beschränkung hätte er nicht widerstehen können. Und daß er ihr widerstand, sobald wir seinen Geist entwickeln sehen, das beweiset uns deutlicher als irgend etwas was sich auf diesen Punkt bezieht, daß von Anbeginn an das ewige Wort des Herrn behütend und heiligend in ihm wohnte. Und nun, m. g. F., ohne den Glauben, den wir uns jetzt in kurzen Zügen dargestellt haben, ohne die Liebe, deren Bild wir uns oberflächlich vorgezeichnet haben, was wäre uns der Werth der Erlösung? wo wäre die Heiligung, wo die Gerechtigkeit, zu der uns Christus werden sollte und geworden ist? Soll also durch ihn Ehre sein Gott im Himmel, und durch ihn sich verherrlichen die schaffende Macht des Schöpfers, welche das | menschliche Wesen ans Licht rief, soll durch ihn der Friede auf Erden gegründet werden, vor welchem immer mehr alle Zwietracht und aller Haß verschwindet, damit Alles Eins werde in Liebe, soll mit ungestörtem Wohlgefallen das Auge der Gläubigen ruhen auf der herrlichen göttlichen Gestalt des Erlösers, o so muß von Anfang seines Lebens an das göttliche Wort in seiner ganzen Fülle in ihm gewohnt haben; o so haben wir Recht, ihn wie er auf der Erde 11–12 Vgl. Joh 10,16

32–34 Vgl. 1Kor 1,30

36 Vgl. Lk 2,14

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Am 25. Dezember 1821 vormittags

erschien, in der ersten kindlichen Erscheinung des menschlichen Lebens, schon mit heiliger Ehrfurcht zu begrüßen als denjenigen, der der Erlöser der Menschen nicht nur werden sollte, sondern schon war, als denjenigen, in welchem sich der Vater nicht nur verklären sollte, sondern schon verklärt war, und als den, der schon Eins mit ihm war von Anbeginn an. Und, m. g. F., wie dieß Fest der Kindheit des Erlösers für uns alle zugleich das schöne und erfreuliche Fest der Kinder ist, auf denen eben in Beziehung auf ihn, der auch um ihretwillen Fleisch und Blut angenommen hat wie die Kinder es haben, unser zärtliches Auge mit Wohlgefallen ruht, und ihnen liebend die Seligkeit verheißt, die sie im Glauben an den Erlöser und in der Treue gegen ihn finden werden – nur durch denselben Glauben, daß er ein Kind gewesen war nicht wie andre, kann das Wort wahr werden, welches er mit liebendem Herzen dem jungen Geschlecht zugewendet ausgesprochen hat, „solcher ist das Reich Gottes.“ Amen.

[Liederblatt vom 25. Dezember 1821:] Am ersten Weihnachtstage 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob’ mein Seel etc. [1.] Er kommt und Serafinen / Bedecken ihm ihr Angesicht; / Sie eilen ihm zu dienen, / Und scheuen Bethlems Armuth nicht. / Wie herrlich glänzt die Erde / Aus ihrer Nacht hervor! / Ihr Hirten dieser Erde / Hört ihr der Himmel Chor? / O hin zu deiner Krippen / Naht sich mein Geist entzückt; / Auf singt, entflammte Lippen, / Das Heil, das ich erblickt. // [2.] O du, durch den ich lebe, / Was bring ich dir für Dank dafür? / Nimm meinen Geist, ich gebe / Den letzten Hauch noch freudig dir. / Wie selig kann ich sterben, / Mich halten Gräber nicht; / Den Himmel soll ich erben, / Ich fürchte kein Gericht. / Drum fließt ihr Freudenthränen! / Hier weint die Liebe Dank, / Wir huldgen ihm, wir schwören, / Wir opfern Lobgesang. // (Jauersch. Ges. B.) Nach dem Gebet. – Mel. Lobe den Herren etc. Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr englischen Chöre! / Singet dem Sohne, dem Heiland der Menschen zur Ehre! / Seht er ist da! / Gott will sich freundlich und nah / Zu den Verlorenen kehren. // Chor. – Mel. Lobt Gott ihr Christen etc. [1.] Wer kommt, wer ist der starke Held / Von Majestät und Macht? / Es ist der Herr, lobsing ihm Welt / Er hat dir Heil gebracht! // [2.] Dir Neugeborner singen wir / Anbetung, Preis und Dank; / Bei deiner Ankunft schalle dir / Der Erde Lobgesang! // 5 Vgl. Joh 10,30

14 Mk 10,14; Lk 18,16

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Über Lk 1,31–32

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Solo. O du des Guten Verkünderin Zion, / Des Heiles Botin Jerusalem, / Steig empor zu der Höhe der Berge, / Erheb die Stimme mit Macht, / Dein Gesang schalle getrost, / Verkünde den Städten Juda, / Er kommt, euer Gott! / Wolan strale freudig umher, / Denn dein Licht kommt, / Und die Herrlichkeit des Herrn / Geht auf über dir. // Chor. O du des Guten Verkünderin Zion / Erhebe die Stimme mit Macht, / Verkünde den Städten Juda; / Seht euren Gott, / Wolan die Herrlichkeit des Herrn / Geht auf über dir. // Denn es ist uns ein Kind geboren, / Und ein Sohn ist uns gegeben, / Welches Herrschaft ist auf seiner Schulter / Und sein Name wird heißen / Wunderbar, Herrlichkeit, der starke Held, / Der ewig Vater, der Friedefürst. // Gemeine. Mel. – Vom Himmel hoch etc. [1.] Ein Kind ist uns geboren heut, / Das uns der Gnaden Fülle beut; / Ein neues Licht der Welt entsteht, / Die sonst im Dunkel untergeht. // [2.] Drum brauchst du Rath und Unterricht, / Dies Kind heißt Rath, es ist dein Licht; / Fehlts dir an Muth und Tapferkeit, / Dies ist der Held, er hilft im Streit. // [3.] Sehnst du nach sanfter Ruhe dich, / Den Friedensfürsten nennt er sich; / Er macht dein Herz von Sorgen los, / Legt dich in seiner Liebe Schooß. // Nach der Predigt. – Mel. Wir Christenleut etc. [1.] Es töne laut, / Der Vater schaut / Versöhnt herab, auf Erden herrscht sein Friede! / Wem schlägt das Herz / Nicht frei von Schmerz, / Nicht freudenvoll bei diesem Jubelliede? // [2.] Ja singet Dank, / Bringt Lobgesang / Dem Herrn, der uns zum Heile ward geboren, / Sein Licht erhellt / Die dunkle Welt / Und Kinder seines Lichts gehn nicht verloren. //

Am 26. Dezember 1821 früh Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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2. Weihnachtstag, 7 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,15–20; Apg 6,8–15; 7,55–59 (Festtagsperikopen) Nachschrift; SAr 82, Bl. 1r–11v; Dunckel Keine Keine Das Manuskript enthält zahlreiche Lücken und Auslassungen. Tageskalender: „über das Evangelium und Stephanus“

Frühpredigt am zweiten Weihnachtstage 1821. nachgeschrieben von Herrn Dunkel. | Tex t. Lukas II, 15–20. Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Laßt uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgethan hat. Und sie kamen eilend und fanden beide, Mariam und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegend. Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. Und alle, vor die es kam, wunderten sich der Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. Maria aber behielt alle diese Worte, und bewegte sie in ihrem Herzen. Und die Hirten kehrten wieder um, und priesen und lobten Gott um alles, das sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war. | M. a. F., indem ich diesen Abschnitt der Geschichte an unserem heutigen heiligen Tage zum Gegenstand unserer Betrachtung machen will, muß ich zugleich aufmerksam darauf machen, daß es noch ein anderes Evangelium für unseren zweiten Weihnachtstag giebt. Es ist nämlich dieser Tag seit langer Zeit in der khristlichen Kirche zugleich der Gedächtnißtag des ersten khristlichen Märtyrers, jenes Stephanus, der zuerst um des Zeugnisses von Jesu willen, daß er der Sohn Gottes sei, sein Leben ließ; und so ist denn auch der Abschnitt aus der Apostelgeschichte, welcher dies und was er dabei gethan und geredet uns erzählt, ebenfalls für die Betrachtung bestimmt. Ich glaube wir können beides auf eine natürliche Weise zu unserer 17–24 Vgl. Apg 6,8–15; 7,55–59

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Über Lk 2,15–20; Apg 6,8–15; 7,55–59

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Erbauung | mit einander verbinden. In dem, was ich eben gelesen habe, sehen wir überall den Glanz rechter Weihnachtsfreude und Andacht, den Anfang des Glaubens, je nachdem er bei diesem auf jene, bei jenem auf diese Weise entstanden ist; in dem aber, der in der festen Überzeugung von dem Reiche Khristi in dem ersten Anfange desselben sein Leben ließ, in dem unstreitig sehen wir die Vollendung von beiden. Und so laßt uns denn dies in der gegenwärtigen Betrachtung mit einander erwägen, und von dem Anfang und dem Verlauf unseres Glaubens an unsern Herrn und Meister zu dessen lezter Vollendung hinsehen. I. Zuerst was die verschiedene Art betrifft wie der Glaube an | den Erlöser in dem Menschen entsteht, so erzählt uns unser Evangelium auf der einen Seite von den Hirten, und auf der andern von Maria und Joseph. Jene waren ganz ohne Verbindung mit dem Erlöser; die Seinigen, wenn sie gleich zum Stamme Davids gehörten, der in Bethlehem seinen Ursprung hatte, waren doch hier nur Fremdlinge und zu einem besondern Behuf dahin gekommen. Die Hirten wurden aufmerksam gemacht durch den Engel und sie sprachen, nachdem dieser sie verlassen hatte, laßt uns nun hingehen nach Bethlehem und die Geschichte sehen, die der Herr uns kund gethan. So wissen wir auch nicht von ihnen, ob sie von sich selbst schon vorher durch ein bestimmtes Verlangen nach dem Erlöser der Welt waren bewegt gewesen, | aber so wie ihnen die Kunde durch den Engel kam, so hielten sie es für der Mühe werth, die Geschichte zu sehen, welche ihnen war kund gethan worden. Und eben dies, m. g. F., ist noch jezt die erste Veranlassung des Glaubens an den Erlöser für Viele unter den Khristen. Bei Manchem geht er nicht aus von dem ursprünglichen innern Verlangen, er hebt auch nicht damit an, daß sie sich von vorn herein schon Khristo befreundet und ihm angehörig fühlen; aber die Kunde davon kommt ihnen auf vielfachen Wegen, und wenn nur der rechte Sinn für die Wahrheit im Menschen ist, und vorzüglich für die Wahrheit, welche sich nicht allein auf die äußern Dinge des vergänglichen Lebens bezieht, son|dern das Innerste der Seele in Anspruch nimmt, dann entsteht der Trieb zu untersuchen, das Zeugniß der Menschen und das Zeugniß der Schrift zu vergleichen, und sich um alles zu bekümmern pp. [ ]. Und eben dieser Trieb zu untersuchen, was schon der Gegenstand des Glaubens und der Verkündigung für andere Menschen geworden ist, das ist bei vielen der erste Keim des Glaubens. Unser Evangelist erzählt außer ihnen von Maria und Joseph, und sagt von ihnen, diese bewahrten die Worte in ihrem Herzen. Diese waren nun freilich in einem ganz andern 9 lezter] lezte 34 Ab hier treten zunehmend Lücken und mit pp bis ppppp gekennzeichnete Auslassungen im Manuskript auf.

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Verhältnisse, sie waren dem Erlöser durch die zartesten und heiligsten Bande verknüpft, sie fühlten sich ihm schon angehörig, aber auch sie fanden eine Bestäti|gung in den Bewegungen, welche seine Erscheinung auch in andern Menschen hervorgebracht hatte. Eben so ist es auch jezt bei Vielen unter uns. Wir Khristen werden dem Erlöser schon in den ersten Tagen unseres Lebens besonders geweiht, wir führen seinen Namen, wir treten, wenn wir in der Welt erscheinen, in den Besiz einer großen Menge geistiger Gaben, die alle mit seiner Erscheinung auf Erden zusammenhangen. Dadurch fühlen sich nun schon Viele auf eine ursprüngliche, geistige und natürliche Weise dem Erlöser verbunden, so bedürfen sie eigentlich keiner Untersuchung und keines Forschens mehr, er ist ihnen als ein Gegebenes da, welches sie in der Welt finden und | dessen sie sich erfreuen. Dieses Gefühl dem Erlöser anzugehören, mit ihm vereint zu sein ist der andere erste Anfang des Glaubens. Keiner von beiden soll sich rühmen der erste und einzige zu sein oder etwas voraus zu haben vor dem andern. Denen mit dem Leben zugleich der Erlöser aufgeschlossen und verbunden ist, die sollen auch eine hohe Gewißheit und Bestätigung von der Wahrheit dessen, wohin ihr Herz sich neigt, darin finden, daß diejenigen, welche allein zu pp. [ ] und zu richten geeignet sind, wenn sie Treue halten, die Wahrheit auch bezeugen. Und eben so wenn wir auf die Hirten in unserem Texte zurüksehen, sie fanden es wahr, als sie hinkamen wo das Kind lag, daß sich alles so verhalte, | wie die himmlische Erscheinung geredet hatte; aber daß sie nun nicht nur zurükkehrten und verkündigten, sondern auch Gott lobten und priesen in ihrem Herzen, das hat seinen Grund darin, daß sie gesehen, wie Maria und Joseph tief in ihrem Herzen das Wort bewahrt hatten, wie sie von dem redeten, was ihnen begegnet war. So soll beides in einander greifen. Der Glaube, der mehr von dem innern Verlangen nach der [ ] Wahrheit ausgeht, der Glaube, der mehr von dem unmittelbaren Bedürfniß des Herzens ausgeht, beide gehören wesentlich zusammen, jeder soll den andern ergänzen, und nur, wenn sie so ganz eins und dasselbe | sind, entsteht die Andacht und die Freude des gottgeweihten Herzens. Aber die Vollendung des Glaubens ist das noch nicht, die finden wir erst wenn wir auf den ersten Zeugen Jesu hinsehen, von welchem geschrieben steht, wie er aufgetreten sei und auseinander gesezt habe alle Zeugnisse in der Geschichte des Volks von dem, der da kommen sollte, alle Vergehungen des Volks gegen den Herrn, welche geeignet waren sie zu warnen, daß sie nach allen Propheten, die der Herr gesandt, nicht auch den Sohn selbst verwerfen möchten. Nachdem er dies alles geredet, ward er entzükt und sprach: „ich sehe den Himmel offen, und Jesum zur Rechten Gottes stehen.“ Ja, m. g. F., zu den Bewegungen des Herzens, welches sich dem Erlöser angehörig | und verbunden fühlt, zu der lebendigen Überzeu33–38 Vgl. Apg 7,2–53

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gung von der Wahrheit aller Zeugnisse, die von ihm zu uns gekommen sind aus allen Zeiten, ist das erst die rechte Vollendung, wenn wir den Himmel offen sehen und Jesum wie er zur Rechten Gottes steht. Daß wir in den Tagen dieser heiligen Feier den Erlöser begrüßen als den in die Welt gekommenen Sohn Gottes, als das Fleisch gewordene Wort, als den, von welchem wir alles hoffen und erwarten, das, m. g. F., ist nur der Anfang unseres Glaubens an ihn; aber daß wir ihn lebendig erkennen als denjenigen, dem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden, dessen Reich kein Ende nimmt, und von welchem | wir eben deswegen, weil er zur Rechten Gottes gesezt ist, wissen, daß auch alles dasjenige, was er von dem Vater bittet für die Seinigen, unausbleiblich geschieht, dies daß wir wissen von der unabänderlichen Gewalt des Erlösers, von der Unumstößlichkeit seines Reiches, von seiner wirksamen, lebendigen, geistigen Gegenwart unter uns, das ist erst die Vollendung unseres Glaubens. Daß dieser Glaube, m. g. F., in gewissen seltenen Fällen eine solche Lebendigkeit erlangt, daß der Mensch das, was ihm das innere Auge des Geistes nicht ohne Wirkung des Göttlichen in seiner Seele vorbildet, zu schauen und es äußerlich und sinnlich zu sehen glaubt, darüber sind wir einig das sei nicht die Hauptsache. Aber daß die Überzeugung von dem Reiche und von der Macht Khristi unseres | Herrn uns immer lebendig sei, daß sie uns unterstüze und erhebe unter allen Umständen des Lebens, wie pp. [ ] sie auch erscheinen mögen, daß wir uns auf ihn verlassen, wenn auch sein Reich Gefahr zu laufen scheint, das ist der rechte Glaube. Wer aus diesem Glauben lebt und handelt, wer sich verläßt auf die Gewalt, die der Herr ausübt in seinem Reiche, dem ist der Glaube zu der Hoffnung geworden, die nicht zu Schanden werden läßt, und zu dem Schauen, wodurch der Mensch sich nicht irre machen und durch keinen Schein kann trügen lassen. II. Ebenso, m. g. F., ist es zweitens wenn wir die Äußerungen | des Glaubens in dem einen und in dem andern Falle vergleichen. Zwar was die betrifft, die uns gewiß in der Erzählung unseres Textes am nächsten angeht, und uns allen am werthesten ist, die Mutter unseres Herrn und Erlösers, so wird uns nichts von ihren Äußerungen gesagt, sondern nur, daß sie alle die Worte in ihrem Herzen bewahrt habe. Aber, m. g. F., das bewegte Herz, wie still und in sich gekehrt es auch sei, es ist doch nicht still wenn der lebendige Glaube an den Erlöser, der in einem schönen und edlen Gemüthe sich vorzüglich ankündigt durch das tief in sich bewegte Herz, wenn auch ein stilles verschlossenes Leben ihm wenig Gelegenheit gäbe, | damit laut zu werden vor der Welt pp. pp. 5 Joh 1,14 8 Vgl. Mt 28,18 8–9 Vgl. Lk 1,33 11 Vgl. Joh 16,23 25 Vgl. Röm 5,5

9–10 Vgl. Röm 8,34

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So wie die Anwesenden gewahr wurden, wie tief Maria bewegt war, so erkennen auch wir alle, wenn unser Sinn nur darauf gerichtet ist, die Stille eines in dem Erlöser zufriedenen und freudigen Gemüths, ohne daß pp. [ ] Worte machte und ohne daß pp. [ ] große Handlungen hervorgehen pp. Es giebt ein inneres, ruhiges pp. [ ] des Gemüths, welches den Erlöser gefunden hat, d. [ ] wir für einen großen Schaz achten müssen, und wem der Herr vergönnt hat, ohne daß er seines Berufs in der Welt ppp. [ ] ohne daß er ppp. [ ] in der Stille des Herzens zu leben, und | so den Herrn zu ergreifen und so innig pp. [ ] der hat ein seliges Loos gezogen, und wenn man nicht sagen kann, daß er überall weit um sich her wirke, so wirkt doch auch dieses um so lebendiger auf diejenigen, welche sich der Nähe eines solchen pp. [ ] erfreuen. Eine andere Wirkung ist die, welche aus der Rede der Hirten hervorgeht. Von ihnen wird gesagt, daß sie umkehrten, und das Wort ausbreiteten, welches zu ihnen von dem Kinde gesagt war. Das aber konnten sie nicht ohne den Herrn zu loben und zu preisen. Und auch dies, m. g. F., ist eine pp. [ ] und herrliche Wirkung des Glaubens. Wenn man der Wahrheit inne geworden ist alles dessen, was das Zeugniß der | Schrift und der Gläubigen und der Geschichte der Welt von dem Erlöser sagt, wenn man ihn so bewillkommnet hat an dem Feste seiner Erscheinung auf Erden: dann pp. in dem uns angewiesenen Geschäfte, und verkünd pp. [ ] ein jeder innig durch Wort und That den Glauben, der in unserm Herzen befestigt ist, doch nicht pp. [ ] mit der Beziehung, die all unser Denken und Thun auf den Erlöser hat. Das ist die Verkündigung, die alle Christen ablegen sollen, und daß unser Glaube sich so äußere, kann von uns allen gefordert werden. Und das soll aus unserer Freude und Andacht an diesem heiligen Feste hervorgehen, so wer|den wir auch darüber einig sein, daß beides verbunden sein müsse in dem gemeinsamen Leben der Christen. Alle die, welche in ein Geschäft des thätigen Lebens verwikelt sind, alle die tragen kein Bedenken zu sagen: wohl uns, daß es auch solche Gemüther giebt, die diese Worte in ihrer Seele aufbewahren, von denen wir uns angezogen fühlen, und mit pp. [ ] Innigkeit gestärkt finden und zusammengehalten in den Zerstreuungen des thätigen Lebens. Und eben die stillen Gemüther, die nicht ppp. sind, die werden auch ppp. sich freuen und Gott loben und preisen, daß er solche erwekt, die, nachdem sie den Herrn gefunden, ihn im thätigen Leben auf alle Weise verkündigen, | und werden sich freuen, daß dasjenige, was ihr Herz mehr in der Stille bewegt, durch andere mehr in der Welt verbreitet und der Saame des Worts ausgestreut wird und wurzelt. So wächst das Reich Gottes bei den Einen nach innen, bei den Andern nach außen. Beides ist nothwendig, wenn der Herr die Macht ausüben soll, die ihm der Vater gegeben hat, aber auch beides zusammen ist noch nicht die Vollendung des Glaubens, die ist erst dann, wenn die, welche den Herrn 3 in dem] dem

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gefunden haben, eben so bereit sind, auch ihr Leben um seinet willen zu lassen, wie all [ ] d. [ ] erst pp. [ ] des Todes und der Auferstehung. Zu einpp. [ ] solchen tapfern pp. [ ] , [ ] ein pp. [ ] solchen pppp. [ ] nicht nur, sondern auch Thätig|keit in seinem Dienste sollen es alle Christen bringen, und das ist erst die Vollendung des Glaubens. Darüber sind wir einig, daß auch hier das Wesentliche nicht im Äußern liegt. Daß man für den Herrn das Leben wirklich läßt, das kann sich keiner geben, es ist auch etwas, wonach wir gar nicht streben müssen. Denn es ist nicht zu leugnen, daß in den Zeiten, wo das Evangelium gehaßt und verfolgt wurde, eben das Streben nach der Krone des Märtyrerthums eine große Zerstörung in die christliche Kirche gebracht hat.

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Und indem wir mit unserem ganzen Leben zwischen beides gestellt sind, so laßt uns auch beides auf die lebendigste | Weise vereinigen. Wenn wir aufgefordert sind irgend etwas in dem Namen des Erlösers zu thun, pp. Und zu allem laßt uns das Gefühl seiner himmlischen Macht und Gewalt festhalten, wenn wir uns selbst überlassen sind und einkehren können in die stillen Tiefen des Gemüths pppp. Laßt uns ppppp. [ ] auf alle Weise stärken für die Zukunft, damit dann, wenn wir aufgefordert werden zu handeln und zu leiden, uns lebendig gegenwärtig sei der, dessen Erscheinung auf Erden wir bewillkommnen als dessen, dem gegeben ist alle Gewalt und Macht im Himmel und auf Erden. Amen.

12 / Hier ... Seiten. / ] Hinweis des Schreibers zu seiner Vorlage 22–23 Mt 28,18

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Sonntag nach Weihnachten, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 3,20–21 Nachschrift; SAr 60, Bl. 243r–248r; Woltersdorff Keine Nachschrift; SAr 52, Bl. 99v–100r; Gemberg Liederblatt (vgl. Anhang nach der Predigt)

Aus der Predigt am letzten Sonntag des Jahres 1821. Joh 3, v. 20 u. 21: Wer Arges thut der hasset das Licht und kommt nicht an das Licht auf daß seine Werke nicht gestrafet werden. Wer aber die Wahrheit thut der kommt an das Licht daß seine Werke offenbar werden: denn sie sind in Gott gethan.

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Auf die Vergangenheit sind wir gewiß alle gerichtet mit unsern geistigen Augen am Ende eines Jahres, aber ob auch so daß unsre Werke ans Licht mögen können, sollen wir uns fragen. Wenn wir freilich nur darauf bedacht sind die wichtigsten Ereignisse unsers Lebens und PWirkensS zu erinnern damit uns etwas mehr übrig bleibt als die letzten Augenblicke so sind es nicht unsre Werke welche wir suchen und wir sind in einem vergeblichen Bestreben begriffen, denn wie ungleich ist nicht PhierinS unser Vermögen selbst: (was der Eine sich zurückrufen kann wie ihm in längst vergangnen Augenblicken zu Muthe gewesen so verschwindet dem Andern das Vergangene sehr bald) sondern wie ungleich ist jeder sich selbst und es ist ein Geheimniß warum manches sich fest unserm Gedächtnisse einprägt und anderes so schnell und leicht uns entgeht wenn es auch in dem Augenblicke uns sehr ergriffen hat. Wie wenig vermögen wir also die Aufgabe zu lösen. | Aber wenn wir auf das achten was wir gethan haben und das ganze Gebiet unsers Wirkens durchschauen, was uns gelungen ist, wessen wir uns rühmen können und wessen vielleicht schämen müssen, wie steht es da um unsre Prüfung? Auch wenn wir auf den Erfolg sehen, dieser ist nicht unser und weit von unserm Werke unterschieden. Wie vieles kommt uns zu Hülfe was uns unser Werk PnunS zu Stande bringen läßt und wie oft setzt sich uns etwas entgegen; wer vermag zu unterscheiden was sein Werk sei oder nicht. Worinn wir jedes einzelne Werk betrachten, wenn wir darauf

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sehen wie die Stimmung unsrer Seele gewesen ist als wir das Werk begannen, so fragen wir uns: würdest du ebenso begonnen haben? wäre die Stimmung der Seele anders gewesen? Wie wenig sich diese Rechenschaft ablegen läßt, wie wenig ein jeder vermag sein Eigenthum zu sondern, wie schwer wir sagen können: Das hast du gethan das ist die Schwachheit In dieser Verlegenheit, was können wir besser thun als uns an den Ausspruch des Erlösers halten der uns eine Regel über die wahre Selbstprüfung giebt. Aber damit wir sie uns recht zu Nutz machen so ist es nicht genug daß wir seine Vorschrift annehmen sondern daß wir auch aus seinen Worten selbst zu lernen suchen wie wir diese Vorschrift anwenden und die Schwierigkeiten welche sich uns entgegensetzen überwinden. | Was zuerst die Vorschrift betrifft wie wir unsre Werke unterscheiden sollen, so stimmt es mit dem überein wie wir es uns vorher vorgestellt haben, denn es ist in seinen Worten nichts was uns auf den äußeren Erfolg unsrer Bestrebungen hinweist, und es ist gewiß daß wenn wir auf diesen sehen wollten wir zu keinem richtigen Urtheile gelangen können, weil die Urtheile der Menschen so verschieden sind. Und nicht nur das Urtheil der Welt sondern auch unser eignes ist wechselnd. Was der Erlöser sagt, daß das Herz ein trotzig und verzagtes Ding sei, und was die Schrift sagt daß die Gedanken sich einander entschuldigen und verklagen das nimmt so lange kein Ende als wir hier leben. So laßt uns nach den Worten des Erlösers unsre Werke unterscheiden. Er sagt 1. es sind solche die gestraft werden durch das Licht. Und 2. es sind solche die in Gott gethan sind. Das Licht ist das Durchdringende, es bleibt nicht auf der Oberfläche sondern es soll ins Innerste dringen, und was in Gott gethan ist das ist eben auch nur das Innre. Wenn wir aber fragen: Wohlan sehen wir nun auf das Innre unsers Gemüthes welches sind die Werke | welche gestraft werden von dem Lichte? Auf zweierlei führt uns der Erlöser: Werke als solche wenn nichts andres gesagt wird können nur gestraft werden als sie nicht rechte Werke sind und das ist das erste. Nemlich alles was uns mehr den leidentlichen Zuständen hingiebt, alles was beiträgt unsre Gewalt über uns selbst, das ist unsre geistige Freiheit, zu verringern und uns hinzugeben den unwillkürlichen Bewegungen unsers Gemüths ist kein Werk; denn der Mensch soll sich selbst hervorbringen, er selbst soll sein Werk sein, für seine Seele hat er Rechenschaft zu geben. Alles also was sein geistiges Leben stärkt, ausrichtet, zum Bewußtsein bringt das ist ein Werk, – was aber sein geistiges Leben schwächt, was ihn ins Äußere zerfließen läßt, ist kein Werk, also in Beziehung auf das was er leisten soll wird er bestraft. Was ist aber das was vom Licht gesagt wird? Alles straft das was ihm entgegengesetzt ist, fragen wir also was ist es was vom Lichte gestraft wird so können wir nicht anders 19 Vgl. Jer 17,9

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sagen als: die Finsterniß; und so nennt die Schrift alle solche Werke welche keine rechte Werke sind: Werke der Finsterniß. Alles also was darauf abzweckt uns selbst im Dunklen zu erhalten, was uns die Klarheit unsers geistigen Lebens schwächt, alles was beiträgt unsre Seele in Verwirrung zu stürzen, das ist es was bestraft wird. Licht und Wärme ist überall und am meisten im Geistigen | unzertrennlich; was uns kräftig macht ist das Wärmende, was uns klar macht, unsern Geist schärft ist das Erleuchtende und beides ist Eins und dasselbe; Jeder seelige Augenblick der uns kräftig macht und willig, der lehrt uns auch den Herrn erkennen: so wie uns das Wollen wird, eben so wird uns auch die Kraft zu Vollbringen. Was also nichts hervorgebracht hat, das ist aus dem Gegentheil des Lichtes, also Werk der Finsterniß. – Von den andern Werken sagt der Erlöser daß sie in Gott gethan sind, was heißt aber dieses? In Gott ist alles gethan was in Beziehung auf ihn gethan ist, was indem wir es fest setzten und verfolgten uns klar vor der Seele stand in seinem Zusammenhange mit dem Reich des Herrn, so daß wir fühlten daß er selbst uns dazu trieb – solche Werke sind in Gott gethan. – Aber dann wissen wir auch: Gott ist der aus dem Alles hervorgegangen ist, der Alles trägt, und ohne dessen Willen nichts geschieht, was also in Mitwirkung ist mit diesem heilgen Willen, das ist in Gott gethan. Laßt uns nicht sagen: wie vermag der Mensch den Willen Gottes zu erkennen? Laßt uns so nicht sagen und uns dadurch das Wort des Herrn nicht verdunklen; denn das wissen wir daß seine | Gemeinde nicht soll überwältigt werden durch die Pforten der Hölle, daß wie er der Christ und Herr ist in Ewigkeit, so auch seine Gemeinde bestehn wird. – Wohl also was beiträgt die Gemeinde Gottes zu befestigen, ist ein Werk in Gott gethan: was, eben deßwegen weil es aus dem Geiste Gottes hervorgegangen ist, der Geist verklärt daß die Gläubigen darin das Licht erblicken das in ihre Seele leuchtet, das ist in Gott gethan. – Und so stimmt das mit dem Vorigen überein; denn was jeder in sich selbst befestigt das erbaut und stärkt auch die Gemeinde des Herrn was aber ihn schwächt und zerstört das verderbt die Gemeinde, weil wer nicht mit ihr ist wider sie ist, und jeder der nicht mit ihr sammlet der zerstreut. Das ist die Vorschrift welche uns Christus giebt. Solches sind also die Werke in Gott gethan die da sollen an das Licht kommen und jenes die welche vom Lichte bestraft werden. Wenn wir nun mit dieser Regel in das vergangne Jahr zurücksehn, was werden wir finden? als eben dieses daß das menschliche Leben dem Gesetz des Wechsels in allem unterworfen ist: Gewiß finden wir Werke in Gott gethan, wobei sein Wort leuchtete sein Geist beseelte, und wobei uns vorschwebte das | gemeinsame Leben in dem Herrn. Aber wir werden auch 2 Vgl. Röm 13,12; Eph 5,11 33 Vgl. Mt 12,30; Lk 11,23

10–11 Vgl. Phil 2,13

23 Vgl. Mt 16,18

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gewahr werden: es hat nicht gefehlt an solchen Werken, die bestraft werden vom Lichte. – Aber der Nutzen der Selbstprüfung, der Werth derselben für die Zukunft, der besteht nicht in dieser allgemeinen Erkenntniß, sondern der kann nur erreicht werden durch die Kunde des Einzelnen: nemlich auf der einen Seite, dessen was zu den Werken des Lichts gehört, und dann, dessen was vom Lichte bestraft wird, damit wir uns warnen lassen und jeder das fliehe was für ihn Werk der Finsterniß sein würde. Dazu kömmt es darauf an daß wir fragen: wie haben wir diese Regel des Erlösers anzuwenden? und wie haben wir die Schwierigkeiten die sich bei der Selbstprüfung finden zu überwinden? Wie schwer wird es uns selbst uns die Bewegungen des Gemüths zu vergegenwärtigen, wie schwer selbst das was vorübergehende Stimmung ist von der innern Haltung des Gemüths zu unterscheiden: wenn wir bedenken wie der Herr selbst redet von der Prüfung, daß nemlich hierin durch Gott selbst den Menschen alles solle offenbar werden, so sehn wir wie er in diese Schwachheiten hineingeschaut hat; denn da sagt er in Beziehung auf die Werke der Finsterniß werde ihnen gesagt werden: „ihr habt mich durstig gesehen und habt mich nicht getränkt“: und sie würden antworten: | „Herr wo haben wir dich gesehn und nicht getränkt?“ Und eben so wenn die Werke des Lichts erscheinen würden, werde er sagen: „Kommt her zu mir alle, ihr habt mich getränkt“: und sie würden sagen „Herr wo haben wir dich durstig gesehn und getränkt“. – Und so sind das die Mängel der Selbsterkenntniß daß wir den Zusammenhang unsrer Handlungen oft übersehn, und den Werken ihren wahren Werth nicht beilegen. Daraus nun entstehn die Schwierigkeiten der Selbstprüfung. Wenn wir aber auf das zurückgehn daß das wahre Werk des Menschen er selber ist so könnten wir sagen es sei nicht nöthig daß jedes Einzelne uns lebendig vorschwebe. Und so ist es auch: wenn wir nur unser ganzes Bewußtsein vergleichen können mit einem frühern, wenn wir dann nur fühlen in wiefern wir zugenommen haben, oder nicht so weit vorwärts gekommen als wir sollten, so können wir im Ganzen die Ergebnisse eines Jahres beurtheilen. Und zu solchem Urtheil zu gelangen kann uns, wenn wir nur das Licht nicht scheuen, nicht schwer werden; denn wenn wir die Augenblicke der Vergangenheit, welche uns klar vorschweben erwägen und uns fragen: wie würdest du jezt wenn ähnliche Versuchung dich träfe ihr begegnen? | so würden wir hierüber uns gewiß nicht täuschen wenn wir das Licht nicht scheuten. So kann uns also das Wesentliche nicht entgehn. Aber freilich ist ein großes Gut auch die richtige Beurtheilung dessen was uns mittelbar oder unmittelbar dazu gedient hat auf die Stelle zu kommen auf welcher wir jezt stehn, denn dies kann uns am meisten lehrreich werden. Giebt uns aber dazu der Erlöser keine Anleitung? Ja, denn das ist gewiß wenn wir uns das Zeugniß geben 17–19 Vgl. Mt 25,42.44

20–22 Vgl. Mt 25,34–35.37

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Am 30. Dezember 1821 vormittags

können daß wir vorwärts geschritten sind, und daß uns der Geist Gottes beseelt hat und geleitet, wenn, wir das wissen so können wir auch unterscheiden welche Werke uns dahin geführt haben. Freilich, wenn wir einmal in der Liebe Gottes sind so gereicht uns auch das was nicht zu den Werken die in Gott gethan sind [gehört], zum Besten, aber nur durch die Dazwischenkunft der Reue, das aber was uns ohne solche Dazwischenkunft gefördert hat das ist gehörig zu den Werken des Lichts, es hat uns gefördert weil es uns geübt hat in der Gottseeligkeit denn jede Uebung befestigt. Vergleichen wir also hiernach unsre Werke miteinander so werden wir erkennen, | welche durch den Geist Gottes in Gott gethan sind und welche vom Lichte gestraft werden. – Aber es giebt noch eine besondre Anleitung: – Der Herr sagte „Wer die Wahrheit thut der kommt an das Licht, und wer Arges thut der scheuet das Licht“: – Wo wir also etwas gethan haben was uns der Gewalt der Welt hingegeben hat, etwas wodurch der innre Mensch nicht ist geschickt worden und was noch nicht ist vom Lichte gestraft worden weil wir es oberflächlich behandelten darüber laßt uns Verdacht haben damit es vom Licht gestraft werde zur Seeligkeit. Und wenn der Herr sagt: wer die Wahrheit thut der kommt an das Licht: – so ist das daß wir ans Licht kommen nichts anders, als daß wir sagen der Name des Herrn sei gelobt, daß wir den Herrn preisen für Alles; wer an das Licht kommt der vergegenwärtigt sich gern Alles. – Und sehn wir so auf das vergangne Jahr zurük so werden wir alles wahr finden was unser Gesang enthält: Mit welcher Liebe und Treue hat der Herr uns geleitet, und immer wieder zurükgeleitet so daß wenn wir nur die Wahrheit nicht scheuen auch die Sünde uns zur Seeligkeit gereichen muß. | O so laßt uns ihm allein dem Hirten unsrer Seelen, danksagen für Alles was uns zum Seegen geworden ist und für Alles was uns noch zum Seegen werden kann wenn wir es nur ans Licht bringen. Und wenn wir immer mehr auf seine Stimme hören so werden wir in Zukunft immer weniger solcher Werke thun die vom Lichte bestraft werden und wir werden immer mehr zu solchen Werken getrieben werden die in Gott gethan sind! –

29 in] imm 19–20 Hi 1,21 26 Vgl. 1Petr 2,25

22–25 Vgl. Liederblatt, Lied nach dem Gebet (unten Anhang) 28–29 Vgl. Joh 10,27

5

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Über Joh 3,20–21

1045

[Liederblatt vom 30. Dezember 1821:] Am Sonntage nach Weihnachten 1821. Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Gott wiederum ein Jahr verschwunden! / Verschwundnes kehrt nicht mehr zurück: / Und mehr als acht mal tausend Stunden / Sind hin als wie ein Augenblick. / Hin mein Gehorsam, meine Sünden! / Doch nein! Der Richter aller Welt / Läßt jede, ach, mich wiederfinden, / Wenn er vor seinen Thron mich stellt. // [2.] Gedanken, Worte, Thatenheere / Hat nichts von euch das Licht zu scheun? / Wenn ich dies Jahr gestorben wäre, / Wie würde meiner Seele sein? / Könnt ich verklärt mit Gottes Kindern / Mich meines Erdenlebens freun? / Ach, oder müßt ich mit den Sündern / Verlorne Jahre schwer bereun. // [3.] Den Gott, der liebt wie Väter lieben, / Hat ihn mein Undank nie betrübt? / Den Gott, der stets mir treu geblieben, / Hab ich ihn auch so treu geliebt? / Lebt ich für ihn nach seinem Willen / Stets als vor seinem Angesicht, / Fromm öffentlich und fromm im Stillen, / Treu dem Gewissen und der Pflicht? // [4.] O Vater du kennst meine Sünden, / Vor dir liegt aufgerollt das Jahr; / Laß mich mit tiefer Schaam empfinden / Wie noch mein Herz dir untreu war! / Ja Vater, Gnade nur ists, Gnade, / Wenn du der Jahre mehr mir schenkst, / Und vom verkehrten Sündenpfade / Die Seele ganz zum Himmel lenkst. // (Lavater.) Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s etc. [1.] Wie treu du guter Hirte / Gehst du dem Sünder nach, / Wer sich von dir verirrte, / Dem hilfst du aus der Schmach! / Wer in sein Elend läuft, / Dem reichst du voll Erbarmen / Die Hand, die noch den Armen / Eh’ er versinkt, ergreift. // [2.] Dein Ruf heißt uns zu kommen; / Und merken wir nicht drauf, / Ob wir ihn schon vernommen, / Suchst du voll Huld uns auf. / Dein Herz, o Heiland, brennt, / Daß der zu deiner Heerde / Zurückgeführet werde, / Der sich von ihr getrennt. // [3.] Nahm auch der sichre Sünder / Den Gnadenruf nicht an; / Du bist ihm doch gelinder, / Als er erwarten kann. / Sein Ziel verlängerst du, / Noch darf er Gnade hoffen, / Der Zugang bleibt noch offen / Zu deiner selgen Ruh. // [4.] Du Retter unsrer Seelen, / Du hülfreich treuer Freund, / Wir wollen laut erzählen, / Wie gut du es gemeint. / Verachtend deine Zucht / Folgt mancher noch den Lüsten, / Doch du hast in den Wüsten / Ihn liebreich aufgesucht. // [5.] Oft bracht heilsame Schmerzen / Dein Wort in uns hervor! / Oft drangs in dunkle Herzen, / Zog sie ans Licht empor. / Ja mancher kehrt zurück / Von jenem breiten Wege, / Durch sanft’ und harte Schläge, / Und preist Erbarmer dich. // (Brem. Ges. B.) Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend etc. Wir danken dir für alle Gnaden, / Die du dies Jahr der Welt erzeigt; / Ach eile die auch zu entladen, / Die noch das Elend niederbeugt. / Wir wollen aller Brüder Seelen, / Sie sind ja dein, Herr Jesu Christ, / Aufs neue deiner Huld empfehlen / Dir, der du allbarmherzig bist. //

Von Schleiermacher bearbeitete Nachschrift der Predigt vom 29. April 1821 vormittags, SAr 77, Bl. 56r; Schleiermacher/Andrae – Faksimile.

Verzeichnisse

Editionszeichen und Abkürzungen Das Abkürzungsverzeichnis bietet die Auflösung der Zeichen und Abkürzungen, die von Schleiermacher und der Bandherausgeberin sowie in der zitierten Literatur benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Literaturverzeichnis erfolgt. Nicht verzeichnet werden die Abkürzungen, die für Vornamen stehen. Ferner sind nicht berücksichtigt Abkürzungen, die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen eines Abkürzungspunktes, durch Kleinbzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden. Schließlich sind nicht aufgenommen die in den Quellenangaben der Liederblätter vorkommenden Abkürzungen. | / // [] ] )* P S [] a. ABBAW

Seitenwechsel Zeilenwechsel in Liedern, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Absatzwechsel in Liedern Ergänzung der Bandherausgeberin Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Lücke im Manuskript

Abk. Abt. Adv. Anm. Apg / Apst. Gesch. Aufl. Aug.

an / am Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaft in Berlin Abkürzung Abteilung Advent Anmerkung Die Apostelgeschichte des Lukas Auflage August

Bd. betr. Bl. bzw.

Band betreffend Blatt beziehungsweise

c. / cap. cet.

capitulum (Kapitel) cetera

1050

Verzeichnisse

2Chr 1Cor

Das zweite Buch der Chronik Der erste Brief des Paulus an die Korinther

Dan Dez. d. h. d. i. D. / Doct. / Dr. Dreif. Dtn

Das Buch Daniel Dezember das heißt da ist / das ist Doctor / Doktor Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Deuteronomium (Das fünfte Buch Mose)

ebd. Ebr ed. / edd. ELAB Eph / Ephes. Epiph. etc. Ev. / Evang. Ex Ez

Ebenda Der Brief an die Hebräer edidit / ediderunt Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin Der Brief des Paulus an die Epheser Epiphanias et cetera (und so weiter) Evangelium Exodus (Das zweite Buch Mose) Der Prophet Hesekiel (Ezechiel)

f. Febr. FHDS Forts. Fr.

folgende Februar Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten Fortsetzung Freunde

Gal geb. Gen gest. g. Fr. GStA PK

Der Brief des Paulus an die Galater geboren Genesis (Das erste Buch Mose) gestorben geliebte Freunde Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

H. HA Hab Hall. Lit.-Zeitung Hebr Hiob hl. Hos Hr.

Heft Hauptabteilung Der Prophet Habakuk Hallesche Literatur-Zeitung Der Brief an die Hebräer Das Buch Hiob (Ijob) Heilig Der Prophet Hosea Herr

Editionszeichen und Abkürzungen J. Jac. / Jak Jan. Jer / Jerem. Jes Jg. Joel Joh / Ev. Joh. 1Joh Jos Jun. jun.

Jahr Der Brief des Jacobus / Jakobus Januar Der Prophet Jeremia Der Prophet Jesaja Jahrgang Der Prophet Joel Das Evangelium nach Johannes Der erste Brief des Johannes Das Buch Josua Juni Junior

Kap. KGA Kj Kol 1Kön 1Kor / 1. Korinth. 2Kor / 2. Korinth. korr.

Kapitel Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe Konjektur Der Brief des Paulus an die Kolosser Das erste Buch der Könige Der erste Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Paulus an die Korinther korrigiert

LB Lev Lk / Luc. / Luk. luth.

Liederblatt Leviticus (Das dritte Buch Mose) Das Evangelium nach Lukas lutherisch

m. a. F. / m. a. Fr. / m. and. F. 1Makk / I. Makkab. m. a. Z. Mel. m. F. / m. Fr. m. Gel. m. g. F. / m. g. Fr. / m. gb. Fr. / m. gel. Fr. Mk / Marc. / Mark. Mt / Matth. m. Th. m. th. F. / m. th. Fr.

meine andächtigen Freunde

n. nachm. NB. Nl Nov. Nr.

Das erste Buch der Makkabäer meine andächtigen Zuhörer Melodie meine Freunde meine Geliebten meine geliebten Freunde Das Evangelium nach Markus Das Evangelium nach Matthäus meine Theuren meine theuren Freunde nach nachmittags notabene Nachlass November Nummer

1051

1052

Verzeichnisse

n. Trin. / n. Trinit. Num

nach Trinitatis Numeri (Das vierte Buch Mose)

Offb OGD

Die Offenbarung des Johannes Ordnung der Gottesdienste in der Dreifaltigkeitskirche Oktober

Okt. p. 1Petr / 1. Petr. / 1. Petri 2Petr / 2. Petr. / 2. Petri Phil pp. / ppp. Pred Prof. Ps p. Trin.

Der Brief des Paulus an die Philipper perge perge (und so weiter und so weiter) Predigt Professor Psalmen (Der Psalter) post (festum) trinitatis

Quasim.

Quasimodogeniti

r Rem. Rep. Röm

recto (Vorderseite bei Blattangaben) Reminiscere Repositum Der Brief des Paulus an die Römer

S. s. Sach 1Sam SAr

Seite siehe Der Prophet Sacharja Das erste Buch Samuel Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher-Archiv, Depositum 42a (mit folgender Angabe der Mappennummer) Schleiermacher Bibliothek Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher-Archiv, ed. Hermann Fischer u. a. Senior Seraphinen Sexagesimae Sonntags im Advent Sammlung Sammlung Witwe Schleiermacher Schleiermacher Schleiermacher-Nachlass (= Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher)

SB SBB SchlA sen. Seraph. Sexag. SiA Slg. Slg. Wwe. SM SM SN

perge (und so weiter) Der erste Brief des Petrus Der zweite Brief des Petrus

Editionszeichen und Abkürzungen SnE SnT / S. nach Trinit. / Sonnt. n. Trin. SnW sog. Sonnt. Sp. Spr St. Superint. SW

Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Trinitatis

Th. Tit. 1Thess 1Tim 2Tim Tit Trin. / Trinit.

Theil Titulus Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher Der erste Brief des Paulus an Timotheus Der zweite Brief des Paulus an Timotheus Der Brief des Paulus an Titus Trinitatis

u. u. f. urspr. usw. / u. s. w.

und und folgende ursprünglich und so weiter

v v. / V. Verf. / Vf. vgl. vollst. vorm.

verso (Rückseite bei Blattangaben) versus (Vers) / von / vor Verfasser vergleiche vollständig vormittags

Weihn.-predigt Wwe.

Weihnachtspredigt Witwe

Z. z. B. zit.

Zeile zum Beispiel zitiert

Sonntag nach Weihnachten sogenannt Sonntag Spalte Sprüche / Sprichwörter Salomos (Proverbia) Sankt Superintendent Schleiermacher, Sämmtliche Werke

1053

Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Texten sowie in den Apparaten und in der Einleitung der Bandherausgeberin genannt sind, am Schluss die für die Edition herangezogenen Archivalien. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so werden die Gesamtausgaben vorangestellt. Alle anderen Titel (Werkausgaben in Auswahl, Einzelausgaben, Beiträgen in Sammelwerken und Zeitschriften) werden chronologisch angeordnet. 4. Bei anonym erschienenen Werken wird der Verfasser in eckige Klammern gesetzt. Lässt sich kein Verfasser nachweisen, so erfolgt die Einordnung nach dem ersten Titelwort unter Übergehung des Artikels. 5. Bei denjenigen Werken, die für Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Angabe „SB“ (vgl. unten Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek) mit der Listennummer hinzugefügt.

* * * Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5,1, Leipzig 1774–1786 [SB 8: Bd. 1–4 (A–V), 1774–1780] Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1785–1849 [vgl. SB 2234] Arndt, Andreas: s. Schleiermachers Briefwechsel : s. Wissenschaft und Geselligkeit Barth, Ulrich: Christentum und Selbstbewußtsein. Versuch einer rationalen Rekonstruktion des systematischen Zusammenhanges von Schleierma-

Literatur

1055

chers subjektivitätstheoretischer Deutung der christlichen Religion, Göttingen 1983 (Göttinger theologische Arbeiten, Bd. 27) Bauer, Johannes: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers. Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 4, Gießen 1908 : s. Schleiermacher, Ungedruckte Predigten Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici, Berlin 1800– 1922 Birkner, Hans-Joachim: Die Kritische Schleiermacher-Ausgabe zusammen mit ihren Vorläufern vorgestellt (1989), Schleiermacher-Studien, ed. Hermann Fischer, Schleiermacher-Archiv, Bd. 16, Berlin / New York 1996, S. 309–335 Die christliche Welt, ed. Martin Rade, 24. Jg., Marburg 1910 [de Wette, Wilhelm Martin Leberecht:] Aktensammlung über die Entlassung des Professors D. de Wette vom theologischen Lehramt zu Berlin. Zur Berichtigung des öffentlichen Urtheils von ihm selbst herausgegeben, Leipzig 1820 Dilthey, Wilhelm: Leben Schleiermachers, Bd. 1 [einziger], Berlin 1870; 3. Aufl., ed. Martin Redeker, Bd. 1–2 in 4, Berlin 1966–1970 Festmagazin s. Magazin von Fest-, Gelegenheits- und anderen Predigten Fürst, Joseph, ed.: Henriette Herz. Ihr Leben und ihre Erinnerungen, Berlin 1850 Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt, und mit Königl. Allergnädigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingeführet worden; Nebst Einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1798 Gerdes, Hayo / Hirsch, Emanuel: s. Schleiermacher, Kleine Schriften und Predigten Gesangbuch zum gottesdienstlichen Gebrauch in den königlich-preußischen Landen, Berlin (bei August Mylius) 1781 [SB 756: Magdeburg)] Heine, Heinrich: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Düsseldorfer Ausgabe. In Verb. mit dem Heinrich-Heine-Institut ed. Manfred Windfuhr im Auftrag der Landeshauptstadt Düsseldorf, 16 Bde., Hamburg 1973–1997 Heinrici, Carl Friedrich Georg: D. August Twesten nach Tagebüchern und Briefen, Berlin 1889 Herz, Henriette s. Fürst, Joseph Jacobi, J. T.: Schleiermachers Briefe an die Grafen Dohna, Halle 1887 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung nebst Intelligenzblatt, Jena / Leipzig 1804–1841 [vgl. SB 986]

1056

Verzeichnisse

Journal für Prediger, edd. K. G. Bretschneider, D. A. Neander, J. S. Vater, Halle 1770–1842 Jungklaus, Rudolf: Wie die Ereignisse der Freiheitskriege in Berlin zu ihrer Zeit in Berlin kirchlich gefeiert worden sind, in: Jahrbuch für Brandenburgische Kirchengeschichte, 11. u. 12. Jg., Berlin 1914, S. 304–330 Kirchen-Gebethe, Welche Von Seiner Königlichen Majestät in Preussen, in allen Evangelisch-Reformirten und Evangelisch-Lutherischen Gemeinen Dero Königreichs und anderen Landen; Und zwar An denen Sonn- und hohen Fest-Tagen vor und nach der Predigt, So dann Bey denen WochenPredigten, und In denen Bethstunden und Bußtagen, vorzubethen verordnet seynd, Neuauflage [= 3. Aufl.], Berlin 1741 Kirchhof, Tobias: Der Tod Schleiermachers. Prozess und Motive, Nachfolge und Gedächtnis. Unter Mitarbeit von Beatrix Kuchta, Leipzig / Berlin 2006 Langsdorff, Wilhelm von: s. Schleiermacher, Auswahl seiner Predigten Lenz, Max: Geschichte der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Bd. 1–3 in 4, Halle an der Saale 1910 Lisco, Friedrich Gustav: Zur Kirchen-Geschichte Berlins. Ein geschichtlichstatistischer Beitrag, Berlin 1857 Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Im Zusammenhange der Berliner Kirchengeschichte dargestellt. Festschrift zum Hundertfunfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889 Luther, Martin: Sämtliche Schriften, ed. Johann Georg Walch, Bd. 1–24, Halle 1740–1753 [SB 1190] : Werke, Kritische Gesamtausgabe, 4 Abteilungen, 120 Bde., Weimar 1883–2009, 1. Abt. Schriften (WA), 80 Bde., Weimar 1883–1999; 2. Abt. Briefe (WA Br), 18 Bde.; 4. Abt. Die Deutsche Bibel (WA DB), 12 Bde., Weimar 1906–1961 Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. Johann Friedrich Röhr / Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher / Georg Jonathan Schuderoff, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, Zweite Auflage, in: Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, I. Abt., Bd. 15, S. 637–912 : s. Schleiermacher-Archiv (Depositum 42a) Meisner, Heinrich: Schleiermacher als Mensch. Sein Wirken, Familien- und Freundesbriefe, Bd. 2, Gotha 1923 Mylius, August: s. Gesangbuch Neue homiletisch-kritische Blätter, Bd. 1–25, Stendal 1799–1811 Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001, 2. Aufl. 2002

Literatur

1057

Origenes, Opera omnia, [gr. / lat], ed. C. Delarue, Bde 1–4, Paris 1733 [SB 1413] : GCS, Origenes Werke, I. Contra Celsum I–IV, ed. Paul Koetschau, Berlin 1899 Porst, Johann: s. Geistliche und Liebliche Lieder Rade, Martin: s. Christliche Welt Reetz, Dankfried: Schleiermacher im Horizont preußischer Politik. Studien und Dokumente zu Schleiermachers Berufung nach Halle, zu seiner Vorlesung über Politik 1817 und zu den Hintergründen der Demagogenverfolgung, Waltrop 2002 Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Berliner Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv, Bd. 12, Berlin / New York 1992 Röhr, Johann Friedrich: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Schellhorn, Hildebert: Bücher-Verzeichnis der Majorats-Bibliothek von Schlobitten, Berlin 1858 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bände in 31, Berlin 1834–1864; Abt. 2. Predigten, Bd. 1–4, 2. Aufl., Berlin 1843–1844 : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten [einzige], Bd. 1–5, ed. E. Grosser, Berlin 1873–1877; 2. Aufl., Berlin 1876 : Kritische Gesamtausgabe, edd. Hans-Joachim Birkner / Hermann Fischer / Günter Meckenstock u. a., bisher 4 Abteilungen, 38 Bände in 42, Berlin / New York 1980 ff : Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Berlin 1799, 2. Aufl. 1806, 3. Auflage 1821 : Monologen, Berlin 1800, 2. Aufl. 1810, 3. Aufl. 1821 : Predigten. Zweite Sammlung, Berlin 1808; 2. Auflage, Berlin 1820 : Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, Berlin 1811, 2. Aufl. 1830 : [Brief an Ernst Moritz Arndt 1813] s. Christliche Welt : Predigten. Dritte Sammlung, Berlin 1814; 2. Aufl., Berlin 1821 : [Brief an Ernst Moritz Arndt 1819] s. Christliche Welt : Einige Worte über homiletische Kritik (Zum Ehrengedächtniß des weiland hochwürdigen G. A. L. Hanstein), Berlin 1821 : Der christliche Glaube nach den Grundsäzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt, Bd. 1–2, Berlin 1821 / 1822 : Predigt am dritten Advent-Sonntage 1821 in der Dreifaltigkeitskirche gesprochen, Berlin 1822 : Ueber das liturgische Recht evangelischer Landesfürsten. Ein theologisches Bedenken von Pacificus Sincerus, Göttingen 1824 : Predigten. Fünfte Sammlung, [Zweittitel:] Christliche Festpredigten, Bd. 1, Berlin 1826 : Predigten. Siebente Sammlung, [Zweittitel:] Christliche Festpredigten, Bd. 2, Berlin 1833

1058

Verzeichnisse

: Briefwechsel mit Joachim Christian Gaß‚ ed. Wilhelm Gaß, Berlin 1852 : [Briefe] Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, 2. Aufl., Berlin 1860; Bd. 3–4, edd. Ludwig Jonas / Wilhelm Dilthey, Berlin 1861–1863 (Nachdruck Berlin / New York 1974) : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten, Bd. 1– 5, ed. Eugen Grosser, Berlin 1873–1877 [mehr nicht erschienen]; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : [Briefe ed. Jacobi] Schleiermachers Briefe an die Grafen Dohna, ed. J. T. Jacobi, Halle 1887 : Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden, ed. Wilhelm von Langsdorff, Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur, Bd. 7, Leipzig 1889 : Ungedruckte Predigten Schleiermachers aus den Jahren 1820–1828, ed. Johannes Bauer, Leipzig 1909 : Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker 1806–1820. : [Briefe ed. Meisner] Schleiermacher als Mensch. Sein Werden und Wirken. Familien- und Freundesbriefe, ed. Heinrich Meisner, Bd. 1–2, Gotha 1922–1923 : Briefe an einen Freund [Karl Heinrich Sack], ed. H. W. Schmidt, Weimar 1939 : Predigten, ed. Hans Urner, Berlin / Göttingen 1969 : Kleine Schriften und Predigten, edd. Hayo Gerdes / Emanuel Hirsch, Bd. 1–3, Berlin 1969 : Monologen nebst den Vorarbeiten, 3. Aufl., ed. Friedrich Michael Schiele, erweitert und durchgesehen von Hermann Mulert. Im Anhang: Neujahrspredigt von 1792. Über den Wert des Lebens (Auszug), Hamburg 1978 : Liederblätter. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989 (Privatedition) : [Liederblätter] (Einzelblätter in der Staatsbibliothek zu Berlin, SAr 1) : [Liederblätter] (Sammelband im Michaeliskloster Hildesheim, Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Signatur: GBA 1816–1827) : s. Bibliothek deutscher Canzelberedsamkeit : s. Magazin für Prediger : s. Magazin von Casualreden : s. Magazin von Festpredigten Schleiermacher-Archiv (Depositum 42a). Verzeichnis, entstanden in Zusammenarbeit der Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, bearbeitet von Lothar Busch in Berlin und Elisabeth Blumrich, Katja

Literatur

1059

Kretschmar, Kirsten Kunz, Günter Meckenstock, Simon Paschen, Wilko Teifke in Kiel, Redaktion: Günter Meckenstock, Berlin 2009 Schleiermachers Briefwechsel (Verzeichnis). Nebst einer Liste seiner Vorlesungen, bearbeitet von Andreas Arndt / Wolfgang Virmond, Berlin / New York 1992 (Schleiermacher-Archiv, Bd. 11) Schmidt, Bernhard: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Schleiermacher-Archiv, Bd. 20, Berlin / New York 2002 Schuderoff, Johann Georg Jonathan: s. Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten Theologisches Literaturblatt, ed. E. Zimmermann, Darmstadt 1824, Nr. 21 (20. August 1824) Treitschke, Heinrich von: Aus der Zeit der Demagogenverfolgung, in: ders.: Historische und Politische Aufsätze, Bd. 4, Biographische und Historische Abhandlungen vornehmlich aus der neueren deutschen Geschichte, Leipzig 1897 Virmond, Wolfgang: Liederblätter − Ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte und Entstehung des Berliner Gesangbuchs von 1829, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposion on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republic, ed. Ruth Drucilla Richardson, Lewiston / Queenston / Lampeter 1991, Schleiermacher: Studies-and-Translations, Volume 6, S. 275–293 : s. Schleiermachers Briefwechsel Wette s. de Wette Wissenschaft und Geselligkeit. Friedrich Schleiermacher in Berlin 1796–1802, ed. Andreas Arndt, Berlin 2009 Wolfes, Matthias: Öffentlichkeit und Bürgergesellschaft. Schleiermachers politische Wirksamkeit, Bd. 2, Berlin 2004 (Arbeiten zur Kirchengeschichte, Bd. 85,2)

* * * Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu Berlin Zentrales Archiv (ABBAW) Nachlass F. D. E. Schleiermacher Nr. 441 Nr. 442 Nr. 597/2 Nr. 598 Nr. 602/2/1 Nr. 603/1 Nr. 622

Tageskalender 1820 Tageskalender 1821 Predigtnachschrift Andrae Predigtnachschrift Gemberg Predigtnachschrift Predigtnachschrift Andrae Predigtnachschrift Crayen

1060

Verzeichnisse

Evangelisches Landeskirchliches Archiv in Berlin Dreifaltigkeits-Kirchengemeinde zu Berlin: Nr. 855 Protokollbuch 1811–1823 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin HA I, Rep. 76 Kultusministerium I, Anhang II, Schuckmann Nr. 55: Acta betr. den Professor Schleiermacher 1806/23 (1813–23) HA I, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 21 Geheime Verbindungen, Spec. Lit. W. Nr. 3: Acta betr. die Untersuchungen gegen den Professor Wilhelm Martin Leberecht de Wette, in Berlin, wegen des Verdachts der Theilnahme an demagogischen Umtrieben und sträflichen Verbindungen, 9. Juli 1819–2. Januar 1846 HA I, Rep. 77 Ministerium des Innern, Tit. 21 Geheime Verbindungen, Lit. Sch., Nr. 6 HA VI, Fürstliches Hausarchiv Dohna-Schlobitten (FHDS), Kasten 34, Nr. 105, Predigtnachschrift Schleiermachers vom 26. November 1820 HA X, Rep. 40, Nr. 876 Acta betreffend die Vereinigung der lutherischen und reformirten Gemeinde der Dreifaltigkeitskirche, 1820 HA X, Rep. 192 Nachlaß Wittgenstein, V. 5, Nr. 26: Acta des Herrn Oberkammerherrn Fürsten zu Wittgenstein betr. die Verbesserung des Schul- und Erziehungswesens in Preußen HA X, Rep. 192 Nachlaß Wittgenstein, V. 5, Nr. 37 Schleiermacher-Forschungsstelle der Theologischen Fakultät der ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel (SFK) Nr. 9 Nr. 10 Nr. 11 Nr. 12

Predigtnachschrift Predigtnachschrift Predigtnachschrift Predigtnachschrift

Gemberg Gemberg Gemberg Gemberg

Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Ms. germ. oct. 1395 Nachschrift Gemberg der Predigt Schleiermachers vom 5. März 1820 Nachlass 481, Schleiermacher-Sammlung Predigten Schleiermacher-Archiv Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis) Mp. 1 Predigten – Liederblätter – Einsegnung zur Goldenen Hochzeit Mp. 51 Maquet – 17 Predigten (1817–1822) Mp. 52 Gemberg A – 185 Predigt-Dispositionen (1818–1824) Mp. 53 Gemberg B – 8 Predigten (1818–1821)

Literatur Mp. Mp. Mp. Mp. Mp.

54 59 60 73 74

Mp. 75 Mp. 76 Mp. 77 Mp. 78 Mp. 79 Mp. 80 Mp. 81 Mp. 82 Mp. 100 Mp. Mp. Mp. Mp.

101 102 106 121

1061

Schirmer A – 18 Predigten (1818–1831) und Anhang Woltersdorff B – 26 Predigten (1820) Woltersdorff C – 42 Predigten (1821) Andrae-Einzelüberlieferung – 3 Predigten (1820–1826) Slg. Witwe Schleiermacher A: Andrae 1820 Teil 1. 11 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher B: Andrae 1820 Teil 2. 8 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher C: Andrae 1820 Teil 3. 11 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher D: Andrae 1821 Teil 1. 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher E: Andrae 1821 Teil 2. 6 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher F: Andrae 1821 Teil 3. 9 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher G: Andrae 1821 Teil 4. 8 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher H: Andrae 1821 Teil 5. 7 Predigten Slg. Witwe Schleiermacher I: Dunckel 1821–1826. 3 Predigten Andrae-Bände A – Trinitatis bis Totensonntag 1820 sowie Beilage Andrae-Bände B – Trinitatis bis Totensonntag 1821 Andrae-Bände C – Trinitatis bis Totensonntag 1822 Crayen A – 21 Predigten (1821–1831) sowie Beilage Sechs durch Sydow erstellte Verzeichnisse (1834–1835)

Namen Das Namensregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in der heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen, die nur in Quellenangaben von Liedertexten genannt sind, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen und der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt. Bei Namen, die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen der Bandherausgeberin genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Ammon XLVIII Andrae XLII.LXVI–LXXIII. LXXV–LXXVI.LXXVIII– LXXIX.969. Antiochus IV. 343 Arndt, Ernst Moritz XX–XXII. XXIV–XXVI Bauer XL.LXXVIII Beckedorff XXIII Bekker XXI–XXII Blanc XV.XXVII Böhme XLVIII Brinckmann XVI–XVII Crayen LXXV–LXXVI de Wette XIX–XXII.XXVI.2 Dohna–Schlobitten LVI.LXIX. LXXI Dräseke XLVII–XLVIII Dunckel LXXII–LXIII.1034

Friedrich Wilhelm III. XX–XXVII. XXX–XXXI.400.979 Gaß XXI.XXVII.XLVIII.LXXII Gediccus XXX Gemberg XIII.XXXI.LXXIII– LXXIV.LXXVIII–LXXIX.69.162. 240.440 Goethe XLVIII Grunow 113 Hanstein 542.XVI–XVII.XLVII– XLVIII.239. Hecker XXXI–XXXII.113.253 Hegel XXI Heine XXVI Heinrichshofen XLVIII Herz XI.XIII.LVI Herzberg XXXI Hus 395

Eylert XXIII.XLVIII

Joachim Friedrich, Kurfürst XXX Johann Sigismund, Kurfürst XXX Jonas LXVIII

Friedrich II. XIV.XXX Friedrich Wilhelm I. XXIX–XXX

Kamptz XXIV Karl V. 236

Namen Kotzebue XVIII Küster XXXI–XXXII

1063

Schirmer LXXV.LXXVIII Schleiermacher, Elisabeth XII Schleiermacher, Gertrud XII Lisco XXX Schleiermacher, Henriette XII. Lommatzsch XXX XXIII Luther XXV–XXVI.227.229.236. Schleiermacher, Hildegard XII 395 Schleiermacher, Nathanael XII. XXXVII Maquet LXXVIII Schuckmann XX.XXIII–XXVI Marheineke XX.XXXI Schuderoff XLVII–L Mühlenfels, Henriette s. Schleierma- Schultz XXIII cher, Henriette Snethlage XXIII Stahn 253 Neander XX Sydow XXXVI.XLII–XLIII. Novalis LXXVI LXVII–LXVIII.LXXII Origenes 519 Thiele XXX Pischon XV–XVI Treitschke, Heinrich von XIX Twesten XII.XXII–XXIII.XXX Rade XXV Tzschoppe XXIV Reimer IX.XIV.XVI–XVII.XXXII Wette s. de Wette Ribbeck XLVIII.136 Willich, Ehrenfried von (jun.) XII Röhr XLVII–L Willich, Ehrenfried von (sen.) XII Sack XXII.XXX Willich, Henriette von s. SchleiermaSand, Dorothea XIX cher, Henriette Sand, Gottfried Christoph XIX–XX Willich, Henriette von (Tochter) XII Woltersdorff XLII.LXXV–LXXVII Sand, Karl Ludwig XVIII–XX

Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Das erste Buch Mose (Genesis) Gen 1,1–2,4 1,4 1,26 1,27 1,27–28 1,28 2,7 3,15 3,19 6,5 9,13–17 12,2 12,3 15,6 39,9 50,20

946 944 28.29.89 571 101 29.330.673.1015 946 90 673 699.722.844.911. 916 537 170 504 504 940 481

Das zweite Buch Mose (Exodus) Ex 1,15–16 2,1–10 3,7 3,9 5,1 16,1–36 20,2–17 20,4 31,18

513 513 112 112 507 350 748 984 1026

32,1–6 34,33 34,35

985 577 577

Das dritte Buch Mose (Leviticus) Lev 18,5 19,18

171 19.344.708.922

Das vierte Buch Mose (Numeri) Num 6,24–26

691

Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 5,6–21 5,8 7,6 8,3 11,14 11,31 30,11–14 34,4

748 984 121 146.481 351 521 436.699 513

Das Buch Josua Jos 24,15

559

Das erste Buch Samuel 1Sam 3,9–10 10,10

10 944

Bibelstellen Das erste Buch der Könige 1Kön 8,12 15,22 18,21–22 18,22 19,10 19,14 19,14–18 19,18

984 985.1012 503 132 132.505 505 132 505

Das zweite Buch der Könige 2Kön 17,6

751

Das zweite Buch der Chronik 2Chr 19,7

539

Das Buch Hiob (Ijob) Hi 1,21

1044

Der Psalter Ps 11,6 16,10 19,13 22,2 22,2–32 22,2–4 22,4 22,4–5 22,5–6 22,7–8 22,8–9 22,9 22,16 22,19 22,26 22,28 22,30 24,7 24,9

480 106.609.617 24 572 572 577 576.577 581 578 578 582 582 592.582 583 578 578.581 463 728.1017.1018. 1021 1017.1018.1021

31,6 37,3 39,6 39,12 40,8–9 51,12 56,9 62,10 69,26 73,25 90,4 95,7–8 103,15 103,16 104,24 109,8 110,3 118,22 118,22–23 119,9 119,105 139,9 143,10

1065 79 521 1017 1017 592 837 816 1017 634 1015 675.676.679 611.618 3 3 832 634 292.470.579.634 213 118 688 257.537.690.948 195 3

Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Spr 3,19 3,34 23,26

1017 668 1013

Der Prophet Jesaja Jes 8,14 9,1 9,5 10,22 16,5 22,13 29,13 40,3 40,3–5 42,2–3 42,3

517 613 990.991 470 837 7 97.505.985.1012 728 1010 445.629 32.111.631.647

1066 45,23 52,7 53,4 53,12 54,13 55,8 55,8–9 61,1–2 61,2 64,1

Verzeichnisse 19.98 663 629 292.470.669 93.489.534 108.723.794 645 629 630 115.1017

Der Prophet Sacharja Sach 9,14 13,7

480 67

Der Prophet Maleachi Mal 4,5

502

Jesus Sirach Sir 3,27

557

Der Prophet Jeremia

Das Evangelium nach Matthäus

Jer 1,4 5,24 14,21 17,9

Mt 2,1–12 2,1–11 2,1–10 2,1–2 2,2–5 2,3–6 2,4 2,6 2,7–8 2,11 2,13–15 2,16 2,16–18 3,2 3,3 3,7 3,9 3,10 3,13–17 3,17 4,1–11 4,4 4,16

17,12 31,33 31,33–34 51,15

944 351 678 463.468.475.639. 642.935.1041 678 534 534 1017

Der Prophet Hosea Hos 6,6 11,1 11,1–2

97.182.827.1012 518 519

Der Prophet Joel 2,23 3,1

351 662.700.710.712

Der Prophet Jona 1,3–12

475

Der Prophet Micha Mi 5,1

488.955

Der Prophet Habakuk Hab 2,4

25

4,17 4,19 4,26 4,31 5,3

511 477 449–460.XL.461 487 487 955 487 488 488 516 511–527.XL 459 477–490.XL 491.727.744.895 728 727.728 292.476.1011 1011 664 906 550–561 146.939 164.453.463.613. 663.769.888.1014 726–736.630. 743.753.895 777 493 493 668

5,4 5,5 5,6 5,8 5,11–12 5,13 5,13–16 5,14 5,16 5,17 5,18 5,19 5,20 5,37 5,39–48 5,43 5,43–44 5,45 6,22–23 6,24 6,24–34 6,33 7,15 7,16 7,19 7,20 7,21 7,21–23 7,22–23 7,26 7,28–29 7,29 8,14–17 8,20 8,23–27 9,1–8 9,2 9,4 9,5

Bibelstellen

1067

9,6 9,8 9,9 9,13 9,22 9,27 9,34

623 515 417 97.827 630 936 556.633.858.924. 936 808.809.812 727 645 645 598 808.908 727 808–819.795 611 51 216.398 838–848.214 154.155 187.780 766 100.119.266.465. 550 857–868 663 937 885–899.908 130.909.916 480 908–919 468 934 934 933–942.322 517.531 892 507 520 598 215.285.292.780. 813

14–22.XXXV. LXXV 27–35.XXXV 41–48.XXXV. 1013 916 866 447 411.XXXVII 453 866.867 504.698.748.753 525 747–763 859 234 766 922 19 351.559.741 489 171 325–335 916.922 469 381 794 381 594.704.705.708 540 915 469 775 533.542.633.667. 816.936 628 28.521.590 475–476 920–924.XXXI 118.611.618.623. 892 893 666

9,37 10,1–16 10,2 10,2–4 10,4 10,5–42 10,7 10,11–13 10,14 10,16–22 10,17–25 10,17–20 10,19 10,19–20 10,22 10,24 10,24–26a 10,24–25 10,25 10,26b–27 10,28 10,29–30 10,32–33 10,34 10,34–36 10,35–37 10,38 11,3 11,15 11,18 11,18–19 11,21 11,25

1068 11,27 11,28

11,28–29 11,29 11,29–30 11,30 12,7 12,13 12,19–20 12,20 12,24 12,27 12,30 12,34 12,46–50 12,48–50 12,49 12,50 13,3–23 13,9 13,11 13,20–21 13,23 13,24–30 13,25 13,31–32 13,43 13,54 13,55–57 14,3–4 15,1–9 15,6 15,8 15,8–9 15,10–11 15,11 15,12 15,13–14 15,14 15,19

Verzeichnisse 96.914 452.591.629.734. 785.997.1019. 1030 192.611.618.779 31.32.34 1020 418 97.827 666 445.629 32.111.631.647 556.633.858.924. 936 924 704.706.1042 152.917 563 567 520 594 286 892 667 155 586.893 286 756 273 892 936 563 507 533.667.958 32.956 505 985.1012 959 985 953.959 952–963 492 71.468

15,22 15,24 15,25 16,3 16,13 16,13–20 16,13–19 16,13–17 16,13–16 16,14–16 16,16 16,16–17 16,17 16,18

16,21 16,21–24 16,22 16,23 16,24 16,25 16,26 17,1–13 17,1–9 17,5 17,10–13 17,17 17,20 17,22–23 18,1 18,6 18,10–14 18,11

18,18 18,20

936 54.306.512.611. 618.631.653.749 936 213 901 901 XXVII XV 934 138 95.173.492.698. 776.901.902.937 51 95.417.901.902 19.66.106.173. 199.224.226.436. 608.867.898.937. 1042 937 934 476.893.938 476.893.939 49.101.121.130. 243.938 938 833 902 496–510 906.943 905 555 28 603 52 959 667 43.101.140.363. 445.452.512.560. 699 445 67.106.126.128. 134.154.379.396

Bibelstellen 18,21 18,21–22 19,6 19,16 19,16–26 19,17–20 19,19 19,21 19,29 20,18 20,18–19 20,26 20,28 20,30–31 21,5 21,9 21,16 21,28–32 21,31–32 21,42 22,15 22,20–22 22,37–40 22,39 22,40 23,2 23,3 23,4 23,8 23,10 23,11 23,13 23,23–24 23,35 23,37 24,1–2 24,3 24,3–4 24,9 24,13 24,23 24,35

52 614 316 876 876 876 708.922 28 565.566.568 397 603 644 101.424.425.622 936 32 54 1008 914 751 118.213 956.958 667 748.753 708 748 895 954 955 36.93.379 36.379 644 458.491.534.540. 953.954 540 482 960 761.960 904 402 337 108 1019 110

24,36 25,14–30 25,21 25,23 25,34–35 25,37 25,40 25,42 25,44 25,45 26,18 26,26–29 26,26–28 26,31 26,33 26,39 26,53 26,61–66 26,63–64 26,69–75 27,3–5 27,22–31 27,22–23 27,27–30 27,35 27,41–43 27,43 27,46 28,1–10 28,5 28,11 28,11–15 28,18

28,18–20 28,19 28,19–20 28,20

1069 150.905 673.724.961 473.800 473.800 1043 1043 24 1043 1043 540 519 690 681.688 67.564.638.804 638.805 140 140.552 936 940 645 634 598 54 599 583.599 598 582 570–587.XLI.572 605 603 918 607 28.31.34.80.132. 146.470.508.682. 787.790.847.886. 1037.1039 660–671.777 731.732.910 611.618 88.134.150.175. 402.405.416.501. 503.508.632.636. 641.647.648.730.

1070

Verzeichnisse

Das Evangelium nach Markus Mk 1,3 1,9–11 1,17 1,22 2,5 2,8 2,9 2,9–11 2,11 2,14 3,5 3,11 3,19 3,21 3,22 3,31–35 3,34–35 3,35 4,3–32 4,9 4,11 4,16–17 4,18 4,20 4,23 4,31–32 6,2 6,11 6,12 6,16 7,1–13 7,6 7,6–7 7,9 7,15 7,21 7,25 8,1–9

728 664 777 533.542.633.667. 775.936 118.611.618.623. 630.892 893 666 630 623 28.417 666 936 598 563 556.633.858.924. 936 563 520 594 286 5.892 667 155 1014 586 5.892 273 936 611 491 204 533.667 505 1012 32 892 71 936 253–264

8,11–12 8,27–30 8,28–29 8,34 9,2–13 9,7 9,24 9,35 9,38–39 9,42 10,9 10,14 10,17 10,17–27 10,19–20 10,21 10,29 10,29–30 10,33 10,33–34 10,43 10,45 10,47–48 10,52 11,9–10 12,10 12,13 12,16–17 12,29–31 12,31 13,1–2 13,3–5 13,4 13,9 13,9–13 13,9–12 13,11 13,21 13,31

555 901 138 49.101.121.130. 243 902 906 111.165.191.623. 633.780 644 705 959 316 1032 876 876 876 28 566 565.568 397 603 644 101.424.425.622. 647 936 623.892 54 118.213 956.958 667 748 708 761.960 402 904 51 398 216 154.155.187.214. 780 1019 110

Bibelstellen 13,32 14,14 14,22–25 14,22–24 14,27 14,29 14,30 14,36 14,61 14,61–62 14,66–72 15,13–14 15,14–20 15,16–19 15,24 15,29–32 16,1–8 16,15 16,17–18

9.150.905 519 690 681.688 67.564.638 638 805 140 95.97.172 940 645 54.581 598 599 599 598 605 150.611.618 150.665

Das Evangelium nach Lukas Lk 1,30–35 1,31–32 1,32 1,33 1,75 1,76–79 1,79

2,1–40 2,1–10 2,9–14 2,12–20 2,14 2,15–20 2,22–35 2,25 2,25–38 2,26–27 2,28–35 2,29

563 1023–1033.XVII 417.895 1037 851 982–992.XLVI 116.164.453.463. 613.663.769.888. 917.1014 461 784 477.516 1025 1031 1034–1039 512 115.478 516 115 461–471.XL.LIII 517

2,29–32 2,29–30 2,32 2,34 2,34–35 2,36–38 2,39–55 2,41–49 3,3–6 3,4 3,7 3,8 3,9 3,19–20 3,21–22 4,4 4,16–19 4,19 4,21 4,32 5,1–11 5,10 5,17–26 5,20 5,22 5,23 5,24 5,27 5,31 5,33–35 5,33 ff 6,5 6,6–11 6,10 6,16 6,27–36 6,40 6,45 6,46 7,16 7,19–20 7,33

1071 113–123 578 516.949 119.478.517 118 466 477 528–545.XVII. XL 1010–1022 728 727.728 1011 1011 507 664 481 629 630 629 542.633.667 239–240.772–781 417.777 921 611.618.623.892 893 666 623 28.417 785 782–792 XL.472 472 472–474.XL 666 598 766 266.550 152.917 540 97.533 517.531 507

1072 7,33–34 7,36 7,48 7,50 8,5–15 8,8 8,10 8,13 8,15 8,19–21 8,48 9,5 9,18–21 9,19–20 9,23 9,28–36 9,30–32 9,35 9,41 9,49–50 9,52 9,53–55 9,58 9,59 9,62 10,1–12 10,2 10,9 10,11 10,13 10,21 10,23–37 10,25 10,25–37 10,25–28 10,27 10,42 11,15 11,19 11,23

Verzeichnisse 520 957 20.611.618.623. 892 623.892 286 892 667 155 893 563 623.892 611 901 138 49.101.121.130. 243 902 905 906 555 141 344 141 28.521.590 28.417 86 727 808.809.812 727.997 611 598 285.292.780.813 876–884 876 344 753 708 535.543 556.633.858.924. 936 924 1042

11,34 11,45–46 11,52 12,4 12,6–7 12,11–12 12,16–19 12,19 12,20 12,37 12,42 13,3–9 13,19 13,31 13,32 13,34 14,1 14,27 14,35 15,1–7 15,18 15,21 16,1–9 16,8 16,10 16,13 16,19–31 16,29 16,31 17,1–2 17,10 17,11 17,19 17,20–21 17,21 18,9–14 18,10–14 18,11 18,11–12 18,13

489 958 458.534.540.953. 954 130 480 154.155.187.214. 780 11 221 11 725 962 557 273 521 521 960 957 933.934.938 5.892 667 623 623 827–837 464.558.767 194.924 171 191–206.LV 90 90 959 962 344 623.892 491–495.XL 730.997 120 114 643 758 113.114.115.116. 117.120.122

Bibelstellen 18,14 18,16 18,18 18,18–27 18,20–30 18,20–21 18,22 18,24 18,29–30 18,31 18,31–33 18,38–39 18,42 19,10

19,11–27 19,11–26 19,11–13 19,12–27 19,12–26 19,16–17 19,20–23 19,40 19,42 20,17 20,20 20,24–25 21,5–36 21,5–15 21,5–6 21,7 21,7–8 21,12 21,12–17 21,33 22,8 22,11 22,15–20 22,19–20

751 1032 876 876 566 876 28 28 565.568 397 603 936 623 43.101.118.140. 163.363.417.445. 452.512.560.622. 688.698.699.708. 769.779.918.921. 995 426.961 712 675 673 724.758 473 676 939 960.961 118.213 956.958 667 1001 1000–1009 761.960 904 402 51 216.398 101 519 519 690 681.688

22,26 22,32 22,33 22,34 22,42 22,51 22,54–62 22,70 23,21 23,21–25 23,28 23,34

23,35–37 23,36 23,42–43 23,43 23,46 24,1–12 24,13–32 24,13–31 24,20 24,22–25 24,25 24,25–27 24,26 24,34 24,36 24,36–43 24,36–39 24,41–43 24,44–47 24,45–48 24,46–49 24,47 24,47–49 24,47–48 24,49

1073 644 913 638 805 140.143.146.147 597 645 940 54.581 598 937 546–549.XLI.80. 84.85.88.210.582. 594.594.599.804 598 599 86.87 XLI.86.87.570 XLI.79.404 602–608.105 607 105 1019 604.606 534.604 604 101.465 784 815 106 607 109 627–637.XLIV 93 672 731.732 674 679 93.97.99.150.154. 159.163.175.226. 613.628.663.675. 677

1074

Verzeichnisse

Das Evangelium nach Johannes Joh 1,1 1,4–5 1,5 1,9 1,10 1,11 1,11–12 1,12 1,14

1,16 1,23 1,29 1,29–34 1,35–36 1,41 1,45 1,46 1,47 1,47–50 1,51 2,13–17 3,1–21 3,8 3,15 3,16 3,17 3,17–18 3,18 3,20 3,20–21 3,29–30 3,36 4,4–5 4,10

1028 668.988 117.462.944.988. 1028 949.1028 3 462.988 100 101.412 497.3.6.172.182. 191.204.404.420. 584.632.661.745. 901.902.911.939. 988.1017.1025. 1028.1029.1037 21.44.448.997 728 83.744.895 664 491 515.634.732 732 732 611.618 732 524 XXVI 210.284 795 895 6.12.65.416 699 728 23 507 1040–1045 578 6.986 344 21.492

4,14

4,22 4,23 4,23–24 4,24 4,34 4,42 5,8 5,14 5,17 5,19 5,19–20 5,20 5,24 5,24–25 5,26 5,30 5,36 5,38 5,39 6,15 6,27–66 6,35 6,38 6,40 6,44 6,45 6,47 6,50–51 6,51 6,53 6,54 6,58 6,60 6,63 6,65

6.7.21.419.456. 492.636.741.745. 785.794.903.986 881 667 486.504.580.753. 761.986.1016 339.463.985.987 418 516 623 611.618.623.630 7 99.418.661.960. 996 33 524.711.794.801. 843.996 37.86.790.938. 965.969 966 419 418 515.661.711 913 628.989 555 462 6.7.21.785 418.423.996 986 51.127 534.93.489.841. 890 108.188 822 6.892 892 822 6 816.824 494.498 51.802

Bibelstellen 6,66 6,68 6,69 6,70–71 7,3–4 7,5 7,11–13 7,16–17 7,17 7,33 7,37–38 7,38 7,44–53 7,48 8,11 8,12 8,18 8,26 8,28 8,31–32 8,32 8,36 8,38 8,39 8,56 8,59 9,4 9,39 10,3 10,4 10,7–9 10,14 10,16

10,27 10,29 10,30 10,31

611.618.633.816. 824.892 191.199.417.492. 698.776.780.863 51.138.492.937 598 566 563.936 398 6 192 465 588 794 216 633.956 611.618.623.630 895.945.949 491 491 33.571.661 424.425 448.894 12.100.291.370. 424.425.463 661.711.996 1011 504.578 54.555 7.521 23.24 884 884 38 469 126.132.174.176. 177.240.274.307. 469.884.1031 884.1044 126 413.779.801.995. 1027.1027.1032 54.555

10,39 11,8 11,9 11,42 11,43 11,43–44 11,47–48 12,13 12,20–21 12,24 12,25 12,26 12,32 12,33 12,35 12,39 12,46 12,47 12,47–48 12,50 13,2 13,13 13,16 13,23 13,25 13,34 13,34–35 13,35 13,37 13,38 14–16 14,2 14,2–3 14,6

14,7 14,8–9 14,9

1075 555 521 521 144 144 606 486 54 50 49–57.XXXVI 974 198 73–82.XXXVI. 363.429.454 73 465 913 789.949 23.67.119 728 661 71 93 100.119.266 562.667 667 19.708.744.917. 981.987.1029 936.1028.1029 216.495.921 638 805 610.618 917 573 46.438.498.548. 668.800.802.846. 898.911.932.1007 51.417 916 51.985.987.1027. 1028

1076 14,10 14,15–21 14,16–17 14,23

14,24 14,26 14,27 15,3–5 15,5 15,14–15 15,15 15,16 15,20 15,20–21 15,26 16,2 16,5–7 16,7 16,9 16,12 16,13

16,13–15 16,13–14 16,14 16,14–15 16,16 16,22 16,23 16,23–30 16,24 16,26–27 16,27

Verzeichnisse 936 622 93 187.319.498.575. 678.729.730.746. 800.823.844.914. 914.916.917.937. 939.949.1015 936 780 111.148.815 640 473 398 799.800.801.802. 843 120.915 100.119.465.550. 663 216 63.65.93.397 216 93 62–70.XXXVI. 664 913 63.96 64.215.229.397. 816.845.846.950. 957 664 63.944 99.203.245.662 668.898 574.106 783 28.67.914.915. 1037 136–149 66 62 51

16,28 16,32 16,33 17 17,1 17,1–26 17,2 17,2–3 17,4 17,5 17,6 17,6–8 17,9 17,11 17,12 17,17 17,20 17,20–23 17,21 17,21–23 17,21–22 17,22 17,23 17,24 17,25–26 18,8 18,15–18 18,25–27 18,36 18,38 19,1–16 19,6 19,7 19,15 19,25–26 19,26–27 19,26f 19,28f

574.62 53.564.571.638. 804 663.667 681 497.1017 610.618 132.712 914 577 94.403 577.665 914 665 779.871.884 469.634 140 614.620.805 681–692.XLII. 52.871 416.914 779.884 802 67.94.95.101. 429.886 914 34.94.95.101.403. 404.665.806.886 686 564 645 645 492.560.911 612 598 54.581 698 54.581 564 562–569.87 XLI XLI

19,28–29 19,30 20,1–10 20,3–10 20,11–13 20,12 20,14–18 20,17 20,19 20,19–23 20,21 20,22–24 20,22–23 20,23 20,24–29 20,26 21,1–14 21,7 21,15 21,16–17 21,17 21,18 21,19 21,20

Bibelstellen

1077

1,14

672–680. XXXVIII.XLIV. 564.636 150–161 634 679.680 679 634 634 634.679.680 212 156 209 672 679.694 674 614 675 694 675 164 173.675 166.672.784 379.662.700.710. 712 957 1019 634.784 609.617 609.617 1019 644.669 663 662.663.779.1019 728 54.272.699.784. 1019 694 623 166.611 665 564 210

588–601.XXIX XLI.49.79.88. 571.578 605 607 605 603.606 605 93.401.402.403 815 93–103.607 363.423.815 XLIV 609–626.XLII 922 104–112 815 773 773.780.784 638–649.XXXIII. XLII.XLIV 917 639.644 650–659.XLIV 650 413.667

Die Apostelgeschichte des Lukas Apg 1,3 1,4–8 1,4–5 1,6 1,6–7 1,7

1,7–8 1,8

124 750 175.628.672.674. 677.680 904 402 17.145.150.493. 517.674.675.676. 677.679.790.905 677 175.224.232.628. 672.674.675.677. 679.944

1,14–22 1,15 1,15–26 1,15–22 1,18 1,20 1,21–22 1,22 1,26 2,1–41 2,1–13 2,1–4 2,1–2 2,3–4 2,4 2,5–12 2,5–11 2,11 2,14–41 2,14–36 2,17 2,22 2,22–23 2,23 2,27 2,31 2,32 2,33 2,33–34 2,36 2,36–38 2,37 2,37–42 2,37–38 2,38 2,39 2,44 3,1–16

1078 3,1–11 3,6 3,11–26 3,12–26 4,5–14 4,8 4,12 4,13–21 4,14 4,16 4,32 4,32–35 4,33 5,18–19 5,23 5,29 5,31 5,33–42 5,38–39 5,40–41 6,1–6 6,8–15 6,8–10 6,14 7,2–53 7,51–59 7,55 7,55–60 7,55–59 7,58 7,60 8,1 8,5–6 8,9–17 8,9–13 8,12 8,13 8,14–17 8,17 8,18–22 8,20 8,22 8,24

Verzeichnisse 665 119.665 531 211 207–218 507.665 19.861 222–238.XXVII 493 211 564 354 223 223 223 XXVII.223.754 644.669 223 271.295 235 241–252 1034–1039 531 531 1036 265–276 531 295 1034–1039 531 236 302 384 278 277 281 281 384 280 277–288 624 624 624

9,3–6 9,10–13 9,15 9,26–30 9,27 10,1–48 10,1–46 10,11–15 10,34 10,34–43 10,36 10,40–41 10,42 10,42–48 10,44–48 10,47 11,1–4.15–18 11,1–3 11,2–18 11,4–17 11,15–18 11,19–21 11,22–26 11,22–23 11,25–26 11,27–30 12,2 13,1–3 13,2 13,35 13,37 13,49 14,17 14,22 15,1 15,1–35 15,3 15,4–5 15,5 15,8–10 15,10 15,22–31 15,28–29

289–300 297 651 531 313 651 655 308 539 89.163.701 712 89–92 163 701 162–167.XXXVI 655.733.820 168–179 655 308 655 384 301–311.651 312–324.378 338 531 336–348 236 361–372 313 106.609.617 609.617 474 1016 338 376 750 384 377 665 382 307.693.750.757 375–387 750

16,16–18 16,30 17,19–21 17,22–23 17,24–26 17,26 17,26–27 17,27–28 17,28 17,30 17,30–32 17,30–31 17,31–32 20,17–35 20,22–25 21,10–14 21,24 21,26 22,17 22,17–21 22,17–18 22,21 26,4–5 26,18 28,16–17

Bibelstellen

1079

1,25 1,28 2,14 2,15

97 274 802.828 916.928.935.947. 1041 799 525.559 74.182.507.633. 698.720.749.756. 935.986.1026 946 307.720 811.1027 504 87 673.677.1037 65.76.84.708.823. 915.986 590.915.917 921 128 823.851 67 930 800 798–807 921.972.973.977. 978.980.981 699.700.749 633 391 616 730 930 391.403.418.730. 804 452.412.413.633 319 403 21 766 599 164

665 1019 612 860 910 234 946 187 914 462.463 860 462 910 389 388–399 393 750 750 504 133 499 499.504 853 613 397

Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,16 1,17 1,18 1,18–23 1,18–22 1,19–23 1,19–21 1,19–20 1,20 1,20–25 1,20–21 1,21 1,21–23 1,23 1,23–25

859 25 488.987 946 619 827 1016 945.987.1017 195.738 183 164 274 728.987 97.182.754.988 452

3,5 3,8 3,20

3,21 3,22 3,23 4,3 4,25 5,5 5,8 5,10 5,12 5,17 6,1 6,3 6,11–14 6,18 6,19–23 6,23 7,6 7,7 7,14 7,18 7,19 7,22–23 7,23 7,24 7,24–25 7,25 8,2 8,7 8,9 8,15

1080 8,16 8,17–18 8,18 8,19–23 8,21

8,26 8,28

8,30 8,31–32 8,32 8,34 8,35 8,37 8,38–39 8,39 9,27 10,2 10,4 10,6–8 10,15 10,17 11,6 11,25–26 11,27 11,33 11,33–34 12,2 12,4–6 12,4–5 12,5 12,15 12,21

13,1 13,1–5 13,4 13,9

Verzeichnisse 164.699.746 429 199.243.790.938 185 16.171.468.600. 716.719.789.790. 806.923.989 164.615 91.178.332.335. 393.398.431.670. 720.723.991 995.996.997 993–999.XLVI 206.981 121.1037 935.994.1007 994 997 1007 470 211 284 699 663 533.90.98.142.279 855 209 1029 134.187.206.631. 960 9 884 846 654 37.769 15.539.579 80.216.217.481. 483.548.559.741. 940 754.977 XXVIII 233 708

13,12 14,4 14,7–8 14,8 14,11 15,1

945.948.1042 119.647 684.949 444 19.80.98 383.442

Der erste Brief des Paulus an die Korinther 1Kor 1,18 1,19–20 1,20 1,20–29 1,23

1,27 1,30

2,2 2,4 2,14 3,2 3,11 3,16 4,3–4 4,7 5,1–5 6,15 6,20 7,21 7,23 8,4–13 9,19–21 9,22 10,6–13 10,12

74.78.79.454.663. 706.862 861 780 292 78.79.80.91.118. 183.362.618.632. 633.663.668.706. 859.860.861.867. 910.912.917.1018 215 86.88.505.634. 800.812.822.847. 939.970.996.1031 917.1018 799 742 204.911 205 114.688 647 668 624 37.156.322.341. 676.884 790 757.977 757 385 376 127.541 827 240.647

Bibelstellen 10,13 10,24 10,31 11,26 12,1–11 12,3–6 12,4 12,4–6 12,4–5 12,6 12,7 12,12 12,12–27 12,14 12,27 13,1 13,5 13,9–12 13,11 13,12 15,3–8 15,9–10 15,12 15,18 15,24–28 15,26 15,32 15,53 15,55–58 15,55–56 15,57

837 980 444.709 444 678 702–714.XLII 240 322.330 245 371 424 322.341.654 846 654 37.257.322.341. 371.676.769.884 710 955 950 951 185.897 124–135. XXXVIII.849 849–856 849 971 185 429 7.974 326 964–970.XLVI 972.976 319

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 2Kor 1,12 2,6 2,8 2,10 3,6

932 624 624 624 98.494.504.699. 989

4,4 5,1 5,4 5,14 5,17 5,20 5,21 6,3 6,6 6,6–7 6,10 6,16 8,14–15 9,11 10,5 11,1–2f 11,14 12,2 12,3 12,4 12,7 12,9 13,13

1081 51.987 873.875 873.875 696 319.852 139.817.893.917 640.642 551 910 930 551 114 349–360 932 291 XL 521 499 133 196.200 16.196.200 16.17.25.200.215. 282.666.677.991 62.162

Der Brief des Paulus an die Galater Gal 1,8 1,12 1,16 2,3–5 2,4 2,6 2,11–21 2,11–18 2,16

2,19 2,19–21 2,19–20 2,20

180–190.XXXVI. 207.521 293 651 651 693 651 651.695 657 507.695.697.698. 720.749.756.986. 995 55.507 698 658.697.749 473

1082 2,21 3,2 3,2–3 3,5 3,8 3,11 3,12 3,14 3,15 3,23–25 3,24 3,24–25 3,28 4,3 4,4 4,15–16 5,4 5,6 5,17 5,22 5,22–23 5,23 6,8 6,15

Verzeichnisse 171 279 693–700 279.693 504 25 171 6 799 729 182 923 561 827 530.669 654 824 146.206.764.795. 796.825.986.1024 930 164.174.384.695. 698.701.766 696.697.699.734 695 30.553.742 319.852

4,12–14 4,13 4,15 4,15–16 4,22–28 4,23–24 4,24 5,8 5,11 5,27 5,30 6,4 6,9 6,10–17

Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 2,4 2,5 2,5–7 2,7 2,7–9 2,8 2,8–10 2,9–11 2,10

Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 1,7 1,20 1,22 1,22–23 2,3 2,7 2,14 2,19 3,8 3,15 4,11–13 4,12

631 250.644 661.681.915 250.405.458.644 463 631 344 744 651 662 685 458

951 543 458 176.250.429.644. 681.700 925–932 903 851 789 945.1042 827 37.257.322.341. 676.884 684 539 930

2,10–11 2,12 2,13 3,6 3,12–14 3,13 3,15 3,20 4,4 4,8 4,13

489.980 525 422–429 528.685 184.998 425.429.465.550 429 422.863 80.662.663.682. 847.904.1018 489 625 25.1042 291.853.854 456 44.575.786.897. 937 384.814 296.442.669.729. 826.1007 21.148.579 1015 744

Bibelstellen Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 1,12 1,15 1,18 1,24 2,9

2,19 3,4 3,11 3,14 4,1–6 4,2–6 4,6

51 186.987 250.371.405.458. 644.661.915 185.266.274.371. 582 413.417.420.423. 448.453.584.642. 648.661.685.700. 712.732 644 408 561 769.795.847 XXXIX 441–448.XL 472.473

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher 1Thess 1,6 2,12 4,13–14.18 2,14 4,3 4,9 4,17 5,18

430 745 400–410. LXXVIII 430 575 534 402 430–438

Der zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher 2Thess 2,13

1019

Der erste Brief des Paulus an Timotheus 1Tim 2,3 2,4

695 989

1083

Der zweite Brief des Paulus an Timotheus 2Tim 1,7 1,10 2,19 3,17

845.846 403.728.860.898. 976 112 724.766.932.946. 950

Der Brief des Paulus an Titus Tit 2,14

177

Der erste Brief des Petrus 1Petr 1,18 1,23 1,24–25 2,2 2,7 2,9 2,13 2,13–14 2,15 2,19 2,20 2,25 3,15 3,17 4,1 4,10 4,12 4,12–14 4,16–19 4,17–19 5,1–4 5,5 5,6 5,7–9 5,8–9

728.729 5.6 3–13.XXXV 204.367 118 121.177 232 754 232 233 232.273 769.770.816.884. 1044 269 273 37 668 716.719 23 23–26 715–725.XXVIII. XXXIII 36–40 556.668 59 58–61 71–72

1084

Verzeichnisse

Der zweite Brief des Petrus 2Petr 1,3 1,3–4 1,5–10 1,5–9 1,5–7 1,7 1,7–8 1,8 1,8–9 1,9 1,10 1,10–11 1,12–15 1,16–18 1,19 1,19–21 2,22

989 737–746 869 826 764–771.825.826 825 824 825.826 793–797 825 870.872 820–826 869–875.900 900–907.943 226.537 943–951 518

Der erste Brief des Johannes 1Joh 2,1 2,9–11 3,1 3,2

3,2–5 3,3 3,5 3,5–6 3,9 3,13–15 3,14 3,16 3,20 4,8 4,10 4,16

615 826 951 412–421.37.98. 121.185.186.188. 197.518.770.781. 797.805.951.995 XXVIII 420 640.642.1029 83–88.XXXVI 853 951 971–981.XLVI 975 615.616 146.570.580.601. 738.765 601 146.203.601.738. 765

4,18 4,19 5,4

5,19

130.146.205.328. 695.729 744 81.118.216.464. 608.667.787.788. 789.862.898 789

Der Brief an die Hebräer Hebr 1,1–2 1,2 1,3

1,12 2,10 2,11 2,14 2,15 2,16–17 2,17 3,7 3,14 3,15 4,7 4,12 4,15

5,7 5,8 5,9 5,12 5,13–14 6,12 9,12 9,27 9,28 10,25 11,16

202.944 712 51.84.186.404. 571.745.802.939. 987.1028 930 669 745 416.590 519 416 985.998 611.618 821.823 611.618 611.618 533.935 528.551.571.574. 575.640.642.685. 785.828.985.998. 1029 669.705 550 669 204 911 518 923 965 1029 532 468.691.699

Bibelstellen 12,2 12,3 13,9

81.84.87.379.797. 825.863 74.84 96.367.368.523

Der Brief des Jakobus Jak 1,9–12 1,17 1,20 1,23–24 2,17–20

219–221.373 384.443.734.952. 1027 269 1013 824

2,26 3,1–5 3,2 3,15 4,6

1085 373 373–374.219 821 1008 556.668

Die Offenbarung des Johannes Offb 1,8 2,10 7,17 21,4 21,6 22,13

408.433 40 636 420.465 408.433.636 408.433