Kritische Gesamtausgabe: Band 4 Predigten 1809-1815 9783110263954, 9783110263947

Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768–1834) had a remarkable ability to inspire his contemporaries from the pulpit

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Kritische Gesamtausgabe: Band 4 Predigten 1809-1815
 9783110263954, 9783110263947

Table of contents :
Einleitung des Bandherausgebers
I. Historische Einführung
1. Der Beginn der Predigtnachschriften
2. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten
3. Die Liederblätter der Jahre 1812–1816
II. Editorischer Bericht
1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen
A. Allgemeine Regeln
B. Manuskripte Schleiermachers
C. Predigtnachschriften
D. Sachapparat
E. Editorischer Kopftext
2. Druckgestaltung
A. Seitenaufbau
B. Gestaltungsregeln
3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen
A. Schleiermachers Autographen und Drucke
B. Matthisson-Predigtnachschriften
C. Pischon-Predigtnachschriften
Predigten 1809
Am 15. 01. vorm. (2. SnE; Städteordnung) Röm 13,1-5
Am 31. 03. nachm. (Karfreitag) Joh 10,17-18
Am 23. 07. vorm. (8. SnT) Ps 12,2
Am 31. 12. nachm. (SnW)
Predigten 1810
Am 28. 01. nachm. (4. SnE) Mt 8,23-27
Am 04. 02. vorm. (5. SnE) Mt 4,1-11
Am 11. 02. nachm. (6. SnE) Joh 1,35-44
Am 25. 02. nachm. (Sexagesimae) Joh 2,13-17
Am 04. 03. vorm. (Estomihi) Mk 2,1-12
Am 20. 04. vorm. (Karfreitag) Joh 19,25-30
Am 16. 05. vorm. (Bußtag) PredSal 3,11-13
Am 31. 05. nachm. (Himmelfahrt) Mk 16,19; Apg 1,11
Am 03. 06. nachm. (Exaudi) Mt 28,16-20
Am 10. 06. vorm. (Pfingstsonntag) Apg 2,1-39
Am 11. 06. nachm. (Pfingstmontag) 1Thess 5,19-21
Am 17. 06. nachm. (Trinitatis) Apg 2,43
Am 24. 06. vorm. (1. SnT) Apg 2,44-45
Am 22. 07. vorm. (5. SnT) Apg 6,15
Am 05. 08. vorm. (7. SnT; Gedächtnisfeier) Jes 55,8-9
Am 19. 08. nachm. (9. SnT) Apg 9,3-22
Am 26. 08. nachm. (10. SnT) Apg 10,4-6
Am 02. 09. vorm. (11. SnT) Apg 11,15-17
Am 30. 09. vorm. (15. SnT; Erntedank) Gal 6,7-8
Am 07. 10. nachm. (16. SnT) Apg 13,6-11
Am 14. 10. vorm. (17. SnT) Apg 14,21-22
Am 28. 10. vorm. (19. SnT) Apg 15,1-12
Am 11. 11. vorm (21. SnT) Apg 16,35-37
Am 18. 11. nachm. (22. SnT) Apg 17,22-31
Am 25.11. vorm. (23. SnT) Apg 19,13-17
Am 02. 12. nachm. (1. SiA) Offb 22,10-13
Am 09. 12. vorm. (2. SiA) Lk 1,41-55.67-79
Am 25. 12. vorm. (1. Weihnachtstag) Phil 2,6-7
Predigten 1811
Am 01.01. nachm. (Neujahrstag) Mt 24,6-13
Am 06. 01. vorm. (Epiphanias) Mt 2,2-11
Am 20. 01. vorm. (2. SnE) Joh 1,29
Am 03. 02. vorm. (4. SnE) Mt 12,30-32
Am 17. 02. vorm. (Sexagesimae) Lk 13,31-34
Am 18. 02. Taufe von Clara Elisabeth Schleiermacher
Am 03. 03. vorm. (Invocavit) 1Petr 2,19-24
Am 17. 03. vorm. (Oculi) 1Petr 2,20-23
Am 31. 03. vorm. (Judica) Hebr 5,8-9
Am 28. 04. vorm. (Misericordias Domini) Joh 20,19-20
Am 08. 05. nachm. (Bußtag) Röm 3,23
Am 12. 05. vorm. (Cantate) Joh 21,16
Am 26. 05. vorm. (Exaudi) Lk 24,49
Am 03. 06. vorm. (Pfingstmontag) Gal 6,8
Am 09. 06. vorm. (Trinitatis) 1Joh 3,23-24
Am 23. 06. vorm. (2. SnT) Röm 1,16
Am 07. 07. vorm. (4. SnT) 1Joh 5,4
Am 18. 08. vorm. (10. SnT) Röm 14,1
Am 01. 09. vorm. (12. SnT) Röm 12,11
Am 13.10. vorm. (18. SnT) Eph 4,25
Am 27. 10. vorm. (20. SnT) Lk 14,16-24
Am 10. 11. vorm. (22. SnT) Joh 20,23
Am 08. 12. vorm. (2. SiA) Lk 21,25-36
Am 22. 12. vorm. (4. SiA) Joh 1,19-27
Am 25. 12. vorm. (1. Weihnachtstag) Phil 4,4
Predigten 1812
Am 05. 01. vorm. (SnN) Joh 1,35-51
Am 19.01. vorm. (2. SnE) Joh 4,4-26
Am 02. 02. vorm. (Sexagesimae) Mt 8,28-34
Am 16. 02. vorm. (Invocavit) Joh 7,40-53
Am 01. 03. vorm. (Oculi) Mt 20,20-28
Am 15. 03. vorm. (Judica) Mt 21,10-16
Am 27. 03. nachm. (Karfreitag) Lk 23,33-34
Am 28. 03. Konfirmation, Lk 24,30-31
Am 29. 03. vorm. (Ostersonntag) Röm 6,3-5
Am 12. 04. vorm. (Misericordias Domini) Joh 21,2-23
Am 07. 05. nachm. (Himmelfahrt) Apg 1,6-11
Am 10. 05. vorm. (Exaudi) 1Petr 4,8-10
Am 21. 06. vorm. (4. SnT) Lk 7,24-34
Am 02. 08. vorm. (10. SnT) Lk 8,19-21
Am 16. 08. vorm. (12. SnT) Lk 10,17-20
Am 08.11. vorm. (24. SnT) Lk 14,25-33
Am 22. 11. vorm. (26. SnT) Mt 25,1-13
Am 06. 12. vorm. (2. SiA) 1Joh 4,19
Am 25. 12. vorm. (1. Weihnachtstag) Lk 2,8-11
Predigten 1813
Am 28. 03. vorm. (Laetare) Jer 17,5-8; 18,7-10
Am 16. 04. vorm. (Karfreitag) 1Joh 1,7
Am 19. 04. vorm. (Ostermontag) Röm 6,5-12
Am 09. 05. vorm. (Jubilate)
Am 12. 05. vorm. (Bußtag) Lk 22,31-32
Am 12. 09. vorm. (13. SnT) Ps 94,12-15
Am 10.10. vorm. (17. SnT) Mt 13,24-30
Am 07.11. vorm. (21. SnT) Mt 25,14-29
Predigten 1814
Am 02. 01. vorm. (SnN) Joh 1,14.16
Am 19. 06. vorm. (2. SnT) Lk 16,29.31
Am 03. 07. vorm. (4. SnT) Lk 18,10-14
Am 18. 12. vorm. (4. SiA) Mt 12,15-21
Am 26. 12. vorm. (2. Weihnachtstag) Joh 1,14
Predigten 1815
Am 01. 01. vorm. (Neujahrstag) 1Joh 5,4
Am 15. 01. vorm. (2. SnE) Joh 2,13-17
Am 29. 01. vorm. (Sexagesimae) Joh 9,1-5
Am 12. 02. vorm. (Invocavit) Joh 18,1-8.11-12
Am 12. 03. vorm. (Judica) Joh 19,11
Am 24. 03. vorm. (Karfreitag) Gal 6,14
Am 26. 03. vorm. (Ostersonntag) Röm 6,3-5
Am 09. 04. vorm. (Misericordias Domini) Joh 21,7-8
Am 15. 05. vorm. (Pfingstmontag) Apg 2,37-38
Am 21. 05. vorm. (Trinitatis) 2Kor 1,20-22
Am 22. 10. vorm. (22. SnT) 1Kön 8,56-58
Anhang
Liederblätter 1812-1816
Verzeichnisse
Abkürzungen und editorische Zeichen
Literatur
Namen
Bibelstellen

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Friedrich Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe III. Abt. Band 4

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Kritische Gesamtausgabe Im Auftrag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegeben von Günter Meckenstock und Andreas Arndt, Ulrich Barth, Lutz Käppel, Notger Slenczka

Dritte Abteilung Predigten Band 4

De Gruyter

Friedrich Daniel Ernst

Schleiermacher Predigten 1809⫺1815

Herausgegeben von Patrick Weiland unter Mitwirkung von Simon Paschen

De Gruyter

ISBN 978-3-11-026394-7 e-ISBN 978-3-11-026395-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Umschlaggestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Satz: Meta Systems GmbH, Wustermark Druck und buchbinderische Verarbeitung: Strauss GmbH, Mörlenbach ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Einleitung des Bandherausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Historische Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Beginn der Predigtnachschriften . . . . . . . . 2. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten . 3. Die Liederblätter der Jahre 1812–1816 . . . . . .

. . . .

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IX X X XVII XXI

II. Editorischer Bericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII 1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII A. Allgemeine Regeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXII B. Manuskripte Schleiermachers . . . . . . . . . . . . . XXIV C. Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVI D. Sachapparat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII E. Editorischer Kopftext . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII 2. Druckgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX A. Seitenaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX B. Gestaltungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXIX 3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen . . . . . . . . . . . . XXXI A. Schleiermachers Autographen und Drucke . . . . XXXI B. Matthisson-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . XXXIV C. Pischon-Predigtnachschriften . . . . . . . . . . . . . XL Predigten 1809 Am Am Am Am

15. 01. vorm. (2. SnE; Städteordnung) Röm 13,1–5 31. 03. nachm. (Karfreitag) Joh 10,17–18 . . . . . . . . 23. 07. vorm. (8. SnT) Ps 12,2 . . . . . . . . . . . . . . . 31. 12. nachm. (SnW) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3 16 20 21

Predigten 1810 Am 28. 01. nachm. (4. SnE) Mt 8,23–27 . . . . . . . . . . . . Am 04. 02. vorm. (5. SnE) Mt 4,1–11 . . . . . . . . . . . . .

27 41

VI

Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

Inhaltsverzeichnis

11. 02. 25. 02. 04. 03. 20. 04. 16. 05. 31. 05. 03. 06. 10. 06. 11. 06. 17. 06. 24. 06. 22. 07. 05. 08. 19. 08. 26. 08. 02. 09. 30. 09. 07. 10. 14. 10. 28. 10. 11. 11. 18. 11. 25. 11. 02. 12. 09. 12. 25. 12.

nachm. (6. SnE) Joh 1,35–44 . . . . . . . . . nachm. (Sexagesimae) Joh 2,13–17 . . . . . . vorm. (Estomihi) Mk 2,1–12 . . . . . . . . . . vorm. (Karfreitag) Joh 19,25–30 . . . . . . . vorm. (Bußtag) PredSal 3,11–13 . . . . . . . nachm. (Himmelfahrt) Mk 16,19; Apg 1,11 nachm. (Exaudi) Mt 28,16–20 . . . . . . . . vorm. (Pfingstsonntag) Apg 2,1–39 . . . . . nachm. (Pfingstmontag) 1Thess 5,19–21 . . nachm. (Trinitatis) Apg 2,43 . . . . . . . . . . vorm. (1. SnT) Apg 2,44–45 . . . . . . . . . . vorm. (5. SnT) Apg 6,15 . . . . . . . . . . . . vorm. (7. SnT; Gedächtnisfeier) Jes 55,8–9 . nachm. (9. SnT) Apg 9,3–22 . . . . . . . . . . nachm. (10. SnT) Apg 10,4–6 . . . . . . . . . vorm. (11. SnT) Apg 11,15–17 . . . . . . . . vorm. (15. SnT; Erntedank) Gal 6,7–8 . . . nachm. (16. SnT) Apg 13,6–11 . . . . . . . . vorm. (17. SnT) Apg 14,21–22 . . . . . . . . vorm. (19. SnT) Apg 15,1–12 . . . . . . . . . vorm (21. SnT) Apg 16,35–37 . . . . . . . . . nachm. (22. SnT) Apg 17,22–31 . . . . . . . vorm. (23. SnT) Apg 19,13–17 . . . . . . . . nachm. (1. SiA) Offb 22,10–13 . . . . . . . . vorm. (2. SiA) Lk 1,41–55.67–79 . . . . . . vorm. (1. Weihnachtstag) Phil 2,6–7 . . . . .

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46 51 56 60 66 80 86 91 99 112 117 123 138 151 157 162 168 177 182 187 193 199 205 212 218 224

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239 245 252 258 265 273 276 283 291 299 307 314 322

Predigten 1811 Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

01. 01. 06. 01. 20. 01. 03. 02. 17. 02. 18. 02. 03. 03. 17. 03. 31. 03. 28. 04. 08. 05. 12. 05. 26. 05.

nachm. (Neujahrstag) Mt 24,6–13 . . . . . . vorm. (Epiphanias) Mt 2,2–11 . . . . . . . . vorm. (2. SnE) Joh 1,29 . . . . . . . . . . . . . vorm. (4. SnE) Mt 12,30–32 . . . . . . . . . . vorm. (Sexagesimae) Lk 13,31–34 . . . . . . Taufe von Clara Elisabeth Schleiermacher . vorm. (Invocavit) 1Petr 2,19–24 . . . . . . . vorm. (Oculi) 1Petr 2,20–23 . . . . . . . . . . vorm. (Judica) Hebr 5,8–9 . . . . . . . . . . . vorm. (Misericordias Domini) Joh 20,19–20 nachm. (Bußtag) Röm 3,23 . . . . . . . . . . vorm. (Cantate) Joh 21,16 . . . . . . . . . . . vorm. (Exaudi) Lk 24,49 . . . . . . . . . . . .

Inhaltsverzeichnis

Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

03. 06. 09. 06. 23. 06. 07. 07. 18. 08. 01. 09. 13. 10. 27. 10. 10. 11. 08. 12. 22. 12. 25. 12.

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

(Pfingstmontag) Gal 6,8 . . (Trinitatis) 1Joh 3,23–24 . . (2. SnT) Röm 1,16 . . . . . . (4. SnT) 1Joh 5,4 . . . . . . . (10. SnT) Röm 14,1 . . . . . (12. SnT) Röm 12,11 . . . . (18. SnT) Eph 4,25 . . . . . (20. SnT) Lk 14,16–24 . . . (22. SnT) Joh 20,23 . . . . . (2. SiA) Lk 21,25–36 . . . . (4. SiA) Joh 1,19–27 . . . . . (1. Weihnachtstag) Phil 4,4

VII

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330 336 338 346 352 361 369 377 386 395 403 410

vorm. (SnN) Joh 1,35–51 . . . . . . . . . . . . vorm. (2. SnE) Joh 4,4–26 . . . . . . . . . . . vorm. (Sexagesimae) Mt 8,28–34 . . . . . . . vorm. (Invocavit) Joh 7,40–53 . . . . . . . . vorm. (Oculi) Mt 20,20–28 . . . . . . . . . . vorm. (Judica) Mt 21,10–16 . . . . . . . . . . nachm. (Karfreitag) Lk 23,33–34 . . . . . . . Konfirmation, Lk 24,30–31 . . . . . . . . . . vorm. (Ostersonntag) Röm 6,3–5 . . . . . . . vorm. (Misericordias Domini) Joh 21,2–23 nachm. (Himmelfahrt) Apg 1,6–11 . . . . . . vorm. (Exaudi) 1Petr 4,8–10 . . . . . . . . . vorm. (4. SnT) Lk 7,24–34 . . . . . . . . . . . vorm. (10. SnT) Lk 8,19–21 . . . . . . . . . . vorm. (12. SnT) Lk 10,17–20 . . . . . . . . . vorm. (24. SnT) Lk 14,25–33 . . . . . . . . . vorm. (26. SnT) Mt 25,1–13 . . . . . . . . . . vorm. (2. SiA) 1Joh 4,19 . . . . . . . . . . . . vorm. (1. Weihnachtstag) Lk 2,8–11 . . . . .

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421 431 440 449 458 466 474 482 488 495 504 511 517 526 533 536 544 550 556

. . . .

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563 578 581 583

Predigten 1812 Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

05. 01. 19. 01. 02. 02. 16. 02. 01. 03. 15. 03. 27. 03. 28. 03. 29. 03. 12. 04. 07. 05. 10. 05. 21. 06. 02. 08. 16. 08. 08. 11. 22. 11. 06. 12. 25. 12.

Predigten 1813 Am Am Am Am

28. 03. 16. 04. 19. 04. 09. 05.

vorm. vorm. vorm. vorm.

(Laetare) Jer 17,5–8; 18,7–10 (Karfreitag) 1Joh 1,7 . . . . . (Ostermontag) Röm 6,5–12 . (Jubilate) . . . . . . . . . . . . .

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VIII

Am Am Am Am

Inhaltsverzeichnis

12. 05. 12. 09. 10. 10. 07. 11.

vorm. vorm. vorm. vorm.

(Bußtag) Lk 22,31–32 (13. SnT) Ps 94,12–15 (17. SnT) Mt 13,24–30 (21. SnT) Mt 25,14–29

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584 585 587 590

(SnN) Joh 1,14.16 . . . . . . (2. SnT) Lk 16,29.31 . . . . (4. SnT) Lk 18,10–14 . . . . (4. SiA) Mt 12,15–21 . . . . (2. Weihnachtstag) Joh 1,14

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597 603 605 607 614

(Neujahrstag) 1Joh 5,4 . . . . . . . . (2. SnE) Joh 2,13–17 . . . . . . . . . (Sexagesimae) Joh 9,1–5 . . . . . . . (Invocavit) Joh 18,1–8.11–12 . . . . (Judica) Joh 19,11 . . . . . . . . . . . (Karfreitag) Gal 6,14 . . . . . . . . . (Ostersonntag) Röm 6,3–5 . . . . . . (Misericordias Domini) Joh 21,7–8 (Pfingstmontag) Apg 2,37–38 . . . . (Trinitatis) 2Kor 1,20–22 . . . . . . . (22. SnT) 1Kön 8,56–58 . . . . . . .

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623 625 632 639 645 647 652 658 665 672 680

Liederblätter 1812–1816 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

695

Predigten 1814 Am Am Am Am Am

02. 01. 19. 06. 03. 07. 18. 12. 26. 12.

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

Predigten 1815 Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

01. 01. 15. 01. 29. 01. 12. 02. 12. 03. 24. 03. 26. 03. 09. 04. 15. 05. 21. 05. 22. 10.

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

Anhang

Verzeichnisse Abkürzungen und editorische Zeichen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bibelstellen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung des Bandherausgebers Die Kritische Gesamtausgabe der Schriften, des Nachlasses und des Briefwechsels Friedrich Schleiermachers, die seit 1980 erscheint, ist gemäß den Allgemeinen Editionsgrundsätzen in die folgenden Abteilungen gegliedert: I. Schriften und Entwürfe, II. Vorlesungen, III. Predigten, IV. Übersetzungen, V. Briefwechsel und biographische Dokumente. Die III. Abteilung dokumentiert Schleiermachers gesamte Predigttätigkeit von seinem Ersten Examen 1790 an bis zu seinem Tod 1834. Die Predigten werden chronologisch nach ihrem Vortragstermin angeordnet. Nur die von Schleiermacher absichtsvoll geordneten sieben „Sammlungen“, alle im Verlag der Berliner Realschulbuchhandlung bzw. im Verlag von G. Reimer erschienen (Berlin 1801– 1833), bleiben in dieser Anordnung erhalten und stehen am Anfang der Abteilung. Demnach ergibt sich für die Abteilung „Predigten“ folgende Gliederung: 1. Predigten. Erste bis vierte Sammlung (1801–1820) 2. Predigten. Fünfte bis siebente Sammlung (1826–1833) 3. Predigten der Jahre 1790–1808 4. Predigten der Jahre 1809–1815 5. Predigten der Jahre 1816–1819 6. Predigten der Jahre 1820–1821 7. Predigten der Jahre 1822–1823 8. Predigten des Jahres 1824 9. Predigten des Jahres 1825 10. Predigten der Jahre 1826–1827 11. Predigten der Jahre 1828–1829 12. Predigten der Jahre 1830–1831 13. Predigten des Jahres 1832 14. Predigten der Jahre 1833–1834 sowie Gesamtregister Der vorliegende Band enthält 107 Predigttexte zu 100 Terminen aus den Jahren 1809 bis 1815. Editionsgrundlage sind neben Drucktexten und Autographen Schleiermachers1 hauptsächlich Mitschriften seiner Hörer. 55 Predigten sind bisher unveröffentlicht. 19 Predigten werden aufgrund neuer Quellenlage geboten. Zu acht Terminen liegen Autographen Schleiermachers vor. Die Mitschriften gehen auf Karl Ernst 1

Zitatnachweise und Belegnachweise ohne Angabe des Autors beziehen sich auf Friedrich Schleiermacher.

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Einleitung des Bandherausgebers

Georg Matthisson und Friedrich August Pischon zurück. Für das Jahr 1810 liegt unter anderem eine Homilienreihe zur Apostelgeschichte vor, die als solche nun kenntlich gemacht wird. Zusätzlich bietet der Band in einem Anhang gedruckte Liederblätter aus den Jahren 1812 bis 1816 als Lesetexte. Die von Schleiermacher konzipierten und herausgegebenen Liederblätter besitzen keine Jahresangabe und werden dem Kirchenjahr folgend angeordnet.2

I. Historische Einführung Der Zeitraum von 1809 bis 1815, dessen Predigten dieser Band dokumentiert, war für Schleiermacher politisch, beruflich und familiär eine Zeitspanne des Umbruchs und des Neubeginns. Die politische Situation Preußens war zum einen durch die Fremdherrschaft Frankreichs unter Napoleon und deren Überwindung durch die Befreiungskriege bestimmt und zum anderen durch die Stein-Hardenbergschen Reformen gekennzeichnet, welche seit der Niederlage gegen Frankreich im Jahr 1806/07 den Staat nachhaltig prägten. Mit seinem Amtsantritt 1809 zum reformierten Prediger an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin war Schleiermacher unmittelbar in diese Geschehnisse involviert. Seine familiäre Situation änderte sich im Jahr 1809 durch die Eheschließung mit Henriette von Willich.

1. Der Beginn der Predigtnachschriften Der Beginn von Schleiermachers Predigttätigkeit an der Dreifaltigkeitskirche3 zu Berlin fällt mit besonderen Veränderungen in seinem privaten Leben zusammen. Seit dem Tod seines Freundes Ehrenfried von Willich am 2. Februar 1807 kümmerte sich Schleiermacher um die auf Rügen lebende Witwe, Henriette von Willich, und deren Kinder, Henriette und Ehrenfried, durch Briefe und Besuche. Die Zeit von der Verlobung am 18. Juli 1808 bis zur Eheschließung am 18. Mai 2

3

Bereits zugänglich waren die Liederblätter in der Bibliothek der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannover unter dem Titel „Schleiermacher, Gesammelte Kirchenlieder“ (Diese sind mittlerweile im Michaeliskloster Hildesheim – Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik archiviert.) und in einer Privatedition: Liederblätter. Herausgegeben von Schleiermacher. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989. Zur Geschichte der Dreifaltigkeitskirche vgl. Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Festschrift zum Hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889.

Historische Einführung

XI

1809 in der Kirche zu Sagard wurde wieder durch einen intensiven Briefwechsel begleitet. Im Juni 1809 kam Henriette mit den Kindern nach Berlin. Die neugegründete Familie zog in die Kanonierstr. 4,4 in der auch die erste gemeinsame Tochter Clara Elisabeth am 18. Februar 1811 getauft wurde. Die Taufrede, welche Schleiermacher zu diesem Anlass hielt, ließ er im „Magazin für Prediger“ abdrucken, welches, neben dem Inhalt der Rede, Schleiermachers Freude über dieses Ereignis zum Ausdruck bringt. Denn gerade besondere Anlässe und Umstände waren für Schleiermacher ausschlaggebend, seine Predigten niederzuschreiben, um sie dann in den Druck geben zu lassen. Jedoch war eine derartige Veröffentlichung selten der Fall. Denn die Überlieferungslage der Predigten Schleiermachers zeigt mit seinem Amtsantritt eine schlagartige Veränderung, da Schleiermacher nur noch selten selbst Entwürfe verfasste oder Predigten ausformulierte. Es begann die Zeit, in der Hörerinnen und Hörer seine Predigten mitschrieben. In den Jahren 1809 bis 1815 waren es Karl Ernst Georg Matthisson5 und August Pischon6, die solche Nachschriften anfertigten. Die ersten Nachschriften wurden von Matthisson angefertigt. Schleiermacher hatte bereits zwei Predigtsammlungen veröffentlicht und plante die „Dritte Sammlung“ mit Predigten des Jahres 1810 aufgrund von Nachschriften Matthissons zusammenzustellen. Am Ende der Predigt vom 25. Dezember 1810 findet sich eine Aufzählung der Predigttermine mit entsprechenden Predigtthemen. Aber erst Adolf Sydow7 nutzte Nachschriften Matthissons zur Grundlage der Predigtabteilung der ‚Sämmtlichen Werke‘ und dankte ihm im Vorwort: „Mein verehrter Leh4

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In einem Brief an August Boeckh vom 27. Juni 1809 beschreibt Schleiermacher die unglücklichen Umstände, die seinen neuen Lebensabschnitt begleiten: „Ich will Ihnen zwar wünschen, daß Sie Ihren Ehestand unter bessern Auspicien anfangen mögen als ich – denn abgerechnet die gänzliche ökonomische Gehaltlosigkeit, in welche ich meine Frau hineingeführt habe, mit dem Heirathen im reinen Widerspiel mit allen andern Menschen wartend, bis ich rein nichts hätte, so habe ich von dem Magenkrampf, mit dem ich mich den ganzen Winter quälen mußte, einen neuen Anfall in den Ehestand mitgebracht, dann haben die beiden Kinder, die die schönste Mitgift meiner Frau sind, einen Rükfall vom Fieber bekommen, und sie selbst hat sie abgelöst mit den heftigsten Zahnschmerzen.“ Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker 1806–1820, ed. H. Meisner, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 11, Berlin 1916, S. 38–39 Zu biographischen Daten Matthissons vgl. S. XXXIV und KGA III/1 Zu biographischen Daten Pischons vgl. S. XL und KGA III/1 Karl Leopold Adolf Sydow (1800–1882) war Herausgeber der Bände 7–10 der 2. Abteilung der ‚Sämmtlichen Werke‘. Ehrenfried von Willich schreibt über ihn: „Sydow war ein begeisterter Verehrer meines Vaters, ohne ihm oder unserer Familie persönlich näher bekannt gewesen zu sein.“ Willich, Ehrenfried v.: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin 1909, S. 192–193. In den Manuskripten, besonders in den Abschriften der Nachschriften Matthissons, zeigt sich Sydows Verehrung in seiner akribischen Editionstätigkeit.

XII

Einleitung des Bandherausgebers

rer, der Herr Prof. Matthisson, dem ich hiemit öffentlich unsern herzlichen Dank ausspreche für die Güte, die er in der Darreichung seiner Manuscripte an den Tag gelegt hat, möge mir verzeihen, wenn ich diese briefliche Aeußerung von ihm ohne vorhergegangene Anfrage veröffentliche – sie schien als Urtheil eines competenten Ohrenzeugen aus jener Zeit für die Geschichte der Schleiermacherschen Predigt der Aufbewahrung werth.“8 Von den Nachschriften Matthissons wurden Abschriften angefertigt, welche Sydow für den Druck stark überarbeitete. In den Manuskripten lässt sich Sydows Eingreifen erkennen, welches vom Setzen von Kommata bis hin zu Streichungen und Neuformulierung ganzer Passagen reicht. Auch die thematischen Überschriften gehen auf Sydow zurück.9 Die Beziehung zwischen Schleiermacher und Matthisson kann aufgrund fehlender Zeugnisse nicht eindeutig charakterisiert werden. Dass nicht nur Sydow, sondern Schleiermacher selbst, Nachschriften Matthissons besaß und auch nutzte, zeigt sich an den Autographen Schleiermachers, in denen er neben der Überschrift namentlich in Klammern auf Matthisson hinweist oder an denen, die dies von ihrem Textbestand nahelegen;10 eine nähere persönliche Beziehung ist dadurch nicht zwingend eingeschlossen. Matthisson verfasste nach 1815 keine Nachschriften mehr, was mit seiner Übersiedelung nach Brieg zu erklären ist. Für die Zeit danach gibt es keine Anhaltspunkte für die Pflege dieser Bekanntschaft. August Pischon schrieb von 1811 bis 1815, also während seiner Zeit als Adjunkt,11 Predigten und auch Vorlesungen nach.12 Die für 8 9

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Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, ed. A. Sydow, Bd. 7, Berlin 1836, S. XVI–XVII. Sydow selbst beschreibt sein Eingreifen folgendermaßen: „An den Nachschriften des Herrn Prof. Matthisson habe ich nichts Wesentliches, aber doch hie und da einiges Wenige verändert, was nöthig schien, um den gegebenen Inhalt [Hervorhebung im Original] in dieser allerdings immer unvollkommnen Fassung doch mit möglichster Uebersichtlichkeit, Deutlichkeit und Bestimmtheit hervortreten zu lassen.“ Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, ed. A. Sydow, Bd. 7, Berlin 1836, S. XVIII Vgl. dazu die Predigten vom 16. Mai, 11. Juni und 25. Dezember 1810 Schleiermacher bekam zusammen mit seiner Berufung in das Unterrichtsministerium auch die Genehmigung, einen Adjunkten vorzuschlagen, welcher einen großen Teil der Amtsgeschäfte übernehmen sollte. Dazu gehörte die Übernahme von Taufen, Trauungen, Krankenbesuchen, Krankenkommunion sowie des Konfirmandenunterrichts bis auf die letzten drei Monate und auch die Vorbereitungspredigten und Nachmittagspredigten. Auf Schleiermachers Vorschlag hin wurde August Pischon vom 9. Dezember 1810 bis zum 28. Mai 1815 sein Gehilfe, bei dessen Amtseinführung Schleiermacher die Predigt hielt und den er in seine Aufgabenbereiche einführte: „Der Domcanditat Pischon, den Sie wol kennen, ist ordinirt und ordentlich als Hülfsprediger eingeführt, und ich weihe ihn nun nach und nach in alles ein.“ Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 87. Vgl. auch Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin / New York 1992, S. 42–45. Zu seiner Dogmatik-Vorlesung teilte Schleiermacher J. Chr. Gaß mit: „Zum Aufschreiben bin ich aber gar nicht gekommen, und muß mich auf Pischon verlassen, der zu meiner Freude

Historische Einführung

XIII

das Jahr 1810 geplante „Dritte Predigtsammlung“ wurde letztendlich 1814 verwirklicht. Sie basiert auf Nachschriften Pischons, welche er Schleiermacher als Geburtstagsgeschenk am 21. November 1812 übergeben hatte.13 Das Vorwort ist auch direkt an Pischon gerichtet, in dem Schleiermacher ihm für die Nachschriften dankt: „Wenn es einen Werth hat, daß diese Sammlung Predigten erscheint, so kommt das kleine Verdienst auf Sie zurükk; denn ohne die Nachschriften, mit denen Sie mich beschenkt haben, wäre es mir nicht möglich gewesen sie auszuarbeiten. Darum gehören Ihnen nun billig diese Predigten ganz besonders.“14 Weiter beschreibt Schleiermacher die Notwendigkeit, die Nachschriften zu verändern, da eine gedruckte Predigt anders zu lauten habe als eine gesprochene.15 Der Unterschied zwischen gesprochener und literarischer Predigt ist groß, so dass in diesem Band die überarbeiteten Predigten Schleiermachers für die „Dritte Sammlung“ als „andere Zeugen“ charakterisiert werden. Matthisson und Pischon sind nicht nur die ersten Nachschreiber der Predigten Schleiermachers, sondern nach der Überlieferungslage auch die einzigen der Jahre 1809 bis 1815.16 Die Überlieferungslage bestätigt Schleiermachers neues Verfahren, seine Predigtentwürfe nicht mehr zu sammeln, sondern seine frei gehaltenen Predigten17 nachschreiben zu lassen und gegebenenfalls aus diesen seine literarischen Predigten zu fertigen, denn es sind für den Zeitraum von 1809 bis 1815 lediglich zwei Entwürfe von Schleiermachers Hand überliefert: einer vom 23. Juli 1809 und einer vom 30. September 1810, zu dem zusätzlich auch eine Nachschrift Matthissons erhalten ist. Erstere ent13

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sehr gut nachschreibt“. Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 94 „Pischon hat mich heute Morgen überrascht mit einem kleinen Bändchen überschrieben ‚Predigten von Schleiermacher 1812.‘ Es sind zwölf Predigten aus diesem Jahre, die er sehr sauber nachgeschrieben hat, sodaß sie leicht zu drucken sein würden. Es ist mir eine sehr große Freude gewesen, und es steckt eine ungeheure Mühe darin.“ Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 4, edd. L. Jonas / W. Dilthey, Berlin 1863, S. 189 Predigten. Dritte Sammlung, Berlin 1814, S. III (vgl. KGA III/1) Predigten. Dritte Sammlung, Berlin 1814, S. IV (vgl. KGA III/1) Die Behauptung des Generals von Hüser, dass sein Freund, der Theologiestudent von Mauderode und dessen Frau, Predigten Schleiermachers nachgeschrieben haben, welche dann sogar Grundlage der Dritten Sammlung von 1814 gewesen sein sollten, ist nicht nachzuvollziehen. Einerseits bedankt sich Schleiermacher in der Vorrede zur ‚Dritten Sammlung‘ nur bei Pischon und andererseits liegen für das in Frage kommende Jahr 1812 lediglich Nachschriften Pischons und Nachschriften Matthissons samt Abschriften vor. Dass von Mauderode und seine Frau nachgeschrieben haben, ist nicht auszuschließen, nur liegen solche Manuskripte nicht mehr vor. Vgl. Bauer, Johannes: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers, Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 4, Gießen 1908, S. 77 Vgl. Schleiermachers Brief an seinen Vater, J. G. A. Schleyermacher, vom 10. Februar 1793, in: KGA V/1, S. 277–278

XIV

Einleitung des Bandherausgebers

hält eine Besonderheit, denn Schleiermacher gibt unter der Disposition die Angabe des Ortes, Dreifaltigkeitskirche, und ein falsches Datum, 29. Juli 1809, an. Da Schleiermacher zu dieser Zeit schon in sein Amt an der Dreifaltigkeitskirche eingeführt worden war, erscheint der Eintrag des Ortes nicht notwendig. Hinzu kommt ein Hinweis auf der Rückseite des Manuskriptes: „Leider wird aus unserer Reise n[ichts]“, was darauf schließen lässt, dass die Disposition vorbereitend im Zusammenhang mit einer Reise, wohl auf Rügen, notiert wurde und Schleiermacher das Datum versehentlich falsch auf einen Samstag datierte.18 Die Disposition selbst lässt keinen Schluss auf einen Samstag, also eine Vorbereitung mit Beichtrede für das Abendmahl, zu und ein Vergleich mit einer früheren Disposition vom 23. Februar 1800,19 ebenfalls zu Ps 12,2, bestätigt diese Vermutung. Schleiermacher schenkte mit Beginn seiner Amtszeit in Berlin seinen Predigtentwürfen weniger Beachtung zur Erstellung literarischer Predigten als den Nachschriften. Die wenigen ausformulierten Predigten Schleiermachers sind Festtagspredigten und waren wohl für einen entsprechenden Predigtband vorgesehen. Charakteristisch für Schleiermachers Predigttätigkeit war das Predigen in Reihen. In verschiedenen Predigteingängen finden sich Formulierungen und Hinweise auf Schleiermachers weitsichtige Planung, über welche Themen bzw. Bibelstellen er in bestimmten Zeiträumen predigen möchte. Etwa am 23. Juni 1811 kündigte er eine „Reihe von Vorträgen“ an, in denen die Aufmerksamkeit auf die Grundsätze und Handlungsweisen gerichtet wurde, „durch deren Beobachtung und Ausübung die christliche Kirche von dem schwachen Anfang an den wir sie in dem Feste der Pfingsten haben nehmen sehen, das geworden ist, was sie uns in der Folgezeit darstellt, und was sie noch mehr zu werden bestimmt ist.“20 Ähnlich formulierte Schleiermacher diesen Sachverhalt am 7. Juli 1811. Aufgrund fehlender Predigtnachschriften in diesem Zeitraum kann die Reihe jedoch nicht näher bestimmt werden. Als reformierter Prediger war er an keine Perikopenordnung gebunden und hatte daher die Möglichkeit, Reihen mit durchgehender Thematik zu bilden. Nur selten predigte Schleiermacher nach Sonntags- oder Festtagsperikope. Ist dies bei den in diesem Band enthaltenen Predigten der Fall, so ist das damit zu erklären, dass die entsprechenden Sonntage bzw. Festtage mit ihrer Thematik 18

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SN 58, Bl. 14r beinhaltet fragmentarisch einen Brief an Schleiermacher, der im Zusammenhang mit seiner Reisetätigkeit auf Rügen zu betrachten ist. Schleiermacher benutzte die Rückseite des nicht mehr benötigten Briefes für die Anfertigung des Predigtentwurfes. Vgl. auch S. XXXI Vgl. die Disposition vom 23. März 1800 in KGA III/3 Unten S. 338, 13–17

Historische Einführung

XV

nur bestimmte Bibelstellen zur Predigt zulassen. Deutlich wird dies in der Homilienreihe zur Apostelgeschichte im Jahr 1810, welche mit dem Trinitatisfest beginnt, obwohl Schleiermacher schon an Himmelfahrt und am Pfingstsonntag Texte der Apostelgeschichte als Predigttexte wählte; dies ist jedoch durch ihren Anlass bedingt und ist nicht als ein Teil der Homilienreihe zu betrachten.21 In Schleiermachers Predigten finden sich Bezüge und Wertungen zu den politischen Ereignissen der Zeit. Gerade in seinen Drucktexten ist dies offensichtlich, da sie historische Ereignisse zum Anlass und Thema haben. Auch wenn die Bezüge zur politischen Situation zwar unterschwellig vorhanden sein mögen, in erster Linie spricht er von der Christenheit und deren Situation. Schleiermachers antinapoleonischer Patriotismus und sein Reformwille sind in den Predigten teilweise deutlich zu erkennen. Seine Unterstützung der Reformbewegung22 lässt sich in seinen Predigten wiederfinden. So können die Predigten vom 11. und 25. Februar 1810 in diesem Kontext gelesen werden. Die Beschreibung der Tempelreinigung als Tat des Erlösers eben nicht als Zerstörung, sondern als Verbesserung, führt Schleiermacher als beispielhaft vor, wonach die Grundsätze zur Förderung des Guten kennengelernt werden sollen. Auch die Beschreibung der Vermischung vom Bürgerlichen mit den Angelegenheiten Gottes als Keim des Verderbens hat ihre Entsprechung in Schleiermachers Forderung nach Trennung von Staat und Kirche. In den Predigten der Homilienreihe zur Apostelgeschichte von 1810 widmete sich Schleiermacher verschiedenen Themen. Homilie ist in diesem Fall nicht als versweise Bibelauslegung zu verstehen, sondern als thematische Homilie, die ihren Zweck im Bibelstudium der Gemeinde hat. Ersichtlich wird dies auch in der bereits erwähnten Liste von Schleiermacher am Ende der Predigt vom 25. Dezember 1810, in der zum einen nicht alle Kapitel und Verse der Apostelgeschichte zum Tragen kommen und zum anderen die ausgewählten Predigtthemen im Mittelpunkt stehen. Diese erstmalige homiletische Betrachtung eines biblischen Buches im Zusammenhang fällt schließlich auch mit seiner Vorlesung zur Apostelgeschichte zusammen.23 Eine auffällige Unterbrechung dieser Reihe stellt die Predigt vom 5. August 1810 dar: die Gedächtnisfeier für die am 19. Juli 1810 verstorbene Königin Luise von Preußen. Zusammen mit der Predigt vom 21

22 23

Vgl. auch Schleiermachers Auflistung von Predigtterminen am Ende der Predigt vom 25. Dezember 1810 vorm., die ebenfalls mit dem Trinitatissonntag beginnt; unten S. 230, 1–33. Vgl. Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 187– 197 Vgl. Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002, S. 239

XVI

Einleitung des Bandherausgebers

22. Juli 1810 gab Schleiermacher sie als Druck heraus und ließ darin auch den Verlauf des Gottesdienstes abdrucken. In der Predigt vom 22. Juli 1810, der Sonntagspredigt nach dem Tod der Königin, gibt es nach Schleiermachers Aussage nur „Anspielungen“, welche wohl nicht verstanden wurden.24 Um seine Reihe zur Apostelgeschichte wenigstens an diesem Termin nicht unterbrechen zu müssen, wählte Schleiermacher als Predigttext Apg 6,15, was er auch in seiner Vorerinnerung rechtfertigte. Der Predigttext zur Gedächtnisfeier, Jes 55,8–9, war jedoch vorgeschrieben. In den Zeitraum der Homilienreihe fällt das Erntedankfest mit einer Predigt über Gal 6,7–8 am 30. September 1810, in der sich die Gegenüberstellung vom fleischlichen und geistigen Denken wohl auch auf Napoleon deuten lässt: „Wenn nun der Mensch sein Geschäft an der Erde nur in dieser Beziehung verrichtet, wenn er alle seine Kräfte aufbietet, um sich immer mehr in seinem Rechte und Besitz zu erhalten zu befestigen, seine Kräfte nach allen Seiten hin zu vermehren, das Gebiet seiner Macht weiter auszubreiten um in allen Verhältnissen des Lebens nur seine wohlbegründete Obergewalt zu erblicken, das ist der fleischliche Sinn.“25 Aber auch die Anklage, durch fleischliches Denken das Vaterland zu verraten, thematisiert Schleiermacher und betont die Notwendigkeit, die Arbeit an der Erde als Geschäft Gottes anzusehen. Es ist gerade der Dienst an Gott, welcher die Menschen zur Gerechtigkeit verpflichte. In der Predigt vom 11. November 1810 wird dies besonders zum Ausdruck gebracht, denn die Obrigkeit könne von ihrer, die Wohlfahrt fördernden Tätigkeit abweichen, und es sei dann erlaubt, seine Stimme gegen diese zu erheben.26 Die Predigttätigkeit Schleiermachers war besonders im dramatischen Jahr 1813 herausfordernd. Der Beginn der Befreiungskriege schürte Schleiermachers Hoffnung auf Besserung der Situation seines Vaterlandes und brachte außerordentlich kraftvolle Predigten hervor. So berichtet Sydow über Matthissons Schwierigkeiten, die Predigten Schleiermachers nach 1812 mitzuschreiben, denn diese waren „so mächtig gewesen, daß, wie oft er auch von Neuem zum Nachschreiben angesetzt, doch immer unwillkührlich seiner Hand der Griffel entsunken sei.“27 Bestätigt wird diese Aussage durch die Auffälligkeit, dass Matthissons Nachschriften in diesem Zeitraum mehrheitlich un24

25 26 27

„Meine Predigten bei Gelegenheit des traurigen Todesfalls der Königin Louise habe ich auch müssen drukken lassen; sie sind aber nicht werth, daß ich sie Ihnen eigens zuschikke. Die Anspielungen in der ersten scheinen fast von niemand verstanden worden zu sein.“ Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852, S. 78 Unten S. 170, 40–171, 5 Vgl. unten S. 197, 23–36 Sämmtliche Werke, Abt. 2: Predigten, ed. A. Sydow, Bd. 7, Berlin 1836, S. XVI

Historische Einführung

XVII

vollendet sind. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Predigt vom 28. März 1813. Schleiermacher schrieb schon am 23. März 1813 voller Enthusiasmus über das Kommen des Königs und des Kriegsbeginns an den Grafen Alexander zu Dohna: „Der König ist gekommen und mit ungeheurem Jubel und mit großer militärischer Pracht empfangen worden. Heute marschiren die Truppen, Morgen ist die religiöse Feier des Durchzuges und des Kriegsanfanges. Alles ist im höchsten Enthusiasmus und hoffentlich wird nun endlich bald der Kriegsschauplaz jenseits der Elbe sein.“28 Die darauf folgende Sonntagspredigt „als Krone seiner politischen Predigten“29 zeigt dann seine Erleichterung unter anderem, indem er von der „Rückkehr zum freien Handeln [Hervorhebung im Original] und zur Selbstständigkeit“30 spricht. In der Predigt wurde „das lange und ungeduldig erwartete Königliche Wort“, der Aufruf „An mein Volk“ von Friedrich Wilhelm III., verlesen. Schleiermacher predigte erleichtert über die lang ersehnte Entscheidung des Königs und beschrieb diese Veränderung als „die Rückkehr zur Wahrheit, die Befreiung von der erniedrigenden Heuchelei, die warlich von jedem, je mehr er glaubte in seinen Reden nicht sich selbst, sondern den Staat darstellen zu müssen, zu einer schauderhaften Vollendung getrieben war.“31

2. Literarische Rezeption der gedruckten Predigten In den Jahren 1809 bis 1815 veröffentlichte Schleiermacher neben der ‚Dritten Sammlung‘ 32 acht Drucke, die als Einzeldrucke oder im „Magazin für Prediger“ bzw. „Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“ erschienen sind. Die Predigt „Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit“ vom 15. Januar 1809 erhielt ihre kürzesten Rezensionen 28 29 30 31

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Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 2, 2. Aufl., edd. L. Jonas / W. Dilthey, Berlin 1860, S. 266 Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Festschrift zum Hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889, S. 80 Unten S. 569, 40–41 Unten S. 569, 30–33. Schleiermacher schickte den Einzeldruck der Predigt an Graf Alexander zu Dohna und kommentierte dabei auch den immer wiederkehrenden Vorwurf, dass er einen schwer verständlichen Stil habe, mit den Worten: „Sie werden in der Predigt wie gewöhnlich in den Meinigen keine Beredtsamkeit finden: aber ich hoffe eine große Wahrheit direct und indirect und eine gewiße Gründlichkeit die Ihnen denke ich Freude machen wird – und unverständlich, um auf die alte Klage zurückzukommen hat sie bis jetzt wenigstens niemand gefunden.“ Schleiermachers Briefe an die Grafen zu Dohna, ed. J.L. Jacobi, Halle 1887, S. 49 Zu den literarischen Rezensionen der Predigten der ‚Dritten Sammlung‘ vgl. KGA III/1

XVIII

Einleitung des Bandherausgebers

in den Zeitschriften „Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung“ und „Neue Theologische Annalen“. Erstere bespricht die Predigt zusammen mit einer Predigt von Franz Volkmar Reinard und lobt die Originalität beider Prediger und insbesondere bei Schleiermachers Predigt den zweiten Teil: „Mit Innigkeit christlichen Geistes und einer aufmunternden, zum Bessern stärkenden Kraft ist das zweyte ausgeführt.“33 Der größte Teil der Rezension wird mit einem längeren Zitat aus der Predigt gefüllt. Die zweitgenannte Zeitschrift gibt neben einer Zusammenfassung dem Leser die Empfehlung, die Worte des Verfassers selbst zu lesen, da sie „einfach und mit Kraft und Klarheit ausgeführt und dargestellt sind.“34 Inhaltlich unterstreicht der Rezensent die Erkenntnis, „dass der Staat nicht glücklich sey und bestehen kann, wo Gehorsam nur erzwungen wird [...].“35 Die Rezension in den ‚Neuen homiletisch-kritischen Blättern‘ ist länger ausgefallen, da sie neben der inhaltlichen Zusammenfassung auch beinahe den gesamten Eingang der Predigt zitiert. Schleiermachers Darstellung wird bisweilen als „höchst befriedigend“ bezeichnet und man sei bemüht gewesen, die Hauptgedanken mit den Worten Schleiermachers wiederzugeben, „damit das Werk den Meister loben möge.“36 Ganz anders bewertet der Rezensent der ‚Neuen Theologischen Annalen‘ den Sprachstil der Predigt, denn „ihr fehlt die unerläßliche Tugend der Gemeinfaßlichkeit; sie ist eher schwerfällig als fließend, [...].“37 Es sei dem Rezensenten schwer gefallen, einige Stellen sofort zu verstehen, und er macht Schleiermacher den Vorschlag, dass er die Dinge auch populärer sagen möge. Immerhin wäre nach der Einschätzung des Kritikers die Predigt als Abhandlung oder Vorlesung vor gebildetem Publikum von ausgezeichnetem Wert. Daneben wird in einer Fußnote der Rezension Schleiermachers Einschätzung zum Zusammenhang der religiösen und politischen Gesinnung in Hinblick auf das Verhältnis zur Obrigkeit nicht gebilligt, denn gerade ein Christ sei doch von einem weltbürgerlichen Geiste geprägt und der Glaube an Gott werde persönliche Neigungen und Wünsche schon überwinden, so dass in Bezug auf den Predigttext Röm 13,1–5 es für einige eben nicht, wie Schleiermacher sagt, eine harte Rede sei. Hinsichtlich der Predigt „Zuversicht und Kleingläubigkeit“ vom 28. Januar 1810 konnte nur eine allgemein gehaltene Rezension zu den sechs Predigten Schleiermachers, die in dem „Magazin von Fest-, 33 34 35 36 37

Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung, Jena / Leipzig 1809, Nr. 300, Sp. 583 Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1811, Nr. 8, Sp. 64 Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1811, Nr. 8, Sp. 64 Neue homiletisch-kritische Blätter, Stendal 1809, Zweytes Quartalsheft, S. 280–281 Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1809, Bd. 1, S. 510–511

Historische Einführung

XIX

Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden“ abgedruckt wurden, ermittelt werden. Der Rezensent schreibt über die Predigten Schleiermachers, dass diese sich in Länge und „durch eine mehr ruhige als lebhafte, mehr philosophische, als populäre Darstellung“38 von den anderen Predigten des Magazins unterscheiden. Es wird betont, dass den Predigten ein christlicher und auch biblischer Charakter nicht fehle und wenn die Zuhörer dem Gedankengang Schleiermachers folgen können, „so müssen diese, von der edlen Freymüthigkeit desselben zeugenden Vorträge bleibende und gesegnete Eindrücke zurücklassen.“39 Die Predigten vom 22. Juli und vom 5. August 1810 wurden zusammen abgedruckt, da beide den Tod der Königin Luise zum Thema haben. Die Rezensionen sind daher stets auf den Druck beider Predigten bezogen und nicht auf eine einzelne. Die „Allgemeine LiteraturZeitung“ schreibt zu beiden Predigten: „Die Kunst, die Zartheit und weise Berücksichtigung, womit der Vf. in Beziehung auf die traurige Veranlassung diesen Gegenstand behandelt, kann keinem gebildeten Zuhörer entgangen seyn.“40 Jedoch wird an der Predigt vom 5. August 1810 aufgrund ihrer „Neuheit und Eigenthümlichkeit“ bemängelt, dass sie dadurch weniger verständlich und ansprechend sei. Die „Neue Theologische Annalen“ hat ihr Hauptaugenmerk auf Schleiermachers Stil gerichtet, der sehr viel klarer sein könne: „Auch diesen zwei vortrefflichen Predigten ließe sich durch eine kleine Nachhülfe, die jedoch auf beinahe allen Seiten nöthig wäre, leicht die völlige Klarheit geben, leicht die Schwerfälligkeit nehmen, die denselben noch anklebt.“41 Kurz geht die Rezension noch auf den Zusammenhang von Tod und Gedächtnis ein, bei dem kritisiert wird, dass Schleiermacher die Möglichkeit benennt, der Tod könne seine zerstörerische Macht auch auf das Gedächtnis erweitern. Diese Aussage beurteilt der Rezensent jedoch als wertlos, da in diesem Fall der Tod mit „Vernichtung“ gleichzusetzen wäre. Die Rezension in den ‚Neuen homiletisch-kritischen Blättern‘ geht detailliert auf einzelne Textellen der Julipredigt ein und erklärt die teilsweise undeutliche Ausdrucksweise Schleiermachers folgendermaßen: „Aber der Verf. scheint überall den schweren und dunkleren Ausdruck vorzuziehen, wahrscheinlich, damit die Aufmerksamkeit der Zuhörer desto mehr gespannt, und ihr Nachdenken in angestreng38 39 40 41

Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung, Jena / Leipzig 1824, Nr. 35, Ergänzungsblätter, Sp. 278 Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung, Jena / Leipzig 1824, Nr. 35, Ergänzungsblätter, Sp. 278 Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1811, Nr. 142, Ergänzungsblätter, Sp. 1136 Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1811, Bd. 1, S. 23

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Einleitung des Bandherausgebers

ter Thätigkeit erhalten werde.“42 Im gleichen Tenor wird die Struktur und Gliederung der Predigt vom 5. August 1810 bewertet. Während trotz der einzelnen umfangreichen Hauptteile Schleiermacher in genialer Weise „Einheit und Verbindung“ in die Predigt bringe, so fehle es ihr doch an „Klarheit und Evidenz“. Dieser Kritikpunkt wird an anderer Stelle erneut formuliert und zeigt die Wertung der Predigt als eher oberflächlich, denn sie „ist mit lebhafter Wärme, in einem fließenden und blühenden Styl geschrieben, erhebt sich aber nicht über das Gewöhnliche“.43 Weniger streng behandelt die „Jenaische allgemeine LiteraturZeitung“ die Predigten. Zwar sei in der ersten Predigt zu wenig auf den Anlass, den Tod der Königin, eingegangen, dies finde sich nur in der „Stimmung des Redners“, aber bezüglich der zweiten Predigt steht über Schleiermacher: „Er weiß mit Meisterkräften zu herrlichen Gedanken das Gemüth zu erheben, und zu übersinnlichen Bestrebungen das erhabene [!] zu begeistern.“44 Gleich zu Beginn der Rezension zur Predigt „Zum Besten der Auszurüstenden“ vom 28. März 1813 in den ‚Neuen Theologischen Annalen‘ wird Schleiermachers Predigt hoch gelobt: „Diese Predigt wird nicht verloren gehen; in ihr waltet ein Geist der Wahrheit und Gerechtigkeit, der Kraft und der Stärke, der Geist eines heiligen Ernstes und Eifers, ein der über das gemeine Irdische erhaben ist, sie ist würdig [...] auf die Nachwelt zu kommen.“45 Erwähnenswerte Stellen der Predigt werden zitiert und besonders hervorgehoben. Eine ganz andere Meinung hat der Rezensent zu Schleiermachers Stil. Er sei eigentümlich und auch altertümlich. Wieder wird daran gezweifelt, ob denn „ein solcher Styl auch gemeinverständlich sey.“ 46 Es folgen einige Beispiele, in denen Wendungen Schleiermachers erklärt werden. Es werden sogar Verbesserungsvorschläge gemacht sowie der Hang, in dieser patriotischen Zeit alles Ausländische auch sprachlich zu vermeiden, als „pedantisch und lächerlich“ gewertet. Die Predigt vom 22. Oktober 1815 bespricht die „Neue Theologische Annalen“ zusammen mit einer Predigt von Friedrich Ehrenberg. Beiden Predigten liegt derselbe Anlass zugrunde: Die vierhundertjährige Regierung der Hohenzollern und das Andenken an die Schlacht bei Leipzig. Im direkten Vergleich wird Schleiermacher eine große Geschicklichkeit bei der Verknüpfung beider Anlässe, welches 42 43 44 45 46

Neue homiletisch-kritische Blätter, Stendal 1810, Drittes Quartalsheft, S. 48 Neue homiletisch-kritische Blätter, Stendal 1810, Drittes Quartalsheft, S. 55 Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung nebst Intelligenzblatt, Jena / Leipzig 1812, Nr. 156, Sp. 216 Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1815, Bd. 1, S. 300 Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1815, Bd. 1, S. 302

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dem Hofprediger Ehrenberg nur im Predigteingang gelinge, attestiert: „Text und Darstellung sind nach der eigenthumlichen [!] Weise des H. V. vortrefflich in einander verschlungen, der ganze Vortrag höchst gedankenreich und der reinste Ausdruck wahrer Vaterlandsliebe und Frömmigkeit, wie es die Würde des Ortes, wo die Predigt gehalten ward, der Zeit, aus der sie hervorging, und der Veranlassung angemessen ist.“47 Zu den Predigten „Am Charfreytage“ vom 31. März 1809 und zur „Taufrede“ vom 18. Februar 1811 konnten keine Rezensionen ermittelt werden.

3. Die Liederblätter der Jahre 1812–1816 Schleiermacher begann im Jahr 1812, wohl zuerst unregelmäßig und dann ab 1813 regelmäßig, Liederblätter für die Hauptgottesdienste an der Dreifaltigkeitskirche drucken zu lassen.48 Jedoch sind erst ab dem Neujahrstag 1817 die Liederblätter durch Angabe der Jahreszahl datiert. Ein Sammelband im Michaeliskloster Hildesheim (Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik), archiviert in Verbindung mit der Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, enthält neben datierten Blättern von 1817 auch die hier wiedergegebenen Liederblätter vor 1817. Wolfgang Virmond gab diese ehemals in Hannover archivierte Sammlung zusammen mit den Liederblättern der Sammlung „A collection of German Hymns, selected by F. D. E. Schleiermacher, and used for public worship in the Dreifaltigkeitskirche at Berlin. 1817–28“ der British Library in London sowie in Berlin archivierte Einzelblätter als Privatdruck heraus.49 Die dort vorgenommene Zählung der Blätter wird im Anhang dieses Bandes durch eine neue ersetzt. Eine Zuordnung zu der Zählung Virmonds ist durch eine Aufschlüsselung im Literaturverzeichnis möglich. 47 48

49

Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1816, Bd. 1, S. 725 Vgl. Virmond, Wolfgang: Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte und Entstehung des Berliner Gesangbuchs von 1829, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republic (Schleiermacher: studiesand-translations 6), ed. R. D. Richardsen, Lewisten / Queenston / Lampeter 1991, S. 275– 293; vgl. Seibt, Ilsabe: Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998, S. 32–35 Vgl. Liederblätter. Herausgegeben von Schleiermacher. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989 (Privatedition)

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Die hier wiedergegebenen 66 Liederblätter sind dem Kirchenjahr folgend angeordnet. Bei dem Liederblatt mit der Überschrift „Am 20sten Oktober.“ konnte das in Frage kommende Jahr mit Hilfe des Predigtkalendariums50 ermittelt werden. Es ist auf den 19. Sonntag nach Trinitatis 1816 zu datieren. Zu dem Liederblatt „Am 26sten Sonntage nach Trinitatis.“ lässt sich zudem der 19. November 1815 als Datum vermuten.

II. Editorischer Bericht Der editorische Bericht informiert über die einheitlich für alle Bände der III. Abteilung geltenden Grundsätze zu Textgestaltung (1.) und Druckgestaltung (2.), außerdem über die Quellentexte des vorliegenden Bandes und die spezifischen Verfahrensweisen angesichts der jeweiligen Textbeschaffenheit (3.).

1. Textgestaltung und zugehörige editorische Informationen Die allgemeinen Regeln der Textgestaltung werden für die Edition der Manuskripte in einem abgestuften Verfahren spezifiziert. Die von Schleiermachers Hand geschriebenen Predigtentwürfe und Predigtausarbeitungen werden mit ausführlichen Nachweisen zum Entstehungsprozess versehen. Die Nachschriften von fremder Hand erhalten in einem vereinfachten Editionsverfahren nur knappe Apparatbelege.

A. Allgemeine Regeln Für die Edition aller Gattungen von Textzeugen (Drucke und Manuskripte) gelten folgende Regeln: a. Alle Textzeugen werden in ihrer letztgültigen Gestalt wiedergegeben. b. Wortlaut, Schreibweise und Zeichensetzung des zu edierenden Textzeugen werden grundsätzlich beibehalten. Dies gilt auch für Schwankungen in der Schreibweise und Zeichensetzung, wo häufig nicht entschieden werden kann, ob eine Eigentümlichkeit oder ein 50

Vgl. die Angaben im Predigkalendarium in: KGA III/1

Editorischer Bericht

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Irrtum vorliegt. Hingegen werden Verschiedenheiten in der Verwendung und Abfolge von Zeichen (z.B. für Abkürzungen oder Ordnungsangaben), soweit sie willkürlich und sachlich ohne Bedeutung sind, in der Regel stillschweigend vereinheitlicht. Verweiszeichen für Anmerkungen (Ziffern, Sterne, Kreuze etc.) werden einheitlich durch Ziffern wiedergegeben. Nach Ziffern und Buchstaben, die in einer Aufzählung die Reihenfolge markieren, wird immer ein Punkt gesetzt. Sekundäre Bibelstellennachweise, editorische Notizen und Anweisungen an den Setzer werden stillschweigend übergangen. Dasselbe gilt für Kustoden, es sei denn, dass sie für die Textkonstitution unverzichtbar sind. c. Offenkundige Druck- oder Schreibfehler und Versehen werden im Text korrigiert. Im textkritischen Apparat wird – ohne weitere Angabe – der Textbestand des Originals angeführt. Die Anweisungen von Druckfehlerverzeichnissen werden bei der Textkonstitution berücksichtigt und am Ort im textkritischen Apparat mitgeteilt. Für Schleiermachers Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand formuliert die Regel B.n. einige Sonderfälle. Bei den Predigtnachschriften fremder Hand gilt generell die Regel C. g. d. Wo der Zustand des Textes eine Konjektur nahelegt, wird diese mit der Angabe „Kj ...“ im textkritischen Apparat vorgeschlagen. Liegt in anderen Texteditionen bereits eine Konjektur vor, so werden deren Urheber und die Seitenzahl seiner Ausgabe genannt. e. Sofern beim Leittext ein Überlieferungsverlust vorliegt, wird nach Möglichkeit ein sekundärer Textzeuge (Edition, Wiederabdruck) oder zusätzlich ein weiterer Zeuge unter Mitteilung der Verfahrensweise herangezogen. f. Liegt ein gedruckter Quellentext in zwei oder mehr von Schleiermacher autorisierten Fassungen (Auflagen) vor, so werden die Textabweichungen in einem Variantenapparat mitgeteilt. Dessen Mitteilungen sollen in der Regel allein aus sich heraus ohne Augenkontakt mit dem Text verständlich sein. Zusammengehörige Textveränderungen sollen möglichst in einer Notiz erfasst werden. Genaue Ersichtlichkeit der einzelnen Textveränderungen und deutliche Verständlichkeit der Sinnprofilierungen sind für den Zuschnitt der Notizen maßgeblich. Der Variantenapparat wird technisch wie der textkritische Apparat gestaltet und möglichst markant mit dem Text verknüpft.

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Einleitung des Bandherausgebers

g. Hat Schleiermacher für die Ausarbeitung eines Drucktextes eine Predigtnachschrift genutzt, so wird diese Nachschrift, falls sie im Textbestand deutlich abweicht, zusätzlich geboten. Für die beiden Textzeugen gelten die jeweiligen Editionsregeln.

B. Manuskripte Schleiermachers Für die Edition der eigenhändigen Manuskripte Schleiermachers gelten folgende Regeln: a. Abbreviaturen (Kontraktionen, Kürzel, Chiffren, Ziffern für Silben), deren Sinn eindeutig ist, werden unter Weglassung eines evtl. vorhandenen Abkürzungszeichens (Punkt, Abkürzungsschleife usw.) in der üblichen Schreibweise ausgeschrieben. Die Abbreviaturen mit ihren Auflösungen werden im textkritischen Apparat oder im Editorischen Bericht mitgeteilt. Die durch Überstreichung bezeichnete Verdoppelung von m und n, auch wenn diese Überstreichung mit einem U-Bogen zusammenfällt, wird stillschweigend vorgenommen. Abbreviaturen, deren Auflösung unsicher ist, werden im Text belassen; für sie wird ggf. im textkritischen Apparat ein Vorschlag mit der Formel „Abk. wohl für ...“ gemacht. In allen Fällen, wo (z. B. bei nicht ausgeformten Buchstaben, auch bei verkürzten Endsilben) aufgrund von Flüchtigkeit der Schrift nicht eindeutig ein Schreibversehen oder eine gewollte Abbreviatur zu erkennen ist, wird das betreffende Wort ohne weitere Kennzeichnung in der üblichen Schreibweise vollständig wiedergegeben. b. Geläufige Abkürzungen einschließlich der unterschiedlichen Abkürzungen für die biblischen Bücher werden im Text belassen und im Abkürzungsverzeichnis aufgelöst. Für die Abkürzungen in Predigtüberschriften (zu Ort und Zeit) erfolgt die Auflösung im Sachapparat oder im editorischen Kopftext der Predigt. Der oftmals fehlende Punkt nach Abkürzungen wird einheitlich immer gesetzt. c. Unsichere Lesarten werden in unvollständige eckige Klammern (Beispiel: noch ) eingeschlossen. Gegebenenfalls wird eine mögliche andere Lesart mit der Formel „oder“ (Beispiel: auch ] oder noch ) vorgeschlagen. d. Ein nicht entziffertes Wort wird durch ein in unvollständige eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet; bei zwei oder

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mehr unleserlichen Wörtern wird dieses Zeichen doppelt gesetzt und eine genauere Beschreibung im textkritischen Apparat gegeben. e. Überlieferungslücken. Weist ein Manuskript Lücken im Text oder im Überlieferungsbestand auf und kann die Überlieferungslücke nicht durch einen sekundären Textzeugen gefüllt werden (vgl. oben A. e.), so wird die Lücke innerhalb eines Absatzes durch ein in kursive eckige Klammern eingeschlossenes Spatium gekennzeichnet. Eine größere Lücke wird durch ein in kursive eckige Klammern gesetztes Spatium gekennzeichnet, das auf einer gesonderten Zeile wie ein Absatz eingerückt wird. Eine Beschreibung erfolgt im textkritischen Apparat. f. Auffällige Textgestaltung wird im Editorischen Bericht oder bei Bedarf im textkritischen Apparat beschrieben (beispielsweise Lücken in einem fortlaufenden Satz oder Absatz). g. Belege für den Entstehungsprozess (wie Zusätze, Umstellungen, Streichungen, Wortkorrekturen, Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat – nach Möglichkeit gebündelt – mitgeteilt. Wortkorrekturen, Streichungen und Hinzufügungen werden, wenn sie zusammen eine komplexe Textänderung ausmachen, durch die Formel „geändert aus“ zusammenfasst. h. Zusätze, die Schleiermacher eindeutig in den ursprünglichen Text eingewiesen hat, werden im Text platziert und im textkritischen Apparat unter Angabe des ursprünglichen Ortes und der Formel „mit Einfügungszeichen“ nachgewiesen. Ist ein Zusatz von Schleiermacher nicht eingewiesen, aber seine eindeutige Einordnung in den Grundtext durch Sinn oder Position möglich, so wird im textkritischen Apparat nur der ursprüngliche Ort angegeben. Zusätze, die sich nicht eindeutig in den Grundtext einfügen lassen, werden auf den jeweiligen Seiten – vom übrigen Text deutlich abgesetzt – unter Angabe des Ortes im Manuskript wiedergegeben. i. Sind im Manuskript Umstellungen von benachbarten Wörtern oder Satzteilen vorgenommen worden, so wird im Apparat mit der Formel „umgestellt aus“ die Vorstufe angegeben. Bei Umstellungen von Sätzen und Satzteilen über einen größeren Zwischenraum wird der ursprüngliche Ort unter Verwendung der Formel „mit Umstellungszeichen“ angegeben.

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Einleitung des Bandherausgebers

j. Streichungen. Sind im Manuskript Wörter, Buchstaben oder Zeichen gestrichen worden, so wird das Gestrichene im Apparat in Winkelklammern mitgeteilt und dabei der Ort im Manuskript relativ zum Bezugswort angegeben (z. B. durch die Formel „folgt“). Wurden Streichungen vorgenommen, aber nicht vollständig durchgeführt, so werden die versehentlich nicht gestrichenen Partien in doppelte Winkelklammern eingeschlossen. k. Korrekturen Schleiermachers an Wörtern, Wortteilen oder Zeichen werden durch die Formel „korr. aus“ angezeigt (Beispiel: klein] korr. aus mein). l. Liegen bei einer Handschriftenstelle mehrere deutlich unterscheidbare Entstehungsstufen vor, so werden sie in der Regel jeweils vollständig aufgeführt. m. Fehlende Wörter und Zeichen werden in der Regel im Text nicht ergänzt. Fehlende Wörter, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im textkritischen Apparat mit der Formel „zu ergänzen wohl“ vorgeschlagen. Fehlende Satzzeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern hinzugefügt. Sofern das besonders gestaltete Wortende, das Zeilenende, das Absatzende oder ein Spatium innerhalb der Wortfolge ein bestimmtes Interpunktionszeichen (Punkt, Komma, Semikolon, Gedankenstrich, Doppelpunkt) vertritt, werden solche Zeichen stillschweigend ergänzt. Genauso ergänzt werden fehlende Umlautzeichen sowie bei vorhandener Anfangsklammer die fehlende Schlussklammer. n. Sofern Schleiermacher bei seiner Überarbeitung von Predigtnachschriften fremder Hand vereinzelt offenkundige Schreibfehler und Versehen der Nachschrift nicht korrigiert oder irrtümlich eine Streichung falsch vorgenommen hat, wird stillschweigend der intendierte Textbestand geboten. Anweisungen zur Textgestaltung, die Schleiermacher bei der Überarbeitung notiert hat, werden stillschweigend berücksichtigt.

C. Predigtnachschriften Für die Edition der nicht von Schleiermacher stammenden Predigtnachschriften gelten folgende Regeln:

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a.–f. Die vorangehend unter Nr. B. a.–f. genannten Editionsregeln gelten unverändert. g. Offenkundige Schreibfehler und Versehen werden im Text stillschweigend im Sinne der üblichen Schreibweise und ohne Apparatnachweis korrigiert, entweder wenn die Korrektur durch einen zuverlässigen Paralleltext bestätigt wird oder wenn es sich, falls kein Paralleltext überliefert ist, um Verdoppelung von Silben, Worten oder Wortgruppen, um falsche Singular- bzw. Pluralbildung, falsche Kleinschreibung oder Großschreibung von Wörtern, falsches Setzen oder Fehlen von Umlautzeichen, falsche graphische Trennung von Wortbestandteilen oder Verknüpfung von Wörtern, Fehlen des Konsonantenverdoppelungsstrichs, um unvollständige Zitationszeichen (fehlende Markierung des Zitatanfangs oder Zitatendes), unvollständige Einklammerung und Ähnliches handelt. Sind offenkundig bei Streichungen und Korrekturen versehentlich Fehler unterlaufen, so wird der intendierte Textbestand stillschweigend geboten. h. Einzelheiten des Entstehungsprozesses (Streichungen, Zusätze, Korrekturen, Umstellungen und Entstehungsstufen) werden im textkritischen Apparat nicht nachgewiesen, auch nicht der Wechsel von Schreiberhänden und die Unterschiede in der graphischen Gestaltungspraxis. Nicht einweisbare Zusätze oder Anmerkungen auf dem Rand werden in Fußnoten mitgeteilt. i. Fehlende Wörter und Zeichen, die für das Textverständnis unentbehrlich sind, werden im Text in eckigen Klammern ergänzt. j. Hervorhebungen bleiben unberücksichtigt. Die thematische Gliederungsübersicht innerhalb einer Predigt wird in der Regel als Block eingerückt. k. Textüberarbeitungen Schleiermachers. Bei einer von Schleiermacher markant und ausführlich bearbeiteten Nachschrift wird sowohl der von Schleiermacher hergestellte Text als auch der zugrunde liegende Text der Nachschrift ediert. Hat Schleiermacher in einer Nachschrift nur vereinzelt Korrekturen, Ergänzungen oder Kommentierungen vorgenommen, so werden diese möglichst gebündelt als Fußnoten mitgeteilt.

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Einleitung des Bandherausgebers

D. Sachapparat Der Sachapparat gibt die für das Textverständnis notwendigen Erläuterungen. a. Zitate und Verweise werden im Sachapparat nachgewiesen. Für die von Schleiermacher benutzten Ausgaben werden vorrangig die seiner Bibliothek zugehörigen Titel berücksichtigt.51 b. Zu Anspielungen Schleiermachers werden Nachweise oder Erläuterungen nur dann gegeben, wenn die Anspielung als solche deutlich, der fragliche Sachverhalt eng umgrenzt und eine Erläuterung zum Verständnis des Textes nötig ist. c. Bei Bibelstellen wird ein Nachweis nur gegeben, wenn ein wortgetreues bzw. Worttreue intendierendes Zitat gegeben wird, eine paraphrasierende Anführung von biblischen Aussagen vorliegt oder auf biblische Textstellen förmlich (z. B. „Johannes sagt in seinem Bericht …“) Bezug genommen wird. Geläufige biblische Wendungen werden nicht nachgewiesen. Für den einer Predigt zugrunde liegenden Bibelabschnitt werden in dieser Predigt keine Einzelnachweise gegeben. Andere Bibelstellen, auf die in einer Predigt häufiger Bezug genommen wird, werden nach Möglichkeit gebündelt nachgewiesen. Weicht ein ausgewiesenes Bibelzitat vom üblichen Wortlaut ab, so wird auf diesen Sachverhalt durch die Nachweisformel „vgl.“ hingewiesen.

E. Editorischer Kopftext Jeder Predigt – ausgenommen sind die gedruckten ‚Sammlungen‘ (vgl. KGA III/1–2) und die Manuskripthefte ‚Entwürfe‘ (vgl. KGA III/3) – wird ein editorischer Kopftext vorangestellt. a. Bestandteile. Der editorische Kopftext informiert über den Termin, den Ort, die ausgelegten Bibelverse, den Textzeugen sowie ggf. über Parallelzeugen und Besonderheiten. Die Textzeugen werden durch das Genus, die Archivalienangabe und ggf. den Namen der Autoren/Tradenten von Nachschriften charakterisiert. Sind Autoren und Tradenten verschiedene Personen und namentlich bekannt, werden beide mitgeteilt. 51

Vgl. Günter Meckenstock: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, in: Schleiermacher, KGA I/15, S. 637–912

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b. Verfahrenshinweise. Bei Nachschriften wird ggf. über vorhandene Editionen des vorliegenden Textzeugen, bei Drucktexten ggf. über Wiederabdrucke Auskunft gegeben. Bei Wiederabdrucken von Druckpredigten werden keine Auszüge oder Referate berücksichtigt, sondern nur vollständige Textwiedergaben bibliographisch mitgeteilt. Wenn von einer in der jetzigen Publikation als Textzeuge genutzten Predigtnachschrift bereits eine leicht abweichende Version desselben Tradenten ediert worden ist, so wird diese frühere Publikation unter dem Stichwort „Texteditionen“ aufgeführt und als „Textzeugenparallele“ charakterisiert. Wird zu einem Drucktext Schleiermachers eine vorhandene Predigtnachschrift nicht als Textzeuge ediert, so wird diese Nachschrift unter dem Stichwort „Andere Zeugen“ genannt. Die Angaben zum editorisch ermittelten Bibelabschnitt können von den Angaben des Textzeugen abweichen.

2. Druckgestaltung Die Druckgestaltung soll die editorische Sachlage bei den unterschiedlichen Gattungen vom Textzeugen möglichst augenfällig machen.

A. Seitenaufbau a. Satzspiegel. Es werden untereinander angeordnet: Text des Originals ggf. mit Fußnoten, ggf. Variantenapparat, textkritischer Apparat, Sachapparat. Text, Fußnoten und Variantenapparat erhalten eine Zeilenzählung auf dem Rand. b. Die Beziehung der Apparate auf den Text erfolgt beim textkritischen Apparat und beim Variantenapparat dadurch, dass unter Angabe der Seitenzeile die Bezugswörter aufgeführt und durch eine eckige Klammer (Lemmazeichen) von der folgenden Mitteilung abgegrenzt werden. Beim Sachapparat wird die Bezugsstelle durch Zeilenangabe bezeichnet; der editorische Kopftext samt vorangestellter Überschrift wird als Zeile Null gezählt.

B. Gestaltungsregeln a. Schrift. Um die Predigtnachschriften graphisch von den Drucktexten Schleiermachers sowie von seinen Manuskripten abzuheben, werden erstere in einer serifenlosen Schrift mitgeteilt. Dies gilt auch für die Fälle, in denen eine Predigtnachschrift nur in Gestalt eines

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Einleitung des Bandherausgebers

nicht von Schleiermacher autorisierten Drucktextes als sekundärer Quelle vorliegt. Der Text des Originals wird einheitlich recte wiedergegeben. Bei der Wiedergabe von Manuskripten wird deutsche und lateinische Schrift nicht unterschieden. Graphische Varianten von Zeichen (wie doppelte Bindestriche, verschiedene Formen von Abkürzungszeichen oder Klammern) werden stillschweigend vereinheitlicht. Ordinalzahlen, die durch Ziffern und zumeist hochgestellten Schnörkel oder Endung „ter“ (samt Flexionen) geschrieben sind, werden einheitlich durch Ziffern und folgenden Punkt wiedergegeben. Sämtliche Zutaten des Herausgebers werden kursiv gesetzt. b. Die Seitenzählung des Originals wird auf dem Außenrand angegeben. Stammt die Zählung nicht vom Autor, so wird sie kursiv gesetzt. Der Seitenwechsel des zugrundeliegenden Textzeugen wird im Text durch einen senkrechten Strich ( | ) wiedergegeben; im Lemma des textkritischen Apparats und des Variantenapparats wird diese Markierung nicht ausgewiesen. Wenn bei poetischen Texten die Angabe des Zeilenbruchs sinnvoll erscheint, erfolgt sie durch einen Schrägstrich (/) im fortlaufenden Zitat. c. Unterschiedliche Kennzeichnung von Absätzen (Leerzeile, Einrücken, großer Abstand in der Zeile) wird einheitlich durch Einrücken der ersten Zeile eines neuen Absatzes wiedergegeben. Abgrenzungsstriche werden – außer bei den gedruckten ‚Sammlungen‘ – nur wiedergegeben, wenn sie den Schluss markieren; versehentlich fehlende Schlussstriche werden ergänzt. Die Gestaltung der Titelblätter wird nicht reproduziert. d. Hervorhebungen Schleiermachers (in Manuskripten zumeist durch Unterstreichung, in Drucktexten zumeist durch Sperrung oder Kursivierung) werden einheitlich durch Sperrung kenntlich gemacht. e. Der zitierte Bibelabschnitt einer Predigt, der samt Stellenangabe in den Drucken und Manuskripten vielfältig und unterschiedlich gestaltet ist, wird einheitlich als eingerückter Block mitgeteilt, wobei die Bibelstellenangabe mittig darüber gesetzt und in derselben Zeile das Wort „Text“, falls vorhanden, gesperrt und mit Punkt versehen wird. Ist die Predigt verbunden mit Gebet, Kanzelgruß oder Eingangsvotum, so werden diese Begleittexte als Block eingerückt wiedergegeben. f. In Predigtentwürfen Schleiermachers und Dispositionen fremder Hand werden die Gliederungsstufen, die optisch unterschiedlich

Editorischer Bericht

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ausgewiesen sind, einheitlich durch Zeileneinrückung kenntlich gemacht.

3. Quellentexte des vorliegenden Bandes und spezifische editorische Verfahrensweisen Im Folgenden wird eine Übersicht der für den vorliegenden Band ausgewerteten Materialien geboten. Nach Angaben zu den direkt auf Schleiermacher zurückgehenden Texten (A.) werden Informationen zu den Predigtnachschriften von Karl Ernst Georg Matthisson (B.) und von August Pischon (C.) gegeben. Knappen biographischen Ausführungen folgt jeweils unter Punkt a. die Benennung von Gestalt, Umfang und inhaltlicher Qualität der einzelnen Textüberlieferungen52 sowie unter Punkt b. die Mitteilung der spezifischen editorischen Verfahrensweisen53 und der aufgelösten Abkürzungen. Diesen Angaben ist unter Punkt c. eine Liste der dem jeweiligen Schreiber zugeordneten Leittexte angehängt.

A. Schleiermachers Autographen und Drucke a. Quellenbeschreibung Im Archiv der BBAW findet sich unter der Nummer 58 des Schleiermacher-Nachlasses (SN 58) eine Zusammenstellung vieler verschiedener, zumeist undatierter Dispositionen und Korrespondenzen von Schleiermachers Hand. Auf der Vorderseite des Blattes 14 steht eine Predigtdisposition.54 Sie füllt das Blatt zu etwa drei Vierteln aus. Es stehen neben den genannten und zusätzlichen archivalischen Angaben keine weiteren Notizen darauf. Die Schrift ist teilweise sehr undeutlich. Schleiermacher machte bei der Gliederung eine nachträgliche Korrektur. 52 53

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Details zu den Quellen sind der Beschreibung des Depositums 42a in der Staatsbibliothek zu Berlin zu entnehmen. An dieser Stelle sei vermerkt, dass die edierten Texte in ihrer zeitgenössischen Schreibweise von Wörtern oder Satzkonstruktionen durch: Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5, 1, Leipzig 1774–1786 bzw. durch: Grimm, Jakob: Deutsche Grammatik, Bd. 1– 4, Göttingen 1819–1837; Bd. 1, 2. Aufl., 1822 überprüft wurden. Zu dem Problem der Datierung vgl. oben S. XIII–XIV

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Einleitung des Bandherausgebers

Die Mappe 13 des Schleiermacher-Archivs (Staatsbibliothek zu Berlin, Depositum 42a) enthält fünf Predigten aus den Jahren 1810 und 1813. Eine Predigt ist auf den 21. Dezember 1823 datiert.55 Insgesamt liegen 27 Blätter vor, von denen zwei (Bl. 1a und 9a) von Sydow gestaltete Titelblätter sind. Diese Titel beziehen sich auf die Predigten vom 16. Mai 1810 und vom 11. Juni 1810, bei denen Sydow auch die meisten Bemerkungen und Eingriffe vorgenommen hat. Neben Kennzeichnungen für Absätze und Gliederungsstufen hat Sydow auch Textteile gestrichen und korrigiert, Kommata und Unterstreichungen hinzugefügt und Neuformulierungen sowie Ergänzungen eingearbeitet. Außerdem sind bei der Junipredigt Veränderungen der Schrift auf den Blättern 10r und 13r zu erkennen, welche darauf hindeuten, dass Schleiermacher bei der Anfertigung pausiert hat und/oder eine andere Schreibfeder benutzt hat. Die Predigten vom 10. Juni 1810 und 16. April 1813 sind unvollendet und weisen keine Bearbeitungen von Sydow auf. Einen Textzusatz neben der Predigt bietet das Manuskript auf den Blättern 16r–19v: Während Sydow bei der Predigt zum 25. Dezember 1810 in der Hauptsache Unterstreichungen und Kennzeichnungen für Absätze tätigte, strich er auch die Aufzählung von Predigtterminen mit Bibelstellenangaben und Predigthemen, welche Schleiermacher nach der Predigt anordnete.56 Im Deutschen Literaturarchiv Marbach findet sich unter der Nummer 58.368 im Bestand „Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst“ eine Archivalie bestehend aus lediglich einem Blatt, auf dessen Vorund Rückseite sich eine Disposition Schleiermachers für den 30. September 1810 befindet. Die Rückseite ist nur zur Hälfte beschrieben, darunter befindet sich zusätzlich ein Stempel des Archivs mit der Zugangsnummer. Das Blatt weist keine weiteren Zusätze oder Eingriffe fremder Hand auf. Eine Besonderheit stellen die Blätter 6r–8r des Manuskriptes in der Mappe 36 des Schleiermacher-Archivs dar, da es sich zwar um eine Pischon-Nachschrift handelt, diese jedoch auf den ersten Blättern so stark von Schleiermacher bearbeitet wurde, dass sie als Autograph Schleiermachers zu behandeln sind. Schleiermacher strich und neuformulierte nicht nur einzelne Satzteile, sondern auch ganze Absätze. Auch die Überschrift und die Stellung der Bibelstelle sind von ihm neu positioniert. Schleiermachers Überarbeitung endet abrupt auf Blatt 8r. Es gibt danach keine weiteren Eingriffe von Schleiermachers oder anderer Hand. 55 56

Vgl. KGA III/7 Zu der Predigtliste vgl. oben S. XI.XV; vgl. die Predigt vom 25. Dezember 1810 vorm., unten S. 230, 1–33; vgl. SAr 13, Bl. 19v

Editorischer Bericht

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Die von Schleiermacher herausgegebenen Drucke sind entweder als Einzeldrucke oder in Magazinen erschienen. Die Einzeldrucke sind mehrheitlich von Schleiermacher mit Vorerinnerungen versehen worden, in denen er die Gründe zur Drucklegung der Predigt darlegt oder die Form des vorliegendes Druckes erklärt. So wird zu der Gedächtnisfeier für die verstorbene Königin Luise von Preußen vom 5. August 1810 fast der gesamte Ablauf des Gottesdienstes mit Liedern und Gebeten wiedergegeben, welches Schleiermacher mit der Bedeutsamkeit dieser liturgischen Teile für die Predigt begründet. Editionsgrundlage bilden immer die Erstveröffentlichungen. Weitere Auflagen bzw. Wiederabdrucke sind in den editorischen Predigtköpfen aufgeführt.

b. Editionsbesonderheiten Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): Apostel Bewusstsein Christen christlich darauf dies diesem dieser dieses durch Gott gottesdienstlich heilige

Ap. Bw. X. χtl. df ds. dsm ds. dss dh Θ g. / gottesd. heil.

-lich Matthisson Mensch nicht nicht sch seiner so über und Versammlung von

Matthiss. M / Mns. n. o ˙ -shs. s. üb. u. V. v.

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen stammen die Leittexte von Schleiermacher: 15. 01. 1809 31. 03. 1809 23. 07. 1809 28. 01. 1810 16. 05. 1810 10. 06. 1810 11. 06. 1810 22. 07. 1810

vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. vorm. nachm. vorm.

05. 08. 1810 30. 09. 1810 25. 12. 1810 18. 02. 1811 28. 03. 1813 16. 04. 1813 26. 12. 1814 22. 10. 1815

vorm. vorm. vorm. Haustaufe vorm. vorm. vorm. vorm.

XXXIV

Einleitung des Bandherausgebers

B. Matthisson-Predigtnachschriften Karl Ernst Georg Matthisson (geboren wohl 1784, Todesdatum unbekannt) konnte durch die Notiz „(vor der Taufe meiner Tochter)“ in der Predigtnachschrift vom 10. Oktober 1813 als Autor zahlreicher anonymer Nachschriften identifiziert werden, da im Taufregister der reformierten Dreifaltigkeitsgemeinde zu diesem Tag die Taufe von Caroline Johanne Wilhelmine Auguste Luise Matthisson, geboren am 20. September 1813 als eheliche Tochter von Karl Ernst Georg Matthisson, Doktor der Philosophie und Lehrer am Berlinischen Gymnasium und von Wilhelmine Caroline Matthisson, geborene von Alvensleben als durch Schleiermacher vollzogen notiert ist. Matthissons Nachschreibetätigkeit beginnt 1809 und endet 1815. Weiter ist bekannt, dass Matthisson ab 1815 Professor und ab 1839 Direktor des Gymnasiums im oberschlesischen Brieg war.

a. Quellenbeschreibung Die zur Edition herangezogenen Predigten befinden sich in den Mappen 25 bis 30 des Schleiermacher-Archivs (Staatsbibliothek zu Berlin, Depositum 42a). Sie umfassen die Nachschriften Matthissons von 1809 bis 1815. Die Predigten sind auf Einzel- und Doppelblätter, wobei es sich überwiegend um Doppelblätter handelt, geschrieben. Die Blätter sind nicht geheftet und zumeist in Lagen von vier Blättern ineinander gelegt. Unregelmäßig weisen sie redaktionelle Vermerke in rotbrauner Tinte oder mit Bleistift von Sydow auf. Selten finden sich Löcher oder andere Beeinträchtigungen. In den Mappen 31 bis 34 des Schleiermacher-Archivs befinden sich Abschriften der Nachschriften Matthissons. Die Mappe 31 enthält 21 Abschriften der Nachschriften Matthissons des Jahres 1810 sowie eine Beilage. In der Beilage schreibt Sydow über die Abschriften, welche ihm vorlagen, folgendermaßen: „Zwölf Vorträge aus 1810. […] Es ergiebt sich, dass diese 12 Vortr. Abschriften von Matthissons Nachschri. sind.“57 Die 158 Blätter liegen als Einzel- und Doppelblätter und teilweise in Fadenheftung vor. Zahlreiche Anmerkungen und Bearbeitungen von Sydow sind in den Predigten zu finden. Die Abschriften stammen von mehreren nicht identifizierten Schreibern. Außerdem sind in der Mappe 31 von Sydow verfasste Titelblätter für die Predigten vom 31. Mai 1810 und 10. Juni 1810. Die 57

Beilage zu SAr 31, Bl. 1r

Editorischer Bericht

XXXV

Mappe 32 enthält die Abschriften der Predigten des Jahres 1811. Die 23 Predigten wurden auf 160 in mehreren Lagen lose ineinandergelegten Blättern geschrieben. Mit Ausnahme der Abschrift zur Predigt vom 8. Dezember 1811 haben alle Abschriften den Vermerk Sydows: „(noch nicht gedruckt.)“.58 Die Mappen 33 und 34 enthalten auf insgesamt 78 Blättern, welche teilweise zu Lagen von 4 Blättern ineinander gelegt sind, Abschriften zu 10 Predigten des Jahres 1812 und eine Predigt vom 2. Januar 1814. Auch hier finden sich redaktionelle Zusätze von Sydow sowie Textzusätze von unbekannter Hand.

b. Editionsbesonderheiten Als Leittexte sind die Nachschriften Matthissons ediert. Die Entscheidung zum Leittext fällt leicht, da sehr gut zwischen den Nachschriften Matthissons und Abschriften fremder Hand, wohl Kopisten, die für Sydow arbeiteten, unterschieden werden kann. Matthisson benutzt ausschweifend viele Abkürzungen, lässt sehr oft Vokale aus und verkürzt Buchstaben teilweise sehr stark. Solche Phänomene wurden stillschweigend vereinheitlicht. Viele Unregelmäßigkeiten gibt es auch in der Schreibweise von Doppelvokalen und Doppelkonsonanten. Ebenso bei dem Gebrauch von „ß“ und „ss“ oder bei der Groß- und Kleinschreibung. Auch die variantenreiche Schreibweise desselben Wortes ist typisch für Matthisson. Diese Schreibweisen wurden beibehalten, da sie keine Ausnahmen darstellen, sondern den besonderen Schreibstil Matthissons widerspiegeln. Dies gilt auch für das vorsichtige editorische Hinzufügen von Kommata, welches nur bei missverständlichen Stellen getätigt wurde. Die typische unregelmäßige Setzung von Kommata, und auch der Verzicht darauf, wurden in der Regel beibehalten. Die Schrift ist in großen Teilen sehr undeutlich und unsauber. Das Schriftbild lässt vermuten, dass die Texte während des Gottesdienstes von Matthisson als Mitschrift angefertigt wurden. Zudem fehlt in den Nachschriften des Öfteren die zweite Versangabe bei der Bibelstellenangabe, welche ergänzt wurde und im textkritischen Apparat entsprechend erwähnt wird. Die Abschriften hingegen lösen die Abkürzungen auf und wurden in erheblich sauberer Schrift verfasst. Jedoch weisen sie viele Lücken auf und sind fehlerhaft. Die Predigthauptteile werden teilweise entgegen der Vorlage besonders abgesetzt, damit sie optisch deutlicher werden. 58

Dass die Abschrift zur Predigt am 8. Dezember 1811 den Vermerk nicht hat, liegt wohl an der nicht vorhandenen Datierung des Textes. Vgl. dazu die Anmerkung zum editorischen Predigtkopf unten S. 395

XXXVI

Einleitung des Bandherausgebers

Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): aber Absicht Acta Apostolorum allgemein

ab. Abs. Act.

Allg. / Allgem. / allgem. Amen Am. Amen A. anderen and. anders/anderes ad. Apostel Ap. Arbeit A. auch ch. auf f. / f. Augen Aug. Augenblick Aug. aus s. äußere äuß. äußerliche äußl. äußern äuß. Backen B. Begriff Begr. bei b. besonderen besod. besonders besond. Besonnenheit Besonnenht bestimmt best. Bestimmung Best. beysammen beys. Böse B. Bräutigam Br. Brief Bf. bringen big. Brüder Br. Buch B. bürgerlich bgl. Centner C. Christen Χten / Χsten Christenthum Χstth. Christi Χti.

christlich Christo Christum Christus Corinther damit Dankbarkeit darauf darin das Daseyn dasjenige daß davon Den denen der derjenige dessen die diejenige diese dieß -dig durch eigen ein einen Einfluß Einwohner entfernen Entschluss entweder Erkenntnis Erlöser Erscheinung Erzählung etc. etwas evangelisch

χstl. / χtl. Χto. Χtum Χst. Cor. dmt. Dkbk. df. drn d. Das. dasj. dß dav. D. den. / dn. d. derj. dess. d. diej. ds. d.ß -d. d. / d. eig. i ei. Einfl. Ein. / Ew. entf. Entschl. entw. Erk. Erl. / Erlös. Ersch. Erz. c. / e. etw. evang.

Editorischer Bericht

Evangelisten Evangelium Ewigen fast Februar festgehalten Fleisch fleischlich Freunde freylich Frömmigkeit Furcht Gang ganz Gebräuche Gedanken Gegenden Geist Gemeinde Gemeinschaft Gerechtigkeit Geschichte Gesetz Glaube gleich Gott gottesdienstlich göttlich groß gut Gute Haupt Heiland heilig Herodes Herr Herrlichkeit heutigen Himmel innere Irdisch irrdisch israelitischen

Ev. / Evangel. Ev. / Evangel. Ew. fs. Febr. festge. Fl. fl. Fr. fyl. Fr. F. Gng. gnz. / gz. Geb. Ged. Ggd. G. / Gst. Geid. Gnsch. Ger. Gesch. Ges. Gl. gl. G. / G / Θ g. g. gr. g. G. Hpt. Hl. h. / heil. H. / Herod. H. / He. H. / Herrl. heut. H. inn. Ird. irrd. isr.

jeder jenen Jerusalem Jesus Johannes jüdischen keiner -keit Kinder Kirche Kleinen kleineres Kornelius Krankheit Leben -lich Lucas machen man Matthäus mein meiner Mensch menschlich merkwürdigen Messias mit nachmaligen Name Nathanael nicht nie oder ohne Pauli Paulus Petrus Pfund Pharisäer post Predigt Prophet

XXXVII

j. jn. J. / Jerus. / Jerusal. J. / Jes. Joh. Jüd. k. / ki. -k. K. K. Kli. klein. Kornel. Krheit L. Luc. mh. m ´ Matth. m. mr M. m. merkw. Mess. t. nachmalg. N. N. / Nath. o ˙ n. od. oh. Pli. Paul. Petr. Ph. / Pharis. p. Pr. / Pred. Proph.

XXXVIII

Punkt Recht Rechten Regung Reich reinen Religion religiös Römer Römischen Schein Schleiermacher Schrift sein seine seiner Selbst selbst Seyn seyn sich sie Simon Sinn sondern Stephanus sterben Sünde Tod Trinität über übergegangen übrigen und uns unser unter

Einleitung des Bandherausgebers

Pkt. R. R. / R. Reg. R. / Rh. r. Rel. / Relig. / Rlg. relig. R. Röm. Schi. Schl. Schr. s. si. sr. S. s S. s. s. / s s. Sim. S. sond. Steph. / St. + S. T. Tr. üb. übergeg. üb. / übg. u. u. uns. unt.

untergegangen Urtheil Vater Verderben verdienen Verfahren Vergebung Verhältnis Versammlung verschieden Verschiedenheit vollkommen vom von vor vorgelesen Vorsatz wahr Wahrheit weil welche Welt werden Werke Wesen Willen wir wodurch wohin Worte wovon wunderthätig Zöllner Zuruf zusammen zwischen

untergeg. U. V. V. verd. V. V. V. V. versch. V. vollk. v. v. v. vorgeles. V. w. W. w. / l lche. W. w ¯ . / werd. W. Wes. W. w ´ wod. woh. W. wov. wunderth. / wundert. Z. Z. zus. zw.

Editorischer Bericht

XXXIX

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf Matthisson-Nachschriften: 31. 12. 1809 04. 02. 1810 11. 02. 1810 25. 02. 1810 04. 03. 1810 20. 04. 1810 16. 05. 1810 31. 05. 1810 03. 06. 1810 10. 06. 1810 11. 06. 1810 17. 06. 1810 24. 06. 1810 22. 07. 1810 19. 08. 1810 26. 08. 1810 02. 09. 1810 30. 09. 1810 07. 10. 1810 14. 10. 1810 28. 10. 1810 11. 11. 1810 18. 11. 1810 25. 11. 1810 02. 12. 1810 09. 12. 1810 25. 12. 1810 01. 01. 1811 06. 01. 1811 20. 01. 1811 03. 02. 1811 17. 02. 1811 03. 03. 1811

nachm. vorm. nachm. nachm. vorm. vorm. vorm. nachm. nachm. vorm. nachm. nachm. vorm. vorm. nachm. nachm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. nachm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

17. 03. 1811 31. 03. 1811 28. 04. 1811 08. 05. 1811 12. 05. 1811 26. 05. 1811 03. 06. 1811 09. 06. 1811 23. 06. 1811 07. 07. 1811 18. 08. 1811 01. 09. 1811 13. 10. 1811 27. 10. 1811 10. 11. 1811 08. 12. 1811 22. 12. 1811 25. 12. 1811 05. 01. 1812 28. 03. 1812 02. 08. 1812 22. 11. 1812 16. 04. 1813 19. 04. 1813 09. 05. 1813 12. 05. 1813 12. 09. 1813 10. 10. 1813 07. 11. 1813 02. 01. 1814 19. 06. 1814 03. 07. 1814 12. 03. 1815

vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

XL

Einleitung des Bandherausgebers

C. Pischon-Predigtnachschriften Friedrich August Pischon (geboren 1785; gestorben 1857) studierte Theologie in Halle an der Saale, wurde am 2. Oktober 1810 ordiniert und war reformierter Prediger an der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin vom 9. Dezember 1810 bis 28. Mai 1815 zur Hilfeleistung für Schleiermacher. Er heiratete Karoline Deibel am 12. August 1812 (Schleiermacher hielt die Traupredigt und war am 31. Mai 1813 Taufzeuge des ersten Kindes). Ab 1815 war er Prediger in Berlin am Friedrichs-Waisenhaus, ab 1823 Prediger an St. Nikolai (zuerst 3. Diakon, dann ab 1831 Archidiakon). Als Nachschreiber von Predigten Schleiermachers war Pischon von 1812 bis 1815 tätig, wobei für das Jahr 1813 keine Nachschriften von ihm vorliegen.

a. Quellenbeschreibung Im Archiv der BBAW befinden sich unter der Nummer 592 des Schleiermacher-Nachlasses zwölf Predigten aus dem Jahr 1812. Sie liegen in einem kleinen gebundenen Buch vor, welches Pischon für Schleiermacher zu seinem Geburtstag am 21. November 1812 anfertigte und ihm überreichte.59 Das Büchlein ist durchgängig von Pischon handgeschrieben, mit Titelblatt und Inhaltsverzeichnis versehen sowie paginiert. Die Texte sind in Reinschrift wiedergegeben, der Aufbau stringent mit Predigttitel, Predigttext und Datum immer auf dem rechten Blatt. Der Text enthält kaum Abbreviaturen, weist jedoch hin und wieder kleinere Lücken auf. Einige kleine Sonderzeichen, davon auch Fragezeichen, sind im Text auszumachen, dessen Funktion unklar ist. Möglicherweise nutzte Pischon sie zur Gedankenstütze und/oder um unsichere Stellen zu markieren. Zusätze fremder Hand sind nicht enthalten. Die Mappe 35 des Schleiermacher-Archivs (Staatsbibliothek zu Berlin, Depositum 42a) enthält Predigtnachschrifen zum 6. und 25. Dezember 1812. Die 23 Blätter sind teilweise im Falz geklebt, andere sind lose Doppelblätter. Den beiden Predigten ist ein Titelblatt vorangestellt, welches von Sydow mit Notizen und Zusätzen versehen wurde. Die Predigt vom 25. Dezember 1812 ist unvollendet und mit „Dritte Predigt“ überschrieben, die Predigt vom 6. Dezember 1812 ist mit „Erste Predigt“ überschrieben, so dass eine zweite Predigt, wohl die vom 20. Dezember 1812, verloren gegangen ist. Beide Texte sind sauber verfasst und verfügen über eine Überschrift bestehend aus der beschriebenen Nummerierung sowie Thema, Datum und Predigt59

Vgl. oben S. XIII

Editorischer Bericht

XLI

text. Einige wenige Zusätze von Schleiermachers Hand sind in der Predigt vom 6. Dezember enthalten.60 Weitere elf Predigten Pischons befinden sich in der Mappe 36 des Schleiermacher-Archivs. Die Predigten stammen aus den Jahren 1814 und 1815, sie sind auf 60 Blättern wiedergegeben. Redaktionelle Anmerkungen von Sydow mit rotbrauner Tinte sind bei folgenden Predigten zu finden: 18. Dezember 1814, 26. Dezember 1814, 15. Januar 1815, 29. Januar 1815, 12. Februar 1815, 24. März 1815, 26. März 1815, 9. April 1815, 15. Mai 1815 und 21. Mai 1815. Die einzige Ausnahme bildet die Predigtnachschrift vom 1. Januar 1815. Dass Sydow hier die bei den anderen Manuskripten benutzte Anmerkung „Noch nicht gedruckt“ nicht notiert hat, liegt wohl in der Tatsache begründet, dass es sich hierbei um die einzige unvollendete Nachschrift handelt. Die Nachschriften sind in sauberer Schrift verfasst und verfügen teilweise über Titelblätter. Pischon hat wenig Korrekturen oder Einfügungen vorgenommen. Abbreviaturen sind sehr selten. Eine Besonderheit bildet die Predigt vom 26. Dezember 1814, da auf den Blättern 7r–8r erhebliche Streichungen, Korrekturen und Ergänzungen von Schleiermacher gemacht wurden. Diese Eingriffe enden abrupt. Auf den folgenden Blättern befinden sich keine weiteren Zusätze Schleiermachers oder fremder Hand.

b. Editionsbesonderheiten In den Fällen, bei denen neben den Pischon-Nachschriften auch Matthisson-Nachschriften existieren, wurden die Texte Pischons als Leittexte genommen, weil die Texte Pischons in der Regel vollständiger sind und auch eine bessere Überlieferung der Predigten Schleiermachers bieten. Das Verhältnis zwischen Matthisson und Pischon ist schwer zu bestimmen, was auch mit der spärlichen Informationslage über die Person Matthisson zu tun hat. Die starke inhaltliche Nähe ihrer Predigtnachschriften und der Vermerk, dass Pischon andere Nachschriften besaß, zeigt, dass Pischon nicht nur seine eigenen Mitschriften verwendet hat. Auch wenn Pischon im Besitz von Manuskripten Matthissons war61 und diese wohl auch verwendet hat, so ist das Edieren seiner Texte aus den oben genannten Gründen sinnvoll. Kleinere Abweichungen bei den Predigtüberschriften wurden stillschweigend vereinheitlicht. Die von Pischon selten benutzten kleinen Zeichen im Text, Fragezeichen oder Sterne, die er zur Markierung 60 61

Vgl. SAr 35, Bl. 3v–4r In einem Manuskript steht neben der Überschrift der Vermerk: „(dies Manuscript gehört Pischon.)“. Vgl. SAr 27, Bl. 41r

XLII

Einleitung des Bandherausgebers

und als Gedankenstütze verwendete, werden nicht wiedergegeben. Die uneinheitliche Schreibweise von „ß“ und „ss“ wurde, sofern es keinen Fehler bedeutet, beibehalten. Das gilt auch für seine eigentümliche Art, die Wörter „größste“ oder „weißst“ zu schreiben. Die Neigung Pischons, durch auslaufende Striche am Ende eines Wortes Wortverbindungen zu schaffen, wird bei der Edition nicht zwingend als Zusammenschreibung behandelt. Die Predigthauptteile werden teilweise entgegen der Vorlage besonders abgesetzt, damit sie optisch deutlicher werden. Folgende Abbreviaturen wurden stillschweigend aufgelöst (Flexionsformen sind nicht gesondert aufgeführt): A. das die dieser eine Erlöser es Evangelist für

Anfechtung ds d. d. / dsr e. Erlö. e. Ev. / Evang. f.

heilig -lich mit Schleiermacher über und unseres von zwischen

heil. m. Schl. üb. u. uns. v. zw.

c. Leittext-Termine An folgenden Terminen basiert die Edition auf Pischon-Nachschriften: Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

19. 01. 1812 02. 02. 1812 16. 02. 1812 01. 03. 1812 15. 03. 1812 27. 03. 1812 29. 03. 1812 12. 04. 1812 07. 05. 1812 10. 05. 1812 21. 06. 1812 08. 11. 1812 06. 12. 1812

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. nachm. vorm. vorm. vorm. vorm.

Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am Am

* * *

25. 12. 1812 18. 12. 1814 26. 12. 1814 01. 01. 1815 15. 01. 1815 29. 01. 1815 12. 02. 1815 24. 03. 1815 26. 03. 1815 09. 04. 1815 15. 05. 1815 21. 05. 1815

vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm. vorm.

Editorischer Bericht

XLIII

Der vorliegende Band hat eine mehrjährige Entstehungsgeschichte, die ich seit Anfang des Jahres 2010 mitgestalten und beenden durfte. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Hilke Weiland, die mich stets liebevoll und nachsichtig unterstützte. Ich danke Simon Paschen für seine vertrauensvolle Übergabe des Bandes in meine Hände und seine Einführung in die Editionstätigkeit. Außerdem bedanke ich mich herzlich bei Prof. Dr. Dr. Günter Meckenstock, Leiter der Kieler Schleiermacher-Forschungsstelle, für seine fachliche und geduldige Unterstützung. Auch meinen Kolleginnen und den studentischen Hilfskräften der Forschungsstelle möchte ich ganz herzlich danken: Elisabeth Blumrich, Katja Kretschmar und Kirsten Maria Kunz halfen mir stets bei Fragen und Problemen und gaben mir wichtige Hinweise und Impulse. Merten Biehl beschaffte die Rezensionen der diesen Band betreffenden Predigten und nahm wichtige Korrekturarbeiten vor. Judith Ibrügger danke ich ebenfalls für ihre akribischen Korrekturarbeiten und ihre Mithilfe bei der Erstellung des Anhanges. Tobias Götze und Christoph Karn unterstützten mich besonders bei der Bearbeitung der Druckfahnen. Magdalena Klettner unternahm wichtige Formatierungs- und Rechercheaufgaben und war mir besonders bei der Durchsicht der Nachschriften behilflich. Des Weiteren war mir Rolf Langfeldt, Bibliothekar der Kieler Fachbibliothek Theologie, stets ein kompetenter Ansprechpartner bei Fragen zur Literatur und deren Beschaffung. Ihnen allen gehört mein herzlicher Dank. Kiel, im Oktober 2011

Patrick Weiland

Predigten 1809

Autograph Schleiermachers der Predigt vom 23. Juli 1809 vormittags, SN 58, Bl. 14r – Faksimile (Originalgröße)

Am 15. Januar 1809 vormittags Termin:

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr, Einführung der Städteordnung Ort: Domkirche zu Berlin Bibeltext: Röm 13,1–5 Textzeuge: Drucktext Schleiermachers; Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit, 1809, S. 1–29 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 1–13; 21844, S. 29–41 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 1–11 Vaterländische Predigten, Bd. 2, S. 55–67 Werke Schleiermachers, ed. Mulert, S. 429–442 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine 1

Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit. Eine Predigt von D. F. Schleiermacher. Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung 1809.| Vorerinnerung. 5

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Alle religiösen Feste haben ihre Vorbereitungen, längere oder kürzere; und so sollte auch von Seiten der christlichen Lehrvorträge die große bürgerliche Feier, der wir entgegensehn, sie ebenfalls haben. Sauber und reinlich wollen Feste begangen sein, aller Staub und Unrath werde vorher sorgfältig herausgethan aus dem Heiligthume. In dieser Hinsicht habe ich es nüzlich gehalten der folgenden Predigt eine größere Anzahl von Theilnehmern zu verschaffen, als sie haben konnte, da sie gesprochen ward, und gebe sie hier so treu, als es mir möglich war, wieder. Berlin den 22. Januar 1809.|

Es ist eine sehr weit verbreitete Meinung, daß es viele Zweige des menschlichen Handelns gebe, auf welche die Frömmigkeit keinen bedeutenden Einfluß hat. Ob einer sich auszeichne oder nicht in allerlei Erkenntniß und Kunst, ob einer eingeweiht sei oder nicht in die Feinheiten und anmuthigen Fertigkeiten des geselligen Lebens, das, meint man, hänge von Eigenschaften ab, welche eben sowol bei dem sich finden können, der sein Herz den Regungen der Frömmigkeit verschließt, als der es ihnen geöfnet hat. Ja Viele denken gewiß hinzu,

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Am 15. Januar 1809 vormittags

und glauben etwas eben so richtiges und noch allgemeineres zu sagen, auch ob einer dem Volk, dem er angehört, dem Vaterlande, das ihn genährt hat, wesentliche Dienste leisten könne oder nicht, damit sei es derselbe Fall. Und bestätiget scheint dies zu werden durch zwiefache Beispiele, von solchen einerseits, welche unläugbar außerordentliche Talente in Thätigkeit gesezt und bewundernswürdige Handlungen verrichtet haben im | Dienst des gemeinen Wesens, von nichts weniger als dem Geist der Frömmigkeit dabei getrieben, von solchen andrerseits, welche, indem sie ihr ganzes Leben der Frömmigkeit widmen, wenig darum bekümmert erscheinen, wie es um sie her zugehe in weltlichen Dingen, und in welchem Maaß ihr eignes Leben thätig hineingreife. Aber daß es sich hiemit nur nicht ganz anders verhalte, als diese Beispiele auszusagen scheinen! daß nur nicht jene außerordentlichen Gaben sehr zweideutig sind, und unter andern persönlichen Verhältnissen sich eben so leicht hätten zum Verderben des gemeinen Wesens geschäftig gezeigt! daß vorzüglich nur das nicht eine sehr unvollkommene Frömmigkeit ist, welche sich so zurükzieht von dem, was allen Menschen werth sein soll und heilig! So müssen wir wenigstens glauben, die wir uns Christen nennen. Denn für uns muß immer gültig bleiben der alte Wahlspruch, daß die Gottseligkeit zu allen Dingen nüz ist, und daß sie allein die Verheißung hat des zeitlichen und des ewigen Lebens. Und gewiß wird auch sie vorzüglich der Boden sein, auf welchem ächte Treue, wahrer Gehorsam und jede allgemeine Bürgertugend vorzüglich oder wol gar allein mit Sicherheit empor wachsen kann, welches eben in dieser Stunde der Andacht der Gegenstand sein soll für unsre vereinigte Aufmerksamkeit. | Text. Röm. 13, 1–5. Jedermann sei unterthan der Obrigkeit die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott geordnet. Wer sich nun wider die Obrigkeit sezet, der widerstrebet Gottes Ordnung. Die aber widerstreben, werden über sich ein Urtheil empfangen. Denn die Gewaltigen sind nicht den guten Werken, sondern den bösen zu fürchten. Willst du dich aber nicht fürchten vor der Obrigkeit, so thue Gutes, so wirst du Lob von derselbigen haben. Denn sie ist Gottes Dienerin, dir zu gut. Thust du aber böses, so fürchte dich. Denn sie trägt das Schwerdt nicht umsonst; sie ist Gottes Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den der böses thut. So ist nun nothwendig, daß ihr nicht allein um der Strafe willen unterthan seid1, sondern auch um des Gewissens willen. |

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So ist unstreitig hier Luthers Uebersezung zu berichtigen.

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Über Röm 13,1–5

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Wohl uns, meine Freunde, und wir wollen Gott dafür danken, daß wir nicht unter diejenigen gehören, denen gleich bei den ersten unter den gelesenen Schriftworten einfallen kann, das ist eine harte Rede, wer mag sie fassen. Denn freilich, wo ein Volk sich beuget unter einer nur durch die Macht der Waffen oder durch die Gewalt gebietender Umstände oder durch inneren Frevel aufgedrungenen Obrigkeit, vielleicht gar von fremdem Stamm und Geschlecht, die also auch nicht einerlei Sinn und Maaß und Einsicht haben kann mit ihrem Volke, da mag wohl mancher denken, daß freilich auch diese Obrigkeit von Gott geordnet ist wie alles, aber ob sie nicht vielleicht nur so geordnet sei, wie er auch schwere Uebel und Strafen verhängt über die Völker, unter denen sie sich zwar beugen und zur Erkenntniß ihrer Sünden gelangen, deren Dauer sie aber auch suchen sollen durch Anstrengung aller ihrer Kräfte zu verkürzen? Wohl uns, sage ich, daß wir nicht nöthig haben solche Fragen zu beantworten, und solche Zweifel über die Worte der Schrift uns aufzulösen! Das Glük ist uns geworden, und wir dürfen sagen in vieler Hinsicht über unser Verdienst und Würdigkeit ist es uns geworden, in dieser schweren gefahrvollen Zeit angehörig zu bleiben einer Obrigkeit die offenbar nach dem überall waltenden göttlichen Gesez uns geordnet ist | aus einem heimischen lange geehrten seit Jahrhunderten schon durch ein gegenseitiges Band treuer Liebe mit den Völkern dieses Landes verbundenen Geschlecht, das uns oft glänzende und herrlich ausgestattete, größtentheils milde und weise, immer wohlmeinende und gerechte Herrscher gegeben hat. Wohlan denn, so laßt uns der theuern göttlichen Gabe uns werth machen, laßt uns immer

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in dem richtigen, des Christen allein würdigen Verhältniß zu unserer Obrigkeit 30

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leben. Indem ich euch dieses darzustellen suche, halte ich mich vorzüglich an die lezten unter den verlesenen Schriftworten, in denen der Apostel selbst alles vorher gesagte zusammenfaßt, und zeige aus denselben Erstlich, Wie ganz unanständig es dem Christen ist, um der Strafe willen unterthan zu sein, und Zweitens, Wie es ihm natürlich und nothwendig ist, sich um des Gewissens willen zu unterwerfen. I. Nur um der Strafe willen unterthan sein, ist des Frommen gänzlich unwürdig, zunächst schon darum, weil sich kein anderer Bewegungsgrund dazu denken läßt, als die Furcht. Denn um der Strafe | willen sich unterwerfen, das heißt ja nur die Uebel vermeiden wollen, welche dem offenbar werdenden Ungehorsam gesezt sind; und

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wer allein um der Strafe willen sich unterwirft, der würde sich nicht unterwerfen, wenn jene Uebel nicht wären. Er thut also eigentlich was er nicht will; und wer nur um ein Uebel zu vermeiden thut was er nicht will, und unterläßt was er gern thäte, der handelt, so sagen wir alle, aus Furcht. So wie nun die heftigen Leidenschaften das betäubende schnell tödtende Gift sind für alles bessere und höhere, so ist die Furcht das langsam aufreibende, entkräftende, abzehrende; und der Fromme kann unmöglich der Furcht in sich einen solchen Raum lassen, weil die Frömmigkeit selbst dabei nicht bestehen kann. Denn das Wesen der Frömmigkeit ist Selbstständigkeit und fester Muth. Gott nemlich mehr gehorchen als sich jemals von Menschen überreden lassen, dem einmal erkannten Gottes Willen treu bleiben gegen alle Lokkungen und troz aller Gefahren, unausgesezt dem Guten nachstreben, was auch dort unangenehmes schrekke und drohe, das liegt ihm ob, dazu muß er sich auf alle Weise tüchtig zu erhalten suchen. Wer sich nun einen solchen Lebensweg vorgezeichnet hat, wie sollte es dem doch möglich sein, auf einem so großen und wichtigen Gebiete, wie un|sere bürgerlichen Verhältnisse und Ordnungen umfassen, in einem ganz andern Sinne zu handeln, nur da nicht danach zu streben daß er sich eine Ueberzeugung des rechten erwerbe, der er dann unverhalten folgen könne, daß ein Gefühl der Lust und Liebe sich in ihm entwikle, von dem er sich dann leiten lasse, sondern hier immer nur auf die Uebel zu sehn, die ihm vorgehalten werden, und sein Thun danach abzumessen wie er sie vermeide auf die leichteste Weise und um den geringsten Preis? Und wenn es ihm möglich wäre, wie sollte es wol geschehen können, ohne daß er Schaden litte an der Gesinnung selbst? Wer in einem solchen Umfang die Gewöhnung annimmt, nur den Uebeln der Strafe entgehen zu wollen, der wird sich gewiß auch im allgemeinen gewöhnen allmählig die Uebel überhaupt zu scheuen; wer da gelernt hat von dem Geist der Geseze abzudingen und nur dem Buchstaben Genugthuung zu bieten, der wird nur zu leicht auch anderswo, denn voll ist von solcher Art Täuschungen das menschliche Herz und betrügt immerfort sich selbst, zumal wenn etwas in Gefahr kommt, woran es besonders hängt, denselben gefährlichen Handel, vielleicht ohne es sich selbst bewußt zu sein, auch mit den Gesezen treiben wollen, die ihm sein eignes Gewissen vorschreibt. Und wo bleibt dann jene tapfere Gesinnung, jene muthige Selbstständig|keit, wenn der Mensch sich so verwikeln läßt in die Neze der Welt? Das Wesen der Frömmigkeit, wie wir wissen, ist ferner auch Liebe, und wie von dieser gesagt wird, daß sie, wo sie vollkommen 11–12 Vgl. Apg 5,29

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geworden ist, die Furcht austreibt, so ist es auch wiederum nicht möglich, daß sie selbst irgend bestehe und gedeihe, wo die Furcht auf einem so großen Gebiete mächtig ist, und so viele Handlungen des Menschen beherrscht. Betrachtet auch nur diejenigen, die nur aus Furcht um der Strafe willen, den Ordnungen des Volkes unterthan sind, dem sie angehören. Läßt sich wol schon eben dieses denken, ohne einen Mangel an Liebe, in welchem der Fromme sich unmöglich gefallen kann? Wie? was mit der Glükseligkeit so Vieler aufs innigste verbunden ist, so daß es sie gewiß auf das herrlichste fördert, wenn es gut eingerichtet ist, aber eben so gewiß auch sie auf das kränkendste hemmt und auf das gewaltsamste stört, wenn schlecht, das sollte ihn nicht anders bewegen, als nur in so fern es dem innern Feinde des allgemeinen Wohls dem freventlichen Uebertreter mit Strafen droht? Und wenn ihr sie genauer versucht, werdet ihr sie auch nicht anders finden. Lieblose Menschen sind es größtentheils, gleichgültig gegen alles, was nicht unmittelbar entweder in den Kreis ihres persönlichen Daseins eingreift, oder für irgend | eine besondere Lust oder Neigung, der sie sich hingegeben haben, einen Werth hat, von allem edleren und größeren geschieden, und nur beschränkt auf die gemeinsten Dinge. Und wenn es bessere unter ihnen giebt, wie man allerdings sagen kann, die nur durch Irrthum auf irgend einer Seite, um einer abweichenden Ueberzeugung willen, sich ausgeschlossen haben von der innigsten Theilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten, und sich nun genöthiget glauben, mit aller Liebe die ihnen einwohnt, sich zurükzuziehen auf das engere, in sich abgeschlossene Gebiet des häuslichen Lebens; bestätigen nicht auch diese das eben gesagte? Wer erkennt nicht den Werth der häuslichen Verbindungen? wer weiß es nicht, wieviel sie dem Herzen sind? Aber laßt uns auch gestehen, sie sollen den nicht ganz für sich nehmen, nicht ganz sein Leben ausfüllen, der in sich Kraft fühlt und Beruf zu einer ausgebreiteten Wirksamkeit, und die muß jeder fühlen, der auch nur denken kann den Gedanken Vaterland. Wird nun die auf das größere angewiesene Liebe gewaltsam zusammengedrängt in einen engern Raum, ermangelt sie der gesunden und natürlichen Nahrung, nemlich einer frischen, nach vielen Seiten gerichteten Thätigkeit, wird vielmehr von diesem größeren Gebiete aus, das Gemüth nur durch Furcht zurükhaltend bewegt, so muß sie kränkeln. Um nun sich selbst zu | genießen, nährt sie sich größtentheils von künstlichen Aufregungen, und verschwimmt allmählig in ein weichliches trübseliges Wesen, in eine krankhafte Empfindelei. Das Wesen der Frömmigkeit endlich ist Freiheit. Zu der himmlischen Freiheit der Kinder Gottes sind wir berufen; Furcht aber ist Knechtschaft immerdar. Das ist unsere Freiheit, daß auch kein Gesez 40–41 Vgl. Gal 5,13

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Gottes uns fremd ist oder nur ein äußerlicher Zwang, sondern daß die innige Zustimmung unseres Gewissens zu ihnen allen, die heilige Lust ihnen nachzukommen aus allen Kräften uns das wahrhaftige Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind. Und bei so großem Beruf, bei so herrlichem freien Leben, sollten wir es uns gestatten, uns einem menschlichen Gesez zu unterwerfen nur aus Furcht? Und wir sollten zugleich sein können frei von dem Buchstaben jedes göttlichen Gesezes durch den Sohn, der uns frei macht, und unterthan einem menschlichen Buchstaben durch die Furcht? Auch können wir es nicht. Ich fodere euch alle auf, die ihr irgend einmal in einer unbewahrten Stunde von jener erniedrigenden Gemüthsbewegung der Furcht euch zu irgend etwas habt treiben lassen; legt selbst ein ehrliches Zeugniß ab, konntet ihr wol in dem Augenblik, wo ihr so handeltet, das erfrischende Bewußtsein Gottes in eurer Brust lebendig bewahren? konn|tet ihr, was wir den Umgang des Herzens mit Gott nennen, dabei genießen, und mußtet euch nicht vielmehr vor ihm verbergen tiefer und mit schlechterem Gewissen, als Adam? Wenn nun gar diese unglükliche Verirrung zum gewohnten Zustande wird, unmöglich kann sich dann das Herz seines Gottes und Heilandes erfreuen! unmöglich kann es dann in der Freiheit seiner Kinder fröhlich sein und stark! Darum empfahl der Apostel sogar denen, die das Unglük hatten, Sklaven zu sein und in persönliche Knechtschaft verkauft, auch sie sollten suchen aus der Quelle der Religion einen andern Antrieb zum Gehorsam zu schöpfen als die Furcht. Darum haben von jeher so viele Fromme, wenn ihnen das Unglük drohte, ihres köstlichsten Gutes, der Freiheit des Gewissens, beraubt zu werden, wenn ihnen aufgelegt wurde, was sie ihrer Ueberzeugung zu Folge nur aus Furcht würden gethan haben, oder wenn sie durch schwere Drohungen sollten gehindert werden dasjenige zu thun, wozu ihr Gewissen sie unwiderstehlich hintrieb, auf ihre Weise zu dienen ihrem Gott, ehe denn sie sich zu Knechten der Furcht hingegeben hätten, lieber den Stab der Wanderung ergriffen, und im Stich gelassen Hab und Gut, heimische Gegend, Haus der Väter, alles, was dem Menschen am theuersten ist. Und so geziemt es gewiß allen denen, die einen gleichen | Grund des Glaubens bekennen, so unanständig ist es ihnen, sich irgend leiten zu lassen durch die Furcht. Aber auch deshalb dürfen sie nicht um der Strafe willen unterthan sein, weil dies niemals abgehen kann ohne Heuchelei, und dem Geist der Frömmigkeit, der Aufrichtigkeit und Wahrheit in sich schließt und einfaches Wesen, nichts so sehr kann zuwider sein, als Lug und Verstellung. Dies aber ist die Gesinnung, welche unter allen 21–24 Vgl. Eph 6,5–8

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Völkern, in deren Adern deutsches Blut wallet, alle Theile der Gesellschaft, die nur nicht in den bedauernswürdigsten Zustand der Abhängigkeit versunken sind, beherrscht, und wir wollen froh sein, daß es so ist und dies ja unter uns aufrecht halten und immer mehr befestigen, daß Furcht niemals keiner eingestehn will, sondern wo sie ihn angewandelt hat, sie lieber sich selbst abläugnen möchte und seiner Handlungsweise einen andern Anstrich geben, weil ja Furchtsamkeit entehrt, und wer sie offenkundig vor sich trägt, sich jeder schmählichen Behandlung eines jeden aussezt. Allein, werdet ihr sagen, grade in dem Verhältniß der Unterthanen zu der Obrigkeit werde eine Ausnahme gemacht von jenem allgemeinen Gefühl, und dies allein werde nicht selten eingestanden, daß man den Gesezen nur nachlebe, aus | Furcht vor der Strafe. Leider, nur wünschte ich nicht, daß aus dem Kreise unserer Erfahrung diese Bemerkung entnommen sei! Denn warlich, nicht da geschieht dieses, wo eine glükliche Eintracht zwischen beiden Theilen durchaus herrscht, sondern nur wo, sei es im Ganzen oder in einzelnen Theilen, die Unterthanen glauben in einem heimlichen Kriege begriffen zu sein gegen die Obrigkeit, in welchem es erlaubt ist zu überlisten, und dann auch nicht unehrenvoll sich vor einer größern Macht im rechten Augenblik zurükzuziehn; und ein ofnes Eingeständniß, daß man nur aus Furcht handle oder unterlasse, ist allemal schon der Keim eines solchen verderblichen Zustandes. Im Ganzen behandeln aber immer alle Völker das Band, welches sie mit ihrer Obrigkeit verbindet, als ein Band der Liebe. Ja wo auch eines seufzte unter dem härtesten Joche der Tirannei, wie die Geschichte davon traurige Beispiele genug aufstellt, auch da wird dies nicht eingestanden in offenen Verhandlungen, daß nur die Furcht es sei die das Szepter führt, sondern wie der Tirann Rüksichten lügt auf das gemeine Wohl, und Liebe heuchelt den Unterthanen, so auch lügt und heuchelt das Volk Gefühle der Liebe und Ehrerbietung. Und wiewol es das bejammernswürdigste Elend ist, wenn ein Volk in seiner Gesammt|heit sich bequemen muß zu dieser tiefsten Herabwürdigung: so beweiset auch dieses nur um so deutlicher, wie tief das Gefühl eingeprägt ist der menschlichen Natur, daß Herrschende und Beherrschte einander Liebe schuldig sind und nicht Furcht. Darum werden auch unter gesitteten Völkern Gelegenheiten gerne ergriffen und Feierlichkeiten angeordnet, um den Herrschern auch auf eine ausgezeichnete Weise bisweilen die Bezeugungen der Liebe und Ehrfurcht der Völker darzubringen. Wem nun beide Gefühle so heilig sind, daß er auch Gotte nichts größeres zu opfern weiß in seinem Herzen, der sollte den Gedanken ertragen können, beide vor Menschen zu heu9 Behandlung] Behandhandlung

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cheln, wo er sie nicht fühlt? Wenn nun gar Schiksale vorangegangen sind wie die unsrigen, wenn das theure Band lange Zeit ist gewissermaßen gelöset gewesen, und es schlägt endlich die langgewünschte Stunde der Wiedervereinigung, wo alles vermißte zurükkehrt, alles liebende sich aufs engste verbindet, und es strömt lauter aus als jemals das Jauchzen der Freude eines wahrhaft seine Herrscher liebenden und ehrenden Volkes in frommen und frohen Ergießungen aller Art – so lautere und schöne Freuden, denen wir entgegensehen! – und es könnte Einige unter uns geben, in denen das nicht Wahrheit wäre, in denen keine | wahre Theilnahme sich regte, keine Liebe und Freude, sondern nur Widerwillen und Furcht, wie es wol nicht möglich ist, sondern nur um zu sagen wie verächtlich die Heuchelei ist, spreche ich es aus: sie müßten, wenn sie noch einige Achtung hätten für sich selbst, lieber als sie sich vergeblich in das innerste ihrer Gemächer verbergen, denn ihre Stimme würde doch mit eingerechnet in die allgemeine, lieber als sie mitten unter einem glüklichen und freudenvollen Volk in der feierlichsten Stunde als mißmüthige Heuchler sich fühlen, sie müßten, ehe die Stunde noch schlägt, diese Gegend räumen und dies Land, und sich andere Beherrscher suchen und andere Geseze und ein anderes Volk, unter dem sie, wenn es zu ähnlicher Freude aufgefodert ist und ähnliche Liebe beweiset, auch Theil daran nehmen können von Herzen und ohne Heuchelei. II. So unnatürlich es aber dem Frommen ist, unterthan zu sein um der Strafe willen, eben so natürlich und nothwendig ist es ihm sich zu unterwerfen um des Gewissens willen, um der Ueberzeugung willen, daß ihm das gebührt, daß es recht ist vor Gott, daß es wie alles rechte den innersten Bedürfnissen seiner Natur angemessen ist. In ihm ist ein Gefühl, welches ihm alles ehrwürdig | macht, was den Stempel göttlicher Ordnungen trägt, und nichts trägt ihn wol bestimmter unter allen menschlichen Dingen, als eben das Verhältniß zwischen den Völkern und ihren Hirten, durch welches ihnen Gerechtigkeit, Sicherheit und Ordnung zugetheilt und ihre Kräfte verstärkt und erfolgreich zu einem gemeinsamen Ziel gelenkt werden. In ihm ist ein Gefühl, welches ihn mächtig hinzieht zu jedem Bande der Liebe, und keines vereinigt ihn inniger und bestimmter mit mehreren, keines giebt ihm mehr und sezt seine Kräfte in eine ausgebreitetere Thätigkeit als dieses Band der geselligen Ordnung. Er überzeugt sich, daß er ohne dasselbe seine Bestimmung nicht erreichen kann, er überzeugt sich, daß durch eine geheimnißvolle Uebereinstimmung beide Theile einander angehören, und in dem natürlichen Lauf der Dinge keine Obrigkeit sich im wesentlichen entfernt von dem Geist ihres Volkes: und eben dieses heißt, er ist ihr unterthan um des Gewissens willen. Viel-

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leicht nun könnte man meinen, diese Hingebung unterscheide sich von jener Unterwerfung um der Strafe willen nur auf eine innerliche Art, so daß ein solcher freilich aus einem andern und wol höheren Bewegungsgrund handeln, daß aber doch, wenn jenen nur eine wohlangebrachte Furcht stark genug triebe, beide | immer ganz dasselbige thun würden. Aber wie unrichtig muß sich das jedem zeigen, der auch nur oberflächlich aufmerkt! wie deutlich müssen wir gleich inne werden, daß Gewissenhaftigkeit und Liebe sich nirgend durch etwas anderes ersezen lassen! Ja niemand wird es sich verhehlen können, daß auf eine ganz andere Weise der um des Gewissens willen unterworfene der Obrigkeit zugethan ist mit seiner ganzen Wirksamkeit nach außen, und mit der innern und stillen Thätigkeit des Nachdenkens und der Betrachtung. Zuerst auf eine ganz andere und fruchtbarere Weise ist der um des Gewissens willen unterworfene der Obrigkeit zugethan mit seiner ganzen Wirksamkeit nach außen. Schon dadurch gleich, daß er in einem ganz verschiedenen Sinne verrichtet und beobachtet, was ihm aufgetragen wird. Wer nur aus Furcht unterthan ist, der sieht auch nur darauf, daß er die Strafe vermeide, und so wenig als möglich möchte er gern von dem eigenen Wege, den er geht, abweichen, um diesen Zwek zu erreichen. Ob dem Geist der Geseze Genüge geschieht, ob der Zwek derselben wirklich erreicht wird, das ist was ihn wenig kümmert, wenn nur er nicht kann in Anspruch genommen werden, und allen Unannehmlichkeiten sicher | entgeht. Darum ist sein ganzes Bestreben, mit dem Schein vorzüglich alles auszurichten, und soviel er kann, leere Schattenbilder der Handlungen aufzustellen, welche die Obrigkeit fodert. Wie wenig auf diesem Wege wirklich ausgerichtet wird für das Ganze, und wie das gewiß schlechte Bürger sind, die so verfahren, das wissen wir alle, denen gesagt ist, daß der Buchstabe tödtet und nur der Geist lebendig macht. Aber das Gewissen des Besseren kann auch durch einen solchen Gehorsam unmöglich befriediget werden! Sondern weil er der Obrigkeit von Herzen zugethan ist, will er auch, so viel an ihm ist, daß das wirklich geschehe, was sie beschlossen hat; er macht ihre Sache zu seiner eignen, und ist darin thätig mit demselben Eifer mit der gleichen Lust und Liebe; er ist darauf bedacht so vollständig als möglich dem Gesez zu genügen, und strengt sich an aufs beste das aufgegebene zu verrichten. Und ein solches Thun allein ist wahrer Gehorsam auf dem der Segen ächter Bürgertreue ruhen kann. Eben so sehr aber unterscheidet sich wer um des Gewissens willen unterthan ist dadurch, daß er auch vermittelst seines Einflusses auf 29–30 Vgl. 2Kor 3,6

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Andere wirksam ist für die gemeine Sache. Jene Knechte der Furcht kümmern sich natürlich wenig darum, was die übrigen | thun; oder wenn ja, so thun sie es nur um schlechte Beispiele zu sammeln und zeigen zu können, daß Andere nicht besser sind als sie, oder um auch die Handlungsweise der Besseren in einzelnen Fällen in einem verdächtigen Lichte darzustellen. Dies abgerechnet finden wir immer diejenigen, die nur um der Strafe willen unterthan sind, in einer sträflichen Gleichgültigkeit gegen die bürgerlichen Gesinnungen und das bürgerliche Betragen Anderer, welche allein schon von der übelsten Vorbedeutung ist für das Schiksal einer Gesellschaft. Wehe dem Staat, wo Tugend und Laster verborgen sein können! wo sich nicht laut ungehemmt und unpartheiisch die Stimme des Lobes hören läßt über diejenigen, die sich wohl verdient gemacht haben, weniger um die Guten und Kräftigen aufzumuntern und zu belohnen, als um den Schwachen und Beschränkten, die es aber wohl meinen, zu zeigen, an wen sie sich anzuschließen haben! wo der unthätige, der unredliche, der gefährliche Bürger nicht deutlich und öffentlich bezeichnet umhergeht! wo nicht Schmach und Schande denjenigen trift, und härter schlägt, als der Arm des Gesezes ihn treffen kann, der in einem Zustande des Grolls und der Feindschaft lebt gegen die öffentliche Ordnung, der mit dem anstekkenden Gift gefährlicher Grundsäze | behaftet nur Unheil anzurichten sucht! Und diese öffentliche Stimme, die wahre Sicherheit für das Wohlergehn des Ganzen, die herrlichste Heilkraft in seiner eigenen Natur, von wem kann sie ausgehn, als von denen, die um des Gewissens willen unterthan sind der Obrigkeit? Das Gewissen läßt ihm nicht wehren, als die Stimme Gottes verachtet es alle menschliche Rüksichten. Es spendet auch unwillkührlich nach einem richtigen geläuterten Gefühl die Beweise der Achtung wie des Abscheues, und schweiget nicht. Und die in einem solchen Sinn die Sache der Obrigkeit und des gemeinen Wesens zu der ihrigen gemacht haben, werden unmöglich grade diese heilige Kraft ausschließen von ihrem Dienst. Fragen wir nun gar, wer wird dienstfertig und beflissen den Absichten der Obrigkeit entgegenkommen? wer wird es zu seinem Bestreben machen dieselben auch mittelbarer Weise so viel er nur kann zu befördern mit Anstrengung, mit Aufopferung? wer wird bei allen seinen eignen Unternehmungen und Geschäften, in seiner ganzen Lebensweise immer zuerst danach fragen, ob wol darin etwas unangemessenes ist für den gegenwärtigen Zustand des Ganzen, etwas widerstrebendes gegen die Richtung, welche ihm die Obrigkeit hie oder da zu geben suchte? Sehet zu, wie | wenig solche Fragen und Sorgen in die Seele dessen kommen können, der nur um der Strafe willen unterthan ist, wie sie aber den auszeichnen, der um des Gewissens willen,

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aus Gefühl und Ueberzeugung sich unterworfen hat. Seht wie dieser allein, nicht der Söldling, der wahre Diener der Obrigkeit ist, auf eine Art, wie jeder es sein kann und sein soll! Bedenket, daß wir nur durch einen solchen Sinn dauernd zu der Vereinigung der Kräfte gelangen können, die einem Volke Sicherheit gewährt und Größe. Allein auch bei dem besten Willen könnte dies nicht geleistet werden, wenn nicht eben so natürlich die um des Gewissens willen unterworfenen der Obrigkeit auch zugethan wären mit der stillen Thätigkeit des Nachdenkens. Zunächst indem sie die Anordnungen der Obrigkeit so viel davon auf ihren Wirkungskreis sich bezieht oder sonst dem Maaß ihrer Einsichten erreichbar ist, zu verstehen suchen. Auch das liegt denen nicht am Herzen, die nur um der Strafe willen unterthan sind. Nur darauf sehen sie neue Ordnungen und Einrichtungen an, wieviel sie ihnen etwa Störungen verursachen in ihrer gewohnten Lebensweise, wieviel Anstrengung und Aufopferung sie fodern, wie gut oder | schlecht vielleicht bisherige Gesezwidrigkeiten sich dabei werden forttreiben lassen oder nicht. Die aber um des Gewissens willen unterthan sind, denen ist daran gelegen in der Uebereinstimmung ihres Herzens und ihrer Einsichten mit der Obrigkeit zu bleiben; und wenn sie gut und vollkommen thun wollen was ihnen geboten ist, so müssen sie auch wissen wie es gemeint ist. Sehen wir nicht auch, daß jede im rechten Sinn handelnde Obrigkeit dieses Bestreben wünscht und ihm entgegenkommt? daß sie auf mancherlei Art das Volk in Kenntniß zu sezen sucht von den Gründen und Absichten dessen was sie ordnet? Und nächstdem daß wir das göttliche Gesez immer tiefer müssen suchen zu verstehn und zu durchdringen, giebt es etwas würdigeres für den Menschen, als daß er auch das Wesen und den Zusammenhang der menschlichen Geseze kenne, durch die sein Leben bestimmt wird? ist das nicht fast der Maaßstab der fortschreitenden Veredlung und Bildung eines Volkes überhaupt? Aber nur aus dem wolgemeinten Forschen und Nachdenken eines redlichen Herzens kann sie hervorgehn, nicht aus der Art wie die beschränkte Selbstsucht gleichgültig oder auch feindselig denkt und urtheilt. Aber freilich, wie es Niemanden möglich ist es allen Menschen und immer recht zu machen, so auch | der Obrigkeit nicht; und es kann nicht fehlen an solchen Fällen, wo auch des Wolmeinenden und nicht ganz Ununterrichteten erstes Gefühl Unzufriedenheit ist und Mißbilligung. Dann aber fängt der Bessere und Fromme damit an, daß er Ehre giebt dem Ehre gebührt, und die erste und höchste Ehre, welche die Obrigkeit zu fordern hat, ist Vertrauen in ihr Wohlmeinen 40 Vgl. Röm 13,7

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und ihre Einsicht. Darum ziemt es in solchen Fällen zuerst sich selbst zu fragen, ob man auch ein Recht habe zur Mißbilligung, ob sie nicht vielmehr vorzüglich zusammenhängt mit zurükgesezter Eitelkeit, mit gekränkter Selbstsucht, mit lange genährten Vorurtheilen, mit träger Anhänglichkeit an alte Gewöhnungen, mit unwürdiger Scheu vor Mühe und Anstrengung. So wendet gewiß, wer aus Gefühl und Ueberzeugung unterthan ist, zuerst seine Betrachtung auf sich selbst, weil es ihm am Herzen liegt sich rein zu halten von allem Unrecht, weil er nichts mehr wünscht als gehorchen zu können mit voller Zustimmung. Laßt uns gestehen, wie viel ungerechten Mißmuth würden wir uns selbst, wieviel unnüz erregte Bedenklichkeiten würden wir Anderen ersparen, wie oft würde der vorlaute Tadel statt herauszubrechen noch unausgesprochen zurükgehalten werden, wenn wir Alle immer so zu Werke gingen, wie es doch allein der | Pflicht gemäß ist und der Liebe! Wie leicht würde oft eine redliche Selbstprüfung hinreichen um vorgebliche Bedenklichkeiten zu lösen und aufkeimendes Mißvergnügen zu verscheuchen! Was aber dann noch übrig bleibt von abweichenden Meinungen und Einsichten, das kann so geläutert unmöglich anders als zum Wohl des Ganzen beitragen. Denn wer es so redlich meint und so strenge sich selbst und die Sache prüft, und so überall Vertrauen und Liebe zum Grunde legt, dem entwikkelt sich dann wol aus seinem stillen Nachdenken wieder die edelste Kraft, mit der er dem Ganzen dienen und zu Hülfe kommen kann, fruchtbare Wahrheiten nemlich, heilsame Winke, wol dargelegte Einsichten. Ein solcher nemlich, aber auch nur ein solcher, kann wol bisweilen dahin gelangen, wiewol zu keiner von den Verzweigungen der Obrigkeit gehörig, im Einzelnen richtiger zu urtheilen als sie. Was könnte aber ein gutgesinnter Bürger der Obrigkeit lieber darbringen als solche Einsichten! oder wie sollte es in einer wohleingerichteten Gesellschaft an Gelegenheit fehlen, die wohlgemeinte Gabe auch wirklich zu opfern, und was wahr und richtig ist, denen mitzutheilen, bei denen es mehr Frucht bringen kann, als bei dem der es ursprünglich gefunden hat! Vielmehr gehört dies un|ter die gesegnetsten der guten Werke für die jeder stets Lob zu erwarten hat. Dies ist die Treue, dies der Gehorsam, dies die Unterwerfung des Christen gegen seine Obrigkeit. Wir sehen daraus, daß wie auf der einen Seite alle menschlichen Ordnungen und Geseze eine feine Zucht sind und Zubereitung zur Gottseligkeit, so auf der andern Seite auch der Sinn der Gottesfurcht ihnen erst ihren vollen Werth, ihre rechte Kraft, ihr sicheres Gedeihen giebt. Laßt denn auch unsern frommen 4 Selbstsucht] Selbsucht

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Sinn vorzüglich auf diesen Gegenstand sich richten, laßt unter uns, o es wird uns ja so leicht gemacht vor Vielen! Frömmigkeit und Treue Hand in Hand gehn, und uns immer mehr bilden zu einem Volke, das da sei zugethan seinem Herrscher, einträchtig unter sich, sicher und stark in der Kraft jeder guten Gesinnung. Amen.

Am 31. März 1809 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Karfreitag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 10,17–18 Drucktext Schleiermachers; in: Magazin für Prediger 6.1, 1811, S. 204–208 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 778–781; 21844, S. 65–68 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 637–640 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine

Am Charfreytage. Nachmittags.

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Eingang. Aus Furcht des Todes sind die Menschen Knechte, so sehr, daß von Manchen sogar die unvernünftigen Geschöpfe beneidet werden wegen ihrer Unwissenheit des Todes. Nichts steht diesem niedern Sinne mehr entgegen als jener hohe, das Leben freywillig hinzugeben. Darum geziemte es dem Erlöser von der Knechtschaft, durch den größten Beweis der Freyheit uns anzuspornen, dem Oberhaupt einer freyen, geistigen Welt sein Recht zur Herrschaft durch freywilligen Tod zu bewähren. Von der Seite, wie er mit unserem Glauben und unsern Hoffnungen zusammenhängt, hat gewiß schon jeder den erhabenen Rathschluß Gottes, den wir heute feyern, betrachtet. Darum laßt uns jetzt von dem Tode Jesu Veranlassung nehmen, das Freywillige darin in seiner hohen Würde zu betrachten. Text. Joh. 10, 17. 18. Wenn auch nicht, indem Christus sagt: ich habe Macht es wiederzunehmen, doch indem er sagt: ich habe Macht mein Leben zu lassen, redet er als der Anfänger und Vollender unseres Glaubens, als das Vorbild, dem wir nachfolgen sollen. Wenn er nun dieses nicht nur als ein Gebot seines Vaters aufstellt, sondern auch als eine Ursache seiner Liebe und als einen Ruhm, so laßt uns sehen: Wie es auch für uns ein Ruhm ist und ein Vorzug, wenn wir Macht haben, unser Leben zu lassen. 19 Vgl. Hebr 12,2

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Nicht von der Möglichkeit ist dabey die Rede, willkührlich das Leben zu enden, welche den Menschen von den Thieren unterscheidet, auch nicht von dem zweydeutigen Muth, es wirklich zu lassen, um den Kelch des Leidens oder der | Schande nicht bis auf die Hefen zu leeren; sondern von der Kraft, welche wir als Christen in uns fühlen sollen, um des Guten willen, wofür wir leben, auch wie Christus das Leben zu lassen. Dieses Bewußtseyn ist ein so hoher Vorzug: Erstlich, weil nichts so sehr als dieses uns über alle Gewalt des Irdischen erhebt. Der Wechsel des Lebens, wie er uns Angenehmes und Erfreuliches zuführt, droht uns auch immer allerley Verlust, und jeder ist um so schmerzlicher und demüthigender, wenn wir uns bewußt sind, daß wir freywillig das Verlorene nie würden hingegeben haben. Einige nun machen ihre Rechnung und begnügen sich, wenn sie einigermaßen das Verlorene aufrechnen können gegen das Gewonnene. Aber müssen sie nicht fühlen, daß es immer in fremder Hand steht, auf welche Seite das Uebergewicht sich neigen soll, und muß nicht auch die beste Rechenschaft, die sie sich ablegen können, von einem demüthigenden Gefühl der Abhängigkeit begleitet seyn? Andere wiegen im voraus ab, rechnen vorsichtig aus, lassen nach von ihren Absichten und Entschlüssen, um sich so lange als möglich den Besitz der theuer erworbenen Lebensgüter zu erhalten. Müssen diese nicht gestehen, daß sie die Rechnung ihres Lebens nicht in ihrer Gewalt haben und immer anderwärts hin geführt werden, als sie wollen? Es gibt nur die eine Sicherheit, daß der Mensch einmal für alle, sobald er eine feste Richtung für sein Leben genommen hat, sich entschließe, auch das Leben selbst, den Inbegriff aller jener einzelnen Güter, lieber fahren zu lassen, als von jener abzuweichen; und daß er sich also von dem Augenblick an, wo er sich einem Berufe weiht, auch der Macht immer bewußt sey, sein Leben zu lassen. In diesem Gefühl der Entsagung ist ihm dann alles, was er noch nicht verliert, ein Gewinn, und jeder Verlust, den ihm die Treue in seinem Beruf zuzieht, eine freywillige Hingebung, und bey jedem zufälligen fühlt er, daß dem, der etwas hat, was ihm theurer ist als das Leben selbst, nicht zieme, sich weichlichem Schmerz über ein | einzelnes Gut des Lebens zu überlassen. Nur so können wir uns frey fühlen, und freyer als wenn so viel irdische Hülfsmittel in unserer Gewalt wären, daß uns keine Gefahr drohen könnte. Das sehen wir am herrlichsten an Christo. Wenn er sich umgeben hätte mit den himmlischen Heerschaaren und so den Händen seiner Feinde entgangen wäre, er würde uns nicht so erhaben erscheinen über die irdische Gewalt als jetzt, da er freywillig in den Tod geht.

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Zweytens. Weil nichts so sehr uns über das Unbedeutende unserer Werke beruhiget. Nach dem Erfolg sollen wir freylich den Werth unserer Thaten nicht schätzen, sondern glauben, daß auch Handlungen, die hierin ganz ungleich sind, vor Gott können gleich geachtet werden. Aber ein anderer Maßstab bleibt uns doch nicht übrig, als der der Anstrengung unserer Kräfte. Allein wie oft können wir uns des Gefühls nicht erwehren, auch da, wo wir eigentlich mit uns zufrieden zu seyn Ursache haben, daß bey noch größerer Anstrengung unserer Kräfte wir noch mehr hätten leisten können; und in diesem Widerspruch, scheint es, komme uns kein Urtheil darüber zu, ob es in der That, alles zusammengenommen, möglich gewesen sey, unsere Kräfte auf eine fruchtbare Weise mehr anzustrengen zu dem gegebenen Zweck. Wie oft auf der andern Seite beklagen wir uns, und auch nicht mit Unrecht, daß wir nicht auf unserm rechten Platz stehen, daß viele Kräfte, und vielleicht unsere edelsten und ausgebildetsten, gar nicht in Anspruch genommen werden, und ohne unsere Schuld ungenutzt bleiben; und so würden wir uns selbst Unrecht thun, wenn wir unsern Werth nur darnach schätzten. Woran also können wir uns halten, als an die Bereitwilligkeit, immer alle unsere Kräfte zu dem, was uns obliegt, in Thätigkeit zu setzen? und woran können wir uns dieser besser bewußt werden, als wenn wir in uns die Macht fühlen, auch das Leben lieber zu lassen, als entweder unthätig zu bleiben, oder unsere Kräfte zu andern Zwecken zu verwenden? Auch der Erlöser, welchen größe|ren Beweis gibt er uns von seinem unbegränzten Gehorsam, oder welchen könnten wir fordern, als daß er in den Tod ging, um den Willen seines Vaters zu erfüllen? Werden wir denn auch mit diesem Willen niemals in Anspruch genommen: so wird doch, wenn wir uns dessen mit Recht rühmen, uns wie ihn der Vater deßhalb lieben. Drittens. Weil nichts so sehr uns reinigen kann von dem Verdacht der Unlauterkeit unserer Bestrebungen. – Wir werden wohl Alle bekennen müssen, daß so wie das Böse uns nie ganz verläßt, so es auch wenig Bedeutendes in unserm Leben gibt, woran es nicht seinen Theil hätte. Nur zu oft werden wir es da noch spät gewahr, wo wir es am wenigsten suchten, nur zu oft mischt sich auch in das, was aus dem reinsten Triebe begonnen wurde, weiterhin auf irgend eine Weise Selbstsucht oder Eitelkeit. Je treuer wir uns beobachten, desto öfter werden wir dieß finden und uns also desto tiefer in Argwohn gegen uns selbst verlieren. Und doch gibt es keine dauernde Ruhe des Gemüths, keine Sicherheit des göttlichen Wohlgefallens, als in so fern wir ein einfältiges und lauteres Gewissen haben vor Gott! Woher nun können wir dieses schöpfen, als aus jener Macht, das Leben zu lassen? Was sich Unreines in unser Gutes mischt, muß doch irdische Güter

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zum Zweck haben. Daß wir nun die Anhänglichkeit an diese wenigstens immer bekämpfen, daß die Reinheit unseres Herzens wenigstens immer zunehmen muß, woher können wir uns dessen besser versichern, als wenn wir uns stark genug fühlen, nicht nur einzelne jener irdischen Güter, sondern den ganzen Inbegriff derselben um des Guten willen hinzugeben? So urtheilen wir über Andere, so dürfen wir auch über uns selbst urtheilen. Nichts wäscht jeden Vorwurf der Unreinigkeit reiner ab, als ein ächtes Märtyrerthum. Ja auch die ärgsten Feinde des Erlösers konnten ihm, als er nun wirklich in den Tod ging, keine unreinen Absichten mehr andichten. Wir sehen, wie wahr es ist, daß der Erlöser nur in so | fern uns zu sich erheben kann, als wir unser Kreuz auf uns nehmen und ihm nachfolgen, und daß der schönsten Segnungen seiner Gemeinschaft wir uns nur erfreuen können eben durch die Bereitwilligkeit, für ihn und für alles, was zu seinem Reiche gehört, zu leiden und zu sterben. Aber wer bürgt uns, daß das Bewußtseyn dieser Macht, unser Leben zu lassen, nicht falsch sey? Eben darum war dieß eine Betrachtung für diesen Tag vorzüglich geeignet. Unter dem Kreuze Christi gleichsam wird unser Herz uns hierüber nicht täuschen können. Hier findet jeder, nachdem er es bedarf, entweder die Ueberzeugung, daß er ein solcher ist, oder die Kraft, ein solcher zu werden; und das sey der Segen, den wir Alle von unserer heutigen Betrachtung davontragen. Schleiermacher.

12–13 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

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Am 23. Juli 1809 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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8. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Ps 12,2 Autograph Schleiermachers; SN 58, Bl. 14r Keine Keine Keine

Eingang. Unzufriedenheit, nachtheiliges davon ; sittliche eben so. Text. Ps 12, 2. Eigne sehr gewöhnliche Art. Im Ganzen kam es nicht, wohl in einzelnen Völkern. Thema. Vor dem Schaden dieser Meinung uns hüten. I. Wie unzulänglich die Gründe sind. 1. Wenn aus privaten Verhältnissen. 2. Wenn aus elegantem Unvermögen. II. Was entgegenzusezen. 1. Herumsehn. [a.] Andere Gegenden der Gesellschaft. [b.] Andere Theile des gemeinschaftlichen Berufs. [α.] Nicht um das fehlende träge fahren zu lassen. [β.] Sondern um zu wissen, daß es auch komen muß weil alles zusammenhängt. 2. Den Hörern empfehlen, bedenket daß wir in seinen Diensten sind. Dreifaltigkeitskirche den 23. Julius 1809

10 1.] korr. aus 2. 16 2.] korr. aus 1. 18 23.] 29. Schleiermacher hat hier versehentlich ein falsches Datum angegeben. Vgl. Einleitung, Punkt I.1.

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Am 31. Dezember 1809 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sonntag nach Weihnachten, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Keiner Nachschrift; SAr 25, Bl. 1r–2v; Matthisson Keine Keine Keine

Aus Schleyermachers Predigt. Am letzten Sonntag des Jahres 1809. Ewiges und Vergängliches im Leben.

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Was der Mensch beginnt, wird zerstört; aber die Gnade und Gerechtigkeit des Höchsten, die schaffen sich ein bleibendes und ewiges Reich. Nicht nur außer uns werden wir ihnen , auch in uns selbst wohnen sie und wir unterscheiden das Vergängliche und Ewige in unserm Thun. Ja was in Jedem die Gottes Gnade ist, das ist ewig, was die Gerechtigkeit des Herrn ist, das überdauert alle Zerstörung. Und wenn wir uns gestehn müssen; daß das, was wir in diesem Geiste thun für sich betrachtet doch auch vergänglich ist; so sehn wir zugleich, daß es aufgenommen wird ins Reich Gottes, fortwirkend und fortwährend. Auch die Thränen und Seufzer des Gerechten sind unverloren vor dem Herrn, noch gewisser wird das vor ihm bestehn, was der Fromme thut; denn es ist nicht Menschen, sondern Gottes Werk. Aber auch der Gottes Gnade und Gerechtigkeit nicht nur da, wo sie sich auch in äußerer Gestalt der Liebe des Wohlthuns offenbaren; sondern auch wo sie in der Gestalt der Gerichte erscheint, müssen wir uns bewußt werden. Wenn wir mit Hingebung unseres Daseyns streiten und kämpfen gegen das Böse, wenn wir die ewigen Rechte Gottes ausüben, wenn wir das Schlechte in seiner Blöße darstellen; dann wirket aus uns heraus die Gerechtigkeit Gottes und diese bleibt, und was in diesem Sinn ausgerichtet ist, wie wenig es ist, wir fühlen seine ewige Kraft und wir können und müssen ruhig seyn über sein Bleiben und seine Unvergänglichkeit. Und so beydes gegeneinander stellend die Nichtigkeit alles menschlichen Daseyns und Thuns, so bald es nur aufs vergängliche gestellt ist; und die Ewigkeit dessen, was das Wirken des göttlichen Geistes ist, laßt uns jetzt in dieser letzten 1 Schleyermachers] Schleyersmacher

5 schaffen] schafft

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Am 31. Dezember 1809 nachmittags

Stunde des Jahres in welcher wir zur gemeinschaftlichen Andacht hier versammelt sind zurücksehn in die Vergangenheit, die unser Blick umfaßt. Wenn wir zurückblicken auf das Ende des Jahres – wie reich | ist es an großen und mannichfaltigen Ereignissen; wenn wir erwägen die Vergänglichkeit des menschlichen Daseyns, wie gehäufte Spuren entdecken wir hinblickend auch große Felder des Krieges, wo das menschliche Leben gemähet ist wie Gras – wo die schönste Blüthe der vaterländischen Jugend so plötzlich abgefallen ist. – Aber m. Fr. wie viel Großes und Schönes, wie viel Edles und Unvergängliches hat mitgewirkt in diesem Auftritt des Schrekkens und des Todes. Nicht alles ist nichtig und vergänglich, und wir sollen nicht alle klagen über alles, was auf jene Weise dahingeschwunden ist vom Schauplatz der menschlichen Thätigkeit; sondern uns auch auf eine Weise freuen über alles was dieser Anblick darstellt. Wohl denen, die die Werkzeuge des Todes ergriffen und den Kampf um das Leben nicht scheueten, weil sie durchdrungen vom Gefühl, daß die Gnade des Herrn aus ihnen wirke hinaus gingen in den gefährlichen Streit, weil sie retten wollten Güter die ihnen anvertraut waren, weil sie nicht achtend das eigene vergängliche Daseyn im Geiste viele Geschlechter der Menschen umfassen wollten. Auf der andern Seite stehet dem Bilde der Trübsal der Noth der Verfehlung wohlgemeinter Wünsche, entgegen ein Bild des Glanzes, der Siege des Triumphes, und an der Stelle eines guten Lebens eine andre Gestalt eines frisch aufblühenden Lebens. Aber wie wir da, wo Tod und Untergang ist, nicht nur sehn müssen aufs Vergängliche so müssen wir auch da, wo eine neue Gestalt lebt und uns verblenden will auch scharf hinsehn ob sie lebt nur durch die Gnade Gottes. Laßt uns wohl erwägen, daß wir nicht getäuscht werden von dem Anblick dessen, was noch nichtig ist und vergänglich. Denn das ist gewiß wahr, wie schön auch das einiger blüht; was | aus dem Sturz eines andern hervorgegangen ist – wenn es nicht in sich trägt die Gottes Gnade und die Gerechtigkeit des Herrn, so ist der Sturm schon da, der an seiner Wurzel nagt; so ist der Sturm schon ausgegangen, der es vernichtet, so ist die Sichel schon geschliffen, die diese menschlichen Werke hinweg nehmen wird ins Reich der Vergänglichkeit. – Aber nicht bloß in die Ferne dürfen wir blicken, auch für uns selbst ist das vergangene Jahr reich gewesen an solchen Ereignissen, die uns viele Besitzthümer, vieles Liebe, Wohlstand, Freude und Glück raubten, und auch uns ist aufgeblüht neue Hofnung und neue Freude, die uns leicht könnte verleiten zum Übermuthe, der die Vergänglichkeit vergißt. Wohl uns, wenn wir nicht bloß haben hinschwinden sehn unsere Freude, wenn nicht bloß das drückende Gefühl der Vergänglichkeit in uns gewesen ist, wenn auch da aus unsrer Brust heraus uns getröstet hat die Gottes Gnade und Gerechtigkeit des Herrn. Wohl uns, wenn uns bey der neuen Hofnung und Aussicht auf ein thätiges, gedeihli6–7 Vgl. Ps 37,2

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ches Leben nicht der Blick allein haften bleibt auf den sinnlichen Folgen, wenn wir uns nicht bloß des äußern vermehrten Wohlstandes freuen und des vermilderten und entfernten Elendes; sondern, wenn wir auf das sehn, was nun gefordert wird, wenn die Gottes Gnade durch uns wirken soll. Dann m. Fr. werden wir nicht nöthig haben, uns zu warnen daß wir uns nicht hingeben eiteln Hofnungen und Täuschungen unseres Zustandes, denn dann werden wir nicht unterworfen seyn dem Nichtigen und Vergänglichen, sondern treu anhangend dem, was wir der Gnade Gottes verdanken, treu wachend über jedes Pfund von der Güte und Liebe Gottes empfangen, wird jeder schaffen und wirkt bleibendes und ewiges und wird wissen, daß er ge|arbeitet hat am Reiche Gottes. Aber, um uns dieses Trostes zu erfreuen muß Jeder beym Abschlusse dieses Jahres nicht allein hinsehn in die Welt, sondern auch in sein Gemüth, wie es da steht, ob es nur hingegeben war der vergänglichen Lust und den nichtigen Spielen des Lebens, oder ob der heilige Sinn sei es Gute und Rechte sein Leben beherrscht, ob die Welt ihm ein Spiegel ist des Ewigen, und ob er die Gesetze seines Thuns hernimmt von dem Bilde des Vergänglichen, oder ob sie Ausflüsse sind von dem Bilde des Unvergänglichen und Höchsten. Das m. Fr. das sey die ernste Betrachtung, aus der wir an diesem Orte des Ernstes erscheinen; mit ihr sehe jeder zurück und jeder wird inne werden der Zuversicht zu andrer Kraft der Frömmigkeit und wird inne werden, daß er theilhaftig ist der Gottes Gnade und der Gerechtigkeit des Herrn.

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Predigten 1810

Am 28. Januar 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

4. Sonntag nach Epiphanias, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 8,23–27 (Sonntagsperikope) Drucktext Schleiermachers; in: Magazin von Festpredigten 1, 1823, S. 213–230 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 250–264; 21844, S. 298–312 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 204–215 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine

Zuversicht und Kleingläubigkeit; in der Schifffahrt Christi dargestellt. Text. 5

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Matth. 8, 23–27.

M. a. Fr. Die Schrift sagt, das menschliche Herz sey ein trotziges und verzagtes Ding.1 Trotzig wird es, wenn der Mensch in der frischen Lust des Lebens, und im Uebermuthe der Freude beginnt, seiner Ohnmacht und Abhängigkeit zu vergessen; verzagt wird es, wenn Uebermächtiges ihm ohne Schonung entgegen droht, und am meisten, wenn er von einer feindseligen Gewalt fürchtet die Strafe seiner Sünde. In der verlesenen Erzählung finden wir keines von Beiden. Das göttliche Selbstgefühl des Erlösers, der da wußte, daß er und der Vater eines seyen, kann unmöglich Jemand verwechseln mit jenem verwerflichen Trotz; aber auch die Bangigkeit seiner Jünger war nicht mehr jene Verzagtheit eines der Sünde hingegebenen, und von ihren Folgen plötzlich überraschten Gemüthes, sondern nur die Kleingläubigkeit Solcher, welche zwar mit der Gewalt der Sünde zugleich auch ihre Verzagtheit abgeworfen haben, aber noch nicht erstarkt sind zu dem festen Vertrauen, das der Erlöser fühlte. So schwanken auch wir Alle, m. Gel., noch hin und her, bald mehr, bald minder furchtsam und kleingläubig. Trotz und Verzagtheit des natürlichen Menschen sollen wir abgethan haben, als Christi Jünger; aber im festen und siegreichen 1

Jerem. 17, 9.

11–12 Vgl. Joh 10,30

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Muthe strahlt er allein | ein unerreichbares Vorbild. Laßt uns demnach aus der verlesenen Geschichte zu unserer Erbauung und Stärkung sehen: wie Jesu göttlicher Muth und der Jünger menschliche Kleingläubigkeit einander gegenüberstehen, und auf einander wirken. Zwei Momente sind in dieser Beziehung die bedeutendsten: der Herr schläft, und die Jünger wecken ihn; der Herr schilt die Jünger, und anbetend wird er von Allen bewundert. Auf diese Beiden laßt uns daher vorzüglich achten. I. Der anmuthige, vom Jordan durchströmte, See Galiläa’s, den der Herr öfter mit seinen Jüngern befuhr, glich, geschützt von seinen bergigen Ufern, gewöhnlich einem glatten Spiegel, nicht selten aber auch ward, wie es auf so eingeschlossenen Seen zu geschehen pflegt, er unerwartet von den heftigsten Stürmen durchwühlt. Ein solcher ergriff auch jetzt das kleine Fahrzeug, und riß es so gewaltig auf und ab, daß es ganz von Wellen überdeckt ward. Er aber schlief. Der Herr schlief, weil es nicht seines Amtes war, das Schiff zu lenken. Da alle Aufmerksamkeit, die er, der Unkundige, auf das hätte richten können, was die Kundigen thaten, nur eine unnütze Mühe gewesen wäre, und jede Einmischung, nicht herbeigerufen von denen, welche der Sache oblagen, nur hätte störend seyn können: so überließ er den Lauf des Fahrzeuges der Kunst und Sorge der Schiffer, und der Obhut der göttlichen Vorsehung; und ermüdet wie er war von den Anstrengungen seines Berufs, schlummert er ein. So sehen wir die unschuldigen Kinder, welche Trauer und Gefahr nicht kennen, mitten unter Gefahr und Trauer bei den Verheerungen des Todes, bei dem Sturme der Elemente, bei allen Uebeln, welche menschliche Leidenschaft und Verkehrtheit häuft, ruhig lächeln und schlafen, wie sehr auch wir verzagen, und seufzend unser Lager mit Thränen benetzen. Sind aber die Jahre der Unkunde vorüber, dann kehrt diese unbefangene Sicherheit nicht | eher wieder, bis das Herz in Gott fest geworden ist, und wir uns zu dem unerschütterlichen Vertrauen erhoben haben, welches freilich Niemanden so wie dem Erlöser der Welt eignen kann. Nur darauf gerichtet, daß und wie er den Willen seines Vaters vollbringe, und dazu die ganze unerschöpfliche Fülle seiner Gaben mit heiterer Anstrengung verwendend, war er ruhig bei Allem und über Alles, was außer dem Kreise seines Berufs lag, und nicht von ihm abhing. Und stärker und erhebender konnte sich dieses nicht ausdrükken, als, indem er wie die Kinder ruhig schlief, und schlafen blieb, mitten im tobenden Sturme. Damit wir aber, m. g. Fr., den göttlichen Grund und den überschwänglichen Werth dieser Ruhe recht auffassen, so laßt uns dabei eines anderen Schläfers in einem auch vom

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Sturme bewegten Schiffe gedenken. Das Wort des Herrn erging an Jonas, den Sohn Amithai:1 er solle hinauf gehen, und den sündigen Männern von Ninive Buße predigen, oder Verderben drohen. Er aber wollte nicht, und als die Stimme des Herrn ihn immer wieder drängte, so bestieg er ein Schiff, das über Meer fuhr, um dem Herrn zu entfliehen; ja, damit er so tief als möglich verborgen wäre, legte er sich in dem untersten Raume des Schiffes nieder, und schlief. So blieb er auch schlafen, als der Sturm das Schiff bewegte, daß alle Schiffsleute erschraken, und im Vorgefühl des Verderbens Jeder zu seinem Gott betete und um Hülfe. Dieser also schlief, weil er seinem Gott den geforderten Dienst, den er hernach mit so gutem Erfolge vollzog, geweigert hatte, und auf der Flucht war vor dem Herrn; er schlief, weil er schon mitten auf dem Meere wohl fühlte, daß er nur im Schlafe des Wortes vergessen konnte: Und nähme ich auch Flügel der Morgenröthe, und flöhe bis an die äußersten Enden des Meeres, so würde auch dort deine Rache mich finden;2 ja die Furcht, nur zu diesem Gefühle wieder zu erwachen, erhielt ihn in tiefem Schlaf, mitten unter dem Geheule des Sturmes, | und dem Toben des Ungewitters. Welches Gegenstück zu dem Schlafe des Erlösers. Denselben Beruf hatte auch er, wie Jonas: den Verlorenen vom Hause Israel zu predigen Buße, denn das Himmelreich sey da. Aber er hatte sich nicht geweigert, und floh nicht vor dem Herrn; vielmehr seitdem das Wort des Herrn an ihn geschehen war, hatte er sich treu und ungetheilt diesem Dienste gewidmet, überall umhergehend, und alle Mühseligen und Beladenen zu sich rufend. Er blieb in diesem Dienste, wiewohl er nicht hatte, wohin er sein Haupt lege, wiewohl er traurige Erfahrungen genug machte von der Hartherzigkeit der Menschen, die nicht Ohren hatten, zu hören, wiewohl er täglich mehr Veranlassung erhielt, das Wehe von Sodom und Gomorha herabzurufen auf die Stätte, wo am meisten die Herrlichkeit Gottes sich durch ihn kund gemacht hatte.3 Weil er nun so treu war, nicht wie ein Knecht, sondern wie der Sohn in dem Hause des Vaters4: so konnte er auch in jeder Stunde der Erholung und des natürlichen Stillstandes in seinem Beruf, wie es auch um ihn stürmen mochte,

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Jon. 1, 1 flgd. Ps. 139, 9. 10. Matth. 11, 20. 21. Hebr. 3, 5. 6.

16 Die üblichen Bibelübersetzungen bieten anstelle von „Rache“ das Wort „Rechte“. 20–21 Vgl. Mt 4,17 24 Vgl. Mt 11,28 25–26 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

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ruhig schlafen in der ungetrübten Sicherheit eines Gott nicht nur ergebenen, sondern ganz von ihm erfüllten Gemüthes, gewiß und froh der allgegenwärtigen Allmacht des Vaters, mit dem er immer eins war. Aus diesem ganz entgegengesetzten Schlafe nun wurden Beide, Jesus und Jonas, auf die nämliche Weise erweckt, durch ihre wohlgesinnten aber kleingläubigen Gefährten. Denn auch des Jonas Schiffsgenossen waren in ihrer Art fromme Männer. Nicht nur betete Jeder zu seinem Gott, sondern sie tadelten auch bitter den Jonas, als er ihnen erzählte, er sey vor dem seinigen geflohen; aber ihr Glaube war nicht stark, denn sie verloren den Muth in der Gefahr. Sie beteten zwar; aber mit verzagtem Herzen. Sie meinten, es müße eine verborgene Schuld seyn, welche das höchste Wesen strafen wolle; und je weniger sie | diese zu finden wußten, um desto mehr bemächtigte sich ihrer Seelen die Angst. Daher, wie es dieser Gemüthsbewegung eigen ist, konnten sie es nicht leiden, daß mitten unter ihnen einer ruhig schlief: sondern sie weckten jenen Schläfer, wiewol sie weit entfernt waren, irgend eine Hülfe von ihm zu erwarten, damit doch auch er beten, und auf jeden Fall ihre Angst theilen möge. Und wie stand es auf dem Schiffe des Herrn mit seinen Jüngern? Für diese, sofern nicht etwa Einer oder der Andere von ihnen persönlich an der Leitung des Fahrzeuges Theil nahm, war eigentlich kein Stillstand eingetreten in ihrem höheren Berufe. Nicht unausgesetzt konnte und durfte der Herr unmittelbar auf sie wirken, wie alles eigentliche Lehren nur auf gewisse Zeiten beschränkt seyn darf. Sie bedurften von Zeit zu Zeit ruhiger Zwischenstunden, um über ihren Herrn und Meister auch mit einander zu reden, sich alle einzelnen Züge, woran sie den Sohn Gottes erkannten, in’s Gedächtniß zurückzurufen, und im Verständniß und der Aneignung seiner Worte sich gegenseitig zu Hülfe zu kommen. Dazu konnten sie auch während dieser Fahrt, als ihr Herr schlief, still und ruhig bei einander seyn, und hätten sich durch das Ungewitter nicht dürfen stören lassen in ihren heilsamen Gesprächen. Aber so weit waren sie noch nicht gediehen in der Sache des Geistes und der Festigkeit des Herzens. Als die Gefahr dringend ward, und die Geschicklichkeit der Kunstverständigen nicht mehr zureichte, da vermochte ihr Glaube nicht, der Angst das Gegengewicht zu halten, die sich aller Andern bemächtigte, sondern sie wurden von derselben mit ergriffen, und von der Furcht erfüllt, ihr gemeinsamer Untergang sey nahe, konnten auch sie nicht leiden, daß der Erlöser, unkundig dessen, was vorging, und fern von aller Furcht, unter ihnen schlief. Weder die Ehrfurcht, welche sie der Ruhe ihres Meisters schuldig waren, von dessen Schlaf sie jede Störung hätten fern halten sollen, ver3 Vgl. Joh 10,30

5–18 Vgl. Jona 1,6–14

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mochte sie zurückzuhalten, noch warnte sie der Gedanke, daß er noch nie seine Wunderkraft für sich selbst, und in den Angelegenheiten seines Berufes gebraucht hatte: sondern mit dem ängstlichen Ruf: „Herr hilf, wir verderben,“ weck|ten sie ihn aus dem süßen Schlummer, um ihn in den Kreis ihrer sorgenvollen Empfindungen mit hineinzuziehen. Hier laßt uns einen Augenblick inne halten, m. gel. Fr., und von dem bewegten Schifflein uns zurückwenden in die oft eben so unruhig und stürmisch bewegte Welt, die wir ja so gern einem Fahrzeuge vergleichen, das mancherlei Gefährlichkeiten ausgesetzt ist, und, so weit Menschen daran Theil haben, menschlichem Ansehen nach nur mit mäßiger Kunst und Geschicklichkeit regiert wird. Von dem thörichten Propheten aber, der sich seiner Bestimmung nicht fügen wollte, laßt uns bald absehen. Möge es immer Wenigere geben, die dem Herrn so ganz den Dienst versagen, den er von ihnen fordert! Und wenn es selbst in der christlichen Kirche, wo doch auch solche Menschen ihre Ohren nicht ganz verstopfen können gegen die Stimme des Evangelii, Einigen von ihnen gelingt, sich in einen so tiefen Schlaf der Sicherheit einzuwiegen, wie der Sohn Amithai: mögen dann nach Gottes Gnade schon die nicht seltenen Ereignisse dieser beweglichen Welt, welche so leicht als göttliche Strafgerichte angesehen werden, und die bei solchen Gelegenheiten gewöhnlichen unverholenen Aeußerungen aller Menschen von natürlichem Gefühl, hinreichend seyn, die Sicheren aus dem Schlafe aufzuschütteln, der dem geistigen Tode so nahe verwandt ist. Ja, auch der noch sehr Unsichere und Ungeläuterte kann und soll doch einem solchen zurufen: Was schläfst du? und ihm nicht verhelen, daß er übel gethan, vor dem Herrn zu fliehen. Solchen Zuruf segnet Gott! und schon manchen Widerspenstigen hat er so zuerst erweckt durch die öffentliche Stimme, und ihn, wenn er auch erst eine Zeitlang schmachten mußte, wie Jonas in dem Bauche des Unthiers, seinem Dienste wieder gewonnen. – Wenn wir aber hoffen dürfen, daß es unter denen, die einmal der Stimme Christi gefolgt sind, wenig solche giebt: wo finden wir auch nur Einen gleich dem Erlöser? Nirgends! Finden wir aber irgendwo feste Zuversicht und unerschütterliche Ruhe, so ist es am meisten bei denen, welche es am weitesten gebracht haben in | der Aehnlichkeit mit ihm, vorzüglich darin, daß sie suchen den ganzen Kreis ihres Berufs mit möglicher Treue auszufüllen, in Allem aber, was nicht ihres Amtes ist, auch nicht unruhig umhergetrieben werden, sondern stille sind zu Gott. Aber wenig giebt es so stärker und kräftiger Seelen, und groß ist die Anzahl der Kleingläubigen, die den Jüngern des Herrn auf dem Schiffe gleichen. Je mehr wir noch Neulinge sind in dem Leben, welches von Christo ausgehet, je weniger das Herz noch lauter ist, und auf das einige Nothwendige gerichtet, um desto mehr fehlt noch jene Ruhe und Sicherheit. Wird

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das Leben nicht von leichten Wellen getragen: gleich entsteht Besorgniß und Furcht von allen Seiten; Zweifel erheben sich nur zu leicht gegen das, was sonst der Seele am sichersten ist; und wenn der Sturm nicht bald besänftiget wird, so greift der Wahn immer weiter um sich, als ob unsern reinsten und geistigsten Hoffnungen der Untergang bevorstehe, und überall wird der ängstliche Ruf gehört: Herr wir verderben! – Sind nun aber unläugbar die Ungläubigen und Schwachen immer die bei weitem größere Anzahl: so mögen die Stärkeren und Festeren es auch nicht besser haben wollen, als der Erlöser, und sich nicht wundern, wenn es ihnen eben so ergeht. Sie mögen bedenken, daß sie mit der großen Menge auf Einem Schiffe sind. In diesem engen Raume wird ihnen ihre wohl erworbene Ruhe unter den Stürmen des Lebens nicht gegönnt; sie werden auch aufgestört durch das überhand nehmende Geschrei, und zur Theilnahme an den kleinmüthigen Empfindungen ihrer Genossen auf das Dringendste aufgefordert. Damit wir nun sehen, was unter solchen Umständen das Schönste sey, so laßt uns beherzigen, was sich weiter auf dem Schiffe des Erlösers begab.

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II. Die Jünger also, als die Wellen das Schifflein immer wieder bedeckten, und der Sturm sich nicht legen wollte, und die | Schiffsleute keinen Rath mehr wußten, wie sie es irgend in den Hafen bringen könnten, so gingen sie hin, wo der Herr schlief, und riefen ihm: Herr hilf uns, denn wir verderben! Er aber schalt sie, und sprach: Ihr Kleingläubigen, warum seyd ihr so furchtsam? Die Furchtsamkeit also, die sie bewiesen, diese tadelte der Erlöser. Ehe wir das aber genauer betrachten, laßt uns sehen, wie sich diese noch anders hätte gestalten können, und wie er sie dann würde getadelt haben. Jetzt war die Gefahr wirklich da, und dringend; der einfache Ton der ganzen Erzählung leistet uns dafür so sichere Bürgschaft, daß wohl kein unbefangener Leser daran zweifeln kann, – und doch schilt der Erlöser ihre Furchtsamkeit. Wie nun, wenn sie vor aller Gefahr schon voll Angst und Besorgniß gewesen wären? Wenn sie vor dem Sturme, anstatt die Zeit der ruhigen und sicheren Fahrt so gut als ihnen möglich war für ihren Beruf zu benutzen, in erwartungsvoller Unthätigkeit hinausgeschauet hätten: ob nicht irgendwo auf der glatten Fläche das Wasser sich kräusele, ob nicht irgendwo am heiteren Himmel ein leichtes Wölkchen ziehe, um dann gleich ängstlicher Besorgniß Raum zu geben, dieses werde sich zum furchtbaren Ungewitter ausbilden, aus dem tödtende Blitze auf den See herabführen, oder aus jenem würden bald Wellen werden, die das Schiff in der Tiefe zu begraben drohten – solche Menschen hat es zu allen Zeiten gegeben,

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und auch jetzt fehlen sie gewiß nicht, – was würde dann der Erlöser gesagt haben? Erinnert euch nur, m. Gel., wie er Gott redend einführt1 zu einem Menschen, der, gesättigt von irdischem Besitz, und der Zukunft ganz sicher, sich aller Thätigkeit entschlägt, um bloß zu genießen, und zu sich selbst sagt: Nun liebe Seele gieb dich zur Ruhe, und sey guter Dinge. Du Narr, spricht Gott, diese Nacht wird man deine Seele von dir nehmen. Wenn nun der Erlöser seine Jünger gefunden hätte, eben so | aller heilsamen Thätigkeit, ja auch allem wahren Genuße entsagend, um blos zu fürchten, oder über eitlen Rathschlägen zu brüten, wie das in der Ferne erträumte Unglück abzuleiten sey: würde er ihnen nicht auch gesagt haben: ihr Thoren, wenn diese Nacht eure Seele von euch genommen wird, so wird nicht danach gefragt werden, wie ihr euch mit der Zukunft beschäftigt habt, die ihr nicht erlebt, und euch mit den Sorgen künftiger Zeiten, und wäre es auch der morgende Sturm, unnütz belastet habt: sondern nur danach, wie ihr die Zeit bis heute nach dem Willen Gottes benutzt habt, und darin wirksam gewesen seyd. So aber fand freilich der Erlöser seine Jünger nicht, und so soll sich auch kein wahrer Christ jemals finden lassen. – Aber auch so, wenn sie, nun die Gefahr da war, und dringend, nicht nur kleingläubig gewesen wären, sondern abergläubig und ungläubig, – ich meyne, wenn sie, etwa wie des Jonas Fahrtgenossen, geglaubt hätten, was sie träfe, sey eine Strafe Gottes für eine verborgene Schuld; wenn sie nun, weil doch ihr Herr und Meister, wenngleich schlafend, dergleichen Gefahr entgegen ging, auf den Gedanken gekommen wären: auch in ihm, und dann gewiß in ihm vorzüglich, sey die Schuld; wenn sie, weil keine andere in ihm gefunden werden konnte, angefangen hätten, zu fürchten, sein ganzes Werk sey Gott nicht angenehm, und er halte sich vielleicht fälschlich für den zum Retter der Menschen Gesendeten; wenn sie ihn nun geweckt hätten mit ungläubigem Herzen, um sich von ihm loszusagen, oder gar ihn zu ermahnen: er möge die gemeinsame Gefahr dadurch beschwichtigen, daß er selbst sich lossage von seinem bisherigen Unternehmen! Oder meynt ihr vielleicht, es sey nicht möglich, daß der Glaube, auch wenn er noch schwach und unbefestigt ist, durch den Aberglauben, der den nächsten Erfolg für ein Zeichen des göttlichen Beifalls oder Mißfallens ansieht, so könne erschüttert werden, daß er ganz dem Unglauben weichen müsse? Aber sagt der Erlöser nicht selbst: es gebe Viele, in denen das Wort vom Reiche Gottes zwar Wurzel gefaßt habe, 1

Luk. 12, 20.

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und aufgegangen sey, aber weil es nur einen unzureichenden Boden gefunden habe, so verwelke | das schwache Pflänzchen gar leicht in der Hitze der Verfolgung? Was anders, als eben dieses, hat wohl zum Grunde gelegen bei allen denen, welche, schon gläubig geworden, Christum wieder verläugneten, wenn sie sahen, wie schwere Leiden um des Glaubens willen über die Brüder kamen? was anders bei allen denen, welche in irgend einem Werke Gottes, dem sie sich aus reiner Ueberzeugung hingegeben, wieder wankend werden, weil der unmittelbare Erfolg ihren Erwartungen nicht entspricht? Und wie viele solche Beispiele könnten wir nicht aus allen Zeiten und aus allen Gegenden der christlichen Kirche anführen! Ja, um auf die ersten Jünger des Herrn zurückzukommen, als dieser zuerst von seinem bevorstehenden Leiden und Tode in dem Tone der Gewißheit sprach, um die Seinigen vorzubereiten, damit die Heerde sich nicht ganz zerstreuete, wenn sie den Hirten schlügen, und Petrus bestürzt ausrief: Herr, schone dein selbst, das widerfahre dir nur nicht!1 war es nicht eben dieses, was die Seele des sonst muthigen Jüngers, wenn gleich nur flüchtig, bewegte? Muß er nicht gedacht haben: wenn das geschähe, so wäre es ja ein trauriges Zeichen, daß der verehrte Meister doch nicht bestimmt sey, das Reich Gottes aufzurichten? Sonst wohl würde der Herr ihn nicht so hart angeredet haben: Gehe hinter mich, Satan; du suchst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist. Dies also ist seine Stimme an Alle, die solchen Schiffbruch leiden am Glauben, und dies würde er auch jetzt den Jüngern insgesammt zugerufen haben, wenn sie sich bis zu solchem Unglauben hätten verirren können. Indeß so war es nicht; und möchten immer Alle, die auf dem Schifflein Christi ihre Fahrt durch dieses Leben machen, bewahrt dafür bleiben, jene Worte des Erlösers auf sich anwenden zu müssen. Zu den Jüngern aber sprach er nur scheltend: ihr Kleingläubigen, warum seyd ihr so furchtsam? Haben wir nun bisher gesehen, was ihnen weit Schlimmeres hätte begegnen | können, als diese Furchtsamkeit, die der Erlöser tadelt: so laßt uns auch fragen: wie sie denn hätten handeln müssen, um gar nicht gescholten zu werden? Wenn sie nun doch jenen Grad der Selbstbeherrschung noch nicht hatten, daß sie im heftigen Ungewitter, und in der drohenden Gefahr an etwas Anderes hätten denken können, als an das, was unmittelbar vor Händen lag; wenn sie doch nicht stark genug wären, um diejenigen hinlänglich aufzurichten, welche noch verworrener waren, als sie selbst, und noch 1

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mehr außer Fassung gebracht: sollten sie dennoch den Erlöser nicht wecken, von dem sie wußten, daß er Besonnenheit und Geistesgegenwart genug habe für sie Alle, und daß ihm alle Gemüther in seine Gewalt gegeben waren? Gewiß, wenn sie ihn geweckt hätten, um das furchtbare, aber doch herrliche Schauspiel mit zu genießen, und sie dabei richtig zu leiten, damit ihnen durch das Drohende darin nicht auch das, worin sich die göttliche Allmacht verherrlichte, möchte verdunkelt werden: so hätten sie ihn geweckt, weil sie seiner Weisheit bedurften, und er würde nicht gescholten haben. Wenn sie ihn aufgeweckt hätten, mit der Bitte: Ordnung und Ruhe wieder herzustellen, die schwachen Gemüther zu kräftigen, ihnen die verlorene Besonnenheit wieder zu geben, und sie zu neuen und glücklichen Anstrengungen zu ermuntern, – so hätten sie ihn geweckt zu dem, was seines Amtes und Berufes war, und gewiß hätte er sie nicht gescholten, sondern sich gern seinem Schlummer entrissen, um den geängstigten Gemüthern aufzuhelfen. Aber weil sie selbst so furchtsam waren, weil sie ihn mit den Worten weckten: hilf Herr, wir verderben! darum schalt er sie. Vielleicht aber denkt Mancher unter euch, m. g. Fr., indem ihr euch an die Stelle der Jünger setzt: wie, sollten sie denn nicht furchtsam gewesen seyn, eben weil auch der mit in Gefahr war, auf welchem das Heil der Welt beruhte? sollte es ihnen denn nicht der schrecklichste Gedanke gewesen seyn, daß mit dem ganzen Schifflein auch er könne begraben werden in der Tiefe des See’s? Nein! dem Erlöser selbst, das sehen wir deutlich, war keinen Augenblick bange; und so sollten sie auch außer Furcht geblieben seyn. Was | ihn sicher machte, war nur derselbe Glaube, der in ihnen zwar auch war, der sich aber stärker hätte erweisen sollen, wie bei mancher, so auch bei dieser Gelegenheit. Wenn er der eingeborene Sohn war, und durch ihn das Reich Gottes sollte gegründet werden: war es wohl möglich, daß jetzt konnte seine Stunde geschlagen haben, und er so herausgerissen werden aus seinem Beruf, ohne es selbst zu wissen, ohne, wie er von dem Augenblick an, wo er ihnen sein Leiden wahrsagte, unablässig gethan hat, ihnen oder sonst Jemanden seine Anordnungen gegeben zu haben, und das Fortbestehen seines Werkes möglich zu machen? Das konnten sie nicht besorgen, wenn sie an ihn glaubten! Vielmehr hätten sie denken müssen: wenn auch das ganze Schiff sein Grab in den Wellen findet, und sonst kein Mensch gerettet wird – über ihn muß diesmal noch unfehlbar die göttliche Allmacht walten, und weit gewisser muß der Höchste diesen Schläfer glücklich durch die Wogen an das Ufer bringen, als er dem widerspenstigen Propheten eine wunderbare Rettung verschaffte, damit er seinen untergeordneten Beruf, wie er ihm bestimmt war, noch erfüllen konnte. Dachten sie nun so nicht, so mußte der Erlöser sie kleingläubig schelten. – Aber vielleicht haben

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sie auch das gedacht, und sind seinetwegen weniger besorgt gewesen, als ihrer selbst wegen; so daß, wenn sie sprachen: Herr hilf, wir verderben! sie mehr dabei an sich insgesammt dachten, als daß sie ihn persönlich mit eingeschlossen hätten! Vielleicht meynten sie: Ihn, seinen Sohn und Geliebten, werde Gott eben so gewiß aus den Wellen retten, als er ihn aus Egypten gerufen habe; aber wenn sie nun verdürben, sie, die er zu seinen Dienern und Gehülfen bestimmt, und denen er sich allein anvertraut hatte, – was dann aus seinem Werke werden solle? und so eilten sie denn, ihn zu wecken, vornehmlich damit er Hülfe schaffen möchte, ehe denn sie, seine Jünger und Freunde, verdürben. Aber auch wenn das ihre Besorgniß war, verdienten sie, daß der Erlöser sie schalt: Ihr Kleingläubigen, warum seyd ihr so furchtsam. Und in beider Hinsicht wollen wir uns das auch lassen gesagt seyn. | Wie die Jünger hätten sicher seyn sollen, daß ihr Herr und Meister damals nicht seinen Tod finden konnte, weil sonst auch sein Reich hätte untergehen müssen, welches er noch nicht für fest gegründet erklärt hatte, dieses aber doch nicht untergehen durfte: eben so sollen auch wir unerschütterlich fest glauben, daß sein Reich niemals untergehen kann, daß jede Gefahr, die demselben droht, abgewendet, und Alles überwunden werden muß, was sich ihm widersetzt. Glauben wir, die göttliche Weisheit könne in der Regierung der Welt kein anderes Ziel haben, als daß diese ganz dem göttlichen Worte entspreche, wodurch die Erschaffung der Welt gleichsam gekrönt wird: so kann uns nie bange seyn, das Gute in der Welt könne untergehen. Glauben wir, Gott konnte in Beziehung auf die menschliche Welt jenes heiligende Wort überhaupt nur sprechen, weil auch schon die Zukunft seines Sohnes in das Fleisch vorherersehen war: so dürfen wir auch fest darauf rechnen, daß Alles, was geschieht, zum Besten seines Reiches ausschlagen werde. Niemals also darf das Gebet der Christenheit, mag nun der Unglaube gegen sie heranstürmen, oder mögen die Wellen des Aberglaubens sie bedecken, ihre Gestalt unkenntlich, und ihre Bewegung unsicher machen, ja ihre ewige Wahrheit in die Tiefen des Abgrundes zu versenken drohen, niemals darf es in den kleingläubigen Ton verfallen: hilf Herr, wir verderben! Unwillig würde uns immer der Erlöser entgegnen: was seyd ihr so furchtsam! und mit um so mehrerem Rechte unwillig, als wir seine Verheißung haben, daß die Pforten der Hölle seine Gemeine nicht überwältigen sollen, und als diese Verheißung sich schon seit soviel Jahrhunderten auf das Herrlichste bewährt hat. – Aber niemals laßt uns auch auf uns selbst, oder diejenigen, die wir in einem engeren Sinne zu uns rechnen, einen zu 6 Vgl. Mt 2,15

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großen Werth legen, und eben deßhalb zu ängstlich besorgt seyn, wenn uns irgend eine Gefahr droht, als ob der Herr nothwendig helfen müsse, wenn wir verderben wollen. Diese Furchtsamkeit hat ihren nächsten Grund immer darin, daß uns die Augen gehalten sind, wie jenem Propheten, welcher meynte, er sey allein noch übrig in seinem | Volke, der dem Herrn diene, alle Andere aber dienten dem Baal; als ihm aber die Augen eröffnet wurden, erblickte er viele Tausende, die eben so aufrichtig Gott ergeben waren, wie er. Mußte er da nicht mit Freuden denken: was ist’s also groß Unglück wenn du auch umkommest? bleiben doch noch die Tausende übrig, und werden das Reich Gottes aufrecht halten! So auch wir. Wähnen wir – und denkt euch nur dieses wir, wie ihr wollt: einige Freunde, eine vertraute Gesellschaft, eine abgesonderte Kirche, ein Volk und Land – wähnen wir, daß wir die einzige Auswahl sind, die noch übrig ist, und das Reich Christi auf uns beschränkt; wähnen wir, daß wir unentbehrlich sind zu irgend etwas, was wir dem Reiche Gottes und seiner Förderung wesentlich halten, – ein Wahn ist es immer, denn Er allein war und ist und bleibt ewig unentbehrlich in seinem Reich – verfallen wir aber in diesen Wahn: so werden wir dann natürlich furchtsam, wenn uns Gefahr droht, und ziehen uns den gerechten Tadel des Erlösers zu, wenn wir, aus Liebe zwar zu seinem Reich, aber aus unverständiger Liebe, die rechte Fassung des Gemüthes verlieren. Aber nicht nur das, sondern gar leicht können wir auch auf diese Weise in einen von jenen beiden Abwegen hinein gerathen, welche noch schlimmer sind, als die Furchtsamkeit der Jünger. Wer sich für unentbehrlich hält, der kommt in stürmisch bewegten Zeiten nur zu leicht dahin, zur Unthätigkeit zu erstarren, indem er ängstlich und zitternd nach ungewissen Gefahren umherschaut. Wer einen zu großen Werth auf seine eigene Wirksamkeit legt, der kommt nur zu leicht dahin, in Kleinigkeiten nicht selten, im Großen wenigstens vorübergehend, seinen Genossen untreu zu werden, um sich desto sicherer für seinen großen Zweck zu erhalten. Dieses Beides laßt uns auf alle Weise vermeiden, damit wir nicht das Leben verlieren, indem wir es bewahren wollen; beschleicht uns aber auf unserer Lebensfahrt eine menschliche Furchtsamkeit, dann auch getrost unsere Zuversicht zu dem nehmen, der uns wieder stärken und aufrichten kann, müßte er auch mit einem liebevollen Tadel beginnen. | Als aber der Herr jenes halb verweisende, halb schon beruhigende Wort gesprochen hatte, da erhob er sich, und bedräuete den Sturm und die Wellen, und es ward ganz still. Hier nun scheint meine Rede endigen zu müssen; hier ist nicht nur männlicher Muth, welcher auf5–8 Vgl. 1Kön 18,22; 19,14–18

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richtend und stärkend der Furchtsamkeit kleingläubiger Gemüther entgegentritt; hier ist eine göttliche Kraft, der auch die Elemente unterthan sind, die nicht nur die Furcht, sondern auch die Ursache derselben hinwegnimmt; und einer solchen Kraft dürfen wir nicht hoffen ebenfalls zu begegnen, wenn wir kleinmüthig sind. Denn gewiß wäre es thöricht, zu glauben, daß der Herr, so oft wir irgend in Versuchung kommen, zu rufen: Herr hilf uns, wir verderben! wenn er auch unsere Furchtsamkeit tadelt, doch gewiß Allem, was uns bestürmt, Ruhe gebieten werde. Um so thörichter wäre das, als wir wohl fühlen, nicht der furchtsamen Jünger wegen mußte der Sturm beschwichtigt werden, denn Jünger hätte Gott unserm Erlöser noch anders woher erwecken können; sondern seinetwegen allein, der jetzt, allen Stürmen entnommen, zum Heil seiner ganzen Gemeine oben regiert, uns aber keine Verheißung zurückgelassen hat, daß er die Einzelnen aus irgend einer äußeren Noth befreien wolle. Nur das Eine möchte ich fragen. Wenn nun damals Luft und See besänftiget ward, wenn der ganze eben so schlichte, als bestimmte Ton der Erzählung uns dafür bürgt, dies sey nicht nur um seinetwillen geschehen, sondern auch durch ihn, ihm sey Wind und Wasser gehorsam gewesen und dienstbar: waren es seine drohenden Worte und Geberden, in denen unmittelbar diese Kraft lag? Das werden wir wohl schwerlich bejahen können, wenn wir unsere Erzählung genau betrachten. Denn wäre es nothwendig gewesen, daß er Worte sprach, und seinen Willen durch Geberden kund that: so war es auch nothwendig, daß er aus dem Schlafe geweckt ward; und er hätte dann, wenn er auch die Furchtsamkeit seiner Jünger tadeln konnte, sie doch auch wieder loben müssen, daß sie das Einzige nicht versäumt, woraus Rettung hervorgehen konnte. Das aber hat er nicht gethan. Und sollen wir glauben, wenn sie | ihn nicht geweckt hätten, und er also auch die Drohung nicht aussprechen konnte, er dann mit ihnen würde untergegangen seyn? Wenn wir nun das nicht glauben können: so bleibt nur übrig, daß es sein Daseyn, seine kräftige Gegenwart an und für sich war, was ihnen Heil und Rettung brachte; die Drohung aber, die er aussprach, war mehr ihretwegen, und sollte ihnen, was sie auch uns in der Erzählung ist, ein sicheres Zeichen seyn, daß eine plötzliche Errettung wahrhaft von ihm ausgehe. Dieses laßt uns fest halten, m. gel. Fr.; so erkennen wir einen zwiefachen Zusammenhang der geistigen göttlichen Kräfte mit den natürlichen. Denn hier auf dem Schiffe des Erlösers ward Ruhe, und der Sturm legte sich, sobald Er hervortrat, und die empörte Natur gleichsam seiner Gegenwart inne ward; die tobenden Wellen ebneten sich nun wieder als reiner Spiegel, sein heiliges Bild ungetrübt aufzu20 Geberden] Gebehrden

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nehmen, und der Sturm verwandelte sich in ein lindes Säuseln der Luft, die sich gleichsam vor seiner erhabenen Majestät schmiegte. Aber auch dort auf dem Schiffe jenes Propheten ward Ruhe, und die Stürme legten sich, sobald die göttliche Gerechtigkeit ihr Opfer gefunden hatte. Was sollen wir zu Beidem sagen? Das göttliche Recht soll geübt werden durch das Gewissen eines jeden Einzelnen, und durch den Gemeingeist Aller insgesammt; wenn aber Beide nicht wirksam sind, wenn die Menschen vor der Stimme des Herrn fliehen, dann, das ist die alte, sich immer noch wiederholende Erfahrung, richtet der Herr selbst seinen Stuhl auf zum Gericht, die Winde macht er zu seinen Boten, und die Feuerflammen zu seinen Dienern, und sie ruhen nicht eher, bis sie seinen Willen vollbracht haben. Das ist die alttestamentliche, furchtbare Herrlichkeit Gottes, vor welcher sich von dem sündigen Adam an Alle beugen müssen, welche noch vor der Stimme des Herrn fliehen wollen. Wenn aber wir, in der Kirche Christi, wo das Wort Gottes immerdar wohnt, nicht geflohen, sondern gesucht und geliebt, wo das neue Gebot des Erlösers, die göttliche Liebe waltet, wenn wir die Gewalten der Natur, wie furchtbar sie sich | auch äußern mögen, noch als Werkzeuge göttlicher Strafen ansehen: so sind wir mehr als kleingläubig. Denn wir wissen ja, der Mensch ist berufen, die Erde zu beherrschen, also auch durch Verstand und Kunst sich die Kräfte der Natur zu unterwerfen und dienstbar zu machen. Je mehr das geschieht, um desto weniger sind diese Kräfte von denen des Menschen selbst zu unterscheiden, und können auch nicht auf andere Weise als diese selbst Werkzeuge der göttlichen Gerechtigkeit seyn. Was ist aber wohl ein stärkerer Antrieb für die Menschen gewesen, ihre Kräfte auszubilden, und jenen Beruf zu erfüllen, als ihr gemeinsames Bestreben, das Reich Christi überall hin zu verbreiten? So müssen also auch Alle, die hieran Theil nehmen, immer mehr des frohen Glaubens voll werden, daß auch alle Kräfte der Natur immer mehr nur diesem großen Zwecke dienen sollen. – Aber freilich, die Herrschaft des Menschen über die Natur, durch den Verstand und die Kunst, wie sehr sie sich auch noch vervollkommnen möge, wird immer die Spuren der Sünde an sich tragen. Da sehen wir nun ihr gegenüber an dem Erlöser die unmittelbare Gewalt eines göttlichen Willens über die Kräfte der Natur. Als jene nichts mehr vermochte, trat er hervor, bedrohete das Ungewitter, und es ward still. Da verwunderten sich die Menschen, und sprachen: was ist das für ein Mann, dem Wind und Wellen gehorsam sind? – Wer er ist, wissen wir, und verwundern uns nicht mehr. Mag er die Krankheiten bannen, mögen die Besessenen vor ihm niederfallen, mag er den Wellen gebieten: es ist 17–18 Vgl. Joh 13,34; 15,12

20–21 Vgl. Gen 1,28

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dieselbe göttliche Gewalt über die Natur, die uns an ihm gewohnt ist. Er ist der Mann, dem Wind und Wellen gehorsam sind, dessen geistigen Zwecken nichts feindselig seyn darf in der Natur, so wie auch alle Stürme in der geistigen Welt zu seiner Heilsordnung wirksam seyn müssen. Der ist freilich Er allein; aber doch muß es uns aufrichten, und alle Kleingläubigkeit verbannen, daß dieser uns angehört, und wir ihm. Allein nicht nur das, sondern auch wir, wenn wir nur in seinem Namen handeln, d.h., nichts Anderes als ihn und seine Sache suchen, nichts Anderes als sein Reich, und zwar in seinem Geiste, | fördern wollen, nur mit den Waffen des Geistes darob kämpfend; wenn wir uns selbst verläugnen, und alle leere Einbildung von uns fahren lassen, fest überzeugt, daß es auch ohne uns ihm nie an treuen Jüngern fehlen wird: dann sind auch wir nicht ohne schöne Verheißungen. In meinem Namen, so sprach der Herr, bei seinem Abschied von der Erde, als er seinen Jüngern befahl, in aller Welt sein Evangelium zu verkündigen, in meinem Namen werdet ihr die bösen Geister austreiben, und mit neuen Zungen reden; ihr werdet auf Scorpione treten, und sie werden euch nicht stechen; Schlangen werden euch stechen, aber sie werden euch nicht vergiften; Tödtliches werdet ihr trinken, und es wird euch nicht schaden; und meine Kraft wird in euch mächtig seyn, alles Schwache zu stärken, und alles Kranke zu heilen. Amen. Schl.

11 Vgl. Mt 16,24

16–22 Vgl. Mk 16,17–18

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Am 4. Februar 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

5. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 4,1–11 Nachschrift; SAr 25, Bl. 3r–6r; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 1r–6v; Matthisson Keine

Den 4. Febr. 10. Vormittag.

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M. Fr. Einen solchen Hohepriester müßten wir haben, der da wäre unschuldig, heilig, unbefleckt von der Sünde, aber auch der Mitleid müßte haben mit unserer Schwäche, und der wie wir versucht wäre, ausgenommen von der Sünde. Diese Worte werfen ein helles Licht auf die Begebenheit, welche heute der Gegenstand unserer Unterhaltung seyn soll, und an welche wir unsere frommen Ermunterungen und Entschließungen anschließen. Denn wie könnten wir in der Reihe der merkwürdigen Augenblicke im Leben Jesu jenes Ereigniß übersehn, welches als kurz vorhergehend vor dem Antritte seines Lehramtes in der Schrift uns erzählt wird – wie er vom Geist geführt wurde in die Wüste. – Uns ist es etwas gewöhnliches versucht zu werden, und wie könnten wir anders als uns gestehen, daß es oft ausschlug zur Sünde. Ja nicht bloß, wenn sündliche Begierden in uns aufsteigen; auch wo wir etwas Gutes wollen, tritt uns die Versuchung in den Weg und verleitet uns zur Sünde. Eine Erscheinung von der Art, die wir oft sehen, so daß wir nicht immer bestimmen können, wo doch die Sünde ihren Anfang genommen habe. Wie können wir uns nun einen beßern Maßstab vor Augen halten um unser Betragen zu beurtheilen als das Betragen des Erlösers als er versucht wurde. Was in ihm vorging, war gewiß ohne Sünde; aber schon die nächsten Schritte können es seyn, wo bey uns das Unrecht angeht und die Sünde. Matth. 4, 1–11.

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Es ist dieß eine Erzählung, welche in die Zeit fällt, wo der Erlöser noch keinen engern Kreis von Freunden und Jüngern um sich geschlossen hatte, wo er in einsamen Gegenden der stillen Betrachtung seine Tage weihte und sich vorbereitete zu seinem wichtigen Berufe, und nur aus seinem Munde | können die Schriftsteller des N.T. das haben, was sie uns hier erzählen.

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Daher bleibt uns auch vieles davon dunkel und unbestimmbar und mannichfaltig sind die Meynungen über den Inhalt dieser geschichtlichen Erzählung. Worin aber alle übereinstimmen werden, die ernsthaft mit der Bibel umgehen, das wird seyn: daß in dieser Erzählung Christus seinen Jüngern etwas habe mittheilen wollen, was wirklich mit ihm und in seinem Gemüthe vorgegangen war, und das es nicht eine von jenen lehrreichen Erzählungen ist, wodurch er allgemeine Wahrheiten seinen Zeitgenossen einschärfen wollte; und sehr natürlich tritt uns diese Geschichte in der Zeit entgegen, welche auf die Taufe des Erlösers seine sichtbare Weihe folgte und wo sich das Zeugniß einer himmlischen Stimme hören ließ, folgte und vor seinem wirklichen Auftritt als Lehrer vorher ging. Nahe war er der wichtigen Zeit, wo er seinen hohen himmlischen Beruf beginnen sollte und darum wählte er sich unbesuchte unbewohnte Gegenden, um darüber nachzudenken und sich würdig vorzubereiten. Zurücksehend auf jenen Ausdruck der Schrift, daß er hier ist versucht worden, gleich wie wir, laßt uns erwägen, welches die Entschlüsse waren, wodurch Christus die Versuchung also besiegte daß jede Spur der Sünde fern von ihm blieb. Dreyerley war es, was ihm entgegenstand als Versuchung und dreyerley, was er sich vorsetzte: 1. daß er sich in allem seinem Seyn und Thun fügen wollte in die göttliche Ordnung, die ihm nur ein beschränktes, dürftiges Loos zuließ. 2. daß er nicht durch Vertrauen auf seine inneren wunderthätigen Kräfte und auf die göttliche Hülfe verleitet | in dem großen Werke etwas übereilen wollte; sondern daß jeder Schritt durch Weisheit und Besonnenheit geleitet war. 3. daß er überall Gott und seiner Sache allein diente, aber sie auch deswegen in allem mit nichts Fremdem vermischen wollte. Wie können wir dieß anwenden auf unsern eigenen Zustand und Leben? [1.] Die Erzählung sagt, nachdem er lange in der Wüste verweilt hatte, wären ihm nahe getreten die Bedürfnisse der menschlichen Natur und darum habe ihm die Stimme der Versuchung zugerufen: in seiner Macht stände es ja, alles was ihn umgab, zur Vermehrung seines äußern Glücks und Wohlseins zu gebrauchen. Wir können diesen Fall ansehn als ein Sinnbild von dem nachmaligen irrdischen Zustande des Erlösers. Er sagte es wohl, daß der Menschensohn oft nicht wisse, wo er sein Haupt hinläge. Ihm wohnte bei das Bewußtseyn seiner hohen wunderbaren Kräfte, wodurch Er oft Andern half, aber nie neigte sich sein Herz dazu, jemals für sich selbst zu sorgen durch ihren Gebrauch. Aber gewiß nicht allein die irrdischen Bedürfnisse waren es, welche hier in der Einsamkeit ihm vor die Augen treten; auch ein Bild von seinem ganzen künftigen Leben zog vor seinem Geiste 9–10 Vgl. Mt 3,1–17; Mk 1,9–11; Lk 3,21–22

35 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58

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vorüber, und hier mögen ihm sich wohl dargestellt haben die mancherley Wege und Mittel, wodurch er das ihm bestimmte Werk schneller und leichter zum Ziele führen könnte. Wie dürftig war sein ganzer äußerer Zustand, wie wenig nur sammelte sich um ihn her von der geistigen Kraft, durch die er wirken sollte. Wie lange mußte er arbeiten | ehe er dem kleinen ihn zunächst umgebenden Häuflein aus der Nacht und Finsterniß der Irrthümer der Vorurtheile, und des Aberglaubens herausgeholfen, ihren Geist aufgehellt und die ersten Grundsätze, die ersten richtigen Vorstellungen von seinem Reiche in ihren Seelen niedergelegt hatte. Aber auch da nahm er seine Zuflucht nicht zu übersinnlichen Mitteln. Aber darum stand er auch so herrlich da, so daß er mit hohem Selbstvertrauen zu seinen Zeitgenossen sprechen konnte: Wenn diese nicht reden und mein Lob verkündigen, so würden die Steine reden! Und weil er so treu gearbeitet hat, ist ihm auch Lohn geworden die Fülle, und Gott hat ihn erhöhet, und ihm einen Namen gegeben, der über alle Namen ist! – Laßt uns unser Loos und unsere Bestimmung mit der des Erlösers zusammenhalten! Auch wir sollen arbeiten an dem Werke des Herrn, das er begann. Auch wir sehen immer nur einen mittelmäßigen bedürftigen Zustand vor uns, und wie klein und geringfügig erscheint uns, was wir mit unseren Kräften wirken können. Freylich wir vermögen nicht, den Gang des ewig Guten und Rechten zu unterbrechen; aber desto mehr spielt dann unsere Einbildungskraft mit dem was zufällig ist und ungefähr. Wie leicht überlassen wir uns da jenen leeren Wünschen und Sehnen nach dem, was nicht in unser Gewalt steht, zur Beschleunigung dessen was wir betreiben. Aber, m. Fr., sobald sich unser Herz dazu neigt, solche Unterstützungen zu wünschen, so, daß es der Keim der Unzufriedenheit des Mißmuths wird, wenn das Gewünschte nicht geschieht; dann ist die Sünde schon eingekehrt, und wir sind nicht mehr versucht, wie unser Erlöser. Aber wir werden auch bald gewahr werden die Verkürzung unsers | höhern thätigen Lebens; die Unzufriedenheit mit dem Verschwinden unsers Werks ist das erste, was die Kräfte lähmt; und seine Einbildungskraft mit leeren Wünschen zu beschweren, trübt die helle Einsicht und den Glauben wie Gott seinen Sohn herrlich hinauszuführen weiß. 2. Der Erlöser beschloß, durch das Vertrauen auf göttliche Hülfe sich nicht verleiten zu lassen zu einem leichtsinnig gewagten, raschen Unternehmen, sondern alles mit Weisheit und Besonnenheit hinaus zu führen. Vertrauen mußte er haben, eben weil er sich bewußt war, daß auf ihm die Hülfe der Menschheit beruhe, daß seine Sache Werk nicht mißlingen könnte. Er befand sich aber in jenem Alter, wo wir im Gefühl der größten Kraft des frischen Muthes alles zu begehrn, langsame, bedächtige Schritte zu verschmähen pflegen. So konnten sich ihm hier in seinen einsamen Betrach12–13 Vgl. Lk 19,40

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tungen viele Arten darstellen, wie er seinen Beruf erfüllen könnte, und er geneigt seyn, die raschen Mittel zu ergreifen. Das ist es was ihm die Stimme der Versuchung zurief, schmeichelnd ließ sie sich vernehmen, daß wenn er auch fehlte, die Engel ihn tragen würden, daß sein Fuß an keinen Stein stoße. Aber zugleich rief er sich zu: Du sollst Gott deinen Herrn nicht versuchen; er bedachte, daß ja in Gott die Macht und Weisheit Eins wären, und daß ja dem seine Macht nicht zu Theil werden könnte der die Weisheit verschmähte. Darum scheute er die Mühe nicht und den Kampf, den es ihn kostete, noch jetzt zurück zu fallen, nicht mit einem mahl hervorzutreten. Von seiner Lehre selbst sollte ihre Überzeugung ausgehn; erst in dem Kreise seiner Jünger sollte gegründet liegen die Hoffnung einer herrlichen Ausbreitung; dann sollte sich die Welt entscheiden dafür oder dawider. Und eben, weil er diese Handlungsweise durch sein ganzes Leben behauptete, so konnte er auch im Leiden, als er aufgefordert wurde, sich für den Sohn Gottes zu erklären, mit Überzeugung | sprechen: Ich bins; und ihr werdet ihn sehen in den Wolken etc. O, m. Fr. wie verschieden ist unsere Versuchung zur Sünde, wie oft fehlen wir, weil wir nicht hielten an Besonnenheit, weil wir nicht achten auf alle Andeutungen, die Gott seinen Dienern nicht fehlen läßt, weil wir hinwegsehn über den Geist jeder Zeit und ihre Zeichen, und was geschehen kann. Oft unterliegen wir, und schaden dem Guten, weil wir zu früh aus dem engen, stillen Kreise hinaustreten in die Welt; möge jeder sich zurufen: Du sollst Gott nicht versuchen! Nur der Preis dieser Tugend ists, bei allen Leiden des Lebens gutes Muthes zu seyn; es kann auch die Sache des Herrn seyn, selbst seine Sache hinauszuführen. 3. Der Erlöser nahm sich endlich fest vor, der Sache Gottes allein zu dienen, und sie nie mit etwas fremdem zu vermischen. Wir dürfen nicht glauben, es sei die Versuchung des Erlösers in dem Gebiete eines irdischen Ehrgeizes gewesen; denn dann wäre sie selbst schon Sünde gewesen. Aber es war allgemeiner Glaube, daß der Erlöser kommen würde, das weltliche Reich aufzurichten, und mehrmals hatte er das Volk bereit gesehn, ihn als weltlichen König auszurufen. Hier in der Einsamkeit, wo ihm die möglichen Arten sich darstellten, wie er seine Lehre begründe und schnell und allgemein ausbreiten könnte, stellte auch diese sich ihm dar als sehr bequem und günstig, wenn er die Macht des Volkes an sich reißen möchte. Wenn er erst, so schien es ihm, sein Volk an ein neues bürgerliches Regiment gefeßelt hätte, dann würde es ihm ein Leichtes seyn, sein Werk durchzusetzen. Aber: Hebe dich weg von mir Satan! Sein reiner unbefleckter Sinn und Wille ließ es nicht zu, daß sein Herz sich zu einem solchen Entschluße hingeneigt hätte; war es dann nicht sinnliches und unreines Begehren, was in seinen Zeitgenossen diese Erwartung von einem weltlichen Messias erzeugt 15–16 Vgl. Mk 14,62

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| hatte? Er, der das Gute rein wollte, konnte er, was sinnlich und unheilig war, zur Beförderung seines reinen göttlichen Werkes zu Hülfe nehmen wollen; konnte er sich in ein Bündniß einlassen mit dem Ungöttlichen und Unreinen; denn das hätte ja nicht geheißen, Gott allein anbeten. Aber eben weil er das festhielt, und nie aufhörte zu predigen: mein Reich ist nicht von dieser Welt; darum hat ihm der Herr gegeben ein ewiges unvergängliches Reich und ihn gesetzt über alles, so daß alle knien, die im Himmel und auf Erden sind, sich beugen sollen. – Wohlan m. Fr. wollen auch wir in diesem Reiche seyn und zu seinen Füßen sitzen, so müssen wir ihm allein dienen, das Gute und Rechte mit seinen eigenen Waffen und der Kraft durchfechten und nicht Hülfe suchen bey fremdartigen Neigungen nicht äußere Leidenschaften benutzen nicht mit Vorurtheilen gemein machen. So finden wir viele. Aber wie kann auf diese Weise das Reich des Herrn befördert werden; rein und unbefleckt muß seyn, was eingehn soll ins Reich des Herrn. Aber es giebt für die Reinheit des Sinnes einen schönen, großen Lohn. Wie wenig es auch ist, was wir so ausgerichtet haben, es ist doch köstlich und ewig, und wir werden nicht sagen können: ich habe nichts verloren von dem anvertrauten Pfunde, ich habe alles gethan, was ich nach meinen Kräften, in meinem Kreise konnte; und so wie wir uns anschließen an Christi Werk, und Theil haben an seiner Förderung, so werden wir auch Theil haben an seinem Glanze und Lohn. Nur m. Fr. nicht, wie wirs vom Erlöser glauben müssen, daß er nur einmahl zur Sünde versucht worden sei, und diesen Entschluß gefaßt – so wird es mit uns nicht seyn, wir müssen oft uns diesen Entschluß wiederholen, und so sey denn bey allem was wir thun stets gegenwärtig das Bild des Erlösers; so werden wir weiser werden in ihm und durch ihn, und wir, die wir über wenig treu gewesen, werden gesetzt werden über vieles. Amen.

5–6 Joh 18,36

26–27 Vgl. Mt 25,21.23

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Am 11. Februar 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

6. Sonntag nach Epiphanias, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,35–44 Nachschrift; SAr 25, Bl. 6v–8v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 575–579 Keine Keine

Den 11. Febr. 1810.

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Die Ausbreitung des Evangeliums, das Christus selbst nur dem Hauptgrundsatz nach in den Seelen seiner Jünger legen konnte, ging von diesem selbst aus, und darum war die Wahl derer, welche die Kraft seiner Lehre weiter hinaus wirken sollten in die Welt eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Erlösers. So lasst uns denn heute damit unsre Aufmerksamkeit beschäftigen, lasst uns besonders darauf merken wie der Erlöser bey dieser Wahl zu Werke ging aus welchen Gemüthern er diesen engen Kreis zusammensetzte. Joh. 1, 35–44 Um zuerst aufmerksam zu machen auf etwas in dieser Geschichte, was wohl klar und deutlich genug darin liegt, was eben doch dem flüchtigen Leser entgehen kann: so war gewiß der eine von den zween Jüngern, welche Jesus nachfolgten und der hier nicht genannt wird kein anderer als der Apostel Johannes selbst, der diese Worte schrieb; er gibt dieß im Evangelium zu erkennen; auch pflegt er sich sonst so zu bezeichnen; auch konnte ein andrer so kleine Umstände, welche sich bei der ersten Bekanntschaft mit Christo fanden, sogar die Worte die Stunde, nicht wohl im Stande seyn so zu wissen und zu bemerken. In dieser Voraussetzung und mit besonderer Rücksicht hierauf laßt uns sehen, was wir aus dieser Wahl des Erlösers, wodurch er seine ersten Jünger sich bildete uns hier wichtige Bemerkungen machen und für Wahrheiten lebendig vorstellen können. 1. Zuerst kann uns dieß nicht entgehen, daß schon der Erlöser seine Jünger zusammensetzte aus Männern von entgegengesetzter Ausbildung 10 Joh. 1,35–44] Joh. 1,35–...

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und Gemüthsverfassung. Johannes stellt sich uns dar als einen solchen Jünger, in welchem das Sanfte, Ruhige, Seelige gewohnt, er ist der, welcher immer als Liebling Jesu und zwar so bezeichnet wird, daß er an seiner Brust gelegen habe und er war auch gewiß geneigt, der Freund der Liebling des Erlösers zu werden, von welchem Johannes in jener vorgelesenen Stelle bei Hindeutung auf Jesus sagte: siehe, | das ist Gottes Lamm ... wodurch er eben auf den ruhigen, gelassenen Sinn des Erlösers hindeutet. Dagegen war von ganz anderer Beschaffenheit, des Gemüthes, jener Simon, zu welchem Jesus sagt: Du sollst Kephas oder Petrus heißen, d. i. ein Felsenmann, ein Gemüth, worin das Strenge, Harte die Oberhand hatte, das Hindurchdringen durch alle Hindernisse und Schwierigkeiten und das Abprallenlassen alles dessen was uns in unsern Weg stellen und uns aufhalten will. In dieser Verschiedenheit der ersten Glieder der christlichen Gemeinde spiegelt sich ab die Entgegensetzung in der Beschaffenheit der menschlichen Gemüther, welche oft unser Nachdenken beschäftigt und welche wir doch für nothwendig halten müssen, weil Jesus selbst bey der Wahl seiner Jünger darauf Rücksicht nahm. So sehen wir es in der Welt und so in der früheren Gemeinde und eben dadurch können sie nach all ihren Bestimmungen gefördert werden. Aber in unseren Fällen leuchtet uns das nicht so ein. Es wird oft gehört ein Streit über die Frage, welches denn die beste Gemüthsart und Naturweise wäre. Darauf ist zu antworten: jede ist gut, wenn in ihr nur lebt der Sinn und Geist Gottes, und nur das Übermaß bringt Unvollkommenheit zu Wege. Es sind mancherley Gaben aber es ist nur Ein Geist. Dieß große Wort gilt nicht nur von dem, was sich der Mensch erwirbt, von seiner Geschicklichkeit, die er in sich hervorbringt, durch seine Talente die er in sich entwickelt; sondern auch von derjenigen Verschiedenheit der Menschen, welche Gott der menschlichen Natur selbst eingepflanzt hat; welche jeder mitbringt als seine von der Natur erhaltene Ausstattung. Ja m. Fr. so und nicht anders müssen wirs ansehn. Alles dieses sind Gaben in und durch welche der Name des Herrn gepriesen werden kann. Der strenge Eifer, der beherzte Mut, die Beharrlichkeit, der Bestand, alle Hindernisse zu überwältigen ist eine große Gabe, wodurch der Mensch sich herrliche Verdienste erwerben kann; eben auch jene gelassene ruhige Seele, welche durch die Kraft der Milde und Besonnenheit nur fähig ist auf einem langsamen Wege zu überwinden, was überwunden werden soll und zu thun, was gethan werden soll. | Jener erfreulich milde Sinn, der sich leicht bey allen Gemüthern einschmeichelt, und durch die Kraft der Milde und Sanftmuth dasselbe ausrichtet ist nothwendig und so hat ein Jeder schon Kraft seiner Naturgaben seine eigenthümliche Bestimmung, sein ihm angewiesenes Geschäft, und seine ihm zugehörige Art in allem zu thun, zu handeln und zu verfahren in allen Beziehungen und Verhältnissen des Lebens. – Begleiten 3–4 Vgl. Joh 13,23.25; 21,20

23 1Kor 12,4

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wir diese Jünger auf ihrer Laufbahn, wir werden nicht finden, dass die Anhänglichkeit an Jesus das Beseeltseyn von seinem Geiste eine solche Richtung gewonnen habe, die eigene Gemüthsart abzustumpfen, so dass sie in dem höhern Alter sich einander ähnlicher gewesen wären; sondern Petrus bleibt der Strenge, Kräftige, Beharrliche und Muthige, und Johannes der ruhige, gelassene, milde. M. Fr. so lasst uns denn ein Jeder zufrieden seyn mit dem empfangenen Theil; jeder müßte den Vorzug des andern schützen, und thun wie er selbst kann, und keiner den andern beneiden, wenn er mit seinem Gemüthe und seinem Geiste ausführt, wozu ihm die Kraft fehlt. Laßt uns vielmehr uns dieser Verschiedenheit freuen; denn eben durch sie wächst das Reich Gottes, wenn nur diese menschlichen Gemüther die gemeinsame Sache des Guten und Rechten, mit gleicher Liebe und gleichem Eifer umfassen und Eins sind, und einer dem andern helfe und die gelassene Lücke ausfüllen. Aber laßt uns auch einander dulden und tragen da ja der Mensch nie ein vollkommener Tempel des Geistes Gottes sein kann. Und so finden wirs auch im Leben unsrer Jünger. In der heutigen Geschichte des N. T. werden uns besonders zwei Punkte im Leben Peters herausgehoben; sein Eifer und seine Beharrlichkeit immer in der Nähe des Erlösers zu bleiben, um zu sehn, wie es doch mit ihm kommen werde und sein hartnäkkiges Verleugnen des Herrn. Von Johannes zwar werden uns nicht einzelne Fehler erzählt: aber dem allgemeinen Lauf der Menschheit wird auch er nicht entgangen seyn; auch er wird Schwächen und Fehler gehabt haben, die eben jener Milde und Weichheit am nächsten liegen. Aber dennoch in welcher treuen Freundschaft bleiben beyde vereinigt, wie zeigt sich, daß | in dem letzten Abschnitte des Lebens und Leidens Jesu, wo er von seinen Feinden gefangen genommen wird, wie emsig eilen beyde zum Tempel des Hohenpriesters um ihren Herrn und Meister zu sehn. Und so zusammen halten sollten gerade so verschiedene Gemüther, denn gerade die Verschiedenen können am besten sich tragen und halten, weil nicht jeder in denselben Umständen in Gefahr geräth durch seine Gemüthsstimmung, und so gehn sie nur um so gewisser dem Ziele ihrer Vollendung entgegen. 2. Sehen wir, daß unser Erlöser in der ersten Zahl seiner Jünger solche hatte, welche durch Worte und Thaten sich ausgezeichneten Ruf erworben hatten, z. Th. aber auch solche von denen nicht mehr als der bloße Name auf uns gekommen ist. Johannes und Petrus ihr Ruhm um den Aufbau der christlichen Kirche wird nicht vergehen, so lange sie selbst bestehn wird. Aber Andreas und Philipp – auch sie gehören zu den Jüngern Jesu, auch sie werden von ihm erwählt und ausgesondert; aber außer einzelnen Erwähnungen hat sich nichts von ihrem Leben erhalten. Sind sie nun deßwe14–15 Vgl. 1Kor 3,16 18–19 Vgl. Mt 26,58; Mk 14,54; Lk 22,54 Mt 26, 69–75; Mk 14,66–72; Lk 22,56–62 26–27 Vgl. Joh 18,15

19–20 Vgl.

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gen geringer zu schätzen; waren sie Jesus darum weniger werth, oder sollte er sogar entberliche zu Jüngern aufgenommen haben? Das können und dürfen wir nicht glauben. Laßt uns vielmehr lernen daß auch diese Vermischung heilsam sey, daß die stillen und unbekannten Arbeiter in der Kirche nicht zu übersehn und gering zu achten sind, und daß überall unter Christen als solche kein Unterschied ist, und alle vereinigt sind durch die brüderliche Liebe zu einer Gemeinschaft. Laßt uns nirgends weder in jener Geschichte noch jetzt in unserer ausgebreiteten christlichen Kirche die stillen hintansetzen, denn m. Fr. ist es denn, jene Verschiedenheit des äußeren Ansehens, ein wahrer Unterschied des innern Werthes unter den Menschen, jener äußere Glanz, jener berühmte Nahme möchte dann dem Werth des einen wohl nichts hinzusetzen, und seine Dunkelheit dem des andren nichts rauben. Und wir wissen ja auch wie zufällig und gefähr dieß alles ist, wie verschiedene Umstände zwei an Geist und Kraft gleiche Menschen auf sehr verschiedenen Ruhm der äußern Ehre und Achtung stellen; eben wenn auch der eine verborgen bleibt wenn er auch keinen Thaler aufweisen kann, ist deßwegen die Wirksamkeit seines | Gemüths, seine Liebe zum Guten geringer gewesen. Noch mehr laßt uns erwägen, dass schon die Neigung des Gemüths selbst es mit sich bringt, daß jener höher erscheinen kann, da es die Gemüthsart des andern mit sich bringt, daß er sich verbirgt, und daß er mit gleicher Lust das Werk des Herrn betreibt aber auf stille Weise. Laßt uns fragen: wenn wir nun vergleichen die verschiedenen Arten der Thätigkeiten in der Welt; welche ist denn diejenige, welche am allerschönsten und mit der alleinigen Kraft des Herzens wirkt; die auf dem großen Schauplatze des Lebens, wo nicht zu unterscheiden ist, was der einzelne eigen gewirkt, und wo der Glanz auf Einen geworfen wird, dessen Licht von vielen ausging, oder ist es der Schauplatz des häuslichen Lebens, wo wir mit der Kraft der Liebe auf die Umgebung wirken, in ihm die beste Natur zu entwickeln und sie zum Tempel der Gottheit zu bilden vermögen. Diese ist es, und doch gibt oft nur sie dem Menschen Glanz und Ruhm; aber gerade nun diese ist die beste, und immer dann am besten, je mehr sie sich verbirgt. Darum sey Jeder zufrieden mit seinem Beruf. Beydes ist gleich nothwendig, sey Einer berühmt, bleibe der andre im Dunkel; leuchtet Einer dem Ganzen – o wenn nur das Licht, was von ihm ausgeht, das wahre Licht der Wahrheit und Liebe ist, wenn die damit verbunden, nur jene belebende Wärme des Guten ist, dann steht es um jeden wohl, dann hat jeder es wohl gemacht, und nur der Herr kann entscheiden, welches Verdienst das größte ist. 3. Können wir aus dieser Wahl lernen, wie so oft das wichtigste Ereigniß des Lebens anfängt auf eine unscheinbare Weise. So beym ersten Zusammentreffen des Erlösers mit seinen Jüngern. Wir begehren von dem was uns etwas wichtiges, bedeutendes werden soll, daß es sich auch gleich in seinem Anfang als ein solches ankündige. Geschieht das nicht; so sind wir

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mißvergnügt, niedergeschlagen und unsere Freudigkeit des Gemüthes ist erschlafft. Daß ist gewiß sehr fehlerhaft und hat seinen Grund in der Neigung zum Wunderbaren. Weit verständiger ist der ruhige und stille Sinn, zu erwarten, wie sich eine Erscheinung entwickele, und nicht von einem geringen Anfang auch nichts zu erwarten, nicht nur von einem ausgezeichneten großen, alles. Denn bey jeder andern Gesinnung können wir leicht getäuscht werden. Wieso denn schon aus der glücklichen gleichmäßigen Stimmung des Gemüths heraus. O es ist ein großes, sich einen von der Zukunft unbestochenen Sinn zu erhalten und jedes zu nehmen wie es ist; überall weniger auf das Äußere als auf das Innere zu sehen; nicht durch die ersten Reden die gewechselt wurden konnten diese Jünger angezogen werden. Aber das Zeugniß des Johannes hat ihren Glauben doch bestätigt: wir haben den Erlöser, und das ists, worauf es ankommt bey allen Verhältnissen, daß wir lernen aus dem Äußern das Innere erkennen. Gewiß ist es das Loos der Meisten, daß sie bey ihrem Berufe im Äußern eine wichtige Bestimmung etwas großes ausgezeichnetes erwarten und doch nur wenigen begegnet etwas besonderes. Nun deßwegen so ledig und gering geachtet, nur festgehalten alle am Berufe, nur geglaubt, daß nach Maßgabe Gottes unsere Treue und Liebe durch immer mehr Herrlichkeit entwickeln werde. Das ist der Glaube der Jünger und dieß sey unserer, woraus alle Freude und Beständigkeit hervorgeht, die uns dahin bringt, dass wir am Ende nicht vergeblich mit gekreuzigt sind sondern mit gesiegt haben. Amen.

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Am 25. Februar 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sexagesimae, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,13–17 Nachschrift; SAr 25, Bl. 9r–11r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 579–583 Keine Keine

Den 25. Febr. 10.

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M. Fr. Wenn Christus auf seiner irrdischen Laufbahn auch nur als Lehrer aufgetreten wäre, so wäre auch das schon eine große Wohlthat gewesen; und einmahl in die Herzen der Menschen fruchtbar ausgesäet, würde die Wahrheit nicht wieder untergegangen seyn. Allein ob sie sich auf eine solche Weise würde gestellt haben, ob sie so zeitig eine Angelegenheit des Menschengeschlechts würde geworden sein und (dann) einen so ausgebreiteten Einfluß gewonnen haben auf dasselbe, das ists, was man eher verneinen als bejahen könnte. Überall wo etwas Großes Göttliches ausgeführt werden soll, müssen Wort und That, Lehre und Werk zusammentreffen. So war auch bey Christo seine Lehre nur die eine Hälfte seines Geschäfts und die andere, daß er Hand anlegte, um die Gemeinschaft des Sinnes und Geistes zu stiften, um die Menschen zu vereinigen in Liebe und Ehrfurcht gegen Gott, darum musste er von Grund auf verbessern alle Anstalten der Religion welche früher bestanden hatten, und also anfangen bey dem was das Wesentliche der alten Verfassung war. Laßt uns jetzt in dieser Beziehung seines Lebens ihn betrachten und hier uns ein Beispiel vor Augen stellen, welches uns den Geist und die Grundsätze deutlich zu merken gibt, wonach hier verfahren werden muß. Joh. 2, 13 seq. Es war das erste Mahl, daß unser Erlöser, seitdem er als Lehrer aufgetreten war, hinaufzog gen Jerusalem, das erste Mahl, daß er in dieser Eigenschaft die heilige Stätte des Tempels betrat. Dieser war der Mittelpunkt alles äußern religiösen Lebens; an ihm hafteten alle heiligen Begriffe, von diesem gingen aus alle Einrichtungen, die das Volk ausschlossen von der übrigen 6 haben] habt

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Welt, und hierauf bezog sich das enge Band, welches sie alle vereinigte. Hier also mußte Christus das große Werk der Verbeßrung anfangen; hier musste er sich aufgefordert fühlen, den Grund zu legen zu einem andern geistigen Gebäude, welches auszuführen er gekommen war. Laßt uns die Erzählung des Evangelisten dazu benutzen, daß wir daraus kennen lernen die Grundsätze, wonach unser Erlöser bey Verbesserung alles dessen, was auf religiöse Verbindung der Menschen Bezug hat, zu Werke ging.

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1. Muß es uns in die Augen leuchten, daß er auch hier schon bewies: er sei nicht gekommen, aufzulösen und zu zerstören, sondern zu verbeßern und zu vollenden, daß es zuerst seine Absicht war mit allem sich anzuschließen an das schon Gegebene. Nach dem entgegengesetzten Sinn der sich auch häufig offenbart und sich auch vieler zu unserer Zeit bemächtigt hat, die wirklich das Gute wollen, würden mehrere fragen: Warum gab sich der Erlöser so große Mühe? Warum setzte er sich in solche Anstrengung des Geistes, und sich selbst so großer Gefahr aus, um noch auf kurze Zeit Verbeßrung an einer Anstalt anzubringen, die doch nicht lange mehr bestehen konnte und sollte. Nur ein Zwischenraum von wenigen | Jahren fiel zwischen diese Handlung und die Zeit jener merkwürdigen Wörter worin er dem Tempel den Untergang prophezeihet – ein noch geringer zwischen dieser That und jenen Worten: es wird die Zeit kommen, wo die die Gott anbeten, ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten … Aber dennoch, so wie er hier handelt, hat er späterhin immer gehandelt; überall sehen wir, daß er wollte nicht zerstören und auf den Trümmern des alten das neue Werk aufführen, sondern, so viel von ihm abhing, sollte sich das Neue auf eine milde und sanfte Weise verbeßernd an das Alte anschließen. Das ist der sanfte und milde Sinn wahrer Weisheit, welche sich bewährt als gottähnliche Kraft, welche sich nun bewieß im Erhalten und Veredeln, als die friedsame Kraft welche eben deßwegen ohne Widerstand das Innerste des Menschen in sich ziehen und mit sich einbinden kann. Dennoch m. Fr. entging jenes Gebäude des Tempels und Gesetzes dem ihm bestimmten Untergange nicht aber auch verfehlte nicht die Absicht des Erlösers seine Erfüllung. O, so gewiß dieß der Sinn Jesu ist; so gewiß muß es der Sinn derjenigen seyn, die ihm ähnlich sind und in seinem Geiste handeln wollen. Zerstören kann nur die Absicht sein, die bewußte und gewollte That eines vom göttlichen Geiste durchdrungenen Menschen; sondern all sein Thun und Streben muß immer nur gerichtet sein auf das Erhalten, Umgestalten zu einem vollkommenen Bilde. Was dann nicht mehr fähig ist, die Verbeßerung anzunehmen, das wird seinen Untergang finden; denn dieser muß nicht seyn die That des Frevels und Unrechts, sondern Wirkung eines unvermeidlichen Schicksals. Aber fragen wir uns 9–10 Vgl. Mt 5,17

20–21 Vgl. Joh 4,23

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2. worauf nur gerichtet dieser Eifer des Erlösers den er bewieß in der Säuberung des Tempels[;] was wollte er erreichen? Ruhe. Aus demjenigen Bezirke, welcher der Sammlung des Herzens des Gemüthes zum stillen frommen Leben gewidmet war, wo sich mitten unter dem geschäftigen äußern Leben, dieses selbst im Leben ausbilden sollte, sollte alles entfernt sein, was den Menschen wieder hinabziehen könnte in die Sorgen des gemeinen Lebens, mit Gedanken umstricken, welche ihm erschwerten jede Sammlung des Gemüths. Es gibt Menschen, nicht nur leichtsinnig und in irdischen Bestrebungen gefangen, sondern auch solche, die dem Guten redlich nachstreben, die aber meinen, daß alles von dieser Art noch in Betracht kommen müsse, daß es die wahre Sammlung auf Gott nicht hindern | könne. Die so gesinnten werden auch fragen, was war denn der hinreichende Grund zu einer so auffallenden That? Der Tempel war ein unermeßliches Gebäude in verschiedene Abtheilungen getheilt, und so sehr war er bereichert durch eine große Menge Volks, daß alle diese Geschäftetreibenden, wovon in der Erzählung die Rede ist, nöthig waren zur Erleichterung des religiösen Lebens. Jene können sagen, die mit den Opferthieren handeln, die Geldwechsler hatten doch Beziehung auf die Geschäfte des Tempels; könnte es nun nicht gleichgültig seyn; ob diese Menschen innerhalb oder in der Nähe waren? So hatte sich dieß natürlich gebildet, warum ließ er es nicht so fortbestehn; wenn Menschen sich dadurch stören ließen in ihrer frommen Gesinnung, so können dieß doch nur solche seyn, von welchen man nie allen Anlaß hiezu entfernen kann. So lassen sich Gründe gegen Christi Handlung anführen, und man kann hinzufügen; es sey gar nichts unheiliges gewesen was Christus hier zerstörte, so wie dann auch gerade diese Menschen wohl oft die frömmsten mögen gewesen seyn. Aber m. Fr. wie anders ist menschliche Klugheit und, ein andres Christi Einsicht, der sich hier das Richtige muß gezeigt haben. Es ist viel daran gelegen, daß alles rein und unentweiht gehalten werde von Jedermann und zu aller Zeit, was mit der erhabenen Bestimmung zusammenhängt den Menschen zu unterstützen in seinem Streben, sich zu finden und dem Umgang mit Gott zu leben. Eben weil ein Jeder es fühlt, wie schwach wir hier sind, welche Gewalt die äußere Welt über uns ausübt, so daß jede leise Berührung durch die lange Gewohnheit uns herausreißt aus der Betrachtung des Höchsten; so heißt es ein frevelhaftes Spiel treiben, wenn man alles Äußere und Fremdartige durch einander gehen lassen will, und es würde der ernsten Anstalt geschaden, wenn man nicht auf jene äußere Absonderung denken wollte. Eben das war der Keim gewesen des Verderbens jenes Volks, daß beydes Heiliges und Irdisches sich von früh an vermischt hatte; daß die Angelegenheiten Gottes auch Angelegenheiten des bürgerlichen | Lebens waren. (Tempel ein doppelter Vereinigungsort.) Daher jene Fertigkeit auch zu bezeugen mit dem Äußern und leeren Worten. Daher erschien Christo dieß so wesentlich so daß er [,] was er hier that, später wiederholte. – Indem

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Maße als wir den Werth der Anstalt, Kraft derer wir uns äußerlich als Christen darstellen fühlen, um so mehr liegt es auch ob, einem jeden von uns, nach seinen Kräften bey zu tragen, daß diese Anstalten rein erhalten werden von aller Vermischung. Eben der, der das große Wort aussprach, daß eine Zeit kommen werde, wo die, die den Herrn anbeten ihn nicht im Tempel und auf den Höhen sondern im Geist und in der Wahrheit anbeten werden, eben der verband danach seine Jünger in einer äußeren Gesellschaft und legten den Grundstein zur Christlichen Kirche. Darum lasst uns festhalten an diesem Band der Gemeinschaft, mit dem Christus uns umfangen hat.

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3. Mit welchem Rechte ging der Erlöser hier so zu Werke. Waren es denn nicht die Aufseher und Obrigkeit, denen die Sorge dafür zunächst oblag, war nicht ausgesehen dazu die Familie der Priester. So mischte sich ja der Erlöser in etwas was seines Amtes nicht war; Christus hielt sich also nicht in den Grenzen der äußern Pflicht und des Rechts. Aber so ists nicht, und dieß ist ein deutlicher Widerspruch gegen jene allzuenge Gesinnung, welche sich in dem, was geschehen soll, verlassen will auf andre. Freylich lag der Priesterschaft ob die Aufsicht des Tempels; aber sie war zu nachsichtig, fordert auch wohl ihre Rechnung dabey zu dulden, was nicht zu dulden gewesen wäre. Aber es war auch eine freye Sitte jenes Volkes und Zeitalters, daß jeder etwas, was dem öffentlichen Rechte zuwiderlief, angreifen und wegrücken daß er handeln konnte, und dieß wurde betrachtet als der Ausbruch eines redlichen Eifers. So sehn wir, daß die ihn Umgebenden gar nicht fragen, was ihn berechtige, so zu | verfahren; sondern nur was es wohl bedeute. Freylich wo das menschliche Handeln eingetheilt ist in Ämter; da ist es nicht frey gestellt, wie der Erlöser frey zu handeln und seine Kräfte an die Stelle dessen zu setzen der da feyert und nicht nachlässig ist; eben der freye Sinn jener Zeit, der ist übergegangen in die Denkungsart und Sitte aller christlichen Völker und das nothwendig in eine allgemeine Verpflichtung, allem Bösen zu wehren und das Gute zu befördern. Und darum hat jeder Unrecht, der da sagt: hier könnte ich wohl etwas gutes thun; aber es liegt nicht im Kreise meines Berufes; denn dieß ist die Sprache derselben Trägheit, desselben feigherzigen Sinnes. Auch der Erlöser hätte dieß nicht gekonnt, gedurft; eben seine eifrige Rede hat vorbereitet die That, und alles mit Theilnahme erfüllt; und so von ihm begeistert waren sie dann beschäftigt, um das angefangene Werk der Säuberung zu vollenden. Ist dieß nicht die Art und Weise, wie wir auch zur Verbeßrung und zur Förderung des Guten mitarbeiten sollen; kann nicht auch jeder jetzt seine Stimme erheben, und haben wir nicht noch die Gewalt der öffentlichen Meynung, und die noch schreckenden Geißeln der Furcht und Schaam. Laßt diese uns anwen4–7 Vgl. Joh 4,21–24

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den, und jeder zur Beförderung des Guten und Steuerung des Bösen mitwirken, wir erkennen; jeder soll seine Stimme erheben, handeln oder folgen, helfen die, damit das große Werk der Menschheit gefördert werde. Wir sind ein priesterliches Volk, dazu berufen, den großen geistigen Tempelbau rein zu halten und zu schmücken.

Am 4. März 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Estomihi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 2,1–12 Nachschrift; SAr 25, Bl. 11v–13r; Matthisson Keine Keine Keine

Den 4. März 10.

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M. Fr. wir haben in unser früheren Betrachtung Christum als Lehrer der Menschen, Verbeßerer ihrer urchristlichen Gemeinschaft kennen gelernt, wir haben gesehn, wie er das heilige ihm vom Vater aufgetragene Werk betrieb. Und dadurch wäre er denn geworden der Gründer der ewig beseligenden Wahrheit, dadurch hatte er gelegt den Grundstein eines göttlichen Reichs auf Erden. Aber wo wären doch diejenigen, welche sich durch diese Wahrheit beseligen ließen, die den Muth hätten, mitzuwirken zur Ausbreitung dieses Reichs Gottes, wenn er uns nicht noch etwas anders gewesen wäre, wenn er bloß Lehrer und nicht auch unser Erlöser geworden wäre. Das ist aber unsre Erlösung nämlich die Vergebung der Sünden. Auch diese Vorstellung (bey der Trennung beyder Stücke in Christo) hat zu Verwirrungen Anlaß gegeben, als wäre es noch eine besondre Kraft gewesen, wodurch er den Menschen Vergebung der Sünden ertheilen könnte. Aber wer seine Lehre annimmt und befolgt, der hat gewiß Vergebung; aber das ist gewiß, daß, wenn wir aus seinen Lehren und aus der Stiftung seines Reichs diesen Trost schöpfen sollen, schon eine tiefe Einsicht in dieselbe und eine Erfahrung von unsern Herzen erfordert wird. Wenn diese gereift wären, so würde es Jeder in jeder Zeit gefühlt haben, daß er eben mit und durch das Reich Christi Vergebung der Sünden habe. Aber erst mußte der Grund zum Reich Gottes gelegt werden – und darum war es wichtig, daß er einzelnen Menschen nahe trat als Erlöser und sagte: Deine Sünden sind dir vergeben, und darum ist uns dieß heilige, die Göttlichkeit seiner Kraft verkündigende Geschäft, nämlich Sündenvergebung das nothwendige Dritte zu jenen Beyden. 2 Vgl. 25. Februar 1810 nachm.

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So laßt ihr uns denn, ehe wir ihn begleiten zu seinem letzten Kampf des Leidens und Sterbens, heute noch betrachten in einem solchen Falle, wo er jenes tröstliche Wort | aussprach, und auch darin seine herrliche Gesinnung und das ihm ewig vorschwebende Gesetz seines Thuns, uns vor Augen zu stellen.

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Wie es uns oft ergeht m. Fr. mit dem, was Christus einzeln gethan hat, daß es uns nicht erscheint als eine einzelne Begebenheit, sondern als eine allgemeine Geschichte und als das was jeder durch seine Weise erfährt; so auch hier und jeder, der zurücksieht auf sein früheres Leben, wo auch er des Trostes bedurfte, jeder wird einsehn, daß die Verhandlung zwischen dem Erlöser und ihm, ihr Anfang und Ende eben so gewesen ist, wie sie hier beschrieben wird; also ein Sinnbild des ewigen Verhältnisses zu dem Erlöser und und zwischen denen, welche Vergebung der Sünden bedürfen. Laßt es uns so beachten, daß wir lernen, wie es geschieht, daß Christus die Sünden vergibt. 1. Bedingungen, unter denen sie Statt findet. 2. heilbringende Folgen derselben. 1. Welches sind die Bedingungen unter denen der Erlöser den sinnlichen Menschen, jenen Trost der Sündenvergebung gibt? Niemand erkennt das für eine Wohlthat, deren Werth er nicht fühlt. Daher müssen wir ohne Zweifel voraussetzen, daß in demjenigen, zu welchem Christus sprach etc.: das Bedürfniß eines solchen Trostes gewesen sey; aber dazu kommt dann noch, was wir in jener Stelle finden: Als Jesus ihren Glauben sah etc. Seht da, dieß beydes muß sich vereinigen, da wo es vereinigt ist, da ist Empfänglichkeit für jenen Trost. Das Bedürfniß eines bedrängten Herzens, dem nichts fröhliches begegnen kann und der Glaube daß Christus der Erlöser sey, der helfen kann. Es gibt einen Zustand des Gemüthes, den wir früher oder später alle durchgehen, und worin das Bedürfniß recht dringend gefühlt wird das im Brief Pauli an die Römer so beschrieben wird: So finde ich nun zugethan dem Gesetze Gottes; aber ich finde ein andres Gesetz ... und das Gute was ich will thue ich nicht, und das Böse was ich nicht will thue ich ... wer wird mich erretten von diesem Elende ... | aber ich danke Gott ... durch unsern Herrn Christus. – Ja, m. Fr. wenn der Mensch erkennt das heilige Recht; aber sich doch nicht losmachen kann von dem Gesetze der Sinnlichkeit ... dann ist er mit sich selbst in einem solchen Wiederspruch, daß er sich nicht vergeben kann seine Sünde; denn der Widersacher ist in 6 Marc. 2, 1–12.] Marc. 2, 1–. 30–34 Vgl. Röm 7,21–25

26 Herzens] Herzen

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ihm selbst. Aber diesen Trost wird er nicht finden, als Christ. Er muß sich öffnen dem Glauben, daß Jesus der Helfer ist. So oft der Mensch im Gefühl seines eignen Unvermögens sich hingibt diesem Glauben an den Erlöser, sich immer kräftiger anschließt an seine Verheißung, und mit Liebe zum Guten und Haß gegen das Böse erfüllt ist. In diesem Maße spricht der Erlöser in ihm das tröstliche Wort aus. Wer es als lebendiges Bestreben fühlt, mit zu wirken zu der allgemeinen Vergebung, dessen Sünden müßten ja auch hingenommen seyn, wer sich gern losmachen möchte von allem Bösen, der muß es fühlen, daß aber in dieser Hingebung an Gott bestehe die Vergebung seiner Sünden. Je mehr dann aber dieser innere Widerspruch schwindet, je mehr das Gesetz Gottes Besitz nimmt von dem Menschen, um desto weniger begehrt er den Trost; eben das ist ein stetes Ziel, und nicht ein Augenblick der Umkehr; sondern bey jeder bedeutenden Abweichung von seinem Wege, bey jedem neuen Siege der Sinnlichkeit, haben wir nöthig aufs neue hinzuschauen auf den Sündenvergeber.

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2. Die unmittelbar herrlichen Folgen, welche sich äußern, wenn das Wort Eingang gefunden hat im Gemüthe des Menschen. Welches ist der sichtbare Erfolg, der uns in dieser Geschichte entgegenkommt? Daß Christus nach jenen Worten auch noch hinzusetzt: Stehe auf und wandele. Nun läßt sich dieser Erfolg auf zweyfache Weise ansehn. Diejenigen die alles nur beziehn können auf äußeres Glück, auf Freuden des Daseyns, und denen jene Vergebung der Sünden ein Geheimniß ist, erwarten, daß mit dieser Vergebung der Sünden alles Übel weggenommen werde. Aber jene deutlichen Worte zeigen uns, daß er das nicht gemeint habe und daß wir ein plötzliches Verschwinden des Übels nicht erwarten können. Aber es findet eine andere Ansicht Statt. Es giebt keinen Zustand, der ein deutlicheres Sinnbild wäre von der Herrschaft der Sünde, als der körperliche Zustand des Unglücklichen: Gänzliche Lähmung der Kräfte, welche dem Leben allein Sinn und Rücksicht und Bedeutung geben, ein hülfloses | Hingegebenseyn an das, was von außen kommt, an das Gefühl des Unvermögens. So wie der Unglückliche unvermögend war, sich zu bewegen, so der Sünder der die Kraft des Geistes nicht bewegen kann, der keinen eignen Schutz hat, der von Sinnlichkeit getrieben handeln muß. Und in diesem Sinne war es nichts neues, wenn er die Aufforderung hinzusetzte: Stehe auf etc. Kein großes Wunder spricht er aus, denn so zeigt sich die Kraft der Sündenvergebung im Menschen, daß die gelähmten Kräfte im Menschen wieder aufleben, daß sie dem Winde des Geistes folgen. Zur Thätigkeit nach dem Gesetze Gottes ersteht der Mensch aufs neue. Wohl dem, dem der Herr seine Sünde vergeben hat, und der findet, daß er Thaten im Reiche Gottes verrichten kann, der diesen Trost im Herzen hat, dem nicht mehr die verborgne Kraft der Sünde lähmt die göttliche Kraft. Aber so hängt denn auch dieses mit jenem zusammen; denn eben die Ähnlichkeit nach dem Gesetze Gottes

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ist es, welche Vergebung der Sünde heißt. Aber das ist auch das erste, daß der Mensch sein Übel nicht ansieht als Strafe der Sünde, sondern als etwas, was nur hinweggenommen werden kann durch die vermehrte Thätigkeit der Menschen. Dieß ist das unmittelbare Verhältniß zwischen dem Erlöser und zwischen denen, welche Vergebung der Sünden empfangen.

Am 20. April 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 19,25–30 (Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 25, Bl. 13v–16v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 383–390 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 6r–11v; Matthisson Keine

Am Charfreitage 1810.

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Eingangsgedanken. Immer macht der Anblick des Todes als des plötzlichen Aufhörens des Lebens einen erschütternden Eindruck auf uns; verschieden aber sind die Eindrücke des Todes, als endlich nothwendige Auflösung als Gesetz der Natur, und des gewaltsamen Todes, der plötzlich und in der Blüthe des menschlichen Lebens und Wirkens wie ein Sturmwind zerknickt; und wir werden erfüllt von Staunen und Mitleid. Aber Freude Erhebung sind die Gefühle, die uns erfüllen und alle andren schwächern zurückdrängen wenn wir einen Märtyrer vollenden sehen, der im Dienste der ewigen Wahrheit und Gerechtigkeit um ein höheres Gut, das geringere freudig dahin gibt. Darum sind auch vor allem fern von uns alle Empfindungen des Mitleides des Erbarmens, wenn wir auf den Tod des Erlösers sehen, dessen Fest wir heute begehen, auf ihn, der so herrlich und groß vollendet hat. Darum sey die Betrachtung seines Todes der Gegenstand unserer Andacht in dieser Stunde.

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Joh. 19, 25–30. Diese letzten Worte des Erlösers, die allein der Jünger vernommen zu haben scheint, der ihm treu gefolgt war (weil sie uns kein andrer berichtet) diese herrlichen Worte sind von je her tief ins Herz jedes Christen geschrieben gewesen. Fern davon, wie die, die alles was Christus in der lezten Zeit that und redete, nur ansehn als Ausdruck seines bevorstehenden Todes, auch diese Worte auf die kurzen Leiden und Schmerzen zu beziehn – haben die Christen immer eine Große und herrliche Bedeutung darin gesucht, und wenn es zuviel ist und eine zu kleine Vorstellung verräth von der großen Bestimmung und dem ewigen Werke des Erlösers, mit vielen zu glauben, |

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daß der große und heilige Augenblick seines Todes der Anfang und das Ende des ganzen Geschäftes der Erlösung gewesen wäre; so sind uns doch diese Worte das letzte Zeugniß, welches Christus ablegt von sich selbst und wie könnte es ein größeres und herrlicheres geben, als wenn der Mensch am Schluss seines irrdischen Lebens sagen kann: es ist vollbracht. So lasst uns in Betrachtung dieses Wortes dieses Fest begehn, und das Bild dessen uns einprägen, den Gott so herrlich vollendet. Wir wollen den Sinn dieser Worte zusammenfassen in folgenden beyden Betrachtungen. 1. Der Erlöser konnte sagen: es ist vollbracht, weil er sein irdisches Leben geführt hatte zu einem nothwendigen Ziele. 2. Er konnte es sagen: weil sein persönliches Geschäft in der Welt rein vollendet war. Dieß lasst uns andächtig erwägen und den Gekreuzigten dadurch in unserm Herzen verherrlichen. I. Es bleibt uns immer etwas Unbefriedigendes darin, wenn das, was wir nach dem Maaße menschlicher Einsichten Zufall nennen dürfen, zu regieren scheint über die Dauer und das Ende des menschlichen Lebens, wenn es einem Mangel an Vorsicht, an Kunst und Geschicklichkeit in Behauptung der zum Leben erforderlichen Kräfte zu zu schreiben ist, daß so viele sterben, ohne das natürliche Ziel erreicht zu haben. Schon dann, wenn wir sehen, daß nach einer nützlichen Thätigkeit, nachdem dadurch früh oder spät das Maaß menschlicher Kräfte erschöpft ist, die Nothwendigkeit der Natur, die Zerstörung des Lebens herbey führt, sind wir ruhig, denn das Ziel ist erreicht, und wir erkennen befriedigt die Nothwendigkeit des Todes. Aber etwas andres ist es noch, wenn der Mensch freywillig sein Leben im Kampfe [hingiebt] für etwas, was seiner Überzeugung nach mehr werth ist | als das Leben; denn bey jenem ist es doch nur die Vergänglichkeit Zerbrechlichkeit der menschlichen Natur, die hervortritt; aber hier ist, was aus ihm selbst wirkt, und aus ihm heraus, die höchste Kraft und die Schönheit und Würde der geistigen Natur, und ist auch Vernachlässigung seines Amtes und mannichfaltiges Unglück und Verwirrung damit verbunden: gern wenden wir den Blick weg, um das Auge des Geistes an dem zu weiden, der so vollendet, der so beweist die göttliche Kraft des Menschen über die Gesetze des sinnlichen Lebens. Und so geziemt es dem zu enden, der zu heilig war und zu groß, zu verbunden mit der Gottheit als daß die Spuren der menschlichen Schwäche sich hätten zeigen sollen in seinem Tode; so geziemt es dem zu sterben, der für uns werden sollte der Anfänger und Vollender des Glaubens. Wenn so, wie es war sein Glaube an sich selbst in Streit gebracht mit dem niedrigen Daseyn der Menschen seinen Tod 37–38 Vgl. Hebr 12,2

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nothwendig hervorbrachte; so ist eben dadurch begründet worden in vielen Tausenden der Glaube an ihn. Ja, m. Fr. wir sind gewiß alle darüber einig, es gibt nichts größeres und Herrlicheres, als den Tod des Märtyrers, der für das, was in sein Herz gegeben ist, als das Gesetz seines Lebens, das Leben selbst läßt; so einig, daß, ob ein Mensch dieß vermöge oder nicht, die einzige Bedingung ist, unter der wir ihm höhere Achtung zugestehn. Denn so lange es sich in einem Menschen nicht offenbart, daß es für ihn etwas gäbe, was ihm lieber ist als das Leben, so lange ist er ein Mensch, der nicht durch die sittliche Kraft und Freyheit bewegt wird; sondern nur der flüchtige Schatten der menschlichen Gestalt, beweglich und bewegt durch einen Hauch, und wir sehen ihn wohin dieser blaset, auch hierhin und dorthin blasen und treiben. Wohlan denn, m. Fr., der dessen Tod wir feyern hat uns dieses hinterlassen als höchstes Ver|mächtniß, daß es nur durch die Kraft seines Todes etwas gibt, was uns lieber ist als das Leben. Und, damit immer mehr die Menschen zu durchdringen hat sich auch dieser Tod, bey dessen Anblick jeder begeistert werden muß für alles Gute, in der Geschichte seiner Jünger so oft wiederholen müssen; von dem an, der an der Schwelle des Lebens den Himmel offen sah etc. und dem andern, der sich gürten ließ und führen, wohin er nicht gewollt, bis durch die große darauffolgende Zeit die Lehre des Kreuzes höher errichtet ist, und das Gebiet des himmlischen Reiches weiter ausgebreitet unter den Geschlechtern der Menschen, und auch wir durchdrungen von derselbigen Liebe, von demselben heiligen Gehorsam, uns versammelt finden unter diesem heiligen Kreuze des Erlösers. Und haben wir auch jetzt nicht so häufige Gelegenheit es durch den Tod zu beweisen, daß der Glaube an den Erlöser uns lieber ist als das Leben; so können wir doch alle diesen Sinn im Leben selbst offenbaren. Noch täglich wird der Mensch gelockt von der sinnlichen Welt, noch täglich kann er beweisen, daß ihm das Ewige lieber ist als das Irdische und Vergängliche. Und wenn wir uns so fern halten von der Feigherzigkeit Schlaffheit derer, die an dieses vergängliche Leben gebunden sind, an das, was darin lockt; wenn wir festhalten das ewige Leben: dann haben auch wir Theil an seinem herrlichen Tode; dann sind auch wir inbegriffen in dem göttlichen Ausdrucke, vollbracht zu haben; dann sind wir in dieser Gesinnung beständig begriffen darin, uns zu vollenden gleich ihm. II. Konnte der Erlöser sagen: es ist vollbracht, weil sein persönliches Geschäft in der Welt nun rein abgeschlossen war und vollendet. Freylich derjenige, der mehr auf das Äußere und Einzelne sieht als auf das Innere und Ganze, dem kann es so | nicht scheinen; er sieht im Tode des Erlösers nur eine gewaltsame Unterbrechung dessen, was er durch ferneres Lehren und Leben noch hätte fortsetzen können, und daß doch nur 17–18 Vgl. Apg 7,55

18–19 Vgl. Joh 21,18

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der erste Grund gelegt sey zu dem Bau Gottes, welchen weiter zu fördern wir berufen sind und alle künftigen Geschlechter. Aber um zu sehen, mit welchem Rechte auch in diesem Sinne der Erlöser sagen konnte: es ist vollbracht; so laßt uns zweyerley betrachten[:] a. daß nur durch seinen Tod die strenge Scheidewand gesetzt wurde zwischen denen, welche aus reinem Herzen ihm anhängen konnten, und dem großen Haufe der Kinder dieser Welt, daß er aber b. doch mit dem festen Vertrauen scheiden konnte, daß das Bestehen seiner Lehre gesichert sey, daß gesichert sey die fortgehende Erlösung der Menschen von dem Bösen. a. Wir wissen unter welchen Erwartungen der Erlöser auftrat, wie er sein Daseyn und seinen Dienst anknüpfen mußte an diese Erwartungen; wir sehen, wie deßhalb in seinem Leben abwechseln eine Ebbe und Fluth des Beyfalls der Welt und ihrer Gleichgültigkeit gegen ihn; wenn er sie lehrte und hoffen ließ große Güter und sie ergriffen wurden von der Wahrheit seiner Lehre so strömten sie ihm zu; sagte er aber: sein Reich sey nicht von dieser Welt; stellte er ihren fleischlichen Erwartungen gegenüber sein himmlisches Vaterland; so verließen sie ihn, und so fand er sich veranlaßt zu sagen, einmahl, wer nicht wider mich ist, ist für mich, und dann wieder, wer nicht mit mir sammelt, der zerstreuet. Eher war an keine Vollendung seines Werkes zu denken, ehe keine Scheidung Statt fand. Diese Trennung der echten und nicht echten Anhänger geschah und konnte nur geschehen durch seinen Tod; wie konnten nun die ihm anhängen, die einen irdischen Erlöser hofften; aber auf der andern Seite, die nun noch ihm treu blieben, die nun eine neue Ursache fanden, ihn zu verehren, die durch seinen Tod mehr als durch sein Leben | gereinigt wurden in ihren Herzen, wie konnten diese sich von ihm trennen, und wenn er auch nichts gewußt hätte von denen, die sich zerstreuen ließen, und von denen, die unter seinem Kreuze standen erfahrend, welche Kraft von ihm ausgehe; so hätte er doch sagen können: es ist vollbracht. Aber er wußte, daß es noch viele andere geben werde, die eben so den Gekreuzigten verherrlichen würden, und so musste er erhöhet werden von der Erde, um diejenigen von reinem empfänglichen Sinne zu sich zu ziehen, und zu einem geistigen Leben zu erhöhen. M. Fr. laßt uns auch hierin nicht nur verehren die weisen Wege der Vorsehung, welche der Erlöser vollendete, damit sich in den Menschen bewähren könnte die Reinigkeit ihres Glaubens an den Gekreuzigten. Lasst uns nicht nur ihn glücklich preisen, der mit der herrlichen Überzeugung von dem Heil des Menschengeschlechts, das irrdische Leben gesegnen konnte; sondern laßt uns bedenken, daß auch für uns dies das wohlthätige ist in unserm Leben, und daß keiner sich einen Christen nennen darf, der sich dessen nicht bewusst ist. Das große Werk der 31 Sinne] Sinnes 15 Vgl. Joh 18,36

17–18 Vgl. Mt 12,30; Lk 11,23

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geistigen Schöpfung dauert noch fort, und wenn wir auch sehen einzelne Gegenden hell erleuchtet von der Sonne der ewigen Wahrheit, so leben doch viele und die meisten oft in einem ungeschiedenen Nebel, der sie leicht verwickeln und verdunkeln aber auch sich auflösen kann in himmlische Klarheit. Auch wir sollen scheiden den Schein von der Wahrheit, und jeder wie unscheinbar sein Beruf sey, hat es zu thun mit demselben Geschäfte; jeder wird oft mißverstanden mit seinen Grundsätzen, Empfindungen, dem Ziele seines Lebens; von einigen richtig geschätzt, von andern heruntergezogen in den niedrigen Kreis ihres sinnlichen Lebens. Darum lasst uns immer streng und deutlich scheiden durch Wort und That was wir thun und treiben, und es deutlich offenbaren, daß es uns nicht um das Irrdische zu thun ist, noch um ein Gut dieser Welt, sondern daß wir vollenden wollen, gleich dem Erlöser, und gelingt es uns nicht, die Menschen, in deren Daseyn das | unsrige verflochten ist, zur reinen Überzeugung zu bringen, uns lossagen von ihnen, so wie von allem Irrdischen; aber auch in fester und unerschütterlicher Treue und Liebe die wenigen versammeln, und festhalten und durchdringen mit derselben Kraft – dann werden auch wir vollendet haben. Und eben so denke doch keiner so gering von sich selbst, als ob mit ihm selbst auch das verginge, wozu er dagewesen ist. Sind wir eingewurzelt in dem Erlöser; sind wir Reben an dem ewig grünenden Weinstocke, Glieder an dem Haupte dessen, der im Himmel erhoben ist; so sind wir auch wirksam und theilhaftig an dem großen Werke das gleich ewig ist mit dem Geschlechte der Menschen selbst. Jeder muß Saamen streuen der erst aufgehen kann, wie der des Erlösers, nachdem er selbst lange dahin ist. Haben wir nichts ausgesäet für die Zukunft, gibt es kein menschliches Werk, was wir hervorgebracht, auf eigenthümliche Weise gestaltet, oder mitwirkend gefördert haben; dann haben wir nicht vollbracht; dann kann auch unser Tod nicht ähnlich seyn dem Tode der Erlösers. Wie er vollbracht hat, so laßt uns auch vollbringen, und wirken ehe die Nacht eintritt; so laßt auch uns die Zeit auskaufen, das Bild des Herrn im Auge, wandeln wie er, und so oft uns etwas niederschlagendes in den Weg tritt, auf die Zukunft den Blick gerichtet, uns sättigen, wie er sich sättigte, mit der Anschauung alles Guten und Schönen, was nach uns seyn wird, aber uns nicht fremd seyn kann, weil es auch hervorgeht aus unserer Wirksamkeit, und Streben, aus unserm Leben und Thun. Und der Mensch kann gar nicht anders nur so das Werk des Erlösers fortsetzen immer und unaufhörlich, daß dieser mit Recht sagen kann es ist vollbracht, daß er allen Menschen der Erlöser werde. So sey uns dieser heilige Tag dazu gesetzt, daß wir das Bild des Erlösers fester im Herz tragen, daß wir nachjagen dem Ziele einer gleichen Vollendung, und im Andenken an diesen Tod auch unser Leben führen als solche, die gleich ihm wünschen zu sterben, und im Ge20–21 Vgl. Joh 15,5

21 Vgl. 1Kor 12,12–31

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horsam gegen sein Gesetz uns umgestalten in sein Bild; dann werden die Früchte seines Lebens und Todes unser seyn, dann wird auch er durch die Kraft seines Todes uns mehr zu sich ziehen, mehr in uns wirken sein Geist, und wir Antheil haben an dem Kreuzestode des Herrn!

Am 16. Mai 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin PredSal 3,11–13 a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 1r–4v (Abschrift einer Nachschrift Matthissons) Texteditionen: SW II/7, 1836, S. 391–401. – Predigten, ed. Urner, 1969, 21969, S. 166–174 b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 19v–22v; Matthisson Texteditionen: Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 25, Bl. 23r–26r; Matthisson Keine

a. Autograph Schleiermachers 1r

Am Bußtage 1810 (Matthiss.) So oft wir uns an diesem Tage in den Häusern der Andacht versammeln, dürfen es nicht übersehn, daß dies kein Festtag ist von der christlichen Kirche selbst gestiftet, nicht wie die andern auf ihre heilige Geschichte sich beziehend, sondern angeordnet von jeder christlichen Landes Obrigkeit bezweckend die besonnene Ueberlegung unseres gemeinschaftlichen Zustandes die heiligen Verhältnisse in welchen wir zu unsern Mitbrüdern stehn die Treue mit welcher wir sie erfüllen. Dies sollen wir zum Gegenstand unserer Andacht machen, in dieser Beziehung soll das Gebet der Frommen zum Himmel steigen und der Sünder sich an die Brust schlagen zur Besserung. Und wie wir auch diesen Tag betrachten und benennen mögen, mehr einen Tag der Buße oder mehr einen Tag des Gebetes, wenn gleich das eine uns mehr hinweiset auf die Vergangenheit, das andre mehr das Bild der Zukunft uns vors Auge bringt, beides ist doch unzertrennlich. Denn wer unter uns vermöchte flehende Hände Gott zum Wohlgefallen und dem Vaterlande zum Segen aufzuheben, der nicht zuvor Buße gethan? und was ist es anders was zunächst zu einer fruchtbaren Betrachtung sei3 dürfen] zu ergänzen wohl wir 1 Vgl. Einleitung, Punkt I.1.

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nes Inneren den Menschen stärkt als ein vertrauungsvolles Gebet. So laßt uns auch jezt unsern gegenwärtigen Zustand betrachten in Bezug auf unsere große und theure Verbindung als Untergebene Eines Gesezes als Bürger Eines Volkes. Laßt uns darauf unsre Aufmerksamkeit so richten, daß sich von selbst auflöse unser Gemüth in Demuth vor Gott und in fromme kindliche Gebete zu ihm. Text. Pred. Sal. 3, 11–13 Er aber thut alles fein zu seiner Zeit und läßt ihr Herz sich ängsten wie es gehen soll in der Welt denn der Mensch kann doch nicht treffen das Werk das Gott thut weder Anfang noch Ende. Darum merkte ich daß nichts besseres darin ist denn fröhlich sein und ihm gütlich thun in seinem Leben. Denn | ein jeglicher Mensch der da isset und trinket und hat guten Muth in aller seiner Arbeit, das ist eine Gabe Gottes. Dies kann auf den ersten Anblik eine Erörterung scheinen die nicht recht zum tiefen Ernst des heutigen Tages paßt, daß der Mensch fröhlich soll sein in seiner Arbeit und guten Muths. Wer aber den ganzen Inhalt und Ton des Buches, woraus diese Worte genommen sind gegenwärtig hat, der wird auch den Sinn derselben richtig deuten. Denn aus der Betrachtung nicht nur, wie alles so weit es irdisch ist auch eitel ist und vergänglich, sondern auch aus der, wie Erkenntniß und Einsicht allein den Menschen noch nicht weit bringt, so wie aus der, wie Jeder nur sein eigenes Wohlergehen schaffen will, und eben darum nie trifft das Werk des Herrn weder Anfang noch Ende – aus dem allem ergab es sich dem Weisen, dies sei das Eine Gut, fröhlich zu sein in der Arbeit und guten Muths. Warum sollten auch wir uns heute nicht ermuntern eben dahin zu streben, daß wir fröhlich seien in der Arbeit. Wolan denn so wollen wir dies auch zum Gegenstande unserer Aufmerksamkeit machen. Aber um den wahren Sinn dieser Worte mit unserer Betrachtung zu erreichen: so laßt uns auf den Zusammenhang achten und uns fragen Zuerst Warum soll der Mensch nur fröhlich sein in der Arbeit; und zweitens was macht uns dazu, und ich zweifle nicht es werden daraus Gedanken und eine Verfassung des Gemüthes sich bilden wie sie diesem Tage angemessen sind. I. In seiner Arbeit soll der Mensch fröhlich sein und guten Muths; nicht im Genusse. O wie sehr alles, wonach der Mensch nur strebt um daher mehr leidend als thätig sich verhaltend, Genuß zu empfangen, wie alles das leer und eitel sei, das kann uns jede, auch 31 Zuerst] über der Zeile

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die flüchtigste Ansicht der Welt und des Lebens lehren, weil wir sehen, daß die Menschen die Befriedigung doch nicht finden die sie suchen, weil sie wenngleich mit einem flüchtig erhöhten Lebensgefühl, doch dafür mit geringerer Empfänglichkeit und abgestumpftem Sinn davon zurück kehren. Aber mehr als sonst werden wir das inne in Zeiten großer Umwälzungen, wo am schnellsten alles das was der Mensch als Stoff zum Genuß um sich versammelt hat durch die Stürme von aussen hinweggeführt wird wie Spreu vom Winde. Ja eitel und leer muß das Bestreben des Menschen sich | darstellen, wenn er nur darum ein neues Leben und eine neue Zeit herbei führen wollte, daß er sich neuen Stoff sammle zum Genuß, um darin fröhlich zu sein; denn es droht ihm die Unsicherheit, der Engel mit dem feurigen Schwerdte den der Herr vor dieses vergängliche Paradies gestellt hat, damit die Menschen im Schweiß ihres Angesichtes ihr Brodt essen sollen und in der Arbeit suchen ihre Fröhlichkeit. In der Arbeit, nicht im leichten Spiel der mannigfaltigen Kräfte die ihm verliehen sind sondern in der Mühe und Anstrengung soll der Mensch fröhlich sein und guten Muthes. Wohl gab es Zeiten, und manches liebliche Bild steht uns davon vor Augen, es gab Zeiten und giebt Völker, unter denen soviel und mehr als wir schaffen können mit Sorge und Anstrengung und Mühe gewonnen wird durch leichtes Spiel durch eine frohe Thätigkeit der Niemand Mühe und Arbeit ansieht; und es erscheint uns nur als ein Zeichen eines bessern Zustandes, einer höheren Ausbildung des Menschengeschlechtes, wenn wir ohne Anstrengung das Werk Gottes verrichten können. Aber wir werden es uns nicht verschweigen können, daß das nicht unser Theil sei. Haben Andere das genossen so mögen sie es für uns mitgenossen haben, und wir wollen uns dieses Glückes wie theilnehmende Mitbrüder von Herzen freuen und uns erlaben und stärken an diesem fröhlichen Bilde. Das aber ist[,] wir fühlen es[,] unsere Lage, daß wir nur fröhlich sein können in Mühe und Anstrengung, und zwar nicht nur die geringen durch ihre Geburt und ihre äußere Begrenzung zu einem mühevollen Leben berufen, sondern bis hoch hinauf auf den Gipfel der menschlichen Gesellschaft erstrekt sich dieses härtere Gesez. Wo so viele Gefahren drohen, wo bei jedem Schritt der Boden wankt, da muß Mühe Sorge Angst und Arbeit sein auch bei denen die sonst nur mit Einem Winke zu gebieten, nur aus einer allgemeinen Uebersicht des Ganzen heraus zu herrschen gewohnt waren; und es ist keiner unter uns der sich diesem Gesez entziehen dürfte. Daher verächtlich und als Feinde des gemeinen Wohls müssen uns wie immer so besonders jetzt die vorkommen die mit Gaben des Glüks und des Geistes ausgerüstet gar 12–13 Vgl. Gen 3,23–24

14–15 Vgl. Gen 3,19

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nicht für ihr eigenes Bestehen zu arbeiten gezwungen, | sich jetzt weit weniger als sonst mit dem was ihnen nur nothdürftig ist begnügen aber von dem leichten müßigen Spiele des Lebens sich nicht trennen wollen. Nein, ein Jeder soll immer hinschauen wo es fehlt, und mit dem Ueberfluß seiner Kräfte von welcher Art sie nun sein mögen aushelfen und unterstüzen die Schwachen und nichts für ein verdienstliches Werk halten, was er nur gefördert mit leichtem Spiele ohne Arbeit Schweiß und Sorge, und keiner der nicht als einen verrätherischen Raub seine Stunden und seine Kräfte hinnehmen will darf sich dem entziehen. Nicht jene Arbeit welche sich durch ein leichtes augenblikliches Schaffen vollendet, sondern solche Arbeit und Thätigkeit bei der wir Widerstand fühlen, bei der wir immer sorgen und befürchten müssen unsern Zwek nicht zu erreichen, die uns niemals einen gewissen Erfolg sichert, diese allein darf jezt der Grund unserer Fröhlichkeit sein. Wehe dem, der jezt nur auf den Erfolg und Ausgang seiner Thätigkeit sähe, nur darum arbeiten wollte, weil sei es der nächste, sei es ein fernerer Augenblik Genuß und Lohn gewährt; wehe dem der nur bei der bestimmten Aussicht thätig sein wollte etwas Unfehlbares und Bleibendes zu schaffen, denn nie ist mehr wahr gewesen als jezt der Mensch trift doch nie das Werk das Gott thut. Also ohne aufs Ende zu sehn laßt uns arbeiten als solche die nichts selbst beschließen und ausführen, sondern die als treue Arbeiter wissen und fühlen, daß nur die Weisheit des Herrn beides vermag. In diesem Sinne laßt uns arbeiten und was heißt das anders als laßt uns dahin sehen, daß unser und des künftigen Geschlechtes Gaben und Kräfte alle durch Uebung an dem was wir für recht und wahr erkennen sich befestigen gründen und erhöhen. Denn können wir es läugnen, daß wir bisher nicht so gearbeitet haben? Aber weil wir nicht so gearbeitet haben, darum sind die Züchtigungen des Herrn über uns gekommen. Wir sind es gewohnt als Christen unser Leben zu vergleichen mit einem Kampf, uns selbst mit Streitern. Das ist wahr und gut. Aber wir sollen nicht nur sehen auf die Zeit des eigentlichen Kampfes wo es Muth gilt und Hingebung und nach kurzer Tapferkeit Sieg erfolgt und Ueberwindung sondern das ganze Leben sollen wir betrachten als einen Kampf und nie ermüden zu streiten. Laßt uns nicht zurükgehalten werden durch das Gefühl daß uns nur ein kleines Maaß von Kräften zu Gebote steht, sondern | wirken und schaffen jeder soviel ihm vergönnt ist, und diejenigen die uns nahe stehn und anvertraut sind anhalten und üben damit der Mensch Gottes das ganze Volk tüchtig sei zu jedem guten Werke. Arbeiten laßt uns, das heißt in gemeinsamer Thätigkeit 3 müßigen] müssigen

26 erkennen] folgt )gründete*

26 sich] über )gründete*

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unser Leben gestalten zu Einem Ganzen; denn daher ist alles unser Unglük daß alle in der Irre gingen wie die Schafe, ein jeder sein eigen Weg, daß jeder nur für sich arbeitete, jeder seinen Beruf nur betrachtete als Mittel seines eigenen Wohlergehens. Dies m. Fr. ist das Gebot unseres Textes. Das ist es worauf wir gründen sollen unsere Ansprüche auf Fröhlichkeit. Aber laßt uns nun auch

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II. Uns eben so ernstlich fragen Gesezt wir arbeiten in diesem Geiste, werden wir dadurch allein schon fröhlich sein können und guten Muthes? Und mir scheinen, ich will es nicht verhelen zwei Bedingungen dazu zu gehören, unter deren Voraussezung wir uns in Fröhlichkeit und des guten Muthes auch in der schwersten und mühevollsten Arbeit versichern können. Die Gegenwart ist gestellt zwischen die Vergangenheit und Zukunft wir können in jedem Augenblik auf die eine und auf die andere hinsehn, und wie wir das thun und können, davon hängt ab unsere Fröhlichkeit. Wer sich nicht versündigt hat oder wenigstens sich entsündigt in Absicht der ersteren, wer in Beziehung auf die Zukunft an jene waltende Kraft Gottes glaubt und ihr vertraut von der alles Gedeihen kommt für die menschliche Arbeit der allein, aber der auch gewiß wird fröhlich sein und guten Muthes. Laßt uns das erste erwägend uns demüthigend zu ernsten Betrachtungen hinleiten, aber uns nicht niederschlagen. Gar nicht zu ernst und gründlich kann jeder sich selbst fragen, Hast du dich nicht versündiget? Fühlst du dich rein daß von allen Uebeln die über uns gekommen und noch auf uns lasten nichts auf dein Theil kommt? Keiner kann sich zu feierlich und gewissenhaft fragen denn m. Fr. es wäre das tiefste Verderben wenn wir uns darüber täuschten; denn wol nur der Mensch der seine Sünde erkennt und reuig aufdekt vor sich selbst kann hoffen auf Besserung. Allgemeine Unglüksfälle, m. Fr., sind nie ohne allgemeine Schuld, und von allgemeiner Verschuldung ist nicht leicht jemand ganz frei; denn die Sünde ist eine böse anstekende Krankheit | nicht denen ähnlich die nur in der körperlichen Beschaffenheit eines Einzelnen ihren Siz habend auch nur Einzelnen verderblich werden sondern denen die von Einem sich auf Viele verbreitend allgemeines Unheil stiften und Verderben. Und worin auch unsere Verschuldung bestehn mag, sei es Trägheit Mangel an rechter Einsicht, an Theilnahme an der gemeinen Sache an Eifer an Beharrlichkeit, an löblicher Vorsicht, an redlicher Freimüthigkeit – wer könnte behaupten alles gethan zu haben, wer hat genug geredet, wer genug 9 scheinen] cheinen 2–3 Vgl. Jes 53,6

31 körperlichen] über der Zeile

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sich entgegengestemmt dem Verderben, wer Andere mit allen seinen Kräften eifrig genug unterstüzt? Darin also wird schwerlich einer Fröhlichkeit haben können und guten Muth. Aber an diesem Tage laßt uns fragen, haben wir uns wenigstens schon entsündigt? Ist uns aufgegangen die richtige Einsicht in das wovon unser Wohl abhängt? ist uns aufgegangen ein Gefühl dessen was wir noch unter uns vermissen? Liebe zu dem allgemeinen Bande das uns als Eine Gesellschaft zusammenhält, und die dem allgemeinen Wohl des Einzelnen willig unterordnet, und die ohne das Wohlergehen des Vaterlandes nicht glüklich sein kann? Ist uns aufgegangen ein reiner Wille, ein waches Gewissen, welches uns treu ermahnt und uns mit Abscheu erfüllt gegen jede verwerfliche Gesinnung? Haben wir erkannt was jeder selbst besonders gefehlt und warnen nun unaufhörlich uns selbst und andere davor? Dann haben wir uns entsündiget, dann können wir auch fröhlich sein in Bezug auf die Vergangenheit. Wir können nun die Uebel die uns trafen nicht mehr ansehn als Zeichen des göttlichen Zorns, sondern als Beweise der väterlichen Gesinnung vermöge derer er züchtiget welche er lieb hat. Aber dann auch in Beziehung auf die Zukunft kann nur fröhlich sein, wer vertraut jener waltenden Kraft die allein Gedeihen geben kann der menschlichen Arbeit. Auch das lehrt uns vor allem diese Zeit. Nicht kann der einzelne seine Arbeit sichern; wenn wir auf das ganze Geschlecht sehen: so erscheint er uns abhängig von den Wirkungen und Gegenwirkungen, welche sein Dasein mit den übrigen ausmachen; und so kann es also wohl ein Vertrauen auf Gott geben einen Glauben an seine Macht und Weisheit, der doch nicht stark genug ist das Gemüth aufzurichten denn wenn wir sehen wie jede Zeit das Werk unsrer Hände zerstört wie wir durch Tod und Verderben Neues entsteht und gebildet wird so muß uns ja immer die Frage auf den Lippen schweben, Was du erarbeiten und erstreben willst, hast du damit das Werk des Herrn getroffen? wird es zu dem gehören was der Herr erhalten will oder zerstören? Und wer unter uns vermöchte da fröhlichen Gemüthes zu | sein wenn er das leztere befürchtet. Aber es giebt doch Wege diesem betrübenden und niederschlagenden Gedanken zu entgehen. Es giebt doch etwas Bleibendes und Ewiges und die ewige Natur des wahren guten hängt nicht an der vergänglichen Gestalt. Laßt uns auf dieses unsere Liebe richten und unsere Arbeit, dann können wir vertrauen der waltenden Kraft, dann arbeiten wir nicht für das vergängliche: sondern für das Ewige; denn jede neue 22 wenn] denn 17–18 Vgl. Hebr 12,6

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Gestalt kann sich ja nur ernähren und begründen und gedeihen aus dem was früher gewirkt ist. Wer in diesem reinen Sinn arbeitet, wer die Selbstverläugnung so ganz sich durchdringen läßt daß es für ihn nichts mehr giebt woran er mehr hinge als an dem ewigen Willen Gottes, an dem Werk was Gott durchführen wird mag er der Diener es nun getroffen haben oder nicht, wer alles gern an dieses sezt, in dem ist auch eine Freude und ein Vertrauen auf Gott das kein Sturm des Lebens kein Schiksal keine Gefahr erschüttern kann. Es giebt ein einfaches und klares Sinnbild menschlicher Arbeit, das ist die welche der Herr selbst dem erstgeschaffenen Menschen gesezt hat, daß er die Erde bauen soll und im Schweiß seines Angesichtes sein Brodt essen. Er übergiebt der Erde den Saamen und was für feindliche Erscheinungen der Natur auch eine gehoffte Erndte zu zerstören drohen, er vertraut den ewigen Gesezen der Natur, die auch Wort halten wenn er weniger auf den Gewinn sieht als auf die Frucht. So laßt auch uns arbeiten unbekümmert und sonder Furcht Saamen streuen treu achtend auf den Wink der Natur es an nichts fehlen lassend an unserm Theil, und dann nicht verzagen welche Umwälzungen Unglüksfälle und Gefahren gleich Gewittern aufsteigen und Tod und Verderben zu bringen scheinen, die sich aber segnend niederlassen auf die Erde und das Werk unserer Hände gedeihen machen und eine Erndte herbei führen und herrliche Gaben des Heils. Mühe und Arbeit also, und darin Fröhlichkeit des Herzens, das ist unser Theil; aber wir kommen nur zum Genuß dieser Fröhlichkeit und dieses guten Muthes durch die Gnade des Herrn. Nur der Glaube an seine Macht und Weisheit, nur die Unterwerfung unter sein Gesez kann uns aufrecht erhalten in der Zeit der Noth. Also arbeite ein jeder soviel und so lange er kann ehe die Nacht kommt; entsündige sich jeder vor Gott und stärke sich im Glauben an ihn durch das Bild des Erlösers und rechne darauf daß der Herr seiner Arbeit werde Gedeihen geben und ihm Fröhlichkeit und guten Muth. Diese Gefühle diese Entschlüsse soll der heutige Tag in uns allen beleben und befestigen. Dazu vereinigen wir uns in demüthigem Gebet.

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Gebet. Herr unser Gott der Du uns geschaffen hast nach Deinem Bilde und uns gesezt zu Deinen Stellvertretern zu offenbaren in unserm Thun und Leben die eigene Kraft womit Du uns ausgerüstet, der Du in uns gelegt hast jenen Sinn der Liebe der mit unwiderstehlicher Gewalt von jedem sich verbreiten soll aufs ganze, o laß uns diese göttliche Kraft verwalten nach Deinem heiligen Willen | daß sie je länger je mehr in uns ertödte das Irdische und das 10–11 Vgl. Gen 3,19

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was in uns nur abstammt von Staub und Erde. Laß uns treu sein in unserm Beruf, daß keine äußere Kraft und keine Furcht uns störe in der Arbeit die Du uns aufgetragen und von der Du Rechenschaft fordern wirst. Gieb uns aber auch Einsicht Verstand und Kenntniß, daß nicht die Stimme der Begierden und der Umtrieb der Leidenschaften durch ihr wildes Feuer störe oder in Dunkelheit verhülle das Auge welches das höhere Licht schaut damit wir erkennen was zu unserm Frieden dient. Verbanne die Selbstliebe, daß jeder mit seinen Brüdern gemeinschaftlich fördere Dein Werk. Segne unsern König und sein Haus, ströme reichen Segen geistiger Gaben und wahren Wohlergehens über dasselbe aus; von ihm als dem Mittelpunkt aller unserer Arbeit verbreite sich Treue und Eifer und offener Sinn fürs Gute über Alle die in den Angelegenheiten des Vaterlandes arbeiten, laß keine Lehre der Vergangenheit verloren sein, und alles was wir erfuhren uns nur gereichen zur Stärkung unserer Liebe und zur Vereinigung der Gemüther. Ja Herr, alles was Du einem jeden gegeben verehren wir als gemeinsame Gabe die uns Allen angehört und unserm Wohl dienen soll. Aber gieb auch jedem den Sinn sein Pfund anzuwenden zum Besten des Ganzen und ob Du dann viel oder wenig von unserer Arbeit gelingen läßt so werden wir fröhlich sein in Dir und guten Muthes: so werden die Leiden uns stärken zum gottseligen Leben, wir werden zunehmen in Deinem Geist und immer mehr wandeln vor deinen Augen als ein Dir wohlgefälliges Volk. Dies allein sei unser Aller Gebet, unser Ringen und Streben bis an den lezten Hauch unseres Lebens.

b. Nachschrift Predigt am Bußtage 1810. von Schleiermacher

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M. Fr. So oft wir uns an diesem Tage in den Häusern der Andacht versammeln, dürfen wir es nicht übersehen, daß dieß ein Festtag ist, von der christlichen Kirche selbst gestiftet, nicht wie die andern auf ihre Geschichte sich beziehend; sondern angeordnet von der Obrigkeit, bezweckend die besonnene Überlegung unseres innern Zustands und unserer Beßerung. Es sind unsere heiligen Verhältnisse, in welchen wir zu den Mitbrüdern, wie zu uns selbst stehn, die wir zum Gegenstand unserer Andacht machen sollen; für sie soll das Gebet des Frommen zum Himmel steigen, und in dieser Bezie-

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hung der Sünder sich an die Brust schlagen. Und wie wir auch diesen Tag betrachten mögen, mehr als einen Tag der Buße oder des Gebets – wenn auch jener uns mehr hinweiset auf die Vergangenheit; dieser mehr das Bild der Zukunft im Auge hat – beydes ist doch unzertrennlich. Denn wer unter uns vermöchte flehende Hände auf zu heben, der nicht zuvor Buße gethan, und was ist es anders, was zunächst zu einer fruchtbaren Betrachtung seines Innern den Menschen stärkt, als ein vertrauensvolles Gebet. So laßt uns auch unsern gegenwärtigen Zustand betrachten in Beziehung auf die große geistige Verbindung, als Untergebene Eines Gesetzes, als Bürger Eines Volkes. Laßt uns darauf unsere Aufmerksamkeit richten, daß sich von selbst auflöse unser Gemüth in Demuth vor Gott und in fromme kindliche Gebete zu ihm.

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Pred. Salom. 3, 11–13. Dieß kann auf den ersten Anblick eine Erörterung scheinen, die nicht recht zum tiefen Ernst des heutigen Tages paßt: daß der Mensch fröhlich seyn soll in seiner Arbeit und guten Muths. Wer aber den ganzen Inhalt und Ton des Buches, woraus diese Worte genommen, gegenwärtig hat, der wird auch den Sinn derselben richtig deuten. Denn aus der Betrachtung nicht nur, wie alles, so weit es irrdisch ist, auch eitel ist und vergänglich; sondern auch, daß Erkenntniß und Einsicht allein den Menschen noch nicht weit bringt; so wie aus der, daß jeder nur sein eigenes Wohlergehn schaffen will und eben darum nicht trifft das Werk des Herrn, weder den Anfang noch das Ende – aus alle dem ergab es sich dem Weisen, daß es das Eine Gut sey: fröhlich zu seyn in der Arbeit und guten Muths. Warum sollten auch wir uns heute nicht ermuntern, eben dahin zu streben, daß wir fröhlich sind in der Arbeit. Wohlan denn, m. F. so wollen wir dieß machen zum Gegenstande unserer Aufmerksamkeit. Aber um den wahren Sinn zu erreichen durch unsere Betrachtung – so laßt uns auf den Zusammenhang achten und uns fragen zuerst, warum soll der Mensch nur fröhlich seyn in der Arbeit, und dann, was macht uns dazu – und ich zweifle nicht, es werden daraus Gedanken und eine Verfassung des Gemüths sich bilden, wie sie diesem Tage angemessen. | 20r

I. In seiner Arbeit soll der Mensch fröhlich sein und guten Muths. In der Arbeit, nicht im Genusse. O wie sehr alles, wonach der Mensch nur strebt, um daher mehr leidend als thätig sich verhaltend, Genuß zu empfangen, wie alles das leer und eitel sey, das kann uns jede auch die flüchtigste Ansicht der Welt und des Lebens lehren; weil wir sehen, daß die Menschen die Befriedigung doch nicht finden, die sie suchen; weil sie wenngleich mit einem flüchtig erhöhten Lebensgefühle aber mit geringerer Empfänglichkeit und abgestumpftem Sinn davon zurückkehren. Aber mehr als sonst werden wir das inne in Zeiten großer Umwälzungen, wo am schnellsten

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alles das, was der Mensch als Stoff zum Genusse um sich versammelt hat, durch die Stürme von außen hinweggeführt wird wie Spreu vom Winde. Ja eitel und leer muß das Bestreben des Menschen sich darstellen, wenn er nur darin ein neues Leben und eine neue Zeit herbeyführen wollte, daß er sich neuen Stoff sammelte zum Genuß um darin fröhlich zu seyn; denn es drohet ihm die Unsicherheit, der Engel mit dem feurigen Schwerdte, den der Herr vor dieses vergängliche Paradies gesetzt hat, daß die Menschen im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot essen sollen und in der Arbeit suchen ihre Fröhlichkeit. In der Arbeit nicht im leichten Spiele der mannichfaltigen Kräfte, die ihnen verliehen sind; sondern in der Mühe und Anstrengung soll der Mensch fröhlich seyn und guten Muths. – Wohl gab es Zeiten, und manches liebliche Bild stellt sich davon uns dar – es gab Zeiten und Völker, unter denen so viel und mehr als wir schaffen können mit Sorge und Anstrengung und Mühe, gewonnen ward durch leichtes Spiel, durch eine frohe Thätigkeit, der Niemand Mühe und Arbeit ansah, und es erscheint uns immer als ein Zeichen eines beßern Zustandes, einer höhern Ausbildung des Menschengeschlechts, wenn wir ohne Anstrengung das Werk Gottes verrichten können. Aber wir werden es uns nicht verschweigen können, daß das nicht unser Theil sey. Haben andere das genossen: so mögen sie es für uns mitgenossen haben, und wir wollen uns dieses Glücks wie theilnehmende Mitbrüder von Herzen freuen und uns erlaben und stärken an diesem fröhlichen Bilde. Das aber sagt uns unsere Lage, daß wir nur fröhlich seyn können in Mühe und Anstrengung, nicht nur die geringen, durch Geburt und äußere Grenzen dazu bestimmt; sondern bis hoch hinauf auf den Gipfel der menschlichen Gesellschaft erstreckt sich das harte Gesetz. – Wo so viele Gefahren drohen, wo bey jedem Schritte der Boden wankt, da muß Mühe Sorge Angst und Arbeit seyn auch bey denen, die sonst nur mit einem Winke zu gebieten, nur mit einer allgemeinen Übersicht des Ganzen zu herrschen gewohnt waren; und es ist keiner unter | uns, der sich diesem Gesetz entziehen dürfte. Daher verächtlich und als Feinde des gemeinen Wohls müssen uns, wie immer, so besonders jetzt die erscheinen, welche mit Gaben des Glücks und des Geistes ausgerüstet, gar nicht für ihr Bestehn zu arbeiten gezwungen, sich jetzt begnügen bey dem was nur nothdürftig ist, mit einem leichten Spiele. Nein, ein Jeder soll immer hinschauen wo es fehlt und mit dem Überfluß seiner Kräfte aushelfen und unterstüzen die Schwäche, und nichts halten für ein verdienstliches Werk, was er nur gefördert mit leichtem Spiele, ohne Arbeit Schweiß und Sorgen; und keiner, der nicht als einen verrätherischen Raub die Stunden und Kräfte dahin nehmen will, darf sich diesem entziehen. Nicht jene Arbeit, welche sich durch ein leichtes augenblickliches Schaffen vollendet; sondern solche Arbeit und Thätigkeit, bey der wir Widerstand fühlen, bey der wir immer sorgen und 6–7 Vgl. Gen 3,23–24

7–8 Vgl. Gen 3,19

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befürchten müssen, unsern Zweck nicht zu erreichen, die uns niemals einen gewissen Erfolg sichert; diese allein darf der Grund unserer Fröhlichkeit seyn. Wehe dem, der jetzt nur auf den Erfolg und Ausgang seiner Thätigkeit sähe, nur darum arbeiten wollte, weil, sey es der nächste, sey es ein fernerer Augenblick Genuß und Lohn gewährt; wehe dem der nur darum thätig seyn wollte um etwas Unfehlbares und Bleibendes zu schaffen: denn nie ist mehr wahr gewesen als jetzt: der Mensch trifft doch nicht das Werk das Gott thut. Also, ohne aufs Ende zu sehn laßt uns arbeiten als solche, die nicht selbst beschließen und ausführen das Werk; sondern als treue Arbeiter es wissen und fühlen, daß nur die Weisheit des Herrn es ausführt. In diesem Sinne laßt uns arbeiten, und was heißt das anders als laßt uns dahin sehen, daß unsere und des zukünftigen Geschlechtes Gaben und Kräfte alle durch Übung an dem, was wir für recht und wahr erkennen, sich befestigen, gründen und erhöhen. Denn können wir es läugnen, daß wir bisher nicht so gearbeitet haben. Aber weil wir nicht so gearbeitet haben, sind die Züchtigungen des Herrn über uns gekommen. Wir sind es gewohnt, als Christen unser Leben zu vergleichen mit einem Kampfe, uns selbst mit Streitern. Das ist wahr und gut; aber wir sollten nicht bloß sehn auf die Zeit des wirklichen Kampfes, wo es Muth gilt und Anstrengung; und nach kurzer Tapferkeit Sieg erfolgt und Überwindung; sondern das ganze Leben betrachten als einen Kampf und nie ermüden zu streiten. | Laßt uns nicht zurückhalten das kleine Maß der Kräfte; laßt uns wirken und schaffen so viel uns vergönnt ist, und diejenigen die uns nahe stehen, und anvertraut sind, üben damit der Mensch Gottes tüchtig sey zu jedem guten Werke. Arbeiten laßt uns d. h. in gemeinsamer Thätigkeit unser Leben gestalten zu einem Ganzen; denn daher ist all unser Unglück, daß alle in der Irre gingen wie die Schafe, ein jeder seinen eigenen Weg, daß jeder nur für sich arbeitete, jeder seinen Beruf nur betrachtete als Mittel seines eigenen Wohlergehns. Das m. Fr. ist das Gebot in unserm Texte, das ist es, worauf wir gründen sollen unsere Ansprüche fröhlich zu seyn. Aber laßt uns auch II. eben so ernstlich fragen: Gesetzt wir arbeiten in diesem Geiste, werden wir dadurch allein schon fröhlich sein können und guten Muths? Und mir scheinen, ich will es nicht verheelen, zwei Bedingungen dazu zu gehören, unter deren Voraussetzung wir uns der Fröhlichkeit und des guten Muthes auch in der schwersten und mühevollsten Arbeit versichern können. – Die Gegenwart ist gesetzt zwischen die Vergangenheit und Zukunft und wir können in jedem Augenblicke auf die eine oder andre hinsehn, und wie wir das thun und können, davon hängt ab unsere Fröhlichkeit. Wer sich nicht versündigt hat oder wenigstens entsündigt in Absicht der ersten; wer in 26–27 Vgl. Jes 53,6

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Beziehung auf die Zukunft an jene waltende Kraft Gottes glaubt und ihr vertrauet; von der alles Gedeihen kommt der menschlichen Arbeit, der allein aber der auch gewiß wird fröhlich seyn und guten Muths. Laßt uns das Erste erwägend, uns demüthigend zu ernsten Betrachtungen hinleiten aber nicht nieder schlagen. Gar nicht zu ernst und gründlich kann jeder sich selbst fragen: Hast du dich nicht versündigt, fühlst du dich rein, daß von allen Übeln die über uns gekommen, nichts auf dein Theil kommt. Keiner kann sich zu feyerlich und gewissenhaft fragen; denn m. Fr. es wäre das tiefste Verderben, wenn wir uns darüber täuschten; denn wohl nur der Mensch, der seine Sünden erkennt und reuig aufdeckt kann hoffen auf Beßerung. – Allgemeine Unglücksfälle m. Fr. sind nie ohne allgemeine Schuld, und von allgemeiner Verschuldung ist Niemand leicht ganz frey; denn die Sünde ist eine böse ansteckende Krankheit, die nicht wie die, welche nur in der Beschaffenheit des körperlichen Zustandes ihren Sitz haben, Einzelnen verderblich werden; sondern allgemeines Unheil stiftet und Verderben. Und worin auch | unsere Verschuldung besteht, sey es Trägheit, Mangel an richtigen Einsichten, an Theilnahme an der gemeinen Sache, an Eifer, Beharrlichkeit und Freymüthigkeit – wer könnte behaupten, alles gethan zu haben, wer hat genug geredet, wer genug sich entgegengestemmt dem Verderben, wer andere mit allen seinen Kräften hinlänglich unterstützt? Darin also wird schwerlich einer Fröhlichkeit haben können und guten Muth. Aber an diesem Tage laßt uns fragen: haben wir uns wenigstens entsündigt. Ist uns aufgegangen die richtige Einsicht darin, wovon unser Wohl abhängt; ist uns aufgegangen ein Gefühl alles dessen, was wir wahrhaft vermissen; Liebe zum allgemeinen Bande, das uns zu Einer Gesellschaft zusammenhält, und die dem allgemeinen Wohle das besondere und einzelne hintansetzt, und die ohne das Wohlergehn des Vaterlandes selbst nicht glücklich seyn kann? Ist uns aufgegangen ein reiner Wille, ein waches Gewissen, welches uns ermahnt und erfüllet mit Abscheu gegen jede verwerfliche Gesinnung, dann haben wir uns entsündigt; dann können wir auch fröhlich seyn in Beziehung auf die Vergangenheit. Wir können die Übel die uns trafen nicht mehr ansehn als Zeichen des göttlichen Zorns; sondern als Beweise der väterlichen Gesinnung, vermöge derer er züchtigt, welche er lieb hat. – Aber dann auch in Beziehung auf die Zukunft kann nur fröhlich seyn, wer vertraut jener waltenden Kraft, die allein Gedeihen geben kann der menschlichen Arbeit. Das lehrt uns vor allen diese Zeit. Nicht kann der Einzelne seine Arbeit sichern; denn wenn wir aufs ganze Geschlecht sehn; so erscheint er uns abhängig von den Wirkungen und Gegenwirkungen, welche sein Daseyn mit den übrigen ausmachen, und so kann es also wohl ein Vertrauen auf Gott geben, einen Glauben an seine Macht und Weisheit, der doch nicht stark genug ist, um das Gemüth aufzurichten; denn wenn 33–34 Vgl. Hebr 12,6

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wir sehen, wie jede Zeit das Werk unserer Hände zerstört, wie nur durch Tod und Verderben Neues entsteht und gebildet wird: so muß uns ja immer die Frage auf den Lippen schweben: Was du erarbeiten und erstreben willst, mag es zu dem gehören, was der Herr erhalten wird oder zerstören? | Und wer unter uns vermöchte da fröhlichen Gemüths zu seyn, wenn er das leztere befürchtet. Aber es gibt doch Wege, diesem betrübenden und niederschlagenden Gedanken zu entgehn. Es giebt doch etwas Bleibendes und Ewiges, und die ewige Natur des Wahren und Guten hängt nicht an der vergänglichen Gestalt. Laßt uns auf dieses unsere Liebe richten und unsere Arbeit; dann können wir vertrauen der waltenden Kraft; dann arbeiten wir nicht für das Vergängliche sondern für das Ewige; denn jede neue Gestalt kann sich ja nur ernähren und begründen und gedeihen aus dem, was früher gewirkt ist. Wer in diesem reinen Sinn arbeitet, wer die Selbstverläugnung so ganz sich durchdringen lässt, daß es für ihn nichts mehr giebt, woran er mehr hinge, als am Ewigen, und wer willig alles hingiebt an das Wort des Herrn in dem ist dann eine Freude und ein Vertrauen zu Gott, das kein Sturm des Lebens, kein Schicksal, keine Gefahr erschüttern kann. Es giebt ein einfaches und klares Sinnbild aller menschlichen Arbeit; das ist die, welche der Herr dem erstgeschaffenen Menschen gesetzt hat: daß er die Erde bauen soll und im Schweiße seines Angesichtes sein Brot essen. Er übergiebt der Erde den Saamen, und was für feindliche Kräfte der Natur die gehoffte Erndte zu zerstören drohen: er vertrauet den ewigen Gesetzen der Natur. Und so laßt auch uns arbeiten, unbekümmert und sonder Furcht Saamen streuen, treu achten auf den Wink der Natur, es an nichts fehlen lassen an unserm Theil, und dann nicht verzagen welche Umwälzungen, Unglücksfälle und Gefahren gleich Gewittern aufsteigen und Tod und Verderben zu bringen scheinen, die sich aber segnend niederlassen auf die Erde und das Werk unserer Hände gedeihen machen, und eine Erndte herbeyführen und herrliche Gaben des Heils. Mühe und Arbeit also und Fröhlichkeit, das ist unser Theil und wir kommen nur zum Genuß dieser Fröhlichkeit und dieses guten Muths durch die Gnade des Herrn; nur der Glaube an seine Macht und Weisheit, nur die Unterwerfung unter sein Gesetz kann uns aufrecht erhalten in der Zeit der Noth. Also arbeite jeder, so viel so lange er kann ehe die Nacht kommt; entsündige sich jeder vor Gott, stärke sich in dem Glauben an ihn, durch das Bild des Erlösers und rechne darauf, daß der Herr seiner Arbeit werde Gedeihen geben. Diese Gefühle | diese Entschließungen soll der heutige Tag in uns allen beleben und befestigen – und so laßt uns vereinigen in demüthigem Gebet: Herr unser Gott, der du uns geschaffen hast nach deinem Bilde und gesetzt zu deinen Stellvertretern, zu offenbaren in unserm Thun und 19–20 Vgl. Gen 3,19.23

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Leben die eigene Kraft, womit du uns ausgerüstet, der du in uns gelegt hast jenen Sinn der Liebe, der mit zwingender Gewalt von jedem sich verbreiten soll aufs Ganze – o laß uns diese göttliche Kraft verwalten nach deinem heiligen Willen, daß sie je länger je mehr in uns ertödten das Irrdische und das was in uns nur abstammt vom Staube und Erde. Laß uns treu seyn in unserm Beruf und keine äußere Macht, keine Furcht uns stören in unser Arbeit, wovon du Rechenschaft forderst. Gieb uns aber auch Einsicht, Verstand und Kenntniß, daß nicht die Stimme der Begierde und der Umtrieb der Leidenschaften durch ihr wildes Feuer störe oder in Dunkelheit verhülle das Auge, welches das höhere Licht schaut, damit wir erkennen, was zu unserm Frieden dient. Verbanne alle Selbstliebe, daß jeder mit den Brüdern gemeinschaftlich fördere dein Werk. Segne unsern König und sein Haus; ströme reichen Segen und geistige Gaben und Wohlergehn über dasselbe aus. Von ihm als dem Mittelpunkt aller Arbeit erstrecke sich Treue und Eifer und offener Sinn fürs Gute über alle die in den Angelegenheiten des Vaterlandes arbeiten; laß keine Lehre der Vergangenheit verloren seyn, und alles was wir erfuhren nur diene zur Stärkung unserer Liebe und zur Vereinigung der Gemüther. Ja Herr alles was du einem jeden gegeben hast, verehren wir als eine gemeinsame Gabe, die unserm aller Wohl gehört; aber gieb uns auch den Sinn dieselbe anzuwenden nach deinem Willen zum Besten des Ganzen, und ob du dann viel oder wenig von unserer Arbeit gelingen lässest: so werden wir fröhlich seyn und guten Muths: so werden die Leiden uns stärken zum gottseligen Leben, wir werden zunehmend deinem Geist und immer mehr wandeln vor deinen Augen als ein dir wohlgefälliges christliches Volk. Dieß allein sey unser Aller Gebet, unser Ringen und Streben bis an den letzten Hauch unsres Lebens.

Am 31. Mai 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Himmelfahrt, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mk 16,19 und Apg 1,11 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 25, Bl. 27r–30r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 402–410 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 12r–12v; Matthisson Keine

Predigt am Himmelfahrtstage 1810 von Schleiermacher Nachdem wir vernommen haben, daß und wie der Erlöser zuletzt geredet zu seinen Jüngern, daß er sich nachher nicht wieder hat sehn lassen mit leiblichen Augen – so fragen wir freylich mit verlangendem Herzen, was denn nun aus ihm geworden sey, wohin er sich erhoben habe, und sehen ihm nach eben so sehnsüchtig wie seine Jünger, vor deren Augen eine Wolke ihn aufhub und emportrug. – Aber so wie da standen zwey Männer, die zu ihnen traten und sprachen: Ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr hier und sehet? eben so geht es mit diesem Verlangen auch uns; denn es ist mit leiblichen Augen nichts zu sehn, und durch alle Erzählungen der Lebensbeschreiber des Herrn nichts darin zu verstehen; sondern je mehr wir aus der Auferstehung des Herrn den Trost schöpfen den er zunächst seinen Jüngern bringen wollte, wenn er ihnen anschaulich machte, daß er derselbige wäre, der er vor seinem Leiden und Kreuzestode gewesen, wenn wir es wissen, wie er ihnen gezeigt die Zeichen seiner Leiden wie er mit ihnen gegessen getrunken auf menschliche und irrdische Weise – um desto weniger können wir es verstehen, wenn er in der Gestalt gerade so wie er gelebt hatte, vor ihren Augen aufgehoben wurde. Wenn wir uns den Himmel denken als den Ort, wo der Höchste wohnt; so denken wir uns eben nicht einen wirklichen Ort, einen bestimmten Raum oder Gegend, und wenn wir um uns schauen auf den Himmel, der überall vor uns ausgespannt ist: so können wir uns nichts darin denken, was nicht minder eben so eine auf Zeit und Raum beschränkte sinnliche Welt sey wie diese, die wir bewohnen. Darum muß sich von allen sinnlichen Erscheinungen und sinnlichen Vorstellungen hinweg das Auge des Glaubens auf etwas Höheres richten, auf das wahrhaft Unsichtbare, auf die Herrlichkeit des Sohnes Gottes, welcher bey dem Vater war, ehe denn der Welt Grund gelegt war, die aber uns, 26–1 Vgl. Joh 1,14

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seit dem er in menschlicher Gestalt unter uns gewandelt, jetzt erst menschlich und tröstlich ist, als das was wir mit ihm theilen sollen. Darauf sey denn unsere christliche Aufmerksamkeit gerichtet in dieser Stunde. Marc. 16, 19 verbunden mit Luc. Apostelgesch. 1, 11. 5

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Markus und Lukas sind die beyden Evangelisten, welche uns allein eine Erzählung geben von dem letzten sichtbaren Ver|schwinden des Erlösers von der Erde; aber beyde, jeder auf seine Weise, lenken auch unsere Betrachtung von dieser sinnlichen Begebenheit hinweg auf etwas höheres, und wir finden in beyden Evangelien zusammen das, was auch sonst anderwärts in der heiligen Schrift uns ans Herz gelegt wird, von der Erhöhung des Herrn und von seinem Geschäfte was er von nun an verrichtet bis in jede Zukunft. Wir finden hier zusammengefaßt, was wir in unserm christlichen Glaubensbekenntniß lesen: Christus ist auferstanden, gen Himmel gefahren und sitzet zur Rechten Gottes von dannen er wird wiederkommen zu richten die Lebendigen und die Todten. Darin also laßt uns suchen die Herrlichkeit, die unserm Erlöser zu Theil geworden ist nach seinem Verschwinden und auf beyde Gegenstände unsere Aufmerksamkeit lenken: I. Er sitzt zur Rechten Gottes und II. wird wiederkommen zu richten etc. I. Beydes, m. andächtigen Fr. wie wir es in der Schrift finden trägt freylich die deutlichen Spuren an sich von einer Beziehung dieser Worte auf die sinnliche Erscheinung, deren Erwähnung in den Geschichtschreibern vorhergegangen war. Es knüpfte sich die Vorstellung von der Herrlichkeit des Erlösers an, an die alten kindlichen Vorstellungen der Menschen von Gott und weiset ihm einen sichtbaren bestimmten Platz an zur Rechten des Vaters. Sie knüpft sich an das Gefühl des Bedürfnisses derjenigen, denen nun der Umgang die persönliche Verbindung des Herrn entrissen war und faßt alles, was sie und alle Gläubigen jemals seyn und thun können, zusammen, indem sie hinweiset auf eine künftige Zeit, wo der Verschwundene wieder kommen wird. Aber laßt uns von diesen sinnlichen Spuren entkleiden die großen Gedanken, die herrlichen Aufschlüsse, die für uns in diesen Worten liegen, und zu dem in jenen wie in diesen verborgen liegenden Sinn hindurchdringen. Darüber m. Fr. kann kein Zweifel entstehn, daß durch den Ausdruck: zur Rechten des Vaters das Höchste angedeutet werden sollte, was sich von Würde Erhabenheit über alles andere nur denken, von Menschen nur fassen und aussprechen läßt. Das Gefühl von der Schwachheit und Gebrechlichkeit unserer Natur, ungeachtet des Göttlichen, welches die Beßern auch niemals darin verkannt haben, hat auch zu allen Zeiten in mancherley Gestalt hervorgebracht Vorstellungen von endlichen Wesen, die aber höher sind als das Geschlecht der Menschen, welche irgendwie die große Kluft zwischen uns und dem Unendlichen selbst ausfüllen sollen, wiewohl zwischen ihnen und uns immer dieselbe Kluft bleibt. Solche Vorstellungen herrschten auch unter dem Volke, mit dem der Erlöser lebte und

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an dessen Begriffe die Jünger ihre erhabenen Betrachtungen anknüpfen mußten, und ein großer Theil unser Neutestamentlichen Schriften beschäftigt [sich damit] | zu zeigen, wie der Erlöser im Zustande der Erhöhung erhaben sey über alle Geschöpfe des Himmels, alle himmlischen Heerschaaren und über alle Chöre der Engel. Sie alle sind ausgesandt zu Dienern Gottes, zu vollbringen seinen Willen; sie beten an vor seinem ewigen Thron; aber des Menschensohn allein ist gesetzt zur Rechten Gottes. Ja, meine Fr. wer es inne geworden ist durch die Kraft der Worte Jesu, durch das heilige Bild seines Lebens und Wirkens auf Erden, wen dieses begeistert hat zu dem Gefühl der Verehrung Christi, dem ist es auch klar geworden: es giebt nichts Größeres, nichts Herrlicheres, und alle Himmel können es nicht aufweisen, als die menschliche Natur, die von der Göttlichen durchdrungen ist, ganz umgebildet zum Werkzeuge des göttlichen Geistes, ganz darstellend das Ebenbild des göttlichen Vaters. Und so sagt Paulus: Wer will verdammen, Christus ist hie, der gestorben ist; ja vielmehr der auch auferstanden ist, welcher sitzt zur Rechten des Vaters und vertritt uns. Wie steht, m. and. Fr. in unserm Herzen so nahe beyeinander und ist so enge verbunden jenes Gefühl, zu dem wir durch Christum erhoben werden von der Herrlichkeit der menschlichen Natur, die eine Offenbarung ein Werkzeug der göttlichen Kraft seyn kann durch Vernunft und Willen, mit dem Gefühl, worauf unsere Erfahrung, unser tägliches Leben, jede stille Selbstbetrachtung uns hinführen muß: daß unter uns keiner ist, der gerecht wäre, daß sie alle mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollen, daß sich in keinem findet jene treue Unterwürfigkeit des Fleisches unter den Geist, daß alle zu streiten haben mit Schwachheit Trägheit und Lüsten. So sehen wir uns selbst; so müssen wir uns sehen als die Erscheinung des gegenwärtigen Augenblickes, nothwendig geknüpft an alle die hindernden Bedingungen des irrdischen Daseyns, und so könnte denn der Mensch leicht verzagen. Aber des Menschensohn sitzt zur Rechten Gottes und vertritt uns. Der Höchste – so können wir uns zureden, er sieht uns nicht so, wie wir uns sehn, er ist nicht beschränkt auf den Augenblick, und auf dessen Erscheinung; sondern er überschaut die allmählige Entwickelung der menschlichen Kräfte in der Zeit; er sieht uns nicht, sondern Christum nur des Menschensohn, in welchem die Fülle der Gottheit lebendig wohnt, den hat er sitzend zu | seiner Rechten und der vertritt uns, die wir in ihm gewurzelt sind und so steht das Erdengeschlecht da, den Fuß in Ungewittern und verwickelt in Kampf und Schwierigkeiten, aber das ewige Haupt in Sonnenstrahlen, der Sohn Gottes zu seiner Rechten, von ihm strömt aus jenes beseligende Gefühl die Fülle der Kraft und der Liebe, und diese Fülle wohnt auch in uns; auch in uns ist kräftig der Geist, mit dem seine Jünger angethan wurden 14–16 Vgl. Röm 8,34 Lk 24,49

22–23 Vgl. Röm 3,10.23

34 Vgl. Kol 2,10

40–1 Vgl.

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aus der Höhe, und allen, welche das Fleisch kreuzigen, den irrdischen Sinn ertödten und im Geiste wandeln, geht auf der ewige Ruhm des Kreuzes, an welchem des Menschsohn erhöht ist, und er zieht sie alle zu sich.

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II. Er wird wiederkommen dieser Jesus, wie ihr ihn gesehn habt gen Himmel fahren – und das einmüthige Zeugniß der heiligen Schriften kommt dahin überein: er wird wiederkommen zu richten die Lebendigen und die Todten. Laßt uns auch hier unsere Betrachtung entkleiden von sinnlichen Bildern, die sie auf der einen Seite zu verherrlichen scheinen aber doch nur sie entwürdigen verdunkeln und stören. Laßt uns von jenem künftigen Anblicke, von der allgemeinen Auferstehung der Todten, von der Belebung der schlafenden Gebeine durch die Stimme der himmlischen Heerschaaren und von der allgemeinen augenblicklichen Scheidung der Menschen zur Rechten und zur Linken – laßt uns von allen diesen sinnlichen Bildern hinwegsehen und unsere Betrachtung auf die ewige Wahrheit lenken, die darin verborgen liegt, und die nicht an einen Augenblick gebunden ist sondern überall und immer in jedem sich offenbart. Wir können sagen: so oft des Menschensohn wiederkommt, so oft er gleichsam herabgezogen wird von jener unzeitlichen Herrlichkeit, und wieder annimmt eine sinnliche Gestalt vor unsern Augen; so oft ist er auch da zu richten die Lebendigen und die Todten. Meine Fr. wenn wir uns entnommen denken jenes höhere Bewußtseyn, welches Christus in unser Natur geweckt hat, jene Einigung der göttlichen Kraft mit der menschlichen Natur, wovon er das Urbild ist, und wovon wir durch ihn die ewige Wahrheit fühlen; was für ein Maßstab behalten wir übrig für den Werth des Menschen. Es entstehen dann sich durchkreuzende und einander aufhebende Vorstellungen, und uns bleibt nichts übrig als das Bestreben sich zu erhalten in seinem Daseyn und Wohlseyn, sey es nun feiner oder gröber äußerlich gestaltet, nichts als das Bewußt|seyn daß von diesem Bestreben kein Mensch sich los machen kann, daß jeder nur folgt, wie dieses ihn treibt und daß kein Unterschied Statt finden kann als der, daß dem einen schon mitgegeben ist ein größeres oder kleineres Maß von Kräften, daß der eine mehr oder weniger geblendet ist durch die Binde des Irrthums. Und damit hört alles Gericht auf, und es bleibt nur übrig, glücklich zu preisen oder zu beklagen. – Aber des Menschensohn ist ein Mann, worin der Herr beschlossen hat sich als ewiger Richter zu offenbaren – sein Stuhl ist der Richterstuhl, vor welchem alle stehn müssen, und wem es jetzt nicht klar wird, dem wird doch einmahl ein Funke das innere Licht entzünden, und es wird ihm klar werden, daß des Menschensohn da ist zur Vereinigung seiner Natur mit der höhern Kraft, daß dies dem was er ist und thut einen Maßstab gibt, wonach er geschätzt werden soll, daß in ihm liegt eine Freyheit, der er nicht entsagen kann, und die ihn fähig macht gerichtet zu werden. Und bey den Erleuchteten, Gläubigen giebt es nichts als den zur Rechten Gottes Erhöheten, keinen anderen Maßstab als die unveränderliche ewige Regel unsers Erlösers, niedergelegt in seinem Bilde und in seiner

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Lehre. Wie auch die Menschen von sich selbst und andern denken mögen, so lange sie noch befangen sind in dem irrdischen Sinn, oder so oft ihre Augen geblendet werden, daß sie nicht geleitet werden von den Strahlen des himmlischen Lichtes – wie sie da verkehrt denken mögen, wie sie entschuldigen mögen ihre Vergehungen, anbeten einen falschen Glanz einen scheinbaren Vorzug der Kräfte, und gering schätzen die höhere Würde, die sich verbirgt unter einer geringen Gestalt gleichwie Christus gering und dürftig erschien, oder verleitet durch irrdischen Glanz einstimmen in Lobpreisung dessen, was Verachtung und Abscheu verdiente – früher oder später gehen ihnen die Augen auf und es kommt eine Zeit, wo in Einzelnen oder ganzen Geschlechtern sich die ewige Wahrheit und das ewige Recht offenbart und rächt, und dann ist es immer Christus, der dieses thut. Sein Gesetz ist der | einzige Maßstab für menschliche Tugenden und ihm ist gegeben zu richten über die Lebendigen und die Todten, und keiner kann diesem Richterstuhl entfliehen. Der falsche Glanz verschwindet, wenn das Licht der Wahrheit aufgeht, gleichviel ob in Völkern oder in Einzelnen, und wenn der Erlöser sich darstellt als Richter, so ist jeder Unterschied verschwunden, und die Gläubigen sind gestellt zu seiner Rechten; aber die Übelthäter bilden den trostlosen finstern unglückseligen Haufen. Unser Wandel aber ist im Himmel, wir haben dieses Bild des richtenden Erlösers immer vor Augen, für uns gibts keinen andern Maßstab, als den er uns vorhält und aller irrdische Glanz ist uns nichtig und gar nichts. Den aber preisen wir als den Gerechten, der sich angeschlossen hat an des Menschensohn, um die Menschen zu erretten von den Welten, in denen sie noch zum großen Theil wandeln. So wie dieses uns in dem Bilde des Erlösers der größte und herrlichste Punkt ist, daß wir ihn betrachten als den, der das Gericht hat: so ist es auch das Zeichen dieser innigsten Vereinigung mit ihm, wenn er auch in und für uns der ist, dem Gott das Gericht in die Hände gegeben. Ach, beydes thut uns noth; ewig bedürfen wir dieß eine, daß er uns vertrete; denn so lange wir noch die Bande des irrdischen Lebens tragen, so lange wir geheftet sind an diese Erde, finden wir nur Beruhigung und Trost in der Vertretung des Erlösers, und in unserer Vereinigung mit ihm; aber ewig müssen wir dahin trachten, daß er auch für uns sey, der uns richtet, und das kann nur dann Statt finden, wenn wir uns ihm ganz hingegeben haben so, wie die, von denen er sagt: wer gläubet, der wird nicht gerichtet. O, m. Fr. wenn wir diesen Maßstab festhalten, wenn uns nur das lieb ist und erhaben und wichtig, was sich anschließt an das Kreuz Christi, wenn wir uns ganz durch dringen lassen von seiner Fülle, daß sie auch wieder ausströme aus uns, sich ergieße über die Brüder, wenn wir mit eben der Liebe und Kraft und Furchtlosigkeit arbeiten durch Wort und That, – wie sind wir dann erhaben über alles, was | die Meisten drückt, wie 15–16 Vgl. 1Joh 1,5–7

19–20 Vgl. Phil 3,20

35–36 Vgl. Joh 3,18

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getrost und zuversichtlich können wir dann die Zukunft dem anheimstellen, der so richtet, wie können wir dann von uns sagen: Unser Wandel ist im Himmel. 5

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Liebreicher Vater, Preis und Dank dafür, daß du uns Jesum Christum gesandt und auch wieder erhöhet hast. Wir haben in dieser Zeit zwischen dem Feste seiner Geburt und seiner Erhöhung uns fleißig vorgehalten sein heiliges und stärkendes Bild, o laß es zu unserer Aller Segen geschehen seyn, mögen wir fest eingewurzelt seyn in das ewige und selige Leben, mag er uns zu sich gezogen haben und mögen wir stärker geworden seyn in der göttlichen Kraft des Glaubens und der Liebe. O laß uns niemals, wenn wir noch unzufrieden sind mit unserm Loose, und mit Schwachheit und Sünde zu kämpfen haben, den Trost entschwinden, daß er erhöhet ist und uns vertritt, und laß uns keinen andern Richter anerkennen unserer Thaten, als ihn, immer verachten das Urtheil der Menschen, wenn es mit unserm Gewissen streitet, immer uns gleichgültig seyn lassen, ob wir Lob oder Tadel davon tragen, wenn wir nur wissen, daß wir ihm angehören und seinen Willen thun und das Werk fördern, das er unter uns begonnen. Dann überlassen wir auch dem gläubigen aufs Ewige gerichteten Sinn die Führung der Welt, in dem festen Glauben, daß sein Reich nicht untergehen kann, und daß er alles, was er begonnen, herrlich hinausführt. O laß auch unser Vaterland gesegnet seyn, segne etc., daß auch wir alle stehn vor deinem Richterstuhle voll guten Muthes, immer im Stande von allem, was wir geredet und gethan, Rechenschaft zu geben. Amen.

17 und] und, 2–3 Phil 3,20

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Exaudi, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 28,16–20 Nachschrift; SAr 25, Bl. 17r–19r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 411–418 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 13r–15v; Matthisson Keine

Matth. 28, 16–20. So endigt, ohne etwas weiter hinzu zu setzen, als mit dem letzten Zusammenseyn des Erlösers mit den Seinigen dieser Evangelist seine Lebensbeschreibung unseres Herrn. Laßt uns denn unsere Aufmerksamkeit, indem wir die letzten Worte als auch zu uns gesprochen betrachten, darauf lenken, wie er bey seinem Hinscheiden von der Welt die Seinigen entließ. Wir finden dreyererley bemerkt in unserm Texte: Der Erlöser entließ seine Jünger 1. mit der Überzeugung von seiner Macht 2. mit dem Beruf zu seiner Verkündigung und 3. mit der Hoffnung auf seine beständige Gegenwart. I. Der Erlöser entließ bey seinem Hinscheiden seine Jünger, indem er ihnen zuletzt noch mitgab ein inniges Gefühl, eine feste Überzeugung von der ihm verliehenen Gewalt. Wir bemerken darin eine sehr merkwürdige Absicht. Zuerst sagt er von sich: Des Menschensohn ist gekommen, nicht, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene; er ladet zu sich ein die Mühseligen und Beladenen weil er sanftmüthig wäre und von Herzen demüthig – er stellet sich weiterhin dar als denjenigen, den der Vater in die Welt gesendet, weil die Erndte so groß sey und der Arbeiter so wenige. Endlich giebt er zu verstehn, daß er ein König sey; aber sein Reich sey nicht von dieser Welt. Dabey bleibt es auch. Nicht von dieser Welt ist sein Reich aber auf dieser Welt; alle Gewalt ist ihm gegeben. Vom Himmel herab und für den Himmel soll sein Reich gegründet werden auf dieser Welt. Hier sollen sie es bilden in sich haben, um sich her verbreiten den Himmel auf 0 Die Abschrift der Nachschrift gibt den Hinweis auf den Sonntag Exaudi. Das Jahr 1810 ist zu vermuten, weil in den für Matthissons Nachschriften in Betracht kommenden Jahren die Predigttermine für den Sonntag Exaudi entweder belegt sind oder durch das Überlieferungsumfeld unwahrscheinlich sind. 13–14 Mt 20,28; Mk 10,45 14–16 Vgl. Mt 11,28–30 17 Vgl. Mt 9,37; Lk 10,2 18–19 Vgl. Joh 18,36–37

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Erden beydes unzertrennlich. Dasselbige, wir werden es nicht läugnen können ist die Geschichte der Verbindung, in welche jeder von uns allmählich mit dem Erlöser tritt. Es ist der Dienst seines Wortes der an uns gelangt. Er, seine göttliche Kraft ist da, daß sie uns diene, daß sie empfänglich mache das Herz fürs Ewige und Wahre, austreibe allmählig die irrdischen Lüste und als Mühselige und Beladene müssen wir zu ihm kommen um himmlische Erquickung aus seiner Fülle zu nehmen. Aber dann eröfnet sich auch seine ganze Herrlichkeit; dann werden wir inne die himmlische Gewalt, nicht nur in ihm, sondern von der wir sehn, wie sie sich von jedem fortpflanzt über das Menschengeschlecht, sie erscheint uns nicht nur als die Kraft, die in uns Leben schafft, sondern als die, welche uns alle vereinigt zu einem zusammenhängenden Ganzen in welchem auch wir dieses Leben nur festhalten. Aber so lange wir selbst im Kampfe begriffen sind; so lange die sinnlichen Begierden noch nicht untergeordnet sind jener | göttlichen Kraft müssen wir uns zurufen, daß sein Reich noch nicht zu uns gekommen, wir müssen dahin arbeiten daß der Sinn sich abwende vom Irrdischen bis allmählig der selige Frieden, die innere Uebereinstimmung und Ruhe in unser Herz einkehrt, bey der es dann keinen Streit mehr giebt, wo alles den ewigen Gesetzen untergeordnet ist und nur vorübergehend sich einstellen die Augenblicke, wo noch eine Wolke das innere Auge verdunkelt. Dann sagen wir, unser Vaterland ist im Himmel; aber der Himmel ist auch unser Vaterland; wir haben auf der Erde selbst wofür wir erschaffen sind, und sie selbst ist uns das Reich Christi. Ist das Herz so gegründet, dann überläßt uns der Erlöser als seine Jünger uns selbst; dann bedürfen wir keiner sinnlichen Erscheinung desselben sondern sind fest gewurzelt in derselben Gewalt, die ihm gegeben ist im Himmel und auf Erden. II. Entließ der Erlöser beym Hinscheiden seine Jünger, indem er ihnen einschärfte ganz unbedingt den Beruf, ihn zu verkündigen: Darum gehet hin und taufet sie. – Wenn wir aufs erste Zusammenseyn des Erlösers mit seinen Jüngern sehn: so finden wir, daß sie noch nicht geschickt gewesen wären den letzten Auftrag zu erfüllen; wir finden, daß schon während seines Lebens er sie aussendete, zu lehren und zu taufen; aber ihre Predigt war noch keine andere als: Kehret um, thut Buße, denn das Himmelreich ist nahe herbey kommen. Es mußten erst ihre Vorstellungen vom Herrn sich reinigen, es mußte erst durch das schmerzliche Gefühl bey seinem Tode jede irrdische Beziehung seines Daseyns entfernt werden. Nun erst, nachdem er sie so bearbeitet und gereinigt hatte, konnte er sie vertrösten auf die Kraft aus der Höhe, und ihnen sagen, daß wenn sie diese an jenem wundervollen Feste der Pfingsten empfangen hätten, – dann sollten sie ausgehn und zu Jüngern machen nicht nur die 12 Stämme Israels, sondern 21 Vgl. Hebr 11,13–16

33–34 Vgl. Mt 4,17

37–38 Vgl. Lk 24,49

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alle Heiden und sie lehren zu halten alles was er geboten hatte. Gleichwie der Vater ihn gesendet hatte, so sandte er seine Jünger, und so wie er sie sandte, so auch alle die, welche durch sie gläubig geworden sind. Darum ist eben dieß die Geschichte eines Jeden, und jeder ist und arbeitet und soll arbeiten im Reiche des Erlösers, der einmahl sein Jünger geworden ist. Aber früher, so lange wir noch in jenem Streite mit uns selbst befangen sind, so lange wir noch nicht hindurch gedrungen sind zu jener Heiterkeit und Ruhe des Gemüths, die allein das wahre Leben in Gott ist, kann unser Daseyn nichts leisten, als die ernste Buße zu predigen, worin wir uns selbst finden. Das thut auch gewiß Jeder, der redlich danach strebt, alles was das Reich Gottes stört, aus sich und andern auszurotten, und der der Heiligung allein nachjagt. Es ist in seinem ganzen Leben ein großer und strenger Ernst. Wie in | sich selbst, ist sein Blick auch immer gerichtet auf andere und auf die für alle so verderbliche Sünde, und wie sich sucht er auch andere zurück zu halten von jenem gefährlichen Schritt zu derselben, und lieber, als sich ihrem Dienste hinzugeben, opfert er auf, was ihm gefährlich werden könnte, und fordert gleiche Opfer von anderen, damit geschwächt werden kann die Kraft der Sünde und aufgehe die göttliche Kraft des Gesetzes. So hat es immer Zeiten gegeben wo der größte Theil der Christen nichts anderes gethan hat, als Buße predigen, wo die ganze Kirche das Gepräge des strengen Ernstes dieses Kampfes mit der Sünde getragen, und eine solche Zeit gibt es in dem geistigen Leben eines Jeden unter uns. Aber so wie dieser Zustand des Umkehrens und Bußethuns nicht der bleibende ist; so ist dieß auch nicht unsre ganze Wirksamkeit. Nicht nur zum Kampfe auffordern und die Welt strafen; sondern zu Jüngern sollen wir machen alle Menschen; lehren und halten sollen wir sie machen alles was der Erlöser geboten hat, und wovon wir die Kraft in unserm eigenen Gemüthe fühlen. Laßt uns nicht glauben, daß dieß nur der Beruf derjenigen sey, die in den andächtigen Zusammenkünften der Christen die Stimme des Herrn vertreten, und der besondere Beruf der Wenigen, in welchen sich allemahl die Sehnsucht das Reich Gottes auszubreiten, auf eine ausgezeichnete und eigenthümliche Weise ausspricht, daß sie alles verlassen, um das Kreuz zu predigen; nein, es ist in einem andern Sinne der allgemeine Beruf eines Jeden. Es ist die natürliche Folge eines dem Erlöser geweihten und von seinem Geiste durchdrungenen Lebens. O die Liebe, die im Geiste des Christen sich regt, wie verbreitet sie sich so gern auch auf andere; wie strebt sie nach nichts anderm, als die Glückseligkeit, deren sie genießt, allen mit zu theilen; wie gern sähe sie alle Menschen vom Kampfe mit der Sünde sich erheben zu jenem ruhigen heiligen Leben. Sie ist denn darauf auch immer hingerichtet und alles was wir bewogen durch Freundschaft, gefesselt durch die Bande der Natur oder getrieben durch allgemeine Liebe, laut und leise, im engern 1–2 Vgl. Joh 20,21

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oder größern Kreise thun, legt Zeugniß ab von dieser göttlichen Kraft. Aber so wirkt auch die wahre heitere Gottseligkeit um sich her. Ja sie | muß den Wunsch fühlen, so und wie sie ihn fühlt, auch in andern erregen, sich zu bewegen in freyer Kraft; und wenn wir bekennen, daß wir so sind nur als Jünger der Herrn, so müssen wir wünschen, daß die übrigen auch angehörten dieser Gemeinschaft, und so machen wir denn zu Jüngern, alle die um uns sind, und auf die wir wirken können. In der Treue unsers Berufes, in dem reinen Streben alles zum Guten zu befördern, zu arbeiten an der Ausbreitung des Reiches Gottes in der von Eigennutz ungefärbten Liebe in der von Herrschaft gereinigten Gewalt, die der Herr seinen Jüngern verleiht – da thun wir, was uns (besonders) zu thun obliegt und allen Menschen zum Tagewerke gesetzt ist. Und dann allein erst nehmen wir Theil an dem Berufe Jesu, und keiner kann sagen, zu christlicher Vollkommenheit gelangt zu seyn, wenn er nicht dieses als die Wirkung seines Daseyns vor Augen sieht. III. Endlich, m. Fr. schickte der Erlöser bey seinem Hinscheiden seine Jünger in die Welt mit der tröstlichen Hofnung auf seine geistige Gegenwart. Ich will bey euch seyn bis ans Ende der Tage. In der frühen Zeit finden wir öfters in der Lebensbeschreibung des Herrn, daß seine Jünger sich beklagen, daß sie in der Ferne nicht das so ausrichten könnten, als in seiner Nähe, daß sie die Geister der Menschen nicht so unterthan hätten. Aber jetzt, da sie reif waren im Glauben und in der Kraft des Geistes konnte er getrost sich und seine Gegenwart ihnen entziehen, und es war ihnen genug an der tröstlichen Versicherung, daß er bey ihnen seyn wolle bis ans Ende der Tage. Und so geht es auch einem Jeden unter uns. In den ersten Zeiten unseres geistigen Lebens können wir auch der äußerlichen Erscheinung des Erlösers nicht entbehren. Von außen muß sein Wort an uns gebracht werden, von andern muß uns sein Bild vorgehalten werden, das noch nicht lebendig ist im Herzen, und von selbst sich wiederholen könnte, damit es uns ermuntere – und wenn die äußern Hülfsmittel fehlen, wenn wir in den Geschäften des Lebens uns selbst überlassen sind: dann fühlen wir die Kraft des | Geistes noch schwach, dann sind wir oft ausgeleert von der Macht, das Gute zu vollbringen; und wenn wir auch nicht rückfallen in den Zustand der sinnlichen Herrschaft; so erzeugt doch der tägliche Verkehr mit der Welt eine geistige Ohnmacht und Dumpfheit in unsern Herzen. Aber es soll eine Zeit kommen, wo wir der Gegenwart des Erlösers in unseren Herzen sicher sind und wir in jeder Stunde darauf rechnen können, wo sich uns wiederholen die großen Worte, wodurch er uns erbaut und aufregt, wo sich sein Bild gestaltet, und die Züge seiner Göttlichkeit uns entgegenstrahlen, nach deren Geiste zu streben uns allen Noth thut. Wer so verbunden ist mit dem Herrn, wer so die Zeit hindurch einen Umgang mit dem Erlöser gepflogen 33 doch der] doch das

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hat, daß ein inneres Verhältniß mit dem Geliebten im Geiste gegründet ist, den kann der Erlöser getrost in die Welt hinaus senden, und für einen würdigen und selbstständigen Besitzer und Bewahrer seiner Tugenden erklären. – Wir haben uns fortwährend beschäftigt, das Leben des Erlösers bis in die Tage seiner Auferstehung und Himmelfahrt zu betrachten. Möge dieß uns eine Schule gewesen seyn, wodurch wir gereift sind im Festhalten christlicher Wahrheiten und Gesinnungen wie in der Liebe zu Christo, und im Siegen über die Liebe zur Welt und uns selbst. Mögen wir uns eben so getrost und freudig hinstellen an den Fuß des Berges, von welchem er die Seinigen entließ, eben so durchdrungen von seiner göttlichen Gewalt, eben so angethan mit Kraft aus der Höhe, um sein Werk zu fördern, und die Menschen ihm zuzuführen, eben so voll des tröstlichen Gefühls, daß er in uns wohnt bis ans Ende der Tage. Amen.

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Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstsonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 2,1–39 (Anlehnung an die Festtagsperikope) a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 5r–6v (unvollendet) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 31r–32v; Matthisson Texteditionen: SW II/7, 1836, S. 419–426. – Schleiermacher–Auswahl, ed. Bolli, 1968, 21980, 31983, S. 245–250 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 16r; Matthisson (nur Titelblatt vorhanden) Predigt mit Kirchenmusik (Tageskalender)

a. Autograph Schleiermachers

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Gebet. Herr was ist der Mensch daß Du Dich sein erinnerst und des Menschenkind daß Du sein gedenkst! Aber Preis und Lob sei Dir daß es Dir wolgefällig gewesen ist ihn zu krönen mit Schmuck und Ehre und ihn zu sezen zum Herrn über deine Heiligen Werke. Wäre er nicht reichlicher ausgestattet als die anderen Geschöpfe Deiner Macht so wäre er das hülfloseste Wesen. Aber das ist es daß er vor andern das Geschöpf Deiner Liebe ist, daß Du ihm eingehaucht hast den lebendigen Odem daß die Kraft auf eine höhere Art in ihm walte. Ja Herr wir wären nichts ohne die göttliche Gabe Deines Geistes und ewig Dank sagen wir daß Du ihn ausgegossen hast über alles Irdische. Er ist unser Schmuck und Ehre, durch ihn sind wir Dein Ebenbild welchem zu gehorchen und von welchen sich weiter bilden zu lassen Deine Werke sich nicht weigern. Darum wie können wir genug danken daß Du seine erste Sünde austrägst durch Christum. Es war die unerreichbare Darstellung daran wie die göttliche Kraft sich einigt mit der menschlichen Natur. Aber was wir erreichen können und was er verhieß, das erfüllte er. Auch unter uns lebt nun und wohnt Dein 8 Odem] folgt )deines Geistes* 1–4 Vgl. Ps 8,6–7

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Geist und wir erkennen es daß alle Wohlthaten mit denen Du uns sonst gesegnet hast nichts wären ohne ihn. Wie er | uns heiligt so wendet auch nur er alles um uns her zum Heil. Ohne ihn verdunkelt sich dein Ebenbild, wandelt sich in Knechtschaft die Herrschaft über die Erde, er aber ist unser Schmuck und unsere Ehre. Mögen wir Deiner festhalten das herrliche Kleinod, möge er immer vollkomener in uns herrschen und sich dann auch immer herrlicher durch uns offenbaren. Text. Ap. Gesch. 2, v. 1–39 im Auszuge vorzulesen. Schon seit dem Tode des Erlösers und noch mehr seit seiner Himmelfahrt waren die Jünger immer einmüthig bei einander, auch da gewiß sich unter einander befestigend im Glauben sich tröstend, an altem und neue Verheißungen sich vergegenwärtigend den Erlöser und seine heilsamen Lehren. Aber alle bisherigen Versammlungen hatten nur die Art häuslicher Andachtsübungen sie die Eine Familie bildeten als Brüder und Schwestern im Herren alle unter sich und so war er freilich zuerst bisweilen leiblich und hernach im Geiste mitten unter ihnen, so daß es am Segen der Andacht nicht kann gefehlt haben: diese Versammlung aber welche die Tage des Pfingsten verherrlichen und an welche sich eine höhere Offenbarung des Geistes anschloß war zuerst eine öffentliche zu nennen. Denn wiewol zunächst nur für die Jünger bestimmt, so kamen doch als der Ort so bewegt ward auch andere dahin theils vielleicht wohlgesinnten sondern theils gleichgültig theils vielleicht auch solche welche abgeneigt waren Christus als den anzuerkennen von dem sie ihr Heil zu erwarten hätten und die Türen waren ihnen nicht verschlossen sondern | es stand ihnen frei zu hören zu urtheilen ja auch zu veranlassen daß zu ihnen besonders geredet werde. Dieses ist nun ganz die Art und Weise unserer Versammlungen. Auch sie sind ja sich zunächst nur für die bestimt die schon glauben an den Namen unseres Herrn Jesu Christi daß sie sich unter einander stärken und ermuntern, aber wenn von der Höhe dieser Stätte herab der Schall der Glocken und Luft bewegt so lokt er auch viele andere her die eben wie jene damals zwar auch zu dem berufenen Volk gehören; denen allen ebenfalls kann zugerufen werden: Euer und euer Kinder ist diese Verheißung die aber doch auch nicht zu den Auserwählten gehören. So stammen also unsere Versammlungen von jener ab, es ist auch ihr Fest besonders welches wir in diesen Tagen feiern. Und indem wir an die hohen Offenbarungen denken welche ihren Anfang verherrlichen und über welche wir noch jezt in ein freudiges Erstaunen geraten fragen wir uns billig ob uns das etwas so fremdes sein 37 Und] und

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sollte ob denn was so begann so entarten konnte daß keine Spur mehr von jener Herrlichkeit zu finden ist. Wenn es sein sollte so müßte es unsere Schuld sein eben weil unser und unserer Kinder diese Verheißung ist, weil schon in einem wahren Sinne wir uns das zueignen können das über alles früh ausgegossen ist in seinem Geiste und wir müßten es tief beklagen. Aber es ist wol nicht so wenn wir neu durchdrängen in das Wesen dessen was damals vorging wenn wir nur das was gewiß geschieht näher und länger faßten als man mit dem alltäglichen zu thun pflegt so kan wol mit der Verwandschaft und Abstammung auch die Ähnlichkeit uns nicht entgehen. | Was wäre wol würdiger uns in diesen heiligen Tagen zu beschäftigen als diese Betrachtung. Sie muß uns unsere kirchlichen Versammlungen aufs neue lieb und werth machen, uns darin durchdringen was wir an ihnen haben[,] uns überzeugen daß wenn wir einen imer neuen Segen von ihnen hoffen bei neuem Sein dies keine leere Erwartung ist oder durch Vorstellungen erreicht zu werden braucht die ihrem inneren Wesen fremd nur um das äußere herumspielen. So laßt uns denn in diesen Tagen über die Lieblichkeit unserer Versammlungen mit jener anderen und fremden zuerst sehn daß der Geist Gottes sich unter uns noch eben so offenbart wie damals. Morgen aber untersuchen warum wir das nicht immer so neue werden. Wenn wir uns nun um uns das erste recht klar zu machen an die Geschichte unsers Festes halten so finden wir die außerordentliche Offenbarung des Geistes vorzüglich in diesen Punkten, Erstlich daß jeder von den Anwesenden höre seine Sprache und Zweitens daß ein kräftiges und fruchtbares Zeugnis an Jesu abgelegt wird und Drittens daß die Rede der Gemeinde ins Herz drang. Laßt uns in Bezug auf den angegebenen Zwek unserer heutigen Betrachtung hierauf unsre andächtige Aufmerksamkeit richten.

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I. Was damals geschah, geschieht auch noch jezt nämlich daß Jeder den Geist Gottes hören kann seine eigene Sprache reden. [Der Text endet hier.] b. Nachschrift Predigt von Schleiermacher am ersten Pfingstfeyertage 1810. Act. 2.

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Meine and. Zuhörer. Auch sonst waren die Apostel und Jünger des Herrn einmüthig mit einander versammelt gewesen um sich zu stärken und zu erbauen in der Erinnerung an ihren Herrn und sein Wort; aber weil sie

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unter sich geblieben waren, abgesondert von den übrigen: so glichen diese Versammlungen mehr der häuslichen Andacht, bey welchen nur Wenige versammelt sind im Namen des Herrn. Dieß aber war die erste öffentliche Versammlung der Christen, wo alles Volk sich hinzugesellt hatte, und wo außer denen die gläubig dem Herrn anhingen, auch solche hinzugekommen waren, die nichts wussten zu machen mit allem, was vor ihren Augen vorging, und verwundernd zu einander sprachen: was will doch das werden; oder frevelnd und spottend meinten: sie sind voll süßen Weins. – So m. Fr. laßt uns diese große Begebenheit mit einander ansehen als die erste Versammlung der Christen, als den Ursprung unserer gemeinschaftlichen gottesdienstlichen Verehrung, die von da an in Gemeinschaft im Gebet, im Brotbrechen immer fort, nicht aufgehört haben bis auf uns. Sind denn, so sagte ich zu mir selbst, die unsrigen nicht mehr gleich jener ersten; sind sie so ganz entartet daß sie, wie wohl abstammend von jenem wichtigen Tage nicht mehr aufzeigen können solche Wirkungen des Geistes? und wenn der Apostel des Herrn Verheißung in unserm Texte sagt: ich will von meinem Geiste ausgießen auf alles Fleisch – sind wir nicht begriffen unter dieser Verheißung die wir von der Geburt an Christen heißen? wenn er sagt: euch und euren Kindern soll seyn die Verheißung, die herrliche Gnade des Evangeliums, sollen wir uns nicht als solche betrachten uns nicht aneignen diese allen Geschlechtern verheißene Gnade? Dieß überlegend fand ich m. Fr., daß wenn wir es nur fühlen wollten, der Geist Gottes in unsern Versammlungen noch eben so reichlich wohnt, wie damals in jener ersten Versammlung und mit dieser Betrachtung wollen wir diese heiligen Tage feyern. Ich will euch loben, anpreisen unsere frommen Zusammenkünfte, euch hinführen zu allem Großen und Herrlichen was darin liegt, und heute soll es mein Geschäft seyn euch zu zeigen, daß in unsern (gottesdienstlichen Versammlungen) der Geist des Herrn sich noch eben so kräftig erweiset, und daß wir alles Wesentliche, was in jener Geschichte uns erzählt wird, auch jetzt noch in unserer Mitte finden. Wenn wir auf jene wesentlichen Stücke hinsehn und fragen, wodurch bewies sich der Geist Gottes so kräftig an jenem Tage: so ist es zuerst dieses, 1. daß ein jeder in seiner Sprache hörte die großen Thaten Gottes verkündigen 2. daß der Geist Gottes ein treffendes Zeugniß ablegte von Jesu Christo und 3. daß er auch mit heiliger Kraft eindrang in die Herzen der Menschen, daß sie fragten: Ihr Männer lieben Brüder, was sollen wir thun? etc. So laßt uns denn dieses betrachten und anwenden auch auf den Geist und das Leben unserer Versammlungen. I. Auch jetzt noch kann ein Jeder vernehmen die Verkündigung der Lehre in seiner Sprache. Dies wollen wir nicht darauf beschränken, wenn wir

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die ganze Gemeine der Christen ansehn als Eine, daß die Lehre verbreitet ist über alle Menschen, und daß es nur wenige Zungen gibt, in welchen sie nicht verkündigt würde; auch nicht darauf, daß, so mannichfaltig getheilt seyen die Gaben des Geistes, so verschieden die Denkungsarten und Gesinnungen die sich aber alle vereinigen in der Liebe zu Christo, doch ein Jeder vernehmen kann die Lehre in der Sprache, in der Bezeichnung [und] Darstellung, welche ihm die passendste | und verständlichste, eigenthümlichste und eben darum heilsamste ist für sein Herz und sein Leben. Vielmehr möchte ich euch darauf führen, wie schon das eine unvollkommene Ansicht wäre, wenn wir unsre Versammlung nur so vergleichen wollten mit jenem ersten wundervollen Zusammenseyn der Christen; als ob, wie dort Petrus, auch hier nur Einer und durch ihn allein der Geist spricht, und die Anwesenden allein hören verkündigen die Thaten. M. Fr. keiner gewiß von denen maßt sich das an, die an dieser Stätte das Wort verkündigen; sondern wie es damals geschah, wie Petrus sich erhob, um deutlich zu machen, was alle im Innern schon vernommen, und zu offenbaren auch denen, was der Geist Gottes redete durch ihn und alle die einmüthig versammelt waren: so erhebt sich auch die Stimme des Lehrers nur aus der gemeinsamen Gesinnung und Andacht aus der in Allen daseyenden Richtung des Herzens zu Gott und Christo, und wenn aus ihm der Geist reden soll, so müssen schon alle ihn vorher vernommen und empfangen haben und mitwirken. Denkt euch, um das zu sehn, einen Lehrer auch den trefflichsten, denkt euch wenn ihr wollt auch den beredtesten Lehrer des Christenthums gegenüber irgend einem Einzelnen und lasset ihn reden mit derselben Liebe und Kraft, mit der [er] sonst pflegt [zu reden]: wird es dieselbe Wirkung thun, wird es euch nicht scheinen ein schales unkräftiges Unternehmen? Was ist es denn nun, was die Stimme so gewichtig so gewaltig und kräftig macht, wenn wir alle beysammen sind? Es ist das Leben, der Geist der Sinn, der in allen Versammelten wohnt und aus dem Lehrer redet. Alle denken, empfinden fühlen Eines; alle wirken mit zu dem Guten, was geschieht; es wirkt jeder durch seine Theilnahme an dem Gemeinsamen, durch das sichtbare Eindringen seines Herzens in die Reden und Verheißungen, welche hier gegeben werden, und doch wirkt dieselbige Rede und Kraft in jedem auf andere Weise, und ergreift jeden auf seine Weise. Anders ist die sanfte stille Andacht des weiblichen Gemüths, als die von der Welt losgerissene innere Beschäftigung und Sammlung des thätigen nach außen gerichteten Mannes; anders die Frömmigkeit in der unschuldigen kindlichen Jugend; anders wird sie sich zeigen in dem gereiften Alter, welches gesättigt ist mit der Fülle der Erfahrungen; anders die Andacht derer, welche in der Gesellschaft niedrig dastehn, den Herrn preisend daß er ihnen eine innere Herrlichkeit gegeben hat zur Entschädigung für die entbehrte äußere; und anders die 19 daseyenden] daseyd

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Frömmigkeit derer, die auf die höchsten Stufen gestellt sind und hier das Zeugniß geben, daß doch alles eitel ist, was nicht beseelt ist durch Kraft von oben. So kann jeder noch jezt, wie ers bedarf, hören verkündigen die großen Thaten des Herrn.

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II. Der Geist Gottes beweist sich auch noch wie damals, dadurch, daß er ablegt ein eben so lautes und ernstes Zeugniß von Jesus Christus. So geschah es damals. Als Petrus das Wort nahm, wußte er von nichts zu reden als von Jesus von Nazareth dem Gekreuzigten, dessen Leben, und Lehre und Ende im frischen Andenken war; und nichts verkündigt er als Verheißungen des Herrn; denn so hatte der Herr gesagt; Von dem meinen wird er es nehmen und euch geben, den Geist, den Tröster, in alle Wahrheit wird er euch leiten, dadurch, daß er erinnert an alles, was ich gesagt habe. M. Fr., es hat wohl eine Zeit gegeben in unsern christlichen Versammlungen und es findet | vielleicht noch Statt, wo das Zeugniß von Jesu Christo gewissermaßen zurückgesetzt, in den Hintergrund gedrängt, verdunkelt, übertüncht wurde in unsern Übungen der Andacht. Von Wohlmeinenden ging das aus, welche meinten, die allgemeine Erhebung zu Gott müsse so eingerichtet seyn, daß sie auch denen genießbar wäre, für welche Christus und sein Gesetz nicht denselbigen Werth haben. Aber wir haben die traurigen Folgen bald genug gesehn und tief haben sie eingegriffen in unser geistiges Leben; von da verschwand die fromme Gemeinschaft, von nun an entstanden klügelnde Fragen über den Nutzen, die Wichtigkeit und angemaßte Unentbehrlichkeit der Gottesverehrung, und die genuß- und geistlosen klügelnden Reden haben uns gezeigt, wie viel wir verloren. Aber auch diese Zeit hat der Geist Gottes überwunden, und was auch die Menschen thun mögen, sie können es nicht dahin bringen, daß er nicht Zeugniß ablegte von Christo. Alles ist ja bezeichnet mit seinem Namen, wo nur etwas Großes und Herrliches gezeigt wird: Wes ist das Bild? Christi! was die Überschrift? sein Name! und dieß bey allem was nur einigen Werth bey uns hat. So m. Fr. sind wir alle Zeugen von ihm, wie er sich beweiset in uns durch Wort und That Zeugen, daß wir aus der innern Erfahrung des Herzens haben die Überzeugung: daß seine Lehre von Gott ist. Alles Gute, wozu wir uns ermuntern, fließt zusammen und ist vereinigt in seinem heiligen Bilde, und wir müssen, wie einst die Kraft der Sünde ihn ans Kreuz gebracht, und wie die Sünden und Schwachheiten, die doch zu ihm gerechnet werden wollen, ihn aufs neue kreuzigen; zeugen, daß Gott ihn auferweckt und zu einem Christus für uns gemacht hat; zeugen von ihm durch jede Tugend und Kraft die wir besitzen und üben, denn das alles ist er, der nun in uns lebt und wirket. 25 der] der den 10–12 Vgl. Joh 14,26; 16,13

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Darum alle die verschiedenen Empfindungen eines frommen Herzens, aller Friede in uns, welcher das wahre Leben aus Gott ist, so wie die zur Seligkeit führende Trauer des Gemüths, alles bezieht sich auf ihn, ist vereinigt in seinem Bilde, in der Liebe unseres Herzens zu ihm. Das ist das Zeugniß, daß der Geist Gottes immer noch in uns ablegt von Christo. III. Der Geist Gottes bezeigt sich auch noch eben so wirksam wie damals durch die Kraft, mit der er eindringt in unsere Versammlungen und in die Gemüther der Menschen. Wenn wir die Geschichte der heiligen Begebenheiten betrachten so waren [die] von denen darin geredet wird, von doppelter Art: die Einen, in denen der Geist Gottes war und wirkte, die Andern, die noch todt und erstorben waren fürs höhere Leben und hineingeführt werden sollten, daß auch sie empfingen die Gaben des heiligen Geistes. So ist es auch noch jetzt, und in den Versammlungen der Christen finden dieselbigen Entgegensetzungen Statt. Es wird gewiß keine zahlreiche Versammlung und Gemeinde von Christen geben, worunter nicht auch solche wären, welche des Geistes, das ist aber des höhern geistigen Lebens, noch nicht theilhaftig worden sind. Meine Brüder in Christo, laßt es uns mit Dankbarkeit anerkennen: unsere Versammlungen sind gewiß nicht unwirksam zu dem großen Zwecke, die Herzen der Menschen Gott und der höhern Liebe zuzuführen. Fühlt nicht jeder, der den Keim des Todes nicht im Herzen trägt, ist sich nicht jeder, der des schönen Friedens noch nicht voll ist, bewußt der äußeren Gewalt, die ihn unstät umtreibt und führt, wohin er nicht will; sich getrieben in den Versammlungen der Christen zu fragen: Ihr Männer lieben Brüder was sollen wir thun? und so wollen und können wir es nicht läugnen: es muß in unsern Versammlungen, wenn das Herz noch nicht ganz erstorben ist, sie anwandeln eine Sehnsucht, ein Verlangen nach der Seligkeit. Denn was ist es, was wir bezeugen als die Ruhe des Gott ergebenen Gemüths den Frieden dessen, in dem es keinen Streit mehr giebt in welchem der Zwiespalt zwischen dem Fleisch und Geiste wo nicht ganz ausgetilgt, doch ausgesöhnt ist. Und m. Fr. indem sich diese Gesinnung| ausspricht, indem dieser Friede unter uns wohnt, giebt uns auch der Geist Zeugniß vor der Welt: daß wir nicht trunken sind, begeistert wohl aber nüchtern und besonnen. Gar zu leicht, wo sie den Frommen gehn sehn seinen eignen Weg für sich, in sich verschlossen und geringschätzend so vieles, woran allein ihr Herz hängt, erscheint er ihnen als Thor, als ein Schwärmer; aber noch nie haben sie es dahin gebracht, daß auch der Sinn, der Geist, der sich in unsern Versammlungen kund giebt, ihnen erschiene als Wahn, Schwärmerey und Rausch; denn unsere gemeinschaftliche Ruhe und Eintracht erzeugt Besonnenheit des Gemüthes. Aber wenn wir tief fühlen die göttliche Kraft des Geistes, die in unsern Versammlungen wohnt, daß wir alle dazu einladen möchten. Laßt uns auch in uns selbst gehen und gestehn, wenn wir gleich wiedergeboren sind durch jene Kraft, und als

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solche die wohl wissen, woher der Geist kommt und wohin er fährt, doch uns selbst fragen, wo er noch fehlt, und ausspähen in unsern Herzen, was die Sünde sich vorbehalten möchte zu einem geheimen Wohnplatz. Aber wo werden wir wohl kräftiger hingewiesen auf die verborgenen Falten des Herzens, dessen Tichten und Trachten von Jugend auf gerichtet [ist] auf das Irrdische, als eben hier; wo stellt sich der Zusammenhang des göttlichen Lebens so dar, wo fühlen wir es so, daß wer das Herz Gott weihen will, es ganz thun muß, und nicht mehr hängen am Irrdischen? Ja einem Jeden unter uns ist es begegnet, daß er in sich gegangen ist, und sich gefragt hat: was muß ich thun, daß ich ganz selig werde, und meine Seele ganz gekleidet sey in das Licht Gottes? M. Fr. Laßt uns diesen unsern Schatz nicht gering achten. Was ich gesagt habe, ist so wahr, daß ich weissagen kann, das Herz eines Jeden muß ihm beystimmen! Wohlan! ich wiederhole es: euer und eurer Kinder ist diese Verheißung, die der Herr an dem heutigen Tage gegeben hat. Laßt uns denn uns der Kraft, die in unseren Versammlungen liegt, recht bewußt werden. Wir wissen es gewiß, was er geordnet hat ist löblich und heilsam; er hat auch unter uns gestiftet ein Gedächtniß seiner Wunder; so laßt uns bedenken, daß jeder durch sein Daseyn, seine Theilnahme, durch sein Zeugniß und seine Kraft gewiß wirket auf andere; und wie es damals hieß, und sie kamen und ließen sich taufen und wurden hinzugethan zu der Schaar der Gläubigen: so mag es auch unter uns gehn von Jahr zu Jahr, daß sich auch die Zahl derer mehre, die im Geiste getauft sind, und wandeln als seine Kinder und Brüder und verkündigen durch ihre Tugend und Weisheit des Geistes Gaben, die Gott uns gegeben hat.

2 er] es 1 Vgl. Joh 3,8

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Am 11. Juni 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

Pfingstmontag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Thess 5,19–21 a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 9r–15v (Abschrift einer Nachschrift Matthissons) Texteditionen: SW II/7, 1836, S. 427–436 b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 33r–34v; Matthisson Texteditionen: Keine Keine Keine

a. Autograph Schleiermachers Am 2. Pfingsttage 1810

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Wir haben uns gestern damit beschäftigt, jenem ersten wundervollen Zusammensein der Christen unsere gottesdienstlichen Versammlungen zu vergleichen und gefunden, daß sie noch eben so bedeutend und wirksam sind, noch dieselben Wirkungen des heiligen Geistes aufzuweisen haben. Und das ist keine anmaßende Behauptung denn die damals wirkende Kraft war dieselbige, und nicht höher als die deren Einflüssen wir uns hingeben und von der wir unsere Heiligung erlangen. Denn was giebt es Größeres als daß der Mensch werde ein Tempel des Allerhöchsten und es giebt keine herrlichere Wirkung auch, als die, welche daß er also den Menschen umgestalte; und alles Unbegreifliche wovon jene Erzählung redet, keiner darf es für etwas größeres und höheres achten als das Werk der Wiedergeburt, der innern Umgestaltung des Menschen, welches die Schrift auch anderwärts als Wirkung des Geistes nahmhaft macht. Eben so wenig wird man sagen dürfen, es könne zwar zwischen dem was jezt und was sonst in den Versammlungen gewirkt ward, eine Ähnlichkeit sein, wenn alles anders | wäre, wenn wir uns losmachen könten von vielen Einrichtungen Gewöhnungen und Hindernißen aller Art; aber wie es jezt sei, 5 Wirkungen] Wirkung 0 Vgl. Einleitung, Punkt I.1. 13–15 Joh 3,5–8

2 Vgl. 10. Juni 1810 vorm.

9–10 Vgl. 1Kor 3,16

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lasse sich wenig in den gottesdienstlichen Versammlungen erwarten. Ich berufe mich auf die Erfahrung eines jeden Wohlgesinnten unter euch: was dem Grade nach verschieden ist, ist es doch nicht auch der Art nach, und jede Wirkung des Geistes, die uns dahin führt, daß wir uns dem Herrn hingeben, kräftiger angeregt werden zum Guten, heller erleuchtet in der göttlichen Führung aller Dinge, ist ja dasselbe was damals in den Aposteln geschah und durch sie. Aber eben dieses leztere möchten mehrere behaupten: der Größe nach unterschieden sich die Wirkungen und davon sei die Ursache nicht, weil die Sache des Christenthums damals etwas neues, daß die Geschichte des Erlösers noch frisch im Andenken war, und nicht alles kann geschoben werden auf den Reitz der Neuheit auf den ersten warmen Eifer. Wolan m. F. wenn wir dies Zurükbleiben unserer Zeit gegen jene frühere inne geworden sind und es als Mangel fühlen: | laßt uns sehen, worin es kann gegründet sein und wodurch ihm mag abgeholfen werden.

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Wir haben um so mehr recht, diese Worte des Apostels auf die Angelegenheit unserer Gemeinde in Beziehung auf ihre gottesdienstlichen Versammlungen zu verstehn, als eben die Worte auch unmittelbar darauf hinführen. Unter dem Geiste wurden die göttlichen Gaben verstanden, diese auf diese Art besonders erwiesen, und Weissagung war der Name für die Erweckungen des Geistes, Belehrungen, Ermahnungen, die von Einem ausgehend übers Ganze sich verbreiteten. Wenn nun der Apostel von Befolgung dieser Rathschläge es erwartete daß die christliche Gemeinschaft ihren Endzweck erreichen würde, so können wir sie auch bei uns zum Maaßstab nehmen um daran zu sehn, was erreicht werde, und wenn es wahr ist daß die Wirkungen des Geistes unter uns nicht so lebendig sind und nicht von solchem Umfang und Erfolg: so werden wir finden – und das ist das erste, womit wir uns beschäftigen – daß die Ursache in nichts anderm liege als in der Vernachläßigung eben dieser Rathschläge des Apostels und so werden wir sehen, wovon jede Verbeßerung nothwendig | ausgehe. „Den Geist dämpfet nicht“. O m. Fr. wir müssen es beschämt gestehn; wir haben ihn gedämpft. Der Geist, wenn wir uns daran halten was von seinen Ergießungen an jenem heiligen Tage erzählt wird, was ist er als ein göttliches Feuer im Menschen, was aber hervordringen will und andre beleben, und als eine gemeinsame Glut, die alles erwärmt und durchzieht? Aber wohin ist es mit allen Versammlungen der Christen gekommen? Es hat die Ansicht die Oberhand genommen die ich 27 die] folgt )Weißagungen*

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gestern als etwas trauriges bezeichnete. Man hat die Kirche verwechselt mit der Schule, die Anstalt zur Erbauung mit der Anstalt zur Belehrung, und man hat die Meinung angenommen als ob die sich hier versammelten nur lernen sollten, und der Wortführer als ob er das Ansehn und die Pflicht habe zu lehren. Aber wenn wir auch nur stehn bleiben bei dem verständlichen Worte daß er erbauen, soll daß belebt werden soll und gestärkt die fromme göttliche Gesinnung in den Gemüthern, die Liebe und der innere Trieb zum Guten, m. Fr. wer kann sagen, daß hier anders etwas zu erwarten | sei als von dem gemeinsamen Bestreben Aller. Was ist die Folge von jener Ansicht als daß der größte Theil der Christen entweder wartet, bis ihm ein Bedürfniß aufgeht, und das Gefühl, daß er mit seiner Ansicht von der Welt und der göttlichen Führung in Verwirrung gerathen, daß sie ihm nicht mehr aushelfen, kurz daß er der Belehrung bedarf, oder daß sie es mit läßigem trägem Geist darauf ankommen lassen was sie empfangen werden. Daher denn aus dieser Ansicht und mit ihr zugleich entstanden sind jene Zweifel über den Werth und die Wichtigkeit unserer gottesdienstlichen Versammlungen, daher so viele gesagt haben, daß man an dem Orte selten etwas höre als das, was man schon wisse, daß Jeder die Belehrung die er grade bedürfe, wohl beßer anderswo suchen könne als da, wo der Lehrer nicht wiße, was ihm und was grade jezt noth thut. – Die Weißagung verachtet nicht und m. Fr. wir haben sie verachtet, sie ist gering geschäzt so daß sie sich fast ganz unter uns verloren hat. | Weissagung ist nicht Andeutung auf das was da kommen soll sondern wenn wir es ansehn müssen als das, was in der Geschichte jenes alten Volks von den Männern welche Propheten hießen, geleistet worden; so werden wir finden, daß dies das wenigste ist und gelegentlich Ergießungen enthielt welche von ihnen ausgingen. Aber das wesentliche war, daß sie begeistert zum Volk sprachen und es tadelnd sprachen und aufmunterten. Denn immer so fangen die Weissagungen an: und es geschah der Ruf an die Propheten; Gott sprach gehe hin und nun folgen die Weissagungen, die nur Belehrungen sind über das, was dem Volke noth war, Erweckungen welche ihre Lage und Umstände erforderten, Ergießungen der höhern Kraft, welche in dem einen stärker waren als in den Uebrigen, und die von ihm den andern mitgetheilt werden mußten. Also die begeisterten Ergießungen des Herzens über das, was noth war, das Ueberströmen der Kraft, die sich auch der schwachen bemächtigen | will durch die Gewalt der Rede das ist der Begriff der Weissagung – Aber m. Fr. wir 19 man] über der Zeile mit Einfügungszeichen 1 Vgl. 10. Juni 1810 vorm.

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haben schon so lange dahin gearbeitet, alles was den Nahmen der Begeisterung verdient, zu verbannen, damit die Kinder dieser Welt uns nicht darstellen als Thoren und Schwärmer, darum ist auch der christliche Gesang, dieses herrliche Mittel das Gemüth zu erheben und mit dem göttlichen zu erfüllen und zu allem guten zu erwecken; er ist, weil die Kraft der Dichtung daraus verschwunden ist, herabgesunken zu etwas so kaltem und leerem, daß man ihn auch allgemein nicht mehr als ein wesentlichen Theil der Gottesverehrung will gelten lassen. Und so ist es gegangen bei dem Theile, der von der Rede ausgeht. Denn man hat es allmählig dem allgemeinen Endzweck der gottesdienstlichen Versammlungen nicht recht angemessen gefunden, auf das zu sehn was noth thut, die Gemüther in Anspruch zu nehmen für das, was nun grade aus den Umständen hervorgeht. Denn jemehr | die Gemeinde ein Ganzes gebildet hat, je mehr das Band zwischen ihnen und dem Lehrer gelöst ist, ist der lezte in die Verlegenheit gekommen, entweder nicht unterrichtet zu sein oder den Schein zu haben als sei er unterrichtet von ihren geistigen Bedürfnissen, und dies Uebel hat alle Völker ergriffen. Und wenn dies Gegentheil von dem herrscht, was man unter Weissagung versteht, eben so nüzlich für jeden, wenn er auch unter andern Verhältnissen und Umständen lebt und was jeden anspricht vermittelst jener Beziehung die er mit Tausenden von Fremden und Fernen theilt; was ist die Folge gewesen als m. Fr. dieses: daß auch bei unsern christlichen Vorträgen nicht mehr gesehn ist auf das, was der Apostel sagt: ich bin unter euch gewesen nicht mit Worten der Weisheit sondern mit dem Geist und der Kraft, und daß wir mehr gesehn haben auf menschliche Weisheit oder wie es richtiger heißen sollte menschliche Kunst – eben weil der Inhalt selbst den größten Theil der Menschen so wenig anspricht, weil die Rede nicht | von Herzen kommt und zum Herzen geht. Und was konnte doch die Menschen locken sich als Zuhörer hinzustellen als die Kunst der rednerische Schmuck und äußere Vorzüge die gar nicht in Anschlag kommen sollten. Endlich[:] Prüfet alles und behaltet das Gute. Wir aber, wir pflegen schon lange in Absicht der Angelegenheiten des christlichen Evangeliums Gottes Gutes nicht zu prüfen oder doch das Gute nicht zu behalten. Denn daraus sind entstanden jene beiden Partheien deren Zwiespalt es so schwierig macht dem Gottesdienste die erste Kraft zurück zu führen welche in den frühesten Zusammenkünften war. Es giebt einige, die gar keine Prüfung zulassen bei allem was entweder vorgeschrieben oder hervorgebracht und durch Verjährung geheiligt 25–26 Vgl. 1Kor 2,4

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ist stehn bleiben und sich nicht bekümmern ob das alles auch jezt noch angemessen ist. Die andern sind die vor lauter Prüfung zu heilsamem Gebrauch, zu stärkendem Genuß niemals gelangen mögen, denen nie etwas recht ist und gut, die an allem zu tadeln und zu verwerfen haben | und die, sobald irgend etwas im Widerstreit ist mit dem Zeitgeist, sobald sich ihnen ein verwöhntes Gefühl entgegensezt, sogleich behaupten, daß es auf sie keine geistige Kraft ausüben könne, eben weil sie unfähig sind geistig berührt und getroffen zu werden. In diesem Streite ist, man darf es sagen, der Seegen aller unserer Gottesverehrung erstorben, indem sich jene streng halten an alte Formen, die als todter Buchstabe den Geist nicht mittheilen können und diese alles verwerfen, wofür sie erstorben sind und so ist alles aus dem Kreise gemeinschaftlicher Erbauung verschwunden, ... was zur Erbauung dienen soll und zurückgezogen in das Gebiet der Häuser, ... Das meine Fr. sind die unläugbaren Mängel und die Ursachen derselben in Absicht auf die gemeinschaftlichen Angelegenheiten unserer gottesdienstlichen Zusammenkünfte und die Erwekung des Geistes. Erkennen wir sie an, und streben wir darnach uns los zu machen, so werden die Meisten sagen: wir können nichts thun das Wichtigste muß von Oben herab kommen und geschehn von denen | welche die christlichen Gemeinden leiten. Aber diese Meinung, m. Fr. hat ihren Grund nur in jenem Irrthum von einem großen Unterschiede zwischen den Lehrenden und den Lernenden, einem Unterschiede den wir in jenen segensreichen Zusammenkünften der Jünger Jesu vergeblich aufsuchen. Es zeigt die Geschichte der Kirche daß von oben herab nicht alles und nur einiges so gethan werden kann, ja daß beim besten Willen der Obern nichts geschehn wird, wenn nicht der lebendige Eifer Aller zu Hülfe kommt. Soll ich also sagen nach den Rathschlägen des Apostels wovon allein Wiederbelebung des Erstorbenen ausgehen muß: so ist es dieses: Erstlich es muß sich einstellen an der Sache des Gottesdienstes eine lebendige Theilnahme Aller. Zweitens es muß das Band der Christen als solches enger geknüpft werden, wir müssen erst wieder das bilden was im eigentlichen Sinn eine Gemeinde ist. Nur von unsrer engern Verbindung kann alles ausgehen und ich ermahne euch an diesem heiligen Tage zu einer lebendigen Theilnahme. Eben nicht bloß um etwas zu empfangen um zu lernen sollen sich die Christen hier versammeln, sondern durch Wechselwirkung der Geister auf einander sich erkennen sich stärken sich beleben zum Guten. Sowol wenn der Einzelne durch weltliche Sorgen und Geschäfte in sich ge17 gottesdienstlichen] gottesd 11 Vgl. 2 Kor 3,6

39 in] über der Zeile

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schwächt fühlt den Sinn für das Höhere das Bewußtsein seines geistigen Lebens, und wer befände sich nicht zu Zeiten in diesem Falle, wohin könnte er dann besser eilen als hieher um nicht nur zu empfangen sondern sich in lebendige Gemeinschaft zu sezen mit Allen die | sich versammelt haben. Aber auch wenn in Andern das Gefühl des Gebens und Empfangens recht lebhaft heraustritt und sich der Wunsch regt: o daß ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund, wohin kann er sich dann besser retten als hieher, da wo seine Rede sein Gesang sein stilles Gebet sich tausendfach vermehrt durch die Gemeinschaft mit Allen auf die er wirkt. Aber auch in weiterm Sinne, und das ist die erste Grundlage von Allem muß das Band der Christen erst enger geknüpft werden. Wir müssen uns ansehn als eine Gemeine des Herrn wo alles je größer und wichtiger es ist auch desto gemeinsamer sein muß. Es muß jedem gleich wichtig werden was Alle betrifft und der Wunsch allgemein daß allem abgeholfen werde was das Ganze drükt. Die Mittel dazu müssen für jeden werden ein Gegenstand seines Nachdenkens und seiner Berathung; es muß sich bilden eine gemeinsame Neigung und ein gemeinsamer Wille. Denn nur hiervon ist auch in allen andern Angelegenheiten ausgegangen eine gründliche Besserung. Das ist aber das große Uebel daß Jeder das Geschäft der Erbauung ansieht als eine Sache des Einzelnen; und so lange das noch stattfindet so lange dies wenigstens die herrschende Denkungsart ist[,] ist an keine wahre Besserung zu denken; sondern wir müssen nur noch mehr verfallen und alle wohlgemeinte Bemühung wird sich nur auf Nebendinge wenden. Der Einzelne kann keine große Angelegenheit leiten und fördern denn wenn er sich einzeln denkt und fühlt so fühlt er sich auch schwach. Die Hülfe kann nur ausgehn von der vereinigten Kraft Aller; jeder muß sich ansehn als Mitglied einer großen gemeinschaftlichen Verbindung. | Von den ersten Jüngern heißt es: Sie waren einmüthig bei einander, sahen sich an als Ein Ganzes; das gemeinsame Wohl und Werk war Gegenstand des Nachdenkens und der Betrachtung für alle und für jeden Einzelnen, jedes Bedürfniß wurde von Allen gefühlt jede einzelne Einsicht kam zur Mittheilung und diese Gemeinschaft allein hat die Kirche gestiftet. Wenn sich jeder von ihnen in sich verschlossen hätte und die Religion angesehen nur als eine Angelegenheit zwischen ihm selbst Gott und Christo; wenn es dann auch Einzelne gegeben hätte die von einem andern Geist getrieben ausgingen und lehrten und tauften; aber die 32 für] über der Zeile 7–8 Vgl. Porst’sches Gesangbuch, 1812, Nr. 598: „O, daß ich tausend Zungen hätte“ (Mel. „Wer nun den lieben Gott läßt walten“), Str. 1 30 Vgl. Apg 1,14

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Getauften wären auch in jenem Sinn sich vereinzelnder Frömmigkeit getauft worden: wie bald würde der erste Eifer erkaltet, wie wenig das Christenthum verbreitet und wie bald vielleicht das Gedächtniß Christi verschwunden sein (oder so herabgesunken wie auch jezt in solchen Gemeinen des fernen Osten die in keiner Gemeinschaft mit den übrigen stehen). M. Fr. im Vergleich mit jener frühen Zeit ist es auch jezt im Herabsinken und Verschwinden. Wenn auch der Name Christi genannt wird und die Menschen noch nach ihm heißen wenn auch seine Denkmäler und Vermächtnisse unverloren und unverlezt unter uns sind: fragen wir wieviel davon gebraucht und genossen wird, so müssen wir gestehn, wir bleiben weit hinter jener Zeit des gemeinsamen Eifers zurük. O laßt uns nicht tiefer sinken. Laßt uns diese Zeit, die auf so vielerlei Weise warnend und ermahnend zu uns geredet, laßt sie uns nicht verloren gehen. Es flammt hie und da etwas auf was ähnlich sieht der Flamme des Glaubens und der Liebe Christi. | Möge es keine trügliche Erscheinung sein! mögen wir daran entzünden ein heiliges Feuer welches Alle erwärmt und erleuchtet. Ja wenn uns die heiligen Begebenheiten dieser Tage nur vereinten uns hinzugeben dem Herrn und uns von seinem Geiste erfüllen zu lassen: so laßt uns nicht vergessen daß es seine größte Wirkung war die Gemeine des Heilands zu gründen; laßt sie uns von neuem preisen durch eine Theilnahme an den christlichen Versammlungen und die Segnungen erfahren eines vereinten christlichen Lebens. Dann kann die tröstliche Verheißung in Erfüllung gehen: ich bin bei euch bis ans Ende der Tage und wo Ihr in meinem Namen versammelt seid bin ich mitten unter euch.

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b. Nachschrift Predigt am 2. Pfingsttage 10. von Schleiermacher (Nachmittag)

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Wir haben uns gestern damit beschäftigt, mit jenem ersten wundervollen Zusammenseyn der Christen unsere gottesdienstlichen Versammlungen zu vergleichen und gefunden, daß sie noch eben so bedeutend und wirksam sind noch dieselben Wirkungen des heiligen Geistes aufzuweisen haben. Und dieß ist keine anmaßende Behauptung, denn die damals wirkende Kraft war dieselbige, und nicht höher als die, deren Einflüssen wir uns hin24–25 Vgl. Mt 28,20

25–26 Vgl. Mt 18,20

28 Vgl. 10. Juni 1810 vorm.

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geben, und von der wir unsere Heiligung erlangen. Denn es giebt nichts Größeres, als daß der Mensch werde ein Tempel des Allerhöchsten und es giebt keine herrlichere Wirkung von ihm als die, daß er also den Menschen umgestalte, und alles Unbegreifliche wovon jene Erzählung redet. Keiner darf es für etwas größeres und höheres achten als das Werk der Wiedergeburt, der innern Umgestaltung des Menschen, welches die Schrift auch anderwärts als Wirkung des Geistes nahmhaft macht. Eben so wenig wird man sagen dürfen, es könne zwar zwischen dem was jetzt, und was sonst in den Versammlungen gewirkt ward, eine Ähnlichkeit seyn, wenn alles anders wäre, wenn wir uns los machen könnten von vielen Einrichtungen Gewöhnungen, und Hindernissen aller Art; aber wie es jetzt sey, lasse sich wenig von den gottesdienstlichen Versammlungen erwarten. Ich berufe mich auf die Erfahrung eines jeden Wohlgesinnten unter euch: was dem Grade nach verschieden ist, ist es doch nicht auch der Art nach, und jede Wirkung des Geistes, die uns dahin führt, daß wir uns dem Herrn hingeben, kräftiger angeregt werden zum Guten, heller erleuchtet in der göttlichen Führung aller Dinge, ist ja dasselbe, was damals in den Aposteln geschah und durch sie. Aber eben dieses Letztere möchten mehrere behaupten: der Größe nach unterscheiden sich die Wirkungen; und davon sey die Ursache nicht, weil die Sache des Christenthums damals etwas neues, daß die Geschichte des Erlösers noch frisch im Andenken war, und nicht alles kann geschoben werden auf den Reiz der Neuheit auf den ersten warmen Eifer. Wohlan m. Fr. wenn wir dieß Zurückbleiben unserer Zeit gegen jene frühere inne geworden sind, und es als Mangel fühlen: laßt uns sehen, worin es kann gegründet seyn und wodurch ihm mag abgeholfen werden.

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1 Thess. 5, 19 seq. Wir haben um so mehr recht, diese Worte des Apostels auf die Angelegenheiten unserer Gemeinde in Beziehung auf ihre gottesdienstlichen Versammlungen zu verstehn, als eben die Worte auch dort unmittelbar darauf hinführen. Unter dem Geiste wurden die göttlichen Gaben verstanden, dieselben auf diese Art besonders erwiesen, und Weissagung war der Name für die Erweckungen des Geistes, Belehrungen, Ermahnungen, die von Einem ausgehend übers Ganze sich verbreiteten. Wenn nun der Apostel von Befolgung dieser Rathschläge es erwartete, daß die christliche Gemeinschaft ihren Endzwecke erreichen würde, so können wir sie auch bey uns zum Maßstab nehmen um daran zu sehn, was erreicht werde, und wenn es wahr ist daß die Wirkungen des Geistes unter uns nicht so lebendig sind und von einem solchen Umfang und Erfolge: so werden wir finden – und das ist das 16 angeregt] angeret 2 Vgl. 1Kor 3,16

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erste, womit wir uns beschäftigen – daß die Ursache in nichts anderm liege als in der Vernachlässigung eben dieser Rathschläge des Apostels und so werden wir sehen, wovon jede Verbesserung nothwendig ausgehe. „Den Geist dämpfet nicht[.]“ O. m. Fr. wir müssen es beschämt gestehn: wir haben ihn gedämpft. Der Geist, wenn wir uns daran halten, was von seiner Ergießung an jenem heiligen Tage erzählt wird, was ist er als ein göttliches Feuer im Menschen, das aber hervordringen will und andere beleben, und als eine gemeinsame Glut, die alles erwärmt und durchzieht? Aber wohin ist es mit allen Versammlungen der Christen gekommen? Es hat die Ansicht | die Oberhand genommen, die ich gestern als etwas trauriges bezeichnete. Man hat die Kirche verwechselt mit der Schule, die Anstalt zur Erbauung mit der Anstalt zur Belehrung, und man hat die Meynung angenommen, als ob die sich hier versammeln nur lernen sollten, und der Wortführer als ob er bloß das Ansehn und die Pflicht habe, zu lehren. Aber wenn wir auch nur stehen bleiben bey dem verständlichen Worte, daß er erbauen soll, daß belebt werden soll und gestärkt die fromme göttliche Gesinnung in den Gemüthern, die Liebe und der innere Trieb zum Guten; m. Fr. wer kann sagen, daß hier anders etwas zu erwarten sey als von dem gemeinsamen Bestreben Aller. Was ist die Folge von jener Ansicht, als daß der größte Theil der Christen entweder wartet, bis ihm ein Bedürfniß aufgeht, und das Gefühl, daß er mit seiner Ansicht von der Welt und der göttlichen Führung in Verwirrung gerathen, daß sie ihm nicht mehr aushelfen, kurz daß er der Belehrung bedarf, oder daß sie es mit trägem lässigem Geiste darauf ankommen lassen was sie empfangen werden. Daher denn aus dieser Ansicht und mit ihr zugleich entstanden sind jene Zweifel über den Werth und die Wichtigkeit unserer gottesdienstlichen Versammlungen, daher so viele gesagt haben, daß man an dem Orte selten etwas höre als das, was man schon wisse, daß Jeder die Belehrung, die er gerade bedürfe wohl beßer anders wo suchen könne als da, wo der Lehrer nicht wisse, was ihm und was gerade jetzt noth thut. – „Die Weissagung verachtet nicht“ und m. Fr. wir haben sie verachtet, sie ist gering geschätzt so daß sie sich fast ganz unter uns verloren hat. Weissagung ist nicht Andeutung auf das, was da kommen soll sondern wenn wir es ansehn müssen als das, was in der Geschichte jenes alten Volks von den Männern, welche Propheten hießen, geleistet worden; so werden wir finden, daß dieß daß wenigste ist und gelegentliche Ergießungen enthielt, welche von selbst ihnen aufgingen. Aber das wesentliche war, daß sie begeistert zum Volke sprachen, und es tadelnd straften und aufmunterten. Denn immer so fangen die Weissagungen an: und es geschah der Ruf an die Propheten; Gott sprach gehe hin, und nun 38 aufmunterten] aufmuntern 10 Vgl. 10. Juni 1810 vorm.

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folgen die Weissagungen, die nur Belehrungen sind über das, was dem Volke noth war, Erweckungen, welche ihre Lage, und Umstände erforderten, Ergießungen der höhern Kraft, welche in dem einen stärker waren als in den Übrigen, und die von ihm den andern mitgetheilt werden mußten. Also die begeisterten Ergießungen des Herzens über das, was noth war, das Überströmen der Kraft, die sich auch der Schwachen bemächtigen will durch die Gewalt der Rede, das ist der Begriff der Weissagung. – Aber m. Fr. wir haben schon lange dahin gearbeitet, alles was den Namen der Begeisterung verdient zu verbannen, damit die Kinder dieser Welt uns nicht darstellen als Thoren und Schwärmer; darum ist auch der christliche | Gesang, dieses herrliche Mittel das Gemüth zu erheben und mit dem Göttlichen zu erfüllen und zu allem Guten zu erwecken; er ist, weil die Kraft der Dichtung daraus verschwunden ist, herabgesunken zu etwas so Kaltem und Leerem, daß man ihn auch allgemein nicht mehr als einen wesentlichen Theil der Gottesverehrung will gelten lassen. Und so ist es gegangen bey dem Theile, der von der Rede ausgeht. Denn man hat es allmählig dem allgemeinen Endzwecke der gottesdienstlichen Versammlungen nicht recht angemessen gefunden, auf das zu sehn was noth thut, die Gemüther in Anspruch zu nehmen für das was nun gerade aus den Umständen hervorgeht. Denn je mehr die Gemeinde ein Ganzes gebildet hat, je mehr das Band zwischen ihnen und dem Lehrer gelöst ist; ist der letzte in die Verlegenheit gekommen, entweder nicht unterrichtet zu seyn, oder den Schein zu haben als sey er nicht unterrichtet von ihren geistigen Bedürfnissen, und dieß Übel hat alle Völker ergriffen. Und wenn das Gegentheil von dem herrscht, was man unter Weissagung versteht, eben so nützlich für jeden, wenn er auch unter andern Verhältnissen und Umständen lebt, und was jeden anspricht vermittelst jener Beziehung, die er mit Tausenden und Fremden und Fernen theilt; was ist die Folge gewesen als m. Fr. dieses: daß auch bey unsern christlichen Vorträgen mehr gesehn ist auf das was der Apostel sagt: ich bin unter euch gewesen nicht mit Worten der Weisheit sondern mit dem Geist und der Kraft; und daß wir mehr gesehn haben auf menschliche Weisheit oder wie es richtiger heißen sollte, menschliche Kunst – eben weil der Inhalt selbst den größten Theil der Menschen so wenig anspricht, weil die Rede nicht von Herzen kommt und zum Herzen geht. Und was konnte doch die Menschen locken sich als Zuhörer hinzustellen als die Kunst der rednerische Schmuck und äußere Vorzüge, die gar nicht in Anschlag kommen sollten. Endlich[:] Prüfet alles und behaltet das Gute. Wir aber, wir pflegen schon lange in Absicht der Angelegenheiten des christlichen Gottesdienstes nicht zu prüfen oder doch das Gute nicht zu behalten. Denn daraus sind entstanden jene beyden Partheyen deren Zwiespalt es so schwierig macht 29–31 Vgl. 1Kor 2,4

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dem Gottesdienste die erste Kraft zurück zu führen, welche in den frühesten Zusammenkünften war. – Es giebt einige, die gar keine Prüfung zulassen, bey allem, was entweder vorgeschrieben oder hergebracht und durch Verjährung geheiligt ist, stehn bleibe und sich nicht bekümmern ob das alles auch jetzt noch angemessen ist. Die andern sind die, die vor lauter Prüfung zu einem heilsamem Gebrauch, zu einem stärkendem Genuß niemals gelangen mögen, denen nie etwas recht ist und gut, die an allem zu tadeln und zu verwerfen haben und die, sobald irgend etwas im Widerstreite ist mit dem Zeitgeiste, sobald sich ihnen ein verwöhntes Gefühl entgegen setzt, sogleich behaupten, daß es auf sie keine geistige Kraft ausüben könne, eben weil sie unfähig sind geistig getroffen und berührt zu werden. In diesem Streite ist, man darf es sagen, der Seegen aller unserer Gottesverehrung erstorben, indem sich jene streng halten an alte Formen, die als todter Buchstabe den Geist nicht mittheilen können, und diese alles verwerfen, wofür sie erstorben sind, und so ist alles aus dem Kreise gemeinschaftlicher Erbauung verschwunden, aus der Gemeinde entfernt, was zur Erbauung dienen soll und zurückgezogen in das Gebiet der Häuser, damit hier die Willkühr allein damit schalten kann. – Das m. Fr. sind die unläugbaren Mängel und die Ursachen derselben in Absicht auf die gemeinschaftliche Angelegenheit unserer christlichen Zusammenkünfte und die Erweckung des Geistes. Erkennen wir sie an, und streben wir danach, uns los zu machen: so werden [die] Meisten sagen: wir können nichts thun; das Wichtigste muß von oben herab kommen und geschehn von denen die die christlichen Gemeinden leiten; aber diese Meynung m. Fr. hat ihren Grund nur in jenem Irrthum von dem Gegensatze zwischen Lehrenden und Lernenden, ein Gegensatz den wir in jenen segensreichen Zusammenkünften der Jünger des Herrn vergeblich aufsuchen. Es zeigt die Entstehung der Kirche daß von oben herab nicht alles und nur einiges so gethan werden | kann, und daß beym besten Willen der Obern nichts geschehen kann, wenn nicht der Eifer aller zu Hülfe kommt. Soll ich also sagen mit den Rathschlägen des Apostels, wovon allein Wiederbelebung des Erstorbenen ausgehen muß; so ist es dieses: 1. es muß sich einstellen an der Sache des Gottesdienstes eine lebendige Theilnahme aller, und, es muß das Band der Christen als solches enger geknüpft werden, wir müssen erst wieder das bilden, was im eigentlichen Sinn eine Gemeinde ist; und nur von unserer engern Verbindung kann alles Beßere ausgehn, und ich ermahne Euch an diesem heiligen Tage zu einer lebendigen Theilnahme. Eben nicht bloß um etwas zu empfangen, um zu lernen, sollen sich die Christen hier versammeln; sondern durch Wechselwirkung der Geister auf einander sich erbauen sich stärken und 33 solches] solcher 13–14 Vgl. 2Kor 3,6

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Am 11. Juni 1810 nachmittags

beleben zum Guten. Sowohl m. Fr. wenn der einzelne durch weltliche Sorgen und Geschäfte in sich geschwächt fühlt den Sinn fürs Höhere, das Bewußtseyn von seinem geistigen Leben, und wer befände sich nicht zu Zeiten in diesem Falle, und wohin könnte er dann besser eilen als hieher, um nicht nur zu empfangen, sondern sich in Gemeinschaft zu setzen mit allen, die sich versammelt haben; aber auch wenn in andern das Gefühl des Gebens und Empfangens recht lebendig heraustritt, und sich der Wunsch regt, o daß ich 1000 Zungen hätte und einen tausendfachen Mund – wohin kann er sich dann besser retten als hieher; da wo seine Rede, sein Gesang, sein stilles Gebet sich tausendfach vermehrt durch die Gemeinschaft mit allen, auf die er wirkt. Aber auch in weiterm Sinne, und das ist die erste Grundlage von allem, muß das Band der Christen erst enger geknüpft werden, wir müssen uns ansehn als eine Gemeinde des Herrn. Es muß Jedem gleich wichtig werden, was Alle betrifft, und der Wunsch allgemein, daß allem abgeholfen werde, was das Ganze drückt; die Mittel dazu müssen für einen Jeden werden ein Gegenstand seines Nachdenkens und seiner Berathung; es muß sich bilden eine gemeinsame Neigung und ein gemeinsamer Wille. Denn nur hiervon in allen andern Angelegenheiten ist ausgegangen eine bleibende Beßerung. Das ist aber das große Übel, daß Jeder das Geschäft der Erbauung ansieht als eine Sache des Einzelnen und so lange das noch Statt findet; so lange dieß die herrschende Denkungsart ist, ist an keine Beßerung zu denken; sondern wir müssen nur noch mehr verfallen. Der Einzelne kann keine große Angelegenheit leiten und fördern, denn wenn er sich einzelner denkt und fühlt; so fühlt er sich auch schwach; die Hülfe kann nur ausgehn von der vereinigten Kraft Aller; er muß sich ansehn als Mitglied einer großen gemeinschaftlichen Verbindung. Von den ersten Jüngern heißt es: Sie waren einmüthig bey einander; sahen sich an als ein Ganzes; das gemeinsame Wohl war ein Gegenstand des Nachdenkens und der Berathung für alle und jeden Einzeln; jedes Bedürfniß wurde von allen gefühlt; jede einzelne Einsicht kam zur Mittheilung, und diese Gemeinschaft allein hat die Kirche gestiftet. Wenn sich jeder von ihnen in sich verschlossen hätte und die Religion angesehn als eine Angelegenheit nur zwischen ihm Gott und Christo – wenn es dann auch Einzelne gegeben, welche ausgingen und tauften; aber die Getauften hätten nicht weiter gewirkt; wie bald würde der erste Eifer erkaltet und das Gedächtniß Christi verschwunden seyn. M. Fr. im Vergleich mit der frühern Zeit ist es im Verschwinden. Wenn auch der Name Christi genannt wird, der Mensch auch nach ihm heißen, wenn auch die Denkmäler unverloren und unverletzt unter uns sind; fragen wir wie viel gebraucht und genossen wird; so müssen wir gestehn, so bleiben wir weit hinter jener Zeit des gemeinsamen Eifers. O laßt 8 Vgl. Porst’sches Gesangbuch, 1812, Nr. 598: „O, daß ich tausend Zungen hätte“ (Mel. „Wer nur den lieben Gott läßt walten“), Str. 1 27 Vgl. Apg 1,14

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uns nicht tiefer sinken lasst uns diese Zeit, die auf so vielerley Weise warnend und ermahnend zu uns geredet – lasst sie uns nicht verloren gehn. Es flammt hie und da etwas auf, was ähnlich sieht der Flamme der Religion und so laßt es keine trügliche Erscheinung seyn, laßt uns daran anzünden ein heiliges Feuer, welches alle erwärmt und erleuchtet. Ja wenn uns die heiligen Begebenheiten dieses Tages nur vereinten, uns hinzugeben dem Herrn und von seinem Geiste erfüllen zu lassen; laßt uns nicht vergessen, daß es die größte Wirkung war, die Gemeinde des Herrn zu gründen; laßt sie uns von neuem gründen in der Theilnahme an den christlichen Versammlungen und die Segnungen erfahren eines vereinigten christlichen Lebens. Dann kann die tröstliche Verheißung in Erfüllung gehen: ich bin bey euch bis ans Ende der Tage, und wo zwei und drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.

11–12 Vgl. Mt 28,20

12–13 Vgl. Mt 18,20

Am 17. Juni 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 2,43 Nachschrift; SAr 25, Bl. 35r–36v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 437–443 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 17r–21v; Matthisson Beginn der bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher den 17. Juni 10 (Nachmittag des ersten Sonntags nach Pfingsten) Unsere neuliche Betrachtung über das Werk, was der Geist Gottes in den Menschen schafft, hat uns Gelegenheit gegeben, in dieser Beziehung uns selbst und den Zustand unsrer gottesdienstlichen Versammlungen unter uns zu untersuchen, uns aufmerksam zu machen auf die Mängel und deren Ursachen. Es bietet uns die Geschichte von jener heiligen Begebenheit noch einen andern Weg an; sie zeigt uns auch, was in seiner Äußerung der Geist gewirkt habe in denen, über welche er sich so gewaltig ergossen. Zuerst wird uns gesagt: viele hätten das Wort Christi angenommen und wären hinzugethan zur Gemeinde der Gläubigen an dem Tage viel 1000 Seelen. Dieß aber sind wir weniger im Stande für den Maßstab dessen, was der Geist wirkt, anzusehn, weil der innere Wachsthum des Reiches Gottes in jedem Augenblick sich unsern Augen entzieht, und nur in einem bedeutenderen Zeitraum kann geschätzt werden. Aber ist auch die Rede von einer andern Wirkung, denn wir wissen, daß wir nicht umgeben sind von lauter solchen Menschen, die der Erbauung immer von selbst empfänglich sind, daß die Anzahl derer noch groß ist, die entfernt sind vom Reiche Gottes; es läßt sich aber doch die Vermehrung desselben nicht denken ohne Wirkung auf diese. Nun redet auch davon die Geschichte jenes Tages, und es wird uns geschildert daß der Geist Gottes in solchen vom Reiche entfernten Furcht gewirkt habe, und wir werden sehn, wie diese Wirkung immer noch dieselbige seyn muß. Apostelgesch. 2, 43. 3 Vgl. 11. Juni 1810 nachm.

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Das ist es, was die Schrift sagt von den Wirkungen des göttlichen Geistes auf diejenigen, die damals ihm ihre Herzen zu öffnen und seine Gaben zu theilen unfähig waren: es kam alle Seelen Furcht an – das muß die Wirkung des göttlichen Geistes sein überall und auf alle, die sich so zu ihm verhalten. So laßt uns hierüber mit einander reden über die Furcht, die der Geist durch seine Wirkung in denen hervorbringt, die der Vereinigung mit ihm unfähig sind. Wir unterscheiden die Furcht der Bösen, die Furcht der Trägen und die Furcht der Unentschlossenen. 1. Wo der Geist Gottes sich in einer jenem Tage ähnlichen Kraft äußert, da kommt die Bösen Furcht an. Immer nehmen wir dieß nicht wahr; aber es ist denn auch die Folge nur davon, daß der Geist Gottes nur schwach und zerstreut wirkt. Es können sich über die einzelnen Erweisungen des göttlichen Geistes die Bösen bisweilen freuen. Wenn nur das Böse mit ihm im Streite liegt, so freuet sich der Einzelne unter ihnen, wenn der andere, der ihm entgegen arbeitet, entlarvt oder niedergedrückt wird durch die Kraft des Geistes; das Laster entdeckt, Übelthaten gebrandtmarkt zu sehn von denen, die mit ihm in keiner oder nur einer nachtheiligen Beziehung stehn; und wenn er selbst ihnen auch näher rückt, so sind ihnen die Erweisungen desselben doch gleichgültig. Nach dem alten Sprichworte: die Kinder der Finsterniß sind klüger denn die Kinder des Lichts, und dieser Klugheit sich bewußt verachten sie die Kraft des Geistes, wo sie sich nur einzeln und im Kleinen erweist; denn da wissen sie, daß wo sie keine Mittel scheuen es gefährlich ist, ihnen zu widerstehn, daß, wo sie sich vereinigen und unterstützen, es ihnen leicht wird, die nachtheiligen Einflüsse des Geistes Gottes von sich zu entfernen. Aber m. Fr. wenn der Geist Gottes sich erweist auf eine ungewöhnliche und außerordentliche Art, wenn er kräftiges Gemüth in den Menschen erweckt, gegen | welches das Spiel ihrer Laster und Leidenschaften nicht aufkommen kann, wenn er Tugend erweckt, wahre und kräftige, vor welchem der falsche Schein ihrer Vollkommenheiten erbleicht und verschwindet; wenn nicht in Einzelnen der Geist Gottes sich wirksam beweist; sondern wenn er zu höhern Zwecken eine kleine Anzahl kräftiger Menschen vereinigt, wenn diese die größere Menge der Menschen in Bewegung setzen, daß sie einen erloschenen Eindruck wieder lebendig machen, daß das Gefühl verabsäumter Glückseligkeit oder auf sich geladener Schuld erregen und sie ermahnen, daß sie sich möchten befreyen lassen von diesen unartigen Leuten; denn m. Fr. dann fühlen die Bösen, wie sie sich auch gestärkt und gewaffnet haben, wie sie auch vertrauen auf List und Verschlagenheit; dann fühlen sie, daß ihre Kraft nichts ist als Ohnmacht, daß ihr 37 gewaffnet] gewafnet 19–20 Vgl. Lk 16,8

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Am 17. Juni 1810 nachmittags

Gelingen ihr Glück nur gegründet ist in der Unthätigkeit einer größern Kraft, daß sie auf der Seite stehen, die nothwendiger Weise fallen wird.

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2. Es kommt auch, wo der Geist mächtig wirkt, Furcht an die Seelen der Trägen. Denn m. Fr. es ist nicht nur die Gewalt der sinnlichen Triebe und Leidenschaften, welche die natürliche Verwandtschaft des Menschen mit dem göttlichen Geiste, die Sehnsucht nach der Vereinigung mit ihm in Vielen hindert sich zu äußern; sondern es ist eben so sehr dieses oft verkannte geistige Uebel der Trägheit. Es giebt viele Menschen; die nicht böse, aber unempfänglich sind für die Einwirkung des göttlichen Geistes und die nicht einverstanden mit sich über die Bestimmung des Lebens, nicht angetrieben zu einer ernsten wohlgeordneten Thätigkeit durch das Bild eines höhern Ziels, aber auch nicht umgetrieben von heftigen Begierden, nichts suchen als einen ruhigen stillen Genuß; sie haben kein andres Ziel als nur, von dem sich frey zu halten, was die Menschen niederdrückt und befehdigt und begnügen sich dann und wann in dieser Ruhe von den Freuden des Lebens mit zu genießen. Auch diese erfreuen sich im Einzelnen an den Wirkungen des göttlichen Geistes; denn die Bösen stören sie oft auf aus ihrem stillen Frieden, und die gewaltsamen Ungerechtigkeiten sind es, wovor sie sich fürchten. Widersteht diesen der Geist, so erkennen sie darin eine befreundete Macht, welche gegen das ihnen Furchtbare gerichtet ist. Und wo die Wirkungen des göttlichen Geistes nicht von dieser Art sind, sondern sich innerlich bezeugt in der Umgestaltung und Veredlung des menschlichen Lebens und der menschlichen Natur, das ist ihnen auch erfreulich insofern sie fähig sind die Wirkung zu fühlen und zu erkennen, und außerdem berührt es sie gar nicht. Aber auch die Seelen dieser Trägen muß Furcht ankommen wo der Geist Gottes sich gewaltig zu erkennen giebt; denn da erwacht das Gefühl der Unzufriedenheit mit dem ruhigen Bestehen der Dinge; da richtet sich diese Kraft nicht nur gegen die Bösen; sondern sie will alles durchdringen und alles beleben; da wird auch das was keinen Widerstand leistet, da wird auch das Stille und Friedliche als ein Gegenstand angesehen, worauf sie wirkt; auch das Gebeugte soll da erhoben, das Schwache stark gemacht werden, und daher entsteht in | ihnen die Ahndung großer Veränderungen und sie fühlen, daß nichts bestehn kann, worauf die Kraft des Geistes gerichtet wird; da kommt sie Furcht an, daß sie aufgestört werden aus ihrer Ruhe, Furcht, weil die ganze Art und Weise ihres Lebens nun hingegeben ist in jene Macht, von der sie nicht wissen, wie sie sie ergreifen wird und die ihrem geliebten Zustande ein Ende zu machen droht. 3. Wo der Geist Gottes gewaltig wirkt, da kommt auch Furcht an die Seelen der Unentschlossenen. Ich wollte damit diejenigen bezeichnen, welche gleichsam am Scheideweg stehn zwischen der Gottseligkeit und dem

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irdischen Sinne, welche vielleicht schon öfter die Anregungen des Geistes gefühlt haben; aber denen es mangelt an dem Entschluß, sich ihm ganz hinzugeben, die nicht lassen können von ihrer alten Weise, die das Gute wohl erkennen, aber in denen der Wille und die Einsicht und Erkenntiß des Beßern nicht übereinstimmen. Das ist ein Zustand der Uneinigkeit mit sich, des Widerspruchs und Kampfes. Wenn auf eine allgemeine Weise sich verbreitet eine löbliche Gesinnung, wenn sie aufgefordert werden zu guten Werken, die ein bleibendes Denkmahl zurücklassen, und wenn das ihnen auch Aufopferung kostet; so ist das ihnen doch eine Freude; denn es giebt ihnen für die Zeit, wo ihnen die Augen aufgehn über sich selbst, wo sie sich prüfen, wo sie wegen des Unterschiedes den sie machen müssen zwischen sich und dem Höhern, im Begriffe sind, sich zu verachten; es gewährt ihnen für diese Zeit eine Beruhigung; sie halten sich vor, wie sie nicht unempfänglich sind fürs Gute und Höhere, wie sie sich doch hie und da angeschlossen haben an die, welche vom Geiste Gottes getrieben wurden. Aber m. Fr. wenn nicht mit solchen Forderungen und einzelnen Thaten sondern mit der Forderung, daß fürs ganze Leben entschieden werden soll der Geist Gottes ihnen entgegenrückt, wo ihnen vorgehalten wird der Segen oder Fluch, Seligkeit oder Verdammniß, wenn ein Zustand kommt, wo sie sich keinen Aufschub verschaffen können, sondern wo es gilt sich zu entscheiden, wenn die Kraft des Geistes in seiner Richtung auf die menschlichen Angelegenheiten sie auf die Spitze gestellt hat; dann kommt sie die Furcht an, Furcht vor dem Verlust dessen, was sie lieben, vor dem Kampfe der ihnen so oft nahe war, und den sie feigherzig immer vermeiden und der nun endlich doch bestanden werden soll. So ist es m. Fr. überall ist diese Furcht die erste Wirkung des göttlichen Geistes auf die, welche ihm noch fern sind die Wirkung die er hervorbringt, wenn er sich mit gesammelter Kraft äußert. Wohlan, wenn unter uns, m. Fr. die Menschen ohne Furcht hingehen können in großer Menge, ohne sich zu entscheiden fürs ganze Leben, ohne daß sie schauen die Schande und Dienstbarkeit, welche die trifft, die sich nicht jener göttlichen Kraft zuge|sellen wollen, wenn wir sehn, daß so viele Menschen noch dahingehn in jener schlaffen Ruhe, im Beschränken ihrer Wünsche auf einen ruhigen ungestörten Genuss – wenn die Bösen ihr Haupt noch emporheben, und trotz der einzelnen Wirkungen des Geistes wir noch nicht sagen können, daß sie von Furcht ergriffen sind – was sollen wir für uns selbst, die wir der Tempel Gottes seyn sollen, daraus schließen? O daß wir noch nicht sind, was wir seyn sollen, daß die göttliche Kraft, der wir uns ganz hingeben sollen, noch nicht so in uns wirkt, daß wir uns anschließen können an jene ersten Vorbilder des christlichen Glaubens, ja m. Fr. daß es eine Furcht in uns selbst ist, die uns erstarrt und zurückhält von jener höhern Bewegung des Lebens. So möge denn dieß, 36 Vgl. 1Kor 3,16

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wie es eine demüthigende ist, eine gesegnete Betrachtung für uns seyn, mögen wir uns immer mehr erheben zu dem Standpunkte des Christenthums, auf welchem die Helden des Glaubens standen welche auf eine herrliche Weise sich haben regieren lassen vom Geiste Gottes, und das ist der, welcher Furcht erregt, und alles unterthan macht seiner höhern Kraft, vor dem sich das Nichtige und Böse beugt; es ist derselbe Geist, durch den die Vorfahren so Mächtiges und Herrliches wirkten; und wenn er uns nicht dazu macht, zu Helden des Glaubens und tüchtigen Verehrern des Christenthums, so beweist das eben unsre Schwäche und Untüchtigkeit. Aber wenn wir betrachten, was dem Geiste sich entgegensetzt, vergleichen die göttliche Kraft und das Vergängliche und Nichtige des irrdischen Lebens, ich weiß nicht was mehr den Menschen Muth einflößen müßte, ein Werkzeug des Geistes zu werden, und mit Furcht alle zu erfüllen, die noch fern sind vom Reiche Gottes. Möge dieß unsern Muth mehren, mögen wir uns der Kraft des Geistes immer mehr bewußt werden; dann werden unsre Versammlungen dieselbige Wirkung auf uns und durch uns auf die Ungläubigen haben, und es sey nun ein erfreuliches Spiel oder harter Kampf, in welchem wir aber wissen, wo der Sieg stehn wird; es sey uns ein Zeichen, von unsrer Wirksamkeit, wenn die Seelen der Menschen Furcht ankommt. Früher oder später kommt dann die Zeit wo die Liebe die alles vereinigende Kraft Gottes die Furcht wieder austreibt.

19 Wirksamkeit] Wirkskit

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Am 24. Juni 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 2,44–45 Nachschrift; SAr 25, Bl. 37r–38v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 444–452 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 22r–27v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher am Johannistage 1810.

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Nachdem wir unsern Erlöser bis zu seiner letzten Entfernung von der Erde und dann seine Jünger bis zur Ergießung des göttlichen Geistes über sie begleitet haben mit unserer Betrachtung, so laßt uns nun auch die damals zuerst in der Kraft des Geistes gepflanzte christliche Kirche und ihre ersten Begebenheiten mit unserm Nachdenken begleiten. Wir haben es in den Tagen der Pfingsten gesehn wie dieselbige Kraft welche damals die Jünger antrieb die großen Thaten des Herrn zu verkündigen, und die Hörenden also anregten, daß sie fragten was sollen wir thun daß auch wir zur Seligkeit gelangen, wie es dieselbige noch ist die auch in uns sich regen muß wo wir versammelt sind in des Herrn Namen. Eben so wenn wir die ersten Christen betrachten, was sie gethan unternommen gelitten haben – werden wir nicht sagen müssen, die nämliche Kraft solle auch uns treiben und müsse sich bewähren in unserm ganzen Leben. Ich will nicht sagen m. Fr. daß wenn wir uns vergleichen unser Thun und Treiben mit der ersten Gemeinde Christi, wir finden müßten, daß wir weit zurückstehn; denn es geziemt dem Frommen und dem, wer vom Geiste Gottes durchdrungen ist, sich der trübsinnigen Vorstellung zu überlassen, als werde es immer schlimmer als werde die Anzahl der wahrhaft Gläubigen immer geringer auf Erden: vielmehr haben wir, seitdem das Reich Christi sich mehr ausgebreitet hat, gewiß gewonnen in Vergleich mit jenen ersten Christen; manches Schöne was ihnen mangelte, manchen echten Glanz für leeren Schimmer können wir aufzählen. Aber was uns so reitzend macht so gewaltig hinzieht in jene frühere Zeit, das ist die Kraft der ersten Liebe der Geist der Treue und kindlichen Einfalt von der die Gläubigen beseligt waren. Dieß Bild laßt uns fleißig vorhalten in unsern Betrachtungen ob auch das9 Vgl. Apg 2,37

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selbe Feuer sich entzünden wolle und empor lodern zu gleicher geistiger Flamme. Darauf sey unser Sinn in Andacht gerichtet in dieser Stunde. Act. 2, 44 und 45.

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Das leuchtet gewiß Jedem ein, m. Fr. daß das was hier erzählt wird gerade so wie es da geschah, auch unter uns geschehen kann, daß vielmehr in unser Verfassung ein solches Verfahren mehr Verwirrung hervorbringen würde als Nutzen, mehr Gewaltthätigkeit als Freude, mehr Misstrauen als Liebe. Aber laßt uns was dabey nur zufällige Gestalt war, nicht verwechseln mit dem Geist und der Gesinnung die dabey thätig war. Wir können es nicht läugnen: unser Leben [in] Christo ist ein gemeinsames Leben. Haben wir uns ihm ganz ergeben: so muß auch uns einander alles gemein seyn; ja es giebt eine innere nothwendige und unter der jedesmal schicklichen Gestalt auch wirkliche Gemeinschaft der Güter überall wo es nur Christen giebt und wir werden sehen: | 1. wie diese Gemeinschaft aus dem Geiste des Christenthums selbst als ein inneres Bestreben als eine Gesinnung hervorgeht und 2. wie sie auch äußerlich im Leben erscheint. [1.] Wenn man fragt, was das Wort die Christen sollen alles gemein haben für einen Sinn haben kann und soll, was doch das Allgemeine und Bestehende sein könne von einer solchen Einrichtung, die doch wie uns die Geschichte lehrt so bald wieder vergangen ist: so haben wir nur zurückzugehn auf das, was wir als das innere Wesen des Christenthums die fromme göttliche Gesinnung anerkennen. Worauf anders kommt es an als darauf, daß der Mensch sich mit allem was er ist und hat, hingebe weihe dem göttlichen Geiste der sich einmahl in ihm geregt und Besitz von ihm genommen hat. Und was wollen wir denn von diesem Besitz, von dieser Herrschaft des Geistes ausschließen wo soll noch ein von diesem göttlichen gesondertes Leben statt finden? Wenn wir sehn auf die Kräfte des Gemüthes des Verstandes, alles dessen was wir Seele nennen – können diese noch regiert werden von irdischer Eitelkeit, wo in einem Menschen der Geist Gottes wohnt. Kann er noch Prunk treiben mit den Gaben oder sie dazu anwenden um sich Vergängliches zu erwerben; oder kann ein solches Gemüth sie gebrauchen nach Laune, Willkühr oder herabwürdigen zu niedrigen irdischen Zwecken? Wohlan wenn dieß Beßere und Edlere unterworfen seyn muß der Herrschaft des göttlichen Geistes – wie vielmehr das Geringere. Ist nicht der Leib mehr denn die Speise und die Seele mehr, denn der Leib? Und wenn dann so alles in uns dem göttlichen Geiste hingegeben ist, 16 Bestreben] Bestrebung 36–37 Vgl. Mt 6,25; Lk 12,22–23

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alles in uns nichts begehrt als daß das Reich Gottes kommen möge, was wollen wir dann machen mit dem andern, was uns alsdann nach der Verheißung der Schrift zufallen wird. So lange uns die äußern Güter noch als etwas erscheinen was wir auf eine besondere Weise ohne Beziehung auf das Höhere besitzen, so lange sind wir noch nicht erfüllt mit dem geistigen Leben, so lange hat dieses noch nicht durchdrungen das irdische und wir müssen ringen und streben bis aller Unterschied verschwunden ist. So gehören auch sie zum Reiche Gottes; so ist auch das Geringste in eine schöne Einheit gebracht mit dem geistigen Leben, und es dient diesem zur Erhaltung Fortpflanzung Schmuck und Zierde. Aber dann, was ich schon erinnerte, der Geist der uns treibt ist ein gemeinsamer Geist; er lebt in allen Brüdern in Christo, wie in uns und ein jeder empfängt davon sein bestimmtes Maß, daß nun in unsern Herzen, bestimmt zum Tempel Gottes wirken soll in Vereinigung mit allen Übrigen. Ist nun das Innere, die innerste Kraft des Lebens in allen dieselbige und eine gemeinsame; so muß es auch das Äußere seyn und so zeigt es sich. Ist einer, der eines höhern Lebens theilhaftig geworden ist, im Stande, von den Gütern seiner Seele etwas für sich zu behalten; | drängt uns nicht jede Einsicht, zu der wir gekommen, jede Wahrheit die wir gefunden, sie gemein zu machen unter den Brüdern? Kann wohl eine reine schuldlose nur irgend bedeutende Freude des Lebens Einer für sich allein behalten; wird sie nicht ein lebendiger Trieb in uns sie andere mit genießen zu lassen, und wenn sie noch nicht empfänglich dafür sind, sie zu erheben zu dem geistigen Leben und hinwegzusetzen über die kleinen Bekümmernisse des Lebens. Und die irrdischen Dinge, und was das Äußere ist sollte die Kraft haben, eine besondere Verbindung für sich zu bilden abgesondert von der Richtung unsres innern Lebens. Das ist nicht möglich m. Fr. So wie das Gefühl: nicht ich lebe, sondern Christus in mir, den ganzen Menschen durchdringt; so eben auch das Gefühl, daß wir Glieder sind an dem Leibe, dessen Haupt Christus ist dem alles dienen muß. Und so wie kein Theil an einem organischen Leben sagen kann daß es die Kräfte des Lebens für sich hat, wie es nur durch die Gemeinschaft und Mitwirkung der übrigen zum Ganzen besteht und selbst zur Erhaltung desselben beiträgt und so wie auch nur in dieser Hinsicht Gesundheit Statt finden kann, wenn das was empfängt auch giebt: eben so werden auch wir mit allem was wir sind und haben Ein Leib und alles muß uns gemein seyn. Laßt uns nun 2. sehen, wie sich diese nothwendige Gemeinschaft aller Dinge unter den Christen äußerlich gestalten muß. Freylich müssen wir in dieser Beziehung an unser Thun einen größern Maßstab legen, als an das der ersten 5 Höhere] Höhe 27 Vgl. Gal 2,20

28–29 Vgl. 1Kor 12,14–27; Eph 4,15–16

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Jünger des Heilands. Denn es ist ein größeres, ein mannichfaltiger sich Gestaltendes und sich verzweigendes Leben, dem wir in der Gemeinschaft des Geistes angehören. Also können wir auch mancherley Einzelnes unterscheiden, was aber aus Einer Kraft, aus einem Geiste hervorkommt. Wir sehn das Christenthum an als ein Mittel zur Erhebung, Erziehung des ganzen Menschen und bemerken darin, daß Gott ihm jenen Beruf, bey der Schöpfung gegeben, in neuer Kraft und einem höhern Maß gesetzt hat. Als Gott aber den Menschen auf die Erde gesetzt hatte, übergab er sie ihm, daß er ein Herr werde über alles was lebt und webt. Diese Herrschaft verliert der Mensch, wenn er nur der Sinnlichkeit dient, und wie wohl er den Schein hat vieles um sich anzuhäufen und zu beherrschen; so wird er doch selbst regiert und schmachtet in Dienstbarkeit. Diese Herrschaft des Menschen über die Dinge soll wieder erneuert werden durch den Geist des Christenthums. Daher sind seitdem dieses Wurzel gefaßt hat in den Herzen der Mehrzahl der Menschen, größere, heller gedachte und richtiger ausgeführte Anstalten zu Stande gekommen, und jene Herrschaft aus zu üben, das ist der Sinn aller unserer Rechte, Anordnungen, Gesetze, und unser Beruf insofern wir einem gemeinsamen Vaterlande angehören. Als Gott den Menschen gemacht hatte, erklärte er ihn selbst zu seinem Ebenbilde zu einem Ebenbilde, welches sein Urbild erkennen könnte und immer mehr sollte sich ihm aufschließen die Erkenntniß seiner Bestimmung und des Urhebers derselben. Aber diese Erkenntniß verliert der Mensch im Dienste der Sinnlichkeit. Weil er das alles nur sieht in Beziehung auf seine flüchtige Erscheinung, auf sein persönliches Daseyn | so verkehrt sich ihm alles, und mit sehenden Augen ist er blind und mit hörenden Ohren taub. Diese Erkenntniß uns wieder zu schaffen bewundern zu lernen die Güte und Macht Gottes, und es dem Menschen möglich zu machen, daß er sie erkenne, das ist der Beruf, inwiefern eine Gemeinschaft der Einsichten der Wunder, eine Mittheilung der Gedanken, ein geistiger Verkehr der lehrenden und lernenden unter uns Statt findet, und wie wollen wir ihn anders erfüllen als durch Gemeinschaft. Aber weder das Eine noch das Andere kann gedeihen, wenn nicht fest gehalten wird die Kraft des Glaubens und der Liebe, wenn nicht gegen alles, was den Menschen verführen will von dem Wege, den er schon betreten, und trüben das Licht, was ihm aufgegangen ist, ein Gegengewicht gesetzt wird, eine Stütze, woran er sich halte. Das m. Fr. das ist die engere Gemeinschaft des Geistes in der wir als Christen stehn. Hiezu muß uns alles gemein seyn; alle Dinge geweiht zu diesem Dienste, der der einige vernünftige und bleibende Gottesdienst allein ist. Wohlan wir erkennen 21 aufschließen] Aufschließen 7–9 Vgl. Gen 1,27–28 Mt 13,13; Mk 8,18

9 Vgl. Gen 1,21

18–19 Vgl. Gen 1,27

24–25 Vgl.

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überall diejenigen an, welche in den Angelegenheiten des Vaterlandes die gemeinsame Einsicht und den gemeinsamen Willen vertreten, die welche in der Sorge für unsere geistigen Bedürfnisse das Vertrauen haben, und diejenigen die Weisheit und Erkenntniß darstellen, und wir haben gebildet im Großen und Kleinen Ordnungen und Versammlungen, und Vereinigungen zu diesem Zwecke. Wohlan; wenn alle Dinge gemein sind, so wird jeder willig thun und leisten und geben, was die fordern, welche die Gesetze anwenden. Aber wir wissen auch daß immer neue Kräfte sich entwickeln immer neue Einsichten aufgehn und daß immer deutlicher einleuchtet was geschehen muß zur Erhaltung und Verbreitung der Kraft des göttlichen Geistes. Wo uns die Stimme des Geistes entgegenkommt, da muß auch der Geist über uns gebieten, und unsere Gaben müssen gereicht werden, so bald er spricht sey es in uns, sey es in andern; und jeder soll nicht warten bis er aufgefordert wird zu geben; er soll selbst kommen und bringen wo es nach seinem Gefühl fehlt und noth thut; er soll selbst auffordern und was einem jeden aufgeht von guten Gedanken es soll mitgetheilt werden, und jeder hat das Recht Anspruch zu nehmen an dieser Theilnahme[,] an der gemeinsamen Angelegenheit. – Das ist die wahre Gemeinschaft aller Güter, daß alle wenn der Geist fordert (woher auch seine Stimme ertönt) Kräfte und Einsichten und äußere und innere Habe hingeben. Und wenn diese Gesinnung in uns lebt, dann wird, wie sich auch äußerlich die Angelegenheiten gestalten, diese Gesinnung erscheinen als das wahre Leben aller in dem der Geist Gottes herrscht. Sollen wir uns nun fragen, ob sie Statt findet diese Gesinnung? O m. Fr. es wäre wohl beßer zu schweigen. Könnte sonst wohl dem Vaterlande so oft versagt worden seyn, was es forderte, könnte die Klage so allgemein erhoben werden, daß viele was sie erst der Gewalt geben, nicht auch und lieber der Vernunft geben wollen, der Gemeinschaft die allein alles erhalten und wieder geben kann; und wenn die Rede ist zu verbeßern die gemeinsamen Anstalten: könnte die Scheu so groß seyn in Anspruch zu nehmen die Zeit, Kräfte den Willen das Vermögen der Einzelnen weil sie es nicht geneigt sind ein Opfer zu bringen. Und wir dürfen nicht sagen; es sey Mangel Schuld daran. Es ist mit dieser Noth nicht größer als wenn in der Zeit des Mangels die Güter der Erde in Speichern aufgehäuft werden, damit sie wuchern können für sich. So fehlt es nicht an Zeit an Muße [an] Kräften; aber es fehlt an dem Geiste, der sie gern herausgiebt. Wenn früher die Menschen in eigennützigem selbstsüchtigem Bestreben vieles für sich aufgehäuft hatten, so pflegte in den letzten Stunden über sie zu kommen Reue und sich schämend trugen sie alles oder einen Theil in die Hände derer, von denen sie glaubten, daß sie es im Dienste des Geistes verwenden würden. Auch diese Beyspiele sind erstorben; auch dies erscheint nicht mehr, daß die welche Abschied nehmen von der Erde, noch einen wohlthätigen Blick werfen auf die Angelegenheiten des Vaterlandes. Aber wenn so der Geist das tiefe

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Verderben der Gemüther sieht: so pflegt er auszurufen in der Schrift: Kindlein; es ist die letzte Stunde gekommen. M. Fr. das können und müssen wir uns auch sagen: es ist die letzte Stunde, wo wir nicht zurückkehren in die Gemeinschaft des Geistes aller Kräfte und aller Dinge. M. Fr. es ist eine furchtbare Begebenheit die wir im Verfolg dieser Geschichte in der Erzählung des Lucas lesen von Einem, der des Vorsatzes sich hinzugeben dem Geiste ungetreu geworden, und als der Apostel ihn bestrafend sagte: Du hast nicht Menschen sondern Gott gelogen, da fiel er nieder zu seinen Füßen und gab den Geist auf. Aber es ist eine Geschichte die sich täglich wiederholt, wenn wir der Gemeinschaft des Geistes Einiges entziehn – auch wir werden sterben, wenn wir dem Geiste lügen; er äußert sich laut genug und keiner ist, der nicht anerkennt was noth thut, und wenn wir gleichwohl nicht thun was er gebietet, wenn mit der Einsicht die That, mit dem Sinn das Wort nicht übereinstimmt, so lügen wir und werden desselbigen Todes sterben. Und alle die sind schon gestorben, die nicht darin leben. Wie viel sie auch zusammenhäufen und aufbauen von den Gütern dieser Welt; es ist damit, wie mit den alten wunderbaren Gebäuden, worin man vergebens einen Zweck und eine nützliche Bestimmung sucht und wo man in der Tiefe endlich nichts findet als ein Grab. Und alle jene Speicher und Besitzungen, wenn sie nicht der Gemeinschaft gehören – es ist nur ein Grab und die Art wie es gebraucht wird, zeigt daß der Geist darunter begraben liegt. So laßt uns dem Tode entrinnen und der Stimme des Geistes folgen, laßt uns fleißig vorhalten das Bild des geistigen Lebens, damit es besiege die niedere Anhänglichkeit an die Dinge dieser Welt; laßt uns zurückkehren in jene Zeit der christlichen Liebe und Gemeinschaft, damit (auch von uns gesagt werden kann:) Jeder auch zu denen gehöre, deren Wandel ist im Himmel.

1–2 Vgl. 1Joh 2,18

6–9 Vgl. Apg 5,1–5

7–8 Apg 5,4

26–27 Vgl. Phil 3,20

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Am 22. Juli 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

5. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 6,15 a. Drucktext Schleiermachers; in: Zwei Predigten am 22. Julius und am 5. August. Erste Predigt, 1810, S. 1–24 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 14–23; 21844, S. 42–51. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 11–19. – Vaterländische Predigten, Bd. 2, 1920, S. 68–76 b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 39r–40v; Matthisson Texteditionen: Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 29r–32v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

a. Drucktext Schleiermachers

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Zwei Predigten am 22. Julius und am 5. August in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung. 1810. |

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Vorerinnerung.

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Kein Bewohner unserer Hauptstadt darf wohl erst daran erinnert werden, daß der 22ste Julius der erste Sonntag war nach dem Tode unserer geliebten Königin, und daß alle unsere Kirchen angefüllt waren von solchen, die ein Wort christlicher Tröstung und Beruhigung zu hören wünschen. Seit Pfingsten war ich in einer Reihe von Vorträgen über die Apostelgeschichte begriffen: aus dieser wollte ich weder herausgehn, noch verstattete mir mein eignes Gefühl einen der herrschenden Gemüthsstimmungen ganz fremden Gegenstand zu behandeln. Dies mag die Wahl des Textes zu der ersten Predigt, und die Art, wie über ihn geredet worden ist, rechtfertigen. Von dem zur allgemeinen Gedächtnisfeier besonders bestimmten Tage gebe ich hier nicht nur die über den vorgeschriebenen Text gehaltene | Pre-

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Am 22. Juli 1810 vormittags

digt, sondern fast den ganzen Verlauf des Gottesdienstes. Es wäre zu wünschen, daß dies häufiger geschehen könnte, und daß dabei auch noch den Lesern anschaulich würde, wie die andern Theile des Gottesdienstes nicht minder kräftig als die Predigt selbst zu einer bestimmten Art der Erbauung mitgewirkt haben. Dies war hier in einem hohen Grade der Fall, vorzüglich dadurch, daß, wie auch schon vorher einmal der Fall gewesen war, eine Anzahl von Mitgliedern der Singakademie, denen ich hier noch öffentlich meinen und der Versammlung herzlichen Dank bringe, unsern Gottesdienst verschönten. Möchten wir doch je länger je mehr dahin kommen, die Bedeutsamkeit des Kirchengesanges, sowol der Gemeine als kunstreicherer Chöre, wieder herzustellen, und seine erbauende Kraft zu empfinden. Berlin, im August 1810. D. F. Schleiermacher.|

Die Verklärung des Christen in der Nähe des Todes. |

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Erste Predigt.

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Herr, dir leben und dir sterben wir! Gieb uns deinen Frieden, beides im Leben und im Tode! Amen. Meine andächtigen Zuhörer! Bald nachdem durch die Wirkungen jener segenvollen Ausgießung des Geistes die Schaar der Gläubigen gewachsen, nachdem unter ihnen jener Bund der Liebe und der Verläugnung geschlossen war, der sie zur ausdaurenden hülfreichen Treue, zur muthigen Aufopferung alles andern für den gemeinsamen Zwek verband, und während dieser göttliche Sinn sich durch mancherlei wunderbare Thaten bewährte, und alles umher zu Liebe Bewunderung Staunen und Furcht aufregte, ermannte sich auch derselbige Haß wieder, der seinen ersten Sieg, den Tod des Erlösers, nicht vergeblich wollte errungen haben, und die Geschichte der christlichen Lehre zeigt uns das erhabene Schauspiel des ersten Märtyrers, des ersten, der seinem Herrn folgte | zum Tode für die Verkündigung seiner göttlichen Kraft und Wahrheit, und dem hernach selbst so große Schaaren mit dem freudigsten Muthe denselben herben glorreichen Weg gefolgt find, daß man nicht ohne einen Schein der Wahrheit sagen konnte, die Christen geizten eben so sehr nach dem Tode, wie die übrigen Menschen nach dem Leben. Wenn dieses leztere wahr ist, meine Freunde, so wollen wir es nicht loben; wir wollen es als eine Schwachheit anerkennen, der eine Täuschung zum Grunde liegt, aber eine sehr 16 Vgl. Röm 14,8

18–23 Vgl. Apg 2,1–47

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natürliche in jener Zeit, wo noch nicht das ganze Feld für die Wirksamkeit und für den Heldenmuth des Christen eröfnet war. Keiner, in dem Liebe zu Gott und dem Erlöser brennt, wird sich des Gefühls entschlagen können, daß es etwas Großes und Herrliches sei um das Märtyrerthum; und ganz etwas anderes, nur sterben weil man gelebt hat, nur sterben um der Natur eine Schuld abzutragen, und sterbend nur die Hinfälligkeit des Körpers zu bezeugen, oder sterben unter dem größern Zeugniß des geistigen und ewigen Lebens, sterbend dem Erlöser der Welt eine Schuld abtragen, und ihm sterben, wie man ihm gelebt hat. Aber nicht etwa nur, um uns darüber zu trösten, daß wir diese Krone nicht mehr auf demselben Wege erlangen können wie jene, sondern mit Grund der | Wahrheit können wir uns sagen, daß jeder wahrhafte treue Jünger Jesu den Märtyrertod stirbt. Wir sind ja alle Streiter des Herrn und Arbeiter in seinem Dienst. Der Kampf gegen das Böse reibt, mit welchen Waffen und auf welche Art er auch geführt werde, die Kräfte des Lebens auf, es muß allen übeln Witterungen getrozt, es muß einem unvermeidlichen Feinde widerstanden werden, Schmerzen und Kränkungen müssen erduldet, Wunden können oft lange nicht verbunden werden; ja wenn auch eine Zeitlang das Leben den äußern Schein des Krieges ganz verliert, so läßt der Dienst in dem Weinberge des Herrn weder Zeit noch Lust es so zu pflegen, jeden Keim des Verderbens so sorgfältig auszuschneiden wie die Andern thun, und so können wir uns rühmen, daß unser Tod, erfolge er nun spät oder früh, immer keine unfreiwillige Naturbegebenheit ist, sondern ein freudiges Opfer, welches wir dem Herrn darbringen. Meine Brüder, wir sind iezt alle tief gebeugt! der Tod hat ein theures, vielgeliebtes und verehrtes Opfer unter uns gefordert. Was kann uns besser anstehn, um gleich die ersten Empfindungen des Schmerzes zu heiligen, als daß wir den Tod unter dieser edleren Gestalt betrachten. In solchem Sinne also wollen wir uns jenes Bild, auf welches ich | schon gedeutet habe, gleichsam als die allgemeine Gestalt des sterbenden Christen vorhalten. Text. Ap. Gesch. 6, 15. Und sie sahen alle auf ihn die im Rath saßen, und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht. Wenige Worte nur konnte ich auswählen, um uns die ganze rührende und erhabene Geschichte in Einem Moment zu vergegenwärtigen, daher habe ich Eure Aufmerksamkeit nicht an den vorzüglich gewiesen, wo der herrliche Mann schon von der Wuth des aufgebrachten Hau20–21 Vgl. Mt 20, 1–16

39–1 Vgl. Apg 7,60

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fens entstellt die Knie beugte, um die tödtlichen Stöße zu empfangen, denn nicht durch irgend ein widriges sinnliches Bild des Todes wollen wir unsere Betrachtungen stören; auch nicht auf jenen herrlicheren, wo er entzükt und des heiligen Geistes voll den Himmel offen sah, aus Furcht, es möchte nicht jeder unmittelbar folgen können; sondern eben diesen, wo die Aehnlichkeit des ganzen Verfahrens mit dem gegen den Erlöser schon zu groß war, als daß er an der Aehnlichkeit des Ausgangs sollte gezweifelt haben, wo wir ihn in der sichern Erwartung des Todes sehen und uns seine Gestalt beschrieben wird, gleich einer | himmlischen Erscheinung vor allen die ihn sahen. Das also wollen wir uns darstellen zu unserm Trost und unserer Erwekkung,

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Die Verklärung des Christen im Angesicht des Todes. So wie eines Engels Angesicht erscheint er, er der Erstlich gemeinhin verkannte und unschuldig verläumdete, er, Zweitens der Ueberwundene vor den siegreichen Feinden, er endlich der Treue, indem er scheidet aus seinem Beruf.

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I. Und sie sahen auf ihn, Alle die im Rath saßen und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht. So stand er vor ihnen, der unschuldig verläumdete! Denn sie hatten falsche Zeugen dargestellt, welche sprachen: Dieser Mensch höret nicht auf Lästerworte zu reden wider diese heilige Stätte und das Gesez. Denn wir haben ihn hören sagen, „Jesus von Nazareth wird diese Stätte zerstören und ändern die Sitten, die uns Moses gegeben hat.“ Lästerworte aber hatte Stephanus nicht ausgestoßen. In seiner Rede, welche gewiß nicht gemacht war um seine Richter der Wahrheit entgegen zu bestechen, zeigt sich überall Ehrfurcht für das Gesez und seinen Stifter. Wol aber mochte er verkündiget | haben, daß die Herrschaft dieses Gesezes keine ewige sei, und das Ende derselben herannahe, mochte hingewiesen haben auf die größere Herrlichkeit eines freieren erleuchteteren Gottesreiches, und strenge geredet gegen diejenigen, welche unter dem Vorwande des Gesezes das Volk drükten, hintergingen, sein Aufstreben zum Besseren verhinderten, und seine Kräfte zu eigenmächtigen Absichten mißbrauchten. Und eben diese waren es zunächst, welche eine Verfolgung erregten, deren erstes Opfer er ward. Aber so geht es, wenn auch in einem andern Maaßstabe, überall dem Christen, und die Erfahrung davon gehört zu den alltäglichsten. Wo giebt es nicht Unrecht und Gewaltthätigkeit, welche den Schein wohlthätiger weit22 ändern] ändern“ 4 Vgl. Apg 7,55–56

20–23 Apg 6,13–14

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sichtiger Vorsorge für die Menschen annimmt? Wo giebt es nicht Frevler, welche unter dem Vorwande das Heilige zu beschüzen und freche Neuerungen zurükzuhalten die fruchtbarsten Keime des Guten erstikken? Wo giebt es nicht auch ohne bösen Willen eine verblendete Anhänglichkeit an das Alte und Hergebrachte, welche jeden Fortschritt zum Bessern um jeden Preis zu hemmen sucht? Wer nun diese Verblendung aufheben, wer jenen Betrug entdekken will, wer muthig das für Recht erkannte geltend zu machen sucht, gegen den werden alle Waffen, welche wirken können, zu Hülfe ge|nommen, auch die der Verläumdung. Und das lehrt die Erfahrung, keine Tugend ist so rein, kein Ruf so unbeflekt, kein Wandel so vorsichtig, gegen den sie nicht irgend einen Vorwand auffinden sollte. Jede Tugend läßt sich in den Schein des Lasters verkehren, der schuldlosesten Unbefangenheit lauern diejenigen am wenigsten vergeblich auf, welche böses erdichten wollen; die ehrlosesten Kinder des Guten verschmähen auch die rohesten Lügen nicht, wenn auch von tausenden nur eine Glauben findet, und eben je lebendiger ein Mensch in der Besserung seiner Einsichten, seiner Sitten, seines Lebens begriffen ist, um desto leichter läßt sich Verdacht auf ihn werfen. Am leichtesten aber vor allen geschieht dies in solchen bedenklichen Zeiten, als die des Stephanus waren, und als auch die unsrigen sind, wie wir uns nicht verbergen können, Zeiten nemlich, in denen Erneuerung und Besserung, und was ihnen nothwendig vorangeht, nicht nur in Einzelnen, sondern im Ganzen sollen bewirkt werden; Zeiten, wo vieles gelöst wird und vieles umgestürzt, damit besseres aufkommen könne, wo in tausend Fällen die noch bestehenden Formen und Buchstaben ihre alte Gültigkeit nicht mehr behaupten können, und das Gewissen eines Jeden mehr als sonst sein einziger Richter sein kann. In solchen Zeiten vornemlich treibt die Verläumdung ihr | Spiel, und läßt auch das Edelste und Zarteste nicht unangetastet. Und wenn sie auch nicht unmittelbar zum Tode führt, wie hier, so weiß doch Jeder, wie tief unschuldig gekränkter Name schmerzt, und oft auf unheilbare Weise am Mark des Lebens zehrt, und wie selten die Verläumdung ein einmal gefaßtes Opfer eher als am Ende des Lebens verläßt. Aber auch so scheint dann das Angesicht des Christen, wie eines Engels Angesicht. Es leuchtet daraus hervor der himmlische Glanz der Wahrheit, der innern Zuversicht und Gewißheit, der durch das Urtheil der Menschen nicht irre gemacht wird, der Ueberzeugung, nur das gewollt und gesucht zu haben, was Recht ist vor Gott. Der göttliche Geist, der Zeugniß giebt im Innern, und auch die verlästerten Thaten für die seinigen erkennt, das Bewußtsein die geistigen Vorzüge sich immer erhalten und sie immer gebraucht 40 Bewußtsein] Bewustsein

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zu haben, die die verläumderische Beredsamkeit ihm absprechen wollte, so wie rein zu sein von den Flekken, die sie ihm anzudichten sich bemüht, die ruhige Erinnerung, die den innern Zusammenhang des Lebens übersehn kann, ohne Reue und ohne Schmerz, dies erhebt ihn über alles mitten im Gewühl des Lebens sowol als im Angesicht des Todes; aber je näher diesem, desto heller tritt das Engelsangesicht hervor, daß es auch | denen, die der Verläumdung lauschen und sie leiten, nicht entgehen kann, und desto leichter und froher sieht er den Himmel offen, den Himmel der die Rechtfertigung des Frommen herbeiführt wie der Mittag, sieht des Menschen Sohn, der auch verklärt worden ist und erhöht, nachdem er verkannt gewesen war und verläumdet. II. Und sie sahen auf ihn alle die im Rath saßen, und sahen sein Angesicht, wie eines Engels Angesicht. So stand er vor ihnen, der Ueberwundene vor seinen siegreichen Feinden. Ueberwunden war er freilich, indem noch einmal die Stimme des Volkes sich gegen den erklärte, den er ihnen als den einzigen Retter vorgestellt hatte, und noch um ein Opfer mehr die Vorurtheile ihnen theurer wurden, von denen das Volk so schwer zu befreien war. Und ihm blieb keine Hofnung den Kampf zu erneuern und zu dem späteren Siege etwas beizutragen. Er also war überwunden, sein ferneres Streben und Wirken war gehemmt, die Kraft die von ihm ausging, war in ihrer unmittelbaren Wirkung unterdrükt; und dennoch stand er so da! Und dennoch ist er auch so nur das Sinnbild eines jeden Christen. Der Kampf eines Jeden hört nie auf; alle Wahrheiten die der Christ verkündet mit Wort und That, alle göttlichen Ordnungen und | Rechte die er aufrecht halten will, alle Liebesbande die er unter den Menschen knüpfen, befestigen, erhalten möchte; alle haben ihre Feinde, ihre thätigen listigen mächtigen Feinde. Manche glauben, indem sie sich in dem offenbarsten Widerstand befinden gegen das Rechte und Gute, doch Gutes oder wenigstens Erlaubtes zu verfechten, und so sind sie nur desto eifriger durch den Glauben an eine gute Sache. Andre wissen es oder ahnden es wenigstens in Augenblikken des Zweifels, daß sie sich in der Feindschaft gegen Gott befinden, aber um desto mehr verhärten sie sich in Leidenschaft. In diesem Kampf ist der unmittelbare Sieg nur selten nur in einzelnen Fällen auf der Seite des Christen, und je eifriger er kämpft, je unausgesezter er diesen Kampf fortsezt, um desto öfterer sieht er sich überwunden. Ja wir müssen nicht nur auf die Fälle sehen, wo er sich den Bösen in ihren Wünschen und Unternehmungen widersezt, sondern auch auf die, wo er die Lauen die Unsichern die Gleichgültigen auffordert zur Thätigkeit für die gute Sache. Wenn nun diesen der Lohn zu entfernt ist oder

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zu schwer zu erringen, wenn sie gleich anfangs den entgegengesezten mehr schmeichelnden Eingebungen Gehör geben, oder mitten im Werke laß werden und umkehren: so ist er auch der Ueberwundene. | Und weil es so fort geht das ganze Leben hindurch, wie selten müssen die Fälle sein, wo es grade schließt mit dem Gefühl des Sieges! wie viel häufiger die, ja wohl allgemein können wir sagen, wenn wir auf das Ganze aller Bestrebungen sehen, müssen die Fälle sein, wo der Christ am Ende seines Lebens eben so besiegt da steht vor seinen Feinden, wie dort der heilige Märtyrer. Aber auch so ist sein Angesicht zu sehen wie eines Engels Angesicht, nemlich es leuchtet daraus hervor der himmlische Glanz des Glaubens, des Glaubens, daß das Böse niemals siegen kann, und daß wenn auch der Einzelne untergeht, wenn auch unmittelbar dem Anschein nach nichts erreicht wird, dennoch die innere Kraft des Guten bei jedem Kampf zunimmt, und ihm der endliche Sieg nicht kann entrissen werden. Sein persönliches Streben kann gehemmt sein, der nächste Zwek den er unmittelbar vor Augen hatte vereitelt, aber daran hängt er nicht wie die, die überall nur sich selbst suchen und Denkmäler für ihre Kraft und ihren Ruhm. Sondern er sucht nur das Gute und Wahre, das Reich Gottes, wie wann und durch wen es auch komme, und so glaubt er an die unüberwindliche Macht dessen, dem er dient, an den nothwendigen Sieg der Sache die er verficht, an eines Jeden, der für sie thätig ist, unverlorne Wirksam|keit, wenn sie auch an Einzelnen nicht erscheint, und die Welt nichts von ihr wahrnimmt. So sieht er den Himmel offen und wohlthätige Einflüsse herabgießend auf die Erde, auch noch in seinem Tode, und fühlt den lohnenden Beifall dessen, dem er gelebt hat. III. Und sie sahen sein Angesicht als eines Engels Angesicht. So stand er endlich da verklärt im Angesichte des Todes, wiewol im Begrif von einem Beruf zu scheiden, den er liebte. Wir wissen aus der früheren Erzählung der Apostelgeschichte, welche Stelle dieser heilige Mann einnahm in der ersten Kirche, wie er als vorzüglich bewährt und mit dem allgemeinen Vertrauen bezeichnet, mit noch einigen andern erwählt worden war, um die Gaben, die aus den Darbietungen der Einzelnen als ein Gemeingut zusammenflossen, mit weiser Rechtschaffenheit und liebevoller Treue zu vertheilen unter die Dürftigen und Verlassenen. So war in die innere Häuslichkeit der Kirche seine Berufsthätigkeit eingeschlossen, und wenn sie an und für sich angesehen geringer erscheint als die der hohen Apostel: so ist doch gewiß, daß ohne jene zusammenhaltende Einrichtung der ersten Liebe die Gemeine des Herrn damals nicht könnte bestan13 nach] noch

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den haben, und immer ist der Dienst der Armen ein eh|renvolles Amt gewesen in der christlichen Kirche. Wer kann also zweifeln, daß dieser Mann, voll Weisheit und heiligen Geistes, die Wichtigkeit desselben nicht werde eingesehen, und an ihm mit Lust und Liebe werde gehangen haben. Aber, denkt vielleicht mancher bei sich, wenn er nur bei seinem Beruf geblieben, wenn er nicht in unberufene Geschäftigkeit darüber hinaus geschweift wäre, könnte er wol noch lange darin zum Wohl des Ganzen wirksam geblieben sein, und würde nicht diese Verfolgung erregt haben gegen sich und die ganze Gemeine. So scheint es freilich! aber eine genauere und richtigere Ansicht der Sache wird wol jeden Vorwurf von dem heiligen Mann entfernen, oder wir müßten annehmen, daß jeder Beste am meisten demselben Tadel ausgesezt wäre. Jeder Mensch hat seinen besondern Beruf, den er betreibt als Auftrag der Gesellschaft, welcher er angehört, und in Sachen eben dieses Berufes ist es wohlgethan, sich über seine Grenzen nicht hinaus zu versteigen, weil man sonst Verwirrung in dem Kreise eines Andern anrichten könnte. Aber niemand wird wol glauben, daß dieser Beruf, wie vielumfassend und wichtig er auch sein möge, alles in sich schließt, was ein Mensch, der den Willen Gottes zu erfüllen trachtet, in der Welt zu thun hat; sondern es giebt allgemeine Thä|tigkeiten, an denen Jeder Theil nehmen muß, die nicht als besonderer Beruf auf einige Wenige können übertragen werden. Und so war damals die Verkündigung des Evangeliums etwas, dessen sich in gewissem Maaß jeder Christ mit Recht unterzog, und das nicht den Aposteln allein konnte überlassen sein. Wenn auch öffentlich im Tempel und in den Schulen das versammelte Volk zu lehren das ausschließende Amt der leztern war; so kam es doch jedem zu, in dem besondern Kreise seiner persönlichen Verbindungen Rechenschaft zu geben von seinem Glauben und seinen Erwartungen, und an denen, die ihm nahe waren, die Kraft des Evangeliums zu versuchen. Daß Stephanus mehr gethan habe als dieses, haben wir keine Ursache zu glauben; aber je mehr er sein Volk auf der einen und seinen Glauben auf der andern Seite liebte, desto eifriger that er eben dieses, und je ausgebreiteter die Verbindungen waren, in die ihn sein Amt brachte, um so weniger konnte das, was er that, verborgen bleiben. Und ist es nicht noch jezt mit jedem von uns, nach Maaßgabe seiner Kraft und seiner Verhältnisse, eben dasselbe? Ist es nicht eine allgemeine Pflicht, der sich keiner entziehn zu dürfen fühlt, daß er der Wahrheit, von der das Herz voll ist, auch Zeugniß gebe mit dem Munde? daß durch freimüthiges Be|kenntniß und allerlei Aeußerungen des Eifers für das Gute und Wahre, jeder so viele von den andern wie er kann, belebe, antreibe, begeistere? daß den Unwillen gegen das Böse, den Haß gegen Lügen

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und Untreue keiner verschweige, und wie es auch der Apostel als Regel aufstellt, aus Furcht vor Menschen keiner dem Gehorsam gegen Gott und die Stimme seines in unser Herz geschriebenen Gesezes entsage? Je mehr nun jene unedle Feigherzigkeit unter den Menschen überhand genommen hat, welche sich in die engsten Grenzen des bestimmten Berufs zurükzieht, und die Theilnahme an den allgemeinsten und höchsten Pflichten als bedenklich oder unnüz und gefahrvoll bei Seite sezt, um desto mehr kann die treue Beharrlichkeit der hervorragende Eifer, auch ohne daß sie, wie Stephanus, schon durch ihre äußere Lage hervorragen, wirklich gefährlich werden. Doch wie dem auch sei, wenn und auf welche Art wir auch dem Tode entgegengeführt werden, wenige sind es immer, die jenes späte Ziel des Lebens erreichen, vor welchem der Mensch schon, weil sein eigentlicher Lauf beendigt ist, weil seine Kräfte abnehmen, aus aller eigentlichen Berufserfüllung ausgeschieden ist, und ruhig, vielleicht sehnsuchtsvoll der Stunde wartet, die ihn gänzlich abruft aus dieser Welt. Sondern die Meisten scheiden früher, und | werden, eben wie Stephanus, mitten aus einem schönen und lieben Beruf hinweggerissen. Sollte da nicht bange Sorge die lezten Augenblikke des Lebens trüben? wenn wichtige Geschäfte müssen zurükgelassen werden, unvollendet, vielleicht in einer mißlichen Lage, diejenigen, welche sie zu führen haben, ohne einen treuen Gehülfen, ja vielleicht ohne den leitenden Geist, der sie vorzüglich beseelte und aufklärte? wenn geliebte Menschen zurükgelassen werden, ohne vielleicht daß die ihnen gewidmeten Bemühungen schon zum Ziel gelangt wären, ohne Sicherheit für ihr Schiksal, vielleicht mit so vielen Sorgen, wie Stephanus, seine Freunde und Geliebten unter den Jüngern zurüklassen mußte! Aber dennoch sahen sie sein Angesicht wie eines Engels Angesicht, und so ist auch das Angesicht jedes Christen. Er ist verklärt durch die Liebe, die in der Seele des Christen immer himmlisch ist und rein, aber von der sich im Angesicht des Todes mehr als je alles Irrdische und Unvollkommene ablöst, durch das Gefühl, daß er in Gott und in Christo Eins ist mit denen die er liebt, daß er wohnt und lebt in ihren Herzen, und daß auch in ihnen das Gefühl seiner Nähe und das verklärte Bild, welches ihnen zurükbleibt, reiner und heiliger wirken wird, als die immer getrübte Gegenwart es vermochte. Das heißt | den Himmel offen sehn, die unzerstörbare Gemeinschaft des Göttlichen und Ewigen mit dem Zeitlichen und Irdischen, und des Menschen Sohn zur Rechten Gottes, ihn, der alle die Seinigen unter sich und mit sich vereiniget, ihn, dessen ewig gesegnete Liebe auch den 1–4 Vgl. Apg 5,29

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fortdauernden Segen jeder wahren Liebe verbürgt, und der selbst mit der tröstlichen Versicherung schied, daß er Alle zu sich ziehen wolle. Ja, meine Freunde, das Licht der göttlichen Wahrheit, der Glanz des ungetrübten Glaubens, das Feuer der himmlischen Liebe, das ist es, was den Christen auch im Tode noch verklärt, dieselben göttlichen Gaben und Zeichen, die auch im Leben jene ehrfurchtgebietende Hoheit über ihn ausgießen, welche alles Irdische überragt, die aber desto herrlicher sich offenbaren, wenn alles Irdische zu verschwinden anfängt, ja deren Kraft auch die Schmerzen des Todes unterdrükt und seinen Stachel abstumpft. Diesen ewigen Gütern nachjagend, und unersättlich in ihrem Besiz, laßt uns denen muthig folgen, die uns so vorangegangen sind, und alle selig preisen, die da vollendet haben in dem Herrn. Amen.

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b. Nachschrift Den 22. Jul.

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Nicht lange nachdem die ersten Christen den innigen Bund der Gemeinschaft der Herzen geschlossen, nicht lange nachdem die Apostel jene erste wundervolle Handlung durch die Kraft des Geistes vollbracht hatten, welche so auffallend die Anzahl der Gläubigen vermehrte – erwachte derselbige Haß, welcher den Erlöser dem Tode überliefert hatte und die Geschichte der Apostel zeigt uns den ersten Märtyrer, den Ersten der in der Verkündigung des Evangeliums in der treuen Anhänglichkeit an die innere Überzeugung seinen Tod fand, den welchem eine so große Anzahl (später) nach gewandelt ist die rauhe aber seelige Bahn; so daß man auch in den folgenden Jahrhunderten den Christen Schuld gab; sie suchten mit leidenschaftlichem Eifer den Tod und würfen das Leben ab wie eine unnütze Last. Wenn das jemals geschehn ist: so dürfen wir es nur ansehn als einen Irrthum und unser aller Geschäft sagt uns, die wir am weitesten entfernt sind von jenen Zeiten, ausdrüklich, daß keiner das nöthig hat; denn mehr oder weniger muß der Tod jedes Christen ein Märtyrertod seyn. O in der ernstlichen Treue, die wir in der Erfüllung unserer Pflichten beweisen, in dem unausgesetzten Kampfe gegen die Feinde des Guten, unter welcher Gestalt es auch aufträte; in der Erweisung der Liebe, wodurch unser Daseyn an einem Grö29 muß der] muß das 9–10 Vgl. 1Kor 15,55

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ßern hängt so wie durch die täglich wiederkehrenden Geschäfte (des gemeinsamen bürgerlichen Lebens) nützen sich ab die Kräfte des irrdischen Lebens, welchen immer ein gewisses Maß und Zeit gesetzt ist. Wir dürfen also den Tod, wann und wie er kommt, bleiben wir nur in der Treue, Liebe und im Gehorsam, ansehn wie jenen preiswürdigen Hingang jener heiligen Männer, die durch ihr Blut gezeugt haben für das, wofür wir zeugen wollen durch unser Leben. Wir alle fühlen uns jetzt tief gebeugt durch ein innig geliebtes verehrtes Opfer, welches der Tod aus unserer Mitte genommen hat: so wird es uns denn wohl anstehn, gleich die ersten Gefühle des Schmerzens zu heiligen durch Andacht und Gebet und den Tod des Christen zu betrachten in jener veredelten und herrlichen Gestalt, wie er sich uns darstellt in dem ersten Opfer des Glaubens. Apg 6,15

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Ich habe in der Betrachtung dieser Geschichte unsere Aufmerksamkeit nicht hinwenden wollen auf den Augenblick, wo Stephanus unter den heftigsten Schmerzen und blutigsten Verwundungen seinen Geist aufgab, auch nicht auf jenen kurz vorhergehenden, wo er begeistert durch die Kraft seiner Rede, aufgeregt von heiligem Sinn den Himmel offen sah und die Gestalt des Menschensohn sich herabsenken über ihn – weil jenes dem Bilde des Todes ein zu schmerzliches Ansehn giebt, und dieses nicht so leicht von jedem kann ergriffen und nachempfunden werden; sondern auf den Augenblick, worin sich, kurz vor seinem Tode und im Angesicht desselben, mag er ihn da schon voraus gesehn haben oder nicht, die ganze Kraft und Herrlichkeit seines Lebens zusammendrängt. Denn das ists, was der heilige Geschichtschreiber ausdrücken wollte in den Worten: „Und sie sahen auf ihn alle, die im Rathe saßen und sahen sein Angesicht wie eines Engels Angesicht.” Das werde uns ein allgemeines und tröstliches Bild. Laßt uns mit einander betrachten die geistige Schönheit des Christen im Angesicht des Todes. Unter den mannichfaltigen Beziehungen, auf welche die Geschichte dieses heiligen Mannes leitet, drängen sich leicht Jedem diese heraus, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten wollen. So steht im Angesicht des Todes der Christ da der Verläumdete vor der Welt, die ihn richtet, der Überwundene vor den Feinden die ihn besiegt haben und endlich der Treue in seinem Beruf vor dem Ende des Lebens und der Geschäfte die er geliebt hat. | [1.] [Und] sie hatten aufgestellt falsche Zeugen, welche sagten: dieser Mensch hört nicht auf zu reden Lästerworte gegen diese heilige Stätte und 8 geliebtes] geliebte 15–16 Vgl. Apg 7,60

37 Stätte] Städte 18 Vgl. Apg 7,55–56

36–1 Vgl. Apg 6,13

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das Gesetz. So wurde, wie vorher der Erlöser nun auch der erste unter seinen Jüngern, der ihm nach wandeln sollte auf der Bahn des Todes die er gewandelt war, fälschlich beschuldigt von den Oberen des Volks dasjenige gelästert zu haben und mit Füßen getreten, was allen ohne Ausnahme heilig seyn mußte. Aber auch dieses ist ein Schicksal dem der wahre Christ im Laufe seines Lebens selten oder nie entgeht. Kein Stand, kein Geschlecht, nicht irrdische Größe, nicht die Stille und Zurückgezogenheit des Lebens kann dagegen schützen. Die äußern Handlungen der Menschen leiden so vielerley Auslegungen, denen, welchen der Geist fremd ist, aus dem allein die handeln, für die es etwas Größeres und Höheres giebt als die Vortheile und den Genuß des Lebens, drängen sich Darstellungen auf aus ihren Ansichten, und Handlungsweisen genommen, die deßwegen auch leicht vor einer größern Menge von Menschen Glauben finden und je mehr das Ziel oder die Weise und Zeit des Lebens so beschaffen ist, daß nicht alles gerichtet werden kann nach dem Buchstaben eines äußern Gesetzes, je mehr wie es damals von den Christen galt, jeder steht an der Grenze und dem Übergange zur Welten um desto mehr gewinnt über das heiligste Leben über den tadelfreyesten Sinn vor Gott die Verläumdung Spielraum und selten kann Jemand dieß Leben verlassen, ohne daß ein Augenblick darin von unreinen Händen beschmutzt werde. Aber da stand Stephanus und sie sahn sein Angesicht wie eines Engels Angesicht; denn so glänzt hervor aus dem Geiste das innere heilige Licht der Wahrheit, die in ihm wohnt; so erheitert und erhebt ihn über jedes Urtheil der Welt das innere Bewußtseyn, daß er das Ebenbild Gottes trägt und daß nicht nur seiner Seele dieser Vorzug gegeben ist, sondern daß es sich auch zeigt in seinem äußern Leben. Er erscheint durch diese Offenbarung in seiner höhern Natur und es drängt sich den gemeinen auf, was sie so gern verläugnen möchten und nimmt sie mitten im Spotte gefangen mit einer ihnen selbst unbegreiflichen Ehrfurcht. – Aber eben so steht auch 2. der Christ da, wäre es auch im Angesicht des Todes als der Überwundene vor den Feinden die ihn besiegt haben. Es ist kein Zweifel, daß Stephanus den Ausgang seiner Sache leicht voraussehn konnte; sie hatte zu viel Ähnlichkeit gehabt mit der letzten irrdischen Angelegenheit des Erlösers. Es hatte nicht in seinem Berufe in dem Laufe seines Lebens gelegen, wie seine Brüder durch äußerliche Thaten die Menge gefangen zu nehmen und auf eine Zeitlang zu beschwichtigen; sondern alles was ihn rechtfertigen mußte oder beschuldigen, war nichts als die Kraft der Eifer, womit er seine Gesinnung und Überzeugung aussprach und ihr treu blieb in Wort und That. Gestaltet sich wohl jemals und kann sich anders gestalten das Leben 22 Geiste] Geisten

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des Christen? Alle sind wir, so wahr wir diesen Namen mit Recht führen in einem Kampf begriffen gegen alles Böse, Unheilige, gegen alles was seine Knie nicht beugen will vor dem was über alle Namen ist, in einem Kampfe dessen Ende wir nicht absehn, der sich aber anfangend von der unmittelbarsten Angelegenheit des Herzens und Glaubens auf tausendfache Weise sich verzweigt und verbreitet über unser Leben, so daß es keinen Beruf giebt, wie weltlich er erscheint im Gegensatz des allein geistlichen gemeinen oder wie schwach im Gegensatz gegen die Kraft, mit welcher er geführt werden muß, keinen giebts, der nicht seinen Antheil hätte an diesem Kampfe, und dem nicht dieser mit Recht das Schönste wäre in seinem Leben. Aber wenigen ists gegeben auch äußerlich als Sieger zu erscheinen, sondern so gereicht die Verwicklung der göttlichen Fügungen ineinander, so wendet sich plötzlich was wir hofften, von uns so entstehn neue Gefahren, die die schon erschöpfte Kraft anfallen, so mehrt sich die entgegenstehende Gewalt, daß es den Meisten geschienen ist, in dem worauf sie nach ihren kurzsichtigen Ansichten aber treu ihren Überzeugungen den meisten Werth legten zu unterliegen und als Überwundene dazustehn vor den Feinden, die nicht sie, sondern etwas Anderes und Höheres in ihnen haßten. | So stand auch Stephanus vor denen die im Rathe saßen und vor dem Hohenpriester der ihn [fragte] ob alles sich so verhielte und vor denen, die ihn dem Tode zu übergeben bereit waren, sie sahen auf ihn und sein Angesicht glänzte wie eines Engels Angesicht. Und so mitten in den drohensten Gefahren, in den trübsten Widerwärtigkeiten, im Angesicht des Todes als des Zieles aller irrdischen Wirksamkeit glänzt dennoch das Angesicht des Christen. Es glänzt aus ihm heraus die herrliche Kraft jenes Glaubens, der ihn über alle Begebenheiten und Gefahren erhebt, die innere Kraft der Überzeugung, daß, wie auch äußerlich sich die Dinge gestalten, es doch keinen Sieg giebt des Bösen über das Gute, der Überzeugung, daß der welcher gekämpft hat, möge nun das Ende des Kampfes sey Sieg oder Niederlage, auf der Seite Gottes steht, den Sieg in sich trägt und auch äußerlich besiegt die Kraft in sich fühlt und durch sie sich erheben über jedes Verhältniß zu einem Menschen ihm gegenüber. Endlich 3. um unsere Betrachtung auf ein noch allgemeineres Gebiet hinzuwenden, welches Jeder als das seine anerkennen muß: so steht der Christ auch da im Angesicht des Todes hinschauend auf den Beruf und die Geschäfte die er geliebt, denen er gefolgt ist, denen er die schönsten Kräfte seines Lebens geopfert hat. Wir erinnern uns gewiß alle aus der ersten Geschichte der christlichen Kirche an jene Anordnung und Einrichtung des äußerlichen Lebens die uns in der Apostelgeschichte beschrieben wird, und daß Stephanus verordnet war zu Dienstleistungen in der gemeinen Sache, 1–4 Vgl. Apg 6,1–7

2–3 Vgl. Phil 2,10

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die Wohlthaten, die gemeinsamen Gaben der christlichen Liebe treu zu verwalten und zu vertheilen, geheftet gleichsam an die innere Häuslichkeit der christlichen Kirche. So kann es mehreren scheinen als habe er seinen Beruf überschritten; er sollte der Nothdurft dienen und dieser Dienst war ausgesondert vom Dienste des Wortes, welcher den Aposteln früher und mehr ausschließlich übertragen war. Aber m. Fr. das kann nur denen so scheinen, die in ihrer Engherzigkeit sich genau halten an den Buchstaben, weil sie sich fürchten oder nicht geneigt sind, mehr zu leisten, und es drückt sich darum in Stephanus Thun der Sinn aller wahren Christen aus. Jeder hat seinen Beruf und jeder ehrt ihn aus Gründen; durch diesen wird ihm zugemessen ein Theil von den Geschäften die der Gemeinde des Herrn obliegen, aber wir wissen auch, daß nicht alles sich auf eine solche Weise vertheilen läßt, daß auch außerdem es allgemeine Pflichten giebt, von denen Niemand seinen Antheil jemals einem andern überlassen kann, und welche die liebste Angelegenheit eines jeden Gemüths sind, welches das Gute treibt. So was Stephanus thut – eben weil er mit an die Spitze gestellt war der christlichen Angelegenheiten, so wollte er diese Würde auch darstellen in seinem Leben; so gab auch er Zeugniß von der Wahrheit, von welcher er durchdrungen war; so ließ er keine Gelegenheit ungenutzt, auf die Menschen zu wirken und alle Kräfte auf den großen Zweck, die Förderung des Reiches Gottes zu vereinigen, und das m. Fr. ist der rechte Sinn für jeden Christen, wo er auch steht. Keiner darf und soll sich davon zurückziehn an seiner Stelle; jeder soll wirken auf den Sinn und die Überzeugung der Menschen, und befördern den großen Zweck des Lebens, und nicht achten alle Mißbilligung und Gefahren, die daraus entstehen könnten, und in diesem zweyfachen Berufe in welchem uns Stephanus dargestellt wird, in jenem bestimmten der ihn haftete an die Christen, welche der Wohlthaten der ausspendenden Liebe bedurften und in diesem allgemeinen, durch kein äußerliches Verhältniß begränzt und eingefaßt, soll jeder leisten was er vermag und danach auch nur beurtheilt werden das Maß seiner Kräfte! Freylich hatte Stephanus gewiß innig geliebt seinen Beruf und sein Geschäft denn er war ein Mann voll Glaubens und Weisheit und Kraft, und von beyden großen Geschäften sollte er scheiden, zu einer Zeit, wo für beyde noch so wenig gethan war, wo der Verlust jedes kräftigen Gemüthes unersetzlich zu sein schien, wo jeder der sich voll Kraft fühlte und ohne Bangigkeit ausrufen mußte, was soll nun werden aus dem was ich unvollendet zurücklasse; aber sein Angesicht glänzte wie das eines Engels. Ja m. Fr. wie tief auch der Christ mit Schmerz fühlen mag das Aufhören seiner Dienstleistung und Wirksamkeit, wie schmerzlich sich heraus gerissen aus dem Kreise, worin er mit treuem Eifer gearbeitet; aber indem er zurückschaut auf den großen Beruf, wie [sollte] nicht scheinen auf sein Angesicht die heilige Liebe, die das Ebenbild Gottes bezeugt, wie | [sollte sich] nicht deutlicher offenbaren seine größere Natur, die alles stärkende Liebe, wie sollte sie ihn, die alles

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erfreut, nicht auch erfreuen mitten unter den Schmerzen des bittern Lebens. So kann es nicht anders seyn, es müßte sich in den letzten besonnenen Augenblicken, die dem Scheiden vorangehn, deutlicher als je in dem Menschen offenbaren jene heilige Kraft der Wahrheit, des Glaubens und der Liebe; es muß durch sie aufgeregt werden und vorzüglich hell scheinen sein ganzes Daseyn und daher kommts daß späterhin von Stephanus erzählt wird, daß er den Himmel offen sah und die Gestalt des Menschensohns zur Rechten Gottes, den Himmel welchen zu finden, wo zu wandeln es für den Christen keine Zukunft bedarf und keine Befreyung von Banden, weil er immer darin wandelt, weil er sein Vaterland ist, und welcher nur dann sich ihm eröffnet, weil er sich in dem Augenblicke des Scheidens aufs stärkste von himmlischen Kräften durchdrungen fühlt. Und die Gestalt des Menschensohns – die erlösende von allen menschlichen Schwächen reinigende Kraft dessen, der in heiliger Liebe uns alle zu sich zieht; wie sollte sie nicht Jedem ebenso erscheinen in dem letzten Augenblicke des Lebens, wie sollte sie ihm nicht Gewißheit geben, daß vor Gott Glaube und Liebe allein alles gelten, und daß durch sie alle irrdischen Schwächen bedeckt werden. O m. Fr. laßt uns dieses Bild fest vor Augen behalten, laßt uns treulich nachfolgen einem Jeden der sich vor unsern Augen ähnlich gestaltet, laßt uns in Ehrfurcht und Liebe tief eingegraben behalten alles, worin sich eben so die Kraft des christlichen Sinnes, die heilige Gewalt der Religion, die über alles erhebende Macht der Liebe geoffenbart. Laßt uns von den ersten Märtyrern und, so viel uns die Geschichten und die eigene Erfahrung zeigt von solchen, die gleiche Treue des Namens der Christen sich würdig gemacht haben und ihrem Beruf gefolgt sind, auch ihnen folgen und uns an sie als würdige Vorbilder anschließen, damit keine herrliche Kraft, die Gott uns geliehen hat, jemals für uns verloren sey. Amen.

7–8 Vgl. Apg 7,56

8–10 Vgl. Hebr 11,14–16

14 Vgl. Joh 12,32

Am 5. August 1810 vormittags Termin:

7. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr, Gedächtnisfeier für die am 19. Juli 1810 verstorbene Königin Luise von Preußen Ort: Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Bibeltext: Jes 55,8–9 Textzeuge: Drucktext Schleiermachers; in: Zwei Predigten am 22. Julius und am 5. August. Zweite Predigt, 1810, S. 25–52 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 24–36; 21844, S. 52–64 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 19–29 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine

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Zweite Predigt. Gedächtnißfeier der hochseligen Königin Majestät.|

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Gesang. Gemeine.

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Wie fleucht dahin der Menschen Zeit! Wie eilen wir zur Ewigkeit! Wie mancher hat, eh er’s gedacht, Zur Todesnacht Sein kurzes Leben schon gebracht.

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Dies Leben ist gleich einem Traum; Gleich einem leichten Wasserschaum Ist alle seine Herrlichkeit; Der Strom der Zeit Reißt schnell uns fort zur Ewigkeit.

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Nur Du, o Gott, Du bleibest mir Das was du bist, ich traue Dir. Laß fallen Berg und Hügel hin! 1 Vgl. Titelblatt und Vorerinnerung zur Predigt vom 22. Juli 1810 vorm. Eine detailierte Analyse des Gottesdienstes bietet Schmidt, Lied – Kirchenmusik – Predigt, S. 59– 79.

Über Jes 55,8–9

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Mir bleibt’s Gewinn, Daß ich bei Dir und Jesu bin. So lang ich in der Hülle wohn Sei Du mein Führer, Gottes Sohn! Gieb daß ich zähle meine Tag Und munter wach, Und eh’ ich sterbe sterben mag. |

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Was hilft die Welt in letzter Noth? Lust, Ehr und Reichthum in dem Tod? O Mensch, lauf nicht dem Schatten zu, Bedenk es nu! Du kommst sonst nie zur wahren Ruh.

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Weg Eitelkeit, der Thoren Lust! Mir ist das höchste Gut bewußt, Das such’ ich nur, das bleibet mir, Und mein Begier, Herr Jesu, zieh’ mein Herz nach dir.

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Barmherziger getreuer Gott, du ewiger Vater unsers Herrn Jesu Christi, und Aller, die durch ihn deine Kinder geworden sind! du weiser Gebieter, unter dessen Schutz wir leben und nach dessen wohlbedachter Vorsehung wir sterben. Wir sind jezt versammelt vor Dir, um ein Fest der Wehmuth und Trauer zu feiern zum Andenken der allgeliebten Königin, die Du vollendend von dieser Erde abgerufen hast. O laß uns, damit unsere Empfindungen rein und Dir wohlgefällig sein mögen, damit anfangen, daß es ein Fest des Dankes sei für alle Wohlthaten und Segnungen, die Deine Güte über ihr Leben ausge|streut, und noch mehr für alles Gute und Trefliche, wodurch Du Dich in ihr verherrlichet hast. Ja reichlich hattest Du ihre Seele ausgestattet mit Gaben aus der Höhe! aber vor allem dafür gebührt es uns Deine Gnade zu preisen, daß ihr Herz durchdrungen war von Liebe zu Dir, daß auch ihr aufgegangen war das Licht der christlichen Wahrheit zur Erkenntniß Deines Willens, zum Dir wohlgefälligen Leben und zum ruhigen und seligen Sterben. So laß denn uns allen, die wir sie geliebt und verehrt haben im Leben, auch jezt die Feier ihres Gedächtnisses dazu erweklich sein, daß auch wir durch Jesum Christum unsern Heiland und durch die Kraft seines Geistes uns je länger je mehr heiligen 17 zieh’] zieht

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zu wahrer Gottgefälligkeit, und unsere Seelen ausschmükken mit christlichen Tugenden, damit wir ein angenehmes Volk seien vor Dir. Und wenn wir denn auch im Gefühl unseres Verlustes um Trost flehen zu Dir für uns und für diejenigen, die noch mehr verloren haben als wir, o so laß uns kräftig gestärkt werden in dem Glauben, daß es eine Wiedervereinigung giebt vor Dir, und Alle, die Dir treu gewesen sind, |im helleren Licht Deine Liebe schauen, und mit höheren Kräften Deine Barmherzigkeit preisen werden immerdar. Amen. Der Herr sei mit uns und bewahre uns unsträflich auf die Zukunft unseres Herrn Jesu Christi. Getreu ist Er, der uns ruft, Er wird es auch thun. Amen.

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Gesang. Chor. Requiem aeternam dona Ei Domine! et lux perpetua luceat Ei. (Ewige Ruhe schenke Ihr, o Herr! und ein beständiges Licht leuchte Ihr.) Staub bei Staube ruhst Du nun In dem friedevollen Grabe! Möchten wir wie Du auch ruhn Einst im friedevollen Grabe! Ach, der Welt entrannst Du schon, Kamst zu Deiner Tugend Lohn! Nur ein Herz, das Gutes liebt, Nur ein ruhiges Gewissen, Das vor Gott auch Zeugniß giebt, Konnte Dir den Tod versüßen. Solches Herz, von Gott erneut, Ist des Todes Freudigkeit. |

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Gemeine.

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Herr, Du unsre Zuversicht! Unser Theil ist einst das Leben; Wenn auch unser Auge bricht Wirst Du Mittler es uns geben, 8–10 Vgl. 1Thess 5,23–24

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Gottes und des Menschen Sohn, Deinen Frieden gabst Du schon. Daß wir Dein sind, nicht der Welt, Daß Du uns wirst auferwekken, Diese Kraft der bessern Welt Laß in unserm Tod uns schmekken! Segnend hast Du uns bedacht Als Du riefst: Es ist vollbracht!|

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Herr! Deine Ruhe über die, welche schlafen, und Dein ewiges Licht leuchte ihnen! Aber Deine Ruhe und Dein Licht auch über uns, die wir noch hier sind, daß auch unser Wandel sei im Himmel! Amen. In schmerzlicher Rührung sind wir heute hier versammelt. Es hat dem Herrn gefallen, die weiland durchlauchtigste großmächtige Frau, Luise Auguste Wilhelmine Amalie Königin von Preußen, geborne Prinzessin von Meklenburg–Streliz, am 19ten des vergangenen Monats, im 35sten Jahre ihres Lebens, aus unserer Mitte abzurufen, und dadurch den König unsern Herrn und sein hohes Haus, und mit demselben auch alle getreue Unterthanen in die tiefste Trauer zu versezen. Meine andächtigen Freunde! Nicht leicht nimmt der Tod einen Menschen, der irgend des Namens werth war, aus diesem Leben hinweg, daß nicht eine oder die andere menschliche Brust von schmerzlichen Empfindungen bewegt würde. Je größer nun der Werth des Hinscheidenden war, und je mehr derer in deren Leben das seinige eingriff, | um desto tiefer wurzelt, um desto weiter verbreitet sich der wehmüthige Eindruk, so daß die Besten und die Höchsten der Erde es sind, deren Tod die meisten Gemüther und aufs innigste erschüttert. Wie selten die Fälle sind, wo beides sich vereinigt, wissen wir; aber auch unter diesen ist der Verlust, welcher uns getroffen hat, einer der seltensten und schwersten. Denn nicht leicht ist ein Werth allgemeiner anerkannt worden, als der unsrer verewigten Königin; nicht überall, das Zeugniß dürfen wir uns geben, verbindet ein so inniges und festes Band der Liebe das Volk mit seinen Fürsten, als dieses treue Volk mit dem erhabenen und gesegneten Hause, welches über uns herrscht; und wol seit langen Jahren haben wir aus demselben kein so geliebtes und verehrtes Haupt verloren, als das, um welches wir jezt trauern. Wie nun in allen solchen Fällen der Mensch, welcher nicht ganz fern ist von dem Leben aus Gott, zuerst bei dem Trost sucht, dessen Fügung 11–12 Vgl. Phil 3,20

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ihn niedergebeugt hat: so sind auch heute die Häuser der Andacht in dieser königlichen Hauptstadt dazu eröfnet, um den gemeinsamen Schmerz aufzunehmen und durch Andacht zu heiligen. Denn der Trost, welchen der Christ sucht, ist nicht nur Hemmung der Thränen und Lüftung der beklommenen Brust; sondern darnach vornemlich strebt er, daß | auch die Schickung, die ihn am tiefsten beugt, ihm zugleich zu einer neuen Kraft des geistigen Lebens gedeihe. Diese Richtung nehme denn auch in dieser frommen Todesfeier unser Andenken an die verewigte Königin. Wir erflehen dazu Gottes Segen im Gebet des Herrn, und erwekken unsere Andacht durch Gesang. An uns stirbt nichts als Sterblichkeit, Wir selbst sind unverloren, Der Leib wird nur der Last befreit Und himmlisch neu geboren. Denn was man hier verweslich sät, Was hier verdirbt im Dunkeln, Das wird, sobald es aufersteht, Von Glanz und Schönheit funkeln.

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Unser Vater etc. Text. Jes. 55, 8. 9. Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht meine Wege, spricht der Herr. Sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde, so sind auch meine Wege höher denn eure Wege, und meine Gedanken denn eure Gedanken. 35

Von der ersten Hälfte dieser Worte, m. chr. Freunde, hören wir oft im gemeinen Leben der Men|schen eine Anwendung machen, die dem Frommen nicht genügen kann. Wenn ihre Erwartungen getäuscht, ihre Hofnungen zerronnen sind, wenn der Erfolg alles anders bringt, als ihre leichtsinnige Einbildung, oder ihre eingebildete Klugheit ausgerechnet hatte, dann hören wir sie bald nach dem ersten Schmerz in jenen Worten eine scheinbare Beruhigung finden. Aber was ist es damit? Ihre Gedanken schienen ihnen doch so hell, ihre Wege doch so sicher zum Ziele führend, zu demselben Ziele, welches wie sie meinen, der Höchste doch auch vor Augen hat. Seine Wege also sind ihnen 19 etc.] . 11–18 Vgl. Porst’sches Gesangbuch, 1812, Nr. 882: „So komm, geliebte Todesstund“ (Melodie von „Was mein Gott will“), Str. 8

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anders nicht nur, sondern dunkel, unerforschlich, aber sie hoffen, in irgend einer Ferne würden sie sich aufhellen. Allein diese gehofte Aufhellung muß ihnen immer wieder verschwinden in dem Dunkel, in welchem sie wandeln, denn sie leben nur im Irdischen und suchen nur dieses. Solche unhaltbare Beruhigung bedarf der freilich nicht, welcher über die Wandelbarkeit alles Irdischen, einmal für alle zum klaren Bewußtsein gekommen ist, welcher es weiß, daß nur der Mensch sicher glüklich ist, der ohne sich eine bestimmte Gestalt der Zukunft auszubilden, aus dem gegenwärtigen Augenblik alles nimmt, was er geben kann, und nur der sicher weise, welcher ohne sich auf Erfolge zu verlassen, in jeder Stunde das treu|lich thut, wozu Pflicht und Gewissen ihn antreiben. Aber, meine Freunde, es ist auch nur ein Mißbrauch, der so von den Worten unsers Textes gemacht wird. Denn es ist nicht die Rede von dem Gegensaz zwischen Erwartung und Ausgang, sondern zwischen göttlichem und ungöttlichem Sinn; nicht in irgend eine irdische Ferne werden wir verwiesen, um uns dort mit den göttlichen Gedenken wieder zusammen zu treffen, sondern auf die himmlische Güte und das himmlische Licht über uns. So nemlich lautet es vorher: „Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Uebelthäter seine Gedanken, und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich sein erbarmen und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.“ In diesem Sinn also wollen wir die vorgeschriebenen Worte auffassen und anwenden; und wenn es nicht scheinen mag, als ob in unsern Gedanken bei dieser traurigen Veranlassung irgend gottloses und übelthäterisches sein könne, so laßt uns nicht vergessen, daß je irdischer sie sind, um desto unreiner und ungöttlicher sie auch sein müssen, und desto näher also auch dem, was dem Herrn zuwiderläuft. Wolan denn! je inniger unsere Liebe und unsere Verehrung gegen die Vollendete ist, um desto mehr muß uns ja daran liegen, auch unsern Schmerz zu läutern und zu heiligen. So laßt uns demnach überlegen, | wie wir auch in Bezug auf das Andenken an die vollendete Königin unsere Gedanken mit Gottes zu einigen haben. Vorzüglich aber, und darauf will ich eure Aufmerksamkeit hinlenken, Erstlich unsere Gedanken über den Werth des Lebens und seiner Güter. Zweitens unsere Gedanken über das Wesen und den Ursprung menschlicher Liebe und Verehrung, und endlich unsere Gedanken über die Art und den Umfang menschlicher Wirksamkeit. 15 ungöttlichem] ungöttlichen 19–21 Jes 55,7

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I. Einigen wir unsere Gedanken mit Gottes, über den Werth des Lebens und seiner Güter! Wie weit sich hierin der große Haufe der Menschen von dem Sinne Gottes entfernt, wissen wir. Ich will jezt nicht darauf hinweisen, daß noch Viele der Meinung sind, der Werth des Lebens bestehe in seiner Länge, da doch Gott demselben bald früh bald spät sein Ziel sezt ohne Unterschied der Besseren oder Schlechteren. Denn Viele von denen, welche doch nur an der irdischen Seite des Lebens hängen, sind mit uns darüber einig, es komme bei der Schäzung des Lebens nicht auf die Zeit an, sondern darauf, wie reichlich sie mit demjenigen angefüllt ist, was den wünschenswerthen Inhalt des Le|bens ausmacht. Aber eben dieses, daß sie dabei nur auf die irdische äußere Seite des Lebens sehen, nur auf alle Weise trachten nach sinnlichem Genuß, und Schmerz und Unannehmlichkeit als lebenzerstörend fliehen, und nur das für die Güter des Lebens halten, was ihnen eine ununterbrochene Folge angenehmer Eindrükke sichert, und um sie her Wache hält, daß das Widrige nicht eindringen könne, das eben ist das ungöttliche in ihren Gedanken. Denn dem göttlichen Sinn zu Folge, ist was dem Menschen begegnet, was ihm von außen kommen kann, auch nur das Aeußere, die Schale des Lebens, sein Werth aber liegt in dem Kern, in dem was das innerste Selbst des Menschen ist und wird, wie er das Ebenbild Gottes, zu dem er geschaffen ist, je länger je mehr in sich gestaltet, wie dieses zu herrlichen Tugenden und Kräften des Geistes nach allen Seiten gedeiht. Denenjenigen, und es ist ihrer eine große Zahl, welche, wie sehr sie auch hierüber klar sehen mögen in stiller Betrachtung, doch in der unmittelbaren Ausübung und im Gewühl der Ereignisse unschlüssig und wechselnd schwanken zwischen dem Wesen und dem Schein, kommt der Höchste zu Hülfe durch mannigfaltige Gestalten des Lebens, die er vor ihnen aufstellt, um ihr Urtheil zu befestigen. Merkwürdige Beispiele führt er uns vor, | vorzüglich solcher, in denen beides strenge entgegengesezt ist, wo wir alles finden was des Menschen Sinnlichkeit begehrt, wo sich alle jene Güter häufen, die das Leben äußerlich bereichern und sichern, wo aber innen ein leerer ungebildeter Geist wohnt, und wir uns dann nicht erwehren können, das ganze Dasein für leer und werthlos zu erkennen und alle jene äußeren Zurüstungen gleichsam für verschwendet zu halten; oder wo innere feindselige Leidenschaften herrschen, und eine der göttlichen ganz entgegengesezte Gestalt wohnt, so daß wir Weh und Verderben rufen, und statt selig zu preisen, gern ausrotteten, nicht aus Neid über den reichen Besiz, der doch in der inneren Unruhe und Bitterkeit eines lieblosen Gemüthes nicht genos37 innere] innnere

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sen wird, sondern um gegen ein solches Wesen dasjenige zu retten, dem wir auch bei dieser Vergleichung allein Werth zuschreiben können. Eben so zeigt uns auf der andern Seite Gott auch solche, wo ein ihm gefälliges und ähnliches Gemüth aller äußeren Zierden und Reize des Lebens entbehrt, und nur mit Widerwärtigkeiten zu kämpfen hat, aber doch immer so siegreich sich offenbart, daß wir sagen müssen, hier ist was dem Leben seinen wahren Werth giebt, und alles was diesem fehlt, verschwindet dagegen als nichts. Bisweilen aber erfreut, belehrt, rührt uns der Höchste durch | solche seltene Erscheinungen der Menschheit, in welchen beides das Innere und das Aeußere zum schönsten Einklang verbunden ist, reiner und edler Sinn, Kräfte und Gaben des Geistes zu Tugenden und Fertigkeiten aller Art ausgebildet, mit allen jenen äußern Vorzügen und Gütern. Wenn ein solches Leben jeder ohne Bedenken selig preisen muß, so frage er sich denn, um sich ganz zu verständigen, wobei er wol ohne jenes Gefühl zu verlieren, zuerst anfangen dürfe zu entkleiden und zu berauben, bei dem Aeußeren oder Inneren? und wo sich jenes heilige Wohlgefallen am festesten einwohne? Eine von diesen seltenen Gestalten war unsere verewigte Königin! Wer hätte nicht ihr Leben glüklich und selig gepriesen! Aber jeder prüfe sich, worauf sein Wohlgefallen geruht hat; und wer das Recht haben will mit den Frommen und Guten unter ihren Getreuen zu trauern über ihren Verlust, das Recht ihr herrliches Bild fest zu halten als einen Schaz und Besizthum in seinem Herzen, der sei fern von ungöttlichen Gedanken. War es der Glanz des Thrones weshalb wir sie glüklich priesen? jene Leichtigkeit, welche die Macht darbietet alle Wünsche zu erfüllen? jene Huldigungen, welche der gefeierten Königin von allen Seiten dargebracht wurden in den glüklichsten Tagen des Staates und ihres erhabenen | Hauses? Nein ihr ganzes Leben und Dasein steht in gleicher Herrlichkeit vor uns auch in den trüben Tagen des Unglüks, und sie scheint, wiewol auf eine Höhe gestellt, auf welcher sonst Stürme und Ungewitter dieser Art nicht zu toben pflegten, eben deshalb die herbesten Wechsel erfahren zu haben, um zu zeigen, daß das Heil und der Werth ihres Lebens nicht auf Glanz, Glük und steigender Hoheit ruhte. Waren es die Reize der körperlichen Anmuth und Schönheit, mit denen Gott ihre Person so reichlich ausgestattet hatte? Der Tod hat diese Reize ganz zerstört und bis auf die lezten Spuren davon die geliebte Gestalt zerrüttet; aber wenn er seine zerstörende Macht auch bis auf unser Gedächtniß ausdehnen könnte, daß wir allmählig unfähig würden die wohlbekannten tief eingeprägten Züge uns zu vergegenwärtigen: wenn wir nur alles übrige festhalten, wird uns der Eindruk von Seligkeit und Fülle, den uns ihr Leben hinterläßt nichts verlieren. Also ist es nur die Anmuth und Schönheit der

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Seele, der edle und reine weibliche Sinn, das liebevolle für alles Gute empfängliche Gemüth, es ist der Glanz jener Tugenden der Gattin[,] der Mutter, der hülfreichen Beschüzerin, die sie unter uns ausübte, und dieses, daß alle Huldigungen die ihr dargebracht wurden, zugleich Huldigungen gegen Tugend und Fröm|migkeit waren, es ist die Hoheit der Gesinnung und des Muthes, die innere Heiterkeit des Gemüthes, diese Fülle ist es, um derentwillen jeder ihr Leben selig pries; und Gott sei gelobt, der sie ihr verliehen hatte. II. Einigen wir mit Gottes Gedanken die unsrigen über den Ursprung menschlicher Liebe und Verehrung. Noch immer giebt es Menschen genug, welche um soviel zu gering denken von sich selbst und ihrem ganzen Geschlecht, daß sie meinen, der Mensch könne ursprünglich nichts anders lieben als seine eigne Person, sich selbst in der flüchtigen Erscheinung des vergänglichen Lebens, und alle andere Liebe sei nur von dieser abgeleitet; kurz alle Liebe sei Eigennuz. Jeder liebe nur den der in diesem Sinne wohlthätig auf sein eigenes Leben gewirkt habe, oder von dem er erwarten könne, daß er es werde; alle Liebe, alle Verehrung die menschlichen Tugenden und großen Eigenschaften gezollt werde, habe nur den Grund, daß durch sie das Leben und die Freiheit gesichert, der Wohlstand gefördert, die Gewalt des Menschen über die Natur erhöhet werde, und daß jeder Einzelne sein Theil ihrer Anwendung sich für empfangen anrechne, wenn er auch ihren Einfluß nicht bestimmt und einzeln bis in sein Leben verfolgen könne. An|dere erweitern doch um etwas jene eng gezogene Bedeutung des menschlichen Lebens; eine gesellige Neigung schreiben sie dem Menschen zu von Natur, Gemeinschaft mit Andern sei ihm ein ursprüngliches Bedürfniß. Nachdem nun einer jene Neigung zu befriedigen und ihren scheinbaren Streit mit der Selbstliebe und dem Eigennuz zu beseitigen, nachdem einer diese Gemeinschaft zu erhalten und zu beleben wisse, nachdem also einer hingebend sei, unterhaltend, gefällig, nachdem er einen Reichthum von geselligen Talenten besize, und sie auch gern und anspruchlos anwende, nachdem werde er geliebt. Wir wissen es recht gut meine Freunde, daß das ungöttliche Gedanken sind: aber wie viele unter uns sich davon ganz losgemacht haben, das möchte schwer sein zu untersuchen. Jeder der jemals mehr das Gelingen von Thaten, als die Gesinnung in der sie gedacht waren, zum Maaßstab seiner Liebe und Achtung gegen einen Menschen gemacht hat, Jeder der um angenehmer Gaben und Talente willen von den Ansprüchen an Redlichkeit, an Tugend, an ordnungsmäßigem Betragen etwas nachgelassen, ja Jeder der sich jemals über den Mangel an äußeren Gütern beklagt, und sich mehr davon gewünscht hat, nur

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um mehr Liebe von den Menschen zu gewinnen, was hat er anders gethan, als vorausgesezt Liebe und | Achtung entstehn nur auf diesem Wege, was anders als sie selbst nach diesem Geseze gespendet? Aber Niemand rühme sich der Liebe und Verehrung, die er in diesem Sinne unserer Vollendeten weihet! laßt es vielmehr unser Erstes sein bei der Feier ihres Andenkens auch hierüber unsere Gedanken zu reinigen. Denn ganz andre sind hierüber Gottes Gedanken, und eben so deutlich als gewiß mit Zustimmung unseres besseren Gefühls belehrt uns darüber sein Wort. Der Mensch liebe zuerst Gott, und alles andre sich selbst sowohl als seinen Nächsten nur in Beziehung auf Gott. Wo ihm Aehnlichkeit entgegenstrahlt mit göttlichen Eigenschaften, wo gehandelt wird nach göttlichen Gesezen, da neige sich sein Herz hin; und je reiner dieser Sinn, je kräftiger alles andre beherrschend, desto mehr gehe seine Liebe über in Verehrung. Wer von uns sollte es auch nicht fühlen, daß es diese Liebe und Verehrung ist, die unsere Herzen so unablöslich fesselt an unsere verewigte Königin! Freilich würde sie immer auch von allen denen geliebt worden sein, die nur jener engherzigen Denkungsart anhängen. Viel hat sie immer wohlthätig auf Einzelne gewirkt, viel Thränen getroknet und viel Kummer gelindert; keine Aufforderung menschlicher Noth abzuhelfen ging ihr unbeachtet vorüber; | und wenn Alle, die ihr mit solcher Dankbarkeit zugethan zu sein Ursache hatten, ihrer Leiche gefolgt wären, es wäre ein zahlreicher und rührender Zug gewesen. Auch viel beglückt und erfreut hat sie durch die Anmuth in ihrem Betragen und durch den Reiz ihrer geselligen Talente; sie hat über jene höhere Gegenden des Lebens, welche gemeinhin für ihre Höhe büßen müssen, durch eine kalte und unfruchtbare Oede den belebenden Zauber der Heiterkeit und Freiheit ergossen. Aber war es nur dies, und vorzüglich dies, was uns an ihr so theuer war? Haben wir sie nur geliebt in der Erinnerung irgend eines persönlichen Einflusses auf unser Leben, oder in der tröstlichen Hoffnung, daß er auch uns nicht fehlen würde in bedenklichen Umständen? nur in der Erinnerung ihrer huldreichen Nähe, sei es auch während eines kurzen Augenblikkes, oder indem wir uns in Veranlassungen träumten, wie dies Glück auch uns zu Theil werden könnte? Nein, tiefer in dem Innern ihres Gemüths liegt der Grund unserer Liebe und Verehrung, in der göttlichen Milde ihres Wesens, ohne Rüksicht auf alles das, was sie gewähren konnte oder versagen mußte; in ihrem reinen Sinn für das Wahre; in ihrem beständigen Bestreben, das Gute und Schöne darzustellen; und wer mag aufzählen die verschiedenen Arten, wie sich uns | in ihr die gottähnliche Natur und Abstammung des Menschen offenbarte! Ja, nur wer sie in diesem Sinne geliebt und verehrt hat, verdient mit einzustimmen in unsere Trauer und unsern Schmerz. Endlich

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III. Einigen wir unsere Gedanken mit Gottes über die Art und den Umfang menschlicher Wirksamkeit. Hier darf und muß ich wol vielerlei falsche und ungöttliche Gedanken unberührt lassen, und nur auf die mich beschränken, welche wol nicht Jeder schon für sich von den göttlichen und wahren unterscheidet. Viele nemlich, auch von den besseren Menschen, legen einen zu großen Werth auf den Erfolg, wollen nur da Wirksamkeit eines Menschen anerkennen, wo sich, gleichviel, ob im Großen oder Kleinen, etwas äußerlich in der Welt nachweisen läßt, was aus seiner Thätigkeit entsprungen ist. Darum freuen sie sich leicht zu sehr, wenn ihnen etwas der Art gelingt, betrüben sich zu sehr über Zögerungen und Widerwärtigkeiten dieser Art, und legen einen falschen Maaßstab an ihr Leben, der auf der einen Seite mehr der Eitelkeit schmeichelt, auf der andern mehr zur Unzufriedenheit anreizt, als daß er die Wahrheit an Tag legte. Denn wenn wir einen Menschen vor uns stellen, der nach nichts Weltlichem strebt, der rein ist und wahr und überall geneigt, Gott die Ehre zu geben, wie er überall | nur Gott sucht, wird nicht dieser, wenn ihm auch das Schönste und Größte gelang, weit mehr das darin sehn was Gott gewollt, als das, was er selbst gethan hat? und wenn er etwas verfehlt hat, wird er nicht bisweilen wenigstens eben so aufrichtig bekennen, daß seine Thätigkeit hiebei eben so rein, eben so eifrig, eben so vollständig gewesen ist als dort? Darum, meine Freunde, sind auch jenes ungöttliche Gedanken. Denn das hat Gott dem Menschen gar nicht verliehen, etwas durch seine eigene Kraft äußerlich zu bewirken in der Welt, sondern dies ist immer gemeinsames Werk, wie es gemeinsames Gut ist, und alles kommt darauf an, wie die Thätigkeit und der Sinn der Anderen mit dem was der Eine will, zusammenstimmt oder nicht. Darum ist in dem allen der Mensch nur ein Werkzeug in der Hand Gottes. Wie dieser im Reich der Natur jeder Wirksamkeit einer einzelnen Kraft Maaß und Ziel sezt, durch die der andern, so auch in der Menschenwelt der Wirksamkeit jedes Einzelnen durch die der übrigen. Und gleichermaßen hält er es so mit den Guten und Bösen. Wie sich in den scheinbar großen Thaten der leztern oft mehr als ihre eigne Kraft die zusammentreffenden Schwachheiten und Fehler der Guten spiegeln; so hängen auch die schönen und edlen Werke der erstern eben so sehr ab | von der Unterstüzung oder dem Widerstande, den sie finden; und der Mensch also, der, ich sage nicht sich selbst, sondern auch nur den Umfang seiner Wirksamkeit darnach schäzen wollte, zu welchem Ziele Gott sie lenkt, wäre offenbar auf ungöttlichem Wege. Nein, sondern das wahre ist dieses, der Schauplaz für die Thaten des Gemüthes ist auch nur das Gemüth; und die Wirksamkeit, die der Mensch mit Recht sich selbst und sich allein zuschreiben kann, ist keine andre als die innere und größten-

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theils stille, die er auf die Seelen der Menschen ausübt. Wie er in diesen dem Guten zu Hülfe gekommen ist und die schwache Vernunft gestärkt hat, den Irrthum ausgetrieben und das Licht der Wahrheit angezündet, wie er in ihnen den Trieb zum Guten gewekt und die Liebe zu allem Schönen und Edlen genährt hat, oder wie dem Bösen Widerstand geleistet und die Leidenschaften gedämpft und besänftiget, wie er sein Bild in ihren Seelen befestiget hat, als eine leitende und schüzende Kraft, so und so viel hat er gewirkt. Das sind die Thaten, die ihm Gott selbst zuspricht als die seinigen von dem innwohnenden göttlichen Geiste gethan. Zu dieser richtigen Ansicht menschlicher Dinge führt uns auch das Andenken an unsere vollendete Königin, und nur wenn wir sie so betrachten, wird es rein sein und ihrer würdig. Sie nahm eine er|habene Stelle ein in diesem Leben, und wir wissen wie innig sie, ohne jemals die Gränzen zu überschreiten, die auch für jene Höhen der Unterschied des Geschlechtes feststellt, Antheil genommen hat an allen großen Begebenheiten, wie sie sich eben durch die Liebe zu ihrem königlichen Gemahl, durch die mütterliche Sorge für die theuren Kinder alles angeeignet hat, was das Vaterland betraf; wie lebendig sie immer erfüllt war von den ewig herrlichen Bildern des Rechtes und der Ehre, wie begeisternd ihr Bild und ihr Nahme, eine köstlichere Fahne als welche die königlichen Hände verfertigt hatten, den Heeren im Kampfe voranging. Wir wissen wie ihre Anmuth und Würde auch die schwereren Handlungen der Ergebung und Entsagung zu adeln und zu verschönern vermochte. Aber in dem allen war auch sie nicht die Herrin ihrer Thaten, der Erfolg stand nicht in ihrer Hand, und wir wissen, wie wenig von dem, was sie sehnlich wünschte in Erfüllung gegangen ist. Sollten wir aber deswegen ihre Wirksamkeit für gering halten? Nein! wollen wir diese ihrem Umfang nach schäzen: so laßt uns auch dahin sehen, wo wir sie gesondert von allem Fremden betrachten können. Jene innere stille Wirksamkeit des Gemüthes, die sie ausgeübt hat auf den König ihren Gemahl, stärkend, beruhigend, erheiternd; im häuslichen Kreise | ein Glück bereitend, zu dem er immer sicher zurückkehren konnte, ein Bild innrer Schönheit darstellend, vor welchem alles andre verschwand; die Wirksamkeit die sie ausgeübt hat auf jene schönen Hofnungen besserer Zeiten ihren köstlichsten Nachlaß, einpflanzend eben jenes Bild in die Gemüther der königlichen Kinder, welches sie auf immer festhalten wird bei dem Guten und Schönen, und sie bewahren vor allem, was der vollendeten Mutter unwürdig sein könnte. Und von diesem innersten Heiligthum aus wie weit hat sich dieselbe Wirksamkeit verbreitet über alle, die ihr nahten, die ihr in Liebe und Verehrung angehörten! Darauf laßt uns sehen: so werden wir bezeugen müssen, wie viel sie gewirkt hat,

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und Gott preisen mitten in Schmerz und Trauer für den Reichthum seiner Gnade. Und von dieser Wirksamkeit mehr als von jeder scheinbar größeren gilt was in den auf unsern Text folgenden Worten gesagt ist: „Das Wort, das aus meinem Munde geht, soll nicht leer zu mir zurük kehren. Denn wie der Regen nicht wieder gen Himmel kehrt, sondern die Erde befruchtet, so soll auch mein Wort nicht zurük kehren, sondern soll ihm gelingen, wozu ich es gesendet habe.“ Denn wie der Sohn Gottes das ewige Wort des Vaters genannt wird: so ist auch jedes edlere Gemüth, das ein Zeugniß von Gott giebt | durch sein Dasein, ein Wort des Herrn, und kehret nicht leer zurük, wenn es von der Erde verschwindet, sondern trägt noch späte bleibende Frucht! Je mehr wir verloren haben, um desto mehr auch behalten wir, und auch von ihr der Vollendeten gilt es: „der Gerechte stirbt, aber sein Andenken bleibt im Seegen.“ Amen. Heiliger Gott, der Du giebst und nimmst, Dein Name sei gepriesen für beides. Wenn Du uns gebeugt hast und wir schauen in Dein Angesicht, so werden wir wieder erquikt. Denn jeder fromme Schmerz über das Verlorne befreundet uns aufs Neue Deine Ordnungen und Geseze. So wohne denn auch das Andenken an die theure Fürstin, die Du von uns genommen hast, in unsern Herzen, und pflanze sich segnend fort auf späte Zeiten und Geschlechter. So laß auch unsern theuersten König, den Tiefgebeugten, deine Fügungen ehren, laß ihn Trost finden in dem Bewußtsein wie nahe dem Geiste nach ihm die Verlorene ist, und in unser aller Schmerz laß ihn empfinden die treue Liebe seines Volkes. Den könig|lichen Kindern sei das heilige Bild der vollendeten Mutter immerdar der Gegenstand der Nachfolge in allen christlichen und fürstlichen Tugenden, Ihr Sinn, Ihre Wünsche, Ihre Hofnungen der Vereinigungspunkt aller derer, die es wohlmeinen mit dem Vaterlande. Ja erwekke uns allen in diesem Schmerz zugleich das erhebende Gefühl, wie alle die dir dienen und dich lieben auch Eins und unzertrennlich sind vor Dir. Amen.

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13–14 Vgl. Spr 10,7

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9. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 9,3–22 Nachschrift; SAr 25, Bl. 41r–43v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 453–462 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 33r–39v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher den 19. Aug. 10. (die erste nach meiner Rückkehr von G.) (Eingang fehlt.) 5

Indem wir die Bekehrungsgeschichte des Apostels Paulus zum Gegenstande unserer heutigen Betrachtung machen, sollen unser Nachdenken besonders leiten die Worte, welche wir lesen Act. 9, 3–22

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Um uns nicht allein von dem äußerlich Wunderbaren, wovon wir diese Begebenheit begleitet sehen, fest halten zu lassen, müssen wir uns zu überzeugen suchen, daß weniger hiedurch als auf die eigene und allein sichere Weise in dem Apostel die Überzeugung entstand, der er sein Lebenlang bis in den Tod, den sie ihm brachte, getreu blieb. Laßt uns sehn, wie jenes Wunderbaren ungeachtet der Apostel uns ein Beyspiel seyn kann von der einzig richtigen Art, wie der wahre lebendige Glaube im Gemüthe des Menschen entsteht. Um dieß deutlicher zu machen, will ich an dreyerley erinnern: 1. Es war der Herr selbst, der mit dem Apostel redete. 2. Der Apostel wurde ergriffen von der lebendigen Kraft des Evangelii, die er schon überall um sich her wirksam sah. 3. Er sah in demselben Augenblicke auch schon voraus und ergab sich darein, was er selbst um des Evangelii willen würde zu leiden haben. 1. Zuerst, um durch das äußerlich wunderbare nicht irre geführt zu werden laßt uns fest halten, daß es der Erlöser selbst war, der mit dem 7 Act. 9, 3–22] Act. 9, 3–

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Apostel redete. So nämlich stellt der Apostel auch anderwärts, wo er die Geschichte seines Lebens erzählt so auch, wo er von der Auferstehung des Herrn spricht, diese Begebenheit vor. Unter denen, welchen der Herr als erstanden erschienen war zählt er auch sich selbst auf. Darum müssen wir diese Begebenheit eben so betrachten, wie jene Unterredungen, die in den Tagen der Auferstehung der Herr mit den übrigen Jüngern hatte. Da wird uns so deutlich, daß nicht durch das Wunderbare in seiner Wiedererscheinung er sie bewegt habe noch lebendiger die früher vorgetragenen Wahrheiten anzunehmen; sondern vielmehr: er selbst habe gesucht, die Eindrücke des Wunderbaren zu mindern, und sich dargestellt als den Alten: Dagegen habe er noch deutlicher als sonst ihnen die Schrift eröfnet und gezeigt, wie sich alles so habe begeben müssen. Durch die Gewalt der Gründe; durch die Kraft der Wahrheit, durch die Darstellung des innern Zusammenhanges in den sich bestätigenden und immer erweiternden Weissagungen Gottes, dadurch sucht der Erstandene sich fest zu setzen in den Gemüthern seiner Jünger und auf eben die Weise wird er auch wirksam gewesen | seyn bey der Umgestaltung und Bekehrung seines auserwählten Rüstzeuges. Nicht lange darnach verkündigte auch Paulus schon, daß Jesus sey der Sohn Gottes, aber nicht, weil er ihm auf eine wunderbare Weise erschienen sey, auf eine übernatürliche Art alle Zweifel in ihm ausgetilgt habe, sondern auch gleich mit der Kraft der Schrift drang er ein und bewieß, daß Jesus sey der Christ und Sohn Gottes. Drey Tage lang vorher waren seine Augen verschlossen gewesen, hatte er nichts zu schaffen gehabt mit den Dingen der Erde, sondern in stillem Nachdenken überlegt verglichen das Alte und Neue – da fiels ihm von den Augen wie Schuppen, da verstand er jenes himmlische Licht, welches ihn umleuchtet hatte und er ging hin in der Kraft des Glaubens den zu verkündigen, der sich auf diese Weise seiner großen Seele bemächtigt hatte. Daher können wir wohl jene Erscheinung anders ansehn als Veranlassung, die göttliche Wahrheit dem Apostel recht nahe zu bringen, daß aber diese nur durch ihre eigene Kraft gesiegt habe in seinem Gemüthe, und sehn wir zurück auf unsere eigene Lebensgeschichte so werden wir gestehn müssen, daß uns etwas ähnliches begegnet sey. Von Kindheit an werden uns die Wahrheiten verkündigt und vorgehalten die Gegenstände des Glaubens – warum üben sie nicht gleich die Kraft aus, warum sind wir lange gleichgültig gegen die Wahrheit, bis sie plötzlich und wunderbar uns einleuchtet. Sie bedarf einer äußerlichen Veranlassung; so lange diese fehlt, ist ihre Kraft auf den Menschen todt, auch das sehende Auge blind gegen das göttliche Licht und das hörende Ohr vernimmt nicht die Stimme des Herrn. Aber es findet sich überall in dem Leben eines jeden und fürs Gute empfänglichen Menschen, es findet sich ein Augenblik, wo das Innere und Äußere zusammentritt oft auf eine unerklärliche wunder1–3 Vgl. Gal 1,15–17

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bare Weise, oft nichts andres als das was schon früher uns näher getreten war, thut nun größere Wirkungen auf uns; aber was sie hervorbringt ist die innere Kraft der göttlichen Wahrheit, und nicht um dieses und jenes Umstandes glauben wir, sondern wir glauben, weil wir im Innersten ergriffen und durchdrungen sind von der Wahrheit. 2. Der Apostel wurde ergriffen von jener lebendigen Kraft des Evangelii die er schon überall um sich her wirksam sah. Dasselbige, was bey andern Gelegenheiten sein großer und weiser Lehrer bedingungsweise aufstellte wenn er sagte: Wenn das Werk aus Gott ist, werdet ihrs nicht zerstören, dasselbige | rief jetzt der Erlöser nicht mehr bedingungsweise, sondern im Tone der Gewißheit ihm zu: denn das ist der Sinn der dunkeln Worte: es wird dir schwer werden wider den Stachel lekken, schwer dich meiner Kraft zu widersetzen der allwaltenden und alles leitenden. Eben diese höhere Kraft dieses sich regende Leben der neuen Lehre hielt ihm der Erlöser vor. Was mußte sich dabey seinem Gemüthe nicht alles darstellen! Er hatte gelebt in der Hauptstadt des jüdischen Volkes, auch zu seinen Ohren war gedrungen das Gerücht von den Fortschritten der Lehre Jesu, daß 1000 und aber tausendfach gewonnen wären und hinzugethan zu der Gemeinde der Christen; er selbst war Zeuge und mehr als Zeuge gewesen bey dem Tode des Stephanus und also auch Zeuge von der himmlischen Kraft die sich in seinem Tode verklärte und seit langer Zeit hatte ihn sein Eifer für das alte Gesetz umher getrieben, und auch außerhalb der Judäischen Lande wollte er die Bekenner Christi aufsuchen um sie den strafenden Händen zu überliefern. Die Kraft konnte ihm nicht entgehn, womit das Evangelium sich verbreitete, er mußte es fühlen wie er selbst in seinen Bestrebungen fürs alte Gesetz unwirksam und ohnmächtig erschien, wie jene Lehre mehr Gewalt gewonnen habe über sein Zeitgenossen, und aus so manchen Erfahrungen, die ihn schon früher erschüttert hatten, aus dem Verklagen schuldiger Gedanken unter einander, aus dem Schwanken, wovon sich gewiß schon Spuren gezeigt hatten, daraus bildete sich dann die richtige Ansicht der Sache, daraus entstand der feste Glaube der nun auf immer in ihm wohnte. Also meine Fr. nicht anders als auf die natürliche Weise geschieht es wenn auch wir überzeugt werden von der Kraft des göttlichen Geistes. Es giebt von Zeit zu Zeit Menschen, welche wie der Apostel durch wunderbare Erscheinungen gewonnen werden für eine Meynung, bleibe es nun unentschieden wie oft es Wahrheit sey wie oft Irrthum; aber auf diese Weise werden die Menschen gefangen genommen dafür; selbst wenn es die Wahrheit ist – so erkennen sie sie nur an als etwas, was sich ein Recht erworben hat auf sie, und gehn davon aus, als sey die übrige Menschenwelt unfähig sie zu vernehmen, als könne nur in den Gleichen 9–10 Vgl. Apg 5,38–39

19–20 Vgl. Apg 8,1

28–29 Vgl. Röm 2,15

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das Licht aufgehn. Aber für das Wahre und Gute; was eben jetzt sich der Menschen bemächtigt, wodurch sie zur Erfüllung des göttlichen Willens sollen gewonnen werden, für das Maß der Einsicht, kann der Mensch nur gewonnen werden durch die innere Kraft, und das ist das Eigenthümliche der Gesinnung, welcher die Menschen ihr Gemüth öffnen müssen | wenn sie Theil haben wollen an den Wegen Gottes, auf welchen sie zur Bestimmung geführt werden, – und m. Fr. welche Wahrheit uns so lieb ist, daß wir auch unser Leben dafür lassen, welcher Gedanke der Tugend der Liebe so fest und tief Wurzel gefaßt hat, daß nun die Einstimmung mit ihnen es ist, wonach unsere Liebe sich richtet und deren Widerstreit es ist, die uns zum Kampf auffordert was wir so haben im Gemüth, das müssen wir fühlen als regsame Kraft, das erkennen als den Geist Gottes der überall waltet in dem beßern Theil der Zeitgenossen, und dieß Gefühl begründet den lebendigen Glauben die feste sichere Überzeugung, und jeder gewinnt sie so wie der Apostel. Endlich 3. Mit der Überzeugung, mit dem Glauben zugleich gewann er auch die Einsicht in alles, was er würde zu leiden haben. Denn als der Herr dem Jünger Ananias erschien, um durch ihn des Apostels Bekehrung zu vollenden und jener sich weigerte, sprach der Herr: Gehe hin, denn dieser ist mir ein auserwähltes Rüstzeug, meinen Namen zu verkünden und ich will ihm zeigen, wie viel er leiden wird um meines Namens willen. Freylich sehn wir das nicht selten, daß schwärmerische Menschen für die Meynung, die sie auf eine wunderbare Art gewonnen haben, auch bereit sind alles zu leiden und zu dulden, die ganze Welt scheint ihnen im Widerstreit gegen dieselbe, und nicht selten suchen sie den Kampf mit derselben, aber das war es auch nicht, was der Herr ihm zeigen wollte; sondern die langen vielfältigen Beschwerden und Schmerzen die ihm bevorstanden in seinem glorreichen Glauben. Je mehr er geeifert hatte für das Gesetz, um desto deutlicher mußte ihm von diesem Augenblicke seyn wie viel herrlicher das Evangelium wäre als das Gesetz, und so bildete sich denn eine Ansicht von seiner allgemeinen Gültigkeit für alle Menschen, auf die seine Mitapostel erst durch ihn und seine Thaten hingeleitet wurden. Je mehr er vergleichen konnte zwischen der Gewalt des Geistes und zwischen jener Gewalt, die über ihn der Buchstabe des Gesetzes ausgeübt hatte, um so deutlicher mußte ihm seyn, welchen Kampf er würde haben zu bestehn zwischen beyden, wie noch Rückfälle vorkommen würden in die alte Sinnesart, und mußte sich bereit fühlen zum Streit mit allem | was ihm feindlich in den Weg treten würde, und alles das selbst zu leiden von dem, was er andere hatte leiden 9 nun] es nun

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machen wollen, bereit auch zum Streite mit den Schwachen, mit denen, die die Wahrheit noch nicht festhielten. Und diesen Streit wie treu hat er ihn geführt, wie ist er nie gewichen von dem Wege auf welchen ihn der Herr geleitet. Und welche Lebendigkeit der Überzeugung gehört dazu, jetzt schon sich das alles so deutlich vor Augen zu stellen. Aber eben dadurch unterscheidet sich der Held des Glaubens, dieß war das Eigenthümliche des Apostels der mehr that zur Ausbreitung des Evangelii als alle übrigen zusammengenommen. Aber ist das nicht auch für jeden unter uns das richtige Kennzeichen der reifen in sich selbst gegründeten Überzeugung? Auf der einen Seite müssen wir die Kraft desselben fühlen, aber auf der andern kann dem wahrhaft Gläubigen nicht entgehen, wie vieles sich dieser Kraft der Wahrheit widersetzt. So wie der welcher sich wendet vom Bösen zum Guten; aber je tiefer er sieht in das Innere des Herzens, um desto gewisser auch sich voraussagt, daß er noch manchen Kampf werde zu bestehn haben noch oft zurücksinken in die gewöhnten sündlichen Neigungen, bis allmählig aus diesen Kämpfen die feste Tugend hervorgeht: eben so muß auch der, der die Wahrheit in sich fühlt, und sich als Werkzeug sie auszubreiten, um so deutlicher einsehn, welchen Streit er zu führen haben werde mit dem Irrthum, wie schwer es ihm seyn werde, zu siegen über die Vorurtheile, wie oft sie verkannt und anerkannt werden je nachdem es dem Herzen gelüstet oder dem Verstande. Das sind die wahren Kennzeichen der auf dem richtigen Wege entstandenen Überzeugung, und die äußere Veranlassung, die uns öffnen soll für dieselbe, muß die Gestalt des Erlösers tragen; denn ihm allein ist Gewalt gegeben über alle Menschen, und auf ihn muß daher auch alles was in ihm und durch ihn geschieht zurück führen lassen! Aber weil er der allgemeine König und Herr ist, so muß der Mensch der zum lebendigen Glauben an ihn gelangt auch seine Kraft und sein Reich erkennen in seiner Herrlichkeit, fühlen wie seine Kraft sich regt in ihm, und sein Reich begriffen ist im Kommen. Aber auch das muß die wahre Überzeugung zugleich mit sich führen | daß sie sieht den Streit, welchen die Wahrheit zu bestehn hat mit den weltlichen Irrthümern und der Mensch muß inne werden, daß es keinen andern Eingang giebt ins Reich als durch Trübsal, und daß der welcher dem Herrn angehören und ihm folgen will, auch sein Kreuz auf sich nehmen muß. Wer so zur Einsicht gekommen ist, der ist innerlich durchdrungen von der göttlichen Wahrheit, in dem hat sich der Geist verherrlicht und ein solcher Anfang ist der Anfang eines dem Herrn geweihten Lebens; treu wird der seyn mit dem ihm anvertrauten Pfunde; aber auch eben so wenig wie der Apostel einen großen Werth legen auf die Veranlassung, welche der Umgestaltung seines Sinnes vorangegangen ist; sondern überall dieselbige Kraft anerkennen, die bald unter dieser bald unter jener Gestalt sich an den Herzen der Menschen bewährt als die die 27 zum] zur

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über alles siegen und herrschend in ihnen wohnen soll und so wird er mit seinen Gaben und Kräften nicht etwas Irrdischem dienen sondern nur dem Ewigen; und zeitlebens den Herrn preisen mit Worten und mit der That eines ihm allein geweihten Lebens.

Am 26. August 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

10. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 10,4–6 Nachschrift; SAr 25, Bl. 45r–47r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 463–469 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 40r–44r; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Nachmittagspredigt von Schleiermacher den 26. Aug 10 Act. 10, 4–6

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So m. Fr. begrüßte ein göttlicher Bote jenen Römischen Hauptmann, welcher der erste unter den Heiden gewürdigt wurde, das Evangelium Jesu anzunehmen. Vielfältig ist unter den Christen darüber gestritten, welches wohl seyn könne der Werth und das Verdienst guter Werke vor Gott, und zwar um so mehr, je mehr auch vieles was nur äußerlich gut genannt werden kann, unter diesem Namen begriffen wurde. Das natürliche fromme Gefühl des Herzens findet die Entscheidung leicht in jenen Worten der Schrift: die Werke ohne Glauben sind todt; aber auch der Glaube ohne Werke ist leer. Wenn dasjenige was der Mensch äußerlich in der Welt thun kann, nichts ist als der Ausdruck einer frommen Gesinnung, und das ist was wir durch Glauben verstehn – wenn alles was [man] thun kann nur dieß ist, dann hat es auch Werth vor Gott; denn dieser beruht auf der Gesinnung – als der Quelle der Thaten zu welchen hinzu kommen muß ein Maß äußerer Gaben, Veranlassungen und Gelegenheiten; aber nur die Treue der Eifer womit wir sie vollbringen, geben ihnen Werth. Dagegen wie glänzend sey was wir thun können, wie viel Ruhm und Ehre es bringe, es hat alles keinen Werth vor Gott, wenn es nicht herrührt aus dieser Quelle eines reinen Herzens; sey es nun Eigennutz, Eitelkeit, die leichte Beweglichkeit eines unstäten Gemüthes; kurz jede andre Quelle der menschlichen Handlungen macht, daß ihr Werth vor Gott verschwindet. Aber jenen Glauben, jene fromme Gesinnung und Treue des Herzens heften wir an den Namen des 2 Act. 10, 4–6] Act. 10, 4 10 Vgl. Jak 2,17

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Erlösers. Darum scheints, als würde uns hier noch ein andrer Maßstab vorgehalten; denn der fromme Römer, von welchem unser Text spricht, war noch nicht aufgenommen in die Zahl der Gläubigen und sein Herz noch nicht geöffnet der heiligen Wahrheit. Dennoch wird von ihm gesagt: „Dein Gebet und deine Almosen sind hinaufgestiegen in das Andenken vor Gott“, und ein Werth wird ihnen zugeschrieben, welchem die göttliche Belohnung nachfolgt. Laßt uns auf Veranlassung dieser Erzählung nachdenken über den Werth der guten Werke vor Gott, und zwar auch solcher in denen, weil sie aus dem Glauben noch nicht hervorgehn, noch manches Unvollkommene und Irrige Statt finden muß. Er besteht aber dann, wenn sie hervorgehn aus einem, nach göttlicher Erleuchtung sich sehnenden Herzen. So müssen wir uns denjenigen denken, den unser Text uns aufstellt. Geboren in den Finsternissen und der Sorglosigkeit des Heidenthums, hatte doch die Nähe eines Volkes, welches sich besonderer Offenbarungen rühmte, die Nähe jenes Heiligthums, zu dem die Gläubigen aus weiter Ferne in Andacht und Frömmigkeit | gewandelt kamen, der Ernst der gottesdienstlichen Gebräuche die Strenge der Sitten und Forderungen an den Menschen, dieß alles hatte in ihm hervorgebracht ein inniges Verlangen eine Sehnsucht nach einem beßern Zustande als in welchem er sich befand, wenn gleich noch nicht nach einem beßern als welchen er um sich her sah. Aber weil sie aus dieser Quelle kamen hatten seine guten Werke, wie wohl sie das Unvollkommene der israelitischen Verfassung theilten, dennoch Werth und Verdienst vor Gott. Wenn wir uns zuerst fragen: wie hängen mit dieser Sehnsucht des Herzens die guten Werke zusammen welche von diesem frommen Manne gerühmt werden: so wird uns (da zweierley genannt werden Gebet und Almosen) die Antwort nicht schwer werden. Sobald in dem Menschen ein Gedanke aufgestiegen ist und ein Verlangen nach einem beßern Zustande; sobald ihm das Streben nach den Gütern dieser Welt, und die Art der Befriedigung nicht mehr genügt: so entstehn zugleich dunkle Vorstellungen von andren Mächten denen alles unterthan seyn soll, was unter den frühern nicht mehr stehn will, und es sehnt sich das Herz zu der geahndeten Macht sich zu erheben und erbauet in dem Herzen selbst einen Altar dem unbekannten Gotte auf welchem geopfert werden Gebete, Thränen und Seufzer. O m. Fr. wenn in diesen Vorstellungen von Gott selbst noch nicht jene Liebe ist, die alle Furcht austreibt, wenn er noch nicht da ist jener kindliche Geist, der Alles in dem Einen Ausdruck zusammenfaßt: Lieber Vater; so sind diese Gaben, Gebete und Opfer doch wohlgefällig vor Gott, denn sie drücken die Neigung aus, sich über das Irrdische zu erheben, sie sind Ergüsse der Sehnsucht nach höherer Erleuchtung, Zeichen, daß er in sich sucht den Gott, den er so gern finden möchte. Und eben so wenn dem 13 hatte] hatten 32–33 Vgl. Apg 17,23

34–35 Vgl. 1Joh 4,17–18

35–37 Vgl. Röm 8,15

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Menschen nicht mehr genügt, was er zu thun pflegt für sein (und irgendeines andren) Wohlergehn, und wenn er sich nicht mehr dessen zu rühmen weiß, was er zu diesem Zwecke gethan um sich erblickt, noch seine Vortrefflichkeit danach zu schätzen, abzumessen, weil nicht alle seine Kraft darin aufgeht; so sehnt er sich nach einem Felde der Wirksamkeit für die noch übrige Kraft, die in ihm wohnt. Und wenn er auch noch nicht das Eine fand, was Noth thut, wenn er seine Kräfte noch nicht dazu gebrauchen kann, die Menschen dahin zu führen wo er selbst noch nicht ist, wenn es ihm weniger fehlt an Lust als an Kraft und Einsicht: so regt sich doch mit diesem Bedürfniß zugleich die Liebe gegen die Brüder, welche die Selbstsucht unterdrückt; und wenn er das hohe Gute ihnen nicht geben kann, was er noch sucht: so ist es doch löblich wenn er das Gute, was er schon gefunden, auch unter sie vertheilen will. Dann entbehrt er, | entzieht sich von seinem Vergnügen, entsagt der Ehre den Lockungen der Welt und wendet einen Theil seiner Zeit, seiner Güter und Kräfte an, Wohlthätigkeit zu üben unter seinen Brüdern. Wenn diese dann auch noch nicht ist die erleuchtete der Christen, die in göttlichem Sinne geübt wird, und welche auf die Sicherheit des Beweggrundes sich stützend auch Strenge üben kann gegen den Bruder wie gegen sich selbst, wenn es auch das Ansehn hat, als wenn das was sie giebt und daß sie es giebt, einen großen Werth haben müßte – o m. Fr. auch diese Almosen, auch diese Erweise der Liebe kommen doch ins Andenken vor Gott, weil sie Ausflüsse sind eines Herzens, in welchem sich, wenn es gebeßert ist, die Liebe regen kann, welche in der Folge das Band aller Vollkommenheit werden muß. So kommen Gaben und Almosen ins Andenken vor Gott und der Herr, indem er ihren Werth kennt, läßt sie nicht unbelohnt. Aber m. Fr. dadurch unterscheiden sich diese äußern guten Werke von denen, welche äußerlich ihnen ähnlich doch das nicht von sich rühmen können, daß der Sinn des Menschen dabey nicht gerichtet ist auf eine vorgehaltene Belohnung der Welt, sondern die in sich zurückgezogen nicht beachtet und aufbewahrt sein wollen nach jenem Sinnspruch des Erlösers: Wenn du giebst so soll die linke Hand nicht wissen, was die rechte thut, und eben darum löhnt auch der Herr ihm auf eine nicht irrdische Weise. Denn nachdem der himmlische Bote seinen Gruß vollendet hatte: so fügt er hinzu: Schicke hin gen Joppen und laß zu dir rufen Simon Petrum, der wird dir sagen, was du thun sollst. Für das Herz, das sich sehnt nach einem festen Grund des Glaubens und Lebens und in dieser Sehnsucht dargebracht hat Gebete und Almosen; für dieses giebts keine schönere Belohnung, als wenn man ihm sagt, was es thun soll. Aus dieser heiligen Sehnsucht muß sich früher oder später das himmlische Licht der Wahrheit und des Glaubens in dem Menschen entzünden, bey manchem mehr von Innen heraus, bey manchem mehr durch Berührung mit solchen, denen es 31–32 Vgl. Mt 6,3

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schon aufgegangen ist. Aber auch unter den ungünstigsten Umständen und wenn viele solche Gaben ohne Frucht dargebracht sind, endlich gelangt es doch zum Ziele und der göttliche Lohn des Glaubens und der Offenbarung bleibt nicht aus. Wenn nun das Urtheil der Menschen oft kurzsichtig ist und unsicher über den Werth der guten Werke: so laßt uns sehn auf den Erfolg. Wenn die guten Werke in der That dazu beytragen und dahin ausschlagen die, welche sie darbrachten in der Treue und Sehnsucht des Herzens zu erleuchten, zu reinigen und aufzuschließen für die Heiligung, dann sind sie solche gewesen die Werth haben; aber wenn ein Jahr nach dem andern dahin geht aus vergeblichen Gebeten und Almosen, wenn das Herz auf diesem Wege um keinen Schritt weiter kommt, wenn Ahndungen nicht üben | in Glauben, Furcht in Liebe; dann ist alles Schein gewesen und Täuschung, nur Nachahmung eines Unverstandenen oder versteckte Eitelkeit; denn die Gebete und Almosen, wenn sie wahren Werth haben sollen müssen die Frucht des Glaubens tragen. Aber m. Fr. laßt uns nicht über diesen Zustand nur reden, als über etwas, was nur hinter uns liegt; denn wenn wir auch nicht mehr suchen; sondern auf der einen Seite schon gefunden haben, wenn es uns gesagt ist, was wir thun sollen; auf der andern Seite sind wir doch noch im Suchen begriffen; denn die Unreinigkeit des Verderbens, die den im Glauben noch nicht festen zurückhält, klebt auch uns immerfort noch an und niemals wird unser Leben ganz rein davon. Darum verliert auch der Glaube und die Liebe niemals ganz jenes Gepräge der Sehnsucht nach dem, was noch fehlt, darum kehren Augenblicke zurück, wo wir uns noch in jenem Zustande befinden, darum sind auch in unserm Leben nicht alle Werke reine Äußerung der christlichen Gesinnung, sondern manches, wenn wir auch wissen, was recht und gut ist, rührt her von einem unvollkommenen Glauben, wie die Gebete und Almosen in dem Menschen, der noch nicht ganz erleuchtet ist. Also wird auch dieß ein Maßstab seyn, uns danach, so lange wir leben zu schätzen; für uns alle gibts gute Werke, welche herrührn aus der Sehnsucht des Herzens welches die Wahrheit und das Gesetz des Lebens noch nicht fest ergriffen hat. Laßt uns auch in ihnen eben so treu seyn wie Cornelius; bis der Herr auch uns über das noch dunkele aufklärt; aber laßt uns auch ihren Werth nicht anders schätzen als die Schrift. Was Übung ist in der Selbstverläugnung, Ertödtung des irrdischen Sinnes, was wahrhafte Reinigung des Sinnes seyn kann das wird uns auch ausschlagen zur Erleuchtung und unsere Gebete Almosen werden kommen ins Andenken vor Gott. Diese Opfer der Liebe des Glaubens der Entsagung werden Gott wohlgefällig seyn und auch uns der göttliche Bote erscheinen welcher uns sagt, was wir thun sollen. Bald wird es der Engel seyn, der uns eine Erscheinung vom Himmel zu seyn scheint, bald der Mann im lichten Gewande, die Vorstellung der menschlichen Natur, die immer mehr die göttliche Gestalt annimmt, und wer dann gesehn hat und gehört – der folge dann treu, wie Cornelius und zeichne

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sich ein in die Liste der, denen aufgegangen ist die Fülle der Wahrheit und die darum aufgezeichnet sind in das Buch Gottes. Keiner werde ungeduldig die Fortschritte in der Heiligung zu suchen auf dem schlichten Wege des Glaubens, der treuen Übung alles dessen, wodurch wir uns aufschließen den Himmel; | so werden wir uns immer mehr nahen dem Glauben, der nicht mehr zu kämpfen hat mit ängstlichen Gebeten und Seufzern, der Sehnsucht, der nicht Dunkel und Unvollkommenheit zurückbleibt, der Liebe, der alles leicht wird. Das ist das Bild des christlichen Sinnes und der christlichen Vollkommenheit, welches sich unter Gottes Leitung und Hülfe sich entwikkelt aus jedem Herzen welches Sehnsucht fühlt nach dem Höhern und Beßern: In dem bleibt die göttliche Erfüllung nicht aus und der Herr erhört die Gebete, die so vor ihn gebracht werden. Amen.

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Am 2. September 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

11. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 11,15–17 Nachschrift; SAr 25, Bl. 47r–48v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 470–478 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 44v–49v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher am 2. Sept. 10.

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Es war ein weit verbreiteter Glaube unter den alten rohen Völkern, daß die höhern Mächte, unter denen alles stände, neidischer Natur wären, und daß um so mehr von ihnen zu besorgen sey, je mehr sie die Menschen zu begünstigen schienen. Daher führten die vom Glücke am meisten Erhobenen ihr Leben auch in der größten Furcht; sie fürchteten eben so bald zu stürzen als sie gestiegen waren. Reifere Einsicht welche mit dem Christenthum kam, zerstörte diesen Irrthum und lehrte in dem ewigen Wesen die ewige Güte und Liebe erkennen; aber m. Fr. wie wir auf der einen Seite auch noch so erleuchtet niemals die göttliche Natur ganz erkennen: so gibt es auf der andern Seite auch nichts, was sich auch die Menschen über sein Wesen und ihr Verhältniß zu demselben ausgedacht haben, worin nicht ein Grund der Wahrheit enthalten wäre, weil eben das allen mitgetheilte Bewußtsein von Gott es ist, welches alle ihre Meynung veranlaßt. So können wir nicht läugnen, daß es manches giebt in der Regierung der Welt, was jene Meynung bestätigt und uns viel Wahres darin zeigt; denn wir sehn und erkennen es mit Gewißheit; es gibt für jedes Volk, für jedes Geschlecht, ja und wir können noch tiefer hinabsteigen, nur ein gewisses Maaß des Guten, dessen sie scheinen empfänglich zu seyn, und wie Gott allen Menschen das Gefühl der Liebe eingegossen hat, welches sie antreibt, mit allen Eins zu werden: so sonderte und entfernte er auch die Menschen von einander durch Gefühle der Abneigung, die eben so tief wie jene in unserer Natur gegründet zu seyn scheinen. Daher die nicht seltene Erscheinung, daß oft in den liebevollsten Bestrebungen die Menschen irre werden, daß sie zweifeln, ob sie auch nicht angehn gegen das, was der Herr beschlossen und jenes Verbot, die Edelsteine des göttlichen Worts nicht denen vorzuwerfen, die nichts 26–1 Vgl. Mt 7,6

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damit zu beginnen wissen als sie in den Koth der Erde zu treten, stellt sich oft als ein inneres Hinderniß den edelsten Bemühungen entgegen. Aber weil die Mittheilung des wahren Guten der höchste Beruf des Menschen ist: so müssen wir vor allem darüber eine feste und sichere Überzeugung haben. Wo sollen wir sie suchen als in dem Buche welches die Geschichte enthält von der ersten Verbreitung des Christenthums durch die Apostel; da können wir sehn, nach welchen Gesetzen die vom Geiste Getriebenen gehandelt haben, und daraus auch für unser Thun einen Maßstab eröffnen. Act. 11, 15 seq.

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Der Apostel Petrus war genöthigt vor seinen Mitaposteln und Mitchristen, sich darüber zu vertheidigen, daß er durch Lehre von Christo auch die Heiden zugebracht hatte, von welchen jene glaubten, daß sie | zur Theilnahme an diesem Heil nicht berufen wären. Mit diesen Worten schloß er seine Vertheidigung; und diese war so überzeugend und bündig gewesen, daß sie schwiegen, Gott lobten und sprachen: also hat er auch den Heiden gegeben das Heil durch Christum. Wir finden also hier gegen einander gestellt auf der einen Seite den allen es redlich meinenden Menschen ins Herz gegebenen Trieb, das wahre Gute so weit zu verbreiten als möglich und auf der andern Seite jene Bedenklichkeiten welche hervorgehn aus einem andern uns einwohnenden Gefühle wie Gott die Menschen von einander gesondert hat. Beyde müssen berücksichtigt werden und den Menschen leiten, wenn er in seinem Streben gottgefällig handeln soll. Laßt uns, wie beydes zu vereinigen, und auf welche Weise wir besonders in der Mittheilung geistiger Gaben zu Werke gehn müssen, aus dieser Geschichte lernen. Wir werden darauf geführt in dieser Geschichte der Mittheilung des Guten zu unterscheiden Anfang und Vollendung, und auf beydes wollen wir jetzt unsre Aufmerksamkeit richten. Womit alle Mittheilung geistiger Gaben beginnen muß, das ist jene wohlthätige liebevolle Sehnsucht eines beßern Menschen, dasjenige, was ihm der Schatz seines Lebens ist, so weit er kann, mit milder Hand und lebendiger Kraft zu verbreiten. Diese Sehnsucht wird uns dargestellt auf eine bildliche Weise in dem wunderbaren Gesichte des Apostels, welches dem entscheidenden Schritte, den er auf seiner Laufbahn nun thun sollte unmittelbar voranging. Er erzählt: es habe ihn gehungert; da habe sich der Himmel geöffnet und ein Tuch sey herabgelassen angefüllt mit allerley reinen und unreinen Lebensmitteln etc. Dieser Stimme habe er den Sieg zuerkannt. So ist es überall. Wenn der Mensch erfüllt ist von dieser Sehnsucht, das Gute zu verbreiten; dann macht er keinen Unterschied zwischen Verwandten und Fremden, zwischen Nähe und Ferne, zwischen dem was ihm hochgeachtet ist, und dem was er gering schätzt; da scheint ihm auch das Gemeine und Geringe vom Himmel herabgelassen, daß er daran 14–16 Vgl. Apg 11,18

33–35 Vgl. Apg 10,10–12

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diesen heiligen Hunger sättige. Dann entstehn wohl jene aus den einander entgegengesezten Trieben und Gefühlen des Herzens entstehenden Bedenklichkeiten; aber die Stimme des Geistes muß darüber siegen in jedem, der ein lebendiges Werkzeug seyn soll zur Verbreitung alles Guten und Schönen unter den Menschen. Darum in wem nicht also dieß Verlangen alle andern Rücksichten überwiegt, in wem nicht das Gefühl, daß alle Menschen auf gleiche Weise bedürftig und empfänglich sind der Gnade des Herrn, alles überwiegt, der wird nicht viel ausrichten im Weinberge des Herrn; der wird ein schlechter und tadelnswerther Haushalter sein mit den Gaben, die ihm der Herr gab; aber dennoch soll diesen natürlichen Streit jeder in sich fühlen, denn Wahres ist auch darin. Aber es lehrt uns diese Erzählung, wohin wir uns mit der Sehnsucht zur Verbreitung und Mittheilung geistiger Güter zu wenden haben: Denn als zum 3. Mahle dem Apostel die Stimme zugerufen hatte: Was Gott gereinigt hat, das halte du nicht für gemein, siehe! da standen vor der Thür die Männer von Cesarea, die nach ihm fragten und ihn einluden dorthin zu gehn und das Geschäft der Mittheilung an offene Gemüther zu treiben und der Geist sprach zu ihm: er solle sich nicht weigern. Wohlan m. Fr. jeder der sich darstellt als ein Bedürftiger und Empfänglicher; jeder der anklopft an die Thür unsres Herzens, und von uns zu bekommen trachtet sey es nun Rath, Trost, Befestigung, Erleuchtung, der ist uns zugeschickt von dem Herrn und immer die Stimme des Herrn wird es seyn, die uns zuruft, ihm das Herz nicht zu verschließen; und es wäre ein irrdisches sündliches Wesen, welches gegen diese Regung etwas andres wollte geltend machen. So knüpfen sich an alle heilbringenden Verhältnisse | der Freundschaft und Liebe in diesem irrdischen Leben; es erfüllt das Gemüth eine Sehnsucht zu wirken und einen Gegenstand aufzusuchen dem er entweder einpflanzen könne das Gute und Herrliche, oder wenn es schon in ihm ist, neu zu beleben und weiter zu verbreiten; und in dem andern giebt sich zu erkennen ein Bedürfniß, oft nicht auf das Allgemeine gerichtet, sondern durch eine besondere Fügung hingeleitet auf einen bestimmten Gegenstand. So zieht Gott oft auf wunderbaren Wegen, die weit von einander entfernt sind, zu einander hin; so stiftet er die Vereinigung der Herzen, aus der nicht selten die herrlichsten Früchte hervorgehn, und wehe dem, der einer anderen Stimme Gehör giebt und geneigt ist dem zu gehorchen, was nur geneigt, ist die Menschen von einander zu entfernen. Der Geist Gottes ist es, der den Menschen willig und bereit macht, ohne Rücksicht auf Urtheile und Vorurtheile, auf Stimmen der Welt und was von ihr zu erwarten, im Vertrauen auf diesen Trieb des Herzens, im Vertrauen darauf, daß Gott selbst es ist, der diese Gegenstände ihm zuführt, dahin zu gehn, wohin er gerufen wird. Aber eine solche Vereinigung ist immer nur der Anfang der Verbreitung des Guten; vieles liegt noch dazwi8–10 Vgl. Mt 20, 1–16

13–18 Vgl. Apg 10,15–20

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schen, bis etwas Gedeihliches und Bleibendes fürs Leben gestiftet wird. Laßt uns zweitens sehn, was wir zu thun haben in Beziehung auf die Vollendung dieses Geschäftes. Hier in der Beschreibung des Textes war es vollendet. Als Petrus gekommen war nach Cesarea und nun redete von der Erlösung, die dem Menschengeschlechte bereitet war durch Christum da ergriff der Geist Gottes, der durch das Wort Gottes wirkt, die Gemüther, und sie ließen sich vernehmen durch dieselbige Regung, durch welche auch den Aposteln die erste belebende Kraft zur Festhaltung des Evangeliums und zur Verbreitung desselbigen geworden war. Anderwärts ging es oft ganz anders. Mit derselbigen Bereitwilligkeit oft auch mit allen Anzeichen derselbigen Gelingens gingen die Apostel auch andernwärts hin und hier schlossen sich die Gemüther auf und sie verlangte mehr zu hören von den Lehren; aber nach wenigen Versuchen offenbarte sich die innerste Unempfänglichkeit der Gemüther, und nicht selten waren die göttlichen Boten genöthigt, den Staub von den Füßen zu schütteln und sie wieder zu verlassen. So ist es auch jetzt noch und so überall. Manches beginnt der Mensch in treuem Sinn für die Verbreitung des Guten; aber das Gedeihen von oben fehlt, und soll er ein wirksames Werkzeug des Herrn seyn, soll er nicht die ihm verliehenen himmlischen Kräfte in vergeblichen Versuchen erschöpfen; so muß er wissen, wie er freywillig und nur durch einen innern Entschluß getrieben begonnen hat, auch aufzuhören zur rechten Zeit und sich hinweg zu wenden von den Unempfänglichen zu andern. Die Vollendung aber, die einem jeden solchen Unternehmen werden muß, durch die allein das Begonnene ein Bleibendes werden kann ist nur da, wenn es nicht bey einzelnen Ausströmungen der Empfänglichkeit bleibt, sondern ein fester Bund der gegenseitigen Mittheilung begründet wird; wenn sich beyde Theile zu solchen Rechten Pflichten vereinigen, wie es damals geschah, daß die, welche durch das Wasserbad aufgenommen waren in die Gemeinde des Herrn nun auch ein Recht auf alle die zur Mittheilung und Verbreitung des Evangeliums erforderlichen Gaben erhielten. Nur dadurch daß der innere Zug im Gemüthe sich zu einer äußern festgegründeten Gemeinschaft gestaltet wird etwas Vollendetes, und alles was vorher ohne diese geschah ist noch nichts Bleibendes und Gedeihliches. – Aber darnach laßt uns fragen, was war es denn für ein Zeichen woraus die Vollendung hervorleuchtete. Darüber belehrt er uns in dem, womit er seine Rede schließt: als ich anfing zu reden, empfingen sie den heiligen Geist gleich wie wir am ersten Tage – da dachte ich – wer bin ich, daß ich mich dem Herrn widersetze. Der innere heilige Trieb in dem Menschen, alles was ihm das größte und herrlichste ist, weiter zu verbreiten, führt ihn nicht selten auch zu solchen, welche der hohen Gaben unwürdig sind, unwürdig derselben weil, unempfänglich für dieselben. Wehe dann dem wohlmeinenden Gemüthe: wenn es zu früh Liebe gewon14–15 Vgl. Apg 13,51

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nen hat, welche sich nicht mehr aufgebe, wenn es sich übereilt Bande zu stiften, die sich dann nicht mehr lösen lassen. Wir wissen nicht und können es nicht wissen, wenn wir treu arbeiten, wohin uns der Herr führen wird, und ob er beschlossen hat, unsern Bemühungen Gedeihen zu geben. Wir dürfen nie das Werk, das wir erblicken, für unser Werk halten, und trotzen gegen die verborgene Weisheit des Herrn, denn für den falschen Gebrauch werden wir eben so verantwortlich seyn als für den Nichtgebrauch der uns verliehenen Gaben. Darum m. Fr. jedes | treue und fromme Gemüth wartet auf ein Zeichen von oben, und ehe sich nicht der Geist offenbaret wie früher unter den Aposteln, wird er kein Band knüpfen, welches ihn mit seiner Thätigkeit an einen Umkreis fesselt, in welchen er nicht gebannt sein möchte. Es offenbart sich der Wille des Höchsten auch in der Unempfänglichkeit der Menschen, auf die wir wirken möchten, und es giebt Abstufungen, die man vergebens sucht zu überschreiten und darum waren die Apostel der Meynung: es gäbe keinen unmittelbaren Übergang aus dem Heidenthum ins Christenthum, sondern die Menschen müßten erst hindurch geführt werden durch die unvollkommene Religion, der sie selbst angehört hatten. Aber ihnen offenbarte in diesem erzählten Falle der Geist Gottes, daß ihre Besorgniß irrdisch und unnöthig gewesen; denn wo der Geist sich also offenbarte und das Gemüth aufregte – da mußte Empfänglichkeit seyn. Freylich geht oft die gute Meynung irriger Wege; nicht selten werden die Menschen, je mehr sie mit dem Guten und Herrlichen überfüllt werden, nur um desto verstockter und unbereitwilliger überzugehn in einen beßern Zustand. Darum laßt uns überall bey unserm Bestreben, die Menschen zu befreyen von äußern Beschränkungen, von Irrthümern Vorurtheilen von den sinnlichen Gewöhnungen und Neigungen, welche verhindern, daß das Leben aus Gott nicht hindurchdringen kann zu ihrem Leben, laßt uns bey allen diesen Bemühungen, ehe wir etwas stiften als bleibend, sehen auf die Offenbarungen des Geistes. Zeigt es sich nicht, daß die Menschen das dargebotene Gute lebendig in sich aufnehmen, zeigen sich nicht die Regungen des Ehrgefühls der Bruderliebe, die uns (früher) geleitet haben, dann laßt uns bey uns selbst fest setzen, daß sie es nicht sind, denen Gott bestimmt hat durch uns das Gute zu zuführen, und laßt uns für unsre Wirksamkeit einen andern Kreis aufsuchen. Dann laßt uns, weil die Zeichen von Gott ausbleiben, ehren die Absonderungen der Menschen, die der Herr zwischen sie gesetzt hat und die wir vergebens streben würden zu zerreißen. Das ist die bescheidene Treue, welche der lebendigen regsamen Liebe zur Seite gehen muß, das ist die weise Vorsicht, welche dem kindlichen Triebe beystehn muß, wenn Gutes gedeihen soll, das die Winke der Vorsehung, die wir ohne zu freveln nicht übersehn dürfen, und die wir anwenden müssen, wenn wir nicht vergebens unsre Kräfte erschöpfen wollen. Aber wer so zu Werke geht mit reger warmer Liebe und weiser Besonnenheit, dem wird es nicht fehlen, daß er nicht, sey es auch nach mehreren vergeblichen Ver-

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suchen nach dem Maßstabe seiner Stelle im Großen oder Kleinen irgend etwas Gutes stiften sollte, was fest und beharrlich dasteht, und welches sich anschließt an das allgemeine Band, aus welchem alles Vortreffliche hervorgeht, und in welches sich hineinfügen muß alles, was wir stiften mögen. Und keinem werden dazu die Aufforderungen fehlen, noch die Leitung für seine Thätigkeit, wenn er nur hört auf die Stimme von oben, auf welche er allein sein festes Vertrauen begründen kann. Dieß also, dieß ist die heilige Rede den Christen von Anfang gewesen: die Liebe sey mit Weisheit gepaart und das fromme Bestreben mit Vorsicht, und die Hoffnung die so leicht in Ungeduld und Begierde ausartet, werde gezügelt durch das Gefühl, daß kein Gedeihen seyn kann als nur da, wo der Herr seinen Seegen giebt, und daß wir uns nicht frevelnd erheben dürfen über die Absichten des Herrn, sondern zusehn müssen, wo wir seine Hand erblicken und dahin gehn, wohin er uns führt.

Am 30. September 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

15. Sonntag nach Trinitatis (Erntedank), 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 6,7–8 (Anlehnung an die Festtagsperikope) a. Autograph Schleiermachers; SM-DLA 58.368, Bl. 1r–1v Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 49r–52v; Matthisson Texteditionen: SW II/7, 1836, S. 479–490 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 50r–65r; Matthisson Keine

a. Autograph Schleiermachers 1r

Erndtefest. 1810 Text. Gal 6, 7 u 8. Gegensaz tritt überall hervor, auch im gemeinschaftlichen. Besonders hier. Grund und Symbol alles irdischen Verkehrs. Auch in der Art des Danks. Dieser Gegensaz hier selbst in Bitten die ewige Ordnung. In sich aufnehmen und aus sich heraus treten = Saat und Erndte. Hierauf sehn in der besonderen Beziehung des Festes. Wer verordnen will zu danken, muß jenes Bild haben. Thema. Die wesentliche Verschiedenheit in dem Betreiben dieses Geschäftes. I. Die Verschiedenheit des Sinnes 1. fleischlich a. genußsüchtig b. habsüchtig c. träge. 2. geistlich a. als Gottes Fortsezung b. mit Liebe zur Natur c. als Vertheiler II. Die Verschiedenheit des Erfolgs. – Anscheinend einerlei. Ein Grund zur Emsigkeit und Grund zur Lässigkeit in beiden. – Ist aber anders in Absicht 1. der Geistesbildung (denn auch hier Fundament) a. Noth und Begierde sollen alles erfunden haben. – Aber das so erfundene

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(1) eignet Niemandem (2) geht in Stumpfsinn unter (3) die weitesten kommen zur Verachtung [die] gemeinen zum äußeren Buchstaben | b. Freude an Gott erfindet alles (1) beständigen Sinn (2) die gemeinsten zu behüten [das] wahre zu verkündigen die übrigen Geistesbildungen aus den Folgen 2. Die geselligen Verhältnisse a. das Fleisch (1) innerer Krieg Unterdrückung. (2) äußerer Verrath b. Geist Schluß. Wir sind entfernt aber 1. es findet Aenlichkeit Statt 2. Es findet Einfluß statt.

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Predigt am Erndtedankfest von Schleiermacher den 30. Sept. 10. (nach seiner Rückkehr von Dresden.) Galat. 6, 7.8. (Singakademie.) Meine andächtigen Freunde. Wer unter uns nicht ganz unbekannt ist mit dem Sprachgebrauch der heiligen Schrift, dem leuchtet es ein, wie in diesen Textesworten die Rede ist von jenem großen Gegensatze in dem Sinne und Thun der Menschen, von dem was auf der einen Seite mißbilligend und erniedrigend die Schrift Fleisch nennt auf der andern lobend und erhebend Geist. Dieser Gegensatz offenbart sich im Leben der Menschen überall, so daß wir bey denen, die dem Fleische leben, vieles gewahr werden, was in dem Leben der Geistigen nicht vorkommt, und daß auch diese vieles offenbaren in ihrem Thun, wozu jene fleischlich Gesinnten unfähig sind. Aber es giebt ein gemeinschaftliches Gebiet von Beschäftigungen und Handlungen, deren die Einen so wenig wie die Andern ganz entrathen können, und da nun offenbart sich der Gegensatz ihres Innern in der Art, wie sie, was ihnen obliegt, verrichten, in den innern Bewegungen und Trieben, welche ihr äußeres Thun leiten. Dahin gehört jenes segensvolle Geschäft des Menschen in der Bearbeitung der Erde, über dessen ungestörten Fortgang über dessen heilsame Früchte, mit deren Gewinnung und Einsammlung eine große ehrwürdige Klasse sich beschäftigt, wir uns freuen sollen vor dem Herrn

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und ihnen danken an diesem Tage mit allen unsern Mitbrüdern. Ja meine Fr. die Verschiedenheit, mit welcher dieses Geschäft behandelt und betrachtet wird, ist so groß, daß sie sich auch in der Art, wie wir Gott dafür danken, zu erkennen giebt. Denn wenn dieß an diesem Tage des allgemeinen feyerlichen Dankfestes auf solche Weise geschieht, daß den Menschen dabey Zahlen und Berechnungen von großem oder geringem Gewinn und Verlust vor der Seele schweben, daß das, was ihr Gemüth beschäftigt, die Aussicht ist auf reichen Gewinn und Genuß, oder die Bemühung alle störenden Sorgen zu entfernen, wer erkennt nicht darin den fleischlichen Sinn. Wo es aber so geschieht, daß wir anbeten die weisen Ordnungen des Höchsten, daß wir uns nicht irren lassen weder durch verheerenden Krieg oder durch verzehrendes Feuer durch alle unzählbaren immer drohenden Unfälle, auch wenn sie uns näher betroffen haben, wer erkennt da nicht Geist. Wohlan m. Fr. wollen wir Gott danken, daß es geschehe mit reinem Herzen, daß wir uns bewußt seyn mögen würdig zu seyn dessen, wofür wir danken, daß wir uns fragen ob in unserm Antheil an diesem Geschäfte (und mittelbar oder unmittelbar nehmen alle Theil daran) sich offenbart jener wohlgefällige göttliche Geist, welcher siegen muß über alles, was fleischlich ist. Und dieser Gegensatz zwischen Fleisch und Geist wird uns deutlich gemacht | an einem Bilde welches aus dem Gebiete, von dem wir handeln, ganz eigenthümlich hergenommen ist. Was der Mensch säet, das wird er erndten. Diese ewige Ordnung Gottes, daß Gleiches nur Gleiches erzeugt, das stille in sich zurückgehen der Kraft, wenn es heraustritt, auch nichts offenbaren kann als ihr inneres Wesen, ihre ewige Natur, dieses Gesetz, es gilt auch von den Handlungen und Thun der Menschen. Wer in seinem Gemüthe nichts aufnehmen kann, als was dem Fleische angehört, der kann auch nur erndten das Verwesliche, und ewiges Leben kann nur dem hervorgehn, der auf den Geist gesäet hat, der die innere Kraft, den göttlichen Funken des Guten und Wahren in sich gepflegt und in diesem gehandelt hat. – So laßt uns nachdenken über die Verschiedenheit der Art, wie die Arbeit des Menschen an der Erde von ihm verrichtet wird. Laßt uns sehen 1. auf die Verschiedenheit des Sinnes und 2. auf die Verschiedenheit des Erfolgs. 1. Wenn wir Acht geben auf den Sinn, in welchem dieser so wichtige Theil der menschlichen Bestimmung verrichtet wird, so werden wir leicht wieder finden diesen Gegensatz zwischen Geist und Fleisch. Wer den Boden der Erde baut und sich in seinem Rechte an demselbigen zu behaupten weiß, sey es durch die Heiligkeit der Ordnungen und Gesetze und durch die freye Kraft der sie schüzenden Menschen, oder sey es durch die Stärke seines Armes, der fühlt sich als Herr und wird es inne, daß alles abhängt von ihm. Wenn nun der Mensch sein Geschäft an der Erde nur in dieser 38 Stärke] Stärken

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Beziehung verrichtet, wenn er alle seine Kräfte aufbietet, um sich immer mehr in seinem Rechte und Besitz zu erhalten zu befestigen, seine Kräfte nach allen Seiten hin zu vermehren, das Gebiet seiner Macht weiter auszubreiten um in allen Verhältnissen des Lebens nur seine wohlbegründete Obergewalt zu erblicken, das ist der fleischliche Sinn. Die Arbeit des Menschen an der Erde ist die erste Quelle aller Ruhe, Ordnung, Sicherheit und alles ungestörten Genusses. Ehe der Mensch auf diese Stufe gestiegen ist, ist er eine Beute des Augenblikes; er hat für die Befriedigung seiner Bedürfnisse keine Ruhe und Sicherheit und wird umhergeworfen zwischen einem leichten ohne Arbeit und Mühe ihm zuströmenden Überfluß und zwischen einem noch öfter wiederkehrenden Mangel, und Stillung der Noth auf der einen Seite und der Genuß, die Lust auf der andern sind so innig verbunden, daß wir oft nicht unterscheiden können, wo eines aus dem andern entspringt. Wenn der Mensch nun in diesem Sinne sein Geschäft an der Erde verrichtet, daß er nur sucht die nähere oder entferntere Noth aus dem Gebiete seines äußern Daseyns zu verbannen; nur dahin trachtet, den Genuß zu vermehren zu vervielfältigen und oft zu wiederholen und darauf alle seine Kräfte und Fähigkeiten wendet, das ist der fleischliche Sinn. | Wenn auf der andern Seite der Mensch aber in diesem Bewußtseyn das gefunden zu haben, woraus die Ruhe und Sicherheit seines Daseyns entspringen kann, sich nun auch zur Ruhe begiebt, und alles Gewonnene nur verwendet zur Stillung seiner Begierden das ist ebenfalls der fleischliche Sinn. Aber wenn der Mensch in eben dem Maße wie er erkennt, was er durch die innere Kraft auszurichten vermöge, in demselbigen Maße auch dieß erkennt, daß er vom Herrn gesetzt ist zum Herrn der Erde, daß seine thätige Kraft gleichsam die Fortsetzung seyn soll von dem schaffenden und lebendigmachenden Worte Gottes; wenn er in diesem Sinne sein Geschäft verrichtet, daß aus allem was er thut hervorleuchtet die Gottähnlichkeit seines Geistes, das ist jener geistige Sinn. Wenn der Mensch in seinem Geschäfte an der Erde nicht allein sein irrdisches und geistiges Wohlergehn im Auge hat, und alles nur als Mittel dazu betrachtet; sondern wenn er fühlt, daß er wandelt und wirkt unter dem Herrn wenn vermittelst seiner Beschäftigung mit der Natur entsteht eine innige Liebe zur Natur, wenn er, was ihm nur anvertrauet ist, auch verschönern will, das ist Geist. Wenn endlich der Mensch, dem dieses Geschäft aufgegeben ist, fühlt, daß er damit nicht alles schafft, daß diese Herrschaft über die Erde weit mehr in sich begreift, daß er an die Quelle gesetzt ist dessen, was die entferntere Beschäftigung der Menschen mehr oder weniger erzeugen und erhalten kann, dessen, was viele und mannichfaltige Kräfte erhält und in Bewegung setzt, und er sich also nur ansieht als den ersten Vertheiler der göttlichen Gaben, als Bewahrer des Gutes, auf welchen alle Bande des Rechtes, der Ordnung und Gesetze sich gründet und eben dadurch seinem Berufe Ehre macht vor Gott und den Menschen, das ist der Geist. Diese Verschiedenheit

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des Sinnes wird keinem unter uns entgehn, und jeder [der] sie erkennt muß es auch fühlen, daß eben sie der Maßstab ist für die Achtung und Liebe gegen die einzelnen oder größeren Verbindungen der Menschen in Beziehung auf diesen Beruf. Aber wenn wir darauf anwenden wollen jene Worte des Textes: Was der Mensch säet, das wird er erndten, was doch auf keine andere Weise geschehen könnte als wenn es deutlich würde, daß von dieser Verschiedenheit des Sinnes auch abhänge die Verschiedenheit des Erfolges, daß eben die Erndte, das Gedeihen dieses Theils des menschlichen Berufs abhängt von dem Geiste, wie er getrieben und erfüllt wird: so werden sich mancherley Zweifel und Bedenklichkeiten erheben. Man wird sagen; wie weit auch der Mensch vorrückt in der Herrschaft und Bildung | der Erde: so hängt doch der größere und beßre Gewinn ihrer Erzeugnisse nicht ab von der Gesinnung und dem Geiste, sondern von dem Verstande und seiner Thätigkeit. Beyde, sagt man, die geistige und fleischliche Gesinnung scheinen auf der einen Seite das Gedeihen zu fördern auf der andern zu hindern; denn der Eigennutz und die Herrschsucht sind ein mächtiger Sporn und werden den Menschen wohl weiter bringen; Trägheit dagegen hält ihn zurück. Und die Begeisterung des Menschen auf der andern Seite, dieser Gesichtspunkt, vermöge dessen er sich ansieht als Ebenbild Gottes, wird ihn auch anfeuern zur Thätigkeit; dagegen wird eben die ruhige Beschaulichkeit, wozu sie so leicht hinführt, die Menschen nicht weniger zurückhalten als Trägheit und stumpfer Müßiggang. 2. Aber so ist es nicht m. Fr. sondern leicht wird ein ruhiges Nachdenken uns lehren, daß die Verschiedenheit des Erfolges gerade dieselbige ist, wie die Verschiedenheit des Sinnes. Es kommt dabey vorzüglich auf zweyerley an, worin jener wichtige und große Erfolg begründet ist: nämlich auf die Ausbildung menschlicher Kräfte und auf die geselligen Verhältnisse der Menschen, worin allein alles und auch dieses Geschäft an der Erde nur gedeihen kann. Hier laßt uns sehen, wie die Verschiedenheit des Sinnes auch in dieser Thätigkeit unterliegt und nothwendig wirkt. Zuerst, wie wirkt der fleischliche Sinn und wie der geistige auf die Ausbildung der menschlichen Kräfte? Es ist eine allgemeine Rede, daß die Noth und Begierde alles erfunden haben, daß diese die Quellen wären aller Geschicklichkeiten, aller Erkenntniß und Kunst. Daß nur durch sie der Mensch aus seinem Schlummer geweckt werde, und ohne diese Antriebe alles andere würde vergeblich gewesen seyn. Es mag die Erfahrung auf der einen Seite dieser Rede Beyfall geben. Laßt uns fragen, wie es doch weiter ergeht mit der Ausbildung der durch Noth und Begierde erweckten Kräfte; und der dadurch hervorgebrachten Thätigkeit, an welcher kein höherer herrlicher Sinn Antheil hat. Zuerst kann es uns nicht entgehn, daß das, was der fleischlich gesinnte Mensch auf jene Weise erlangt, er sich doch nicht anzueignen weiß. Er liebt

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es nicht, hat es nicht um sein selbst willen; sondern es ist ihm nur Mittel, sich das zu verschaffen und zu sichern, was seiner sinnlichen Natur so nothwendig ist. Daher wenn es auch wahr ist, was der Erlöser freylich in einem andern aber doch verwandten Sinn sagt, daß die Kinder der Finsterniß in ihrer | Art klüger sind als die Kinder des Lichts, laßt uns sehn, was es ist mit aller dieser Klugheit, mit allem Verstande, und wir werden finden, daß die gewöhnlichen gemeinen Seelen nichts haben als den äußern Buchstaben, das was am unmittelbarsten mit dem Geschäfte der Stillung der Noth und Begierde zu thun hat; aber das innere Wesen, die allgemeine Natur der Dinge, das ist es, was ihnen entgeht und kann man sagen, daß dann der Geist wahrhaft gebildet werde; und die sich am meisten auszeichnen, die es am weitesten bringen in diesen irrdischen Klugheiten, wohin gelangen sie am Ende? Fragt die Geschichte und ihr werdet nichts vernehmen, als daß die Klügsten und Weisesten am Ende mit Überdruß und Geringschätzung aller ihrer Weisheit gezweifelt haben, ob wohl überhaupt etwas an dieser Klugheit und Weisheit sey, ob der Mensch nicht beßer thäte sich ihrer zu enthalten, und aus diesem Zustande einer quelenden und mühseligen Bildung und Aufklärung zurück kehrte in den Zustand der Rohheit. Denn die Rechnung der Noth und Begierde wird verwickelt, die äußern Folgen der irrdischen Weisheit der menschlichen Kräfte werden zweideutiger; weil sie wirken sollen wie der Mensch gebietet, und nicht wie ihre innere Natur. Daher hat diese Bildung den Keim des Verderbens gleich in sich, und wo sie uns am herrlichsten entgegen strahlt in der Vergangenheit in der Geschichte oder in der Gegenwart was wissen wir von jener, was ahnen wir von dieser, als daß alles, was herrlich schien und groß untergeht entweder in üppiger Weichlichkeit oder in trägem Stumpfsinn. Und so vergeht alle Herrlichkeit der Welt so kann der, wer aufs Fleisch säet aufs Vergängliche und Irrdische nichts erndten als Vergängliches. Aber meine Freunde der Geist, wie wirkt er auf die Bildung der menschlichen Kräfte in diesem Geschäfte? Aus jener ruhigen stillen Liebe zur Natur zu den Werken Gottes da entstehn jene herrlichen Ahnungen von der göttlichen Weisheit von dem Zusammenwirken aller Dinge, jenes Bestreben, von allem das Wesen des göttlichen Geistes, und in allem dessen Wiederschein zu erkennen und das ist die Quelle, woraus jede wahre Weisheit und jeder tiefe Verstand hervorgegangen ist. Daraus haben sich entwickelt alle tiefern Erkenntnisse und Einsichten | und eben das Bestreben, da zu stehn als ein Aushauch Gottes als der, der sein Werk fortsetzen soll; daraus entsteht ein Sinn für das Rechte und Gute Nützliche und Schöne welches nie zerstört werden kann und daraus hat sich denn jede Kunst entwickelt und jede Geschicklich28 als] alles 4–5 Vgl. Lk 16,8

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keit, welche dem menschlichen Geiste Ehre macht und seine Macht begründet. – Zweitens wie wirkt der fleischliche Sinn wie der geistige auf die geselligen Verhältnisse des Menschen, denn auch darauf führt uns sein Geschäft an der Erde. Niemand kann es läugnen daß erst aus ihnen alle kleinern und größern Verbindungen hervorgegangen sind; und ehe der Mensch dazu gelangt, lebt er in dem Zustande der Rohheit und Zerstreuung; auch die natürlichen heiligen Bande sind loser geknüpft und leichter getrennt; erst hieraus entwickelt sich die Verschiedenheit der Stände, daraus geht hervor jede Vereinigung der Kräfte um Sicherheit und Ruhe, durch die alles nur gedeihen kann, zu erhalten; es ist der Ursprung aller Bande des Rechts und der Ordnung, der Verhältnisse zwischen Obrigkeit und Unterthanen. Ja, auch die Noth und Begierde führt den Menschen allmählig auf diese Stufe des bürgerlichen Vereins. Aber wie denkt er denn? Eben wo Eigennutz, Genußliebe, Herrschsucht die ersten Quellen sind und die ersten Triebfedern von allen seinen Handlungen; da erscheinen ihm auch jene Bande nur als ein nothwendiges Übel, und all sein Bestreben ist dahin gerichtet, ihnen zu entgehen, wo sie seine Herrschsucht mäßigen, wo sie seine Genußliebe seinen Eigennutz von ihm ab auf seine Brüder leiten; daher denn unter allen Anordnungen der Menschen mittelbar oder unmittelbar ein beständiger innerer Krieg eine Zwietracht, die nur durch einen Schein der Liebe des Wohlwollens übertüncht bey jeder Gelegenheit auszubrechen droht. Ja wenn dann auch Noth und Begierde den Menschen antreiben, sich ein Vaterland zu bilden, ein höchstes Ansehn anzuerkennen und Gesetzen zu huldigen, wenn er auch einsieht, wie nothwendig das ist, und wie wenig jede Entbehrung und Aufopferung in Anschlag kommen darf gegen den großen Nutzen, der aus diesem Bande hervorgeht – wenn aber dann das Vaterland in Noth und Gefahr kommt, wenn Eigennutz, Herrschsucht und was damit zusammenhängt, ihm vorspiegeln, daß es beßer gethan ist, sich selbst zu retten als an dem Ganzen zu halten; wenn ihm das Gefühl vergeht, daß er nur durch dieses Halten am Ganzen seine Hülfe und eigene Rettung findet, was anders als feiger Verrath als jene Frechheit womit das allgemeine Wohl preiß gegeben wird, und die in den Tagen des Unglücks | so kühn ihr Haupt erhebt etc.? Aber wie anders der Geist, jener höhere himmlische Sinn, der das Geschäft des Menschen an der Erde ansieht als das Werk Gottes. Eben weil es so klar ist, daß der Mensch in diesem Geschäfte den Herrn der Erde fühlen muß das Ebenbild Gottes, welches allen verliehen ist, was kann anders aus diesem Bestreben entstehn als die Gegensätze zwischen Befehlen und Gehorchen; alle Theil nehmen zu lassen an dem Gefühle und an dessen segensreichen Folgen; und das ist der Friede, das die Liebe worauf die hülfreiche Unterstützung aller Stände beruht, und wenn dann in diesem Bestreben und in diesem Gefühle ein Vertheiler der göttlichen Gaben zu seyn, sich immer mehr entwickelt hat das allgemeine Band, welches uns alle umschlingt; ja wenn auf diesem Wege der Mensch dahin gekommen ist, ein

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Vaterland zu haben, einem heiligen Obern zu gehorchen; dann ist ihm dieß ein Gut, von welchem er nicht läßt, ein Kleinod das er nicht verlassen wird nicht in der Noth oder aus Begierde nach Genuß, die ihn ja nicht beherrschen. Daraus entsteht dann jene Treue, welche sich selbst immer nur als Mittel betrachten läßt, das Ewige aber und Ganze als Zweck; das ist die Treue, die den Menschen festkettet an Ordnung an Vaterland und Gesetz; sie ist die wieder erbaut, wenn zerstört war; sie die nicht abläßt zu geben wo es noth thut, die auffordert zum Muth und zur Tapferkeit. So nur hängt der Mensch mit unerschütterlicher Liebe an dem mütterlichen Boden; so erblickt er nicht in diesen wohlthätigen Banden die Wirkung der Begierde und Noth; sondern die Quelle alles Guten und Heiligen. – Meine Freunde die Früchte sind eingebracht, und der Herr hat uns gesegnet. Laßt uns einen Blick werfen, auf die zusammengesetzte Thätigkeit des Menschen, sie brachte Begriffe in dem, was sie nur mußte beginnen, und bildet den Unterschied, ob er nur zusammenschaut , um in Ruhe zu genießen, ob er es treibt wie die wilden Raubthiere die nur da zu seyn scheinen, um die überflüssigen Kräfte der Natur zu verzehren, oder ob ers treibt wie jene trägen Thiere, die die Natur mit einem kräftigen Schlaf begabt hat, um was sie im Sommer gesammelt im Winter in trägem Schlucken zu verzehren, oder ob er da steht als Herr der sichtbaren Schöpfung, und ob er auf sein Fleisch säet oder auf den Geist. – Laßt uns nicht glauben, als zieme sich diese Betrachtung nicht für uns, die wir fern von dem unmittelbaren Geschäfte der Erde eingeschlossen wohnen in Mauern und freywohl damit zusammenhängen; aber doch noch etwas andres zu treiben scheinen. Denn m. Fr. das eine wäre so wenig gegründet als das andere. Alle unsre Gewerbe und Geschäfte und Verrichtungen beschäftigen sich mehr oder weniger mit den Erzeugnissen der Erde, ruhen mittelbarer oder unmittelbarer auf dem einen großen Geschäfte das einer großen zahlreichen Klasse der Menschen ausschließlich angehört. | Aber leicht wuchert auch mit dieser Bearbeitung des Bodens das Böse auf, und alle Leidenschaften und Begierden, welche die Ruhe stören, sind sie erst in denen entstanden, welche die Erde bauen – sie verbreiten sich leicht und durchdringen dann auch bald alle übrigen Stände, und die verderbliche Erndte des Fleisches wird nicht fern seyn; und wenn nun der fleischliche Sinn es ist, der dieß Verderben bringt; so ist es allein die Richtung des Gemüths auf das Ewige, welches die Grundlage alles bürgerlichen Heils begründen kann; und wo entwickeln sich die Anstalten, die unmittelbar auf den Menschen wirken, wo haben sie ihren Sitz als in dem Mittelpunkt des Landes, da wo die Menschen in großen Massen sich versammelt haben, um [durch] die Gemeinschaft der Kräfte die Zwecke des Lebens zu erreichen. Daher fühlen wir, daß [es] Noth thut, den fleischlichen Sinn von uns zu verbannen und auf den Geist [zu] säen. Wohlan wir sind 40 daß] das

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es, von denen das Gute und Beßre ausgehn muß; laßt uns jeder das seine thun, Leben erwecken, den Geist erleuchten und damit die große Masse durchdringen; laßt uns anerkennen die weisen Ordnungen der Vorsehung, welche wollte, daß in allen Menschen, auch in dieser großen Klasse der Geist belebt der Sinn fürs Gute und Wahre und Schöne gewekt werde und eben dadurch unsre Brüder dem jetzigen Elende entreissen. Dadurch sichern wir uns durch die Saat auf den Geist, auch eine herrliche Erndte und ein geistiges ewiges Leben. Wohlan; wollen wir dem Herrn danken, so geschehe es, innige Liebe vereinige uns mit allen unsern Brüdern. Laßt uns gern ihnen, aus deren Hand wir zunächst irrdische Gaben empfangen, mittheilen geistige Gaben, Freyheit, Wahrheit, Bruderliebe und Erleuchtung und Erweckung des Geistes. Sonst – was würden wir andres seyn als die unnützeste Last der Erde, was gegründeter als die Klage, daß die Städte nur da wären das Mark des Landes auszusaugen und in üppiger Schwelgerey zu verprassen, was der Schweiß der ländlichen Bewohner der Erde abgewonnen hat, daß sie es nicht sind von welchen Leben und Thätigkeit ausgeht. O m. Fr. es muß noch im frischen Andenken schweben, zu welcher fürchterlichen Zerrüttung aller heilsamen bürgerlichen Bande diese Klage Ursache geworden ist. Es ist unmöglich an diesem Tage andre als solche Aufforderungen ergehen zu lassen an alle, welche Theil nehmen wollen an diesem Feste; und es soll ein Fest seyn allgemeiner Freude und Vereinigung der Gemüther, und so wie wir fühlen, daß wir von jener Klasse die zeitlichen Gaben empfangen; so sollen wir geistiger Weise auf sie zurückwirken, und dadurch unsern Dank offenbaren gegen den Höchsten, daß wir sie zu ihm erheben um alle gemeinschaftlicher Seeligkeit theilhaftig zu seyn durch seine Gnade. Amen.

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Am 7. Oktober 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

16. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 13,6–11 Nachschrift; SAr 25, Bl. 53r–56v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 491–499 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 66r–71v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Nachmittagspredigt von Schleiermacher den 7. Oct. 10.

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Nicht leicht ist unter allen Lehren des Christenthums eine mehr mannichfaltigen Mißverständnissen und Mißdeutungen ausgesetzt gewesen, als die welche Sanftmuth und Friedfertigkeit empfiehlt, welche uns lehren soll, alles was unser Mißvergnügen erwekt, Gott anheim zu stellen. Nicht nur haben von jeher die feigherzigen und trägen Gemüther dieselbe zum Vorwande gebraucht, um ihren Mangel an Eifer und Kraft zu beschönigen; sondern auch gut gesinnte und es redlich meinende Gemüther finden doch nicht selten darin eine Beschränkung für das, wozu sonst ihr Eifer fürs Gute sie antreibt. Dieß ist gewiß sehr richtig; aber um so nothwendiger auch unter den Vorschriften und Beyspielen die wir in der heiligen Schrift finden auch das heraus zu heben, was ein entgegengeseztes Bestreben an den Tag legt, damit, wenn wir des Zügels bedürfen für das in uns aufwallende Leidenschaftliche, auf der andern Seite wir auch des Spornes nicht entbehren, der uns dem Guten entgegen treibt, von welchem Schwäche und Trägheit so leicht zurückhält. Einer solchen Betrachtung sey diese Stunde der Andacht gewidmet. Tex t. Apost. 13, 6–11.

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Meine Fr. was hier der Apostel gethan hat, das ist gewiß ein Beyspiel uns allen gegeben, wie überall die Männer vom Geiste Gottes getrieben, uns nicht nur Worte der Wahrheit lehren, sondern auch vorleuchten durch ihr Leben, und es ist nur eine niedrigere weniger zum Guten aufstrebende Gesinnung, welche die Menschen hat veranlassen können zu glauben, daß es einen andren Maßstab des Guten für jene gegeben habe, als für uns. Denn dessen dürfen wir wohl alle als Christen uns rühmen daß wir ihre Nachfolger sind nur vielleicht auf eine andere, vielleicht auf eine beschränk3–4 Vgl. Mt 5,3–10

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tere Weise; aber gesetzt zu demselbigen Werke, verpflichtet auf denselbigen Glauben aber auch berechtigt zu allem, von dem wir sehn daß sie es kraft ihres Amtes durften. Laßt uns reden von dem christlichen Strafrecht, welches der Apostel in den vorgelesenen Worten auf eine so ausgezeichnete Weise übte. | Wir wollen lernen 1. in welchen Fällen wir es üben sollen und dürfen und 2. auf welche Weise. 1. In welchen Fällen dürfen wir es uns herausnehmen nach dem Vorgange unsers Apostels Übles zu verhängen über unsere Brüder. Zuerst, denn das liegt deutlich in diesem Falle, da, wo zu eigennützigen und verderbten Absichten dem Wahren und Guten widerstanden wird. Vielfältig hatten der Apostel und seine ersten Nachfolger in der Ausbreitung des Christenthums es mit solchen zu thun, welche der Wahrheit entgegenstrebten, in welchen das Evangelium keinen Eingang fand oder die lange alles das entgegen sezten, was ihre verderbte Denkungsart, ihre falschen Ansichten und schiefe Richtung ihres Herzens ihnen eingab. Da wurde denn gestritten mit Liebe, mit Geduld, mit Ernst und Nachdruck, je nachdem es die Menschen und Umstände erforderten, aber das äußerste was die Apostel thaten, das war daß sie den Staub von ihren Füßen schüttelten und ihr Blut über die Verstockten riefen, und nun zu denen sich wendeten, welche ursprünglich die geringern Ansprüche an das Wort des Heils zu haben schienen. Eben so verhalten sie sich bey dem Widerstande, der nicht in reinen beßern Einsichten, sondern im Herzen seinen Grund hatte, aber bey dem sich die Widerstehenden nichts Böses bewußt seyn konnten. Hier aber sehn wir den Apostel auf eine entgegengesezte Weise handeln; aber freylich auch in einem andern Falle. Der hier sich widersetzte, war der Liebling eines angesehnen Gewalt habenden Mannes und aus allem müssen wir schließen, daß er durch geheime Künste eben diesen Einfluß ursprünglich erlangt hatte und wie die zu thun pflegen, die so etwas treiben, ihn auch auf eine unwürdige Weise gebrauchte. Darum nun suchte er den Landvogt abwendig zu machen vom Glauben, weil er befürchtete seine Gewalt zu verliern und den Schein von höherer Weisheit und Kraft einzubüßen und so um die Früchte seines verderbten Strebens zu kommen. | Darüber nun gerieth der Apostel in erbitterten Eifer; da begnügte er sich nicht mit einer Widerlegung: sondern da setzte er es sich zum Ziel einen boshaften Gegner zu entkräften und so m. Fr. sind wir auch berufen zu handeln in gleichen Fällen. Wo Eigennutz, niedrige Denkart der Menschen uns entgegen treten, da ist Sanftmuth an unrechter Stelle. Worauf es ankommt ist lediglich der Streit der Kräfte. Hier gilt es nun zu erfahren was siegen werde, der Eifer die gute Sache derer die das Gute lieben oder die bösen Anschläge derer, welche es hintertreiben möchten um irgend eines (schlechten) Gewinns willen. Wie 19 Vgl. Apg 13,51

19–20 Vgl. Apg 18,6

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könnten wir jenen großen Titel uns anmaßen, welchen der Erlöser seinen Bekennern giebt: Streiter des Herrn[,] wenn wir nicht auf jede Weise die Sache des Guten und Wahren fördern und schützen wollten, wenn wir denen freyen Raum ließen, welche lediglich um des Irrdischen willen das Höhere und Wichtige in Schatten stellen. Zwar überall sollen wir dem Guten förderlich seyn und uns allem widersetzen, was ihm hinderlich werden könnte; aber vorzüglich ist jeder dazu berechtigt, wo ihm ein solcher Widerstand vorkommt im Kreise seines Berufes. So der Apostel. Dazu war er ausgegangen um das Evangelium zu verkündigen und er und alle seine Mitapostel wandten darauf alle Kräfte des Geistes, überall zu sehn wo sich ihnen eine Thür im Gemüthe öffnen möchte, und treu zu seyn in dem Dienste des Herrn. Wenn Paulus gestanden hätte vor einer Versammlung noch unbewegter, im Evangelium noch nicht unterrichteter und in ein irrdisches Bestreben versunkener Menschen, und es hätte dann einer aus ihrer Mitte ein solchen Widerstand erhoben er würde schwerlich so gehandelt haben. Aber er stand vor einem verständigen Mann, der begehrt hatte unterwiesen zu werden in der Lehre des Evangeliums. Ein Kreis der Thätigkeit war geöffnet, diese Seele zu bearbeiten gehörte zum Berufe des Apostels und da konnte er sich nicht den schönen Erfolg | aus den Händen reißen lassen durch ein verderbtes treuloses Gemüth. So auch wir in der Welt, wir werden immer einen Unterschied machen zwischen dem Guten, was wir wünschen was aber noch fern ist. Wenn wir sehn, daß die Menschen, auf die wir wirken wollen, im voraus von uns abweichen und das Gute und Wahre von sich weisen; wir werden ihnen treu entgegen arbeiten; eben dieß ist nicht ein Gegenstand der unsern Eifer aufregen kann; aber wenn auch erst etwas Gutes schon gekommen ist, wenn wir es waren, welche den Grund dazu legten und es erhebt sich dann ein aus dem innern Verderben der Gemüther entsprungener Widerstand, dann ist es Recht nicht nur sondern auch Pflicht, daß wir unser Strafrecht üben, daß wir die zeichnen, die sich uns als Feinde des Guten und Wahren zu erkennen geben, daß wir ihre Kräfte lähmen und dabey nicht Rücksicht nehmen auf das was ihnen wohlgefallen mag oder nicht; sondern daß uns die Sache, die wir vertheidigen mehr gilt als dem der sie unterdrücken möchte und eben darum sich nicht würdig macht ein Gegenstand zu seyn unsers Wohlwollens und unsrer Liebe. Aber wie übte denn der Apostel dieses Recht der Strafe? Die Erzählung in unserm Texte lehrt uns einen Erfolg, von dem wir uns keine deutliche Vorstellung machen können und den wir eben daher mit dem Namen des Wunderbaren bezeichnen und so scheint wenig Belehrendes darin für uns zu liegen. Aber mit dieser Kraft, solche unerwarteten und unerklärlichen Erfolge hervorzubringen, hatte der Erlöser seine Jünger ausgestattet; sie waren die letzte Mitgift gewesen, womit er sie gesegnet hatte, ehe er von ihnen schied, und bey allen den Schwierigkeiten und Hindernissen, die ihrer 2 Vgl. 2Tim 2,3

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warteten, bey der Lage | wonach sie gleichsam hingestellt waren gegen die ganze Welt, mußten sie so ausgestattet seyn. Wir können also in diesen Wundergaben zunächst nichts andres sehen als das, wozu ihm [in] seinem Berufe Kraft gegeben ward. Und das sey also auch die nächste Antwort auf die Frage, wie haben wir das Recht die Strafe zu üben? Jeden wird das lehren die Beschaffenheit seines Berufs. Keiner sage, er sey zu schwach Strafe ergehen zu lassen über die Feinde des Guten und Wahren, denn eben wie hier in diesem Falle werden wir überall finden ein billiges Verhältniß zwischen dem Widerstande den der Mensch finden kann, zwischen dem Bösen, das er zu bestrafen sich kann gesetzt glauben und zwischen der Kraft die ihm dazu gegeben ist. Wer auf einer solchen Stelle steht, daß sich ihm vieles widersetzen kann, der wird auch in seinen Verhältnissen viel Kraft finden; wer sich mit Recht ansehn kann als gering ausgestattet, der wird auch sehen, daß ihm nur weniges von dieser Art vorkommen kann und überall in den besondern Geschäften und Verhältnissen der Menschen werden wir finden diese billige Austheilung des Höchsten und eben so auch in dem allgemeinen Beruf, den wir alle treiben. Wer so gestellt ist, daß er viel Böses sieht, daß ihm vieles deutlich wird, wodurch die Sache des Guten beeinträchtigt werden kann, der wird auch einen Arm haben oder wenigstens eine Stimme, die bis dahin reicht und jeder wird durch die Kraft des Geistes und Willens seinen Kreis ganz ausfüllen können. Und wenn wir dem Apostel nicht nachahmen können in dem was wir in dieser ausgezeichneten Handlung als den letzten Erfolg ansehn, so sollen und können wirs doch in dem strengen Urtheile, welches er ergehn läßt über den Widersacher des Evangeliums. O m. Freunde könnten wir uns nur erst gänzlich von der Schwäche losmachen, das Böse und Verkehrte durch friedliche | Namen zu bezeichnen und zu beschönigen, hätten wir nur Stärke, genug, unsern Tadel und Abscheu in Ausdrücken zu erkennen zu geben, die der Eifer einem Jeden schon eingeben wird; schon dadurch würde vielem Übel abgeholfen und Mancher der nicht gefühllos ist gegen das Urtheil gegen die Stimme seiner Mitbrüder gewonnen werden fürs Gute. Aber wir können mehr. Denn was geschah in diesem Vorfalle mehr als daß der Apostel auf eine äußere Weise darstellte, was in dem Innern des Menschen war, daß er das über ihn brachte, was er befördern wollte durch seine verkehrte Denkart und sein böses Bestreben. Denn was ist es, worauf geht der Feind des Guten aus, als die Menschen in den Zustand der Hülflosigkeit zu versetzen, in welchen sie immer gerathen, wenn ihnen ein Gutes entrissen wird das vom Herrn ihnen verliehen wird und was ist es andres als Finsterniß im Innern des Menschen vermöge dessen Eingebungen er mehr wirken zu können glaubt, als die Kraft der Wahrheit, als das Zeichen von seinem Innern, was der Apostel über ihn brachte. Beydes werden auch wir können. Für jedes Böse giebt es eine natürliche Strafe die die Guten verhängen können, und in dem Urtheile in der Art, wie wir sie behandeln steht es immer in unsrer Gewalt ein Zeichen zu geben von dem, was wir von ihnen halten. Aber endlich, wenn wir

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dieß Strafrecht üben an unsern Brüdern: so geschehe es auf eine offene und muthige Weise. Der Apostel war, als ihn sein Eifer hinriß, des Erfolges seiner Verkündigung des Evangeliums bey dem Römischen Landvogt noch nicht sicher; ob die Kraft der Wahrheit, ob die heidnischen Ränke siegen würden; stand noch auf der Wage, und es war ein Gewalthabender Mann, | an dessen Lieblinge er diese harte Strafe übte. Und nicht auf eine versteckte heimliche Weise ließ er sie auf ihn kommen, sondern je wunderbarer es war, was er an ihm gethan, desto deutlicher sagte er: daß dieß von ihm käme. Und freylich verstecktes Wesen ist nicht, was den Christen ziemen kann; das ist freylich was die Kinder der Welt Klugheit nennen; aber auch da zu richten und zu strafen wo es Gefahr bringt ist Pflicht für die Kinder des Lichts. Nur durch offnes Verfahren können wir unser Recht dazu an den Tag legen, und so wie in dem, was der Apostel that so finden wir auch darin, wie ers that ein Gesetz, welches wir alle zu befolgen haben. Es liegt auch in der Natur der Sache; denn der Endzweck wird verfehlt dadurch daß keinem etwas Übels geschehn soll; sondern nur dadurch daß der Erfolg zeigt, es sey dieser Eifer fürs Gute Recht für uns, dadurch daß Beyspiele gegeben werden, daß es nicht ungestraft hingeht, wenn dem Guten und Wahren Widerstand geleistet wird, gelangen wir zum Zwecke und diese Urtheile diese Strafbeyspiele können nur aufgestellt werden, wenn wir mit großer Redlichkeit und Offenheit zu Werke gehn. Auch wird das Herz des Redlichen fürs Gute entbrannt nichts andres treiben; denn der Eifer will ans Licht und kann nicht auf dunkeln Wegen gehn. Meine Fr. wie damals das Christenthum begründet wurde durch diesen zweyfachen Grund, durch Wohlthaten und Strafen; welche die Menschen fürchten und bewundern mußten; so auch kann jetzt nur jedes Gute festgehalten werden auf eine zweifache Weise. Laßt uns Wunder thun in liebreichen Unterstützungen in Wohlthaten | in allem was wir zu thun vermögen um das geistige und irrdische Wohl der Brüder zu fördern; aber auch Wunder thun darin, daß wir das Racheschwerdt ziehn, daß wir fechten für das Höchste, damit die Feinde des Guten sich fürchten und bewundern lernen die Kraft welche sich offenbart im Worte des Herrn. Wenn wir jener Schwachheit, das Laster nicht entlarven zu wollen nicht entsagen und in die Fußstapfen derer treten, die so durch Liebes und Leides das Reich Christi begründet haben: so werden wir es auch nicht erhalten. Aber bey treuem Eifer wird der Herr auch die schwache Hand stärken und wir werden sehn, daß er auch uns gesegnet hat mit Kräften, die wohl zur rechten Zeit Erfolge offenbaren können, vor denen die Welt erstaunt um Bahn zu machen unserm Erlöser durch die Kraft seines Wortes. Amen.

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17. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 14,21–22 Nachschrift; SAr 25, Bl. 57r–60v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 500–507 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 72r–77r; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher den 14. Oct. 10. (Vormittag) Act. Ap. 14, 21. 22. M. Fr. Wohin der Apostel Paulus auch kam, da war die Gnade und der Segen Gottes mit ihm, das Wort seiner Verkündigung des Evangeliums faßte Wurzel und viele Seelen wurden gewonnen und hinzugethan der Gemeinde der Gläubigen. Und wenn er zurückkam zu seinen Brüdern: so konnte er rühmen, wie der Geist Gottes mit ihm gewesen war, wie er sich durch seine Kraft der Gemüther bemächtigt hatte also daß er keinen Unterschied machen durfte zwischen den Neubekehrten und den ältern Bekennern des Glaubens und denen selbst welche das Evangelium verkündigten. So war es damals und so ist es noch jetzt. Es ist ein wunderbarer allem Verstande zu hoher Erfolg, wenn die Lehren des Evangeliums zuerst ein menschliches Gemüth mit ihrer ganzen Kraft ergreifen. Jetzt wie damals zeigt sich der Geist Gottes als das Ewige Unbegreifliche und über alle menschliche Kraft Erhabene. Aber dennoch wenn der Apostel sich eine Weile gestärkt hatte bey den Brüdern bey den ältern Genossen des Glaubens, so zog ihn sein Herz zu besuchen die Städte, wo er geweilt und gewirkt hatte und die Brüder daselbst zu stärken. Auch nachdem der Geist Gottes sich ihres Gemüths bemächtigt hatte, fand er noch eine zweite wiederholte Arbeit an ihnen nöthig. Das m. Fr. das ist gewiß auch die Erfahrung, die jeder an sich selbst und andern, für die und an denen er gearbeitet, zu machen Gelegenheit hat. Unser Text, indem wir uns zurückversetzen in jene Zeit oder auf uns selbst den Blick richten, veranlaßt uns nachzudenken über die fortwährenden Geistesbedürfnisse derer, welche schon dem Evangelium Gehör gegeben haben. – Welches sind diese Bedürfnisse? Die Erzählung von dem, was der Endzwek des Apostels war bey seinen neuen Reisen, faßt uns beydes in 2 Stücken | zusammen.

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1. Er ging zu ihnen, ihre Seelen zu stärken, daß sie beharreten im Glauben. 2. Er ging zu ihnen um sie zu belehren über die nächste Zukunft und daß wir nur durch Trübsaale in das Reich Gottes können eingehn. Diese Bedürfnisse, und wie sie befriedigt werden laßt uns betrachten. [1.] Wenn der Mensch zuerst von der Gnade Gottes auf solche Weise ergriffen ist, daß man sagen kann der Geist des Herrn nehme Besitz von seinem Gemüthe, so fühlt er sich gleichsam umgestaltet und eine neue Art des Lebens geht ihm auf. Er ist nicht mehr der Vorige, seine Ansicht von sich, von der Welt und von seinem Zwecke in derselben, die ganze Richtung seiner Kräfte ist eine andre; er fühlt sich umstrahlt und durchdrungen von einem herrlichen Lichte, das er vorher nicht geahndet. Wie fest ist der Mensch in diesem Augenblick der ersten Bekehrung. Auffordern könnte er alle menschliche Weisheit, ihn irre zu machen, und alle Versuchungen und Lockungen, ihn zum Abfall zu bewegen; er fühlt sich nur beseelt von dieser göttlichen Kraft, und zu nichts im Stande, als ihr zu gehorchen. Aber m. Fr. wie es bey jedem plötzlichen Wechsel ist: so auch hier; wie es ein allgemeines Gesetz ist, daß es keinen plötzlichen Übergang giebt, sondern alles nur durch allmähligen Fortschritt gedeiht; so stellen sich auch in diesen Bekehrten Erfahrungen entgegen welche die Wahrheit dieses ewigen Gesetzes beweisen. Es kommen Augenblicke, wo der Mensch in Betrachtung der Veränderung die mit ihm vorgegangen, sich selbst fremd erscheint; die innige Glut des Gefühls die sich im Anfang im Menschen entzündet, | macht Raum einem Zustande von Erschlaffung, von Unklarheit des Innern, und dieß Gefühl gründet sich darin, daß die höhere Kraft noch nicht vollständig das Gemüth durchdrungen hat, daß sie noch nicht aller seiner Kräfte Herr geworden ist. Da kann es denn kommen, daß auch seine Überzeugung wankt, daß er zweifelt, als ob er zu jenem höhern Zustand erhoben sei, ob es nicht ein Rausch des erhöheten Gefühls gewesen sey; bald wieder, ob es überhaupt einen höhern Zustand gebe, ob nicht was göttliche Kraft zu seyn und in ihm zu wirken schien vorübergehe ohne eine Spur in ihm zurück zu lassen. Es kommen Augenblicke, wo er weggezogen von stiller Betrachtung von dem lebendigen Gefühl dessen, was sich in ihm gebildet hatte, hingegeben den Sorgen und Geschäften und also auch den Versuchungen der Welt, die Sinnlichkeit der irrdische Sinn sich wieder regt in ihm, wo er es fühlt, daß alte Gewöhnungen ihre Rechte nicht plötzlich fahren lassen, wo die alten Mächte, die ihn sonst beherrschten, wieder Hand an ihn legen, um ihn sey es auch nur auf einzelne Fälle, sich wieder zu unterwerfen. Was m. Fr. wenn der Mensch sich so überlassen bliebe, was könnte entstehn als was auch die Erfahrung uns zeigt, daß er entweder den Glauben an die Göttlichkeit dessen, was in und mit ihm vorgegangen war, allmählig verliert, daß die Gedanken welche in der Verworrenheit des Gemüthes streiten und

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nur streiten um dem Irrdischen den Sieg wieder zu gewinnen, auch wirklich die Oberhand behalten, oder daß er festhaltend den Werth und das Ansehn der höhern Macht, nur sich selbst verachtet als unwerth weil unfähig ihrer herrlichen Wirkungen. Darum ist es ein sich so oft wiederholendes Bedürfniß, daß der Glaube gestärkt die Seele befestigt werde zur Beharrlichkeit im Guten und m. Fr. was gehört dazu andres, als daß dem Menschen die göttliche | Gnade dargestellt werde nicht nur als eine ihn auf Einmahl durchdringende, plötzlich wirkende Kraft; sondern auch in einer andern Gestalt als die nachsichtige, langmüthige, erziehende göttliche Milde als die ewige Kraft, die nicht müde wird, immer aufs neue sich zu vereinigen und inniger zu vereinigen mit dem Gemüthe, als die welche sich darin zeigt wenn traurige niederschlagende Erfahrungen die der Mensch in sich selbst macht, ihn zurückführen auf die Stelle, wo er früher stand, die sich offenbart in der Traurigkeit welche den Menschen bey dieser Selbsterkenntniß erfüllt. Dadurch muß der Glaube gestärkt werden daß die Wahrheit des Evangeliums dem Menschen dargestellt wird als die allmählig ihn erleuchtende, und die Kraft desselben als die allmählig ihn durchdringende. Hat er sie vorher gefühlt als eine siegreiche Gewalt, hat er die Wahrheit des Evangeliums erkannt in der Gestalt des göttlichen Sohnes, in der Überzeugung wie alle Verheißungen der göttlichen Liebe in ihm zusammentreffen: so muß er inne werden, wie die Kraft des Evangeliums durch alle Zeiten des Lebens hindurchgeht, wie sie sich in allen einzelnen Verhältnissen gestalten kann als die gleiche aber unter verschiedenen Gestalten hervortretende, und lernen, wie sie so ins Leben hineingehe und das allmählig besiegen kann und muß, was ihn verführen will. Das thut ihm noth und allmählig nur kann er es erwerben, daß er einsehe klar und deutlich, wie alles, wodurch der Mensch sich beunruhigen will, nichtig ist in sich selbst, und wie es nichts giebt als das Hinsehn auf die Gnade Gottes das sich Hingeben dem Geiste und der Zuversicht daß nur durch beständige Treue vergeben werden die einzelnen Vergehungen. Aber eben | so muß er allmählig einsehn lernen, wie auch derjenige, der am tiefsten durchdrungen ist vom Geiste Gottes, der am klarsten die Wahrheiten des Evangeliums einsieht, nichts fördern kann als das, was uns aus dem Evangelium des Erlösers vor Augen steht, und daß es nur solche Tugend giebt und solche Frömmigkeit, die sich natürlich erzeugt und besteht in der Erfüllung aller der Pflichten welche einem jeden der Kreis in welchen seine Thätigkeit eingeschlossen, auferlegt. 2. Ist es ein allgemeines Bedürfniß derer, die gläubig geworden sind, daß sie belehrt werden über die Zukunft die ihnen bevorsteht. Es war damals etwas allgemeines, daß wenn die Menschen hatten glauben gelernt daß die ihren Vätern geschehnen Verheißungen an Jesu Christo erfüllt wä36 auferlegt] auerflegt

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ren, wenn es ihnen klar geworden, daß die Zeiten der Unwissenheit und Finsterniß, welche Gott übersehn habe, nun auch vorbey seyn müßten, und daß das Licht von oben bestimmt wäre, den ganzen Kreis der Erde und alle Menschengeschlechter zu erleuchten, wenn sie dieß glauben gelernt hatten, sie nun auch mit Ungeduld warteten auf die vollkommene Offenbarung der Herrlichkeit des Herrn und seines Wortes, und es drängte sie zu sehn wie alle die weit umher gläubig geworden waren nun vollkommen erleuchtet und beseligt würden, aber auch geschieden die Verstockten, damit der Tag erschiene, wo die Guten von den Bösen abgesondert würden, und es nur ein Reich Gottes gäbe und eine Gemeinde der Gläubigen. Nicht viel anders m. Fr. sind auch jetzt noch die Erwartungen der zuerst im Evangelium Erleuchteten. O eben in jener Zeit der ersten Liebe des ersten warmen Eifers erscheint jedem der von ihr sich durchdrungen fühlt das Christenthum die erhabene Macht daß er meint, es könne nicht fehlen, daß wie er auch alle andern von ihr ergriffen werden, daß wie er sich anklagen muß, daß ihm so lange die Gnade des Herrn | vergebens nahe gewesen sey, er eben auch ein strenges Urtheil fällen und von Gott erwarten dürfe über die, die das ihnen dargebotene Geschenk nicht annehmen. So bildet sich dann jener Eifer, welcher aufs strengste die wahren Genossen des Glaubens trennt von den Kindern dieser Welt, so die Überzeugung, daß eben dieser Geist Gottes in uns eine Kraft sey, um unserm Gemüthe Freude zu bereiten, und daß hinfort keine Trauer treffen kann den, der sich fühlt in Gemeinschaft mit Gott und Christo. Aber m. Fr. es kommen dann spätere Erfahrungen es verzögert sich die strenge Scheidung der Guten und Bösen, das Gemüth fühlt sich wankend in seinem Urtheile und es wagt nicht mehr zu unterscheiden, welches das ihm gleiche verbrüderte Gemüth sey, und welches nicht; es kommen Erfahrungen daß wie das Gemüth den Versuchungen nicht verschlossen ist, so auch Leiden in dasselbe eindringen. Bald artet das aus in Verzagtheit, bald wird der Mensch allen jenen Vorstellungen zum Raube hingegeben, daß Trübsale und Leiden nichts seyen als die Strafe der Sünde. Darum müßten wir uns von Zeit zu Zeit belehren lassen über die Zukunft, und wie das der Apostel gethan hat, sehn wir aus seinen begeisterten Reden und Briefen an seine Brüder. Wie Jesus seine Apostel belehrte indem er sie zu sich rief und zu ihnen sprach: Die Erndte ist groß und der Arbeiter wenig – bittet daß der Herr Arbeiter sende: so belehrte auch oft der Apostel die Christen, daß der Herr aus Liebe verzögere ihre Erwartungen, lehrte sie wie nur allmählig die Früchte des Geistes reifen, und die Herzen gereinigt würden, so auch nur allmählig hindurchdringe das Licht und die Kraft und die Gnade des Evangeliums, wie das, was sie erwartete, 5 warteten] erwarteten 34–35 Vgl. Mt 9,37–38; Lk 10,2

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zufolge der Rathschlüsse des Höchsten nichts andres seyn könne als ihr und ihrer Nachkommen | Werk, die Frucht ihrer Treue und Arbeit. Wie er selbst gelehrt worden war als er klagte über alle Trübsale durch jene himmlische Stimme: Laß dir genügen an meiner Gnade, dieß rief er auch allen zu, daß sie sich genügen ließen – aber auch fest und immer fester sich überzeugen, daß alles Gutes und Leides nur herkomme von dieser Gnade, daß sie durch Wohlthaten und Trübsale sich verherrlichen wolle, daß denen, welche den Herrn lieben und seiner Gnade theilhaftig worden sind, alle Dinge zum Besten dienen müßten. Meine christlichen Freunde unser ganzes irrdisches Leben ist nichts anders als ein beständiger Wechsel zwischen solchen seligen Augenblicken wo mit neuer Kraft der Geist des Herrn und alles Herrliche unsre ganze Seele durchdringt gleich jenem Augenblicke wo wir zuerst die Wahrheiten unsers Glaubens in göttlichem Lichte erblickten, und zwischen solchen wo wir die menschliche Schwäche erkennen wo wir zum Bösen versucht werden, wo unser Glaube die Gestalt des Irrdischen annimmt, wo wir neuer Stärke und Erleuchtung bedürfen. Wohlan! Zu uns kommen nicht mehr leiblich und persönlich die Lehrer, welche der Herr ausgesandt hatte; aber ihr Wort wohnt unter uns, aber ihre begeisternden Reden haben wir und was der Apostel in der Überzeugung daß er sie nicht oft mehr wiedersehn würde that und im folgenden erzählt wird: und er ordnete an Älteste und Lehrer der Gemeinde und betete mit ihnen und empfahl sie dem Herrn, das ist auch unter uns geschehn und belehren und stärken im Glauben sollen wir jeder den anderen worin er selbst stärker ist. Dazu ist die Gemeinschaft der Kirche gestiftet; vorzüglich aber auch, was jedes Mahl geschah, wenn der Apostel lehrte, daß er das gesegnete Brot brach mit ihnen, diese unmittelbare Gemeinschaft die | wir erneuern können mit dem Herrn diese Wirkung unseres Geistes aus dem Seinigen, das Beruhigende das über alles Irrdische uns zu ihm erhebende Gefühl daß wir eins sind mit und durch ihn, das ist die Stärkung des Glaubens, das gewährt Befestigung der wankenden Seele, da kommt uns Licht wenn wir irren. So sey diese Gemeinschaft uns allen und auch denen gesegnet, die sie jetzt bekennen wollen vor dem Tische des Herrn. Amen.

16 neuer] neue 4 Vgl. 2Kor 12,9

7–9 Vgl. Röm 8,28

20–22 Vgl. Apg 14,23

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Am 28. Oktober 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

19. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 15,1–12 Nachschrift; SAr 25, Bl. 61r–64v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 508–517 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 78r–84v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Inhalt der Predigt von Schleiermacher am 28. Oct. 10. (Vormittag)

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Wie uns in der ältesten Urkunde auf eine mit unserm Gefühl so sehr übereinstimmende Weise erzählt wird, daß der erste Mensch in vollkommensten Besitz der göttlichen Wohlthaten gesetzt, bald versucht sey, nicht nur durch die sinnliche Lust: sondern durch das Bestreben, die Erkenntniß des Guten auf einem andern Wege als dem des Gehorsams zu finden und in dieser Versuchung unterlag, hat wie in einer deutungsreichen Geschichte der Erlöser seinen Jüngern erzählt, daß auch er beym Antritt seines Lehramtes versucht worden sey, auf einem andern Wege als dem der treuen Erfüllung des an ihn ergangenen göttlichen Berufs sein Reich und seine Macht aus zu breiten, daß er aber durch die Kraft von oben gesiegt habe: so lesen wir auch in der Geschichte des Christenthums daß der noch nicht lange geschlossene Bund der Gläubigen, gegründet auf das göttliche Gebot Christi ihn zu lieben und seine Brüder, und auf die Verheißung, dadurch eins zu seyn mit ihm und dem Vater daß auch dieser ist versucht worden auf einem andern Wege als dem des treuen Gehorsams und Glaubens sich der Gnade Gottes gewisser zu machen. Und eben diese Versuchung, durch fremde Zusätze die einfache Weisheit des Evangeliums zu verunreinigen in der Meynung sie zu fördern ist oft wiedergekehrt und nur durch vielfältige Kämpfe hat sich die christliche Wahrheit geläutert und herrlich bewiesen an denen die ihr anhingen. Aber immer gab es auch in dieser Versuchung einige, welche unterlagen, welche ihr Gewissen beschwerten, und sich brachten um den Genuß der göttlichen Gnade, und nicht anders als durch | Kämpfe kann auch in Zukunft die christliche Wahrheit bestehn und keiner erfreut sich derselben, der nicht einen solchen Streit in seinem Innern be2–7 Vgl. Gen 3,1–24

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standen hat. So laßt uns an der Erzählung unsers Textes [sehn], wie diese Versuchung komme und besiegt werde, damit wir Festigkeit gewinnen für alles, was als Zweifel in uns aufgehn könnte. Act. 15, 1–12

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Das war der erste Streit, den die lautere und einfältige christliche Wahrheit zu kämpfen hatte, daß sie sollte vereinigt werden mit dem, was früher unter den Juden gegolten hatte, daß die Hoffnung des Glaubens noch auf etwas anderes sollte gegründet werden, denn allein auf Christum und auf seinen Bund mit ihm und wir sehn, auch damals noch in jenen ersten Zeiten der Liebe und wie man glauben sollte auch der Klarheit, war die Versuchung nicht gering und viel mußte gestritten werden, bis die Wahrheit Christi ins rechte Licht gesetzt und auch die irrigen Gemüther erleuchtet wurden. Unter vielfachen andern Gestalten ist in der Geschichte der christlichen Kirche oft wiedergekehrt eine ähnliche Versuchung zu dem was Christus gelehrt und verordnet hatte um dadurch der Gnade Gottes gewiß und theilhaftig zu werden, noch etwas anderes hinzu zu fügen, als ob der Mensch zu dem von Gott geordneten noch etwas hinzu thun könnte. So laßt uns, weil dieser Kampf noch nicht geendigt und noch in einigen Gestalten sich erneuert, nachdenken über die Natur dieser Versuchungen: die christliche Wahrheit durch menschliche Zusätze zu ergänzen. | 1. Wie sie entstehe und 2. wie sie überwunden werde. 1. Wenn wir uns fragen wie doch unter denen welche der Stimme des Evangeliums Gehör gegeben, die Forderung entstehn konnte die aus den Heyden bekehrten Christen dem Jüdischen Gesetz und allem damit verbundenen Unwesen zu unterwerfen: so müssen wir antworten; es ging dieß aus von einer alten Gewöhnung. Die Apostel, die Ältesten der christlichen Gemeinde zu Jerusalem waren gesammelt aus den Juden, die an das Gesetz gebunden waren und sich verpflichtet hielten demselben getreu zu bleiben, weil es nicht bloß eine Sache des Glaubens war, sondern auch verflochten ins Leben, zugleich in der Absicht, damit die mit welchen sie in nähere Verbindung träten, sich auch an dieses Gesetz näher anschlossen. Indem sie erzählen hörten, welch große Thaten der Geist Gottes durch den Apostel gethan hatte unter den Heiden und sie sich aufgefordert fühlten, mit diesen Neubekehrten den Bund der Liebe und Freundschaft zu schließen: so erhoben sich auch die alten Forderungen. So entfernt dieß von unserm eigenen Zustande zu seyn scheint: so finden wir doch Annäherungen genug. Einmahl ist es wie überall, so auch besonders bey uns, daß sich ein vielfältiges Gewebe von äußern Handlungen Sitten Gebräuchen anschließt an die Verhältnisse in welchen wir stehn, an das was aus dem Innern gläubiger Gemü4 Act. 15, 1–12] Act. 15, 1–

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ther als wahre Äußerung des göttlichen Geistes hervorgeht, und auch wir machen die Forderung, daß die, mit denen wir in nähere Verbindung der Gemüther treten, uns auch in allem andern Leben ähnlich werden sollen, beschränken dadurch den Bund, in welchem alle Christen stehn sollen, und setzen zwischen dem Unähnlichen eine Entfernung die uns nicht geziemt. Aber m. Freunde wenn wir | tiefer in die Natur dieser Forderung eindringen: so finden wir, daß nach dem Jüdischen Glauben die, welche das Gesetz nicht halten wollten, nicht konnten selig werden; und viele Christen mochten auf die Erfüllung der Treue des Gehorsams gegen den alten Bund, der durch den neuen nicht aufgehoben aber veredelt war einen solchen Werth setzen, daß sie auch die Erfüllung dieser Vorschriften noch für nöthig hielten. Aber auch das m. Fr. ist unter uns nicht anders, sondern eben so. Von dem Bestreben sich der göttlichen Gnade gewiß halten zu können, ist kein Mensch ganz fern als der verderbte; aber nicht allen die dieß Bestreben fühlen ist schon jene Erleuchtung zu Theil geworden, welche die Gnade an die Gläubigen austheilt; sondern die noch nicht von ihr ergriffenen und durchdrungenen zeichnen sich selbst einen Weg um zu diesem Ziele zu gelangen, und es werden wohl wenige seyn, die nicht aus einer frühern Zeit ihres Lebens sich das sollten zu erinnern haben. So lange es dem Menschen an der innern Umwandlung fehlt, so lange er die göttliche Kraft und Gesinnung nicht fühlt, deren Besitz die Entfernung zwischen Gott und ihm verschwinden macht, so bleibt nichts übrig als einen äußern Maßstab anzunehmen, um diese Entfernung danach abzumessen; daher zerfällt das Leben in die unendliche Anzahl äußerer Thaten; der Mensch rechnet ab gegeneinander dasjenige, was ihn entfernt vom höchsten Wesen und gegen das, wodurch er den Schein gewinnt, den göttlichen Absichten nachgelebt zu haben. Was ihm so gewinnreich erscheint, das faßt er zusammen in ein Bild dessen Züge er sich einzuprägen sucht und stellt allmählig mit festem Glauben die Regel auf, daß Thaten dieser Art das Mittel sind, um die Fehler und Vergehungen abzubüßen. Zu diesem Wahne, bey welchem | eine wohlbegründete Ruhe des Gemüths nicht bestehn kann, wobey der Mensch nur im Vorhofe stehend nicht ins innere Heiligthum der Gemeinschaft mit Gott eindringt, gesellen sich noch mehrere äußere Vorstellungen; und er findet oft Beruhigung für das Gemüth [in] der Rechnung solcher Dinge, die an und für sich selbst keinen Werth haben und die nur ein äußerer Anhang sind zu etwas Größerm. Wie es Gewöhnungen giebt in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in den Anstalten zur Bildung des Geistes; so auch eben solche in diesem Gebiete des Glaubens und diese alten Gewohnheiten welche herrühren aus der Zeit, ehe die Menschen erleuchtet waren, sind nicht gleich ausgerottet, sie mischen sich auch ins folgende Leben und stören oft die reine Einfalt und die Ruhe des Gewissens. Aber die Kraft dieser Gewöhnungen wird erhöht durch den Unglauben, welcher neben dem Glauben sich noch in dem nicht befestigten Glauben sich befindet. Wenn dem Men-

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schen die Überzeugung von dem aufgegangen ist, was noth thut, wenn er erkannt hat, daß nur göttliche Gesinnung den Menschen mit Gott vereinigen versöhnen kann: so ist sie in dem Maße, als er dieß erkennt, die Regel seines Erkennens geworden; aber er wird ihr in seinem Thun noch nicht immer folgen können; noch oft wird das Alte herrschen, und wenn er dann sieht, daß die Überzeugung doch nicht stark genug ist, um ihn immer sicher zu leiten, dann entsteht jener unbegreifliche Zustand, wo der Mensch glaubt und wieder nicht und wo ihm dann nichts übrig bleibt als auszurufen: Herr ich glaube, hilf meinem Bund auf. Denn statt sich fester einzuwurzeln in der göttlichen Überzeugung, statt sich zu überzeugen, wie aller Fehler und Vergehungen ungeachtet dennoch die Gnade und Liebe Gottes gilt, statt dessen nimmt er seine Zuflucht zu dem Alten und je öfter er das gethan, um desto leichter möchte er denn auch andern diese Last auferlegen. Laßt uns

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2. aus der Geschichte lernen, was der Apostel that um diese Versuchungen zu besiegen. Das erste war, daß er die Versammlung erinnerte, wie alles nur eine Last wäre und ein Joch, welches weder sie noch ihre Väter vermochten zu tragen, und das sey es woran auch wir uns erinnern | daß alles außer dem Glauben nur eine Last ist und ein unerträgliches Joch. Wie wahr dieß gewesen ist von dem, was damals noch hinzugefügt werden sollte, von dieser Menge äußerer Gebräuche, die sich durchs Leben hindurchzogen, die Aufmerksamkeit des Menschen in jedem Augenblick vom Höchsten abwendeten, und die Richtung auf den einen großen Gegenstand verhinderten, darüber kann kein Zweifel seyn. Aber es ist so mit allem, was die Menschen an die Lehre von der Gnade und Liebe Gottes noch von außen anheften wollten. Wenn wir an die Stelle jener äußern Gebräuche auch setzen wollten, die einfachen und heiligen Gebräuche des Christenthums, und den Befolgungen derselben insofern sie äußere sind, einen Werth zuschreiben: so werden wir auch von ihnen gestehn müssen, daß sie nichts seyen als eine Last und ein Joch. Denn was kann es Beschwerlicheres und Lästigeres geben, als sich hinaufstimmen zu wollen zur Andacht in einer Lage, und zu einer Zeit, wo kein Bedürfniß dazu treibt. Ja wenn dasjenige, was der Natur nach rein geistig ist auch nur aus seiner Neigung hervorgehn kann, wenn es dadurch, daß es zur Pflicht und Schuldigkeit gemacht wird, herausgerissen ist aus dem Zusammenhang mit dem Innern: so wird es das Geistloseste und Leerste aber auch das Unerträglichste und nichts ist, was so die Kräfte des Geistes stört und schwächt. Und eben so m. Fr. sind es irgend andere äußere Übungen, wodurch der Mensch seine Sinnlichkeit ertödten, seinem Fleische Abbruch thun oder durch Entsagung, durch Anstrengung irgend etwas Gutes hervorbringen will, aber so daß dies 9 Vgl. Mk 9,24

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nicht hervorgeht aus seinem Bestreben beßer zu werden, ohne daß diese Bestrebungen liegen auf dem Wege seines Berufs: so sind auch sie nichts anderes als ein hartes Joch. Wohl ist es etwas Edles, wenn der Mensch herstellt das Verhältniß zwischen der Vernunft und Sinnlichkeit, daß jene allein herrsche, diese allein diene, und wohl kann der Mensch durch Übung dahin gelangen aber sie muß auf dem natürlichen Wege liegen, jede andre Ertödtung seiner Sinnlichkeit kann ihm nur eine Last seyn und ein drückendes Joch. Das | zweite, was der Apostel that, war, daß er die welche Ärgerniß nahmen an seinem Verfahren, erinnert, wie der Geist Gottes über sie gekommen wäre ohne Unterschied zu machen, und dieß ist das 2te Mittel, der Versuchung zu entgehn. Es ist eine Erfahrung, die wir nicht bloß in einem bestimmten Falle gemacht haben und so fern liegt: sondern sie ist das tägliche Leben unter den wahren Christen und keiner kann dem Gegensatze entsagen zwischen dem bedrückten nur aufs Äußere gerichteten Zustande derer, die außer dem Glauben und der Liebe noch etwas nöthig haben und zwischen der heitern Ruhe derer; welche ungestört den einfachen Weg des Glaubens halten; nicht als ob sie nicht auch die Schwäche der menschlichen Natur fühlten, und es inne würden, daß der Mensch nur langsam genese zur Heiligung; aber wer durch nichts andres siegen will als durch die Kraft Christi, und wer sich auf das Zeugniß seines Gewissens dabey berufen kann, was soll dem fehlen, warum soll der Mensch da bezeugen, daß er schwach ist; denn er ist stark durch die Gnade Gottes; und wenn er fühlt, daß sein ganzes Leben darauf gerichtet ist, Ehre zu machen der Gnade Gottes, wenn er nur Werth legt auf das, was ihm diese verschafft: so muß er sich auch würdig fühlen derselben. So war über jene der Geist Gottes gekommen: so lebten viele unter denen, die erst neulich zum Evangelium bekehrt waren, in ruhiger Heiterkeit des Glaubens und der Liebe. Auf diese ruhige Überzeugung, auf diese gleichmäßige Gemüthsstimmung weist der Apostel hin, um den streitenden Judenchristen zu zeigen, wie weit beßer die daran wären, welche nicht zweifelten an der schlichten Wahrheit des Evangeliums und dazu erinnerte er sie noch drittens an den alten Bund, und weil sie selbst jenes Joch nicht hätten tragen können, daß auch sie nur durch die Gnade Gottes selig zu werden hofften. Und was könnte andres dabey entstehn als die lebendige Erinnerung an die Zeit, wo jeder diesen Bund mit seinem Erlöser geschlossen hat, und dieß ist das beste Mittel; die aufsteigenden Gedanken und Zweifel zum Schweigen zu bringen ja an dieser Erinnerung hat jeder Christ in sich ein Pfand und Siegel des Glaubens, ein Mittel sich zu recht zu finden über alle Irrungen. Ja m. Fr. indem das Christenthum in alle andren Schickungen und Entwickelungen der menschlichen | Angelegenheiten mit verwickelt ist, indem es äußerlich eine andere Gestalt annimmt, je nachdem es anders mit Worten und Formen ausgedrückt wird, und es immer indem es den Menschen zur Tugend führt auf eine edle Art sich beweisen muß, so kommt es in Gefahr, entstellt

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zu werden durch etwas Fremdes. Aber es giebt darin ein Bleibendes Gleiches Einfaches, welches nichts annehmen will von allem was außer ihm liegt, und dieß ist die Überzeugung von dem Göttlichen in uns, von der Ähnlichkeit unseres Wesens mit Gott, unsere Gemeinschaft mit ihm, die uns nicht deutlicher kann gemacht werden als durch das Bild des Erlösers. Daran halten wir uns, wenn unser Glauben Gefahr läuft an den Klippen falscher menschlicher Gedanken und Satzungen zu scheitern: so werden auch wir wie jene zum Schweigen gebracht werden, und dann erst kann uns aufgehn der gläubige besonnene Blick, vermöge dessen sich in uns alle Lehren des Evangeliums immer klarer und reiner gestalten, nur fester uns gründen im Glauben und in der Liebe zu ihm; so wird es wahr werden, daß wir außer ihm nichts bedürfen, wir werden es einsehn, daß sie allein die Kraft ist, aus deren Fülle uns ein hoher Grad von Vollkommenheit und Tugend und von alle dem zu Theil wird, was Gott uns verheißen.

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Am 11. November 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

21. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 16,35–37 Nachschrift; SAr 25, Bl. 65r–68v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 518–527 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 85r–92v; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher den 11. Nov. 10 (Vormittag)

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Meine and. Freunde. Wenn wir die Geschichte des Christenthums und vorzüglich die frühere betrachten, so sehn wir, wie es mit großen Anstrengungen, mit seltener und bewunderungswürdiger Aufopferung ist begründet und ausgebreitet worden in der Welt, wie denjenigen, die sich dieses göttlichen Geschäfts annahmen nichts zu groß war und zu schwer, dem sie sich nicht unterzogen hätten, wie sie sich alles Irrdischen entäußerten, damit andern das Himmlische gewonnen werde, was sie selbst schon in sich trugen, wie sie von diesem Bestreben ergriffen irrdischer Gewalt und dem verkehrten Sinn der Menschen weichen, oft auch die natürlichen Gefühle überwinden mußten, die jedem das Leben lieb machen, wie sie sich allem Unrecht gleich viel ob es ihnen ob es andern geschah widersetzten, und auch auf das keinen Werth legten, was ihr Eigenthum war, wenn sie nur etwas gewinnen konnten fürs Reich Gottes. Aus diesen herrlichen Beyspielen heldenmüthiger Tugend, indem sie betrachtet wurden von einem solchen Sinn, der nicht dasselbige Verlangen in sich fühlte, ist nachher der Wahn entstanden, als ob das Christenthum seinen Bekennern einen Sinn des Leidens und Duldens einflößte, als ob es sie unfähig mache zu der Stärke, wodurch der Mensch allein das Anvertraute bewahren soll, als ob zu aller tapfern Gegenwehr gegen das Böse und Übel in der Welt die Frömmigkeit den Menschen ungeschickt mache. Daher ist es dankenswerth, daß die heilige Geschichte uns auch Beyspiele aufbewahrt, die jener Meynung entgegengesezt zu seyn scheinen, welche beweisen, daß auch zur Behauptung dessen, was einem jeden gebührt, das Christenthum selbst verpflichtet. Eine solche Erzählung finden wir auf dem Wege unsrer Betrachtung über die Geschichte der Apostel. Sie sey es, die wir zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen, um auch über diesen Gegenstand den Sinn der ersten Helden der Religion zu erkennen. |

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Act. 16, 35–37. Der Apostel Paulus hatte ein auffallendes Unrecht erlitten. Mitten in der Erfüllung seines Berufs ohne die bürgerliche Ordnung zu stören war er von einigen Übelgesinnten angeklagt worden; dadurch war eine Verfolgung entstanden, welche ihn da nicht nach Recht und Gesetz und gleichsam im Tumult verfahren wurde, in das Gefängniß gebracht hatte. Der verlesene Theil dieser Erzählung zeigt uns nun, wie streng der Apostel darauf bestand sich Genugthuung zu verschaffen wegen des Unrechts welches ihm geschehn war. Denselbigen den wir sonst bereit sehn, sich alles widerfahren zu lassen, gleichgültig gegen alles Leiden und Übel, dem er nicht entgehn konnte, wollte er sein großes Ziel erreichen, denselbigen sehn wir hier mit Festigkeit auf sein Recht bestehn und zwar auf eine auffallende und für die welche ihm Unrecht gethan, kränkende und demüthigende Weise. So laßt uns eben dieß, wie es recht sey und also auch Pflicht das Recht aufrecht zu erhalten, und uns Genugthuung zu verschaffen, laßt es uns aus diesem Beyspiele lernen. Wir wollen 1. auf die Gründe achten, welche den Apostel wohl hätten abhalten können so zu verfahren, und 2. sehn, welches die überwiegenden müssen gewesen seyn, die ihn zu einem solchen Verfahren veranlassen konnten.

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1. Zuerst sollten wir denken was ihn wohl hätte bewegen sollen, Nachsicht gegen die Fehlenden zu haben, und sich mit der ihm dargebotenen Freyheit zu begnügen, das sey der Umstand, daß er es zu thun hatte mit obrigkeitlichen Personen. Denn daß es nur unbedeutende mit geringer Macht begabte Diener in einem kleinen Städtchen waren, wird ihm wohl niemand zur Entschuldigung anrechen wollen, denn Niemand wohl wird den Satz aufstellen, daß man je höher diese Handhaber des Rechts gestellt sind, je mehr sie scheuen müßte. Das wäre eine unwürdige und ungöttliche Denkart. Recht Ordnung und Gesetz haben eine immer überall gleiche Heiligkeit; sie ruht auf allen, denen die Erhaltung derselben aufgetragen ist, wie eng auch ihr Wirkungskreis, wie beschränkt ihre Macht sey. – Wovor wir | uns also scheuen bey den mächtigen und angesehnen Dienern des Rechts, davor müssen wir uns auch scheuen bey den geringen, und das Maß unsrer Ehrfurcht und Achtung und Schonung gegen sie muß nicht das Maß ihrer äußern Ehre und ihrer Macht und ihres Ansehns seyn. Wir wissen alle, wie wichtig es ist fürs gemeinsame bürgerliche Leben der Menschen, daß die Achtung gegen die Obrigkeit erhalten werde, wie mißlich, wenn auf den Personen dieser Art eine Lächerlichkeit ruht oder ein Flecken, welchen das Auge nicht übersehn und die Hand der Zeit nicht verwischen kann. Diese Ansicht sollte man denken, müßte den Apostel veranlasst haben, gegen die, die ihn beleidigt haben, schonender zu seyn und sie nicht zu einer Handlung zu nöthigen, die ihnen in den Augen aller die unter

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ihnen standen, zur Verringerung ihres Ansehns gereichen mußte. Aber diese Betrachtung hielt den Apostel nicht ab, auf sein Recht zu bestehn. Es konnte noch eine zweite seyn. Die Hauptleute nämlich, welche ihn hatten stäupen lassen, ohne ihn zu hören und seine Schuld eingesehn zu haben, man kann doch nicht sagen, daß sie gegen das Christenthum und gegen ihn wären feindlich gesinnt gewesen, oder daß sie das ihnen anvertraute Recht wegen eines eignen Vortheiles und Interesses gemißbraucht hätten. Sie waren nur verleitet worden durch andere, welche durch den Apostel sich getrennt fühlten von irrdischen Vortheilen. Wie wir nun überall in Absicht auf die Leichtigkeit zum Übersehn und Verzeihen des geschehnen Unrechts einen Unterschied machen, je nachdem die Bewegungsgründe verschieden sind; aus welchen eine solche unrechte Handlung entsprungen ist: so sollte man meinen, hätte der Apostel dieses strenge Verfahren sich vorbehalten sollen auf einen bedeutenderen Fall, und den Irrthum oder die Leichtigkeit des Nachgebens gegen andre Menschen eher übersehn sollen. Aber auch diese Betrachtung hielt ihn nicht ab, auf seine Genugthuung zu bestehn. Endlich könnte man noch sagen; es kam für die gute Sache der der Apostel diente, gar nichts darauf an, ob er so mit | der erhaltenen Freyheit, die seine Unschuld beweisen konnte, oder mit lauter Anerkennung seiner Unschuld sich entfernte, ob er still und heimlich diesen Ort verließ und scheinbar den Dienern des Rechts das Recht ließ, und ganz etwas andres wäre es gewesen, wenn er hier hätte länger bleiben wollen, um eine Gemeinde des Herrn zu gründen. Aber was sich bekehrn wollte, hatte ihn gehört, war schon von dem Geiste Gottes, welcher aus seinen Reden hervorleuchtete, ergriffen und jetzt stand er im Begriff nach Beendigung seines Geschäfts sich zu entfernen, und ein Erfolg für seine Bemühungen an diesem Orte ließ sich von dieser öffentlichen Rechtfertigung nicht erwarten. Aber auch dieß hielt den Apostel nicht ab von seinem Verfahren. 2. Laßt uns daher sehen, welches die überwiegenden Gründe gewesen seyn mögen, die ihm dieses Verfahren zur Pflicht machen konnten. Wir können nicht glauben, daß der Apostel gehandelt haben werde von einem sündlichen Kitzel der Leidenschaft getrieben; als hätte er etwas gethan, was ihm wohl erlaubt gewesen, was er aber aus andern Gründen doch nicht hätte thun sollen. Denn das ist eben das Ausgezeichnete in dem Geiste des von Gott erfüllten, daß er nichts thut, weil ers darf; und daß er keinen andern Bewegungsgrund zu seinen Handlungen hat als das Gebot Gottes. Er thut nichts was ihn gelüstet, oder es gelüstet ihn nichts, als was er darf und soll. Also zur Pflicht hatte es sich der Apostel gerechnet, so zu handeln und eben die Gründe, die ihn dazu bestimmten, haben wir aufzusuchen. 4 seine] sein 7–9 Vgl. Apg 16,19

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Und sie liegen jedem, der unbefangen nachdenken will, bald und klar vor Augen. Ohne alle Rücksicht auf irgend einen Erfolg und ohne, wie die Gerechtigkeit selbst, ein Auge zu haben für äußere Verhältnisse ist die Pflicht jedes Menschen dahin zu sehen und zu wirken, daß das Recht geschehe, und wo Unrecht geschehn ist, daß es gut gemacht werde, und zu bewirken und an den Tag zu legen, daß es das Unrecht wenigstens | nicht ist, welches gilt und bestehn kann. Das ist eine heilige, das ist ich wage es kühn zu behaupten, unter allen menschlichen Pflichten die heiligste, daß wir der Gerechtigkeit dienen. Denn wodurch anders als durch den festen Entschluß das Recht zu vertheidigen kann es bestehn? Freylich es ist eine äußere Macht gegründet es aufrecht zu halten und zu schirmen. Sie soll sich überall hin verbreiten, und in dieser Macht soll jeder seinen Schutz suchen; und ihr vertrauen. Aber worauf ruht diese Macht selbst als auf der Liebe der Menschen zum Recht, woraus besteht sie anders, als aus der zusammengeleiteten Wirksamkeit einzelner Kräfte derer, welche das fürs höchste Gut achten, daß das Recht geschehe, und die sich alles gefallen lassen, alle Kämpfe und Aufopferungen und Anstrengungen, welche die Bedingungen sind zur Aufrechthaltung des Rechts. Darum ist es die heilige Liebe zum Recht eines Jeden einzelnen, worauf alle Gewalt am sichersten begründet ist. Wo die öffentlich aufgestellte Heermacht nicht hinreicht, da vertrauen diejenigen denen die Bewachung der Gesetze obliegt, daß die angeborne Liebe zum Recht in allen Menschen bewirken werde, was zu bewirken der Einzelne nicht stark genug ist, und es giebt keine sichere Stütze für alles Gute und Schöne für das Herrlichste, was wir besitzen, als die Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Rechts? Eben darum darf Niemand auf den Erfolg, auf die äußern Verhältnisse sehn und Niemand darf fragen wenn Jemand[,] sey ers selbst[,] seys ein andrer[,] Unrecht erlitten hat, was wird der Erfolg seyn, wenn das Recht an ihm gerächt wird. Das ist der Sinn jenes alten Spruchs: es bestehe das Recht und die Welt gehe unter, welcher eben nichts sagen will als wir sollen alles daran wenden, unbekümmert was uns was andern für Unheil daraus entspringt; und dann eben wird die Welt nicht untergehn, nur fester gegründet werden | durch Ordnung und Gesetz. Hierzu kommt ein andrer Grund, der nämlich dass wenn diejenigen, welchen die Aufrechthaltung des Rechts besonders anvertraut ist, Unrecht gethan haben, sie beschämt werden. Denn m. Fr. jene Achtung und Ehrfurcht für diejenigen welche Ordnung und Recht in der menschlichen Gesellschaft aufrecht zu erhalten bestellt sind, sie ist keine persönliche Achtung sondern bezieht sich auf das Geschäft; es ist nicht der Mann selbst, dem sie erwiesen wird, sondern das, was ihm anvertraut wird, und das Gefühl, daß er zu dieser Stelle nicht gelangt seyn würde, wenn nicht eine edle Überzeugung ein heiliges Gefühl 29–30 „Fiat justitia et pereat mundus.“ Vgl. Liebs, Rechtsregeln, S. 83–84

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fürs Recht ihn dahin gesetzt hätte. Soll dieses aufrecht erhalten werden, soll das demselben erwiesene Ansehn nicht in eine Sclavenähnliche Unterwerfung ausarten: so muß alles Persönliche von dieser heiligen Sache geschieden, und alles Unrecht weit stärker gefühlt und geahndet werden in denen, welche diesem wichtigen Geschäfte ihr Leben und ihre Kräfte widmen solln als in andern. Nur daß es auf die rechtmäßige Art geschehe, daß nicht in der Vertheidigung desselben das Recht selbst Gefahr laufe; sonst wäre was wir treiben ein leerer Spott. Eben darum giebt es kein anderes Mittel gegen die welchen die Gewalt gegeben ist, wenn sie das ihnen anvertraute Gut gemißbraucht und verletzt haben, als sie zu beschämen. So wie die öffentliche Meynung, der allgemeine Sinn der Menschen für Recht und Gesetz und Ordnung der Grund ist, worauf alle äußere menschliche Macht und Gewalt beruht denn sie wäre ja ohne Nachdruck und Kraft, wenn nicht dieser Sinn ihr Schirm und Schild wäre; so wie dieser Sinn die Bürgschaft ist und die Bedingung alles Rechts: so ist auch die öffentliche Stimme für Ordnung das einzige Mittel, die welche gefehlt haben zu beschämen. Und dieses Mittel wie es sey richtig anzuwenden, muß dem Gewissen überlassen bleiben; denn dazu gehört Erleuchtung und Weisheit vom Herrn. Aber das sehn wir an dem Beyspiel des Apostels daß eben in Absicht auf das Betragen derer, die als Diener | und Stellvertreter des Rechts dastehn weniger als sonst wohl auf die Bewegungsgründe gesehn werden müsse, die sie leiteten. Denn sie werden nur nach dem Geschäfte und nach der Art, wie sie es verwalten beurtheilt. Die obrigkeitlichen Personen sollen die allgemeine Wohlfahrt fördern und jeden in seinem Rechte schützen und ihn erhalten in der Wirksamkeit, durch die er eben zum allgemeinen Wohl wirken soll. Gehn sie davon ab so ist ihr Geschäft gleich sehr verletzt die allgemeine Wohlfahrt gleich sehr gefährdet, sey es nun Bosheit welche sie bewog oder Irrthum oder Eigennutz oder Schwachheit und Nachgebigkeit gegen diejenigen die sich ihrer zum Unrechte als Werkzeuge bedienten. Daher ist es auch Recht, hier alle diejenigen Betrachtungen bey Seite zu stellen, die dem Einzelnen, wenn er in dieser Art gefehlt hat, zu Statten kommen, darum ist es erlaubt, daß jeder die Stimme des Rechts erschallen lasse so laut er nur kann gegen das Unrecht was sie thun, daß jeder, so viel er nur vermag, beytrage zu ihrer Beschämung, damit die heilige von aller Person unabhängige Sache aufrecht erhalten werde, damit nicht ihre Achtung und Ehre mit der persönlichen zugleich untergehe. Das war es, was den Apostel bewog und nöthigte, gegen obrigkeitliche Personen ein Verfahren zu beobachten, welches ihnen so empfindlich und kränkend seyn mußte. – Endlich war es nicht nur das Recht im Allgemeinen, sondern noch ein besondres Besitzthum hatte er zu beschirmen, das Recht des Römischen Bürgers, wodurch in jener Zeit der äußere Unterschied unter den Menschen festgestellt wurde, so daß alle die es besaßen mehr unter dem Schutze der Gesetze standen und weniger von der Willkühr zu leiden hatten als die, welchen dieses bür-

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gerliche Kleinod fehlte. Der Apostel lebte zwar nun in der Kirche und für sie; aber öfters sehn wir ihn vertheidigen dieses Recht, und so m. Fr. soll keiner einen wohlerworbenen Vorzug verschmähen oder ihn sich entreißen lassen; denn es giebt keine Auszeichnung kein Recht keinen Vorzug, wenn wir ihn rechtmäßig besitzen, den wir nicht sollten anwenden können zur Förderung dessen, was wir zu leisten und zu wirken haben, und nicht nur in der Thätigkeit, welche mit dem bürgerlichen Leben zusammenhängt, sondern auch in der, welche dem Reich Gottes gewidmet ist. Dieses | sollen wir so fest zu gründen suchen als möglich. Darum soll alles ihm dienen, jede Kraft jedes Recht welches uns gehört, werde zu diesem Dienste verwandt. Durch einen solchen Sinn wird dann alles geheiligt; alles ist ein Geräth und Gefäß im Dienste des Tempels und keine Hand solls ungestraft berühren und verletzen. Von diesem Gesichtspunkte aus vereinigt sich für den Christen was sich ganz entgegen gesetzt zu seyn scheint, und in diesem Sinn ist er bereit alles Gott hinzugeben und eben daher zu heiligen und zu beschützen gegen jeden Angriff, und diese Verfassung, welche entspringt aus diesem Sinn, das ist die Tapferkeit, der Muth und Unerschrokkenheit, mit der der Christ in jedem Augenblick für die Vertheidigung des Höchsten in den Kampf zu ziehn bereit ist. Darum m. Fr. es giebt in dem Christen keine einander widerstrebende Gesinnung; alles, was dem sinnlichen Menschen ganz entgegengesetzt zu seyn scheint ist doch nur eins und eben dasselbe für den, der im Geist lebt und nach dem Geiste handelt, und weil es unter den Christen nichts giebt, was bloß äußerlich wäre und weltlich, weil ja alles in Berührung steht mit dem Reiche Gottes, so kann er auch mit gutem Gewissen zur Erhaltung dessen, was bloß irrdisch scheint eben so viel thun als für das was ewig ist. Laßt uns nur das festhalten, daß wir im Dienste des Herrn stehn so werden wir nie etwas Irrdisches erwählen, weil es als ein Irrdisches für uns einen Werth hätte, und nichts aus den Augen lassen, was wir Gott schuldig sind, weil wir verblendet etwas nur für irrdisch hielten, was doch auch wichtig ist für seinen Dienst. So werden sich dann alle Tugenden in unserm Leben vereinigen, so werden wir thun was Recht ist vor Gott und den Menschen und das Wort verstehn lernen, daß wir überall Gott mehr gehorchen sollen als den Menschen.

32–33 Vgl. Apg 5,29

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Am 18. November 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

22. Sonntag nach Trinitatis, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 17,22–31 Nachschrift; SAr 25, Bl. 69r–72r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 528–537 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 93r–104r; Matthisson Teil der vom 17. Juni 1810 bis zum 25. November 1810 gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Sonntag den 18. Nov.10. (Nachmittag)

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Von jeher fast möchte man sagen, wenigstens seitdem das Christenthum angefangen hat [sich] über einen großen Theil des Menschengeschlechts zu verbreiten, ist es selbst ein Gegenstand nicht nur der Untersuchung sondern auch des Streites gewesen, was denn der eigentliche Mittelpunkt und die Hauptsache sey von allem, was dagegen außerwesentlich und zufällig, und worauf vor allen Lehren und Vorschriften der Mensch sein Vertrauen setzen woran er sein Herz hängen solle, woran nicht, darüber sind von jeher die Meynungen getheilt gewesen. Von jeher und besonders in dieser letzten Zeit hat es viele gegeben, die in dem Christenthum nie sein Eigentümliches und Besonderes suchten sondern nur die allgemeine Regung der Frömmigkeit und Gottseligkeit darin fanden und daher fragten, was dem Christen mehr werth seyn müsse, das was der Gegenstand des Glaubens für einige oder was von Natur in Jedes Herz geschrieben wäre und was daher auch jeder in jeder menschlichen Brust wieder finden müßte. Und freylich hat sich von jeher mancherley Liebloses und Engherziges auf der einen Seite und viel Leichtsinniges und Unchristliches auf der andern in diesem Streit versteckt. Es giebt uns ein Abschnitt aus dem Theile der heiligen Schrift, der uns bisher immer Stoff zu unsrer christlichen Betrachtung gegeben hat, eine besondere Veranlassung aus dem Munde des Apostels selbst zu lernen, wie sich in seinem Gemüthe jenes Allgemeine zu dem eigentlich Christlichen verhalte, welches ein jedes sey und wie es mit einander verbunden ist oder von einander getrennt. Dieß soll der Gegenstand unsrer heutigen Betrachtung seyn. Act. 17, 22–31 Wir dürfen weder voraussetzen, daß wir in diesen Worten die ganze Rede haben, wodurch damals der Apostel Paulus in der Stadt Athen zuerst unter

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den Heiden an und für sich das Evangelium verkündigt hat, noch auch, daß uns dasjenige, was hier aufgezeichnet ist in der ursprünglichen Vollständigkeit erhalten wäre. Denn der Erfolg der Geschichte zeigt, daß er unterbrochen wurde, und es ist leicht zu sehn, daß der Erzähler uns hier nicht des Apostels Rede in ihrer ganzen Ausdehnung, sondern nur den Inhalt aufgezeichnet hat. Wir sehn aber den Apostel hier anfangend von demjenigen, was sich als Bewegung und Regung der Frömmigkeit in den Gemüthern aller Menschen findet, auch derer, die in den finstersten Irrthümern des Aberglaubens verstrickt waren, zu dem übergehen, was er kraft seiner Sendung als das Evangelium Christi predigen mußte. Laßt uns davon Gelegenheit nehmen, nachzudenken über das, was dem Christenthum eigenthümlich ist, und was alle frommen Menschen mit einander gemein haben.

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[1.] Laßt uns zuerst jenes allgemeine vor Augen halten und sehen, wie es sich im Gemüthe des Christen zu dem Eigenthümlich Christlichen verhält. Der Apostel war, wie er er|zählt, hindurch gegangen durch die Stadt und hatte gesehn ihre Gottesdienste, und war, wie eine andre Stelle uns sagt ergrimmt im Geiste, daß die Stadt so gar abergläubisch wäre, ergrimmt darüber, daß bey aller Erleuchtung des Verstandes in menschlichen Dingen, in Kunst und Wissenschaft, doch eben so groß die Verfinsterung wäre in göttlichen Dingen, indem Altäre geheiligt waren einer Menge von erträumten eingebildeten Wesen in welchen zwar als den sinnbildlichen weltlichen Kräften eine Spur zu finden war von der höchsten lebendigen Kraft, die aber das Wesen der Gottheit nicht befriedigend und erschöpfend darstellen konnten. Da fand er denn auch einen Altar dem unbekannten Gotte geweihet und dieser war es, woran er seine Predigt des Evangeliums anknüpfen konnte. In allen jenen Gottesdiensten war das Wesen der Gottheit herabgewürdigt zu der sinnlich beschränkten Natur, aber in dieser Inschrift drückte sich wenigstens nach der Ansicht des Apostels und seines frommen liebenden Gemüthes die Anerkennung aus, daß alles zusammen das menschliche Gemüth nicht befriedigte, daß ihm eine Sehnsucht übrig bleibt nach einem Höhern, das aber zu fassen die Einwohner nicht Gelegenheit gehabt hatten, und dieß war die erste Spur von Frömmigkeit, die sich unter allen Irrthümern erhalten hatte, und von dem Gefühl in jedes Einzelnen Brust, daß es noch einen höhern Gegenstand seiner Anbetung gebe und die Sehnsucht, seinen Verstand und sein Herz an etwas Größeres und Erhabenes hängen zu können. Und so m. Fr. finden wir überall wie auf der Seite des verderbten Herzens, dasselbe auch auf der Seite des verderbten Verstandes. Ganz ist nicht leicht ausgestorben die Fähigkeit und Empfänglichkeit fürs Ewige, wenn auch nur als das Unbekannte schwebt es den Menschen doch vor und erregt eine unbestimmte Sehnsucht, die sie treibt und nie ruhen läßt. 15–16 Vgl. Apg 17,16

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Und auch diejenigen, welche ihr Herz verstrickt haben in den Banden der Sinnlichkeit und welche nach dem Gelüste ihres Fleisches folgen einer entgegengesetzten Meynung und auch so aufstellen eine Menge eingebildeter irriger Götzenbilder, auch diesen bleibt eine unbefriedigte Sehnsucht zurück, und wenn sie auch die Stimme des Gesetzes nicht deutlich vernehmen, es giebt doch Augenblicke, wo sie fühlen, daß die Seligkeit nicht darin liegt, worein sie sie setzen, und einem unbekannten Gotte erbauen sie in ihrem Herzen einen Altar bereit ihm, hätten sie es nur gefunden alles übrige zu opfern. Der Apostel verkündigt ihnen diesen unbekannten Gott statt der Bilder | welche darstellen sollten die eine ewige schöpferische Kraft, welche die Quelle ist der sichtbaren Welt und aller darin waltenden Gesetze und Ordnungen. Indem er ihnen aber darstellt den ewigen Gott, befindet er sich noch nicht auf dem Gebiete des Eigenthümlichen im Christenthum. Denn er beruft sich auf das, was auch denen die fern waren, geoffenbart ist was ihre eigenen Dichter und begeisterten Männer geschrieben haben, und auch er sagt, das Ewige wäre allen offenbart, nur Thorheit und Verderbtheit des Herzens hätten dieß Gefühl des Ewigen zerfällt in eine Menge von kleinlichen Vorstellungen sinnlicher Gewalten. Aber von dieser ewigen Wahrheit sehn wir ihn selbst ergriffen und auf eine begreifliche Weise stellt er das Wohlverstandene dar. Und nicht nur an dem Daseyn der äußerlichen Welt und an den darin waltenden Gesetzen stellt er dar das Wesen Gottes, sondern in ihrem eigenen Leben und Daseyn. Gott habe es so geordnet, ob sie ihn fühlen und finden möchten und er sey nicht fern von einem Jeden, denn in ihm lebten, webten und hätten alle ihr Daseyn. Und eben dieß, daß dem Menschen nicht nur in der äußern Welt, sondern auch in seinem Leben Gott sich offenbart, dieß ist jene allgemeine Frömmigkeit, von der alle Beßern in allen Geschlechtern und Völkern ergriffen sind. In sich selbst soll jeder die Offenbarung des göttlichen Wesens finden, Spuren von einer höhern Liebe und Daseyn in sich wahrnehmen, welches eben nichtig wäre, wenn es nicht gebe jenes einige und ewige Wesen, welches wir Gott nennen; Gesetze eines Lebens in sich finden, welches über alles Sinnliche und Irrdische eben so erhaben ist, wie das höchste Wesen selbst, weil wir nur in solcher Erhebung unsres Gemüthes das Höchste selbst Gott denken können und daraus m. Fr. folgt jenes erhebende Gefühl, daß wir mit Gott Eines Geschlechtes sind, er der Vater, wir die Kinder, in welchen sich verjüngt und klein sein Wesen und Ebenbild darstellt. Das hätten sie selbst schon wissen können, das hatten ihnen mehrere verkündigt, und dieß Gefühl des Menschen, daß er sich zu Gott verhalte wie das Kind zum Vater, ist nicht in den Grenzen des Christenthums eingeschlossen sondern soll das Eigenthum aller Menschen seyn. Wie wenig dieß benutzt, wie leichtsinnig es verschleudert | worden sey in sinnlicher Üppigkeit, darüber gleitet 7 Gotte] Gute

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der Apostel hinweg, wenigstens ist uns davon in dieser Erzählung nichts mitgetheilt, und er fährt fort mit der Versicherung, Gott habe die Zeit der Unwissenheit übersehn, nun aber gebiete er allen Buße zu thun, ihren Sinn zu ändern, von dem Irrdischen sich zu wenden zu dem Himmlischen und zu einem Leben, welches jenes Bewußtseyns, daß wir göttlichen Geschlechts sind, würdig wäre. Von hier an sehn wir den Apostel auch auf das kommen, was allein der Gegenstand war seiner Sendung. Nun redet er von dem Mann, durch welchen Gott beschlossen hat, Himmel und Erde zu richten, durch den er den Menschen vorhält den Glauben und den er dargestellt hat als seinen Sohn und Bevollmächtigten durch die Auferweckung von den Todten. Wie auch der Apostel fortgefahren hätte, und was erfolgt seyn möchte, wenn er nicht durch diese Erwähnung von der Todtenauferstehung schon jetzt eine Unterbrechung herbeygeführt hätte, wir können leicht, was er ohne die Störung würde gesagt haben, ergänzen. Von dem Augenblicke, wo er von Christo redet, befindet er sich im Gebiete dessen, was dem Christenthum eigenthümlich ist, und wie er sie vorher geführt hatte von den das Gemüth nicht erfüllenden und befriedigenden Göttern zu dem Einen und Ewigen: so führt er sie von der Vorstellung mehrerer Göttersöhne, die sie sich auch geträumt und von der sie ihr Geschlecht abgeleitet hatten, zu dem heiligen ewigen Sohne Gottes, zu dem, durch welchen der Herr beschlossen hatte, die Welt zu richten mit Gerechtigkeit. Hier also finden wir das Eigenthümliche des Christenthums den innersten Kern, von welchem alles ausgeht und an welchen sich alles anschließt. Daß wir göttlichen Geschlechts sind, das ist das allgemeine Gefühl aller Menschen. Aber wo wir auch umherschauen unter allen Kindern des ewigen Vaters, finden wir einen der es beßer verdient ein Sohn Gottes zu heißen als den heiligen Mann, durch welchen Gott die Welt zu richten beschlossen hat? Finden wir nicht in dem beständigen Streit des Himmlischen und Irrdischen überall ein Übergewicht des Irrdischen? | Dann thut es noth, daß uns offenbart werde der wahrhafte Sohn und durch ihn vorgehalten der Glaube, der über das Gefühl unsrer Unwürdigkeit uns erhebe, daß er uns dargestellt ist, und daß durch ihn der Herr die Welt richte, daß durch die Beziehung auf ihn, die welche sich von ihm leiten lassen, scheiden von denen, welchen am Ende das Irrdische doch lieber ist als das Ewige, das sie nicht erkaufen wollen durch Aufopferung des Irrdischen, daß diese Scheidung des Guten und Bösen für uns hängt an dem Bilde des Sohnes Gottes, und daran, ob wir ihn annehmen oder verläugnen, ihm unser ganzes Leben widmen oder ihn verachten. Das ist das wesentliche was der Glaube des Christenthums enthält. Darum m. Fr. will ich auch nicht ins Einzelne gehn und ergänzen die Rede des Apostels die jeder sich selbst ergänzen kann sondern 2. aufmerksam machen, wie sich im Gemüthe des Apostels dieß Allgemeine der Frömmigkeit zu dem Besondern des Christenthums verhält. Auf

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der einen Seite sehn wir, daß er jenes nicht übersah, sondern daß es eben so sein Herz erwärmte und daß ers zum Grunde legte von diesem. Wenn er über dieß Allgemeine handelt, in welchem nur der allgemeine Glaube an das höchste Wesen an Gott erscheint, mit welcher Überzeugung spricht er davon, daß in unsrem Leben und Weben wir ihn erkennen, und daß er sich uns offenbart, – wie fest mag er das gehalten haben und daß wir seines Geschlechtes sind; und es ist auch nicht möglich, daß der an dem Wesen des Christenthums hängen kann, der das Gefühl, wodurch der Mensch an Gott gebunden ist, übersehn und (leicht) verwerfen wollte. Der Sohn läßt sich nicht trennen vom Vater und wenn wir nur durch den Sohn den Vater kennen lernen konnten, so kommt auch der nur zum Sohn, der den Vater sucht. Aber wir sehn auch auf der andern Seite, daß es dem Apostel nicht möglich war dabey stehn zu bleiben. Es wäre vielleicht klüger gewesen, wenn er wenigstens in seiner ersten Rede sich mit dem begnügt hätte, was seinen Zuhörern näher lag, daß sie sich aus allen den vereinzelten Vorstellungen der Gottheit, welche in ihren sinnlichen Abbildungen zum Grunde lagen, aus den zerrissenen Gliedern des lebendigen Bildes, sein wahres Bild zusammensetzten. Dazu hätte er sie bringen können und den innern Keim aufregen zur richtigen Erkenntniß des ewigen Gottes. Aber es riß ihn wider seinen Willen fort, weil ihm Gott der ewige Vater | und der durch welchen wir zu ihm gelangen und mit ihm versöhnt werden sollen, so ganz Eins waren. So bald er sagt: Gott habe die Zeit der Unwissenheit übersehen, und daß nun eine neue Zeit anhebe für alle, ihm zu leben: so konnte er nun auch nicht mehr verschweigen den Sohn, daß er es sey dem wir folgen sollen, daß jetzt die Fahne Christi erhoben sey, und daß durch ihn geschehn solle die große Theilung unter den Geschlechtern der Erde, zwischen denen, welche eines geistig höhern Lebens fähig wären, und denen, welche auf einer niedern Stufe zu bleiben bestimmt wären. Und das ist es eben, was den eigenthümlichen Sinn und Geist des Christen bildet, daß er nicht gedenken kann des Gottes, der uns erschaffen hat und die Welt hervorgebracht, ohne zu gedenken dessen, der uns, da wir in der Irre gingen zu ihm geführt hat, daß so bald er sich oder andern die Gründe entwickelt, welche den Menschen das Bewußtseyn von dem höchsten Wesen lebendig machen können, er nicht umhin kann zu zeigen daß Christus es ist, durch den uns der Glaube (zur Versöhnung mit ihm) ist vorgehalten worden. Darum m. Fr. glaube ich auch, daß es für den, welcher den Sinn des Christenthums wahrhaft erfaßt hat keinen Streit mehr giebt, was ihm das Wichtigste wäre dasjenige im Christenthum, was er aber als Frömmigkeit mit allen zu theilen hat oder das was ihm eigenthümlich ist. Es ist ihm das eine nicht vor dem andern; durch das eine ist ihm das andere geworden, und beydes so ihm vereinigt, wie in seinem Leben das dem Irrdischen und Ewigen angehört nur ein Wille ist, der sich in allem ausdrückt, so daß sich sein aus beiden religiösen Elementen bestehendes Leben auch in allem

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seinen Thun abspiegelt. Sondern, wo ein solcher Streit entsteht, da muß schon eine Theilung des Gemüthes seyn, da muß schon nicht mehr mit gradem Blicke sondern mit schielendem Auge gesehn werden, wo dann auch | der eine Gegenstand zwiefach erscheint und jeder der in diesen Fall kommt, gehe in sich selbst und suche die Quelle des Streites in sich selbst auf in der Verkehrtheit seines Sinnes und Denkens, ehe sie ihm eine Quelle wird des Irrthums und des Zweifels. Nein laßt uns das fest halten als heilig, was uns als Eins geworden ist, und wenn wir fragen woher wir früher Gott erkannt haben, laßt uns gestehn daß er sich uns auf gleiche Weise wie durch Christum auch vorher geoffenbart hat, und wenn wir fragen was ist Christus, und warum verehren wir ihn, laßt uns sagen, weil er das ewige Ebenbild des Vaters ist von Anbeginn, weil wir in ihm befriedigend erkennen, daß wir göttlichen Geschlechtes sind, weil der Bund der Liebe des Gehorsams der Versöhnung durch ihn zwischen uns gegründet ist. Dem sey die Ehre, dem sie gebührt und dem gehöre das Herz, welcher sich desselben bemächtigt hat, und mag nun was einer Betrachtung darüber aufgeht der Vater seyn oder der Sohn, immer wird es doch der Geist Gottes gewirkt haben. Amen.

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Am 25. November 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

23. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 19,13–17 Nachschrift; SAr 25, Bl. 73r–76v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 538–547 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 105r–110v; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 111r–122r; Matthisson Ende der vom 17. Juni 1810 an gehaltenen Homilienreihe zur Apostelgeschichte

Predigt von Schleiermacher den 25. Nov. (Beschluß des Kirchenjahrs.)

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M. F. In der Geschichte der christlichen Religion von der ersten Ausbreitung an bis dahin, daß ihr Licht so vielen Geschlechtern der Menschen zu scheinen begonnen hat, sehn wir überall diejenige Segnung sich vervielfältigen, die schon ihre erste Erscheinung verbreitete, die hohen Tugenden der Liebe der Standhaftigkeit sich entfalten bey denen, die den Beruf hatten ihre Brüder desselbigen Glückes theilhaftig zu machen, dessen sie selbst genossen. Aber auf der andern Seite können wir auch nicht läugnen, daß es vieles giebt in dem, weshalb die Geschlechter Ursache haben, sich zu demüthigen und zu schämen, vieles von ihrer Unvollkommenheit von den Übeln, die sich ihrer bemächtigen, welche von nicht Wenigen auf die Rechnung desselbigen Glaubens und desselben Sinnes geschrieben werden. Wenn wir dieß überlegen, so werden wir leicht den Grund errathen, warum uns manches gegründet erscheint; aber auf der andern Seite werden wir nicht zugestehn können, daß gerade was die Quelle alles Heils und Wohlergehns ist, mit Recht den Vorwurf verdienen sollte nur mehr Übel über das Menschengeschlecht gebracht zu haben. Wenn nun die spätere Entwickelung des Christenthums nur eine Fortsetzung dessen ist, was früher da war; so werden wir auch zu allem, was sich später erzeugte, wenigstens die ersten Keime in den frühern Zeiten wieder finden deren Betrachtung uns bisher beschäftigt hat. Es sey also eine Begebenheit, die unser Nachdenken hiebey leiten kann, welche wir unsrer heutigen religiösen Beschäftigung zum Grunde legen. Act. 19, 13–17.

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M. Fr. die Zeiten, wo sich dieselbigen Begebenheiten, welche uns in der Schrift erzählt werden, im buchstäblichen Sinn wiederholen könnten, sind

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vorüber, indem auf der einen Seite die Wirkungen des Namens Jesu und derer die ihn verkündigen, sich mehr aufs Innere des Menschen beschränken, wir hingegen alles, was äußerlich ist an denselben | aus einem andern Gesichtspunkt ansehn, als es der damalige Zustand erlaubte. Wenn wir in den Sinn und Geist dieser Erzählung eindringen, was finden wir andres als einen freventlichen Mißbrauch, den diejenigen machten vom Namen Jesu, welche ihn zu nennen nicht verdienten, was andres als jenes freche Unternehmen, daß auch diejenigen durch die Kraft Jesu wirken wollten, denen sie im Innern nicht einwohnte, sondern die sich derselben nur als eines äußern Mittels bedienten. Es geschieht in Beziehung auf das Vorhergesagte, daß ich auf diese Begebenheit eure Aufmerksamkeit lenke, denn was man der Lehre Jesu zum Vorwurf gemacht hat, es hat seinen Grund nur in denjenigen, die auf eine ähnliche Weise wie jene Beschwörer den Namen Jesu mißbrauchen wollen. Laßt uns also in dieser Stimmung nachdenken über den Mißbrauch des Namens Jesu, laßt uns 1. sehen was auch noch in unsern Zeiten diesen Namen verdient und 2. wie dieser Frevel sich auch jetzt noch eben so wie damals bestraft. 1. Was das im Allgemeinen heißt, den Namen Jesu mißbrauchen, kann Niemandem ganz fremd seyn, und die Überzeugung eines jeden von dem was darunter begriffen wird, wird zusammen stimmen mit dem Wenigen, was ich nur hinzu zu setzen habe. Der Name Jesu ist uns der Inbegriff alles dessen, was er gethan gelehrt gewirkt hat; wenn wir ihn nennen, entfaltet sich dem innern Auge das herrlichste Ebenbild des ewigen Vaters, wenn wir ihn nennen, sehn wir ihn seinen Mund öffnen, um die Lehre der Wahrheit und Verheißung uns mit zu theilen, die er als die gute Bothschaft von dem ewigen Vater den Menschen verkündigte; diese ewige sich gleichbleibende mit göttlicher Kraft die Herzen der Menschen fesselnde Kraft der Wahrheit, dieser Geist der Liebe, aus welchem alles gute und schöne immer neu entquillt, dieß beglückende Hinaufschaun zum Vater, das ist es, [was] wir im Namen Jesu zusammenfassen. Mißbrauchen kann ihn derjenige nie, der ihn (den Inbegriff alles dieß Herrlichen) in sich trägt als die Quelle seines Heils, derjenige nicht, der in Gemeinschaft mit ihm lebt, und den er zu sich hinauf ziehn wird, weil er ihm treu nachfolgt | auf dem irrdischen Wege. Aber mißbrauchen wird ihn derjenige, der nicht abläugnen kann die herrlichen Folgen, welche die göttliche Gnade auch im äußerlichen Leben verleiht, und überrascht von der Gewalt, deren sich die zu erfreuen haben, aus denen die hohe Liebe hervorstrahlt, ohne die Kraft dazu in sich zu haben, doch mit dem Scheine das ausrichten möchte, was sie auch wirklich dadurch zu können wähnen. Darum zuerst mißbraucht den Namen Jesu jene gemeine und unwürdige Heucheley, welche wir bald mächtiger bald selte11 Aufmerksamkeit] Aufmerksam

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ner herrschen sehn, die aber, seitdem die Religion auch äußerlich geworden ist, gewiß niemals ganz gefehlt hat. Selbst im Rufe eines Frommen zu stehn, ist etwas, was von jeher auch bey den beßern Ehre brachte; es ist etwas dessen Schein anzunehmen überall lohnt, und in gewissen Zeiten und Umständen auch wichtig werden kann für diejenigen, denen es nur um das Äußere zu thun ist. Indem man sich den Schein der Frömmigkeit sucht, Vorwürfe zu häufen auf die Fehler der Menschen, und unter dem Schein der Klage, welche die Frömmigkeit ausstößt, und des Jammers welches die Sünde über die Menschen ergießt, vielmehr der Mißgunst Raum schaffen, und unter diesem Schein seine verderbten und verkehrten Absichten durchsetzen wollen, das ist etwas, was unter Umständen oft leicht gelingen kann. Und eben so wie jene Beschwörer in unserer Erzählung verstehn auch nur solche den Namen Jesu zu mißbrauchen. Es ist nicht die Überzeugung von der Kraft, worauf sie sich berufen; aber die heiligen Sprüche der Schrift, jene wenigen aber körnigen Worte, worin sich die göttliche Lehre ausgesprochen hat, jene leuchtenden Beyspiele der heldenmüthigen Tugend, welche die bewiesen, die von der wahren Kraft geleitet waren, das führen sie an, wovon sie einen Vorrath im Gedächtnisse haben und womit sie die beabsichtigten Wirkungen ausrichten möchten. Aber alles wird in ihrem Munde nur ein Schein. Noch sträflicher mißbrauchen den Namen Jesu diejenigen die nicht nur im allgemeinen äußerlich sich darstellen als zu seiner Schaar gehörig, sondern als Führer und Hirten, | von denen aber schon der Erlöser sagt, daß sie Miethlinge wären und Wölfe in Schafskleidern. Immer haben sich unter die Boten des Herrn eingeschlichen solche, denen es um nichts zu thun war, als um etwas Äußerliches, und denen eben so fremd war, was sie verkündigten, als denen es verkündigt werden sollte, die sich eben so nur auf den Namen und die Kraft Jesu berufen, um sich zu schmükken mit fremdem Federn, wenn sie auftreten wollen, um durch den Namen Jesu auf die Gemüther der Menschenzu wirken. Ja diese verhalten sich zu den wahrhaft begeisterten wie die Beschwörer zu den wahren Wunderthätern. Gewiß nichts empört uns mehr, nichts kann denjenigen dem es Ernst [ist] um die (gute) Sache Christi, heftiger aufregen als dieses Verfahren und dem Scheine nach Jesu angehörn um in seiner Kraft wirksam zu seyn auf eine sichtbare Weise, erscheint gewiß allen als das Verächtlichste und Unwürdigste auf diesem Gebiete. Endlich den Namen Jesu mißbrauchen alle diejenigen welche Gewalt haben auf Erden vom Höchsten bis zum Niedrigsten, wenn sie die Kraft des Glaubens, an welchen die Christen sich halten, ansehn als Mittel, um die äußern Güter zu deren Wächter sie gesetzt sind, hervorzubringen, um Gehorsam und Unterwürfigkeit auf einen Schein von Erhaltung der Religion zu gründen, die ihnen kraft ihres Geschäfts gebührt, 23 Vgl. Mt 7,15

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die aber, wenn sies selbst ernstlich meinen, nichts fremdes zu ihrer Erhaltung bedarf. O es giebt gewiß nichts Verkehrteres als diese Umkehrung der Verhältnisse und Zwecke. Was ist alle irrdische Macht, alles Ansehn, und welchen Zweck kann es haben, als jene Schrecken und Übel zu entfernen, welche die Sünde und das ungöttliche Wesen verbreitet über diejenigen, welche allein dastehn und sich nur durch den Geist Gottes würden regieren lassen. Wenn aber die Wahrheiten und Vorschriften der Religion und ihre großen Verheißungen als ein Schrecken aufgestellt werden, um diejenigen die nur suchen den Geist von der Furcht zu befreyen und auf eine reine Glückseligkeit der Menschen zu gründen, so ist das doch nichts andres als das Verhältniß dessen was herrsche und was diene, dessen was nur als Zweck, und was nur als Mittel betrachtet werden soll. Das m. Fr. ist der Mißbrauch des Namens Jesu, den wir in der Geschichte der Völker immer wiederfinden. Er ist es allein, welcher, weil man das | was aus fremdem Geiste herrührt mit dem des Christenthums verwechselte, demselben alle die Vorwürfe zugezogen hat. Wohlan laßt uns ebenfalls die Erfahrung der Geschichte der Menschen fragen und sehn, ob sich derselbige Frevel nicht noch jetzt eben so bestraft wie damals. [2.] Und der Mensch, in dem der böse Geist war sprach: Jesum kenne ich wohl und Paulum weiß ich wohl; wer seyd ihr aber? – Und das m. Fr. das ist die Stimme, die sich von allein gegen den Mißbrauch erhebt früher oder später. Auch jene Beschwörer mögen viele betrogen und den Schein der Hoffnung der Genesung erregt haben durch das, was sie über den Kranken aussprachen, aber es kam Einer der sie alle bestrafte. Und so gehts allen, welche es wagen den Namen Jesu, der ihnen selbst fremd ist; zu irrdischen und verkehrten Absichten zu mißbrauchen. Wie auch die Menschen vom bösen Geiste geplagt seyn mögen, ganz geht ihnen die höhere Kraft nicht so verloren, daß ihnen nicht die Fähigkeit bleiben sollte, das Wahre vom Falschen zu unterscheiden, welche nicht angeregt werden sollte, um ihnen die richtige Ansicht zu geben. Wer seyd ihr aber? So ruft diese Stimme aus allen Menschen denen zu, die sich mit dem Namen Jesu schmücken und durch ihn und um seinetwillen etwas bewirken wollten. Es offenbart sich ihre irrdische Absicht in dem geselligen Leben worauf sie es meinen mit ihrem strengen Tadel, was sie bewirken wollten durch den heiligen Schein; es wird entlarvt, und je mehr Beyspiele man davon gesehn hat, um so leichter wird es denen, in denen freylich der Geist auch nicht ist aber ihn auch nicht läugnen, zu unterscheiden den leeren Schein von der Wahrheit; und nichts ist verächtlicher und keiner ist mehr gebrandmarkt in der Gesellschaft als der entlarvte Heuchler. Und innerhalb der Gemeine, in dem Stande derer, welche berufen sind den Namen des Herrn zu verkündigen, o gewiß leicht unterscheiden sich diejenigen, die ihn wirklich verkündigen von denen, welche ihn nur beschwören möchten; leicht ist es zu erken-

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nen, ob das was in seinem Namen gesprochen wird ausgeht von dem, was im Innern die Liebe bewirkt hat, oder ob ihnen die heilige Geschichte, die göttliche Lehre nur ein fremdes Gut ist, | und ein todter Buchstabe, den sie äußerlich wohl behandeln können, dessen Geist ihnen aber fremd ist, und früher oder später entdeckt sich der geistliche Stolz, der den bösen Geist beschwören will, um nur Lob und Ruhm einzuerndten, oder denen die es ehrlich meinen den Glauben zu entreißen; es unterscheidet sich ihr Bestreben von dem einfältigen demüthigen Sinn derer, die sich der Gnade Gottes erfreuen und an die Herzen der Menschen sich wenden um sie zu erwärmen mit gleicher Liebe. Und wahrlich es kann nichts verächtlicheres geben, als diesen herrlichen Beruf so zu entstellen. Denn wie es überall etwas höchst trauriges und bejammernswerthes ist, wie der uns als der elendste Sklave erscheint, der das, was er ergriffen hat, gegen seine Neigung treibt so nimmt dieß um so mehr zu, je mehr das Geschäft das innere Wesen des Menschen in Anspruch nimmt, wenn der Lehrer des Glaubens und Lebens seyn will, dem beydes selbst mangelt, und in dem nichts herrscht als Eigenliebe irrdischer Sinn und Stolz. Wenn aber auch auf diese Weise früher oder später diejenigen in ihrer wahren Gestalt erscheinen, welche den Namen Jesu mißbrauchen; wenn diejenigen Kräfte, die sie zu ihren unredlichen Absichten gebrauchen wollen, erwachen und sich gegen sie kehren, wenn wir diesen Erfolg aus unzähligen Beyspielen sehn, und wo Frevel dieser Art herrscht erwarten müssen, daß er eben so seine Rache finden werde: so beunruhigt uns doch, was wir in dieser Zwischenzeit wahrnehmen, die Entwürdigung des Größten und Heiligsten, der verderbliche Schein von Frömmigkeit, der sich um die Menschen verbreitet, und eben daher sind die Vorwürfe entstanden, daß viele das Wahre von dem Falschen nicht zu unterscheiden vermögen. Ja hat es nicht eine Zeit gegeben, eben weil es viele gab, welche Frömmigkeit heuchelten, wo man sagte, der Glaube sey nichts als Heucheley, der Mensch könne durch nichts als durch die Sinnlichkeit in Bewegung gesetzt werden? Gab es nicht eine Zeit, die diesen Verdacht, den der geistliche Stolz der Einzelnen erweckte, auf den ganzen Stand richtete, | welcher dasteht als der Lehrer, Verkündiger des Erlösers und als sein Nachfolger? Gab es nicht eine Zeit, wo auch diejenigen unter den Mächtigen und Herrschern der Erde, die den rechten Zweck ihrer Bestimmung erkannten, die es fühlten, daß alles Glück, alle Sicherheit, aller Wohlstand doch nichts wäre und alle Kraft des Gesetzes doch nichts ausrichten würde, wenn nicht der Mensch die Seeligkeit in sich fühlte und die Liebe zum Rechte, die nur aus einem über das Irrdische erhabenen Gemüthe entspringen kann, wo auch diese nur angesehn wurden als Abergläubige entweder oder 11 entstellen] erfüllen 3–4 Vgl. 2Kor 3,6

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als Heuchler, denen es am Ende doch nur um das Irrdische zu thun wäre. Das sind die Zeiten der Prüfung, die länger oder kürzer anhalten, nachdem die Menschen ihre Augen öffnen der Wahrheit, oder vom Schein derselben geblendet sie ihr verschließen. Aber müßten auch viele vorüber gehn, in der menschlichen Natur liegt doch das Kennzeichen der Wahrheit; das früher oder später seine Wirkung nicht verfehlt. Jesum kenne ich wohl und Paulum weiß ich wohl, so sagte der Kranke, welcher durch jene Betrüger hintergangen werden sollte. Und eben diese Fähigkeit, das Wahre zu erkennen, ruht in allen Menschen, selbst in denen, die am meisten von dem bösen Geiste geplagt und besessen sind. Der Name Jesu mit Recht ausgesprochen und mit inniger Anhänglichkeit verkündigt regt immer einige Züge des herrlichen göttlichen Ebenbildes in dem Menschen auf und bringt in ihm hervor eine Rührung, Erhebung und Ehrfurcht. Und eben diese innere Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und von dem Schein zu unterscheiden, wie wirksam diese sey, ob früher oder später sie zu ihrem Recht gelange, läßt es uns nicht verbergen, daß das abhänge von uns. Wie streng geschieden damals gegeneinander traten Paulus und diejenigen welche ihn nicht weiter kannten als durch die bloße Verkündigung, o möchten so scharf getrennt immer die Christen stehn von denen, die jene Liebe der Wahrhaft erleuchteten und Erwärmten nur heucheln; dann würde sich die Wahrheit vom Schein schneller sondern, dann würden wenige Menschen mehr durch den Schein getäuscht werden. Laßt uns nur sein Bild treu bewahren, laßt uns nur sein Wort treu verkündigen durch Wort und That, laßt nur aus unserm Leben den Geist der Liebe und Wahrheit dem nichts unmöglich ist, und der uns ihm ähnlich macht an Kraft und Glanz, hervorstrahlen, dann wird auch die Wahrheit selbst in ihrer Reinheit, so wie die Heucheley in ihrer Blöße dastehn, wie damals. Der Herr heilige uns in seiner Wahrheit, sein Wort ist die Wahrheit. Er reinige uns alle von dem, was des Namens Jesu unwürdig ist, | damit wir würdiger werden, ihn auszusprechen vor der Welt; dann wird, je mehr wir Jesu aufrichtige Bekenner und Nachfolger werden um so weniger jene Vorwürfe auf seine Lehre und Gemeinschaft zurückfallen. Darauf also m. Fr. können wir unser Vertrauen gründen, das Gericht des Herrn wird früher herein brechen, je reiner wir uns halten an sein Gebot, und die Kinder der Welt werden um so mehr in die schwarzen Schatten gestellt werden, je mehr aus uns das himmlische Licht ausstrahlt. Laßt uns nicht besorgen, daß dieß von etwas Äußerlichem abhängt; es ist allein in der Gewalt derer, welche Christi Namen bekennen. Laßt uns treu haushalten mit seinen Gaben, so wird er uns, die wir mit wenigem nur auch treu waren, über mehr setzen; er wird sein Reich ausbreiten und jede Herrschaft die nur durch den Mißbrauch seines Namens bestehn kann, erscheinen in ihrer Nichtigkeit und dastehn als das Leere und Nichtige und 27–28 Vgl. Joh 17,17

37–39 Vgl. Mt 25,21

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Unhaltbare vor der Kraft Gottes. So laßt uns hoffen und glauben mit dem Recht und der Zuversicht derer, welche sich selbst heiligen; laßt uns nicht verzagen an den Verheißungen, mit der Bedingung daß wir uns ihm ganz hingeben; laßt uns glauben, daß sich täglich sein Reich und seine Macht erweitere aber unter der Voraussetzung, daß wir sein sind. Amen.

Am 2. Dezember 1810 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Sonntag im Advent, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Offb 22,10–13 Nachschrift; SAr 25, Bl. 77r–80r; Matthisson SW II/7, 1836, S. 548–556 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 125r–129v; Matthisson Keine

Sonntag den 2. Dec. 1810 (Nachmittag.)

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Meine christlichen Freunde. Wir fangen mit dem heutigen Sonntage ein neues Kirchenjahr an. Freylich mag es vielen wunderbar vorkommen, daß man davon etwas erwähne. Es scheint dieß zu den längst veralteten kirchlichen Gegenständen zu gehören, und es ist schwer, alle Beziehungen geltend zu machen, welche sonst davon gemacht wurden. Allein wenn, was wir alle hoffen und worauf wir mit allen unsern Erbauungen hinarbeiten, das kirchliche Band enger um die Christen zusammen gezogen werden wird; dann wird uns auch die alte gute Bedeutung verständlich werden. Bis dahin und für jetzt giebt es doch eine Beziehung die wir nicht ganz übersehn können. Wenn wir in einigen Wochen ein neues bürgerliches Jahr anfangen, so zieht eine Menge von Gegenständen unsere Aufmerksamkeit auf sich und nach allen Seiten halten wir uns vor unsere Hoffnungen Wünsche und Ansichten; leicht entgeht uns dann das, was sich auf dieses kirchliche Band bezieht, und es muß uns in dieser Hinsicht gut und dankenswerth erscheinen, daß ein bestimmter Tag angesetzt sey, wo wir eine Scheidung machen zwischen der Vergangenheit und Zukunft, und uns fragen, was wir mit diesen gottesdienstlichen Zusammenkünften gewollt haben, ob der dabey vorgesetzte Zweck erreicht sey und was wir uns für die Zukunft vorzusetzen haben. Das sey es worauf ich unsere gemeinschaftliche Andacht und Aufmerksamkeit hinleiten will.

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Apokal. 22, 10–13. Es kann wohl scheinen, als ob die hier verlesenen Worte wenig Zusammenhang hätten mit dem oben angekündigten Zwecke unserer heutigen Betrachtung und es mag leicht seyn, daß ihr nächster Sinn uns auf ganz an13 allen] alle

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dere Vorstellungen als diese sind, hinführe. Aber es ist das Eigenthümliche der tiefsinnigen begeisterten prophetischen Worte, daß sie eine Menge von Bedeutungen und Auslegungen zulassen, die ihnen alle nicht fremd sind, sondern aus ihrer innern Absicht genommen denselben entsprechen, und so laßt uns denn diese Worte auf unsern Gegenstand anwenden und uns nach Anleitung derselben Rechenschaft geben von dem Geiste und Zwecke unserer christlichen Zusammenkünfte und Belehrungen. 1. Ich fange zuerst mit dem an, was auch in dieser Stelle zuerst stand. „Versiegle nicht die Worte der Weissagung in diesem Buch.“ Es mag dieß ursprünglich gesagt und ge|dacht gewesen seyn von diesem Buch der Offenbarung: aber es ist gewiß nicht ohne Grund gewesen, daß die alte christliche Kirche es zum letzten in der Sammlung der biblischen Schriften gemacht hat, und indem diese Worte der Schluß sind in diesem Buche: so lassen sie sich rückwärts deuten auf die ganze Sammlung der Bücher des Neuen Bundes. Und da ist es denn die göttliche Ermahnung der wir nachzukommen suchen. „Versiegle nicht das Buch der Weissagung.“ Es ist, m. Fr. das göttliche Wort in der heiligen Schrift auf der einen Seite allerdings allen Zugängen offen; von der andern aber ist es ein verborgenes geheimes versiegeltes Buch, welches nur wenige zu lesen verstehn. Offen und zugänglich, einem jeden in Absicht auf die wenigen wichtigsten leuchtenden Punkte der christlichen Lehre, in Absicht auf das, was darin übereinstimmt mit dem Gefühl und Herzen (und Gewissen) eines Jeden, und wovon das Gewissen eben so deutlich redet wie das Buch selbst. Aber verborgen muß es vielen seyn in Beziehung auf alles Einzelne, welches aber dient zur Erläuterung der wenigen heiligen und allgemein verständlichen Lehren. Aber auch dieß Einzelne soll für alle verständlich seyn; das kann eben wegen der großen Entfernung des Ortes und der Zeit, wegen Fremdheit der Sitte und Sprache nicht die Sache eines Jeden seyn, und es gehört die Belehrung derer dazu, welche die nöthigen Kenntnisse besitzen, um den übrigen dieses sonst verschlossene Buch aufzuschließen. Und daß so hineingeführt in die nähere Kenntniß der nicht deutlichen Stellen der Schrift in eine genaue Bekanntschaft mit allem Einzelnen, jeder auf eine richtigere und sicherere Weise als er es für sich selbst thun könnte, dieß Buch lesen könne, sind diese gemeinschaftlichen Zusammenkünfte zum Theil mit eingerichtet, wo ein Wort zum Grunde der gemeinschaftlichen Betrachtung und Erbauung gelegt das Verborgene und Dunkele erläutert und die Verwandtschaft des Einzelnen mit den wenigen Grundsätzen gezeigt wird, damit auch daraus dasselbige Licht der göttlichen Wahrheit allen leuchten könne. Und | so soll kein Wort versiegelt seyn. Es soll der Faden des gemeinsamen Nachdenkens durch das Ganze hindurchführen, damit jeder darin einheimisch werde, und durch diese Betrachtung und Erbauung zu-

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nehme an Erkenntniß der Schrift so wie an Lust zu dem, was uns darin vorgeschrieben wird. 2. Aber was das gemeinsame Ziel aller Schrifterklärung ist, das sagt uns unser Text in den Worten „Ich bin das A und das O, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte”. Ja, m. Fr. in unsern christlichen Betrachtungen muß auch Christus seyn der Anfang und das Ende, auf ihn muß sich alles beziehn, alles den Zweck haben, ihn, seine Lehre, und sein Leben, sein Wesen sein Walten und Herrschen noch jetzt immer deutlicher kennen zu lernen. Es haben viele geglaubt zu allen Zeiten und besonders auch jetzt, als sey es nützlich, den Kreis unserer frommen Betrachtungen zu erweitern und sich zu verbreiten über die Offenbarung der Gottheit in der Natur, über seine Werke und die darin sichtbare Weisheit Allmacht und Güte, über die Verhältnisse im geselligen und sittlichen Leben. Aber m. Fr. so schön angenehm und nützlich das wäre – wie wir uns in eine größere Mannichfaltigkeit ausbreiten und den Mittelpunkt aus den Augen verlieren: so geht zugleich auch der Geist der Andacht und der Seegen der Erbauung aus unserer gemeinsamen Belehrung verloren. Christus muß immer der erste und letzte seyn, der alleinige Zweck und alles andre nur Mittel, um ihn darzustellen, nur die Art und Weise, das Licht, womit er leuchtet, ins Leben überzutragen; eben alles was aufgenommen wird ins Gemüth zum bleibenden Eigenthum, sey nur er: so werden wir uns allein halten an einer unversieglichen Quelle des Lebens: so kann auch durch das Einzelne in uns sein Leben begründet werden, daß, wie er es will, nicht wir leben, sondern er in uns und wir nur in ihm, und durch ihn und mit ihm beym Vater.

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3. Wer böse ist, sey fernerhin böse und wer unrein ist, sey fernerhin unrein; aber | wer fromm ist, der sey fernerhin fromm etc. Angewendet auf den Geist dieser unserer Betrachtung wird einem Jeden hervorleuchten aus diesen Worten, was sich auch von selbst versteht, daß diese unsere Versammlungen nicht den Zweck haben können, den Bösen gut zu machen und den Unreinen zu heiligen. Sind es doch heilige Mauern, zu denen der Böse keinen Zutritt und vor denen der Unreine mit Grauen zurückschaudern sollte. Dieß ist der Ort, wo wir uns versammeln und uns betrachten als Christen, die schon dem Herrn geheiligt sind, die sich schon ihm und dem Guten ergeben haben. Darum m. Fr. wie es immer war, daß das Wort des Evangeliums dem einen ein Ärgerniß war und dem andern eine Thorheit: so mag es bleiben, und es soll uns ein Zeichen seyn, daß wir auf dem rechten Wege sind, wenn wir fern bleiben von jenen. Wer böse ist, sey es weiter, er finde nichts in dem, was hier zur gemeinschaftlichen Erleuchtung und Erbauung geschieht, was ihn von dem Bösen abhal23 Vgl. Gal 2,20

30–32 Vgl. Offb 21,12–27

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ten kann, er finde hier kein Wasser, um sich in einer eingebildeten Unschuld zu waschen. Wer böse ist, dem kann hier nichts dargeboten werden zu seiner Beßerung, denn er ist der aus einem höhern Leben genommenen Bewegungsgründe unempfänglich, und irgend ein sinnlicher Reitz, sei es Furcht oder Hoffnung, der ihn antreiben könnte zum Guten, der werde hier nicht gefunden. „Wer unrein ist, der sey weiter unrein.“ Denn wenn sich die Unreinen reinigen was wollen sie anders als vor der Welt angenehm und schön erscheinen, und nur den Schein vermeiden von dem, was sie wirklich sind. Aber das Erste, wovon wir ausgehen, als die einfachste Wahrheit vor Gott, was ist es wovon wir uns reinigen, als das Kleben am Schein und an allem weltlichen Wesen. Aber wer fromm ist, sey weiter fromm. Und das, m. Fr. das ist allein der Zwek unserer Versammlung, dazu lesen und erläutern wir uns die heiligen Bücher, dazu ist uns Christus vor Augen gestellt, der Gekreuzigte und Erstandene, der Erniedrigte und Erhöhete, der gelitten | hat und uns gegründet in dieß Reich; darum daß wir uns befestigen mögen in der Liebe zu ihm, daß wir uns heiligen in seinem Geist, darum scheuen wir uns nicht uns vorzustellen, was uns noch fehlt an der Ähnlichkeit mit ihm, uns zu erinnern an alle die Fehler und Schwächen, die immer dem Menschen ankleben, und besonders aufliegen im Geiste der Zeit. Darum scheuen wir uns nicht, einer den andern sehen zu lassen, wo die heiligen Gesänge und Gebräuche das innerste Gemüth treffen und bewegen, darum verbergen wir nicht die Thränen und Seufzer unserer Rührung und Schaam, und offenbaren es, daß der Geist Gottes in uns wirksam ist und wir zunehmen an Frömmigkeit. Endlich 4. „Und siehe, ich komme bald, und mein Lohn mit mir zu geben jeglichem, wie seine Werke seyn werden.“ Meine Freunde, zu der Zeit da Jesus in der Welt erschien, war alles in einer halb fröhlichen, halb bangen Erwartung der Dinge, die da kommen sollten; denn man sah einer großen Veränderung in dem Schicksale eines merkwürdigen Volkes entgegen und eben dadurch in der Führung der Schicksale des Menschengeschlechts. Alles erwartete, der Herr werde erscheinen und mit ihm sein Gericht um die Guten zu sondern von den Bösen und ihnen zu geben nach ihren Werken. Indem unser kirchliches Jahr anfängt mit der Geburt unsers Erlösers, und uns bis zur Zeit seines Erscheinungsfestes auf Erden Zeit übrig läßt, um uns vorzubereiten, und ihn ganz im Geiste derer zu empfangen, die ihn damals erwarteten, müssen wir auch hinzeigen auf die Vorstellungen und Erwartungen, welche sich daran knüpften. Und sie pflanzten sich nach seiner Erscheinung fort; denn nach seinem Verschwinden | von der Erde erwarteten die Apostel, daß er wiederkommen werde, um zu richten die Lebendigen und die 39–1 Vgl. 2Tim 4,1

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Todten. So erwarten wir auch eine neue herrliche Offenbarung dieses unseres Herrn zum Gericht und daß er geben werde einem Jeglichen nach seinen Werken. Was so im Innersten des Christenthums begründet ist, was sich überall und zu allen Zeiten offenbart hat, es kann nicht falsch seyn. Aber freylich, wenn er kommt und sein Lohn mit ihm, so ist es auch nur sein Lohn. „Nicht gebe ich euch, wie die Welt giebt”, spricht er. Worauf wir unsere Erwartung richten ist nicht die Welt, und was ihr gefällt und sie giebt, nicht sinnliches Glück und äußere Güter. – „Meinen Frieden gebe ich euch, meinen Frieden lasse ich euch“, diese innere Seligkeit im Menschen, die aus seinem Leben hervorgeht, die, zu der er nichts braucht als Gott den Erlöser und sich selbst. Und wenn wir erwarten, daß er kommen werde: so erwarten wir nicht, daß er auf eine sinnliche Weise in dieser Welt erscheinen werde, sondern das meinen wir, daß wir jede Abweichung von dem Gesetz, wonach durch ihn jeder findet seinen Lohn, ansehen als Zeichen davon, daß er noch nicht völlig so nahe ist, noch nicht so vollkommen gegründet seine Herrschaft, aber daß er kommen werde und richten, und daß jeder finden soll durch ihn den Lohn und die Vergeltung seiner Werke, und dazu sollen wir selbst mitwirken, daß wir in reinem Geiste und Sinne vor ihm wandeln, und immer mehr uns kennen und fühlen lernen als Bürger des Reiches Gottes, das er uns | bereitet hat, und daß die, welche ihn verläugnet haben, und nicht gefolgt sind seinen Lehren, je länger je mehr in den sinnlichen und irrdischen Trieben ihres Gemüthes nichts finden als das Verderben, das Feuer welches nimmer lischt, und den Wurm, der nimmer stirbt. In dieser Erwartung uns zu stärken, in diesem Glauben daß er erscheinen werde, uns zu stärken, und das, was wir erwarten selbst immer näher herbey zu führen, das ist ein vorzüglicher und besonders dieser Zeit angemessener Zweck unserer kirchlichen Zusammenkünfte, dadurch daß wir das Gericht des Herrn recht erkennen mögen, den richtenden Erlöser und das Gesetz, wonach er jedem giebt, und die Art und Weise wie er näher kommt und sein Lohn mit ihm. Das ist es was ich euch habe vorhalten wollen. Ich gebe es Euch allen mit zum weitern Nachdenken, und zur Beherzigung. Laßt uns uns selbst prüfen, wie wir im vorigen Jahre zugenommen haben durch den Besuch dieses Hauses, und so sey es auch das, worauf ich uns aufs neue verbinde für das beginnende neue Jahr. Nichts anderes wollen wir suchen als Christum, der uns Eins ist und alles, und keine andere Hoffnung erregen, als die, daß er kommt und sein Lohn mit ihm. Unter uns wollen wir seyn, daß keiner hier etwas finden kann, wo ihm alles fremd seyn muß und nichts dienen kann, als dem der fromm ist, und zunehmen in fruchtbarer Erkenntniß aller Worte der Weisheit und Wahrheit in der Bibel. 1–3 Vgl. Mt 16,27; Röm 2,5–6

6.8–9 Joh 14,27

23 Vgl. Mk 9,44.48

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So wird es uns gewiß nicht fehlen für die Zukunft, und mit Beruhigung werden wir zurückschauen können auf jedes zurückgelegte Jahr. Dazu helfe uns Gott, und er wird es, wenn der ernste Geist der Andacht in uns wohnen wird.

Am 9. Dezember 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 1,41–55.67–79 Nachschrift; SAr 25, Bl. 81r–84v; Matthisson SW II/7, 1836, S. 557–565 Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 130r–136r; Matthisson Berliner Intelligenz-Blatt: „Nach der Predigt wird der Hr. Prediger Pischon durch den Hofprediger und Superintendenten Stosch als Hülfsprediger eingeführt.“

Sonntag den 9. Dec. 10 (Pischon eingeführt)

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M. Fr. Zu der Zeit, welche unmittelbar der Erscheinung des Erlösers voranging, war alles in seinem Volke voller Erwartung eines Heils das da kommen sollte. Diese war gegründet durch die begeisterten Stimmen der Propheten, es war früher auf sie hingedeutet in der Anordnung der Gesetze, ja bis in die erste Erzählung von dem Ursprung des Menschengeschlechts verliert sich diese Hoffnung einer später zu erwartenden innigern Verbindung Gottes mit den Menschen durch seinen Sohn. Und als er erschienen war, ging vor ihm her Johannes und erregte Erwartung auf das Reich Gottes, welches Christus stiften würde, und er selbst und seine Jünger verkündigten, daß es nahe sey. Aber auch in den Zeiten der Erfüllung selbst begleitet uns diese heilige ein immer höheres Ziel ins Auge fassende Erwartung. Auch als der Erlöser von der Erde verschwunden war, verkündigten seine Jünger, daß er wiederkommen werde, und ein Reich des Herrn das noch nicht da wäre, und wie der Erlöser die Seinigen beten gelehrt hatte: Dein Reich komme: so m. Fr. beten wir noch und wissen, daß alle Geschlechter nach uns eben so beten werden. Darum soll auch in uns rege seyn eine fromme Erwartung eines vollkommnen Heils der Menschen, eines solchen, welches nur durch ihn gegründet ist, so daß wir wissen, es giebt keinen Namen, in welchem die Menschen beseligt werden sollen, als nur den Namen Jesu Christi. Und diese erwartungsvolle auf eine innere herrlichere Zukunft gerichtete Stimmung setzen wir ganz vorzüglich in diese Zeit. So sey denn die Erwar1 9.] 10. 15 Mt 6,10; Lk 11,2

19–20 Vgl. Apg 4,12

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tung derer, die damals dem Erlöser am ähnlichsten und nächsten waren, das Vorbild das wir uns vorhalten, damit sich in unsere Hoffnung nichts Fremdes und seiner Unwürdiges einschleichen möge. Luc. 1, 41–55. und 67–79 5

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Ich habe nur einzelne Stellen aus diesen mit einander in Verbindung stehenden dankbaren und erwartungsvollen Reden zusammengenommen um an das Ganze zu erinnern. Es sind die Reden der Mutter unsers Herrn und der Eltern des Johannes, welche aussprechen die Empfindungen, die damals in ihnen erregt waren, und die sich im ganzen Volke verbreitet hatten. Wir wollen sie betrachten, um daraus zu lernen, wie die Erwartung | derer beschaffen seyn müsse, welche auf eine herrlichere Verklärung des Herrn hoffen. Es sey unsere Erwartung 1. eine gläubige, 2. eine gerechte und 3. eine auf das Geistliche gerichtete Erwartung. [1.] Selig, so sprach Elisabeth, so Maria, selig, die du geglaubet hast, denn es wird alles vollendet werden, was dir geredet ist von dem Herrn. Ja m. Fr. Wie uns überhaupt die Schrift den Glauben vorhält: so ist auch der Glaube die erste Bedingung einer jeden Erwartung der beßern Zukunft. Der Glaube ist die feste Zuversicht dessen, was man nicht sieht, sagt ein Schriftsteller des Neuen Bundes, gerichtet auf das, was sich äußerlich noch nicht zu erkennen giebt, was aber ergreift und festhält den Geist. Aber nicht das allein; sondern was ist der Glaube anders als eine Erkenntniß, die zugleich das Herz bewegt, die den Menschen antreibt zu handeln unter der Voraussetzung, das sey da, das werde geschehen, was er nicht sieht; und der Glaube der Maria zeigte sich nicht bloß in den Worten: Ich bin des Herrn Magd pp. sondern auch darin, daß sie trauend auf die Verheißung nun auch alles in ihrem Herzen bewahrte und bewegte, daß sie den, dessen erste Bildung ihr anvertraut war, ansah als den, von dem das Wohl des Menschengeschlechtes abhänge und in dieser Zuversicht würdig war, Mutter dessen zu seyn, in welchem der Herr das Heil dem Menschengeschlechte aufrichten wollte. Und eben in diesem Sinne sey unsere Erwartung eine gläubige Erwartung. Wem es ernstlich zu thun ist um das Heil, welches dem Menschen durch Christum kommen soll, der fühlt auch, daß noch wenig von dem da ist, was er wünscht und worauf die Sehnsucht seines Herzens gerichtet ist; aber er fühlt das Daseyn und Walten der göttlichen Kraft, durch die es kommen soll, ist voll von der hohen Bestimmung, für die Christus gelebt hat und gestorben ist und die gewirkt haben, welchen sein Bild, das Bild des Gekreuzigten und Erstandenen vor das Auge gemalt ist, und die 4 67–79] 67–

9 ihnen] ihr

18 Vgl. Hebr 11,1

24–25 Lk 1,38

25–26 Vgl. Lk 2,19

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niemals ganz die Treue und Anhänglichkeit gegen ihn verlassen haben. Aber nicht eine unthätige Erwartung darf diese Erwartung seyn, in der Hofnung, daß geschehn werde, was der Herr durch 1000 Stimmen in und außer uns geredet hat, sondern eine Erwartung, die unser Herz erhebt, treibe uns an, mit unserm Sinne und Thun | der Zukunft uns hinzugeben, vertreibe jede andere nur auf das Irrdische gerichtete Erwartung, vertreibe jede Freude an dem Genuß der Gegenwart, welche dessen, was wir erwarten, unwürdig ist und nicht die Keime davon in sich trägt. Aber m. Fr. diese Freude der Maria ruhte auf dem Sohne. Wie ihre Freude weniger auf sich selbst als auf die künftigen Geschlechter gerichtet ist, denn selig, spricht sie, werden mich preisen alle Geschlechter und Völker: so sey auch unsere gläubige Erwartung mehr auf die künftigen Geschlechter gerichtet, als auf uns selbst. Das ist uns genug, entsagend dem eigenen Besitze und Genusse, daß wir vorbereiten wodurch das Reich Gottes herrlicher erscheinen kann, das ist unser Beruf, die vielen und herrlichen Kräfte, den reichen Willen, wenn er nicht immer seinen Gegenstand finden kann, und wenn der Mensch zu einer stillen und unbedeutenden Thätigkeit verwiesen wird, sie und ihn ganz auf [das] Heil des Menschengeschlechts zu wenden, diesem einzuhauchen den Geist, der uns belebt, und sie geschickt zu machen, damit sie herbeyführen, was wir nur erwarteten, und dazu jeden neuen Sprößling mit gleicher Hoffnung empfangen, ihn ansehn als einen Theil eben der Kräfte, wodurch das wirklich werden soll, wonach wir uns sehnen. Aber 2. unsere Erwartung sey gerecht, nur auf das gerichtet und gebaut, was Recht ist vor dem Herrn. „Er stößt die Gewaltigen vom Stuhl und erhebet die Niedrigen, er stellt seinen Sinn gegen die Hoffahrt und ruft herbey seine Diener” so redet Maria. Um diesen Sinn ihrer Worte zu verstehn, müssen wir uns die Lage ihres Volkes zurück rufen. Dieß war gewohnt gewesen, daß alle äußeren Rechte und Ordnungen angesehn wurden als hervorquellend aus dem frommen Bunde der Väter mit Gott. Aber die Zeit, wo dieses sich auch mit dem äußerlichen Leben darstellte, war vorüber; die Gewalt und Macht war in den Händen derer die sich nur zum Scheine zur Religion dieses Volkes bekannten und nur als Fremdlinge aufgenommen waren, | theils in den Händen derer, die jenen Glauben verachtend ihrem Aberglauben lebten und hoffährtig diejenigen, die sie besiegt hatten, in Unterwürfigkeit und unter der Gewalt hielten. Da war es eine sehr natürliche Erwartung, daß ein Zustand des hohen Rechtes der ewigen Ordnung wiederkehren müsse, daß Recht und Ordnung nicht erscheinen müssen als Gewalt, sondern als das Reich Gottes, und als reiner Ausfluß der Gesinnung und Frömmigkeit der Menschen. Eine Erwartung die sich darauf gründet, daß alles verschwinden 18 Menschengeschlechts] Menschengeschlecht

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muß, was den Verheißungen Gottes zuwider läuft, was mit seiner ewigen Wahrheit streitet, gegen seine ewigen Gesetze angeht, das gewiß ist eine gerechte Erwartung. Wohlan! auch uns laßt nie etwas erwarten, als was in diesem Sinne recht ist vor Gott. Wie sich Maria beruft auf die Verheißungen, die Gott ihrem Volke gegeben hatte, wie Zacharias sagt: er hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils, und geredet durch seine Propheten, daß er uns errettete aus der Hand unsrer Feinde – so haben wir freylich ähnliche buchstäbliche Verheißungen nicht auf zu weisen. Aber die wahren Verheißungen stehen nicht hie oder da, sondern sind geschrieben in der ewigen Ordnung der Dinge, sie sind ausgesprochen durch die ewig gültigen Aussprüche der Vernunft und dargestellt in denjenigen Gesetzen, nach welchen allein eine richtige Leitung der menschlichen Angelegenheiten möglich ist. Und so ist es gewiß ein ewiges Recht, nicht daß ohne Unterschied alle Gewaltigen vom Stuhl gestoßen werden, aber daß diejenigen zurücktreten müssen von ihrer Stelle, welche das, wodurch sich die göttliche Kraft offenbart, mißbrauchen, und daß diejenigen erhoben werden, auch wenn sie niedrig stehn, deren Sinn am meisten dem göttlichen Sinn | gleich kommt, und die in ihrem äußerlichen Elend, in ihrer demüthigen Gestalt doch erfüllt sind von dem Sinn und der Kraft, durch die allein das Gute geschafft werden kann! Aber m. Fr. wenn unsere Erwartung eine gerechte Erwartung seyn soll, so müssen wir uns selbst prüfen ob auch unsere Sache so gut sey als damals, ob unsere Erwartung eben so gegründet und rein ist, als sie es war in den Herzen derer, welche sie hier in unsern verlesenen Worten zu erkennen geben. Wenn nur Ein äußeres Bestreben gegen das andere, nur Eine sinnliche Kraft gegen die andere, nur eine Richtung der Herrschaft und Gewalt gegen die andere gewendet ist; wer mag da entscheiden, wo das Recht sey, wo gäbe es eine göttliche Verheißung auf die sich der Mensch berufen könnte. Aber wenn es Menschen giebt, die sich das Zeugniß geben können, daß sie nichts anders wollen, nichts anders meinen, als dieses, daß ein Gottes würdiger Zustand unter den Menschen aufgerichtet werde; daß das was das Ebenbild Gottes darstellt, zu seinem gebührenden Ansehn und Herrschaft gelange, denen es ein Ernst ist, alle Güter und Vorzüge nur zu gebrauchen als Werkzeuge des göttlichen Sinnes und nach den Vorschriften des Rechts und der Vernunft, diese, wie sehr sie zu den Elenden gehören, wie dürftig ihr Leben und ihre Gestalt sey, diese dürfen hoffen, daß wenn sie auch nicht selbst, doch ihr Wille, ihre Absicht ihr großes Ziel gewiß werde herbey geführt werden, und daß sie Theil haben an dem Siege des Guten über das Böse. Und deßwegen endlich 3. sey unsre Erwartung eine geistige. „Und du Kindlein wirst ein Prophet des Höchsten heißen“. So, meine Fr. nicht auf etwas Irrdisches | nicht auf die Bedürfnisse und Wünsche der Sinnlichkeit und Begier sondern auf die Bedürfnisse des Herzens, die Erkenntniß des Heils und die Vergebung

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der Sünden sey unsere Erwartung gerichtet. Nicht auf etwas Sinnliches Irrdisches, sondern auf das Geistige und eben deßwegen auf das Bleibende und Ewige sey sie gewendet. Was ist alles irrdische Heil, gegen das was aus der Erkenntniß Gottes hervorgeht, was ist irrdischer Besitz und Genuß, und alles, was die Sinnlichkeit erfreut gegen den Frieden des Geistes, welcher ist in der Vergebung der Sünden. Denn wir wissen deutlicher als damals das Wort Jesu „mein Reich ist nicht von dieser Welt”. Nicht mit dem Schwerdte soll es erstritten werden, sondern durch geistige Kräfte gewonnen, gegründet auf den Namen Christi, geheiligt durch das ewige Recht und zusammengehalten durch den Geist der ewigen Liebe, der Liebe zu Gott und den Menschen. Und m. Fr. daß uns Niemand vorwerfe, wir wollen unter diesem Schein nur verbergen die Unlust und unsre Unfähigkeit, dasjenige, was sich auch äußerlich darstellen soll, zu gewinnen und zu schaffen. Denn eben so wahr es ist, daß das Reich Christi nicht von dieser Welt gewesen ist; eben so wahr ist, daß es für diese Welt gestiftet ist. Und was ist es anders, wodurch was sich immer erhalten, erhalten ist, als durch sein Wort, seine Lehre, durch die Gemeinschaft unter den Menschen; welche irrdische Kraft oder welche Gewalt des Schwerdtes ist es, die die Herzen gebändigt hat, und ihre Richtung erhoben vom Sinnlichen zum Höhern, Heiligen, als die Milde, als die langsam aber sicher wirkende Kraft seines Wortes und seiner Liebe. Was ist es, was jedem Mißbrauch der irrdischen Macht vorbeugt, die Menschen fester hält am Recht als die Anhänglichkeit | und Treue gegen den, der alles hingegeben hat, daß er die Welt erlöse, der nicht nur uns dargestellt ist als ein Bild der leidenden Geduld, sondern auch ein Bild der aufopfernden Thätigkeit gewesen ist. Trachten wir seinem Reiche nach und seiner Gerechtigkeit: so wird uns das andere alles von selbst zufallen: so wird sich fester und bleibender gestalten die Gesellschaft der Menschen, so wird aus der Übung der geistigen Kräfte eine innere stärkere Wirkung der geistigen Kraft auf das Irrdische sich entwickeln. Und es giebt für jede Gewalt, die zu der gehört, welche nicht vom Stuhle soll gestoßen werden, für jedes Ansehn und Recht, welches nicht [auf ] der leeren und nichtigen Hoffahrt gegründet ist, keinen festern Grund, keine sicherere Stütze, als die gemeinschaftliche Treue derer, welche Christum angehen, gegen den, welchem sie angehören, und auch vor der Welt wird er nur so dargestellt werden als der, vor dem sich alle Knie beugen müssen, daß er allein herrsche, allein die Kraft gebe, die das Gute sicher erhält, daß durch ihn die Erde zu einem Garten Gottes umgestaltet werde, in welchem die Menschen wohnen in Frieden und Unschuld wie ehedem. Ja m. Fr. so sollen wir die Erscheinung des Herrn erwarten, wohl dankbar gegen das, was wir schon haben, aber 33 angehen] angegehen 7 Joh 18,36

7–8 Vgl. Sach 4,6

25–26 Vgl. Mt 6,33

35 Vgl. Phil 2,10

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auch voll heiliger frommer Erwartung einer noch beßern Zukunft, immer in uns tragen ein noch herrlicheres himmlisches Reich und immer mit Sehnsucht und treuer Liebe hinblickend auf das, was noch gewonnen werden muß, was noch zu thun ist und zu leiden zu seiner Verherrlichung, damit der Tag seines Triumphes komme. So bereitet eure | Herzen, laßt verschwinden daraus alle irrdischen Wünsche und Regungen, seht euch an als diejenigen, die da sind um dem Herrn den Weg zu bereiten: so werden wir würdig feyern die denkwürdige Zeit seiner Geburt; so wird er ein neues Leben beginnen in unsern Herzen, und sein Reich wachsen und zunehmen durch die Gnade vor Gott und den Menschen.

7 Vgl. Mt 3,3 (Zitat aus Jes 40,3)

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Am 25. Dezember 1810 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeugen:

Andere Zeugen: Besonderheiten:

1. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 2,6–7 a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 16r–19v (Abschrift einer Nachschrift Matthissons) Texteditionen: SW II/7, 1836, S. 566–574. – Predigten, ed. Urner, 1969, S. 30–36 b. Nachschrift; SAr 25, Bl. 85r–88v; Matthisson Texteditionen: Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 137r–144r; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 31, Bl. 147r–156v; Matthisson Der Autograph Schleiermachers enthält neben der Predigt auch eine Aufzählung von Predigtterminen mit Bibelstellenangaben und Predigtthemen. (Vgl. Einleitung, Punkt I.1. und II.3.A.a.)

a. Autograph Schleiermachers 16r

Weihnachten 1810 (Matth.) So verschieden auch die Verhältnisse und Beziehungen unserer Feste auf Christum sind so haben sie doch alle diesen Mittelpunkt. Denn das eine schließt den Himmel auf, das andere erleuchtet die Erde; das eine stellt dar das einige Band welches alle zu einer Gemeinschaft vereinigen soll wenn das andere sich auf das Einzelne des menschlichen Lebens auf das Bedürfniß des Herzens eines Jeden sich bezieht; und so scheint auch die Bedeutung des Festes welches wir in diesen Tagen begehen. Wenn uns die große Begebenheit erzählt wird daß von dem in der Nacht gebornen göttlichen Kinde ein himmlisches Licht ausstrahlt so findet sich ein Jeder in einer Gemüthsfassung die schwer ist zu beschreiben und schwer zu verstehn. Denn es ist nicht nur das künftige Heil das wir hier im Kinde erbliken, es ist nicht allein der später so vollendet vor uns stehende, dessen Züge wir im Kinde ausspähen; sondern zum Kinde selbst fühlen wir uns hingezogen in einer eigenthümlichen Andacht, und wir sind uns bewußt daß ihr keine äußere 0 Vgl. Einleitung, Punkt I.1.

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Darstellung genügt, daß wir immer noch etwas tieferes finden in unseren Herzen was wir aussprechen möchten, daß etwas unbegriffenes und unbegreifliches liegt in diesem Anblik, in welchem sich alle unsere Gedanken vereinigen. Indem ich voraus seze daß dies unser aller gemeinschaftliches Gefühl ist, will ich unser Nachdenken hinlenken auf den Grund dieses eigenthümlichen Gefühls der Frömmigkeit und Andacht von der wir uns ergriffen finden | dem Kinde Jesu gegenüber. Text.

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Eben das worauf uns der Apostel in diesen Worten aufmerksam macht als in Jesu Christo vereinigt auf eine eigenthümliche höhere Weise, die göttliche Gestalt und die menschliche Geberde, eben das enthält auch den Grund des besondern frommen Gefühls das uns in diesen Tagen erfüllt. Zu welcher andern Zeit, in welcher andern Gestalt wir den Erlöser betrachten mögen in dem Laufe seines Berufs auf Erden oder im Augenblik seiner Vollendung, nirgends sehn wir das rein menschliche und rein göttliche: so einfach neben einander und niemals für sich so deutlich, als eben wenn wir ihn uns vorstellen bei seiner Ankunft auf der Erde. Das sei es womit wir uns beschäftigen. I. Was ist das rein Menschliche? – Jesus Christus ob er wohl von göttlicher Gestalt war hielt es nicht für einen Raub Gott gleich sein, sondern nahm Knechtsgestalt an und ward an Geberden als ein Mensch erfunden. Und dessen sind wir uns bewußt, wie könnten wir auch sonst das Heil Christi verstehen. Im Menschen selbst ist zwar etwas göttliches: aber was ist das irdische Loos in welchem dieses göttliche erscheint, was ist die menschliche Geberde, um derentwillen der Erlöser sich so entäußerte? Es ist dieses: einmal daß das menschliche ohngeachtet des göttlichen in ihm sich doch nirgends selbst genügt und daß er von allen Seiten bedürftig erscheint, und zweitens, daß auch das göttliche in ihm unter dem Geseze der Zeit stehend sich nur allmählig und in bestimmten Graden entwikelte. Und eben dieses irdischen Loos das er mit uns gemein hat werden wir so deutlich inne, wenn wir uns zu ihm dem neugebornen Kinde versezen. Nur weniges ist uns aufbehalten von der früheren Zeit der Geschichte seines Lebens, nur wenige Züge von seiner Kindheit und dann folgt gänzliches Schweigen bis er auftritt als vollkommner göttlicher Lehrer. Wo wir ihn in diesem Berufe finden, da können wir das irdische und menschliche Loos nie so deutlich wahrnehmen. Derjenige, der die göttlichen Lehren verkündet, die | Blinden sehend macht und die Tauben hörend 21 gleich] zu ergänzen wohl zu

26 göttliche] göttliche:

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der die Kranken heilt und die Todten auferwekt wer könnte ihn sehn in äußerlich niederer Gestalt einhergehn wenn er auch nicht verschmähte ein geselliges Leben mit einigen Wenigen; wenn er auch von ihnen sich bedienen ließ, er erscheint doch in dem Maaße als er Hülfe spendet selbst keiner Hülfe bedürftig. Derjenige der eine neue Ordnung der Dinge stiftete, unter dessen Handeln und Wirken das Alte vergeht damit ein neuer Himmel und eine neue Erde hervorgehe, der zugleich in sich trägt das Bild einer neuen Welt und Gestalt des menschlichen Daseins, der scheint jene frühere Hülfe nicht empfangen zu haben, durch die wir fortschreiten im Guten und von der wir, was wir nur Gutes haben, ableiten. Ja sogar um diejenigen die mehr in Absicht ihrer Wirkungen als ihrer Gesinnung ähnlich sind dem Erlöser, die nur in einzelnen Dingen als große Wohlthäter des Menschengeschlechts erscheinen, um solche die freilich auch durch ihr Thun und Wirken beitragen zur neuen göttlichen Ordnung, aber weniger von einem höhern Bilde geleitet als nur als Diener und Werkzeuge des göttlichen Schicksals, gehalten und getragen von göttlicher Absicht und Nothwendigkeit selbst um diese lagert sich ein Schein von göttlicher Heiligkeit; um wie viel mehr umfließt dieser den Erlöser! Und dergestalt mischt sich in ihm das göttliche und menschliche daß wir es schwer zu sondern vermögen. Aber laßt uns hintreten zu seiner ersten Erscheinung so sehen wir ihn wie andere Menschen gerade so wie auch die Kinder Fleisch und Blut haben in eben der hülfsbedürftigen Gestalt, eben der irdischen Liebe und Pflege bedürftig, da fühlen wir daß er wahrhaft unser Bruder, daß er ein Mensch geworden ist. Eben so von dem Augenblik an wo unser Erlöser auftritt als solcher, wo er das Amt des Lehrers übernimmt, wo er die große Botschaft daß das Reich Gottes kommen solle ausspricht, wo er durch wenige begeisterte Männer einen engeren Bund gründet zur Aufrichtung desselben, von diesem Augenblik | an erscheint er ganz vollendet. Wir sind nicht im Stande einen Zuwachs in seiner Erkenntniß wahr zu nehmen, es ist immer dasselbige Bild was ihm vor der Seele schwebt, und wo er es mit deutlichen Worten nicht enthüllt, so sagt er es deshalb zu verschweigen weil sie es noch nicht tragen könnten. In ihm ist die göttliche Weisheit und der göttliche Verstand eben so vollendet wie die göttliche Erbarmung und Liebe. Aber laßt uns hintreten zu seinem ersten Lager, anschauen seine irdische Geburt. Wenn wir nicht 8 Bild] folgt )und Gestalt* 10 und] folgt )durch die* 10 der wir] über der Zeile 25 ist.] folgt )Aber* 26 Eben so] am Rand mit Einfügungszeichen 27 des] folgt )Erlösers* 27 Lehrers] über der Zeile 7 Vgl. Jes 65,17; 2Petr 3,13; Offb 21,1

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irre werden wollen an ihm, sein Dasein nicht ansehn als einen leeren Schein so müssen wir da gestehn und fühlen er habe sich eben so allmählig entwikelt als wir, das Auge des Geistes sei ihm nur allmählig aufgegangen und allmählig sei er gelangt zum Bewußtsein der göttlichen Kräfte die in ihm wirkten, eben wie wir es auch müssen. Darum freuen wir uns auf eine so eigenthümliche sichere Art darüber daß er Mensch geboren ist, darum fühlen wir seine Gleichheit mit uns als eine Wahrheit, als eine Beglaubigung daß er unser Bruder geworden ist, ein Mensch wie wir mit denselben Geberden und unter denselben Verhältnissen erfunden. II. Aber zweitens sei es auch unser Bestreben in dem Bilde seiner Kindheit das eigenthümlich göttliche welches ihm einwohnt in seiner ganzen Reinheit anzuschauen. Wenn wir uns fragen, was ist denn das eigenthümlich göttliche wodurch er sich von uns immer unterscheidet: so können wir es nicht in dem suchen was wir auch für uns als Gewährleistung ansehn daß wir göttlichen Geschlechtes sind: sondern wir müssen Gegentheils vielmehr fragen was ist das ungöttliche, das uns allen anklebt und von dem wir uns nie ganz ablösen können? Es ist dieses Einmal daß in unserer Hülfsbedürftigkeit in der Nothwendigkeit fremder Leitung und Liebe für uns die Möglichkeit liegt, daß das was Andere für uns thun müssen auch aus unrichtigen Bewegungsgründen und in verderbtem Sinne geschehen könne, und daß schon so eine solche Mischung | der höher geistigen mit sinnlichen und eigensüchtigen Bewegungsgründen stattfindet, welche sich mit einem rein göttlichen Dasein nicht verträgt. Wenn in der Zeit der ersten Kindheit und von da durch die ganze Zeit des bildsamen Lebens wo die Sinnlichkeit das Uebergewicht hat über das geistige, wenn in dieser Zeit auf den Menschen gewirkt wird aus persönlichen eiteln und eigensüchtigen Bewegungsgründen, wenn etwas äußerliches in ihm gebildet wird und gepflanzt so streut dies schon den Samen des irdischen in seine Seele welcher nicht unterlassen wird aufzugehn und Früchte des Verderbens zu tragen. – Ferner ist es auch dieses daß in unserer allmähligen Entwiklung der in uns liegenden Kräfte wir eigentlich niemals das rechte Maaß halten und den rechten Schritt, sondern die meisten unsrer Fortschritte im Guten und Bösen entstehn durch das Schwanken von der einen Seite zur andern und so daß immer zugleich die Sinnlichkeit ein Uebergewicht erhält, daher denn unvermeidlich zugleich mit dem Guten auch das Böse sich entwikelt, und mit der Ausbildung der Vernunft und der Sinnlichkeit jener Streit zwischen beiden entsteht von dem wir nie ganz das Ende finden. – Es ist dieses endlich daß die Sinnlichkeit wenn sie durch ihr Uebergewicht die göttliche Kraft zurük drängt einzelne Handlungen hervorbringt in denen

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wir das Gepräge des göttlichen Ebenbildes vermissen, ja eine Gewöhnung erzeugt nur solche zu begehen worin die Züge desselben entstellt sind; ja daß auch das göttliche selbst gewissermaßen Theil hat an diesem Verderben, indem nicht nur Sinnlichkeit und Vernunft feindlich gegen einander streben, sondern daß auch die Gedanken unter einander sich verklagen, daß in den Verstand selbst des Menschen der Keim des Verderbens fällt, daß er eine Beute wird jener betrügerischen Kunst sich das Recht als Unrecht und umgekehrt vorzustellen, und dasselbe | unter der Gestalt der Ueberlegung und Besonnenheit selbst zu verfälschen. Dies m. Fr. ist das ungöttliche Wesen von dem keiner ganz frei ist. Aber eben dies ist es wovon wir den Erlöser überall rein finden und dieser Unterschied von uns macht, daß er nicht nur in den Tagen der Vollendung, sondern daß er uns schon vom Anfang seines Daseins dieses Verderbens unfähig erscheint. Denken wir uns den Erlöser unter der Pflege und Sorge der Seinigen, können wir uns vorstellen, daß eine ungöttliche Liebe über ihn gewacht habe? daß etwas unreines und verderbliches gewesen sei in der Liebe seiner Mutter? erscheint sie uns nicht in einem höhern Licht als eine ausgezeichnet reine Seele und aller Eitelkeit abgethan, wie sie sich ganz hingiebt als die Magd des Herrn? Dann ward er unter heiligen Ahndungen und Prophezeiungen göttlicher Boten welche den Gemüthern reine Andacht fromme Erwartung einflößen mußten, ins Leben eingeführt. Da erschien er den Seinigen von Anfang als der Gesalbte, als der göttliche Diener und Gesandte des Herrn, und nur eine solche andächtige auf das Höhere gerichtete Liebe war es, die ihn auferzog. Denken wir uns den Erlöser eben so wie wir ihn vorher in seinen rein menschlichen Verhältnissen dachten eben so seiner Kräfte sich allmählig bewußt werden wird Einer glauben können daß Er jemals von dem rechten Maaß gewichen sei, daß das ursprüngliche Verhältniß das in dem innern Grunde der menschlichen Persönlichkeit liegt zwischen dem Licht und dem göttlichen Frieden in uns und zwischen der sinnlichen Kraft, daß dieses jemals auf einen Augenblik in ihm getrübt sei, daß je das Irdische sei vorangestellt worden dem geistigen und himmlischen? In seiner ersten Erscheinung auf Erden ist er der reine Mensch, ihm klebt nichts an von fremdem Verderben, ihm ist nichts verderbliches eingepflanzt worden, und eben so erscheint er uns | als das himmlische Kind, als der heilige Jüngling, als der ganz göttliche Mann, ähnlich immer als der Sohn dem Vater. Und wo erbli1 Gepräge des] über der Zeile mit Einfügungszeichen an

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ken wir diese göttliche Reinheit des menschlichen Wesens bestimmter und genügender als darin daß das göttliche in ihm rein war und sich erhielt, daß in ihm das menschliche Herz unverderbt gewesen ist und nie jenes trotzige verzagte Ding daß in ihm nicht stattfand ein Kampf zwischen der Vernunft und Sinnlichkeit, ein Widerstreit der Gedanken. Und diese Unmöglichkeit daß in ihm das Höhere verrükt wurde, eben diese ist es weshalb uns keine Beschreibung genügt und keine Abbildung wir finden daß noch etwas ist ein Glanz eine Reinheit die noch zur Vollkommenheit des Abbildes fehlt und die wir nur im Gefühl tragen. Wohlan m. Fr. da er so ein Mensch geworden, bis zur Gemeinschaft alles menschlichen im höchsten Sinne sich selbst herabgelassen und dabei doch das göttliche rein erhalten, so sei nun jeder gesinnt wie Jesus Christus auch war. Seine Erniedrigung werde unsere Erhebung seine Entäußerung unser Heil. Laßt uns uns selbst sättigen mit der Vorstellung des heiligen reinen unverdorbenen und unverderblichen Kindes Jesu. Dieses göttliche Bild reinige die Liebe und Arbeit, die wir dem künftigen Geschlechte widmen, sie durchdringe uns damit wir in denen die uns gegeben sind die menschliche Natur rein zu erhalten suchen von allem Unwesen der Welt. – Die Vorstellung von der Art wie er sich entwikelt und zugenommen hat an Gnade bei Gott und den Menschen, sie schwebe uns überall vor wo wir auf uns selbst zu wirken haben; sie halte uns vor ein heiliges Bild, welches wir zwar nie erreichen, das aber in jedem Augenblik beiträgt den falschen Schein zu vernichten und das Gemüth zu reinigen daß es des himmlischen Lichtes theilhaftig werde welches von ihm ausstrahlt. Aber vor allem die Vorstellung seiner unbeflekten Heiligkeit treibe uns an alle uns | anklebende Sünde uns abzuthun, daß wir das göttliche rein erhalten in uns, daß das Heilige, was uns schon aus den Augen des neugebornen Christus entgegenstrahlt unser Antheil werde, daß auch in uns geboren werde der göttliche Erlöser, damit auch wir Menschen werden wie er, und es uns anmaßen dürfen zu erscheinen in göttlicher Gestalt. Dazu laßt uns anbeten das göttliche Kind den Heiland der Welt, darzustellen (?) von dem Augenblik an wo er uns erschien sein heiliges Bild, daß es in uns wachse und zunehme und sich unser ganzes Wesen gestalte in die Ähnlichkeit mit ihm, um derentwillen wir nach seinem Namen heißen, einem Namen der über alle Namen ist und vor dem sich beugen sollen alle Knie im Himmel und auf Erden. Amen. 34 Welt,] folgt )ihn* 4 Vgl. Jer 17,9

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1.) 17. Jun. 10. Act. 2, 43. Ueber die Furcht die der Geist hervorbringt bei dem Bösen, dem Trägen, dem Unentschlossen. 2.) 24. Juni 10. Act. 2, 44.45. Das gemeinsame Leben der Christen wie es sich als Gesinnung entwickelt, wie es im Leben erscheint. 3.) 19. Aug. 10. Bekehrung Pauli. 4.) 26. Aug. 10. Act. 10, 4. Welche der guten Werke von Gott, die noch nicht aus dem Glauben hervorgehn. 5.) 2. Sept. 10. Act. 11, 15. Mittheilung geistiger Gaben. 6.) Erndtefest. 30. Sept. Gal 6, 7.8. Verschiedene Art wie die Arbeit des Menschen an der Erde verrichtet wird in Bezug auf Sinn und mit Erfolg. 7.) 7. Oct. 10. Act. 13, 6–11. Vom christlichen Strafrecht; in welche Fällen und auch welche Weise. 8.) 14. Oct. 10. Act. 14, 21.22. Ueber die Fortwährenden Geistesbedürnisse, Stärkung und Belehrung über die Zukunft. 9.) 28. Oct. 10. Act. 15, 1. Ueber die Versuchung die christliche Wahrheit durch menschliche Zusätze zu ergänzen wie sie entstehn und wie sie überwunden werden. 10.) 11. Nov. 10. Act. 16, 35–37. Ueber das Recht sich Genugthuung zu verschaffen. Abhaltungsgründe, stärken Antreibungsgründe. 11.) 18. Nov. 10. Act. 17, 22–31. Ueber das eigenthümliche des Christen und des allgemeinen der Frömmigkeit. 12.) 25. Nov. 10. Act. 19, 13–17. Ueber den Mißbrauch des Namens Jesu. Was noch jezt diesem Name dient und sich auch noch eben so bestrafte. 13.) 9. Dec. 10. Luc. 1, 41–55. Die Erwartung derer die auf eine Verklärung des Herrn hoffen, gläubige, gerechte und auf das geistige gerichtete. 14.) 25. Dec. 10. 15.) 1. Jan. 11. Matth. 24, 6flg. Früchte der Ermahnung. Erschrekt nicht, erkaltet nicht, harrt aus. 16.) 28. Apr. 11. Der Friede Jesu (Joh 20, 19sq.) Friede mit der Welt, mit Gott mit sich selbst unter einander.

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Aus Schleiermachers Predigt am 1. Weihnachtsfeyertage 1810. So verschieden die Verhältnisse und Beziehungen unserer Feste auf Christum sind: so haben sie doch alle diesen Mittelpunkt. Denn das eine schließt 26 9.] 18.

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den Himmel auf, das andere erleuchtet die Erde, das eine stellt dar das einzige Band welches alle zu einer Gemeinschaft verbinden soll, wenn das andere sich auf das Einzelne des menschlichen Lebens, auf das Bedürfniß des Herzens eines Jeden sich bezieht und so scheint uns die Bedeutung des Festes, das wir in diesen Tagen begehen. Wenn uns die große Begebenheit erzählt wird daß von dem in der Nacht gebornen göttlichen Kinde ein himmlisches Licht ausstrahlt, so findet sich ein jeder in einer Gemüthsfassung, die schwer ist zu beschreiben und schwer zu verstehen. Denn es ist nicht nur das künftige Heil, das wir hier im Kinde erblicken, es ist nicht allein der später so vollendet vor uns stehende, dessen Züge wir im Kinde ausspähen, sondern zum Kinde fühlen wir uns hingezogen in einer eigenthümlichen Andacht und wir sind uns bewußt, daß keine äußere Darstellung genügt daß wir etwas tieferes bey seinem Anblicke finden in unseren Herzen, das wir aussprechen möchten, daß etwas unbegriffenes und unbegreifliches liegt in diesem Anblicke, in dem sich alle unsere Gedanken vereinigen. Indem ich voraus setze, daß dieß das gemeinschaftliches Gefühl unser aller ist, will ich unser Nachdenken hinlenken auf den Grund dieses eigenthümlichen Gefühls der Frömmigkeit und Andacht, von der wir uns ergriffen | fühlen gegenüber dem Kinde Jesu. Philip. 2, 6 sq. Eben das worauf uns in diesen Worten der Apostel aufmerksam macht als in Jesu Christo vereinigt auf eine eigenthümliche höhere Weise, die göttliche Gestalt und die menschliche Geberde, eben das enthält auch den Grund des besondern frommen Gefühls, das uns in diesen Tagen erfüllt. Zu welcher andern Zeit, in welcher andern Gestalt wir den Erlöser betrachten mögen in dem Laufe seines Berufes auf Erden oder im Augenblicke seiner Vollendung, nirgends sehn wir das rein menschliche und rein göttliche so einfach neben einander, und niemals für sich so deutlich als eben wenn wir ihn uns vorstellen in seiner Ankunft auf der Erde. Das sey es womit wir uns beschäftigen: 1. Was ist das rein Menschliche und 2. was das rein Göttliche. I. Jesus Christus ob er wohl von göttlicher Gestalt war hielt es nicht für einen Raub Gott gleich [zu sein], sondern nahm Knechtsgestalt an und ward an Geberden als ein Mensch erfunden. Und dessen sind wir uns bewußt, wie könnten wir sonst auch das Heil Christi verstehn. Im Menschen selbst ist zwar etwas Göttliches, aber was ist das irrdische Loos, in welchem dieses göttliche erscheint, was ist die menschliche Geberde, um derentwillen der Erlöser sich so entäußerte. Es ist dieses, einmahl, daß das Menschliche ungeachtet des Göttlichen in ihm sich doch nirgends selbst genügt daß er von allen Seiten bedürftig erscheint und 2. daß auch das Göttliche in 17 unser] unsere

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ihm unter dem Gesetze der Zeit steht, sich nur allmählig und in bestimmten Graden entwickelt. Und eben dieses irrdischen Looses, das er mit uns gemein hat, werden wir so deutlich inne, wenn wir uns zu ihm dem neugebornen Kinde versetzen. Nur weniges ist uns aufbehalten von der frühern Zeit der Geschichte seines Lebens, nur wenige Züge von seiner Kindheit und dann folgt gänzliches Schweigen bis er auftritt als vollkommner göttlicher Lehrer. Wo wir ihn in diesem Berufe finden, da können wir das irrdische und menschliche Loos nie so deutlich wahrnehmen. | Derjenige, der die göttlichen Lehren verkündet, die Blinden sehend macht und die Tauben hörend und der die Kranken heilt und die Todten auferweckt, wer könnte ihn sehn, in äußerlich niederer Gestalt einhergehn, wenn er auch nicht verschmähte ein geselliges Leben mit einigen Wenigen, wenn er auch von ihnen sich bedienen ließ, er erscheint doch in dem Maße, als er Hülfe spendet, selbst keiner Hülfe bedürftig. Derjenige der eine neue Ordnung der Dinge stiftete, unter dessen Handeln und Wirken das Alte vergeht, damit ein neuer Himmel und eine neue Erde hervorgeht, der zugleich in sich trägt das Bild einer neuen Welt und Gestalt des menschlichen Daseyns, der scheint jene frühere Hülfe nicht empfangen zu haben, durch die wir fortschreiten im Guten, und von der wir, was wir Gutes haben, ableiten. Ja sogar um diejenigen, die mehr in Absicht ihrer Wirkungen als Gesinnung ähnlich sind dem Erlöser, die nur in einzelnen Dingen als große Wohlthäter des Menschengeschlechts erscheinen, um solche, die freylich auch durch ihr Thun und Wirken beytragen zur neuen göttlichen Ordnung, aber weniger von einem höhern Bilde geleitet, als nur als Diener und Werkzeuge des göttlichen Schicksales, gehalten und getragen von göttlicher (Absicht und) Nothwendigkeit – selbst um diese lagert sich ein Schein von göttlicher Heiligkeit, wie vielmehr umfließt diese den Erlöser. Und dergestalt mischt sich in ihm das Göttliche und Menschliche daß wir es schwer sondern. Aber laßt uns hintreten zu seiner ersten Erscheinung; da sehen wir ihn wie andere Menschen, gerade so wie auch die Kinder Fleisch und Blut haben, in eben der hülfsbedürftigen Gestalt, eben der irrdischen Liebe und Pflege bedürftig, da fühlen wir, daß er wahrhaft unser Bruder, daß er ein Mensch geworden ist. Aber von dem Augenblicke an, wo unser Erlöser auftritt als solcher, wo er das | Amt des Lehrers übernimmt, wo er die große Botschaft, daß das Reich Gottes kommen solle, ausspricht, wo er durch einige wenige begeisterte Männer einen engern Bund gründet zur Aufrichtung desselben, von dem Augenblicke an erscheint er ganz vollendet. Wir sind nicht im Stande, einen Zuwachs in seiner Erkenntniß wahr zu nehmen, es ist immer dasselbige Bild, das ihm vor der Seele schwebt, und wo ers mit deutlichen Worten nicht enthüllt, da sagt er es deßhalb zu verschweigen, weil sie es noch nicht tragen könnten. In ihm ist die göttliche Weisheit und der göttli16 Vgl. Jes 65,17; 2Petr 3,13; Offb 21,1

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che Verstand eben so vollendet wie die göttliche Erbarmung und Liebe. Aber laßt uns hintreten zu seinem ersten Lager, anschauen seine irrdische Geburt. Wenn wir nicht irre werden wollen an unserem Schicksale, nicht ansehn sein Daseyn als einen leeren Schein, so müssen wir da gestehn und fühlen, er habe sich eben so allmählig entwickelt als wir, das Auge des Geistes sey ihm nur allmählig aufgegangen und allmählig sey er gelangt zum Bewußtseyn der göttlichen Kräfte, die in ihm wirkten, wie wir es sollen. Darum freuen wir uns auf eine so eigenthümliche sichere Art darüber, daß er Mensch geboren ist, darum fühlen wir seine Gleichheit mit uns als eine Wahrheit als eine Beglaubigung, daß er unser Bruder geworden ist, ein Mensch wie wir, mit denselben Geberden und unter denselben Verhältnissen erfunden. Aber II. ist es auch unser Bestreben (und es gelingt uns) in dem Bilde seiner Kindheit das eigenthümlich Göttliche, welches ihm einwohnt, in seiner ganzen Reinheit anzuschauen. Wenn wir uns fragen, was ist denn das eigenthümlich Göttliche, wodurch er von uns sich immer unterscheidet: so können wir es nicht in dem suchen, was wir auch als Ge|währleistung ansehn, daß wir göttlichen Geschlechtes sind; sondern wir müssen gegentheils vielmehr fragen, was ist das Ungöttliche, das uns allen anklebt und von dem wir uns nie ganz ablösen können. Es ist dieses, einmahl, daß in unserer Hülfsbedürftigkeit, in der Nothwendigkeit der fremden Leitung und Liebe für uns die Möglichkeit liegt, daß das, was andere für uns thun müssen auch aus unrichtigen Bewegungsgründen und in verderblichem Sinne geschehn könne, und daß schon da eine solche Mischung der höher geistigen mit den sinnlichen eigennützigen Absichten Statt findet, welche sich mit dem rein göttlichen Daseyn nicht verträgt. Wenn in der Blüthe der ersten Kindheit und von da durch die ganze Zeit des bildsamen Lebens, wo die Sinnlichkeit das Übergewicht hat über das Geistige, wenn in dieser Zeit auf den Menschen gewirkt wird aus persönlichen eiteln und eigensüchtigen Beweggründen, wenn etwas äußerliches in ihm gebildet wird und gepflanzt: so streut dieß schon den Saamen des Irrdischen in seine Seele, welcher nicht unterlassen wird aufzugehn und Früchte des Verderbens zu tragen. Ferner ist es auch dieses, daß in unserer allmähligen Entwickelung der in uns liegenden Kräfte wir eigentlich niemals das rechte Maß halten und den rechten Schritt und die meisten unsrer Fortschritte im Guten und Bösen entstehn durch das Schwanken von der einen Seite zur andern und so, daß immer zugleich die Sinnlichkeit ein Übergewicht erhält, daher denn unvermeidlich zugleich mit dem Guten das Böse sich entwickelt, und mit der Ausbildung der Vernunft und der Sinnlichkeit jener Streit zwischen ihnen entsteht, von dem wir nie ganz das Ende finden. Es ist dieses endlich, daß die Sinnlichkeit, wenn sie durch das Übergewicht die göttliche Kraft zurückdrängt, einzelne Handlungen hervorbringt, worin wir das Gepräge

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des göttlichen Ebenbildes vermissen, ja eine Gewöhnung erzeugt nur solche zu begehn, worin die Züge desselben entstellt sind; sondern daß auch das Göttliche selbst gar keinen Theil hat an diesem Verderben, daß nicht nur Sinnlichkeit | und Vernunft feindlich gegen einander streben, sondern daß auch die Gedanken unter einander sich verklagen, daß in den Verstand selbst des Menschen der Keim des Verderbens fällt, daß er eine Beute wird jener betrügerischen Kunst sich das Recht als Unrecht und umgekehrt vorzustellen, und dasselbe unter der Gestalt der Überlegung und Besonnenheit, selbst zu verfälschen. Das m. Fr. ist das ungöttliche Wesen, von dem keiner ganz frey ist. Aber eben das ist es, wovon wir den Erlöser überall rein finden, und dieser Unterschied von uns macht, daß er nicht nur in den Tagen der Vollendung, sondern daß er uns schon vom Anfang seines Daseyns dieses Verderbens unfähig erscheint. Denken wir uns den Erlöser unter der Pflege und Sorge der Seinigen, können wir uns vorstellen, daß eine ungöttliche Liebe über ihn gewacht habe, daß etwas Verderbliches gewesen sey in der Liebe seiner Mutter; erscheint sie uns nicht in einem höhern Licht, als eine ausgezeichnet reine Seele und aller Eitelkeit abgethan, als solche die sich darstellt als die Magd des Herrn? Unter heiligen Ahndungen und Prophezeiungen göttlicher Boten, welche den Gemüthern eine reine Andacht, eine fromme Erwartung einflößen mußten, wurde er ins Leben eingeführt. Ihnen erschien er von Anfang an als der Gesalbte als der göttliche Diener und Gesandte des Herrn, und nur eine solche andächtige auf das Höhere gerichtete Liebe war es, die ihn auferzog. Denken wir uns den Erlöser, eben so wie wir ihn vorher in seinen rein menschlichen Verhältnissen dachten, eben so seiner Kräfte allmählig sich bewußt werden; wird einer glauben können, daß er jemals von dem rechten Maß gewichen sey, daß das ursprüngliche Verhältniß das in dem reinen Gedanken der menschlichen Persönlichkeit liegt, zwischen dem Licht und dem göttlichen Frieden in uns, und zwischen der sinnlichen Kraft, daß dieß jemals auf einen Augenblick in ihm getrübt (sey), daß je das Irrdische vorangestellt sey dem Geistigen und Himmlischen? In seiner ersten Erscheinung auf Erden ist er der reine Mensch, ihm klebt nichts an von fremdem Verderben, ihm ist nichts verderbliches eingepflanzt worden, und eben so erscheint er uns als das himmlische Kind, als der heilige | Jüngling als der ganz göttliche Mann, ähnlich wie der Sohn dem Vater. Und wo erblicken wir diese göttliche Reinheit des menschlichen Wesens bestimmter und genügender als darin, daß das göttliche in ihm rein war und sich erhielt, daß in ihm das menschliche Herz unverderbt gewesen ist und nie das trotzige verzagte Ding, daß in ihm nicht Statt fand ein Kampf zwischen der Vernunft und Sinnlichkeit, der Widerstand der Gedanken; und die Unmöglichkeit, daß in ihm aus den Gedanken das Höhere verrückt werde, eben diese ist es, weßhalb uns keine 38 Vgl. Jer 17,9

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Beschreibung genügt und keine Abbildung, wir finden daß noch etwas ist ein Glanz, eine Reinheit, die noch zur Vollkommenheit des Abbildes fehlt und was wir im Gefühl tragen. Aber wo er ein Mensch geworden, aber was das Menschliche ist im höchsten Sinne, hat er sich vieles entäußert aber das Göttliche ist rein geblieben. Wohlan m. Freunde, ein jeglicher sey gesinnt wie Jesus Christus auch war. Seine Erniedrigung werde unsere Erhebung, seine Entäußerung unser Heil. Laßt uns uns selbst sättigen mit der Vorstellung des heiligen reinen unverdorbenen und unverderblichen Kindes Jesu, dieses lebendige Bild reinige die Liebe und Arbeit, die wir dem künftigen Geschlechte widmen, sie durchdringe uns, damit wir in ihnen, die uns gegeben sind, die menschliche Natur rein erhalten in allem Unwesen der Welt. Die Vorstellung von der Art, wie er sich entäußert und Mensch unser Bruder geworden ist, wie er sich entwickelt und zugenommen hat an Gnade vor Gott und den Menschen, sie stehe uns überall vor, wo wir auf uns wirken[;] ja sie halte uns vor ein heiliges Bild, das wir zwar nie erreichen, das aber in jedem Augenblick beyträgt, den falschen Schein zu vernichten und das Gemüth zu reinigen, daß es des himmlischen Lichtes theilhaftig werde, das von ihm ausstrahlt. Aber vor allem die Vorstellung seiner unbefleckten Heiligkeit treibe uns an, was uns anklebt von Sünde abzuthun, daß wir das Göttliche rein erhalten in uns, daß das | Heilige, was uns schon aus den Augen des neugebornen Christus entgegenstrahlt, unser Antheil werde, daß auch in uns geboren werde der göttliche Erlöser damit auch wir Menschen werden wie er und es uns anmaßen dürfen zu erscheinen in göttlicher Gestalt. Dazu laßt uns anbeten das göttliche Kind den Heiland der Welt, festhaltend von dem Augenblick an, wo er uns erschien sein heiliges Bild, daß es in uns wachse und zunehme und sich unser ganzes Wesen gestalte in der Ähnlichkeit mit ihm, um derentwillen wir nach seinem Namen heißen, einem Namen, der über alle Namen ist und vor dem alle Knie sich beugen sollen im Himmel und auf Erden. Amen.

8 Kindes] Kinde

20 daß] das

28–29 Vgl. Phil 2,9–10

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Predigten 1811

Nachschrift der Predigt vom 31. März 1811 vormittags, SAr 26, Bl. 30v; Matthisson – Faksimile (85 %). Der linke Seitenrand ist nicht wiedergegeben.

Am 1. Januar 1811 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Neujahrstag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 24,6–13 Nachschrift; SAr 26, Bl. 1r–4v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 1r–13v; Matthisson Keine

Am Neujahrstage 1811. (Nachmittag)

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M. Fr. der Tag, der uns die Zukunft so bestimmt ins Auge zu fassen veranlaßt, bringt unter verschiedenen Umständen und Verhältnissen verschiedene Bewegungen des Gemüthes hervor und verschieden müssen darum auch seyn die Worte der Erbauung und Ermahnung die an diesem Tage in den Stätten unser gemeinschaftlichen Erbauung gesprochen werden. Wir werden uns alle noch zu erinnern wissen an eine Zeit, wo das Leben so eben und ruhig dahin ging, daß es das rathsamste schien, von diesem Tage Veranlassung herzunehmen, uns aus dem trägen Schlummer zu wecken ... Auf diese Zeit folgte eine andere, wo wir uns plötzlich hingerissen sahen in den Strudel einer zusammenhangenden Reihe von Unfällen, hinabgestürzt von einer Höhe, auf der wir uns lange einheimisch gefunden hatten, zerstört das meiste von dem, was einem jeden lieb und theuer war und immer noch begriffen in banger Erwartung dessen was noch kommen könnte. Jetzt ist es anders. Wir sind alle in einer angestrengten Thätigkeit um das Andenken und die Spuren jener unlängst vergangenen Übel zu verwischen und eine neue Zukunft zu bereiten von der wir alle ein Bild in uns tragen; aber die Welt ist noch in Gährung die Ungewitter des Krieges wogen noch anderwärts, wir wissen nicht wie und wie bald sie uns wieder näher ziehen können und so sind wir denn indem wir uns auf der einen Seite des Überstandenen freuen und zur Thätigkeit ermuntern, auf der andren erfüllt mit Besorgnissen, wie leicht, was wir jetzt bauen, wieder könnte zertrümmert werden. – Laßt uns in dieser Stunde der Andacht uns zu solchen Gedanken und Entschließungen erheben, welche unsern gegenwärtigen Umständen die angemessensten sind. Matth. 24, 6 seq. M. Fr. in diesen Zügen, durch welche der Erlöser seinen Jüngern eine Zukunft darstellt, die ihnen nicht fern war, ist allerdings manches, was uns

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fremd ist, und nach | der jetzigen Lage unsrer Verhältnisse fremd seyn und bleiben [wird]. Ich will auch keinesweges, indem ich sie zum Mittelpunkt unserer Betrachtung gewählt habe, auf eine Ähnlichkeit des Erfolges hindeuten; denn wie oft in der Welt unter gleichen Veranlassungen Gleiches entsteht so werden wir auch jetzt hie und da manches eben so wahrnehmen, wie es in den Worten unsers Textes aus gesprochen ist. Aber abgesehn von allen Einzelheiten, werden wir alle darüber einig seyn, daß vieles darin enthalten ist, was wenigstens dem Wesen der Gegenwart entspricht, und gerade dasjenige, was am meisten unser innerstes frommes Gefühl anspricht. So laßt uns von diesem Worte der Ermahnung hernehmen, welche ich unserm gemeinsamen Nachdenken als Frucht, die keinen geräuen wird, wünschen möchte. Es sind deren besonders 3 in unsern Textesworten enthalten. 1. Sehet zu und erschrecket nicht über alles, was um euch geschieht. 2. Laßt die Liebe nicht erkalten und 3. Harret aus bis ans Ende. I. Ihr werdet hören von Krieg und Kriegsgeschrei, sehet zu und erschrecket nicht. Was das für eine weise Lehre sey, m. Fr. wie glücklich der zu preisen, und wie viele Vorzüge vor allen andern ihm werden müssen, der nicht erschrickt, das fühlen wir und unsere Erfahrung muß dem Zeugniß geben. Wie vieles von dem, was wir aus jener unglücklichen Zeit bedauern, ja, worüber wir uns schämen müssen, ist nicht daraus zu erklären, daß als Krieg und Kriegsgeschrei kam, als Unfälle aller Art über uns hereinbrachen daß wir da erschraken. Der Schreck benimmt den Menschen die Besonnenheit und den Zusammenhang der Gedanken. Statt des Wichtigen ergreift er nicht selten das Unbedeutende, statt des richtigen Blickes, womit er sonst in seinen Angelegenheiten entscheidet, ist das Auge geblendet, getrübt, statt der Entschlossenheit und Geistesgegenwart, daran er sich sonst zu erfreuen hat im Handeln, verwickelt er sich | in die verkehrtesten Maßregeln. Darum ist es für den geschäftigen Theil des Lebens eine weise und besonders den gegenwärtigen Umständen angemessene Rede: Erschrecket nicht. Aber auch in einer andern Beziehung in welcher wir unser Leben ansehn als Gottesdienst, ist dieß eine wichtige Regel der Gottseligkeit; denn in diesem Zustande des Gemüths wenn der Mensch erschrickt, geschieht es, daß er in seinem Innern den Zusammenhang zwischen sich selbst und dem höchsten Wesen verliert, daß er nur sich wahrnimmt nur sich selbst gegenüber dem Gegenstande seiner Furcht, daß alle Tröstungen, die daraus entspringen müssen, wenn wir alles was geschieht nur ansehn als das Werk der ewigen Weisheit und Macht, nur eine natürliche Verbindung von Ursache und Wirkung, als natürliche Folge der ewig waltenden Kräfte und Gesetze, daß alle diese verschwinden, so oft wir erschrecken. Es übermannt uns ein unerklärliches Gefühl, wir sind in der Gewalt eines unbegriffnen

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Gegenstandes, und eben deßwegen unfähig der Ruhe und Fassung des Gemüths, die den Frommen niemals verlassen sollte. Darum m. Fr. vorzüglich darum erschrecket nicht, damit euch das Bewußtseyn von Gott, das lebendige Gefühl der allwaltenden Macht und Weisheit, das Wissen um die ewige Liebe, und das Anschauen derselben in allem was geschieht, damit euch das nicht entschwindet, damit ihr nicht alles was ihr vergehn seht, nur anseht als Zufall den ihr nicht versteht, als Ungefähr, das keinen Grund hat und den gänzlichen Untergang der Vernunft und aller göttlichen Gesetze zu sehn glaubt. Aber freylich um nicht zu erschrecken, was giebt es dazu für ein Mittel? Keines als daß wir uns in regsamer besonnener Thätigkeit erheben, daß wir uns immer mehr hineingewöhnen und darin üben, ehe die furchtbaren Gegenstände nahen die uns Ruhe und Besonnenheit zu rauben drohen, daß wir auf alles was uns am leichtesten überwältigen könnte | merken, daß wir, ein jeder auf seine Weise und nach dem Maß seiner Erkenntniß und Einsicht, Achtung geben auf die thätigen Kräfte und uns fragen, wie weit sie wohl ihre Wirksamkeit ausdehnen werden, was für Erfolge zu erwarten stehen, daß wir uns so lange das Furchtbarste noch fern ist, immer halten an jenes fromme Gefühl der Nähe und Macht des Ewigen, uns Vorwürfe machen wenn uns nur bewegt was uns selbst angeht, daß wir überall jenen höhern vom Göttlichen ausgehenden, jenen sittlich frommen Gefühlen die Oberhand verschaffen über diejenigen, die uns in die Gewalt der Sinnlichkeit einleiten, daß wir eben darum die Macht der Besonnenheit stärken für den Augenblick wo uns die gefürchteten Übel treffen, und dann m. Fr. jenes Vertrauen, daß auch die Pforten der Hölle nicht vermögen die Rathschlüsse des Ewigen zu ändern, daß ohne seinen Willen kein Haar von unserm Haupte fällt, daß er allein waltet in den Angelegenheiten der Menschen – das zusammen wird uns sichern, daß wir nicht erschrecken, wenn auch wieder irrdische Noth über uns kommen sollte. II. Die zweite Ermahnung, die wir in unserm Texte finden ist die: Laßet die Liebe nicht erkalten. Ja m. Fr. wir haben es alle gefühlt in jenen Zeiten des Schreckens und der Trübsale, wie viel dem Menschen bleibt, dem die Liebe geblieben ist, wir haben es gefühlt, wie sie uns erweckt hat und gestärkt, zu dulden das Unvermeidliche, zu hoffen das Beßere, zu fühlen die Kraft in uns die sich bald wieder erheben mußte so bald der äußere Druck nachließ, wir haben es inne werden müssen, wie wir uns durch die Kraft der Liebe in uns beßer fühlten und kräftiger, als die welche zu uns kamen mit Siegeskränzen geschmückt, und bald wieder dahin zogen belastet und beladen mit unsern Sorgen und unsern irrdischen Gütern. Darum 21 Gefühlen] Geühlen 26 Vgl. Lk 21,18

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m. Fr. laßt die Liebe nicht erkalten. O es ist ein Zuruf dessen Werth wir alle fühlen, aber mögen wir auch erkennen und eingestehn, wie wichtig er gerade jetzt ist. Je mehr sich die Verhältnisse | der Menschen verwirren, je weniger alles in dem alten gewohnten Geleise geht und die buchstäbliche Auslegung des Rechts der einfache Sinn der Gesetze, das bloße Halten an das Hergebrachte und die eingeführte langbestanden Ordnung hinreicht, um das gemeinsame Leben zu erleuchten und zu leiten, um desto mehr verwirrt sich die Meinung und die Neigung, um desto mehr geschieht es, was der Erlöser in unserm Text sagt: daß viele sich hassen und verrathen und daß die Ungerechtigkeit sich vermehrt. Denn in der Verblendung eines mißverstandenen Eifers, in der Spannung der Gemüther, wie leicht wird da die Gränze des Rechts überschritten, wie leicht thut jeder was er nicht sollte was er aber thun zu dürfen meint und das Ungewöhnliche nicht entschuldigen zu können mit der Ungewöhnlichkeit der drängenden Umstände. Und wie sich auch mische das Wahre mit dem Schein ... die Wirkung ist immer die nehmliche auf das Gemüth. Denn es wird die Entscheidung über das, was recht ist und gut immer mißlicher und unsichrer, und wenn jeder geneigt ist jedem andern, der nicht seine Ansicht darüber theilt, verwerfliche Beweggründe zu zu schreiben; so entstehn daher Uneinigkeiten Spaltung der Geister der Partheyen, daher daß viele sich hassen und verfolgen. Aber wenn dieß auch geschieht, wer nicht erschrickt, der wird leicht einsehn, daß auch dieß nur ein natürlicher Erfolg ist, er wird auch darin die menschliche Gebrechlichkeit und nichts mehr erkennen; wird es natürlich finden daß unter solchen Umständen das Böse und die Fallen und Laster der Menschen, Selbstliebe, Eigennutz, Habsucht sich schneller entwickeln als in gewöhnlichen Zeiten. Dennoch aber – laßt die Liebe nicht erkalten. Ist doch eben diese menschliche Natur mit allen Schwächen, mit aller Gebrechlichkeit, ist sie doch der Gegenstand der ewigen Liebe unsers himmlischen Vaters, der Liebe die auch des einzigen Sohnes nicht verschont sondern für uns dahin giebt in den Tod; wie sollten wir sie nicht lieben diese unsere Brüder auch da wo wir uns selbst erhaben fühlen über das Böse, was ihnen noch in größerem Maße anklebt. Ja dabey laßt uns festhalten, darauf uns die Hand geben, so wie für jedes Gute auch dafür zu wachen, daß die Liebe in uns nicht erkaltet. Ich sehe hinweg von dem, was jedem das eigene Herz sagt, von den Gefühlen und Empfindungen gegen die, welche uns vereint sind durch die Bande der Natur, verwandt durch die Verhältnisse des gemeinsamen Lebens; aber auf das was das Wichtigste ist, aber das uns gewöhnlich das Entferntere | zu seyn scheint, auf unsere Beziehung zu dem größern Vereine, darauf möchte ich euch hinweisen. Laßt die Liebe nicht erkalten zu dem Staate, in dem wir versammelt wohnen; laßt uns oft sagen, wie glücklich wir uns fühlen, auch in den Tagen des Unglücks, ihm anzuge29–30 Vgl. Röm 8,32

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hören, wie tief wir uns durchdrungen fühlen von der Überzeugung, daß uns nur hier wohl seyn kann, daß nur hier in freyer Thätigkeit die Kräfte sich entfalten, daß wir nur in einem solchen Verein, wo das Recht und die Liebe wohnt, die Gaben und Güter froh erwerben und in Ruhe genießen können. Und dann, der an der Spitze derselben steht, der Herrscher, der es wohlmeint mit uns, den Gott uns erhalten hat, mitten durch alle Gefahren und Drangsale, der uns theuer geworden ist durch Entbehrung und Schmerz, dessen väterliche Fürsorge wir erkennen in allem was er thut. – Laßt die Liebe zu ihm niemals erkalten. Es giebt Störungen Verwirrungen, Augenblicke wo uns diese Bande weniger theuer erscheinen. Laßt uns bedenken, daß alles dieß nur zufällig ist und vorübergehend; laßt uns in die innerste Tiefe des Herzens hinabsteigen, wo wir fühlen dieselbige Treue und Liebe und Anhänglichkeit als ein Theil unsrer Selbst, und dann wie sich darüber alles wälzt verwirrt und zerstört, laßt die Liebe nicht erkalten. Laßt die Liebe nicht erkalten zu dem Vaterlande nicht in jenem engen Sinn, sondern in dem umfassenden zu dem Deutschen Vaterlande und zu allem was deutscher Sinn ist und deutsche Art. Freylich ist der Name wunderbar gestaltet; vieles ist was sich verraten hat, und sich haßt und verfolgt, und in den jetzigen Verhältnissen scheint nur die Ungerechtigkeit zu walten; aber laßt uns fest halten, daß das Band der Natur das uns mit den deutschen Brüdern vereinet, stärker ist als alle vorübergehende Trennung und Noth, laßt uns uns bewußt werden, daß wir von Gott ihnen näher beygesellt sind als allen die sonst Natur und Bestimmung mit uns theilen. Ihr Wohl erscheine uns als das unsere und daran laßt uns arbeiten in Liebe und Eintracht des Geistes, die ja hervorgehn soll aus der gemeinsamen Sprache und Sitte; daran laßt uns arbeiten und immer neu erwecken die Liebe, wohlwissend wieviel wir verlören mit ihr. Laßt die Liebe nicht erkalten zu dem hohen Verein, der uns als Bürger des Reiches Gottes an dieser Stätte versammelt, zum Glauben | unsrer Väter, der uns geworden ist ein Licht und eine sichere Leitung des Lebens, Befähigungsmittel zu jedem Guten, ein Trost im Unglück, die Liebe zu dem Verein, wo alle äußern Unterschiede sich ebnen, wo wir uns gleich fühlen in dem Verhältnisse zu Gott und dem Erlöser, zu dem wir uns auf eine gemeinsame Art erheben, das Niedere vergessen, um allein in dem Höhern zu leben und da zu seyn. III. Wenn wir dabey treu halten: so scheint es der dritten Ermahnung nicht zu bedürfen, denn wir fühlen wie glücklich der ist, welcher alle Furcht und Schrecken abgethan hat und treu ist in der Liebe. Aber laßt auch ihr mich einige Worte widmen mit besonderer Rücksicht auf den Zusatz[:] bis ans Ende. Was der Erlöser hier das Ende nennt war nicht das Ende aller Dinge, sondern nur als Ende von etwas, aller Verwirrungen und Greuel, die 5–8 Gemeint ist Friedrich Wilhelm III. von Preußen.

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er seinen Jüngern vorhersagte, das Ende einer gewissen Ordnung der Dinge die nicht lange mehr bestehen konnte, weil etwas Beßeres an die Stelle treten sollte, der Anfang von dem Triumph des Beßern in Beziehung auf das früher herrschende Schlechte. Auf ein solches Ende sehn die Menschen immer dann besonders, wenn der Weltgeist mit zerstörendem Fußtritt über die Erde wandelt, wenn alles sich umzuwälzen scheint, wenn der Kampf des Guten und Bösen vorzüglich stark und heftig geführt wird. Und ein solches Ende haben wir im Sinn, wenn wir uns den Zustand der Welt klar machen. Jeder sieht und fühlt es, daß es so nicht bleiben kann; etwas von dem was bisher bestanden muß untergehn und andres entstehen, das Ende muß zugleich Anfang seyn; denn Herrlicheres wird hervorgehn aus den Trümmern und das Gute siegen über das Böse. Und wer beharrt bis ans Ende, der wird errettet. Freylich bis ans Ende beharren hängt nicht von uns ab; es ist die Sache dessen, der der Herr ist des Lebens, wer von uns erleben oder nicht erleben soll das Ende. Aber wer es nur fest im Auge hält, wer den Glauben theilt, er erlebe es oder nicht wenn er nur treu bleibt in seiner Arbeit, der ist gerettet; denn er ist mit allen Sinnen und Thun mit seinem ganzen Wesen in seiner beßern Zeit; ihr ist er ergeben; sie, die noch nicht da ist aber kommen muß auch mit durch seine Treue, seinen Fleiß, sie ist sein heiliger frommer Genuß; er läßt alles fahren, in der festen Zuversicht aufs Beßere. Das ist das Beharren bis ans Ende. Nicht auf die Länge des Lebens kommt es an | ... es ist allein Sache der Gesinnung und wer in diesem Sinn bis ans Ende beharret, der wird errettet, der ist erhaben über alle Noth, in jedem Augenblick fern der Verzweiflung, fern alles Bittere der Schicksale zu empfinden, die auch ihn treffen, weil er aufs Höhere sieht, die Zukunft die er im Auge hat, erhebt ihn über die Gegenwart, tröstet ihn über die Vergangenheit, und so werden die verschiedenen Richtungen des Lebens Eins und stimmen zusammen zu einem Genuß und einer höhern Art des Daseyns darin, daß wir uns so die Zukunft aneignen, und auch nur in dem Sinn dessen sie es seyn wird, sondern seyn soll. Und wer sie sich so aneignet, der hat das ewige Leben schon hier, und er ist gerettet, ist selig. So, meine Fr. laßt uns eintreten in das neue Jahr des Lebens, das wir heute beginnen, furchtlos und besonnen mit dem Herzen voll Liebe und vertrauungsvoll alle unsere Angelegenheiten anheimstellen dem, der auch die Zukunft herbeyführt als Gegenwart und der nicht vergebens predigen läßt von seinem Reiche an allen Enden der Erde. Darum sey uns gesegnet der Glaube, der uns zu dieser innern Verfassung erhebt, gesegnet uns die Vorbilder der Standhaftigkeit der Liebe und Treue die wir verehren in den Vorfahren des Glaubens so wie der geselligen Verbindung, gesegnet alles was darauf abzweckt, ja Herr segne auch in dem künftigen Jahr den König etc.

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Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 2,2–11 (Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 26, Bl. 5r–8v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 15r–19v; Matthisson Keine

Den 6. Jan. 11. Matth. 2. 2–11.

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M. and. Fr. Wenn ausgezeichneten Menschen ausgezeichnetes schon begegnet in dem ersten Anfang ihres Lebens: so ist das sehr oft theils eine wunderbare Weisung auf das, was von ihnen zu erwarten ist, theils giebt es uns Anlaß darüber nach zu sinnen um auch in den geringfügigsten Begebenheiten den Geist jener Zeit wahr zu nehmen. So auch diese uns aufbewahrte Geschichte aus den ersten Tagen unsers Erlösers. Sie stellt uns auf Menschen von verschiedener Art, auf die wir von seiner Erscheinung auf der Erde verschiedene Wirkungen aufgezeichnet finden. Laßt uns diese zum Gegenstande unserer Betrachtung machen. Es sind besonders 3, auf welche wir aufmerksam seyn müssen. 1. Herodes der König in Judäa, dann 2. die Priester und Schriftgelehrten die er zu sich berief und 3. jene Fremdlinge aus dem Morgenlande, welche dieser ganzen Begebenheit die Veranlassung gaben. Laßt uns sehn wie wir ihr Betragen in Beziehung auf das in Christo erschienene Heil an zu sehn und als Erscheinung des menschlichen Gemüthes auf uns und unsere Tage anzuwenden haben. I. Da das Herodes hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem. Er war gefragt worden nach einem neugebornen König der Juden; er wurde gesucht mitten in dem Lande als dessen König der neugeborne Christus war angekündigt worden. Herodes hatte nur die Herrschaft eines Fremdlings – , fremder Gewalt hatte er sie zu danken, unter fremdem Schutze war sie gediehen und erweitert worden. Er kannte die alten Weissagungen von einem eingebornen Könige und die Erwartungen des Volkes die besonders auf diese Zeit gespannt waren und gerichtet auf einen eingebornen dem Volke befreundeten und verwandten Herrscher, der übrigens von dem gro-

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ßen Haufen auf eine vielfältige Weise gedeutet wurde. Da erschrak er und wie wir wissen, alles wandte er an, um | der ihm drohenden Gefahr zu entgehen. Unsre Textesworte zeigen die List, mit der er zu Werke ging um auf die Spur des Kindes zu kommen das ihm gefehrlich werden sollte um Christus aus dem Wege zu räumen, da er durch früher gebrauchte Gewalt nicht hatte zum Ziele gelangen können. Und seit dem, wie groß ist die Anzahl derer gewesen, die so oft aufs neue das Reich Christi angekündigt ward, heftig erschraken, alle nämlich die irgend ein Reich haben von dieser Welt, deren Leben, deren ganzes Daseyn und Kräfte eingewurzelt sind in den irrdischen Dingen, in den niederen Bewegungen der Welt. Diese fürchten sich vor dem geistigen ewigen Reiche eben so wie sich die unsicheren fremden Machthaber fürchten vor der eingebornen Kraft. Und Macht und List, wie damals Herodes haben sie immer angewendet um ihren Endzweck, sich zu befreyen von der Furcht zu erreichen, um zu ersticken und zu vertilgen, was sie fürchten müssen. Sowohl diejenigen, denen es nur um das zu thun ist, was sie schon besitzen Macht und Gewalt zu erhalten, als auch diejenigen die in dem Besitz ihres Daseyns überhaupt ungestört zu bleiben trachten. Macht und List ist seit dieser Zeit so oft angewendet, um das Gebäude des Erlösers zu erschüttern, die heilsamen Wahrheiten seiner Lehre, durch frevelhaften Spott, durch die zusammengesetztesten Kunststücke menschlicher Weisheit darzustellen als Thorheit, als etwas Unhaltbares und Nichtiges, um das was durch Christi Lehre gebaut und gegründet war, umzustoßen und zu mißbrauchen zu verderblichen Zwecken. Dazu hat sich oft die Macht gekleidet in das niedrige Gewand der Heucheley, welches auch Herodes anzog, dazu hat der Verstand und die irrdische Weisheit ausgelockt aus denen, die manches von Christo wußten um es zu verrathen und zu zerstören. Aber das Kind entfloh, auf eine wunderbare Art beschützte es die göttliche Vorsehung | die es jetzt noch nicht untergehn lassen sondern aufbewahren wollte zu einem hohen Zwecke; und es wird immer entfliehen, und wird aufbewahrt werden von Gott durch alle Zeiten hindurch bis ans Ende der Tage. Das ist die Hoffnung, die wir uns aus dieser Erzählung nehmen können, und dieser erste Schutz welchen Gott Christo widerfahren ließ, er ist uns eine sichere Bürgschaft der Weisheit und Güte, womit er die Sache Christi und seiner Verehrer schützen wird, eine Bürgschaft, daß forthin sein Reich, welches er durch ihn gestiftet nicht mehr untergehen wird. Denn je mehr es eingewurzelt ist in das gesammte Leben der Geschlechter, je mehr ihm gehuldigt haben, um so mehr sind auch die Kräfte geschwächt, die sich gegen dasselbe erheben könnten, um so mehr erscheint die Macht und die Heucheley in ihrer Blöße um desto mehr zeigt sich das Reich dieser Welt das sich unbegründet von der göttlichen Kraft erheben will über das geistige, als etwas verwerfliches und ohnmächtiges 40 Welt das] Welt daß

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um desto mehr erscheint die irrdische Gewalt die aber fremd ist der christlichen als etwas Angemaßtes und Vergängliches.

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II. Diejenigen, welche Herodes zusammenbringt, die Priester und Schriftgelehrten um von ihnen zu erforschen, wo derjenige den er fürchtete als König, müßte geboren werden. Sie beriefen sich auf die Weissagungen aus den alten Zeiten, die immer die Erwartungen des Volks nährten und besonders auf diesen Zeitpunkt hingeleitet waren, welche mit einer in der Geschichte begründeten Klarheit die nähern Verhältnisse angaben, woraus das lang erwartete Heil hervorgehn sollte. Wir sehn in ihnen eine Erkenntniß von alle dem, der wir das Treffende und Wahre nicht absprechen können. Aber eben diese und ihre Nachkommen als Zeitgenossen Christi welche ihre Stelle vertreten als er auftrat als der Lehrer und Gesalbte Gottes hatten längst vergessen die frühere Begebenheit, wo gefragt wurde nach dem König der Juden, das Hinweisen nach der Stadt, wo er mußte geboren werden, und er galt nur für | den Jesus von Nazareth. Niemand gab sich Mühe nachzuforschen, ob er sich auch rechtfertigen könne als den, der dort geborn und als König der Juden verheißen war. Wir sehn hier, wie wenig die äußere Erkenntniß hilft um sich den Besitz der Wahrheit zu erwerben und zu sichern wenn es an der Gesinnung fehlt, dieselbe zu suchen und sich zu bewahren. In wiefern die Schriftgelehrten eingegangen waren in die Ansichten des Herodes von dem Messias als sie ihm die Art der Geburt nahmhaft machen, das läßt sich schwer entscheiden. Die Erwartungen des Volks waren sehr mannichfaltig; wenige Beßere hatten ein geistiges Reich im Sinn und einen solchen Beherrscher, welcher von innen das Gute gründen und stiften würde. Die Meisten erwarteten einen weltlichen König, der das Volk von dem harten drückenden Joche, unter welchem es seufzte erretten würde und einen solchen hätten sich die Hohenpriester gewiß gewünscht, und ihn hätten sie lieber auf dem alten Thron gesehn als jenen Fremdling. Allein, als nun der Erlöser auftrat nicht als einer, der durch irrdische Gewalt und durch die Kraft des weltlichen Armes herrschen wollte, nicht als einer, der das Volk aufrief zu den Waffen, um Gewalt mit Gewalt zu vertreiben, nicht als einer, der seinen Einfluß benutzte, um sich die nöthige Macht zu verschaffen und sein Volk in seine alten Rechte einzusetzen; da waren sie weit entfernt ihn an zu erkennen, weit entfernt Untersuchungen über ihn anzustellen um sich zu überzeugen, ob er der sey, den sie erwartet hatten; da wußten sie nichts weiter zu thun als auf seine Worte zu haschen ob sie nicht etwas ergriffen, wodurch sie ihn verhaßt machen könnten. So m. Fr. giebt es ein gewisses Vermögen, die Wahrheit zu erforschen, eine gewisse Bildung des Verstandes, die aber den Menschen doch zu nichts führen und das finden wir auch in der Geschichte des Christenthums. Wie 3 zusammenbringt] zusammenbigt

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von Anbeginn an; ist es immerfort ein Gegen|stand des Streites gewesen; und es hat viele gegeben, die offenherzig eingestanden, daß sie mit ihren Herzen ihm fremd wären, und andere die sich an das Äußerliche desselben hielten, ohne durchdrungen zu seyn von der innern Kraft. Beyden kann man nicht absprechen die Fähigkeit die Wahrheit zu finden und sich ihrer zu bemächtigen; aber auf alle andren Gegenstände wenden sie sie an, nur nicht auf diesen wichtigsten. So war den Schriftstellern die Schrift nicht verschlossen, aus der sie hierüber Belehrung schöpfen konnten, und sie fanden auch sehr gut die Antwort auf Herodes Fragen. Hernach aber, als der Verheißene in einem andern Sinne auftritt; so sind sie gar nicht beschäftigt Untersuchungen anzustellen, ob er der Verheißene sey. So auch wird bey den meisten Menschen der Gebrauch der hohen und herrlichen Kräfte der Erkenntniß auf alle andern Gegenstände eher gerichtet, als die auf das Heil der Menschen sich beziehen. Wo es gilt ihre irrdischen Verhältnisse zu schlichten und festzusetzen, da strengen sie ihren Verstand und Scharfsinn an, da finden sie die auch noch so verborgenen und entfernten Spuren des Richtigen auf; aber der natürliche Mensch vernimmt nicht, was vom Geist Gottes ist; desto fremder ist ihm was sich auf das innere Leben bezieht; auf das Verhältniß des Menschen zu Gott und auf die Art, wie sein Reich soll gestiftet werden, und auf alles, was darüber ist gesagt worden in den alten und neuen Offenbarungen, alle Erfahrungen die wir in unsern Herzen machen; alle Belehrungen die das geöffnete Auge empfängt in dem weiten Felde des Lebens und der Geschäfte, welches uns eröffnet ist; alles ist ihm verborgen und es ist als ob nur das irrdische Licht in ihr Auge falle, daß es aber in Dunkel gegeben ist in Absicht auf alles Höhere. M. F. das findet sich bey vielen Menschen. So wohl bey denen, die uns in den Worten unsers Textes beschrieben werden, als auch in spätern Tagen bey denen, die sich zwar im äußern Gebiete | des Christenthums befinden aber doch in einer Entgegensetzung stehen gegen das Innere. Aber laßt uns nicht verbergen, eben wie häufig wir diese Menschen noch antreffen, das ist der Maßstab wonach wir beurtheilen können, wie wenig noch durch uns die Kraft der göttlichen Weisheit gewirkt hat. Alle diejenigen deren Verstand noch geblendet deren Vernunft einzig noch gerichtet ist auf das Irrdische, sie alle legen ein Zeugniß ab gegen uns, davon daß unser Eifer, womit wir gearbeitet, daß unsere Klarheit, womit wir erleuchtet unsere Liebe womit wir alles umfaßt haben, noch nicht so lebendig waren als sie seyn sollten. Je mehr alle die, die noch fern sind vom Reiche Gottes, aus unserer Nähe verschwinden, je mehr alles, was um uns lebt heraufgezogen wird aus dem niedern Gebiet der Sinnlichkeit und der irrdischen Dinge zum Anschauen Gottes seiner Liebe und seiner Wahrheit, um so mehr kann uns der Geist der durch uns wirkt, Zeugniß geben daß wir Kinder Gottes sind und seine treuen Diener.

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III. Endlich müssen wir noch aufmerksam seyn auf die Personen, die die eigentliche Veranlassung zum Ganzen waren, die Fremdlinge aus dem Morgenlande. Sie werden gewöhnlich (und darum ist auch dieser Begebenheit von der Kirche ein eigenes Fest geweiht) angesehn als die Erstlinge aus den Heiden, als die Ersten aus der Fremde, welche von Christo wußten und als Zeichen, wie die Lehre über alle Völker und Geschlechter sollte ausgebreitet werden. Aber laßt uns die Sache von einer andern Seite ansehn. Vieles bleibt uns dunkel in dieser Erzählung; welches das Zeichen gewesen, das sie geleitet und wie es geleitet hat, wir verstehn es nicht und wenn wir die Frage aufwerfen[:] wußten sie was sie suchten und was sie an dem gefundenen göttlichen Kinde fan|den: so werden wir nichts andres als dieß verneinen können. Wenn sie mehr von dem Messias wußten als die Schriftgelehrten: so hätten sie sich wohl nicht an sie gewendet mit ihren Fragen und wohl ein andres Verhältniß mit Christo angeknüpft, als daß sie ihm ihre irrdischen Gaben darbrachten. Das was sie geführt hatte, wir wollen es nicht unbedingt verachten da wir es nicht kennen; es kann ein richtiges dunkles Gefühl hoher Ahndung gewesen seyn, die Kraft der Wahrheit wie sie in vielen Menschen wohnt ehe sie sich entwickelt und wie sie ohne (menschliche) Absicht durch die Gnade Gottes auf den rechten Gegenstand geleitet wird. Und so stellen uns diese Fremdlinge dar das erste Bild aller derjenigen, die mehr von Seiten eines dunkeln Gefühls dem huldigen, der unser Herr und Erlöser geworden ist, die sich anschließen an ihn, auf ihn hoffen, denen aber sein und seiner Lehre inneres Wesen nicht aufgeht und zur Klarheit gelangt. So giebt’s auch jetzt viele, und hat es durch alle Zeiten gegeben, welche stehen bleiben auf der ersten Stufe der Gottseligkeit, und von denen wir nicht glauben, daß ihnen die höhern Anlagen und Kräfte und die Fähigkeit, sie zu entwickeln nicht gegeben wären, sondern nur, daß sie sie nicht mit gleichen Anstrengungen ausgebildet haben. Und m. Freunde, was ist davon die natürliche Folge. So wie wir auch bey allen diesen Unvollendeten verkennen können das Gute, was ihnen gehört, wie wir gestehn müssen, daß es nichts sträfliches ist, daß ihre Frömmigkeit auch hervorgegangen ist aus dem Innern: so zeigt sich doch daß sie, wie jene Fremdlinge aus der Ferne, Christo nur irrdische Gaben und Geschenke darbringen, und alle jene Gaben, ohne welche sie nicht vor dem König nach der Sitte des Landes erscheinen durften, wie köstlich sie gewesen seyn mögen, sie waren doch nicht dasjenige, wodurch die Sache Christi konnte befördert werden. Gaben und Opfer, sagt der Erlöser, will er nicht, aber das Herz der Menschen hat er sich bereitet zur Stätte, wo er wohnen will; und so hats viele gegeben, die dem Erlöser nur irrdische Geschenke bringen, ihm nur opfern und dienen mit Entbehrungen und Entsagungen und mit äußerlichen Handlungen, die so rühmlich und schön sie seyn mögen, doch 37 Vgl. Hebr 10,5 (Zitat aus Ps 40,7)

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seiner Sache nicht dienen können. Es ist nicht die ungetheilte Darbringung des Gemüthes; sondern ein zerstückeltes Opfer von einzelnen Tugenden und Opfern, die dem Erlöser fremd sind wie es damals dem Kinde die Gaben waren, und die er eben so verschmäht, wie er sie, | ihm dargebracht, dem vollendeten göttlichen Lehrer, verschmäht haben würde. Und so finden wir in dieser ganzen Erzählung gar keine Spur von denjenigen die ganz und auf die richtige Weise dem Erlöser angehören. Da sind einige, welche obwohl im Stande ihn zu kennen, ihn als ihrer Erwartung nicht entsprechend verwerfen[,] andere, welche kommen und ihm dienen aber nur auf irrdische Weise und über das alles war ein großer Schreck in ganz Jerusalem. Und so m. Fr. ist es noch jetzt und immer gewesen, wie viel Aufhebens ist gemacht von Christo und seiner Lehre, wie viel ist gesprochen, gestritten dafür und dawider, wie viel Blut ist geflossen, von der Zeit an, wo Herodes die blutige Maßregel ergriff, sich vor dem gefürchteten verheißenen König zu sichern, bis auf den heutigen Tag, und die Christo wahrhaft angehören, finden wir immer nicht darunter. Wo sind sie denn zu suchen? Nur in der Stille und Zurückgezogenheit. Da war Maria, die des Kindes voll hoher Andacht pflegte, da waren die Wenigen, welche empfänglich für die Idee eines göttlichen Reiches, das durch ihn sollte aufgerichtet werden, die Worte über ihn in ihrem Herzen bewahrten und bewegten; aus dieser Stille ist die erste Gemeinde der Christen hervorgegangen und wie sie zugenommen hat an Ausbreitung und äußerm Glanz, da finden wir in dieser wieder nur diejenigen die Christo gar nicht angehören, und seine wahren Jünger bleiben in der Stille und Verborgenheit. Da also laßt uns ihn suchen, da ihm treu seyn, da ihm darbringen unser Herz und unser Leben. Freylich giebt es auch Zeiten, wo die Verborgenen hervorgezogen werden, wo es gilt Muth und Kraft seinen Namen öffentlich zu bekennen, und die Treue gegen ihn zu besiegeln durch Thaten, und dann geht aus der Stille hervor ein Licht und eine Kraft, worüber die Welt erstaunt, so wie Herodes erschrak vor dem aus der Finsterniß gebornen neuen König. Aber im Ganzen ist doch das Loos der Christen die Stille und Verborgenheit, damit, wenn es Noth thut, wir hervortreten zu handeln, wie es denen geziemt, die Christum gepflegt haben. Darum laßt uns diesen Ort der Vorbereitung nicht leid seyn. Wenn Zeiten kommen, wo uns der Erlöser aufruft, ihn zu retten von der Gewalt der Erde, und ihm treu zu seyn: so kann er sicher rechnen auf die, die ihm treu dienten in der Stille. In diesem Sinne laßt uns der neuen Zukunft entgegengehn, fest entschlossen zu handeln wie es denen geziemt, die dem Herrn angehören mit ganzem Herzen, und uns fern zu halten von dem 12 gemacht] gecht bornen] gebn 17–20 Vgl. Lk 2,19

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großen Haufen der Unlautern; und in wahrer Liebe ihm stets treu ergeben seyn, das ist die beste Vorbereitung auf das, was uns begegnen mag, es sey, was es wolle. Amen.

Am 20. Januar 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,29 Nachschrift; SAr 26, Bl. 9r–12v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 21r–24v; Matthisson Keine

S. den 20. Jan. 11.

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Eingang. Christi Bildung war weder mangelhaft noch fehlerhaft sondern vollkommen zur Erfüllung seines Berufs. Joh. 1, 29. So m. Fr. bezeichnet die Gestalt und das Wesen des Erlösers der Einzige der ihn hinlänglich kannte auf Erden, der die Hoheit seiner Bestimmung ahndete und dem davon ein besonderer, göttlicher Wink zu Theil geworden war. Wiederholt haben Johannes Schüler und spätere Nachfolger sich dieses Ausdrucks bedient als desjenigen, der mit wenigem alles zusammen faßte; wodurch der, den er damit bezeichnen wollte, sich von allen andren unterschied. Ich weiß wohl daß diese eben verlesenen Worte des Evangeliums seit langer Zeit unter den Christen gleichsam das Zeichen und das Bild eines innern Zwiespaltes geworden ist; denn es haben sich getrennt einige, welche Christum mehr als Lehrer des Menschengeschlechts, mehr als Enthüller einer großen göttlichen Wahrheit betrachtet wissen wollten; andere, die ihn mehr ansehn als Erlöser, als den der uns befreyt hat von der Last der Sünde, unter der wir würden haben erliegen müssen; und in diesem Streite sind eben die verlesenen Worte das Erkennungszeichen derjenigen gewesen, welche auf die zuletzt erwähnte Seite getreten sind. Aber es ist dieses ein leerer und nichtiger Streit, der nur ein Unvermögen bezeichnet, das Wesen Christi welches in der Belehrung und Erlösung besteht zu verstehn, denn das eine ist nicht ohne das Andere. Wie? Wenn man nur in seine Leiden und seinen Tod setzen will die Erlösung, giebt es wohl eine größere Lehre als die darin liegt; und wenn man sieht auf die ewigen und herrlichen Wahrheiten, die Christus verkündete, wie? Sind sie nicht die Erlö1 Abk. wohl für Sonntag

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sung des Menschen, ruht sie nicht in ihnen? | Denn was ist die Erlösung derer, die da wandeln in Finsterniß, als das ewige göttliche Licht, was die Erlösung derer, die da gefangen sind in Zweifel und Irrthum als die heilige Wahrheit, worinn besteht die Erlösung für diejenigen, welche in der Irre gingen, als daß ihnen der eine richtige Weg gezeigt wird, welcher führt zu Gott dem Vater, und ich bin das Licht, der Weg und die Wahrheit: so spricht der Erlöser von sich selbst. Darum m. Fr. können wir diese Worte ansehn als bezeichnend ihn in seinem ganzen Daseyn. Darum laßt uns betrachten Christum als das Lamm Gottes, welches der Welt Sünden trägt; und die Art wie sich nach diesem Bilde meine Rede theilen wird liegt in den Worten: Siehe das ist Gottes Lamm welches der Welt Sünde trägt, sagt Johannes vom Erlöser. Auch noch in einer andern Beziehung als der vorhin genannten ruht der Blick einiger Christen mit Wohlgefallen auf diesem Bilde, und erscheint es andern ungenügend für unsere Belehrung und bedenklich für unsere Nachahmung. Es giebt einige, welchen alles entfernen von einem innern stillen Leben und alles nach außen wirken unrecht und gewaltsam erscheint, und in einem stillen, verborgenen Daseyn das schönste Heil des Lebens suchen, und denen ist es willkommen, daß Christus dargestellt wird als das Lamm Gottes. Es giebt andere, welche meinen, nur in dem, was zart und weich sey, nur in der geduldigen Ergebung könne das Heil nicht gegründet seyn, Muth werde erfordert und Kraft, zum Streite seyen wir berufen, und nicht zur Geduld und Nachsicht, und diese, die so gesinnt sind möchten die Blicke ihrer Brüder von diesem Bilde des Erlösers weg wenden. Aber m. Fr. in allen bildlichen Darstellungen giebt es etwas, über das man nicht hinaus gehen darf, und so laßt uns im Vertrauen darauf daß Johannes dieses Bild richtig von unserm Erlöser gebraucht, indem wir dasselbe mit seinem Leben | vergleichen, [sehen] was denn der Mann Gottes dabey mag gedacht haben. Erscheint uns der Erlöser überall nur als der weichmüthige, sanfte freundlich der Geduld sich hingebende; hat er nicht geeifert, gewarnt, gedroht, wo es noth that, und nicht wie die Propheten, sondern gewaltig? Hat er nicht Vorsicht und Muth bewiesen um sich zu erhalten und seine Sache? Aber m. Fr. was es vorzüglich in diesem Bild, worauf es ankommt, ist dieses. Es hat niemals ein allgemein verständliches und übliches Bild gegeben der gänzlichen Reinheit, der vollkommenen Unschuld, und davon, daß die thierische Natur in keiner Art von Gewalt erscheint, als eben das, dessen sich Johannes bedient, und das ist es, was wir vorzüglich am Erlöser zu betrachten haben; nämlich die gänzliche Reinheit seines Willens und Wesens, die gänzliche Leidenschaftslosigkeit in seinem Thun und allen Äußerungen seines Gemüths, und jenes Herrliche, wodurch er hervorragt vor allen irrdischen Menschen, daß die sinnliche Natur nicht erscheint mit eigener Gewalt, die er erst zu bekämpfen hatte, sondern nur als ein 4–5 Vgl. Jes 53,6

6 Vgl. Joh 8,12; 14,6

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zartes und sicheres Werkzeug des Geistes. So m. Fr. war das Lamm Gottes, so sehn wir ihn überall; nicht hat ihm gefehlt der Muth und die Kraft, tausendfach hat er beyde bewiesen aber wofür? Nicht auf sich selbst war er gerichtet, nicht zur Verteidigung seiner eignen Person, sondern auf seine Sache, die er zu führen hatte, auf sein Werk; das er gründen wollte. Aber wo nur eine Rücksicht hätte eintreten können auf sein persönliches Daseyn, da war er der sich hingebende, der sanftmüthige, geduldig leidende. Ich weiß das mit keinem schönern Worte zu erläutern, als was der Erlöser bey einer andern Gelegenheit, aber in einem verwandten Sinne selbst gebraucht: „Wer da lästert gegen des Menschensohn, dem kann es vergeben werden; wer aber lästert den heiligen Geist dem kann es nicht vergeben werden“. | Übersehend langmüthig, was ihn selbst betraf, gelassen, und in keine Leidenschaft zu versetzen und in keinen Unwillen über das, was kränkendes ihn selbst treffen sollte, und was entweder Unverstand oder Bosheit ihm bereitete, war er der muthige Vertheidiger und Streiter, wenn es seine Sache galt, und er, welcher dastand und schwieg, wenn er beleidigt wurde, nicht wiederschalt wenn er gescholten wurde eben derselbe ließ es den Angesehenen Herrschern und Gewaltigen der Erde nicht ungestraft hingehn, was sie gegen die ewige Wahrheit Gottes wirkten und gegen die Ansicht, die er von seinem Reiche ausbreiten wollte. Und so m. Freunde, wenn uns der Erlöser erscheint nur duldend und leidend, in welcher Beziehung ist es? Nur in Absicht auf sein sinnliches Daseyn. Aber wenn wir ihn betrachten in Beziehung auf den Zweck seiner Sendung, dann ist er der muthigste und gewaltigste Streiter Gottes, der immer gerüstete und thätige. Aber das ist die Reinheit und die Unschuld des Lammes Gottes, die scheinbare Schwachheit, daß die sinnliche Natur in keiner Art von Gewalt erscheint, daß keine Kraft, kein irrdisches Leben hervortritt, das nur auf das Sinnliche gerichtet wäre. Einer von den ersten, gewaltigen und mächtigern Gegnern des Christenthums, welcher zu der Zeit, wo dasselbe sich schon weit verbreitet hatte, gern den alten Dienst der heidnischen Götter zurück geholt hätte, machte sich auch Christum zum Gegenstande seines Spottes und fragte, wie derjenige, der nichts weiter gethan als Wahrheiten gelehrt hatte, die jeder schon wisse, und einige Kranke gesund gemacht in einem unbekannten Winkel der Erde, – wie er wohl in Vergleich kommen könnte mit den Helden der Vorzeit, mit jenen gewaltigen Kämpfern, welche die Erde befreyt hätten von den rohen zerstörenden Wirkungen der Naturkräfte, in denen die ganze Kraft der menschlichen Natur sich nach allen Seiten entwickelt hätte – aber welche Kraft ist es, die sich in Christo nicht auch entwickelt hätte, und welche Tugend der Helden, die wir an ihm nicht auch bewunderten? Was ihm zu fehlen scheint: | ist kein Mangel; denn es ist die Gesellschaft der geistigen Kraft mit der rohen sinnlichen daß das Schöne 10–12 Mt 12,32; Lk 12,10

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nur gedacht werden kann in einer äußern Gestalt, und daß die Stärke des Geistes nicht anders dargestellt werden kann als durch die Stärke der sinnlichen Natur. Es war der Charakter einer frühern Zeit, daß gewaltige Triebe und Leidenschaften die Begleiter waren und die Bedingungen gewaltiger Tugenden; aber weßhalb? weil das Geistige und Höhere sich noch nicht so geschieden hatte von dem Thierischen. Aber als Lamm Gottes ist uns Christus das größte Urbild jener Zähmung und Bändigung der sinnlichen thierischen Natur, ein Urbild und Zeichen, daß sie nicht der Zweck unsers Handelns seyn darf, sondern nur Mittel und Werkzeug gehörig zur göttlichen Regierung, um derentwillen wir unsere eigene Person und unser Leben hingeben sollen. Darum m. Fr. erscheint uns, indem wir den Erlöser denken als das Lamm Gottes, jede eigenthümliche Tugend in der herrlichsten Gestalt, daß der Grund von allem die Liebe ist, daß Gott nicht mehr gedacht wird als die alles bändigende Kraft und Gewalt, sondern als die alles durchdringende Liebe. Daher ist die Freundlichkeit, die Milde der Grund worauf alles ruht, was nur irgend haltbares und starkes treibet aber auf eine für das Sinnliche geschlossene Auge verborgene Weise. Darum, wem der Erlöser schwächlich erscheint, der greife an seinen Busen und frage sich, ob in ihm schon das Sinnliche ganz unterworfen ist der geistigen Kraft; wer aber fähig ist, in ihm die Kraft und die Stärke der Liebe anzuschauen, der wird ihn sich auch gern vorhalten als das Lamm Gottes; und m. Fr. sehet das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt, und nur als Lamm Gottes hat der Erlöser die Sünde der Welt getragen. Auch dieser Ausdruck ist eben so mißverstanden und getadelt worden auf der einen Seite, als erhoben und gepriesen auf der andern. Es hat sich allmählig eingeschlichen in das Gemüth Vieler eine Vorstellung von Erlösung, als sey sie nichts andres als, daß der Erlöser die Sünde trägt, daß die Strafe auf ihm ruht; als sey alles Dulden Leiden und Handeln auf seiner und auf unserer Seite alles nur Annehmen. Die dieß so unheilig aufgefaßt haben, hal|ten sich an das Wort, daß der Erlöser die Sünden der Welt trägt, und diejenigen, welche der entgegengesetzten Meinung hangen, möchten sie gern entfernen von dieser Veranstaltung. Aber m. Fr. auch dieß ist ein gänzlich leerer Streit; denn es ist das Eine und das Andere und beydes läßt sich nicht trennen. Denn was ist die Sünde, und daß wir es mit der Wurzel auffassen, was doch auch das Übel, welches als Strafe die Sünde begleitet? Etwas was äußerlich von dem Menschen getrennt, etwas, was dem Menschen genommen werden kann, ohne daß er selbst sich thätig dabey erweist? Es ist beydes das Befreyen und das Befreitwerden von der Sünde nichts andres als Thätigkeit, und was ist die Seele andres als die immer währende Thätigkeit im Menschen, und welche Art giebt es, wie äußerlich auf diese könnte gewirkt werden? Wenn ihm die Sünde könnte genommen werden, so müßte eine andre Thätigkeit an die 27 Vgl. Jes 53,5

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Stelle der verderbten gesetzt und in ihm gepflegt werden. Aber es giebt keine Art, sich das innere Leben der Menschen zu erklären, als ihn sich zu denken als das Selbstbewegende, und dann kann nur er und muß es selbst thun, damit eine früher gereifte vollkommene Thätigkeit sich in ihm entwikkele, und von außen an sein Inneres anschließt. Und wenn gefragt wird, was es heißt, daß wir Christo unsere Erlösung verdanken; was will es anders sagen, als daß er in uns das höhere Leben erweckt, wodurch wir uns selbst befreyen von der Sünde; und was heißt es anders daß der Erlöser die Strafe trägt das Übel als Folge der Sünde? Als dieses, daß, indem er der Sünde entgegenarbeitete, er die schmerzlichen Folgen selbst tragen mußte und daß durch das, was er that und litt; jene neue Ordnung begründet wurde, Kraft deren mit abnehmender Sünde auch das Übel sich vermindert, und an dessen Stelle Zufriedenheit Ruhe der Seele Freude und Lust hervorgehn aus der innern Quelle die er rein und reichlicher hervorgelockt hat; und so hat er die Sünde getragen als Lamm Gottes. | Er konnte ihre Gewalt nur brechen, indem er ihre Folgen trug; so mußte er ein Opfer werden; denn wer sich zuerst entgegenstellt der Sünde der Welt, der muß durch dieselbe leiden und von ihr überwunden werden. Indem er das nicht scheute, indem er mit Duldung und Ergebung litt, und mit Standhaftigkeit und Kraft handelte und wirkte, eben dadurch hat er die Sünde hinweggenommen; ja noch mehr dadurch, daß er uns darstellt ein Bild der ewigen Liebe; indem er den Menschen losmacht von den mit Furcht verknüpften Vorstellungen des höchsten Wesens, und er die Furcht austreibt durch die Liebe, indem er als Sohn das Ebenbild des Vaters wurde, dadurch hat er die Gewalt der Sünde gebrochen, den Menschen Muth gegeben und die Hofnung, daß auch in ihnen liege die Kraft, welche sie fähig macht, die Sünde und das Übel abzuthun, dadurch hat er jene neue Ordnung begründet, an der wir alle Theil haben als an dem Reiche Gottes; wodurch der Bund der Menschen gegründet worden ist, welcher ruht auf gleicher brüderlicher Liebe zu Gott und zu den Menschen und auf den wir trauen mit der Gewißheit, daß keine Gewalt ihn vernichten könne dadurch, daß er diesen gegründet hat, hat er die Sünde weggenommen, ein neues Leben hervorgebracht, worin Freude ist und Friede. Und als Johannes sagte: Siehe, das ist Gottes Lamm pp. da gingen seine Jünger zwar durch dieß Wort bewogen zum Erlöser und hielten fest an ihm und folgten ihm nach, und riefen ihm zu: wir haben den Messias gefunden, von dem geschrieben ist in Moses und den Propheten; und so zu Christo als zum Lamm Gottes sind von jeher alle diejenigen gekommen, welche seine treuesten Verehrer gewesen sind, nicht bloß die Dulder, sondern auch die Helden des Glaubens und wer Theil nehmen will an dem Reiche Gottes und darin mitarbeiten will, der halte sich an ihn als das Lamm Gottes; denn nicht in und mit sinnlicher Gewalt kommt das 23 Vgl. 1Joh 4,18

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Reich, sondern in und durch die Kraft des Geistes. Streiten laßt uns | wie er und siegen, aber nicht für das Sinnliche sondern für die Befriedigung des Geistes. Die fromme Einfalt hat den Erlöser dargestellt auch als Lamm mit der Fahne; aber so ist es; die mit dem Kreuz bezeichnete Fahne, getragen von dem Urbild der Liebe und Sanftmuth, sie ist es, der wir folgen, zu der wir schwören und unter die sich alle versammeln müssen, die noch beytragen wollen zur Förderung des Reiches Gottes. Es giebt keine andere Macht, keinen andern Namen, durch den wir selig [werden], als den er getragen, keinen anderen Krieg, als den heiligen, der er geführt hat. Folge jeder seinem Beruf, treu in dem was ihm übertragen ist; streite Jeder mit sinnlichen Waffen gegen sinnliche Gewalt, mit irrdischer Kraft gegen irrdischen Geist; aber laßt uns wissen, daß das Heil daher nicht kommen kann, sondern nur indem das friedliche Reich des Lammes befördert wird, und daß nur gesiegt wird, in dem Grade, als wir, auch bey Anwendung aller irrdischen Gewalt jene Ruhe des Gemüthes, jene Sanftmuth, Leidenschaftlosigkeit jene Ergebung in den göttlichen Willen, jenes Trachten nach dem ewigen Reiche mit dem Erlöser theilen. Und so ist und sey ers allein dem wir folgen mit allen Kräften und mit dem Bestreben zu seyn wie er unser Meister gewesen ist.

8 Vgl. Apg 4,12

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Am 3. Februar 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 12,30–32 Nachschrift; SAr 26, Bl. 13r–16v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 25r–29v; Matthisson Keine

Den 3. Febr. 1811.

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„Sehet das ist Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt.” So haben wir uns, m. and. Fr., als ich das letzte Mal zu euch redete, das Bild unseres Erlösers im Allgemeinen dargestellt; so wollen wir ihn auch in den einzelnen Zügen seines Lebens verfolgen; denn keiner wird glauben, daß dieses, daß er als Lamm Gottes die Sünde der Welt getragen, nur von jenen letzten trüben Stunden seines Leidens und Todes gelte, sondern vielmehr vom Anbeginn seines öffentlichen lehrenden Lebens unter den Menschen. Denn was war es anders, als daß er die Sünde der Welt trug, wenn er so wenig anerkannt geachtet unter den Menschen umherging; daß er sich entäußerte, was war es als die Folgen der Sünden der Welt; denn wie hätte sonst nicht allen aus ihm das Ebenbild des Vaters entgegen leuchten müssen, wenn sie nicht unfähig, dasselbe zu erkennen, gemacht worden wären durch die Sünde. Das war die Ursache, warum er allmählig und jenachdem sein Reich ausgebreitet und seine Wahrheit erkannt wurde, auch sein Bild unter den Menschen neu verklären konnte in die Herrlichkeit, die er hatte beym Vater von Anbeginn. Und auch in diesem Sinne hat er die Sünde der Welt getragen als Lamm Gottes. Laßt uns auch dieses gewiß wichtige und lehrreiche und zur Nachfolge auffordernde Verhalten seines Lebens betrachten, und darauf in dieser Stunde unsre Aufmerksamkeit richten. Matth. 12, 30–32. M. and. Z. diese Worte sprach der Erlöser bey einer Gelegenheit, wo er auf die ausgezeichnetste Weise und mit hartnäckigem Sinn von den Menschen 1 3.] 7. 2 Joh 1,29

3 Vgl. 20. Januar 1811 vorm.

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verkannt und verläugnet wurde, eben indem er die Unglücklichen von ihrer Noth befreyte, welche an solchen fürchterlichen Leiden danieder lagen, daß sie von den Menschen damals als Einwirkungen der bösen Geister angesehn wurden; darum beschuldigten sie ihn auch, er treibe die Teufel aus durch den obersten derselben. Und nachdem er milde | und gelassen das Verkehrte und Unsinnige in dieser Anklage dargestellt, schließt er mit den verlesenen Worten. Wenn wir sehen, wie er sich so milde zeigt, so bereitwillig erklärt, die Worte und Lästerungen, welche gegen des Menschen Sohn ausgestoßen wurden, zu vergeben, so müssen wir darin den sanften geduldigen Sinn und die heilige Sanftmuth des Erlösers erkennen in Beziehung auf die Urtheile über ihn, die uns in seinem Leben so oft, aber nirgends so schön und vollkommen, und mit einem so eigenthümlichen Gepräge entgegen kommt. Sie sey es diese Sanftmuth des Erlösers mitten unter den verkehrten Urtheilen über ihn, die wir zum Gegenstande unsrer Betrachtung machen wollen. Laßt sie uns 1. kennen lernen in ihrem Wesen und ihren innern Gründen und dann 2. Achtung geben auf dasjenige Gesetz in der Handelsweise des Erlösers welches als Folge von dieser Sanftmuth zu betrachten ist. I. Wir suchen aus dem Ereigniß, welches uns in unserm Texte erzählt wird, das Wesen und die innern Gründe dieser bewundernswürdigen Sanftmuth kennen zu lernen. Zuerst, es giebt Menschen, welche vorgeben oder haben eine gänzliche Gleichgültigkeit gegen die Urtheile anderer über sie. Ob sie geachtet werden oder gering geschätzt, ob sie geliebt werden oder mit Gleichgültigkeit behandelt; ob ihr Lobenswerthes anerkannt wird oder mit dem grundlosesten Tadel beschmutzt, aus dem allen kann ihnen keine Bewegung ihres Gemüthes hervorgehn. Es mögen dieß Manche als einen höhern Grad des Guten, der Vollkommenheit, der gänzlichen Selbstverläugnung ansehn; ich glaube, je mehr wir auf das Bild des Erlösers sehn um desto mehr werden wir anders von diesen stumpfen und gleichgültigen Menschen urtheilen müssen. Wie, sind wir nicht in diese Welt gesetzt, um in Gemeinschaft mit unsern Brüdern, im Austauschen der Kräfte und Mittel, welche einem Jeden verliehen sind in gegenseitigen Dienstleistungen und Handreichungen den einen Willen Gottes zu erfüllen? Fühlt nicht jeder | der richtig fühlt, daß er allein gestellt, wenig ausrichten kann und wird, und muß es ihm nicht ein Gefühl seiner eignen Kraft geben, je mehr er um sich sieht, welche ihn unterstützen, und zwar je mehr sie es thun aus freyer Gesinnung, aus einer wahren und achtungsvollen Anerkennung des Geistes, der ihn treibt, des Zieles, das er sich vorgesteckt hat; und kann und soll es dem Menschen, der ja nichts mehr wünschen kann als geschickt zu seyn zu den Werken Gottes, gleichgültig seyn gegen das Urtheil die Meynung 4–5 Vgl. Mt 12,24

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der Übrigen über ihn, wenn er sich durch dieß Verkanntwerden gehemmt sieht in seiner Arbeit? Ja was noch mehr ist, wenn wir was wir in den schönen Verhältnissen des Lebens Gutes wirken, verkannt sehn, wenn sie für die wir arbeiten den Geist Gottes und den der Welt nicht unterscheiden, was aus Liebe zum Recht zu Gott hervorgegangen ist, nur ansehn als das Werk irgend einer eigenthümlichen Absicht, oder als Ausbruch eines leidenschaftlichen Gemüths oder auf ein verstecktes Ziel der Selbstsucht gerichtet – sehen wir sie nicht in einen bedauernswürdigen Irrthum verstrickt der sie mißleitet, bey dem sie sich in Verlegenheit finden, ob oder ob nicht sie das Ihrige beytragen sollen zu dem, was sie uns thun sehn. Also dieser Gleichgültigkeit, was kann ihr zum Grunde liegen als Mangel an brüderlicher Liebe, die ja nur wünschen kann, daß alle wandeln in Liebe und einander dienen und helfen mit ihren Gaben; worauf kann sie gegründet seyn als auf eine Verachtung der Menschen, auf eine Zuversicht auf sich selbst, als ob das Urtheil und Betragen der andern Menschen keinen Einfluß habe auf das Gelingen oder Mißlingen unserer Thaten, als ob man doch alles ausrichten werde, was sich in den eignen Grenzen lebendig regt. Und das sind nicht die Gesinnungen des Erlösers, nicht die Gesinnungen desjenigen, der so vieles that, die Menschen aus der Gewalt des Irrdischen herauszureißen, der sich herabließ uns alle Brüder zu nennen, um nicht für sich und durch sich sondern durch die Kraft, mit der er uns nach sich zieht, jenes geistige Reich zu stiften, deren Oberhaupt er seyn soll. Darum war es bey dem Erlöser anders, darum sehn wir ihn nicht gleichgültig gegen das Urtheil der Menschen; | sondern wir finden ihn oft ausbrechen in wehmüthigen Schmerz, sich ereifern im Geist, je mehr innere Verkehrtheit ihrem Urtheile über ihn zum Grunde lag, und sie verhinderte, ihn richtig zu erkennen; immer das der Mühe werth achtend gelassen zu widerlegen, was sich in ihrem Urtheile widerlegen ließ. Aber m. Fr. laßt uns auch die andere Grenze wohl bemerken, laßt uns darauf sehen, wie er unterschied was gegen ihn und was gegen den heiligen Geist geredet und gelästert wurde; denn darin liegt das Wesen seiner Sanftmuth ob er gleich von Gleichgültigkeit gegen die Meynungen und Urtheile der Menschen über ihn entfernt war. Wer hätte mehr als er Ursache und Recht gehabt, was gegen ihn geredet und gethan wurde, als geredet anzusehn und gethan gegen die göttliche Kraft, die ihn und alle beseelt und beseelen soll, welche in dem Reiche Gottes arbeiten, und das ist der Fehler, den so viele auch unter den gut gesinnten und wohlmeinenden Menschen begehn, und gegen den uns nur ein richtiges Auffassen der Handlungsweise des Erlösers schützen kann. Wenn das Gute verkannt wird, wenn das was wir thun vom göttlichen Geiste getrieben, die Menschen ansehn nur abzweckend auf unsern Vortheil oder darauf, um unsere Meynung geltend zu machen, wenn sie, was aus reiner Liebe für die gute Sache, für das Wohl der Brüder, für den Glauben, für die ewige Wahrheit gethan wird, ansehn als aus einer versteckten Selbstliebe, aus Ei-

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gennutz und Ehrgeitz als nicht aus reinem Eifer für etwas Höheres und Allgemeines gedacht und gethan, wie leicht sprechen wir da das Urtheil aus über die Brüder und, daß sie uns gegen Recht und Wahrheit und gegen das Gesetz der Liebe gerichtet, daß sie uns verkennen, nicht weil sie uns mißverstehn, sondern weil sie die innere Kraft die in ihnen wie in uns lag, anzuerkennen [nicht] im Stande waren. M. Fr. dagegen sprach der Erlöser, und wenn er einen Unterschied festsetzt zwischen der Lästerung gegen des Menschensohn und gegen den heiligen Geist, wie sollten wir ihn nicht weit mehr anerkennen. Es ist gewiß m. Fr. daß wir den Menschen nicht zumuthen dürfen, in den Erscheinungen unseres Sinnes, unsern Sinn deutlich zu erkennen, daß wir ihnen nicht zumuthen dürfen, so gewiß sie selbst in sich tragen die Gesetze Gottes, ohne doch von lebendiger und thätiger Ehrfurcht vor Wahrheit, Recht und Liebe erfüllt zu seyn, auch alles was wir thun nur anzusehn als hätten wirs gethan nur getrieben von Wahrheit, Recht und Liebe. Wir müssen es zugestehn, daß in dem Gebiete der Er|scheinungen Irrthum möglich ist, daß leicht der reine Wille aus einem falschen Gesichtspunkt angesehn, unlauter und trübe erscheinen kann und darum sollen wir vergeben. Was aber wider den heiligen Geist geredet wird, das wird nicht vergeben weder in dieser noch in jener Welt. Halten uns die Menschen für entblößt von Liebe zu Gott und den Menschen; laßt es uns verschmerzen und vergeben; aber zeigt der, der bey uns zweifelt, es gäbe überhaupt keine Liebe zu Gott und den Menschen; es könne nichts wachsen und gedeihen im Gemüthe, als nur entsprungen aus sinnlicher Anhänglichkeit an das sinnliche Leben und irrdische Güter, der lästert den heiligen Geist, und es ist nichts in uns, daß wir ihm vergeben sollten? Wenn die Menschen den weisen Eifer für das Recht verkennen, mit dem wir eigene Vortheile ihm aufopfern, der Stimme der Mächtigen und Großen uns entgegenstellen; wenn sie dieß verkennen, wenn sie das deuten als Begierde, sich glänzend auszuzeichnen, auf den Trümmern ihrer gestürzten Macht selbst emporzusteigen, oder als Eifer für äußere sinnliche Güter – mögen wir ihnen vergeben. Wenn aber einer aufsteht und behauptet, alle reden die Unwahrheit, welche reinen Eifer für das Recht zu haben vorgeben, denn Jeder könne nur seinen Vortheil vor Augen haben, und alles Recht sey nur ein Mittel, wodurch einer den andern in Schranken halte und jeder werde es nur benutzen, um selbst dadurch zu gewinnen, der lästert den heiligen Geist, die göttliche Kraft, wodurch die menschliche Natur veredelt und erhoben werden soll über die thierische, und ich wüßte keine Ursache, weshalb man ihm vergeben sollte. – Wenn Jemand, was wir thun aus reinem und treuem Eifer aus demüthiger Liebe für den Glauben, der unser Herz geheiligt hat, für die Lehre, die uns ein Trost geworden ist in trüben Tagen, eine Art und Weise, wodurch uns aufgeschlossen ist die lebendige Gemeinschaft mit Gott, wenn Jemand dieß nur ansehn will als leere Heucheley, als ein Mittel die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehn oder als Klugheit, um dadurch das

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geltend zu machen, was seine Kraft die Menschen zu bezeichnen, schon ganz verloren hat – mögen wir ihnen vergeben, denn sie wissen oft nicht, was sie reden. Aber wenn wir ihn fragen: glaubst du nicht eine Gemeinschaft mit Gott, und daß in meinem wie in deinem Innern redet eine solche Liebe zum Ewigen, glaubst du nicht, daß es für das menschliche Verderben eine Versicherung gebe, und wer dann läugnet und selbst bekennt, daß er unempfänglich dafür ist, und unfähig dieß zu erkennen, und daß er nur an der Welt und an ihrem Inhalt klebt, daß er alles, was die Menschen in dieser Beziehung sprechen und thun, nur für Heucheley hält oder Selbsttäuschung, der | lästert den heiligen Geist, aus dessen Wirken alles Große und Vortreffliche seinen Ursprung hat und Christus lehrt, ihm nicht zu vergeben. M. Fr. wenn wir diese Scheidung treu beobachten, wenn wir, je öfter wir in solche Verlegenheit kommen, uns prüfen: wenn du gelästert wirst, schmerzt es dich mehr, als wenn es einen andern trifft, von dessen reinem Sinn und Willen du auch überzeugt bist; wenn wir uns darauf prüfen: ist ein wesentlicher Unterschied in dem Gefühle gegen den, der zwar den Segen des Geistes verkennt; aber erkennt und übt doch das Gute, es giebt doch Äußerungen des Höhern, die er versteht, und gegen denjenigen, welcher durch Wort und That beweist, daß gar keine Anerkennung des Höhern, daß gar kein Gefühl von der Kraft und den Wirkungen des Geistes in ihm ist; prüfen wir uns darauf und fühlen wir diesen Unterschied, dann können wir vertrauen dem reinen Eifer für die Wahrheit der uns mit Muth und Kraft rüsten wird, um denen zu widerstehn und entgegen zu arbeiten, die den Geist lästern, dann werden wir sanft und langmüthig übersehn, was nur gegen uns geredet und gethan wird. Und so laßt uns, damit uns dieß deutlich werde, noch II. unsere Aufmerksamkeit richten auf die Handlungsweise des Erlösers, die mit dieser Sanftmuth verbunden war. Wir hören ihn ausrufen, wer nicht mit mir ist, der ist wider mich, und wer nicht sammelt, der zerstreuet. Es wird jedem bekannt seyn, daß er anderwärts auch auf die entgegengesetzte Art sich äußert gegen seine Jünger: wer nicht wider mich ist, der ist für mich; wer nicht zerstreuet der sammelt. Wie können wir, uns diesen scheinbaren Widerspruch zu lösen, den Sinn dieser Worte beßer zusammenfassen und betrachten als in dem Lichte, worin unsre gegenwärtige Betrachtung sich befindet. Eben dadurch unterscheidet er diejenigen, welche wider ihn waren, weil sie ihn verkannten, weil ihnen sein Leben und seine Lehre nicht deutlich wurde, von denen welche wider ihn waren, weil ihr Herz dahin gegeben war in Lästerungen des heiligen Geistes. Sein liebevolles[,] sein alles Gute umfassendes Gemüth sagte ihm: es kann mancher gegen mich seyn, sich nicht überzeugen, daß es sein Beruf ist, meine Sache zu fördern; aber ohne das ist er doch gehorsam demselbigen Geiste; er handelt doch und denkt doch in demselben Sinne, und wenn er dann auch nicht für mich

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ist, persönlich; er ist doch auch nicht wider mich, und wer in diesem Sinne nicht wider mich ist, wider den Zweck, den ich vor Augen habe, gegen den Geist, der mich treibt, der ist am Ende doch für mich. Wenn er auch mich anzuerkennen nicht im Stande ist, der wird | doch sammeln mit mir und arbeiten zu dem Reiche Gottes. Aber wer nicht für mich ist in diesem Sinne, oder wie sonst der Erlöser sagt, wer nicht mit mir ist, in dem nicht (wenn auch nicht erkannt) derselbige Geist wohnt, wer nicht dieselbe Führung Gottes anerkennt, wer nicht auf das Wohl der Menschen hinarbeitet, wer nicht mit mir arbeitet an dem Reiche der Wahrheit und Tugend, an der Erlösung der Menschen – der ist wider mich, und wer so nicht sammelt, der zerstreuet. Wer also nicht selbst regiert ist vom Geiste Gottes, nicht ihm selbst sein Leben geopfert hat der kann gar nicht für mich seyn; er sammelt nicht also zerstreut er; er ist thätig, aber nicht im Dienste des Geistes, und diesem arbeitet er entgegen, denn da seine Thätigkeit nicht ihm gewidmet ist: so muß sie aufs Gegentheil gerichtet seyn. So m. Fr. laßt uns die Menschen beurtheilen. Mancher wirkt zu demselben Zwecke als wir, mancher ist regiert von demselben Geiste, der auch uns treibt, aber da der Blick der Menschen beschränkt ist: so steht doch eine Scheidewand zwischen ihm und uns; so ist doch sein Auge geblendet, daß er die Ähnlichkeit zwischen uns nicht anerkennt; er ist nicht für uns, aber er ist mit uns, wir können ihn, die wir dieß Verhältniß richtiger beurtheilen doch anerkennen und ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen und auf ihn rechnen, wenn ihm selbst auch nichts von der Ähnlichkeit mit uns erscheint, er sammelt mit uns, er ist von demselben Geiste erfüllt. Aber wo wir von diesem keine Spur finden, wo es unmöglich ist, das Innere zu erkennen, da bedürfen wir das offene Zeugniß der Menschen nicht, da ist schon Gleichgültigkeit gegen das Gute und Böse, schon die Stumpfsinnigkeit, mit der sie wandeln zwischen dem Guten, hinlänglich um zu sagen: wer nicht sammelt der zerstreuet, und wir müssen ihm mit aller Kraft entgegen arbeiten; da muß die Sanftmuth mit Ernst sich paaren und die Milde mit Strenge; denn es gilt nicht uns und unsrer Sache, es gilt dem Geist, den wir vertheidigen. Aber m. Fr. schwer würden wir uns darin selbst vertrauen; nicht sind wir so rein von Selbstliebe und Eitelkeit wie der Erlöser, und recht von innen heraus damit anfangend daß wir das Gute lieben und wirken, müssen wir uns von ihm heiligen lassen daß wir eben so richtig und rein unterscheiden zwischen Lästerungen gegen unsre Person und gegen den Geist, wie er. Also damit laßt uns anfangen, daß wir wach werden gegen jede | Bewegung des Gemüthes und aufmerken auf das Urtheil der Menschen über uns; laßt uns unsern Eifer erwecken, ermannen für alle Menschen, ihn stärken und stählen dadurch, daß wir Theil nehmen an der Arbeit aller, welche nur das Gute wollen; so in der Vertheidigung anderer möge sich üben der Sinn für das 31 dem Geist] den Geist

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Rechte Wahre und Gute, damit wir die Fertigkeit erlangen zu erkennen und zu unterscheiden, was in Beziehung auf uns Irrthum und was Unvermögen der Feinde ist, uns und den in uns wohnenden Geist zu erkennen. So stehe auch in dieser Hinsicht das Bild Christi vor uns, und je mehr wir ihn anerkennen, desto mehr werden wir ihm ähnlich werden; Sanftmuth wird sich paaren mit Eifer und Ernst, und immer liebend und vergebend das, was die Brüder gegen uns thun, werden wir nicht unterlassen die Vertheidigung der ewigen Güte und Wahrheit, und eben so gern und willig uns zum Opfer bringen, wie er es gethan hat. Amen.

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Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 13,31–34 Nachschrift; SAr 26, Bl. 17r–20v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 31r–36v; Matthisson Keine

Sonntag den 17. Febr. 11.

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Das Leben der Menschen ist überall so eingerichtet, daß uns häufig Übel und Widerwärtigkeiten treffen können, von denen wir den Grund weder in den unabänderlichen Ordnungen der Welt noch in unsern eigenen Thaten zu finden wissen, sondern die uns nur durch fremde Sünde und Schuld bereitet werden. Der größere und kurzsichtige Theil der Menschen sieht darin die noch nicht vollkommen sich offenbarende Gerechtigkeit des Herrn; aber der richtiger denkende und der der höhern Gerechtigkeit die Augen geöffnet, erkennt eben darin diese höhere Weisheit und Gerechtigkeit des Herrn, der nicht die Menschen allein für sich stellt, sondern alles so viel größer und herrlicher ordnen wollte, als er alles zum Nutzen und Seegen des Menschen am Ende ausschlagend machte. Bisweilen kommen uns von den Anordnungen des Ewigen die Spuren nur einzeln entgegen und dann freylich an um so auffallenderen, merkwürdigen Beyspielen. Es giebt aber andere Zeiten, wo die Welt unruhig bewegt ist, wo die Folgen dessen, was hie und da im Großen geschieht, bis überall hin auch in die entferntesten größten und kleinsten Kreise, sich verbreiten, wo auch das verborgenste stillste Leben nicht sicher ist vor solchen Gefahren, wo auch der, dessen Daseyn von dem geringsten Einfluß zu seyn scheint auf das Ganze, auf das Größte, was geschieht mit fühlen und mit daran leiden muß. Können wir es uns nicht verheelen, daß die Zeiten, in welchen wir leben, zu den letztern gehören, wohlan! was kann, indem wir den Erlöser und sein irrdisches Leben betrachten, wichtiger und zugleich heilsamer für uns seyn, als ihn, den kein anderes Übel treffen konnte, als was fremde Sünde ihm bereitete, und keine andere Gefahr als die von Außen ihm kam, anschauen und lernen wie er diesen Gefahren und Übeln entgegensieht. Und das keiner glaube, daß wir was wir sind gegen seine herrliche Kraft sich verhalte wie das was wir zu thun vermögen zu seinen herrlichen Thaten, daß so es

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wohl frevelhaft seyn möchte, unsere Begegnisse und Gefahren den seinigen zu vergleichen. Denn auch dazu sind wir der seeligen Gemeinschaft mit ihm, dazu sind wir die Glieder, die in ihm als dem Haupte leben, und es ist das Eigenthümliche unsers Glaubens, in der Kraft der Gemeinschaft den Unterschied zwischen groß und gering je länger je mehr zu mildern und aufzuheben, und denjenigen, der in die unbedeutenden Gegenden des Lebens gestellt ist, mit dem Troste zu erfüllen, daß ihn nach der Weisheit des Herrn nichts mehr treffe als was auch Christo begegnete mit | dem er von demselben Geiste beseelt ist, und daß die Kraft seines Einflusses, wie in den wichtigsten Angelegenheiten Jesu, in den geringfügigsten Ereignissen des Lebens sich eben so bewähren kann als in den größten. In dieser Gesinnung laßt uns diese Stunde dazu anwenden, daß wir den Erlöser betrachten, wie er Übeln und Gefahren entgegengeht.

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Luc. 13, 31–34. Wir sehn in dieser evangelischen Erzählung den Erlöser in Beziehung auf eine zweifache Gefahr, die eine ist die, welche ihm gedroht war von den Pharisäern, und der er entging, die Zweite vor welcher ihn niemand warnte und welcher nicht zu entkommen seine Bestimmung war. Laßt uns sehen, wie er der ersten entkam, und wie er der andern, die er so gewiß voraussah, entgegenging. I. Es kamen einige Pharisäer und warnten ihn vor Herodes, in dessen Gebiete er sich aufhielt, als wollte er ihn tödten. Christus aber läßt ihm sagen, in der Voraussetzung fast, als wenn die Warnenden von ihm abgeschickt worden wären: Siehe ich treibe Teufel aus und mache gesund heute und morgen und übermorgen; dann aber werde ich von dannen gehn. Wir sehn darin 1. daß er sich in dem, was er auch mit für seinen Beruf hielt, durch keine Drohung, durch keine Ankündigung von Gefahren stören ließ. Wie leicht hätte er das gekonnt, ohne sich gewöhnlicher menschlicher Neigung nach irgend einen Tadel auf sich zu ziehn. Das war doch nicht die Hauptsache, Kranke gesund zu machen, sondern wie er selbst sagt dazu sey er in die Welt gesandt, daß er das Evangelium predige, daß er den Willen seines Vaters verkündige, und er war nirgends gebunden an einen bestimmten Ort, das ganze Land seines Volkes stand ihm offen, und wie leicht hätte er ohne Tadel, der Gefahr ausweichend in ein andres nahe grenzendes Land sich wenden können. Aber er ließ dem Herodes sagen: er sey eben darin begriffen etwas zu thun, was doch auch zu seinem irrdischen Beruf gehörte, und er könne nicht eher sein Gebiet verlassen, als bis er alles vollendet. Das m. Fr. das ist die Art, wie man überall Übeln und Drohungen begegnen soll. Wer von einem begonnenen guten Werke weicht, weil die 3 Vgl. Eph 4,15–16

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Furcht ihn bedroht, wer sich mitten aus einer unternommenen That herausschrecken läßt durch eine Drohung, der hat sich schon in die Hände derer gegeben, welche durch die Regungen der Furcht jedes Gute verhindern möchten der hat seine Freyheit, seine Selbstständigkeit schon verloren und es hängt kaum von ihm ab, wie tief er sich selbst herabwürdigen und wie eng er sich in fremde Gewalt begeben will. Man könnte sagen, die Gefahr hier sey nur scheinbar, die Drohungen derselben nur dahin berechnet daß er ihr nachgebend das Gebiet | des Herodes verlassen würde und in ein andres gehn, wo sich ihm ein unbezweifeltes Übel darstellte. Meine Fr. in dem Verhältnisse, worin sich Christus befand gegen die, die so ihn zu schrecken suchten, befindet sich jeder gegen seine nachstellenden Feinde, der durch Standhaftigkeit ein Übel von sich entfernt, durch Furchtlosigkeit bekämpft und vereitelt. Wenn nun die Gefahr vorbey ist, so können wir die Frage aufwerfen, ob sie überhaupt dagewesen, ob sie so groß und dringend gewesen sey. Aber wer fühlt nicht, daß das nur ein leerer Grund sey der Feigen und Furchtsamen, wodurch sie das Gewissen beruhigen, wodurch sie sich bey sich selbst und bey andern in Ehren erhalten möchten. Aber wenn es auch hier so gewesen ist; gesetzt das Übel, die Gefahr sey nur scheinbar gewesen, und Christus habe es sich selbst gesagt; wohlan, können wir voraus wissen, ob sie eine dringende oder wirklich vorhandene seyn werde; ist das nicht das erste, was jeder Muthige sich sagen soll; daß sie nur scheinbar sey, und ist diese Gesinnung nicht der Muth, der den Menschen erhebt und ihn in den Stand setzt, ihr kühn entgegen zu gehn um sie zu überwinden. O wenn jemals: so ist es in diesen Zeiten ein Grundsatz, an dem wir festhalten sollen, daß sich keiner durch Furcht aus dem guten Werke, das er begonnen, herausschrecken lasse, keiner von seinem Berufe, von seiner Pflicht auch nur das Mindeste nachlasse, um einem Übel zu entgehen, damit er das Gute vollkommen in reichem Maaße ausrichte und erfülle; und dazu stehe uns lebendig vor Augen das Beyspiel des Erlösers, der freylich nicht so wie wir durch Verhältnisse und Ordnungen gebunden war, aber der dennoch das gute Werk was er ohne Verpflichtungen übernommen, so heilig achtet, daß er durch keine Drohungen sich bewegen ließ, es unvollendet im Stiche zu lassen. Aber nicht bloß dieses ist es, worauf wir in dieser Erzählung in Christi Verfahren zu merken haben, sondern [2.] auch dieses, daß er sich des Guten, was er that, auch nicht scheute zu rühmen; ausdrücklich ließ er, wie wir lesen, ihm sagen, was er treibe. Wir finden anderwärts, daß der Erlöser das Gute sucht im Stillen zu thun, daß er denen, die er durch seine Hülfe, durch seine Wohlthaten erfreut und beglückt hat, zur Pflicht macht, davon zu schweigen, daß er sich den Äußerungen der Dankbarkeit und Bewunderung entzog. Hier sehn wir ihn das Gegentheil thun; es sollte dem Mächtigen, der ihm drohen ließ, nicht ver38–39 Vgl. Lk 5,14; Lk 8,56

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borgen bleiben, was er Gutes wirke. Wie nun bey ihm gewiß beydes, wo er es that, an der rechten Stelle war: so laßt uns die Ursachen aufsuchen, warum er in diesem Falle ein so lautes Bekenntniß von seinen guten Werken ablegt, damit wir, wie in jenem | so auch in diesem Verfahren, ihn uns zum Vorbild und Muster nehmen mögen. Es gibt Verhältnisse, wo es wohl gethan ist, das Gute im verborgenen zu thun; es giebt Verhältnisse, wo nur dadurch das Gute gefördert und der Streit gegen das Böse auf eine dienliche und würdige Weise geführt werden kann. Wo dem Erlöser nichts in den Weg gelegt wird in der Erfüllung seiner Pflicht; wo sich ihm keine Hindernisse von den Menschen entgegenstellen, wo er nicht gegen sich aufgelehnte Kräfte zu bestreiten hat; sondern vielmehr die Zudringlichkeit einer zu sinnlichen aufs Irrdische gerichteten Dankbarkeit, da verbarg er gern das Gute. Wo ihm aber der Krieg angekündigt wurde gegen das Gute, wo ihm in der Ausübung desselben gedroht wurde mit äußerlicher Macht und Gewalt, da suchte er das gute Werk nicht zu verbergen, und sich nicht den Augen derer die ihm drohten zu entziehen; er bekannte es offen und laut und stärkte sich und seine gute Sache durch dieses offene Bekenntniß. Worauf er aber auch in diesem Falle dadurch habe wirken wollen, entweder daß Herodes sehn sollte, wie er in Wohlthätigkeit sein Leben aufwendete, daß er erkennen sollte, wie sehr er der Mann des Volkes wäre, das er durch Lehre und durch sanfte Erweisungen seiner Hülfe an sich gefesselt hatte, wie viele Stimmen sich für ihn erheben würden, wenn ihm Gewalt geschähe, oder er habe auch wirken wollen auf jene Furcht vor den Wunderkuren, welcher dieser Fürst nach dem Geiste seiner Zeit auch unterworfen war, dadurch, daß er zeigte, wie er mit ungewöhnlichen mächtigen Kräften da stehe, wo er stand, wie er diese, die ihm in jedem Augenblicke zu Gebote standen, auch anders zum Schaden für ihn, und zu seinem eigenen Nutzen anwenden könnte um so einer irrdischen Gewalt zu entgehn. Welches auch seine Absicht gewesen seyn mag; so liegt doch deutlich das Bestreben darin, durch öffentliche Anerkennung des Guten seine Sache zu verstärken und auf eine Schutzwehr zu gründen gegen alle äußern Angriffe, damit ihm kein Vorwand bliebe, als hätte er ihm, in einem verdächtigen Bestreben begriffen, Übles zugefügt, damit keiner sagen konnte, er habe etwas anderes gethan als wohlthätig gewirkt; er habe noch ein anderes Ziel gehabt, als die Menschen durch Lehre und Wohlthaten zu beglücken. Ja m. Fr. auch dieser Muth müsse uns in keinem Verhältnisse fehlen, der Muth, das Gute, was wir wollen, und worauf unsere ganze Thätigkeit gerichtet ist, auch überall laut zu bekennen, damit was uns geschieht, auch das Gepräge an sich trage, daß es geschehe den Bekennern und Ausübern des Guten, damit in den Schick|salen unsres Lebens sich streng sondere was aus nothwendiger irrdischer Entwickelung und Ordnung der Dinge entspringt, und dem, was 5–6 gethan ist] gethan hat ist

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uns getroffen hat, da wir beschäftigt waren mit Erfüllung unsrer Pflicht unseres Berufs, getroffen um unserer Thätigkeit unsrer Treue unsers Gehorsams willen gegen den Willen den wir ganz zu erfüllen uns alle ernstlich bestreben sollen. – Aber damit uns in dem Betragen des Erlösers nichts entgehe, was für uns wichtig und lehrreich seyn kann: so laßt uns unsre Aufmerksamkeit auch darauf richten, worin er uns weniger musterhaft erscheinen könnte; indem er sich ein hartes und nach unsern Begriffen wenig schickliches (und erlaubtes) Urtheil erlaubt über jenen Gewalthaber, daß er ihm auf eine empfindliche wie es scheint nicht erlaubte Art sagen ließ, wofür er ihn hielt, nämlich für einen der schaden wollte nicht gerüstet mit offenem Muthe, sondern nur heimlich und auf eine listige Weise. Auch darin laßt uns, wie überall zu der (wahren) eignen Denkungsart des Erlösers zurückgehn und auch in diesem Verhalten anerkennen das reine und gültige Vorbild, wie anderwärts. Nirgends zeigt sich uns in seinem Leben eine Spur, daß er die Ordnung der menschlichen Verhältnisse und Stände verletzt habe, die Ordnung, welche einen Unterschied des Ansehens und der Gewalt feststellt und dadurch die einen vor den andern zum Gegenstande äußerer Verehrung und Achtung macht; allein nirgends sehn wir auch, daß er sich selbst gefangen gegeben und gebunden hätte, um nicht überall sein Urtheil zu sagen über das Innere des Menschen, wenn die Lage es forderte, ohne zu sehn, wer er selbst sey nach äußerlicher Ordnung und ohne die mehr zu schonen, die durch dieselbe höher als andere gestellt waren. Wenn uns nun in dieser Beziehung Vorsicht und Bescheidenheit eine (empfehlenswerthe) Tugend zu seyn [scheint]; so ist das wahr; denn jedes Urtheil über einen Menschen wird seines Einflusses auf den andern nicht verfehlen und zwar um so weniger, je mehr wir selbst geachtet werden, von denen das Urtheil kommt. Aber darum urtheile keiner, der nicht gewiß ist von der richtigen Ansicht und Kenntniß des Menschen und seines Innern, der nicht die Überzeugung hat, daß er sein Herz durchschaue, darum hüte sich jeder vor voreiligem unzeitigem Absprechen über des Andern Werth; aber darum sey uns auch der Geringste so heilig als der Mächtigste. Aber so bald es gilt den Kampf für die gute Sache, die Treue für unsern Beruf, sind wir nur so gestellt, daß wir aufgefordert sind | zum Kampf, laßt uns muthig seinem Beyspiele folgen, und ohne Zagen frey unser Urtheil aussprechen über Geringste wie über den Mächtigsten. Dem Menschen ist die Wahrheit heilig; nur dadurch ist er dem Höchsten ähnlich; nur dann trägt er die Spuren des göttlichen Ebenbildes, wenn er den Mund öffnet, um das Gute und Wahre auszusprechen; so wie er verstummt vor äußerer Macht, so wie er so wenig an ihr festhält, daß andere Rücksichten die Beweglichkeit seiner Rede lähmen: so erniedrigt er sich selbst und er wirft von sich seinen ersten und vornehmsten Adel. II. Laßt uns noch zweitens sehen, wie der Erlöser jener andren gewissen Gefahr entgegen ging, der er nach seiner Bestimmung nicht entkom-

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men sollte. Er war begriffen auf der Reise nach der Hauptstadt seines Volkes, die er seitdem nicht wieder verlassen zu haben scheint. [1] Wenn wir in der Erzählung des Evangelisten darauf merken, wie sich die Vorstellung der gegenwärtig gedrohten Gefahr an die jener unvermeidlichen anknüpft: so sehn wir auch, wie er sich rüstete dieser zu begegnen dadurch, daß er sich und andern vorhielt die Überzeugung, er habe nur das allgemeine Wohl gewollt, nur das Glück seiner Brüder zum Ziel aller Handlungen Lehren und Leiden gehabt. Das wußte er, daß nicht leicht außer Jerusalem ein Prophet umkomme, und indem er also dahin weist: so geht er seinem gewissen Schicksale entgegen. Aber damit richtete er sich auf: Jerusalem Jerusalem die du tödtest die ..., wie oft habe ich wollen deine Kinder versammeln, wie eine Henne ihr Nest unter ihre Flügel ... Ja, m. Fr. bey allen Übeln und Gefahren, die nicht von der gewöhnlichen nicht zu überstehenden Art sind sondern aus unsern Verhältnissen aus unserm Berufe entspringen: es kann keine schönere Beruhigung, keine größere Stärkung geben als das Bewußtseyn, nichts anderes beabsichtigt zu haben als das Gute, darauf gerichtet gewesen zu seyn mit allen Kräften darauf, daß dieß geschehe und gefördert werde, alle Handlungen unsers Lebens nach beßter Überzeugung und Willen geordnet zu haben. Denn was macht das Übel leichter, als wenn wir fühlen, nach den Gesetzen der Gerechtigkeit wäre es aus der Quelle unsrer Handlungen nicht hervorgegangen, als wenn wir uns sagen können, wir selbst haben durch unsre Schuld nichts dazu beygetragen; sondern nach der ewigen Ordnung der Gerechtigkeit gebührt uns jene Ruhe, jene Glückseligkeit die aber, wenn sie uns wegen irrdischer Trübsale nicht ganz zu Theil werden kann, freylich auch nicht ganz ausgenommen werden kann durch alle Übel der Erde. So m. Fr. wenn wir im Begriff sind, von menschlicher Schwachheit verleitet zu werden, irgend eine unsrer Thaten nach einer andern Rücksicht zu ordnen, als nach der Pflicht, irgend einmahl den sinnlichen Bewegungsgründen das | Übergewicht zu lassen bey der Bestimmung zu dieser oder jener That, der Furcht zu weichen bey der Vollbringung, oder von einer irrdischen Hoffnung uns dabey täuschen zu lassen – laßt uns den Gedanken in uns aufregen: wie wenn jemals dieses der Ursprung eines Übels für uns würde, wie müßte uns belasten das Gefühl der Strafe, wie müßte uns beunruhigen die Überzeugung, verschuldet zu haben, was wir leiden, wie unglücklich würden wir seyn, wenn wir dadurch den innern Frieden die Ruhe unsrer Seele getrübt hätten die uns allein aufrecht muthig und heiter erhalten kann. O so lange wir in diesem Leben der Sinnlichkeit und Schwachheit wallen, so lange wir uns hüten müssen am meisten vor den Feinden in uns – es giebt kein kräftigeres Mittel, uns dadurch vor dem Bösen, dem Unwürdigen ja schon dem Verdächtigen zu bewahren als durch diese Betrachtung; und so lange wir wandeln in diesem Leben der Widerwärtigkeiten und Leiden, es giebt für den Menschen bey allem Unglück keinen sicherern Trost kein kräftigeres Mittel, ihn aufzurichten und zu stär-

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ken als daß er sich bewußt ist, nicht verschuldet zu haben, was er leidet. – 2. Der Erlöser rüstete sich zu der Gefahr, der er entgegenging, durch die Betrachtung, daß ihm nichts begegne, als was auch den meisten vor ihm begegnet war. „Es thut es nicht, daß ein Prophet außer Jerusalem, umkomme; Jerusalem Jerusalem die [du] tödtest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind etc.“ M. Fr. schon bey den Übeln, die aus der feststehenden Ordnung der Natur hervorgehen, und die uns für ein gewisses Maaß von Erkenntniß unvermeidlich scheinen, ist es ein Trost, daß sie allen gemein sind, daß keiner allein und auf eine vor andern ausgezeichnete Weise sie leiden muß, und daß es zerstreut hie und dort Genossen und Theilnehmer desselben Schicksals giebt. Denn so gelangt der Mensch zum Bewußtseyn der gemeinschaftlichen Bestimmung und des gemeinsamen Berufs, das er mit seinen Brüdern theilt was ihm auch sein ganzes Leben und alle Verhältnisse vollkommen aussprechen, und daß auch das Übel was ihn trifft, nichts sey, als Allgemeine, daß ihm nichts begegnet, als was (ihm) und allen recht ist und daß unter dieses Gesetz zu leiden auch alle andern gestellt sind. Wenn uns dieses zum Troste gereicht, deßwegen weil wir uns ansehn als im Kampfe begriffen mit [der] Natur, und begriffen in dem Streben, den Schlüssel zu finden, um alle Übel zu lösen, eine Gewalt zu erlangen über die Natur und ihren schädlichen Einfluß auf uns so viel als möglich einzuschränken, und wenn dadurch, daß wir noch von ihr leiden, ausgedrückt wird die Grenze der Gewalt, die wir schon über sie erlangt haben, so sehn wir uns gleicherweise im Geister Reiche hingestellt um den Kampf zu fechten gegen das Böse. Wir wissen es soll verhindert und je länger je mehr vermindert und ausgerottet werden, es soll bis auf einen gewissen Grad seinen verderblichen Einfluß verlieren auf unser Geschlecht. Dazu haben gelebt und gestritten alle die vor uns gewandelt sind den Weg der Pflicht und aus Treue und Liebe für das kommende Geschlecht im Kampf für die Wahrheit ihre Kräfte ihr Leben | darangesetzt und aufgespart haben. Und in demselben Kampfe stehen auch wir. Könnte uns etwas begegnen, das nicht andern vor uns auch begegnet wäre, träfe uns ein ausgezeichnetes Übel, käme ein tieferes Wehe über uns, als sie auch gefühlt haben und von dem wir sagen müßten, daß wir die Einzigen wären, welche es erleiden: so würden wir eine gerechte Ursache finden unsere Klage über die Ungerechtigkeit des Schicksals zu erheben, uns anzusehen als zurückgesetzt von Gott gegen die übrigen Menschen. Aber dem ist nicht so, und mit welchem Beyspiele geht uns auch in dieser Hinsicht der Erlöser voran; in welcher Heiligkeit steht er hier über alle diejenigen, die mit ihm zu leiden gewürdigt wurden, wie ist er als Sohn Gottes ein anderer Prophet, wenn gleich alle, die diesen Namen führen, auch von demselben Geiste Gottes beseelt waren. Aber dennoch vergleicht er sich ihnen ohne Unterschied zu machen; er nennt sich einen Propheten und begehrt kein anderes Schicksal, als welches

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auch sie gefunden haben. Wohlan m. Fr. an diesem Beyspiel laßt uns festhalten, so lange das Gute noch mißlingt und Verderben kommt über unsre Arbeit, stehn wir noch unter dem Übel, aber laßt uns[,] so groß oder klein es ist, was uns trifft, nur denken, daß es immer so war, daß die Verhältnisse in welchen wir leben noch dieselbigen sind, nur glauben daß noch nicht mehr gewonnen ist über das Böse; aber wie von dem ersten Propheten durch die lange Reihe hindurch, die gegen dasselbe gekämpft haben, bis zu dem, der in höherm Glanze die Reihe beschließt, wie durch jeden deutlicher geoffenbart ist das Gute, heller geschienen hat das Licht der Wahrheit, wie durch jeden neue Kräfte hinzugekommen sind fürs Gute, bis es vollendet wurde als ein Bild der göttlichen Vollkommenheit, wie durch ihre heiligen Reden das Urbild des Guten erhalten gefördert wurde bis es vollendet wurde in den göttlichen Zügen des Erlösers: so laßt uns der Zuversicht leben, daß durch treuen Gehorsam gegen die göttlichen Wohlthaten, durch die Hingebung unseres ganzen Lebens, auch wir etwas hinzufügen, was auch göttliche Offenbarung ist; laßt uns glauben, was wir gethan haben, sey nicht vergeblich, was wir leiden wird es auch nicht seyn, und wie der Erlöser durch Leiden erst das Höchste vollendet hat, so hat er auch alle Widerwärtigkeiten und Trübsale, die im gleichen Berufe, um ihn zu richten um sein Reich auszubreiten, seine Bekenner erfahren, er hat sie geheiligt, und theilt ihnen mit die erlösende und beseligende Kraft; denn das wissen wir, auch sie das Böse zu überwinden durch das Gute; auch sie leuchten mit dem Glanze des Erlösers und seine Leiden leuchten über die ganze Welt. Aber, meine Fr. wie es unser Bestreben seyn muß, ihm zu gleichen, laßt uns auch nicht zu gering achten, um mit ihm auch Leiden zu theilen; deßhalb nennt er uns Brüder und muntert uns auf, uns aus dem Gesichtspunkt des Glaubens zu betrachten; laßt uns auch Christi Bild vor Augen haben und wissen, daß wir, für die Welt und für uns, zur Rechtfertigung vor Gott und vor uns selbst, zur Erhaltung des innern Friedens, daß wir auch im Kleinen und im Verborgenen und in allen Verhältnissen ihm ähnlich zu werden trachten sollen, um denselbigen Geist dieselbige Kraft zu offenbaren, die uns aus ihm so herrlich, so beseligend und ermuthigend entgegenkommt. Amen.

1 diesem] dieses 22 Vgl. Röm 12,21

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Am 18. Februar 1811 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Montag, Taufe von Clara Elisabeth Schleiermacher Haus (Kanonierstraße 4, bei Schleiermacher) Keiner Drucktext Schleiermachers; in: Magazin für Prediger 6.1, 1811, S. 208–211 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 782–784; 21844, S. 818–820 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 641–643 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Taufpredigt

Taufrede.

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Die eigene erstgeborene Tochter ward im Hause getauft.

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Meine geliebten Freunde. Wenn ich schon sonst bey Gelegenheiten wie diese nicht viel Worte zu machen pflege: so wird es mir heute um so mehr vergönnt seyn, mich kurz zu fassen, da die natürliche Rührung des Vaters die Sprache beengt. Nur als solcher in meinem und der Mutter Namen möchte ich ein Bekenntniß darüber ablegen, wie wir diese heilige Handlung ansehn und was sie uns werth ist. Wir sind uns zuerst sehr wohl bewußt, daß dieses Kind, welches wir dem Herrn darbringen, die Anlagen zu mancherley Verderben als ein Erbtheil empfangen hat, und daß der Antheil, den wir an seinem Daseyn haben, wie undurchdringlich auch dieses Geheimniß der Natur bleibt, sich gewiß bald genug auch in vorherrschenden Richtungen | der sinnlichen Kräfte offenbaren wird, aus welchen mit seiner weiteren Entwicklung unausbleiblich mancherley Kämpfe zwischen Fleisch und Geist hervorgehen müssen, an die wir schon jetzt nicht ohne Beschämung und Sorge voraus denken, und vor deren Ausgang uns bangen müßte, wenn ihm von uns allein Hülfe und Unterstützung werden sollte. Darum ist es unsre erste Beruhigung, ihm als einem heiligungsbedürftigen Wesen vom Herrn die freye Gabe seines Geistes zu erbitten, es in die erlösende Kraft Christi gleichsam einzutauchen und ihm 8 und] uns 2 Vgl. Einleitung, Punkt I.1.

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sein Anrecht zu sichern an jener Gemeinschaft der Gläubigen, deren öffentliche Anstalten und deren stilles Wirken alle Unterstützungen in sich fassen, deren der Mensch im Streit gegen das Böse bedarf. Wir wissen ferner, daß in der Liebe des Vaters und der Mutter etwas Sinnliches und Persönliches unaustilgbar zurückbleibt, daß wir nur zu sehr in unsern Kindern uns selbst suchen, auch das Fehlerhafte, worin sich eine bestimmte Aehnlichkeit mit uns offenbart, nachsichtiger und gleichsam leichtsinniger behandelnd und eben deßhalb die eine natürliche Anlage begünstend die andere gleichgültig zurücksetzend. Solche Eingriffe macht nur zu oft die älterliche Liebe in die ruhige Entwickelung eines eigenthümlichen Wesens. Wir wissen kein besseres Mittel, die unsere hievon zu reinigen, als indem wir durch diese Handlung uns unserer persönlichen Beziehung zu unserm Kinde gewissermaßen entäußern und eine höhere aufstellen zwischen ihm und uns. Der Kirche Christi sey es geboren, jener heiligen Gemeinschaft bringen wir es dar, in der alles Gute gleich gesegnet ist und gleich werth gehalten, so wie alles Böse gleich verwerflich geachtet und bestritten wird. Von ihr empfangen wir es zurück als ihre natürlichen Bevollmächtigten, um ihre ersten Segnungen über dasselbe zu ergießen, und so glauben wir treuer und selbstverläugnender es zu bewahren und zu leiten. Aber auch bey dem besten Willen fühlen wir wohl, daß unser Thun und Sorgen nicht hinreichen wird. Zu viel|fältig beginnen schon früh die Einwirkungen anderer auf das junge Gemüth, und niemand vermag zu berechnen, wie bald auch Ferneres und Vorübergehendes schon Einfluß gewinnt als Zwang, Aufregung oder Beyspiel. Darum ist es nothwendig, auf der einen Seite, das Kind zu einem Gegenstand der Achtung für alle zu machen, die es irgend umgeben oder berühren, und so sollen denn Alle durch diese Handlung aufgefordert und erinnert werden, es anzusehen als ein Eigenthum des Herrn, für welches jeder verantwortlich ist nach seinem Maße. Darum ist nothwendig, auf der andern Seite, es noch der besondern Liebe befreundeter Gemüther zu empfehlen, um uns selbst ein Recht zu sichern, bey solchen Rath und Beystand zu suchen für dieses eben so wichtige als schwere Geschäft. Dazu haben wir Sie, theuersten Freunde, eingeladen, in dieses nähere, durch die Religion geheiligte Verhältniß mit uns zu treten, und so Wichtiges ist es, was wir von Ihnen freudig und vertrauensvoll erwarten. Unsre erste Bitte aber sey, daß Sie sich mit uns vereinigen zum Gebete. 3 bedarf] dedarf meine

24 Einwirkungen] Einwerkungen

35 Sie,] zu ergänzen wohl

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Gebet. Gnädiger, liebreicher Gott. Wir danken dir für dieses köstliche Geschenk und weihen es dir und deinem Dienste mit Gebet und Flehen. Nicht um etwas Irdisches! Auch bittend wollen wir dir nichts vortragen über die Länge seiner Tage, die in deiner Hand stehn, oder über die Schickungen seines Lebens, die deine Weisheit ordnen möge! Nur daß der göttliche Funke, den du ihm wie uns allen mitgegeben hast, sich in ihm entzünde, nur daß es dieser Gemeinschaft der Gläubigen, in die wir es jetzt aufnehmen wollen, je mehr es fähig wird ihr anzugehören, auch desto würdiger werde, nur daß es uns gedeihe zu einem Tempel deines Geistes, dessen Erbauung und Ausschmückung dir ein wohlgefälliger Dienst sey, und in welchem Jesus Christus sich verherrliche, in dessen Namen wir dich anrufen. Hierauf der Glaube und nach Zustimmung der Zeugen die Taufe selbst. Nach derselben Gebet. So sey denn dir gedankt, gütiger Gott! für | dieses hohe Recht, unsere Kinder der Gemeinschaft der Deinigen einzuverleiben, und dein Segen ruhe auf dem, was wir jetzt gethan haben. Wie könnten wir aber anders als bey jeder solchen Gelegenheit dir auch besonders danken für unser Anrecht an die Erlösung deines Sohnes und für das geistige Leben, welches wir durch deine Gnade in der Gemeinschaft mit ihm und den Seinigen führen. O wir erkennen sie an alle die Segnungen, die uns aus dieser zuströmen! Gib nur, daß nicht nur wir selbst sie reichlich genießen; sondern wie dein Sohn und seine Jünger sie uns zugewendet haben, so laß auch uns beytragen, sie Andern werth zu machen und anzueignen, und vorzüglich dem jungen Geschlecht, das unter uns aufwächst. Gib dazu nicht nur allen christlichen Vätern und Müttern Kraft und Treue, sondern uns Alle laß immer vor Augen haben, was wir der Jugend schuldig sind an Lehre, Ermahnung und Beyspiel. Und wie wir viele unserer schönsten Hoffnungen auf sie übertragen müssen, so möge uns über alles anliegen, die Gesinnungen in ihr zu erwecken, und die Kräfte zu üben und auszubilden, durch die sie jedes bessern Looses fähig und würdig werden kann. Zur Erfüllung dieser heiligen Pflichten verleihe uns Allen deinen Segen. Schleiermacher.

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Am 3. März 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Invocavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 2,19–24 Nachschrift; SAr 26, Bl. 21r–24v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 37r–40v; Matthisson Keine

Sonntag den 3. März 1811. (Eingang fehlt.) Das ist die Gesinnung, m. Fr. in welcher die Apostel den ersten Christen den leidenden Erlöser vor Augen stellen. Nur könnte es uns Wunder nehmen, daß der Erlöser es als Merkmahl ansieht, daß er keine Sünde gethan habe, und daß kein Betrug in seinem Munde erfunden sey, da doch einem Jeden in dem ganzen Leben Jesu dieß als etwas Bekanntes vorschwebt. Aber freylich ist in dieser Hinsicht ein großer Unterschied zwischen dem ruhigen eben hingehenden Leben der Menschen und demjenigen wenn plötzlich große Ereignisse über sie hereinbrechen, wenn von vielen Seiten her Unglück und Gefahren zu bestehen sind. Da sehn wir, daß auch die festesten Bande lockerer werden, daß auch die strengsten etwas nachlassen von den Gesetzen, welche sie sich sonst als Richtschnur ihres Lebens feststellen. Und nicht bösem Willen ist das zuzuschreiben, sondern jener verwirrenden Wirkung, welche große unerwartete Begebenheiten und besonderes Leiden und Trübsale auf das menschliche Gemüth machen, und das ist es, worauf der Apostel hat aufmerksam machen wollen und worin er uns Christum zum Vorbilde aufstellt, daß auch er mitten in seinem Leiden nicht abgewichen sey von der Linie des Guten und Wahren, die uns die Bahn seines Lebens bezeichnet und daß er uns darin geworden ist ein vollkommnes Vorbild seiner Gemüthsruhe und Besonnenheit, die allein den Menschen auf diesem Wege zu erhalten vermag, und dieß sey der Gesichtspunkt, aus dem wir heute das Leiden des Erlösers zu unsrer Stärkung und Nachahmung betrachten wollen. Nur mit wenigem brauche ich daran zu erinnern, worin sich diese hohe Besonnenheit des Erlösers bewiesen hat, und dann aufmerksam machen darauf, worin diese hohe Tugendhaftigkeit in seiner Seele ihren Grund gehabt habe.

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[1.] Wenn wir dasjenige, was wir auf eine besondere Weise das Leiden Christi zu nennen pflegen, von seinem Anfange an betrachten, so finden wir mehrere Punkte, wo uns seine Gemüthsruhe als etwas Bewundernswürdiges und Göttliches entgegenstrahlt. | Gleich zuerst bey seiner Gefangennehmung, wo wir ihn erblicken in ängstlicher Erwartung, und wo er wohl bewiesen, daß er auch Mensch war und in allem versucht, ausgenommen von der Sünde, freylich unter diesen Umständen wo jeder nur an sich selbst allein denkt, wo er, wenn auch nur für einen Augenblick, die Bande selbst zu lösen sich versucht fühlt, die ihn mit den Brüdern verknüpften, wie zeigt uns da der Erlöser das Gegentheil von dem, was wir sonst zu sehn gewohnt sind, wie beschäftigt sich, in dem Augenblick, wo sein Schicksal sich entschied, sein Geist noch mit liebender Vorsorge für die Seinigen, mit dem Schicksale seiner Jünger: „sucht ihr mich; so laßt diese gehn”. Daran war ihm gelegen, das stand lebhaft vor seiner Seele, wie wichtig es wäre, daß diese nicht verflochten würden in sein Schicksal, daß sie nicht fernhin vertrieben würden und gefangen gesetzt, so daß es ihnen unmöglich gewesen wäre, in den Tagen seiner Auferstehung jenen Trost, jene Stärkung, jenen Glauben in ihr Gemüth zu pflanzen, der sie allein geschickt machen und mit Stärke ausrüsten konnte, das angefangene Werk fortzuführen. Darum, wie er sich selbst hingibt: so sorgt er für sie, und bedenkt noch an der Schwelle des Todes ihr Schicksal in zärtlicher Sorgfalt. Weiter, wenn [wir] ihn sehn gestellt vor seinen Richter in der Vertheidigung seiner Sache, wie erblicken wir da in seinem abgemessenen Reden, in seinem gedachten Schweigen, jene hohe Eigenschaft des Geistes, und da, wo er vor dem Römischen Landpfleger jenes bedenkliche Wort aussprechen muß: er sey der König seines Volkes, wie er da jeden Betrug von seinem Munde entfernt, wie wenig suchte er da die Wahrheit zu überkleiden, aber auch mit welcher Vorsicht, mit welcher Erwägung der Umstände, mit welcher Angemessenheit seiner Rede weiß er das Bekenntniß abzulegen, so daß eben der, welcher so geneigt und bereit seyn mußte, ihn als einen Empörer zu erfinden und zu verdammen, doch keine Schuld an ihm findet. So deutlich weiß er es zu machen, daß seine Bestrebungen nicht weltlicher Art waren und sein Reich nicht eingreife in diese Ordnung der Dinge, deren eine andere Gewalt sich schon bemächtigt hatte. Und in dem Augenblicke, wo er den Weg zum Tode geht, beladen mit dem Kreuze, woran er geheftet werden sollte, wie ruhig ist er noch im Stande auf zu merken auf die Wehklagen und Seufzer derer, die ihm nachfolgten, wie gefaßt spricht er zu den Töchtern Jerusalems, und in wie körnige schwere Worte weiß er alle die Weissagungen zusammen zu drängen, die er in dem Laufe seines Lebens und Lehrens 11 sind] ist

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13 Vgl. Joh 18,8

24–26 Vgl. Mt 27,11

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ihnen gegeben, wie | deutlich stand, nicht durch das nahe Bild seines eigenen Schicksals verdunkelt und in die Ferne gerückt, das Schicksal seines Volkes vor seinem noch eben so treuen Gemüthe, und dann näher schon dem Augenblick des Hinscheidens, wie ruhig wendet er sich jetzt, um ein letztes Geschäft abzumachen, zu seiner Mutter und zu dem Jünglinge, den er lieb hatte, sie gegenseitig an einander weisend, und wie sehr auch belastet mit der Sorge für die Welt und erfüllt von den Gefühlen des Geschäftes, das er für das Menschengeschlecht unternommen und unvollendet zurück lassen mußte, hat er doch noch Raum und Ruhe auf die Worte eines einzelnen Leidenden zu hören, und weiß ihn im Tode noch mit tröstenden Hoffnungen zu erheitern und aufzurichten. Ja m. Fr. das ist die Gemüthsruhe, die Besonnenheit, welche Christus den Leidenden zu dem ersten erhabenesten Schauspiele macht, welche in ihm die Kraft Gottes offenbart, von welcher er erfüllt war. So laßt uns denn, damit wir auch uns so wie in allem auch hierin ihm ähnlich erweisen 2. darauf sehn, worauf diese erhabene göttliche Ruhe begründet war und wie auch wir dazu gelangen können. Zuerst scheint sie mir in den Tagen der Leiden und Trübsale nur dadurch möglich zu seyn, wenn dem Menschen das, was ihm begegnet, nicht befremdet, wenn er schon früher vermöchte, das voraus zu sehn, was kommen könnte, wenn er sich aller seiner Verhältnisse klar bewußt war, wenn [er], was nach der Ordnung der Natur und der Dinge überhaupt seyn und geschehn muß, so deutlich sieht, daß er schon in den Tagen der Ruhe und des ungestörten Glückes sich stärken und stählen kann für das, was ihm bevorsteht, schon da sich einprägen kann, was zu thun seyn wird, schon da sich das Bild entwerfen von dem Verhalten, wodurch er allein Gott und sich selbst getreu bleiben kann. Eben dieß helle Bewußtsein aller unsrer Verhältnisse in der Welt aller unsrer Beziehungen auf dieselben, diese richtige Einsicht in die herrschende Stimmung der Menschen, in die Art und Weise, wie besonders auf sie gewirkt werden kann, in die Triebfedern, die dann im Unglück am besten in Thätigkeit zu setzen sind, um die nöthigen Wirkungen hervorzubringen diese ist es, welche allein in Zeiten großer Umwälzungen und besonderer großer Trübsale und Leiden, den Menschen ruhig erhalten kann. Laßt uns bedenken, wie viele Veranlassungen der Erlöser gehabt hätte, ganz andern Betrachtungen als diesen Raum zu geben, und nach der Weise der Schwachen sich einzuwiegen in leere Hoffnungen und Wünsche. Wie oft war ihm die Menge nachgewandelt zu Tausenden, durch|drungen von der Kraft seiner Rede, überrascht und erstaunt durch die wundervollen Wirkungen, die er hervorbrachte, wie oft hörte er es in der Nähe und aus der Ferne, wie er geachtet würde für den, der da kommen sollte, wie tönten ihm diese herrli5–6 Vgl. Joh 19,26–27

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chen begeisternden Worte entgegen noch einige Tage vor der Entscheidung seines Schicksals, wie leicht hätte er sich da noch leeren Erwartungen hingeben können, und wenn in seinem Gemüthe keine andern Bilder gewesen wären, als die von den Huldigungen des Volks als die von den Wirkungen seiner Kraft, als die, wie tief das Bild seines Wesens ihm eingeprägt wäre, wenn er sich nun vorgestellt hätte als wie unzertrennlich das Schicksal seines Volks an seinem eignen hinge, wie sehr alles vorbereitet wäre auf die Entscheidung seines eignen, die auch seinem Volke frommen mußte, wie alle Hände sich bewaffnen würden, wenn sein Leben in Gefahr käme, wenn er nur solchen Hoffnungen Raum gegeben, nur darin sich gewiegt hätte, unmöglich hätte er sich dann, als es nun anders kam, in dieser Ruhe des Gemüthes, in dieser hohen göttlichen Besonnenheit erhalten können, aber freylich wäre er dann auch nicht der gewesen den wir bewundern und preisen; denn der helle Blick in die Herzen der Menschen und in die Ordnung der Welt gehörte eben so zu seinem göttlichen Wesen, wie seine Reinheit und war eng verbunden mit seiner Ruhe. Aber beydes gehört auch für die, welche ihm nachfolgen wollen. Es ist ein verderblicher Irrthum, wenn wir die Kraft und Klarheit des Verstandes trennen wollen von dem was die Blüthe des Willens ist. Wenn dieser nicht mit jenem verbunden und von ihm getragen wird: so löst sich auch der festeste auf in eine Sammlung von Schwachheiten und Verirrungen; denn das Auge des Geistes muß hell seyn – sehen müssen wir wie es steht in der Welt, um uns, damit, wenn nun kommt die Zeit der Verwirrung, wir geltend machen können die Kraft des Willens und uns festbewahren auf dem Weg des Guten. Darum m. Fr. waren alle ausgezeichneten Diener der christlichen Kirche und des Reiches Gottes, prophetische Männer, solche, denen die Kraft des Geistes nicht gebrach, und der helle Blick, aus der Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft zu blicken, und unter allen Regungen und Entscheidungen, die im Gemüthe aufgehn, diejenigen nur fest zu halten, in denen die meiste Wahrheit sich abspiegelte, und wir dürfen sie nicht halten für eine | erstorbene Kraft, die nur in jene wundervolle Zeiten gehörte, nicht dürfen wir glauben, daß sie nur denen gehöre, die durch ihre Lage aufgefordert eingreifen sollen in die größern Verhältnisse der Welt, sondern sie ist allen gleich angeeignet, als es nur eine Kraft ist, die das Leben vollständig macht; sie ist allen nöthig so gewiß als nur aus dem Zusammentreffen des Kleinen und Großen der Zweck des Ganzen und die Ordnung erreicht wird, und so gewiß in dem Reiche Gottes aller Unterschied zwischen Groß und Gering als etwas Irdisches und Sinnliches verschwindet. Wir dürfen ein Jeder nur sehn auf unser Geschäft, auf seinen Beruf, auf die gemeinsamen Angelegenheiten der Menschen, auf die Aufrechterhaltung rechtlicher, sittlicher freundschaft6 Schicksal] Schicksals

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licher Verhältnisse, auf das Gedeihen aller gewöhnlichen Geschäfte des Lebens, auf die Hoffnung des heranwachsenden Geschlechts, die Liebe und Treue, mit der wir seine Entwicklungen begleiten sollen, überall finden wir, der welcher in den Tagen der Ruhe hingeht ohne sich seiner Bestimmung, seiner Verhältnisse und der Bestandtheile derselben bewußt zu werden, der ist in den Zeiten des Unglücks am meisten bedroht von Gefahren, am meisten herausgerissen aus dem lebendigen Zusammenhang der Dinge, am meisten fähig Sünde zu begehn und Betrug in seinem Munde erfinden zu lassen. So gewiß sehn wir, daß zu dem Amte zu dem Berufe in dem der Mensch lebt, ihm nicht fehlen dürfe jenes Vermögen klar zu sehn. Wir finden überall, wenn sich die Menschen hierin täuschen: so ist es nichts anderes als die Trägheit, die gern voraussetzt, alles werde wohl bleiben, wie es bisher gewesen ist, welche gern die Last und den Druck des gegenwärtigen Augenblicks hinwegrückt auf den künftigen, nichts andres, als die verderbliche Neigung, bey dem was der flüchtige Augenblick gebracht hat, stehn zu bleiben ohne zu sehn, wie sich in jedem Augenblick die Kraft entwickelt, wodurch sich das zusammengesetzte Leben bildet, und aus welcher jede fromme Gestaltung nur hervorgehn kann. Darum m. Fr. es gibt keine losere Speise für das Gemüth, kein verderblicheres, wenn gleich auch kein süßeres Gift, als jene lachende Einbildung, die wir uns von der | Zukunft machen, als jene einseitige Vorstellung, die stehenbleibend bey den flüchtigen Erscheinungen des Augenblicks muthwillig sich verschließt gegen das, was der Keim des künftigen Verderbens darin ist. Denn in dem gegenwärtigen Augenblick bereitet sich der Mensch die Zukunft und zwar nicht, in wiefern er ihr ähnlich ist, sondern verschieden. In der Ruhe, in der Stille muß er sich geschickt machen Leiden und Trübsalen entgegenzugehn, in der Einfachheit muß er lernen, wie er in den verworrensten Verhältnissen, welche kommen werden, feststehn könne und das Rechte und Nothwendige thun; mitten im Sonnenscheine des Glücks muß er diejenigen Kräfte in sich entwickeln, die ihm in Leiden, Trost, Beruhigung und Stärke geben, und ihn als das Ebenbild Gottes in sich tragend darstellen können. Soll ich noch eins hinzu fügen, worin jene Ruhe begründet war – es ist das Vertrauen zu Gott, vermöge dessen wir fühlen und uns bewußt werden, daß, wenn auch diejenigen Wege fehl schlagen, auf welchen wir gemeint haben das Gute zu vollbringen, andre sich aus der Fülle der göttlichen Weisheit entwickeln werden. M. Fr. Niemand konnte so sehr in dem Falle seyn, sich und seine Erhaltung für unentbehrlich zu halten und als wichtiges Mittel, einen großen Zweck zu erreichen als der Erlöser. Darauf mußte ihn so manche Betrachtung führen: wie unreif waren seine Jünger, wie schwach der Grundriß des ganzen großen Gebäudes, das durch ihn aufgeführt wurde und in welchem das ganze Wohl der Menschen eingeschlossen seyn sollte; aber den35 entwickeln] sich entwickeln

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noch gab sich der Erlöser in diesem Vertrauen auf die unendliche Weisheit hin, leichter sey es ihr, das Ganze auch ohne ihn auch ohne daß er es sah, zu erhalten und zu vollenden, als daß er selbst noch länger arbeiten könne, wenn er auch nur das Mindeste nachgelassen hätte von dem was seine Göttlichkeit und Heiligkeit ausmachte. Das ist die Ursache, warum so oft die Menschen fehlen, warum auch die besten straucheln, jene Einbildung nämlich, es könne wohl gut seyn, von dem Guten und Rechten etwas nach | zu lassen, damit nicht diejenigen Kräfte außer Thätigkeit gesetzt würden, von denen sie glauben, daß allein durch sie das Gute bewirkt werden könne – als ob sie nicht eben außer Thätigkeit gesetzt würden, wenn sie von ihrer Natur weichen, als ob nicht die geistige Kraft des Menschen gelähmt würde für das ganze Leben, wenn er nicht aus Leichtsinn oder Übereilung, sondern wohlbedacht von dem Wege weicht, den er zu wandeln hat, als ob er nicht eben dadurch das Vertrauen verlöre, daß das Rechte und Gute auch ohne schlechte Waffen siegen würde, als ob nicht eben dadurch den Feinden desselben eine Handhabe gegeben würde, woran sie sich immer und fest halten können und so siegreich gegen uns streiten. Aber dieß Vertrauen, es geschieht durch nichts anderes als durch die Demuth, als durch die Ergebung in die Wege des Höchsten, wovon uns der Erlöser ein so herrliches Beyspiel gibt. Er selbst obwohl mit dem Vater vereinigt, sagt doch, auch ihm sey nicht gegeben die Stunde zu wissen wann? und die Art wie? Die Rathschlüsse des Ewigen und Unerforschlichen sind auch ihm allein aufgethan, und der Mensch stürzt sich ins Verderben, wenn er meint, was nothwendig sey und geschehn müsse nach seiner Einsicht, könne auch nur erreicht werden auf dem Einen Wege, den er kennt, nur dann, wenn er strauchelt und dem Gesetze der ewigen Gerechtigkeit und Wahrheit untreu wird. Wenn der Erlöser – wie viel mehr müssen wir überzeugt seyn, unser ganzes Leben, unsre ganze Bedeutung, unsern Werth, unsern Nutzen auf dem Flecke, wohin wir gestellt sind, können nur davon abhangen, daß wir mit unerschütterlicher Treue den Geboten des Höchsten anhangen, und seinen uns bekannten Willen erfüllen unbesorgt für seine uns unbekannten Rathschlüsse. Dieß unwandelbare Festhalten an den Gesetzen des Rechts und der göttlichen Ordnung ist es, welches uns bewahren kann daß nicht in den Tagen der Verwirrung Betrug in | unserm Munde erfunden werde, daß nicht Abweichung von der Wahrheit unser Leben beflecke und die Sünde sich zeige in ihren mannichfaltigen Gestaltungen. Alles das, es sind Kräfte, die in uns auch wohnen, es sind theure Überzeugungen, daß auch wir dem Erlöser ähnlich seyn können und sollen, es ist das sich in uns gestaltende Ebenbild des Herrn, das uns fähig macht, ihm zu folgen, und so wie in Allem, auch hierin ihm ähnlich zu werden. So stehe er denn vor uns, daß wir ihm nachfolgen, so sey uns auch sein Leiden ein Vorbild, so 21 Vgl. Mt 24,36; Mk 13,32

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laßt uns, je mehr es uns mit Andacht und heiliger Liebe erfüllt, auch desto mehr bereit seyn, wie der Apostel sagt, zu leiden um des Guten willen und ohne Sünde, um so mehr sorgen, daß wir eben so leiden wie er. Amen.

Am 17. März 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 2,20–23 Nachschrift; SAr 26, Bl. 25r–28v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 41r–46r; Matthisson Keine

Den 17. März 1811. Tex t. 1 Petr. 2, 20 seq. „Wenn ihr um Wohlthat willen leidet und erduldet, das ist Gnade bey Gott etc.” 5

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Als ich in der letzten Betrachtung uns den leidenden Erlöser vor Augen stellte, besonders in der Hinsicht, daß auch unter allem, was ihm widerfuhr, in dem plötzlichen Wechsel seines Lebens, in dem entscheidenden Augenblicke seines Schicksals, ihm nicht die Ruhe und Besonnenheit des Gemüths verloren ging, da war gewiß sogleich, als sich uns diese Betrachtung darbot, auch aller Meinung darin einig, daß diese Ruhe und Besonnenheit etwas für immer und überall wünschenswerthes sey, etwas an dessen Vortrefflichkeit und Werthe Niemand zweifeln könnte. Der fernere Verlauf derselbigen Worte Petri, an die wir auch damals unsere Betrachtung anschlossen, führte uns darauf, den Erlöser uns zu denken in seinem stillen Dulden, in seiner unerschöpflichen Langmuth und freylich auch hier werden wir alle einig seyn, es gäbe Verhältnisse in dem Leben des Menschen, wo es das Edelste sey und das Größte, den Widerstand aufgeben, das Innere des Gemüthes auf eine undurchdringliche Weise verwahren, damit, was auch von außen herkommt, was uns auch verwunde, den Eingang in das innerste Heiligthum unsers Daseyns nicht finde, und keine Veränderungen hervorbringe, die dann wieder nach außen wirken und Zeugniß geben, daß wir im Innern verwandelt worden sind. Aber wenn die Frage ist, wo diese Verhältnisse eintreten und in welchen Fällen die wahre Wirkung des Leidenden zu suchen sey, so werden auf mancherley Weise die Meynungen sich theilen, der eine wird da noch fodern wirksamen Widerstand, wo der andere schon 5 Vgl. 3. März 1811 vorm.

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stille Ergebung verlangt, dieser wird, was jener für Kraft ausgibt, ansehn als ohnmächtigen von Schwäche zeugenden Zorn, und was der Eine für gottgefällige Eingebung ansieht, das wird ein anderer halten für schwache Verzagtheit. Wo sich die Meynungen über das was gut ist und löblich, noch von verschiedenen Meynungen und Ansichten theilen, da gibts keinen sicherern Vereinigungspunkt und kein beßeres Mittel, seine Überzeugungen zu berichtigen oder zu befestigen als daß wir unsere Augen auf den hinwenden, der ungeachtet aller Verschiedenheiten der menschlichen Natur, uns allen gleicher Weise das Vorbild gelassen hat, ihm nachzufolgen, auf ihn zu sehn, dessen hohe Worte und göttliche Lehren ungeachtet aller Verschiedenheit unsrer Ansichten, uns allen den Willen des Höchsten und seinen eigenen Willen aussprechen. In dieser Beziehung laßt uns jetzt unsre Aufmerksamkeit wenden auf den mit Langmuth duldenden Erlöser, und ich will dabey denselbigen Gang gehn, den ich auch neulich einschlug, in dem ich zu zeigen suchen habe 1. von welcher Art ist die Langmuth des Erlösers gewesen und 2. worauf sie sich in ihm vorzüglich gegründet.

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[1.] Wenn wir uns die Frage aufwerfen von welcher Art die Langmuth des Erlösers gewesen sey, und wie sie dadurch jedem Verdacht entziehe, in welchem die Erweisungen von Langmuth und Geduld vor den Augen der Welt nicht selten fallen, als ob zu zeitige Ergebung dem muthigen und tapfern Handeln Platz gemacht habe, als ob | weniger ein Gefühl innerer Würde oder unvermeidlicher Nothwendigkeit als ein Gefühl eigener Schwäche und muthloser Hingebung davon der Grund sey, so werden wir, indem wir achten auf die einzelnen Züge, worin seine Langmuth und Ergebung sich offenbart hat, gewiß in diesen beyden Punkten übereinstimmen müssen 1. daß er nur da und in sofern Widerstand und Handeln aufgegeben, als beydes der Natur der Sache nach nicht möglich war, und 2. daß er auch im Leiden und in der stillen Ergebung seine ganze und volle Würde behauptet habe. Und eine solche Langmuth ist es, in der wir eine wahrhaft göttliche und heldenmütige Gesinnung begründen müssen. Ich sage zuerst, der Erlöser hat jedes Handeln, welches zu seiner Erhaltung und Befreyung hätte führen können, nur in so fern aufgegeben, als es seiner Natur nach unmöglich war. Wir sehn ihn noch kurz vorher, mit aller der Kraft, welche ihm das Gefühl seiner großen Bestimmung auf der einen Seite, und auf der andern die Liebe, die Verehrung, die Anhänglichkeit einer großen Menge von Menschen geben mußte, mit aller dieser Kraft sehn wir ihn, seinen Gegnern widerstehen, das Irrige ihrer Denkungsart aufdecken, ja sogar in ihre verwerfliche Handlungsweise sie einführen. Woher dieser 5 theilen] sich theilen 14 Vgl. 3. März 1811 vorm.

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plötzliche Wechsel, daß wir von dem Augenblicke an, wo er sich in ihrer Gewalt befand nur weise Ergebung von ihm sehn? Er gibt uns Aufschluß in den Worten die er zu seinen Richtern spricht: mein Reich ist nicht von dieser Welt, denn wäre es, so würden meine Diener wohl darob kämpfen. Er war nicht gekommen etwas äußerliches auszurichten, und das was sich äußerlich an seinen Namen und an sein Daseyn anknüpfen und daraus gestaltet werden sollte, es durfte doch nicht auf eine äußerliche Weise bewirkt werden; sondern sollte nur der reine und ungetrübte Ausdruck des Innern seyn. Darum hatte er auch keine andere Kraft, keine andere Gewalt, keine andern Mittel und Waffen, als die, welche auf das Innere der Menschen zu wirken mögen. So lange es ihm möglich war, diese zu gebrauchen, sehn wir sie ihn gleich weise und tapfer anwenden. Jetzt aber war er hingegeben in äußere Gewalt; und er gibt uns zu erkennen, daß er es an sich selbst nicht für Unrecht halte, äußerer Gewalt zu widerstehn. Wäre mein Reich von dieser Welt so würde ... sollte ich dem Daseyn meines Volks von außen eine andere Gestalt geben, dann wäre jene Gewalt die mich in meiner Wirksamkeit aufhält und beschränkt und der ich mich selbst jetzt enthalte, sie wäre dann doch eine solche, der meine Diener sich widersetzen, und gegen die sie kämpfen würden mit aller Kraft und Standhaftigkeit. So wie ehedem, wenn das Volk dem der Erlöser angehörte, durch die Gewalt der Waffen einer fremden Macht unterworfen, und in einem erniedrigenden Zustand der Knechtschaft und Dienstbarkeit hingegeben war, der Herr von Zeit zu Zeit Retter sandte, und, wenn er sich an diese anschloß und ihnen folgte, sich eine eigene Macht bildete, fähig das eigene Recht zu vertheidigen, als dann auch ein gerechter muthiger und Gott wohlgefälliger Kampf begann: so war auch der Erlöser nicht geneigt, dieser Gesinnung | zu widerstreben, und die Befugniß dazu zu läugnen; aber sein Amt sey es nicht, das Beyspiel zu geben, er sey nicht geneigt, so zu handeln und so sich geschehn zu lassen, sein Reich wäre von jener Welt, das geistige und innere, das auch nur so kann erbaut und erhalten und vermehrt werden. Aber jene Kräfte konnte er in diesem Zustande nicht mehr gebrauchen. Auf das Innere der Menschen auf eine solche Art zu wirken, die ihm die Ausübung seiner Sendung, die Befreyung von allem Verdacht und aller Strafe hätte erwerben können, das stand nicht mehr in seiner Macht; denn der, welcher ihn richten sollte, hatte so wenig eine Vorstellung von dem Reiche aus jener Welt, daß er es als das unauflösliche Räthsel hinwirft, was denn die Wahrheit sey, und was sie bedeute, so wenig Sinn dafür, daß es ihm gar nichts zu seyn schien, worauf er seine Aufmerksamkeit zu richten habe. Und diejenigen, die ihn in diese Gewalt gegeben hatten, waren von einer solchen Verstocktheit des 26 geneigt] gemeint 3−4.14−19 Joh 18,36

35–36 Vgl. Joh 18,38

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Gemüthes, daß eine heilsame Wirkung auf sie etwas unmögliches zu seyn mit Recht scheinen mußte. Denn m. Fr. es gibt keinen sicheren Beweis, wie unempfänglich der Mensch sey, von innen her, durch das Große und Gute bewegt zu werden, als wenn er fähig ist, gegen den, dem er sonst Achtung nicht versagen konnte, gegen den eine gewisse unwillkürliche Furcht ihn befiel, sobald er sich durch eine andere Gewalt über ihn gestellt und ihn durch dieselbe unter sich gebracht hat, als dann jede Spur jenes frühern Gefühls zu verlieren, ja wenn er fähig ist, ihn zum Ziele eines unwürdigen Spottes zu machen. Wie wäre auf solche verhärtete Gemüther eine Wirkung des Geistes, in welchem allein Christus handeln konnte, möglich gewesen? Hätte er nicht eben dadurch das Heiligste und Größte nur unnütz verschwendet? Darum ziemte ihm von diesem Augenblicke an jene stille und ruhige Hingegebenheit, darum war nichts anderes als die einzige und richtige Maßregel, an keinen Widerstand zu denken, weil keiner hätte fruchten können. Zweitens die Langmuth des Erlösers zeigt sich darin, als die ganz rechter Art war, daß er auch in seiner stillen Ergebenheit seine ganze Würde behauptete. Schon dadurch behauptete er sie, daß er nicht erst versuchte, was er doch nicht hätte ausrichten können; denn nur darin zeigt sich die Vollendung menschlicher Weisheit, daß der Mensch nichts will, als was er nach richtiger Ansicht seiner Lage und Verhältnisse, nach genau gemachtem Überschlag seiner Kräfte und bey dem festem Entschluß, sie alle mit der größten Anstrengung zu gebrauchen, auch wirklich kann. Aber dann auch dadurch behauptete er sie, daß Niemand seiner Langmuth und Geduld den Vorwurf machen konnte, als wolle er etwas Unwürdiges durch sie erreichen; denn dieß ist es eben, worauf es hierbey anzukommen scheint. Sehn wir einen Menschen, welcher sich gefallen läßt, vieles zu leiden, herabgeworfen zu werden von der Stelle, die er mit Recht und auf eine ehrenvolle Weise bisher | eingenommen hat, sich hinzugeben in die unwürdige Behandlung anderer Menschen, ohne zu widerstehn, kurz sehen wir einen alle die edelsten und größten Güter, die dem Leben einen Werth geben, fahren lassen, lediglich um das Leben zu bewahren: so erscheint uns seine Geduld als eine unwürdige Schwachheit, als eine weder der Achtung noch des Mitleids würdige Feigherzigkeit. Aber wenn wir einen sehen, der einem größeren Zwecke dienend, und ihm alle seine Kräfte hingebend nur deßwegen jetzt still und leidend sich verhält, weil er zur Erreichung dieses Zwecks jetzt nichts beytragen kann, sehn wir ihn das Recht, was er hat, viele der edelsten Güter auf eine Zeitlang hin zu geben, dadurch bewähren, daß er des Lebens selbst nicht schont, daß er Beweise gegeben, wie er bereit ist, es hinzugeben um höherer Güter willen, dann können wir in der Geduld Weisheit und Beharrlichkeit anerkennen, und nur wo diese mit jener bestehn können, kann sie hoffen und Anspruch darauf machen, für Tugend gehalten zu werden. Anders nicht als in diesem Sinne dürfen wir an Christi Geduld ein Beyspiel nehmen, und daß seine Geduld und Ergebenheit die wahre gewe-

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sen sey, bewährt er uns dadurch, daß wir sehen, wie mitten im stillen Leiden er keine Gelegenheit vorbey läßt, die sich ihm auch nur im Kleinsten darbot, zu jenem großen Zwecke seiner Sendung thätig zu seyn. Dazu war er gekommen zu suchen was verloren ist, dazu war er da (und erfüllte seine Bestimmung) indem er den Menschen die Augen öffnete über die Gegenwart, indem er ihnen eine nahe und schreckensreiche Zukunft vor Augen mahlte, sie vorzubereiten aufzuregen und tüchtig zu machen, daß sie sich von innen eine wenn gleich spätere aber um so herrlichere Zukunft bereiten sollten. Sehen wir hingehn, ihn, der nichts gethan hatte sich zu retten, sondern geschwiegen bey seiner Anklage, belastet mit dem Pfahl, woran er seinen letzten Athem aushauchen sollte, aber wie er hinter sich hört die Töchter Jerusalems, die ihm zugethan waren, jammern und wehklagen, sogleich wieder und kräftig das Handeln ergreifend und mit der Stärke der Wehmuth ihnen zusprechend, daß sie einen andern Gegenstand als ihn für ihren Schmerz wählen sollten. Sehen wir [ihn] schon am Kreuze hangend, noch voll von dem sinnlosen Spotte einzelner Verächter, alles überhören, nein nicht überhören, sondern betend verzeihen sehn wir, wie er sich zu den Übelthätern Einem, der mit ihm zu sterben verurtheilt war, hinwandte voll derjenigen Weisheit, angethan mit dem scharfen Blicke, dem es nie entging, was in dem Herzen der Menschen war, auch diesen noch tröstend und auf die Zukunft hinweisend, die er mit ihm theilen sollte, wie können wir anders, als es tief empfinden, daß seine Hin|gebung ihn nicht lähmte, daß sie nicht war ein Aufgeben seiner Thätigkeit, sondern nur ein Verschieben derselben dahin, wo sie wenn auch nur wenig noch wirken konnte. Und dadurch allein kann sich die Langmuth und Geduld rechtfertigen, daß sie nicht sey Trägheit und Feigherzigkeit; wenn zu jeder nützlichen That die Kraft noch bleibt, wenn das Auge sich nicht verschließt gegen die Verhältnisse, in denen uns Wirksamkeit noch möglich ist, wenn der welcher das Handeln aufgibt, doch so alles ordnet und zusammenstellt, daß man deutlich einsehn muß, er habe den Endzweck seines Lebens nicht aufgegeben, und er werde ihm treu bleiben bis an seinen letzten Hauch. Aber auch darin zeigt sich, wenn der Erlöser seine Würde behauptet, daß wir ihn sehn auch nicht Einen von den Ansprüchen aufgeben, die er während seines öffentlichen Lebens gemacht hatte. O, m. Fr. der feigherzigen Geduld wäre in diesem Augeblicke der Glaube gewiß ausgegangen! Wäre seine Langmuth von der Art gewesen, er hätte nicht dem Hohenspriester, welcher ihn fragte, ob er der Messias sey, antworten können: du sagst es; er hätte nicht dem Pilatus auf die Frage: bist du der König, zur Antwort geben können: ja ein König bin ich und gekommen, daß ich durch die Kraft der Wahrheit herrsche. So m. Fr. sehen wir ihn alle seine Ansprüche sich vorbehalten, und 3–4 Vgl. Lk 19,10 Joh 18,37

17–21 Vgl. Lk 23,39–43

37 Mt 26,64

38–40 Vgl.

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alle seine Rechte bewahren; nicht an sich selbst zweifelnd noch andern verschweigend, er bleibe ungeachtet der gerichtlichen Verurtheilung, dennoch für den er sich gehalten, und als welchen er sich für die Welt hingegeben hatte. So m. Fr. möge sich Jeder verhalten, dem es durch das Schiksal seines Lebens auferlegt ist, Geduld zu üben. Etwas giebt es, was der Mensch immer fest halten muß, wenn er, indem er für den gegenwärtigen Augenblick sein Daseyn oder sein Wohlsein fahren läßt, nicht auch die ganze Vergangenheit mit vernichten will. Das ist eben jenes reine klare Bild von seiner Bestimmung in der Welt und von seinen Ansprüchen, ohne welches eine Einheit des Wirkens und Handelns gar nicht möglich ist. Von vielem kann uns der Besitz genommen werden, vieles, was in den Kreis unsers Berufs gehört, können wir verhindert werden, auszuführen und darzustellen; denn der Mensch ist auch dem Äußern unterworfen; aber unsere Ansprüche auf das, wozu uns Gott in diese Welt gesetzt hat, auf den Theil, den wir berufen sind, in diesem oder jenem Gebiete, in dieser oder jener Rücksicht zu gestalten und zu erbauen, diese müssen wir uns erhalten und bewahren; daß wir sie als etwas unveräußerliches anerkennen, muß unser Leben beweisen; selbst indem wir genöthigt sind, den Besitz in welchem wir uns bisher befanden fahren zu lassen, unsere Thätigkeit, die wir bis jetzt ausüben, aufzugeben, | möge unser Leben, unsere Reden, die ganze Art, wie wir unser Daseyn geführt und gestaltet haben, das verkündigen, daß wir unser Recht kennen, daß jede Unterbrechung und Störung mitten im Genuß desselben nur vorübergehend uns erscheint, daß wir nur der äußeren Macht dem Zutreffen der Umstände gewichen sind, und daß beständig jenes Bestreben in uns lebendig geblieben, den Besitz wieder zu ergreifen und unsere Thätigkeit wieder zu üben zu der wir berufen sind. Und dazu kann unter keinen Umständen die Gelegenheit fehlen, das werden wir immer bewähren können und eben dazu auch im Zustande des Druckes der Trübsale und Leiden die Achtung und Würde erhalten, die uns zukommt. Aber 2. laßt uns noch darstellen, worauf die sich gestaltete unwandelhafte Langmuth des Erlösers sich gegründet habe. Erstens darauf, womit die Worte des Apostels anheben: wenn ihr um Wohlthat willen leidet, das ist Gnade bey Gott; denn dazu seyd ihr berufen; sintemal auch Christus gelitten hat etc. Wahrlich es möchte schwer seyn, ja wohl unmöglich, zu dieser Ansicht der Leiden zu gelangen, sie so gleich förmig zu bewahren, so wenig dabey von der Ehrfurcht gebietenden Würde die uns überall wie Christo, wenn wir ihm gleich sind, zukommt, zu verlieren, wenn nicht eben das Gute; eben das Rechte, so wie der Grund und Zweck alles Handelns, so auch die Veranlassung zu Leiden gewesen ist. Denn Vorwürfe, die der 1 zweifelnd] zweifeln

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Mensch sich macht, Verschuldungen die zum Grunde liegen bey dem, was er erduldet, schwächen immer die Kraft, und indem sie dem Menschen jene Ruhe und Besonnenheit rauben, so machen sie ihn auch unfähig, auf eine würdige Weise Langmuth und Geduld zu üben. Denn wie konnte der, der mehr oder weniger bey sich selbst von der Achtung verloren hat, die der Mensch bedarf, wie konnte der bey Unglück die Achtung anderer zu behaupten wissen, und der sich selbst nicht rühmen, ohne Tadel gehandelt zu haben, wie konnte der den weit schwereren Ruhm sich gewinnen, daß er ohne Tadel leide. So ist der, welcher das Gute geliebt aber diesem Willen, es zu erfüllen nicht getreu geblieben ist, oder der mit dem Willen nicht Verstand vereinigt hat, er ist in dem Leiden durch seine Verschuldung verurtheilt zu einem wankelmüthigen ungleichförmigen und eben deßwegen die Spuren der Schuld an sich tragenden Handeln, seine Geduld wird als Schwachheit erscheinen, sein Widerstand als unzweckmäßige und unzeitige Anwendung der Kräfte, die er früher anders hätte gebrauchen sollen, und nur der früher tadellos gewesen ist in Beharrlichkeit und Weisheit, nur der wird das erhabene Schauspiel des tadellos und unschuldig Leidenden zu geben vermögen. | Wie viel weniger der, der nicht das Gute geliebt hat, dessen früheres Handeln keinen andern Zweck hatte, als jene irrdischen Güter zu erhalten, die er nur lässig fahren läßt, kann der wohl anders erscheinen als nur als ein solcher, der verkehrt und mit sich selbst nicht übereinstimmend einen Theil seines Zweckes einem andern gleichgeltenden aufopfert, wohl anders als ein solcher, der, was er für ein Gut des Lebens erkennt, fahren läßt, um das ihm unentbehrlich gewordene Leben zu behalten. Zweitens aber gründete sich die Langmuth des Erlösers auf den Glauben, auf das Vertrauen, welches der Apostel in den Worten ausdrückt, „denn er stellte es dem anheim, der recht richtet.“ M. Fr., wenn jemals der Mensch sich gänzlich besiegt fühlt, wenn er sich sagen muß und gestehen, was bisher der Zweck seines Lebens gewesen, sey ganz vereitelt, so daß alles was er gethan hat, vergeblich sey, daß sein ganzes Daseyn nichts beygetragen habe dasselbe hervorzubringen, daß es für alle künftigen Zeiten vorüber sey, o der kann wohl kaum anders als sich einer gänzlichen dumpfen Verzweiflung hingeben, in welcher jeder Augenblick nichts ist als ein Handhaben des Lebens. Anders der Erlöser, nicht nur das stand ihm fest vor Augen, der Zweck, um dessen willen er gelebt, gewirkt, gelitten habe, sey keinesweges aufgegeben, die heilige Wahrheit, die er verkündigte, werde doch herrschen, das Reich des Lichts werde doch alle übrigen übersteigen und unter sich bringen; sondern er fühlte auch, daß sein Thun und Leiden nicht verloren sey, daß das Künftige sich an seine Gestalt und an seinen Namen anschließen werde, daß er, wenn gleich jetzt der Verdammte, dennoch erscheinen werde als König über die Herzen in einem unvergängli26–27 1Petr 2,23

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chen Reiche. Wo anders können wir für unser Thun und Leben, und worin können wir diesen Glauben finden, als wenn wir uns anschließen an ihn. Ja sein Reich ist es, das keine irrdische noch unterirrdische Macht besiegen kann, das immer obsiegen wird durch die göttliche Kraft des Guten und Rechten, die ihm einwohnt; alle feindseligen Anstrebungen überwindet durch die Gewalt der Liebe, alles Vergängliche zurückschlägt durch die Gewalt des Unvergänglichen und Ewigen: wer kann euch schaden wenn ihr dem Guten nachtrachtet sagt der Apostel im Verlauf seines Briefes; ja dadurch allein gewinnen wir die Sicherheit für unser Leben und Handeln, die uns Kraft und Ruhe geben kann, wenn wir uns hinzugeben scheinen; und wenn in jenem ewigen Wechsel der menschlichen Dinge Augenblicke kommen, wo es scheint, als ob wir mit allem unserm Thun und Sinnen, von Gott verlassen wären, wie der Erlöser am Kreuze es schien, laßt uns bedenken: er stellte es dem heim | der da recht richtet; und laßt uns denselbigen Glauben fest halten; ja wenn wir nichts thun, als dem Guten nachtrachten, wenn alles, was wir thun, von Christi Namen ausgeht, wenn wir alle unsere Kräfte darauf richten, daß sich das Gute gestaltet und daß wir frey werden von Vergehungen und Sünden, wenn wir dazu das Bild des Erlösers, dazu seine Lehre, dazu die innige Verbindung, in der wir alle mit ihm stehn, benutzen; so haben wir Theil an dem unendlichen und in verschiedenen Gestalten wiederkehrenden Siege des Guten, so sind wir nicht verlassen von Gott, sondern er richtet recht; in dem Siege des Guten liegt unsere Rechtfertigung; liegt die Wiederherstellung unsres Ansehns unsrer Ehre vor uns selbst und der Welt, liegt der Sieg den alle davon tragen über diejenigen, die vergeblich das Gute zu bekämpfen suchen. Aber es gehört dazu der über die Gegenwart erhobene Blick der Glaube, der zuversichtlich hofft und vertraut auf das, was er nicht sieht, es gehört dazu, daß der Mensch sich selbst verläugne und sein Kreuz auf sich nehme, aber nur um dem zu folgen, der nur zum Siege die Seinen anführt und dazu verpflichtet, daß sie arbeiten für sein Reich, das ewig und unvergänglich ist, und der durch ihn Wirksamkeit Kraft und Erfolg (in der Darstellung) alles dasjenige zu bereiten weiß, wodurch in der That das Ebenbild Gottes dargestellt und das irrdische Leben dem Herrn geheiligt wird. Wohlan suchen wir im Leben nur das Ewige; so wird auch alles Leiden, alles Versagen uns nur das Vergängliche und Vorübergehende seyn, aber unvergänglich und ewig die Freude an dem Herrn und die Zuversicht zu seiner Hülfe und zu seinem Gericht. Amen.

7–8 1Petr 3,13 13–14 1Petr 2,23 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

26–27 Vgl. Hebr 11,1

27–28 Vgl. Mt

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Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Hebr 5,8–9 Nachschrift; SAr 26, Bl. 29r–32v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 47r–52v; Matthisson Keine

Sonntag den 31. März. 1811. Ebr. 5, 8.9.

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In meinen beyden letzten Vorträgen haben wir uns das Leiden des Erlösers vor Augen gestellt und darin betrachtet erstens seine Besonnenheit in allem, was er thut und dann die Langmuth, mit der er sich bewies gegen diejenigen, welche großen Theils die Ursache oder die schuldlosen Umgebungen seiner Leiden waren. Das war die Art wie sich seine Trefflichkeit die Göttlichkeit seines Wesens äußerte im Leiden. Aber es gehört, wenn wir uns diese ganz vollständig vorhalten wollen, noch etwas anderes dazu, welches unmittelbar freylich nicht wahrgenommen werden kann, weil es ganz im Innern des Gemüthes verschlossen bleibt, auf dessen Anwesenheit wir nur bald mehr bald weniger sicher schließen können aus dem Äußern. Es ist das, wovon die Worte unsers Textes reden, was der Apostel mit einem Ausdruck, der wenn wir ihn in seinem ganzen Umfange fassen, uns aufs tiefste bewegen und rühren muß den Gehorsam nennt, den Christus obgleich als Sohn Gottes hoch und erhaben über alle Schöpfungen, gelernt und geübt hat indem daß er litt. Darunter ist zu verstehn das willige Übernehmen dessen, was der Rathschluß des Ewigen verordnet, jene Übereinstimmung des Gemüthes mit diesem heiligen Willen, das auch im Leiden nicht mit Gott rechnet und vernünftelnd fragt, warum bin gerade ich bestimmt, ein solches Übergewicht von irrdischen Sorgen und Drangsalen zu tragen, wo bleibt gegen mich in Vertheilung der mannichfachen Schicksale sey das die Gerechtigkeit des Höchsten oder seine Güte. Dazu gehört, daß alle Widerwärtigkeiten und Leiden nicht im Stande sind zu stören die Ruhe der Seele 8 Wesens] Wesen

12 können] kann

3–7 Vgl. 3. und 17. März 1811 vorm.

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in Gott ihrem Schöpfer, ja es gehört dazu, daß der Mensch im Leiden und bey drückenden Unfällen eben so bewundernd eben so dankbar die Güte und Liebe des Ewigen zu preisen vermag nicht nur im allgemeinen, sondern auch im Einzelnen, ihn allein Betreffenden, wie in den glücklichsten und fröhlichsten Tagen. Wie gesagt: es ist dieß ein innerer Zustand des Gemüths, von dem Niemand mit Sicherheit wissen kann, als der, der ihn fühlt, wovon uns daher auch in der Erzählung der Leiden Jesu die Beweise, welche für jeden die überzeugendsten wären, natürlich fehlen. Dennoch kann es Niemanden geben, der nicht aufs Innigste überzeugt wäre, so und nicht anders sah es aus in dem Gemüthe des Erlösers in den dunkeln Stunden seines Leidens, so und nicht anders muß ihm zu Muthe gewesen seyn, und diese Überzeugung ist ein und eben dasselbe mit unserm Glauben an ihn; erschien er uns nicht so, wären wir nicht überzeugt, daß er so gewesen, so wäre er für uns nicht Christus, nicht der, der es verdient in einem ausgezeichneten und einzigen Sinne der Sohn des Höchsten genannt zu werden. Wohlan dieser festen Überzeugung des Glaubens laßt uns vertrauen und an|nehmen in dem Erlöser diese höchste Höhe menschlicher Ergebung und Übereinstimmung mit dem Willen des Höchsten; laßt uns sein Bild vor Augen habend in die Tiefe der Seele hinabsteigen, und je mehr wir dieses für den höchsten Gipfel der Frömmigkeit halten müssen, laßt uns fragen, worin dieser kindliche Gehorsam des Erlösers gegen Gott sich gezeigt habe während seines Leidens. Wer auf die Fortschritte seiner geistigen Ausbildung, auf die nur allmählig zunehmende Gewalt frommer und gottseliger Gesinnung über das Gemüth achtet, der wird es aus seiner eignen Erfahrung haben, daß wir diesen Gehorsam des Herzens gegen Gott erst lernen müssen, der wird in seinem Leben schon unterscheiden können eine Stufe seiner Bildung auf der es ihm noch schwer wurde diesen Gehorsam zu üben, und eine andere, wo es schon leichter. Und im Ganzen werden wir darin übereinkommen: erheben wir unser Gemüth allein und ausschließlich zur Betrachtung Gottes, fragen wir uns, wie können wir uns denken, daß Leiden seiner Kinder [als] ein Ausspruch seiner höhern Fügungen zu betrachten sind, wie erscheint uns auch dann noch, wenn wir unverschuldet leiden, sein ewiges Wesen; dann erzeugen sich Gedanken und Überlegungen, welche uns den Gehorsam erleichtern und uns dazu auffordern. Geschlichtet ist dann der Streit zwischen dem Geiste und dem Leibe, zwischen dem Gesetze, das in unserm Innern, und zwischen dem, welches in den Gliedern wohnt. Sehn wir aber auf uns, achten wir nur auf die innern Gefühle, die durch Leiden in uns erweckt werden; dann geht aus dem Herzen des Menschen hervor, was den Gehorsam erschwert und ihn unfähig macht, solchen zu beweisen. Erst allmählig und durch lange Übung, durch innige Vermischung des frommen Nachdenkens und des thätigen Lebens, der stillen Betrachtung und der Ausübung gelangen wir zur Übereinstimmung mit uns selbst, die uns fähig macht zur Übereinstimmung mit Gott, und uns dem

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großen Vorbilde des Christenthums im Leiden und Leben näher bringt. Es wird dann, und das sind die drei Punkte, auf welchen unsere heutige Betrachtung beruhen wird, der wachsende Gehorsam des Herzens gegen Gott sich begründet zeigen 1. in der Gewißheit von dem durch alles Leiden der Erde unverringerten Werthe unseres Daseyns. 2. in der Gewißheit von dem ewigen und nothwendigen Zusammenhange zwischen dem Übel und der Sünde. 3. in der Gewißheit, daß aus allem Übel des Frommen nichts anderes als etwas Gutes hervorgehen kann. Das sey es, was wir Christi Vorbild vor Augen behaltend mit einander erwägen wollen. I. Wir werden um so gehorsamer seyn, je mehr wir es inne geworden sind, daß Trübsal und Leiden den Werth unseres Daseyns nicht verringern. Meine Fr., was darüber gesagt werden kann, das ist einem Jeden so bekannt, das kommt uns in den mannichfachen Lagen des Lebens, wo es gilt uns und andere mit den Widerwärtigkeiten und feindseligen Begegnissen des Lebens auszusöhnen, so vielfältig vor, | daß es kaum lohnt, etwas davon zu wiederholen. Das ist einem jeden klar, daß so wie unsere Sinne im Dienste der Vernunft da eben so treu und eben so lehrreich ihr Geschäft verrichten, wenn sie uns von Gegenständen Kenntniß, die auf sich selbst einen schmerzenden widrigen Eindruck machen, eben so auch unser äußeres Leben im Dienste der innern göttlichen Kraft, dieselbe eben so verherrlicht und mehrt auch dann, wenn unser Zustand und ganzes Leben nichts ist als eine Verknüpfung von schmerzhaften und niederschlagenden Berührungen mit der Welt. Das ist allgemein bekannt, daß es ja kein Leiden gibt, das uns nicht zugleich zu einem Thun aufforderte, und daß der Werth unsers Daseyns bestehe in der lebendigen Äußerung der innern Kraft, wie diese auch im Leiden aufgeregt und geweckt wird, ja wie sie sich gerade da auf tausendfache Art offenbaren kann, wir wissen es alle. Die tägliche Erfahrung zeigts, wenn auch Unglücksfälle und Leiden von der Art sind daß sie die Kräfte des Menschen lähmen und niederschlagen, daß sie doch in eben dem Verhältniß wieder andere Kräfte wecken stärken und entwickeln, so wie, wenn dem Menschen einer von seinen körperlichen Sinnen geraubt ist, die andern an Stärke und Schärfe gewinnen und die übrigen übertreffen. Und eben darauf beruht ja jener alte und bekannte Ausspruch, daß es keinen herrlichern Anblick gebe als den Menschen, der mit Kraft und Liebe zum Guten ausgerüstet gegen die Widerwärtigkeiten des Lebens kämpft. Wenn wir darin die Herrlichkeit des menschlichen Wesens vorzüglich erblikken, warum sollten wir nicht dasselbige und mit gleicher Zufriedenheit auch in unseren eignen Leiden, warum sollte die Anhänglichkeit an unserm irrdi-

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schen Wohlseyn und Daseyn überwiegen die Liebe zur Offenbarung des Göttlichen in uns. Aber, und dieß können wir alle aus Erfahrung wissen, aber diese Einsicht geht doch bey vielen nicht über in das Leben, sie läßt viele Menschen die Leiden nur mit partheylichen Augen betrachten, und wenn sie selbst ereilt werden von Drangsalen und Unglücksfällen, dann wissen sie sich nicht anders als mit Vernünfteleyen, die auch wieder nicht Stich halten, zu rechtfertigen. Es ist gewiß, daß der Mensch diesen Gehorsam nicht lernen kann, wenn er nicht früh hingeführt ist zu der erhabenen Aufforderung unsers Erlösers: Wer mein Jünger seyn will, der verläugne sich selbst, er nehme sein Kreuz auf sich und folge mir. Wenn wir nicht gelernt haben, auch in den beßern Zeiten des Lebens zu dulden und zu leiden, wenn wir uns nicht gewöhnt haben, den irrdischen Kern unsers Lebens nur anzusehn als Werkzeug als Ausrüstung für die göttliche Kraft, für den höhern Geist, wenn uns im Genuß und Gebrauch der Dinge eben diese und die erfreulichen Verhältnisse nur etwas werth geworden sind in Beziehung auf den Besitz und Genuß, wenn wir nur daran unser ganzes Herz gehängt haben, dann können wir nicht Gehorsam üben, indem wir leiden. | Aber haben wir auch diese Selbstverläugnung, sind wir auch auf jener Höhe, wo das Herz vermag der Einsicht zu folgen, doch ist es wahr, daß ungeachtet das Leiden zum Handeln auffordert, und im Handeln die göttliche Kraft am meisten sich offenbaren kann, daß wir doch oft das Leiden als eine Verringerung unsrer Thätigkeit als Lähmung unserer Kräfte fühlen. Andere werden wohl aufgeregt, aber gerade die, mit denen wir am meisten zu wirken am vollkommensten unsern Berufskreis zu erfüllen gewohnt und im Stande waren, diese werden geschwächt und gelähmt. Ja wohl m. Fr. aber eben darum sehe jeder zu, daß das nicht der Fall sey durch seine Schuld, jeder sehe zu, daß ein solches Leiden, was seine Thätigkeit und Wirksamkeit schwächen kann nicht herbeygeführt werde durch sein Thun oder Lassen. Wehe dem, der leichtsinnig den Kreis seines Berufes überschreitet, seine Thätigkeit überall hin ins Kleinste verzweigt, und dann auch von den kleinsten Hindernissen überwältigt und mitten in dem Kreise seines Berufes ergriffen und besiegt wird; aber noch mehr wehe dem, der aus Furcht, Leiden über sich zu ziehn nicht den ganzen Kreis seines Berufes ausfüllt; er wird, wenn Leiden kommen, nicht im Stande seyn jenes Gefühl von unverlohrner Kraft, von unverringertem Werthe mit sich zu tragen, und darin einigen Trost und Stärke zu finden, der wird nicht, wie der Erlöser der nirgends lebendiger und inniger als kurz vor seinem Leiden, ja schon beym Anfang derselben gesprochen hat von dem Einsseyn mit Gott von seiner höchsten Würde als Sohn Gottes: so wird er nicht ansehn darstellen und preisen können seinen Beruf, aus dem er sich in beßern Zeiten durch Furcht hat heraus treiben lassen. 9–10 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

38–39 Vgl. Joh 17,1–26

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II. Unser Herz wird um so williger seyn zum Gehorsam, wenn wir uns überzeugen von dem ewigen und nothwendigen Zusammenhange zwischen dem Übel und der Sünde. Aber freylich hier stellt sich uns ein anderer Gehorsam dar (bey der Betrachtung unsrer Vorbilder) als der ist, den der Erlöser bewies, zu dem wir selten oder niemals gelangen können. Darüber wird kein Zweifel seyn, daß der Zusammenhang zwischen Übel und Sünde der Angel aller Frömmigkeit ist, daß alle niederschlagende Vorstellungen von der Sünde alle unsre dehmüthigenden Empfindungen bey den Übeln dieses Lebens, dann aber auch aller Trost der Religion alle freudige Gewißheit von der Vergebung der Sünde, von dem Ausgelöschtseyn vor den Augen Gottes, auf diesem Zusammenhange beruht, welches denen, die daran zweifeln, hier auseinander zu setzen, nicht der Ort ist, sondern was ich als allgemeine Überzeugung der Meisten voraussetze. Uns müssen die Übel erscheinen, seyen sie mehr oder weniger veranlaßt durch unsere eigne Schuld, als die nothwendige Folge der Sünde, haben wir sie alle vollbracht oder ist sie gegründet in dem Handeln und Seyn derer, mit denen wir zu einem Zwecke hinarbeiten. Da nun Gehorsam zu üben, dann ohne zu rechten und zu murren, die Übel tragen, welche Folgen unsrer eignen oder einer zusammengesetzten Vergehung sind, das ist freylich eine Tugend tief unter der Würde des Erlösers; aber auch eine herrliche für die menschliche Natur und die uns ihm dem Vorbilde näher führen kann. Ja m. Fr. dann die Gerechtigkeit Gottes ehren, dann nicht mit kindischem Sinne, sobald wir die Einsicht | von dem Zusammenhange der uns drückenden Übel mit unsern Vergehn und Fehlern erkennen, auch das Ende der Leiden als Erweis der göttlichen Gerechtigkeit und Liebe fordern, sondern dann auch in ihrer Fortdauer, und in der natürlichen Entwickelung der Begebenheiten die höchste Ordnung ehren und lieben, das ist der demüthige Gehorsam, und nur durch irrdische Trübsale vermögen wir allmählig in das Reich Gottes einzugehen, wo wir im Stande sind, bey allem Leiden jene ungetrübte Ruhe, jenen erhabenen Gehorsam zu üben, den der Erlöser bewies in seinem Leiden. Denn auch sein Leiden wird überall mit der Sünde der Menschen in Verbindung gesetzt. Er selbst sagt es: er gäbe sein Leben hin zum Lösegeld für viele, und von Anfang an ist er das Lamm Gottes, das der Welt Sünde trägt. Was wir darin verehrn m. Fr. das ist jene erhabene rührende Liebe, daß er für uns gestorben ist, da wir noch Feinde waren, und jede Fähigkeit, die uns eigen ist, auch das Leiden, wovon wir sagen müssen, daß es ohne eigene Verschuldung gekommen ist, mit demselben Gehorsam zu tragen, kann auf nichts andrem beruhen, als auf dieser göttlichen Kraft himmlischer Liebe. Darin unterscheidet sich das rohe des Höhern und Göttlichen unempfängliche Gemüth, daß es mit Widerwillen, mit scheinbarem Gefühle des Unmuthes die Übel von sich weist, und Ersatz für ihre Ertra32–33 Vgl. Mk 10,45

33–34 Vgl. Joh 1,29

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gung von Gott fordert, welche nicht aus selbst begangenen Fehlern entsprangen. Können wir so gesinnt seyn, wenn wir Nachfolger Christi sind, kann mit einer solchen Regung das Leben seines Bildes in uns bestehn. Wenn denn auch die Sünden unsrer Brüder Schuld sind an unseren Leiden; sind es nicht doch unsere Brüder, sind es nicht, an welche wir gewiesen sind mit allen unsern Kräften mit allen Gaben des Geistes, um für sie und mit ihnen sie zu verwenden im Reiche Gottes? Und meine Theuersten, wenn derjenige, welcher der Sohn Gottes war, den Gegensatz zwischen ihm und der Sünde nicht so empfunden hat, daß er nöthig gefunden, seine Liebe zu ihnen zu verringern, wie viel weniger sollten wir dazu Ursache haben, die wir mit ihnen gleich stehn. Gewiß es gehört wenig Umsicht und Einsicht in die Ereignisse der Welt dazu, um inne zu werden, daß alles, was die Menschen trifft an Übel und Leiden, weniger seinen Grund hat in der Macht, in der Handlungsweise der Bösen, als vielmehr in der Schwäche und den Fehlern der Guten, sey es nun das Gute zu schaffen oder dem Bösen Widerstand zu leisten. Und sie sind es ja, für die wir leben, für die wir arbeiten und schaffen sollen, und wenn wir alles Glück nur durch diese Bande der Gemeinschaft und der Liebe finden können: wie sollten wir nicht auch gern die Leiden, die aus dieser innigen Gemeinschaft nothwendig hervor|gehn, willig ertragen? Ja wenn es auch die Bösen selbst wären, die wir als Grund derselben ansehn müssen, durch welche die Guten in ihrem Bestreben aufgehalten und in Noth und Kampf verwickelt werden, was haben wir, in denen ja die Mischung des Guten und Bösen nie ganz untergeht, was haben wir für ein Recht, sie anders anzusehn und zu behandeln, als daß sie irren, als daß das Göttliche noch verdunkelt in ihnen ist durch eine irrdische, feindselige Gewalt; was können wir doch andres als das brüderliche Blut in ihnen erkennen, durch dessen Kraft wir uns zu ihnen als zu unserm Geschlechte hingezogen fühlen, und indem wir das Gute vertheidigen und das Böse bekämpfen, was können wir doch andres als die menschliche Natur in ihnen lieben, und indem wir die Verbindung, in die wir mit ihnen gesetzt sind, festhalten, auch alle diejenigen Ereignisse mit Gelassenheit aufnehmen, welche daraus entstanden, daß unsre Verhältnisse bis jetzt sich noch nicht anders gestalten konnten. Endlich III. Der Gehorsam des Herzens gegen Gott ist gegründet in der Gewißheit, daß aus dem Übel des Frommen etwas Gutes hervorgehn müsse. So lebendig wir überzeugt sind von jenem ewigen Zusammenhange zwischen dem Übel und der Sünde, so gewiß sind wir auch überzeugt, daß das Übel den Guten die Quelle seyn muß irgend eines Guten, und m. Fr. das soll nicht im Vertrauen seyn, gegründet auf die wunderbaren Wege des Höchsten, darauf gestützt, daß er wohl wissen werde, das zu vollenden und ans

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Ende zu bringen, was wir nicht vermochten: sondern auf eine uns klare verständliche Weise muß aus unsern Leiden das Gute hervorgehn. So m. Fr. wenn wir auch hier auf unser Vorbild sehn: so die erlösende Kraft in dem Leiden des Herrn. Nicht in einem unbekannten unerforschlichen Rathschluß des Ewigen ist sie gegründet, sondern mit klarer Zuversicht sah er das Heil entspringen aus seinem Leiden. Eben dadurch, daß er bis auf den letzten Augenblick festhielt an dem Bekenntniß, daß es keine andre höhere Macht und Herrlichkeit gäbe, als die des Menschensohnes, kein anderes als das geistige Reich, wie er es stiftete und gründete durch die Kraft des Glaubens und der Liebe, dadurch daß er zeigte, wie alles in dem Menschen, jede Liebe zum Irrdischen weichen müsse der Kraft seiner Überzeugung | von dem Willen Gottes, eben dadurch daß er durch sein gänzliches Verschwinden von der Erde auf das himmlische Leben hinwies, dadurch hat er die Erlösung vollendet; das ist das Band, welches er um alle Gläubigen und Guten herumgezogen, darin finden wir das Urbild, dem wir nachstreben sollen, daraus schöpfen wir die Kraft, die jedem göttlichen Leben zum Grunde liegt. Und eben so m. Fr. wird alles Leiden der Seinigen eine erlösende Kraft haben; denn so wie er, obwohl der Sohn Gottes, Gehorsam übte gegen den Willen des Vaters: so ist er denen die ihm gehorsam sind, eine Ursache der Seligkeit geworden. Denn unser Gehorsam wird und soll wirksam seyn zur Minderung des Bösen, zur Hinwegräumung alles dessen, was dem Menschen hinderlich ist an seiner Heiligung, und wie klar können wir, bey allen Leiden davon überzeugt seyn, daß sie die Quelle des Guten sind, wenn wir denken an die Kraft, die jede Ausübung der Frömmigkeit der Gottesliebe, in dem Gemüthe des nicht ganz verderbten Menschen ausübt, wie klar, wenn wir einsehn, wie jedes Leiden und jede Widerwärtigkeit, indem sie zum Handeln auffordern, zum Streit und Kampf aufrufen gegen das Böse, aus dem sie hervorgegangen. Wenn wir in allen Verhältnissen unter allen Umständen unserm Berufe treu, und tüchtig sind, auch in Leiden und Widerwärtigkeiten wie der Erlöser, zu beweisen die Kraft des göttlichen Geistes, und bis an den letzten Hauch unsers Lebens zu kämpfen gegen das Böse: dann m. Fr. können wir fühlen, daß auch wir einen Theil haben an der Erlösung, daß wir fruchtbare Reben sind an dem Weinstocke, mit dem er sich vergleicht, dann wird auch jenes heilige Gebet an uns in Erfüllung gehn, daß, wie er sich Eins fühlte mit Gott, so auch wir Eins werden mit ihm und durch ihn mit Gott; und eben die Kraft des Glaubens und der Liebe, wodurch wir Eins sind untereinander, das ist auch die Stufenleiter, auf der wir als Christen steigen können zu jenem reinen Gehorsam gegen Gott indem wir leiden. M. Fr. es ist nichts darin, was uns fern läge; die Lage der Welt giebt uns täglich Veranlassung zu sehn, auf welcher Stelle wir stehn, Leiden und Trübsale sind tief in das Gewebe unsers Lebens verpfloch33–34 Vgl. Joh 15,5

34 Vgl. Joh 17,1–26

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ten und wir wissen es wohl, daß unser Daseyn sich nicht denken lassen wird, ohne ihren Einfluß trennen zu können. Wohlan | m. Fr. laßt uns diese Tugend üben zu der unser Beruf unser Leben und Leiden uns auffordern, laßt uns darin die Kraft unsers Glaubens beweisen, und uns fleißig darauf prüfen, ob wir uns nahen jenem stillen Gehorsam, und laßt uns überzeugt seyn, daß dieser es ist, der uns leiden lehrt und auch die Kraft giebt im Leiden zu handeln, wie es deren, welche Christi Nachfolger mit Recht genannt werden wollen, würdig ist. Sein Beyspiel leuchte uns voran, nicht mit innerer Kraft und thatloser Geduld sondern mit der aus diesem Gehorsam entspringenden treuen Erfüllung des Willens Gottes bis an das Ende unsers Lebens. Von ihm laßt uns lernen und ihm treu seyn. Amen.

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Am 28. April 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,19–20 Nachschrift; SAr 26, Bl. 33r–36v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 53r–66r; Matthisson Keine

S. den 28. Apr. 11.

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M. Fr. Fast seitdem die Christen angefangen haben, mit aufmerksamer Andacht, denjenigen der die Quelle ihres Heils ist, zum Gegenstand ihrer Betrachtung zu machen, haben sie in seinem Daseyn unterschieden einen doppelten Zustand, der Erniedrigung auf der einen, und der Erhöhung auf der andern Seite. Denn als er in der Welt umherging, seine göttliche Gestalt von vielen verkannt, allen Mißhandlungen, denen immer das Gute unterworfen ist, ausgesetzt, von den meisten nur gleich geachtet, wo nicht geringer, dem was ihrer sinnlichen Denkungsweise das Höchste erscheint, ja auch das große Werk zu dessen Vollendung er in der Welt gekommen, von allen Seiten angefeindet, gehindert, bedrängt und kaum die ersten Züge davon deutlich zu erkennen: da erschien ihnen der Sohn des Höchsten erniedrigt zu seyn, sich selbst seine Hoheit entäußert zu haben. Den Anfang aber seiner Erhöhung rechneten sie an von seinem glorreichen Hervorgehn aus dem Grabe, dazu die kurze Zeit, die er nachher noch der Belehrung, Erweckung und Befestigung der Seinigen widmen konnte, das ungestört reine göttliche Leben entnommen jedem Verkehr und Streit mit der Welt, und so immer höher steigt die Betrachtung seiner Herrlichkeit bis sie ihn verfolgend antrifft sitzend zur Rechten des Vaters im Himmel. Darum sollte das Leben, das Christus noch jetzt führt unter uns, die Gewalt, die er ausübt als Herr derer, die seinen Namen bekennen, welche gehören zu dem Kreise der Seinigen, mit denen er verbunden ist – dieß Leben sollte angehören dem Zustande der Erhöhung, und keine Spur von dem, was seine Erscheinung auf der Erde verdunkelte und drückte, sollte jetzt mehr wahrzunehmen seyn. So ist es aber nicht; sondern jenen zweyfachen Zustand können und müssen wir auch jetzt noch unterscheiden. Denn was die Welt von 1 Abk. wohl für Sonntag

3 denjenigen] diejenige

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Christo sieht, was da ausgestellt ist von der Herrschaft Christi auf Erden, das bleibt auf so mannichfache Weise dem Leben unterworfen, das ist dem unrichtigen Blicke und Urtheile der Menschen ausgesetzt, das bietet den Anblick so mancher Unvollkommenheit und Schwachheit dar, und erscheint so unbedeutend, klein und unzureichend zu dem großen Zwecke, daß darin nur seine Erniedrigung erscheinen kann. Aber eine höhere und seligere Gewalt ist die, welche der Erlöser ausübt über die Seinigen, mit jener herrlichen Herrschaft, deren die sich allein | bewußt sind, durch die er sich verherrlicht. Auf vielfache Weise unterscheidet der Erlöser in seinen Reden selbst beydes; merkwürdig, wenn er sagt auf der einen Seite: ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern das Schwerdt, und auf der andern voraussehend jenes herrlichere Ziel: meinen Frieden gebe ich euch; nicht gebe ich wie die Welt pp. Daran erinnert uns auf eine besondere Weise eine Begebenheit aus den Tagen der Auferstehung des Erlösers. Joh. 20, 19 seq. Dieser Zuruf unseres Herrn an seine Jünger, dieser merkwürdige Zuruf, mit dem in ihnen das, was er ihnen anwünschte, sey es gepflanzt oder nur befestigt wurde, und den er in Verbindung setzt mit dem Auftrage der auch der Grund und die Quelle unsers Glaubens und Heiles geworden ist, und an dem auch wir Antheil zu nehmen gewürdigt werden: dieser sey es, der in dieser Stunde der Andacht unser Nachdenken leite. – Was ich vorher gesagt habe von der herrlichen Gegenwart des Erlösers in der Welt, von der göttlichen Gewalt die er ausübt unter uns, es vereinigt sich alles in diesen Worten. So laßt uns denn erwägen, welches da ist der Friede Christi, den er den Seinigen gibt und den die Welt nicht kennt. Es ist 1. der Friede mit dieser Welt; 2. der Friede mit dem, mit welchem Jesus eins war; 3. der Friede eines Jeden mit sich selbst und 4. der Friede aller Nachfolger des Erlösers unter einander. Folgt mir mit andächtiger Aufmerksamkeit zu dieser Betrachtung. I. Der Friede Jesu, durch den sich sein höheres und herrliches Leben offenbart ist der Friede mit der Welt. Es gilt hier vorzüglich, daß, was die Welt sieht von der Gewalt des Erlösers, was ihr erscheint von seiner Herrschaft, daß dieß nur der Zustand ist seiner Erniedrigung. So erscheinen und so sollen erscheinen vor der Welt, die dem Herrn angehören als die Streiter, die ob seinem Reiche kämpfen, und so sehn wir sie im Gegensatze und in der Verwickelung mit der Welt, und sie ist es, die uns keinen Frieden zugesteht, und auch glaubt, daß wir 6 seine] sein 10–11 Mt 10,34

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keinen genießen. Ja von Anbeginn, als der Herr die Gemeinde der Seinigen pflanzte, wie viel haben sie mit Aufopferung aller irrdischen Vortheile, kräftigen Widerstand geleistet dem Bösen, wie haben sie unter dem Druck und Spotte, unter Leiden und Ver|folgungen das Wort verkündigen müssen, das in ihre Herzen gepflanzt war, und wie viel Widerstand hat die Welt geleistet allen wohlthätigen Absichten derer, in welchen der Geist des Herrn mahnte, wie haben sie oft ihre Freude und Lust darin gefunden, diejenigen zu kränken und zu demüthigen, und als überwunden nur sich dazustellen, welche freylich nicht suchten, dessen sie konnten beraubt werden; sondern etwas Höheres und Ewiges, und noch mehr wie haben sie nach jener alten Verheißung: Dein Samen wird der Schlange den Kopf zertreten etc. wie haben sie nicht von jeher alles, was sich befleckt vom Irrdischen, behaftet mit Schwäche und Unvollkommenheit auf so mannichfache Weise büßen müssen und wie hat die Welt es so laut und kräftig ausgesprochen, daß ihr Glaube die Quelle sey eines ewigen Krieges. So, m. Fr., erscheint der Welt das Leben der Christen von außen; aber in ihrem Innersten ist Frieden. Ja daran können wir erfahren, ob Christus in der That in uns verklärt ist, ob er nicht noch in dem Zustande der Erniedrigung in unsern Herzen lebt, wenn wir Frieden haben mit der Welt und von keinem Streit mit ihr mehr wissen. Ist Christus in uns, sind wir in sein Bild gestellet, ist alles, was wir thun und wollen nur sein Wille: so kann, so darf es nicht anders seyn, und wie niemals da, auch wo Christus sich am heftigsten äußerte, Haß in ihm wohnte; so darf auch in uns keine Spur seyn von Feindschaft und Haß; denn wer ist es doch anders, wofür wir streiten, als eben die Brüder, und indem wir streiten gegen sie, was thun was wollen wir anders, als ihnen helfen, ihren bessern Selbst zu Hülfe kommen gegen eine unwürdige sie übermannende Gewalt. Wenn wir dadurch, daß sie dieser Erkenntniß noch nicht reif sind, daß sie sich zu dieser Höhe, wo wir uns selbst erblicken, noch nicht erheben können, wenn wir dadurch leiden, was ist es anders, als eines von den Trübsalen, durch die wir allein ins Reich Gottes kommen, was müssen wir bey der willigen Übernehmung und Duldung derselben mehr fühlen, als daß auch dieß uns gereichen muß zu einem Mittel der Heiligung, und wo können wir dieß deutlicher inne werden, als wenn wir sehen, daß es nicht ganz die reine Unschuld ist, der völlige Gehorsam gegen den Herrn und die Ähnlichkeit mit ihm, welche uns Schmerzen und Leiden verursachen, sondern das Unreine und die Schlacken, welche sich noch mit dem reinen Golde unseres Glaubens und unsrer Liebe vermischen, und wenn diejenigen, welche mit uns in gleichen Verhältnissen stehen, zu dem Ewigen und Wahren noch nicht eben so gewonnen wie wir an Kraft und Liebe | wenn in ihnen noch 18 Herzen] Herz 11 Vgl. Gen 3,15

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nicht so herrschend wurde das innere Leben, wenn wir ihr Herz erfüllt sehn von Leidenschaft und gehässigen Trieben – was leuchtet uns dann mehr ein, als daß es nur Unwissenheit ist ihrer angebornen Sünde und Bestimmung, Unkenntniß dessen, was sie sein sollten, und wie könnten wir hassen, was wir zu bemitleiden uns so gedrungen fühlen, und wie könnten wir erkennen, daß die, welche am meisten uns und dem Guten widerstanden, am wenigsten wussten, was sie thun. Das, m. Fr. ist der Friede dessen in unserm Herzen, der da ausrief: Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht etc.

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II. Der Friede des Erlösers den er den Seinigen gibt ist zweitens der Friede mit Gott. Wenn wir auf den großen Haufen sehn: so finden wir kaum etwas anders als einen beständigen Krieg ihres irrdischen Sinnes gegen den Ewigen und seine Ordnung. Wie murren sie gegen das, was er thut; wie klügeln sie über seine unerforschlichen Wege, wie stehn sie thörichter Weise auf gegen seine ewige Gewalt; und wie müssen wir uns in ihre Seele schämen, wo sie es wagen den Herrn zu loben und zu preisen, weil sie nur das des Lebens werth halten, was ihrer Sinnlichkeit schmeichelt. Und von diesem Triebe gegen Gott, scheint äußerlich angesehen, auch die Gemeinde des Herrn nicht frey zu seyn. Auch die, welche nichts wollen mit allem was sie sind und thun, als daß sein Reich komme, als daß sein Wille geschehe und sein Name geheiligt werde – wenn dann das, was sie aus einem Herzen aus ungefärbten Glauben und der Kraft der Liebe thun, wenn es nicht gelingt, wenn sie auch in der besten Absicht wirkend und strebend die Wege Gottes nicht getroffen haben; wenn der Ewige von allem was sie thun, seine segnende Hand abzieht, ja wenn er seine Freunde, seine theuersten Werkzeuge, welche er lange und treflich gebrauchen zu können schien im Streite gegen das Böse, untergehen läßt – und wenn dann doch immer wieder andere dasselbige Gute bearbeiten und fördern, wenn sie ihren Sinn und Willen den Willen des Höchsten unterordnend das Ziel nicht erreichten: dann erscheint dieß der Welt als ob ein unvermeidlicher Zwiespalt bestimmt zwischen Gott, und dem die seine Sache führen. Aber so ist es nicht, wenigstens nicht in denen, in welchen schon auf eine höhere Weise sich Christus verherrlicht hat – es können ihnen | begegnen dieselbigen Widerwärtigkeiten in ihrem Berufe – sie können, was ihnen fehlschlug und durch Unglücksfälle vernichtet wurde, doch mit demselbigen Eifer anfangen wenn es auch dieses mal der Herr wie es scheint noch nicht zur Vollendung kommen lassen will; sie können unter einander, um sich zu belehren, um der heiligen Wahrheit auf die Spur zu kommen entfremdet seyn auf ihrem gemeinschaft6 widerstanden] widerstand 8 Lk 23,34

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lichen Wege; aber es ist kein Trieb in ihnen gegen Gott sondern der Friede hat sie geheiligt zur gänzlichen Übereinstimmung mit dem Höchsten, und daß müssen wir gelernt haben, daß, wie sehr wir auch aus den Begebenheiten aus dem Ausgange der Dinge sehn, es sey nicht der Wille des Herrn, daß schon jetzt vollendet werde, wonach wir streben, wir doch eben so lebendig das Gefühl in uns erhalten: er will ungeachtet des Mißlingens daß wir muthig fortfahren in dem was wir einmal als unserem Berufe angemessen erkannt haben. Und warum sollten wir nicht wollen, daß, anscheinend vergeblich unsere Kräfte sich erschöpfen in fortwährenden Widerstand? Das ist ja unser Glaube, daß wir überzeugt sind, nichts ist in der Welt verloren, was aus der Kraft des göttlichen Geistes geschehn ist, daß wir wissen: ist es wahr daß er die Thränen und Seufzer der Frommen zählt; so zählt er noch mehr die Wünsche eines ihm ganz ergebenen Herzens, die Regungen eines Gemüths, daß nur seinen Willen thut und jede Handlung des Menschen, in dem nur wohnt und lebt das Bild seines Sohnes. Wenn dann auch der Herr dem widersteht was wir erstreben: wir sind die Demüthigen, denen er Gnade gibt und unser Wunsch soll ja nicht sinnlicher Weise darauf gerichtet seyn, das Werk was wir verrichten zu verherrlichen durch äußern Glanz, sondern wir sollen nur wollen, daß es vollendet werde, und daß nur alles, was wir im Dienste des Ewigen thun, recht sey. Darum sollen wir ruhig seyn über den Ausgang unserer Arbeit und vertrauen, daß andere vollenden werden, was wir in der Gegenwart, mit unsern Kräften unter diesen Umständen nicht vermochten, darum soll eine solche Freude und eine solche Treue in uns seyn, daß, nachdem wir selbst lange in dem Weinberge des Herrn gearbeitet und des Tages Last und Hitze getragen haben, daß wir uns dennoch derer freuen, die noch spät in unsere schon fast vollendete Arbeit kommen, und von Gott mit einem reichen Erfolge belohnt werden; ja auch das soll unsern ewigen Frieden mit dem Herrn nicht stören. Das, m. Fr., das ist der Friede dessen und seine Kraft in uns, welcher | ausrief: „nicht wie ich will, sondern dein Wille geschehe”. III. Der Friede, den Christus den Seinigen gibt, ist der Friede eines Jeden mit sich selbst. Ach m. Fr. dieß hohe, dieß herrliche Gut, wonach wir streben, dessen wir uns in den schönsten Augenblicken unsers Lebens bewußt seyn müssen, wie wenig erscheint es vor der Welt, wie müssen wir gestehen, daß so wie wir da stehn vor ihm, Christus noch in uns lebt im Zustande der Erniedrigung. Ach, gelüstet es nicht noch oft das Fleisch gegen den Geist, fühlen wir nicht, wie der Apostel sagt das Gesetz in unsern Gliedern noch oft streiten mit dem Gesetz der Vernunft; ist nicht die Welt Zeuge davon, wie irrdische Triebe sinnliche Bewegungen sich unserer bemächtigen wollen? Und noch viel mehr glaubt sie zu sehn, mit welchem 24–27 Vgl. Mt 20,1–16

29–30 Vgl. Lk 22,42

37–38 Vgl. Röm 7,23

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Kampf und Widerstreit wir den Willen des Höchsten vollbringen. Denn was wir thun in willigem Gehorsam gegen Gott die Kinder dieser Welt vermögen es nicht zu erkennen, und wie sie selbst von sich wissen, daß sie auch den Schein von aufopfernder hingebender Liebe nicht gewinnen können ohne Kampf und Gewalt gegen die widerstrebende Neigung: so sehen sie auch alles, was in und durch uns geschieht an als das Ende eines langen mühsam geführten Krieges, als das Werk eines sich immer fort erneuernden Streites. Aber wenn wir jenes eingestehn müssen: so sey es unser Trost, daß dieß nicht so ist, das unsere Freude und Lust, daß wir uns bewußt sind, es geschieht nichts mit Kampf und Widerstreben, was wir nur aus Gehorsam und Übereinstimmung mit Gott thun, daß wenn auch noch Spuren wiederkehren von Sinnlichkeit und Schwachheit in Regungen und Thaten, daß doch im Allgemeinen die sinnliche Natur in uns gezähmt ist und befreundet dem Geiste, daß uns nicht sauer und hart angeht, sondern daß wir mit Freude vollbringen das Meiste im Dienste des göttlichen Geistes, und daß jede noch unbändige rohe Kraft fortwährend gebändigt wird und begriffen ist im Übergange zu dem Verein der dem göttlichen Dienste geweihten und zum feindlichen Gehorsam gegen den höhern Geist der über uns waltet. Und fühlen wir das, so dürfen wir auch glauben jene Traurigkeit überwunden zu haben, die zur Seeligkeit führt, dann dürfen wir uns über einzelne und noch anklebende Schwachheiten nicht betrüben, sondern uns haltend an die in uns wohnende Kraft des Glaubens und der Liebe, vertrauend dem uns beherrschenden göttlichen Geiste | dürfen wir uns nicht stöhren lassen durch den Zoll den wir der Menschlichkeit noch zu entrichten haben. ... Das ist der Friede und die Kraft dessen, welcher ausrief: Kommt her die ihr mühselig und beladen seyd pp. mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht. Endlich IV. Der Friede, den Christus den Seinigen gibt, ist der Friede aller derer die seinen Namen bekennen, unter einander. Ganz anders betrachtet die Welt und hat von jeher betrachtet die Kirche der Gläubigen. Sie ist ihr immer erschienen als der Schauplatz eines häßlichen Streites, und es ist nicht zu leugnen, daß, wenn wir auf das sehn, was der Welt als die Kirche erscheint, viel Anlaß zu diesem ungünstigen Urtheile gewesen ist. Wenn wir die Geschichte überblicken, wenn wir sehn, wie die Bekenner Christi übersehend die Gleichheit und Einigkeit ihres Glaubens und der Liebe, über einzelne Meynungen über Verschiedenheit der Ansicht und Verehrung dessen, was uns heilig ist, einen Streit erhoben haben, wie er nicht geführt werden soll über das was nicht von dieser Welt ist, wie sie sich angefeindet und 30 ihr] ihnen 25–27 Vgl. Mt 11,28.30

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bekämpft haben mit denselbigen Leidenschaften – o da erscheint uns Christus in der höchsten Erniedrigung; da erscheinen uns diejenigen, die seinen Namen führen in einem Zwiespalt und in einem Kriege begriffen, den uns keine Gegend der Welt, heftiger liebloser und unwürdiger darbietet. Aber von wem ist das ausgegangen? Nur selten hat sich ein treues Herz, dem es Ernst ist um das Ewige verleiten lassen, an einem so unchristlichen Streite Theil zu nehmen. Dieß ist immer das Werk derer gewesen, die vom irrdischen Geiste beseelt nur den Schein haben, die Sache des Erlösers zu führen, und seines Wortes und einer vergeblichen Anhänglichkeit an das selbe sich nur bedienten als Mittel um irrdische und eigennützige Zwecke zu erreichen. Aber freylich wo auch im innern Heiligthum der Kirche gefehlt ist durch Zweck und Streit: es ist gewiß ein Gegenstand der tiefsten Trauer für uns alle. Aber um so mehr gilt es von der unsichtbaren Kirche des Herrn, daß die ganz im Frieden ist mit sich selbst; ja dessen muß sich jeder bewußt seyn, in dem Christus sich zu jener herrlichen Gestalt verklärt hat, worin er seinen Jüngern allein sichtbar war, daß die Liebe zum Herrn und der Friede, den er den Herzen gibt, jeden Streit, jede Feindschaften gegen die Brüder auslöscht. Der sehnliche Trieb, der brennende Eifer die Irrenden unter ihnen umzulenken und auf den richtigen Weg zu führen, den Kurzsichtigen einen weiten Gesichtskreis zu eröffnen, den | Weitsichtigen das Auge zu schärfen, den Schwachen zu stärken, und jeden Schein, der ein unwürdiges Licht werfen könnte, von der Gemeinde zu entfernen – dieser Eifer kann oft nur wie eine irrdische Leidenschaft erscheinen, aber er ist doch etwas andres im Gemüthe, und je lebendiger und mächtiger er in uns waltet, um so mehr müssen wir fühlen, daß wir in heiliger Eintracht verbunden sind mit allen die an Christum glauben, und daß wir diesen Bund anerkennen, uns bewußt sind, daß nur deswegen jeder Irrthum unserer Brüder uns so bewegt und aufregt, und uns veranlaßt dagegen zu streiten, weil wir möchten, daß nichts in ihnen wäre was da streitet mit der Liebe und Treue für den Herrn nicht ganz würdig der Kraft, durch welche sein Geist schon gewirkt hat, um ihn und seine Wahrheit zu verherrlichen. Das ist der Friede dessen, der gesagt hat: ich bin der Weinstock und ihr seyd die Reben, und wer nicht in mir bleibt pp. „Daran soll man erkennen, daß ihr meine Jünger seyd, so ihr Liebe untereinander habet.” Und als der Herr ihnen zugerufen hatte: Friede sey mit euch: da fuhr er fort: „Gleich wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch.“ Und so sendet er auch uns, aber nur der vermag sein Werk zu fördern, der sich zu diesem Frieden erhoben hat pp. „Und da er das sagte, blies er sie an, und spricht: Nehmet hin den heiligen Geist. Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen etc.” Ja m. Fr. in welchen sein Friede wohnt, in dem ist auch sein Geist; wer den einen hat, dem fehlt 32–33 Vgl. Joh 15,5 Joh 20,22–23

33–34 Joh 13,35

34–35 Vgl. Joh 20,21

37–39 Vgl.

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Am 28. April 1811 vormittags

auch der andere nicht, und durch seinen Frieden haben wir ein sicheres Urtheil über das, was das Wichtigste und Höchste ist für den Menschen, was seinen Werth bestimmt, so daß wir auch uns aneignen können, was er seinen Jüngern mittheilt die Macht Sünden zu erlassen und zu behalten, daß wir die unterscheiden können, denen sie erlassen von denen, denen sie behalten werden. Und das alles, wie groß es erscheint, es ist nur wenig über das wir hier gesetzt sind; aber lassen wir seinen Geist mächtig in uns werden pp. Dann wird er uns über mehr setzen. Amen.

3 seinen] sein

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Am 8. Mai 1811 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Bußtag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 3,23 Nachschrift; SAr 26, Bl. 37r–40v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 67r–71v; Matthisson Keine

Predigt am Bußtag von Schleiermacher (Nachmittag). Den 8. Mai 11. Röm. 3, 23.

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Meine and. Fr. Was jeder von uns unablässig zu seinem Geschäfte machen sollte in der Stille der Einsamkeit, nachzudenken über: das, was in seinem Inneren dem Herrn mißfällig ist und über die Früchte, welche die Sünde gebiert in seinem Leben, und heiligen Schmerz zu empfinden darüber, daß er noch so weit zurückgeblieben ist hinter dem Ziel das er sich schon so lange vorgesteckt hat, dazu werden wir an dem heutigen Tage gemeinsam aufgefodert. Es ist daher auch billig, daß wir bey dieser Aufforderung vorzüglich an das denken, was sich auch in unserm gemeinsamen Leben der Buße bedürftiges offenbart. Und so ist es gewiß ein angemessener Zuruf für den heutigen Tag, den wir in den verlesenen Textesworten finden; denn der Apostel sagte diese Worte in Beziehung auf das Volk, dem er selbst angehörte und welches sich großer Vorzüge vor andern rühmte, und er wollte damit nicht nur ausdrücken den allgemeinen unvermeidlichen sündhaften Zustand des Menschengeschlechtes überhaupt; sondern aufmerksam machen auf das was gerade dieses ausgezeichnete und auf seine Frömmigkeit stolze Volk wäre im Vergleich dessen, was es sein sollte. Und [im] gleichen Falle, in derselben Lage befinden wir uns, und dieselben Worte sind also auch auf uns anwendbar. Denn auch wir sind, wenn gleich nicht wir jenes äußerlich von andern getrenntes, ein Volk Gottes, und über das was in dem Leben das wir gemeinsam führen, in dem Berufe den jeder zu erfüllen hat, noch tadelnswerthes ungöttliches zurück ist, über das was nicht für den Einzelnen der Endzweck des Daseyns ist, sondern worauf wir mit allem unsern Thun und Wirken hinarbeiten, darüber wollen wir nachdenken in dieser Stunde der Andacht. Wenn es so ist | daß wir alle ohne 23 tadelnswerthes] tadlnswerthes

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Am 8. Mai 1811 nachmittags

Unterschied des Ruhmes ermangeln, den wir bey Gott haben sollten: so werden wir uns das gewiß zum Vorwurf machen müssen und eben deswegen zum Anfang der Buße; daß wir aber nicht, nicht bloß auf jene allgemeine Vorschriften und Offenbarungen verweisen, deren sich das jüdische Volk erfreute: sondern einer größern ausgezeichneteren göttlichen Gnade und Unterstützung gewürdigt, vor allem auch Ruhm haben sollten bey Gott das muß jedem einleuchten, und an einer andern Stelle beschreibt unser Apostel welches der Ruhm sey, indem er an eine von ihm gegründete Gemeinde schreibt und ihr sagt: wie er allezeit Gott danke für sie, und ihrer gedenke wegen ihres Werkes im Glauben, ihrer Arbeit in der Liebe und ihrer Geduld in der Hofnung. Das m. Fr. ist der Ruhm der Christen bey Gott, und darauf laßt uns die Frage beantworten ob wir Ruhm haben bey Gott oder dessen ermangeln.

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I. Der Ruhm des Christen bey Gott ist das Werk des Glaubens. Was der Apostel Paulus darunter verstehe, darüber dürfen wir nicht zweifeln, wenn wir an die Worte denken: was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde. Das also ist das Werk des Glaubens daß er auf diese Weise das Leben entsündigt das soll er schaffen, daß nichts deswegen mehr Sünde sey, weil es nicht aus dem Glauben kommt. Alle Arbeiten in dem menschlichen Gebiete des Lebens, alle Zweige des Thuns soll er beleben, durch ihn sollen wir immer vollkommener einsehen lernen, welches da sey der heilige und vollkommne Wille Gottes, durch ihn soll sich bilden die feste Ueberzeugung, wodurch der Mensch allein wie wohl auch dann mit Vorsicht und Sorge, seine Seeligkeit schaffen kann. Darum soll jeder uns durchdringende Gedanke von der Verbindung in welcher wir durch Christum mit Gott stehen, in allem unseren Thun uns leiten und schon der erste Gedanke zu unserer Handlung hinbringen und alles, was irgend ein verderbliches Werk hervorbringen könnte, von uns zu entfernen. | Und um dazu, zu dieser Sicherheit und Richtigkeit des Lebens zu gelangen, wie viel Mittel sie uns gegeben wie viel Hülfsquellen eröffnet – darum hat der Herr uns angezündet das Licht seines Wortes, dazu sind wir eingewurzelt in jene einfachen aber seligmachenden Wahrheiten, deren Anwendung auf dem Gebiete des thätigen Lebens es sind, welche unser Leben sichern, unsre Handlungsweise fest und Gott wohlgefällig machen können. Und wir dürfen nicht sagen, es sey ein andres die Einsicht in diese ewigen Wahrheiten in sich haben, und die Gaben des Verstandes besitzen, mit derselben Klarheit, wie wir sie erkennen, um auch in die einzelnen Theile des Lebens hinzuschauen. Denn auch dazu ist ja errichtet jene herrliche Gemeinschaft der Erkenntniß und Einsicht deren wir uns vor anderen erfreuen. Es soll keiner seyn, der nicht von Gott gelehrt wäre, das ist der Vorzug der Christen, und wenn sich einer fände, 9–11 Vgl. 1Thess 1,3

16 Röm 14,23

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daß er gelehrt werde. Es sind unter den Schwachen und Geistesarmen die Hellsehenden verbreitet, ein Bund, wonach der eine nicht lassen kann von dem andern, noch vorenthalten die Früchte seines Lebens und deren Mitgenuß, umschlingt uns alle. Fehlt es also dem einen an Rath an Einsicht: so fehlt es ihm nicht an Gelegenheit, sich diesen zu verschaffen. Ja wenn, wie es denn wahr ist, das Wissen und die Lehre allerdings herrliche Vorzüge sind, deren wir uns im hohen Maaße erfreuen, aber dennoch auf der andern Seite die Klage geführt wird, daß nicht dadurch allein das Leben regiert und bestimmt würde, daß weit mehr, als dem Worte und Rathe des andern, ein jeder traue seiner Erfahrung, dem was er selbst vom Leben geschaut hat wenn das wahr ist: so haben wir auch darüber keinen Anlaß zum Klagen. Es ist uns nicht nur aufgethan das Buch der Geschichte, welches unser Leben und unsere Erfahrung vereinigt mit dem Leben so vieler Geschlechter, nicht nur eröffnet einen Kreis, innerhalb dessen ein Jeder um sich schauen kann und so weit als nur immer seine Hände zu schaffen haben mögen | sondern laßt uns nicht verkennen, die große Wohlthat die Gott uns durch Christus erwiesen hat, laßt uns gestehen, wie er uns auch in der letzten Zeit aufgethan hat einen reichen Schatz von Erfahrungen die in allen Gebieten unsers Lebens um so mehr und reiche Früchte tragen sollten, je theuerer sie uns gekostet haben. Und m. Fr. was ist denn nach allen diesen der Ruhm, den wir haben vor Gott? Was andres, als daß wir von einer Zeit zur andern glauben, uns losgemacht zu haben von allem leeren Wahn, und aller Dünkelweisheit, daß wir glauben, weiter und richtiger zu sehen, weiser zu seyn als unsere Vorfahren, aber daß wir doch im Ganzen nur neuen Täuschungen folgen, und daß wir von allen Schätzen der Weisheit die wir uns zu besitzen rühmen, wenig Früchte in unserm Leben, in unserm gemeinsamen Daseyn gefunden werden. Frage sich doch jeder ehrlich und so weit sein Auge reicht, so weit er zu sehen vermag nach allen Theilen des gemeinsamen Lebens um diese zu verstehen, und jeder wird wohl gestehen müssen, es gibt ausgemachte klare Wahrheiten, feste Grundsätze des Verhaltens die das Leben leiten können. Aber wenn wir fragen: wird nach diesen gehandelt; finden sie Glauben, wenn sie verkündigt werden, haben sie Kraft und Gewalt in der Führung in Anordnung des Lebens: so werden wir diese Fragen größtentheils verneinend beantworten können und gestehen müssen, daß bey weitem die Anzahl derer die größte ist, welche, die einen durch zu große Anhänglichkeit an das Alte und Hergebrachte, die andern durch zu große Zuneigung zum Neuen sich mehr leiten lassen, als durch jene klaren Wahrheiten, die auch sie sehen können, und daß viel leichter Vorurtheile, an denen sie hängen, weil sie ihrem verkehrten Sinn zusagen, und ihren sündlichen Neigungen schmeicheln, und irrige Meinungen sich verbreiten und Kraft gewinnen als das Richtige und Wahre. Wie also steht es unter uns um das Werk des Glaubens, von wie vielen können wir sagen, daß in Beziehung auf den Glauben, nicht Sünde sey, was | sie thun? Denn die meisten

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Am 8. Mai 1811 nachmittags

leiden an der Blindheit, vermöge derer jeder nicht nach dem höhern Willen nachgeht sondern einem niedern Sinne, und nicht sucht, was das allgemeine Beste fordert sondern das für das Beste hält, was dem Trägen am bequemsten, dem Eigennützigen am vortheilhaftesten, dem Leidenschaftlichen für seinen niedern Trieb am meisten Vorschub leistend erscheint. Und so ermangeln wir in dem Werke des Glaubens des Ruhms, den wir vor Gott haben sollten.

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II. Das zweite aber, dem der Apostel den Ruhm des Christen zuschreibt, ist Arbeit in der Liebe. Wir dürfen uns nur erinnern daß es derselbe Apostel ist, der in seinem Briefe an die Corinther der Liebe eine so herrliche Lobrede hält, und dardurch unserm Ruhm würdig. Sie ist allen bekannt und nur einige Punkte will ich ausheben: die Liebe blähet sich nicht, die Liebe läßt sich nicht erbittern, sie ist langmüthig und freundlich[,] suchet nicht das ihre, sie verträgt alles, sie duldet alles und läßt sich nicht ermüden. Und so in stiller Demuth, so mit Duldung, Schonung und Selbstverleugnung mit unermüdetem Eifer das Beste aber vor Augen haben, und ihnen sein ganzes Leben widmen, das ist die Arbeit in der Liebe, und damit wir darin vollkommner werden, dazu sind wir aufgenommen in den Bund der Liebe, den Christus gestiftet hat, und daß wir es sollen erkennen wie deren, welche wir uns rühmen Glieder dieses Bundes zu seyn. Und immer besteht er noch immer noch nehmen wir alle Aufmunterung und Unterstützung im Guten daher und von allen Guten und Herrlichen ist er von jeher als die Quelle angesehen. Immer erkennen wir es von diesem Standpunkte aus an, was jeder dem andern schuldig ist als ein Glied an dem heiligen Leibe des Herrn. Und auch in der andern Beziehung, welch’ ein kräftiges Band der Liebe umschlingt uns alle, wie tief müssen wir es unablässig inne werden, wie wir nur abhängen von dem andern in dem Wichtigsten [und] Kostbarsten unsers Lebens; ja wie sind wir einander noch mehr genähert und einander vereinigt durch alle die Leiden und Trübsale dieser Zeit! Wie sollten wir alles unsrige hintenansetzen um nur das Allgemeine und höhere Gut zu gewinnen, wie sollte jeder demüthig seyn und bescheiden, und nicht zurückdrängen die andern | sondern vielmehr aufzumuntern in der Arbeit, wie sollten wir uns nicht ereifern lassen durch Widerstand und Feindseligkeit, wie sollten wir mit Sanftmuth und Schonung die Irrenden zurecht weisen und mit Festigkeit, aber ohne Leidenschaft stehen auch neben dem, der das Böse sucht und auch in ihm etwas aufsuchen, als Gegenstand unsrer Liebe, und wie sollten wir, je mehr Hindernisse auch uns entgegenstel8 zuschreibt] zuschrbt 10–11 Vgl. 1Kor 13,1–13 28–29 Vgl. 1Kor 12,26

12–14 Vgl. 1Kor 13,4–7

24 Vgl. 1Kor 12,12–14

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len, je ferner das Ziel durch dieselben zurückweicht, wie sollten wir um so weniger müde werden in der Arbeit, wie sollten wir mit Aufregung allen unsern Kräften arbeiten in der Liebe. Wäre es so, dann hätten wir Ruhm bey Gott, und dann möchte auch, wie damals, einer kommen und sagen, daß er mit Freude unsrer gedenke und Gott danke für das Werk unsers Gottes und für die Arbeit in der Liebe, und wir könnten diese Worte aufnehmen ja sie betrachten als Worte des Erlösers. Aber dürfen wir uns das Zeugniß geben, gearbeitet zu haben in der Liebe? Bläht sich nicht jeder, der sey es an Kraft oder an Einsicht und Talent über den andern wirklich oder auch nur scheinbar hervorragt? Zeigt nicht die Eifersucht der verschiedenen Stände, des geselligen Lebens, die Art, wie jeder sich zudrängt, wie jeder nur auf sich bedacht ist und alles Heil nur von sich abhängig zu machen sucht, sehen wir nicht an den Leidenschaften, die überall herrschen, daß wir fern sind von der Liebe und erfüllt mit Eifer und Leidenschaft? Und wenn nun nothwendige mit Aufopferungen verbundene Anforderungen gemacht werden, wenn es gilt zu helfen zu tragen zu stützen, wie zeigen sich da die meisten verdrossen, wie wissen sie ihren Mangel an Bereitwilligkeit zu entschuldigen, daß ja mit allen Anstrengungen doch nicht der Endzweck erreicht werde. Es ist gewiß an diesen Andeutungen genug, um zu fühlen des Ruhmes ermangeln wir bey Gott. III. Und das dritte, worin der Apostel den Ruhm des Christen setzt, ist die Geduld in der Hofnung. Und diesen Ruhm scheinen wir wenigstens zu besitzen. Wann ist die Hofnung, dieser milde Schein schon ganz erloschen unter allen Trübsalen, und wie viel Geduld beweisen wir, wie tragen wir nicht von allen Seiten, was drückend und unnötig ist, wie lassen wir | uns nicht gefallen, wogegen wir streiten sollten; wie sehn wir nicht die Meisten im Großen wie im Kleinen, im Allgemeinen und öffentlichen gemeinsamen Leben wie in den besondern einzelnen Verhältnissen, das Hindernste und Drückenste geduldig ertragen, sich einiges gefallen lassen, damit man anderen entgehe, nachgiebig sind gegen den Mächtigen, damit man Raum habe, um sich selbst auszubreiten und Kraft zu gewinnen gegen die welche unter uns stehen. Aber m. Fr. ist das die Hofnung und die Geduld, welche der Apostel meint? Die Hofnung die uns nie erloschen ist, was für eine andre ist es als die; vermögen wir auch nichts, wissen wir auch nicht Rechenschaft zu geben, auf welchem Wege wir das Ziel erreichen, und es erwarten, es werde durch äußere Begünstigungen geschehn, und ohne unsre Thätigkeit sich von selbst ergeben im Laufe der Welt? Und die Geduld ist nichts andres, als die beharrliche Thätigkeit in der Hofnung, daß uns ein 35 welchem] lchem 21–22 Vgl. Röm 5,3–5

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unscheinbarer geringer Anfang aber durch das Werk des Glaubens und die Arbeit in der Liebe sich erbauen werde das Reich Christi, welches er gegründet hat auf Erden, und daß hergestellt werde das Ebenbild Gottes in allen denen, die ihm folgen und so der Zweck, wozu sie da sind, durch sie und an ihnen erreicht werde. Dieß ist die Hofnung, welche der Apostel meint, und wer sie vor Augen hat, von ihr beseelt ist, der kann auch keine andere Geduld üben wollen, als die von der der Apostel spricht, nämlich die Beharrlichkeit in der Hofnung, die nicht wirklich werden kann als durch die Vereinigung aller derer, die vom Geiste Gottes getrieben sein Werk thun. Es kommt nicht von außen und durch keine äußerlichen Umstände: sondern in dem Menschen muß es aufgehen, und von einem heraus gebildet kann es dann auch äußerlich erscheinen. Da gilt es nicht hoffen auf etwas Äußeres: sondern auf etwas Inneres und das Ausharren der fortgesetzten Thätigkeit im Glauben und in der Liebe ist die Geduld des Apostels, es ist die Beharrlichkeit, welche vertraut daß dasjenige gewiß erfüllt werde, was Gott als Preis auf die Beharrlichkeit gesetzt hat, und diese Geduld besteht darin, nicht müde zu werden in unsrer Arbeit und Hoffnung, wenn wir auch kein Erfolg sehen, nichts übereilen zu wollen, sondern mit ruhigem aber festem Schritte auf dem erkannten Wege zu wandeln, nach Gottes Geboten zu thun und dann hoffen mit der Hofnung, die Niemanden läßt zu Schanden werden weil sie auf nichts Äußeres Vergängliches gerichtet ist sondern allein auf die ewigen Rathschläge des Höchsten. M. Fr. Sieht unsre Hofnung so aus, oder hat sie je trügerische schmeichlerische Gestalt, und ist sie so, daß, wenn sie leise wird | so nur die Thorheit der Menschen offenbart? Und unsere Geduld? Ist sie diese unablässige Thätigkeit, dieser ausdauernde Eifer, dieses Beharren in allem Rechten Guten und Edlen mit aller Verzichtleistung auf eignen Vortheil und Genuß? Ach, m. Fr. wir werden uns wohl nicht sagen dürfen, daß wir diesen Ruhm bey Gott haben. Wohlan, wenn wir unsern Mangel erkennen, laßt uns mit der Buße beginnen; gehe jeder in sich, erforsche die Tiefen, suche auf die faulen Flecke seines Gemüthes; keiner wolle sich weißbrennen, und sagen, mein Glaube würde wohl hingereicht haben, das Beßre durchzusetzen, wenn er mich hören wollte, meine Liebe wäre wohl thätig genug, das Gute zu vollenden; aber sie verschwindet in der entgegenstrebenden Thätigkeit der anderen, und keiner sage, daß er wohl einsehe die Nichtigkeit der Hofnung anderer, und daß er nur die nähre, welche der Apostel der Gemeinde vorhält. Denn keiner wird es mit Wahrheit sagen können und das große Unglück was über uns gekommen, wir haben es durch viele gemeinschaftliche Verschuldungen uns zugezogen, und Jeder trägt seinen Theil daran und es gibt keinen Anfang der Buße, als daß er sich erkenne, Buße thue und Sünde und Fehler ablege. Dazu m. Fr. sind Tage gesetzt wie der heutige und das Werk eines ernsten Nachdenkens und demüthigen Gebetes zu Gott wird sich dann herrlich

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beweisen, und wie der Apostel sagt: die Traurigkeit, die zur Seligkeit führt, die Schmerzen die wir empfinden, wenn wir in das innere Herz schauen, sie werden Niemand gereuen, und was Jeder so in sich selbst vollbringt in der Stille, das wird Früchte tragen, daran wir uns erfreuen müssen in unserm Leben. Und so gereiche dieser Tag und das ernste Nachdenken uns allen zur wahren Erkenntniß unser Selbst und zu einem kräftigen Beginnen dessen, was wir mit vereinten Kräften schaffen sollen. Amen.

1–3 Vgl. 2Kor 7,10

Am 12. Mai 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Cantate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,16 Nachschrift; SAr 26, Bl. 41r–44v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 73r–76v; Matthisson Keine

S. den 12. Mai 1811

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Sehr häufig ist in vielen Zeiten schon und gewiß nicht mit Unrecht die Klage gehört worden, daß der Eifer der Christen in der Sache ihres Glaubens und ihrer Gemeinschaft erkaltet; jede Zeit, die darüber eine Klage erhob, wies auf eine frühere zurück, wo es besser gewesen wäre, und alles zusammengenommen und gegeneinander gehalten kann man nicht läugnen, jenes war die kräftigste herrlichste und heldenmüthigste Zeit des Christenthums, als noch diejenigen lebten, die mit unserm Herrn gewandelt waren, als durch ihre Einrichtungen, Anwendungen und Thaten sein Andenken sich frisch erhielt und in lebendiger Seele sein Bild allen vorschwebte, als das frische Andenken an ihn sich anknüpfte an die Hofnung seiner glorreichen Wiederkehr, die erst nachher allmählig weiter und weiter hinausgerückt wurde. Und so kann man nicht mit Unrecht sagen: in dem Maße, als noch ein persöhnliches Verhältniß bestand zwischen dem Erlöser und den Erlösten, war auch der Eifer und die Treue der Christen stark und mächtig; in dem Maße als jenes zu verschwinden anfing, als man Christum nur hochachtete und ehrte als den, der freylich großer Güter Urheber war, und dem sie so vieles verdankten, aber ohne ein bestimmtes der Seele gegenwärtiges Bild seines Daseyns, seines eigenthümlichen Lebens, ohne sich ihm unmittelbar angekettet und verbunden zu fühlen, in demselben Maße hat auch jene Klage zugenommen. Und wenn man die verschiedenen Arten, wie sich das Christenthum gestaltet, auch in dieser späteren kargen Zeit vergleicht: so wird man gestehen müssen, da wo kleine Häuflein von seinen Bekennern versammelt sind, die jene erste Liebe und Treue unter sich nachzubilden suchen und das erkaltete Verhältniß zu Christo durch lebendige Erinnerung an sein Leben wieder zu beleben trachten: da ist ein größerer Glaube, eine 1 Abk. wohl für Sonntag

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innigere und brüderliche Liebe unter einander sichtbar gewesen. Es ist der Zeit worin wir leben, eine Erzählung der Schrift aus den Tagen der Auferstehung Christi gemäß, welche und darauf hinweist, wie viel das persönliche Verhältniß des Erlösers | zu seinen Bekennern wirke, welche wir in dieser Stunde der Andacht zum Leitfaden unserer Betrachtung machen.

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Joh 21, 16. Jesus spricht zu ihm: „Simon Jona, hast du mich lieb? Er spricht: Ja Herr du weißt, daß ich dich lieb habe. Spricht er zu ihm: Weide meine Schafe.“ 10

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Es war m. Fr. gewiß nicht ohne Beziehung auf den Fehltritt, den jener Apostel in den trüben Stunden seines Leidens begangen hatte, daß Christus ihm hier aufs neue den Auftrag gibt, den er schon lange mit den übrigen Jüngern theilte, und man sieht diese Unterredung des Erlösers mit Petrus auch überall an als eine erneuerte Einsetzung des Apostels zu dem wichtigen Geschäfte der Verbreitung des Evangelii. Und wonach fragte der Erlöser, als er ihm diesen Auftrag gab? Keine andere Kunst, keine andere Wissenschaft, keine andere Tugend und Vollkommenheit sondert er ihm ab als die Antwort auf die Frage: Hast du mich lieb? Eben diese, die persöhnliche Treue Liebe und Anhänglichkeit des Apostels an seinen Lehrer Herrn und Meister war nach seiner Meinung der Inbegriff alles dessen, was seine Jünger in den Stand setzen konnte und geschickt machte, seinem großen Berufe ein Genüge zu leisten. Das giebt uns wohl Anlaß zur Betrachtung, ob es denn ganz anders sey in dieser spätern Zeit als damals, ob denn durch die Reihe dazwischen liegender Jahre unser Verhältniß ein anderes geworden sey, ja ob nicht noch eben so wie damals alles daran liege, ob wir Christum lieben. Hierüber, über die persönliche Liebe eines Jeden zu seinem Herrn, als das nothwendigste Erforderniß des Christen laßt uns nachdenken. – Wir werden uns dabey folgende Fragen zu beantworten haben: 1. worin besteht die Liebe zu Christo; 2. wozu eigentlich haben wir ihrer nöthig und 3. inwiefern sie unter uns erkaltet oder erstorben wäre, wie gelangen wir wieder dazu? I. Worin besteht die Liebe zu Christo, die billig eben so gut von uns, wie in den Tagen seines Lebens von denen die mit ihm gewandelt waren, gefordert werden kann? Es ist wohl nöthig wegen der Art, wie öffentlich und von vielen darüber gespro|chen wird, daß wir uns über diese Frage verständigen. Es wird so oft gesagt, die Liebe, die Zuneigung des Herzens zu Jemand, sey etwas, was uns auf dem unmittelbaren Leben und Umgang beruhe und nur daraus natürlich hervorgehn könne. Freylich solle unser Herz dem Erlöser gewidmet seyn; freilich seyen wir ihm Dankbarkeit für die große uns erreichte Wohlthat, Ehrfurcht und Anerkennung seiner Herrlich40 Wohlthat] Wohlthadt

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keit und seines hohen Wesens schuldig; aber die Liebe zu ihm könne man nur erzwingen, so wie sie die Apostel hatten; und wenn man sich zur Hervorbringung derselben den Erlöser vergegenwärtigen müsse und wolle: so sey dieß ein leeres Spiel der Einbildungskraft, welche auch nur zu leeren, trügerischen Einbildungen des Herzens Anlaß gebe. Laßt uns doch dieß, was auch menschlich ist, ganz menschlich betrachten, und mit andern Verhältnissen des Lebens und der Gemeinschaft vergleichen. Wir haben alle außer dem Bunde als Christen auch noch in einer andern Gemeinschaft menschlicher Ordnung und Gesetze und so wie Christus das Haupt ist seiner Kirche: so steht auch in diesem Bunde des Rechts und der Ordnung einer an der Spitze der Übrigen. Laßt uns fragen, ob nicht diejenigen, denen ihre Pflicht als Bürger heilig, ihre Rechte theuer sind, welche die Güter zu schützen wissen, welche sie dieser Verbindung verdanken, ob sie nicht alle geneigt sind, ihn persönlich zu lieben, wenn sie ihn auch niemals gesehen haben, und vermögen ihres Gebietes im Leben stets frei bleiben. Je mehr er in dem Geiste des Volkes, das er regiert, der Gesetze, die er gegeben und handhabt, lebt und handelt, je mehr er sich aller Pflichten seines Berufes angelegen sein läßt; um so mehr geht bey allen natürlich Gesinnten die Liebe zur ganzen Verfassung, über in eine persönliche Liebe und Neigung zu ihm, der an der Spitze steht. Wie wurde von den Entfernten und Untergeordneten aufgefaßt jedes Wort was er gesprochen, jede Nachricht die sich aus dem eignen Kreise seines Lebens herausgedrängt hat und verbreitet, jeder einzelne Zug der sein Bild belebet und vergegenwärtiget; wie freut sich jeder aller seiner Vortrefflichkeit | und Tugend, und sucht sie sich anzueignen, weil er ja ihm angehört, und wenn gleich getrennt von ihm doch mit ihm in einer bestimmten und dauernden Gemeinschaft des Lebens steht. Ja laßt uns zurückgehen in die Tage unserer Jugend, da als zuerst das Buch der Geschichte vor uns aufgeschlagen wurde, und uns unter die Augen geführt uns ferne Orte und Zeiten, alles was Großes und Edles auf Erden geschah. Sollte es wohl viele geben unter denen, die jene herrliche Entfaltung des Geistes erfuhren, die sich aus allen großen und vortrefflichen Beyspielen nicht ausgewählt hätten eine hohe Gestalt, die ihnen vor allen theuer gewesen, deren Vortrefflichkeit sie wegen einer Verwandtschaft des Geistes besonders zu fühlen vermochten von deren Daseyn Leben und Wirken sie durchdrungen waren, und das sie sich anzueignen suchen, von dem sie stets gegenwärtig zu haben sich gewöhnten, was sie gethan, bey jeder Gelegenheit einer Ähnlichkeit der Handlungsweise oder des Verhaltens aufzusuchen, und die durch ein solches Bild, durch die Liebe zu diesem Vorbilde geleitet nicht kräftiger und schneller den Weg zur eignen Vollkommenheit gewandelt sind. Wohlan, m. Fr. eben dieß und nichts anders ist die persönliche Liebe eines Jeden zum Erlöser, die wir ihm allein geben können 9–10 Vgl. Eph 4,15–16

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und sollen. Seine Einrichtungen, seine Gesetze, seine Lehren sind uns heilig, und es gibt für uns nicht einen späteren Nachfolger, aus dessen Händen wir dieß theure Pfand des Evangelii erhalten hätten; sondern er selbst als der erste Stifter unsers Heils steht uns allen vor und in den Schriften seiner Jünger sind uns aufbewahrt außer seiner Lehre eine freilich nicht so große als das Herz verlangt, aber doch hinlängliche Anzahl von kleinen Zügen aus seinem Leben um sein Bild zu beleben und den Geist zu erfrischen. Diese mit jener zu verbinden und uns klar und lebendig zu machen, wie denselbigen Geist dieselbige göttliche Kraft und Milde dieselbe Heiligkeit und Liebe, aus diesen einzelnen Zügen, aus seinen freundlichen Reden, aus seinen liebevollen Handlungen in den täglichen und geringfügigen Verhältnissen des Lebens hervorleuchtet, wie uns sein erhabenster, gottbezogenster steter Stande, aus seinen Gesetzen und Anordnungen womit er die Kraft seiner Kirche gründete, daß sie auch die Pforten der Hölle nicht zu überwältigen vermochten. An diesem wie an jenem zu hangen, uns jener wie diesem als dessen was auch unser ist, zu erfreuen und zu rühmen, und durch | die Vergleichung von beyden, durch die Anwendung von allem was wir wissen, auf die verschiedenen Gebiete des Lebens, sein Bild, das Urbild aller menschlichen Vollkommenheit und Heiligkeit lebendig zu erhalten, so es immer gegenwärtig zu haben als das, was wir verehren und lieben, was den Menschen abhalten kann vom Bösen und zum Guten aufregen, das ist die Liebe zum Erlöser und dann in unserm Innern, und mit allem, womit wir nach außen streben, mit allem Wirken und Schaffen auszudrücken, wie lebendig dieß Bild in uns wohnt, dahin zu streben, daß eben die Kraft und Milde und Liebe, wie in ihm, sich in uns offenbare, und von allein, was wir rühmliches in uns finden, und ansehnliches vollbracht haben, nur ihm die Ehre zu geben, das ist die Liebe zum Erlöser. Wenn wir gestehen müssen, es ist dasselbige, was wir gegen die fühlen und zu beobachten haben, die wir lieben und ehren, die uns theuer und werth geworden sind um äußerer Rücksichten und Verhältnisse: wie viel mehr müssen wir zugeben, daß dies unser Gefühl seyn muß gegen den, den wir aus keiner fremden äußern Rücksicht zu lieben getrieben worden, der uns nicht erst lieb geworden ist aus einem Verhältniß das auf einem unbeständigen Grunde beruht: sondern der uns zuerst geliebt hat mit einer Liebe, die fähig war, unser ganzes Heil zu begründen. II. Und so sollten wir kaum einer Antwort bedürfen auf die zweite Frage, wozu gebrauchen wir diese Liebe zum Erlöser? Aber es nöthigt sie uns jene Ansicht, die so herrschend geworden ist, seitdem die Gleichgültig1 Seine] Sein 34 Vgl. 1Joh 4,19

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keit gegen den Herrn und Meister über Hand genommen hat. Man sagt, alles was wir wissen, sey nicht hinreichend, um sein Bild lebendig uns vorzuhalten, und die persönliche Liebe sey also ein unnatürliches Gefühl. Es sey nothwendig, daß der Mensch sie absichtlich in sich hervorbringe, er müsse es sich selbst gleichsam abzwingen, uns sey [es] eine schwierige fast unauflösliche Aufgabe den Entfernten sich so nahe zu bringen, ihn so genau kennen zu lernen, und sein Bild in sich so vollständig und lebendig zu machen, daß dadurch für die Heiligung des Herzens, für die Führung des thätigen Lebens etwas gewonnen werde, und eben dieses Erzwingen thue mehr Schaden als Nutzen; denn der Mensch schmeichle sich dann zu leicht mit einem ganz besondern engen Verhältnis, in dem er zu dem Erlöser stehe, und dadurch bilde sich der geistliche Stolz der Unduldsamkeit gegen die, denen es nicht gelinge, sich in dasselbe Verhältnis zu setzen. Und darum, so sei es ein wahres Uebel, daß, da nur wenige in diesem Verhältniß stehn könnten, doch alle zu Christo geführt würden, und nicht vielmehr zu Gott als dem Urquell aller Liebe und Guten, und man müsse vielmehr durch die geistige Liebe zu dem höchsten Wesen lernen die persönliche Liebe | zu Christo; und daher dürften wir die persönliche Liebe und Zuneigung der Apostel zu Christo nur als einen Übergang ansehen von der sinnlichen Denkart zur geistigen Liebe zu Gott, derer wir weniger sinnlich und größer an Erkenntnis, mehr als sie fähig geworden wären. Das ist es, was viele sagen, das ist die Weisheit, die an die Stelle des Evangelii gesetzt werden soll, und möge es jeder von ihnen versuchen, wie weit er es ohne diese persöhnliche Liebe bringen kann; aber möge er dann auch Verzicht leisten auf den Namen der Christen; denn für die, welche diesen tragen wollen, ist es gesagt: wer mich liebt, wird mein Wort halten; und: nur wenn du mich liebst, kannst du meine Heerde weiden. Ja, m. Fr. wenn wir das wollen, das Wort des Erlösers behalten und seiner Heerde angehören: so ist die unerläßliche Bedingung, daß wir ihn lieben. Wie haben sich auch unter denen, die sich von dem Erlöser und von der Liebe zu ihm entfernten, die bestimmten Worte des Glaubens und der Lehre, die bestimmten Vorschriften des Lebens und alle seine Einrichtungen, welche uns die Schrift [und] die Jünger Jesu überliefert haben, wie haben sie sich umgestaltet in etwas viel allgemeiner umfassendes, aber wir vermögen auch nicht zu läugnen, darum um so unkräftiger und leerer. Den Geist der Worte Jesu festhalten, ihn treu bewahren und zum Urbild des Herzens machen und ihn wieder ausdrücken im Leben, das kann nicht von Statten gehen ohne die Liebe zu ihm, ja wer ohne von ihm zu wissen, durch eine besondere Richtung seines Geistes denselben Weg ginge, der müßte, wenn er von ihm erführe, von 35 unkräftiger und leerer] unkräftigeres und leereres 26 Joh 14,23

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persönlicher inniger Liebe zu ihm erfüllt werden. Und noch mehr ist es wahr, der Gnade des Erlösers können wir nur angehören; in seiner Gemeinde und für seine Gemeinde leben in dem Maße, als wir ihn lieben. Eben darum sind mit jener Entfernung der Christen vom Erlöser auch die Bande der Bruderliebe so erschlafft und allmählig gelöst worden, eben dadurch ist das, was die ersten Nachfolger Christi so sehr von sich rühmen konnten, daß sie im Glauben an ihn, in der Liebe zu ihm unter einander durch ihn und zu ihm verbunden wäre, so ganz verschwunden. Man hat wohl sagen wollen, daß diese Bruderliebe [wäre] eine Beschränkung dessen was wir schuldig wären allen Menschen, und daß wie eine Vorzüglichkeit der Liebe zum Erlöser sich darin offenbare, je mehr sie sey eine Liebe zu Gott, und daß wozu jene nur auffordern gegen die mit denen wir enge wären, diese zur Pflicht machte gegen alle, welche gleiche Natur mit uns theilen, und wie wir Geschöpfe und Kinder Gottes wären. Aber m. Fr. diese Gesinnung ist es, welche die schönen Bande der Liebe überhaupt gelöst hat und alles was der Eifer die thätige Liebe und Treue wecken konnte, ist unwirksam geworden und kraftlos. Die Bruderliebe | die freylich entsteht mit der Liebe zu Christo, und mit ihr aufs innigste zusammenhängt, war eine richtig leitende Ordnung des Heils; sie beschränkte nicht, sondern sie zeigte nur, wo man anfangen müsse mit dem Erweisen seiner Liebe, sie zeichnete den ersten Bekennern Christi den Kreis, innerhalb dessen sie ihre Kräfte zuerst anwenden, stärken und üben mußten, und verhinderte, daß sie mit ihrem Triebe zur Thätigkeit, mit ihrem Wünschen und Hoffen in einem ungewissen Raume umherirrte, sie stärkte, was der einzelne hervorbrachte, befestigte es, und einigte es zu einer undurchdringlichen Brustwehr gegen alle Angriffe von außen, da abgelöst und vereinzelt alles leicht dem Feinde des Guten weichen mußte, und den Hindernissen, welche entweder Bosheit oder Sinnlichkeit der Menschen ihm in den Weg legen. Und eben diese Bruderliebe und das Festhalten an der Lehre des Evangelii, wodurch sich der Glaube und die Liebe zu einer bestimmten Gestalt bildet, die wir fühlen als etwas heiliges und unzertrennliches, dieß beydes ist nicht zu lösen von der Liebe zum Erlöser. Denn in ihm fühlen wir uns eins und ganz, in ihm fühlen wir die Einheit aller seiner selig machenden Vorschriften und Wahrheiten. Möchten wir das alle recht deutlich einsehn, das lebendig fühlen, dann würde es uns überflüssig scheinen, unsere Aufmerksamkeit noch auf die dritte Frage zu richten. III. Wie kommen wir zu dieser ordnenden zusammenhaltenden Liebe, wenn sie auch in uns erstorben oder erkaltet wäre. M. Fr. laßt uns nur recht besinnen, unsern Zustand klar ins Auge fassen, alles vorhalten, was uns lieb und werth ist, was uns das Leben theuer macht, und was eine Quelle ist 2 Gnade] Gnaade

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von Freude und Lust deren wir uns nicht zu schämen brauchen, und dann fragen, wo rührt uns dies alles her? Überall werden wir auf ihn, den Erlöser zurückgeführt werden, und jeder nach dem Maße seiner Einsicht werden wir gestehen müssen, alles was wir den vergangenen Jahrhunderten verdanken, alles, was hervorgebracht hat die große Verwandlung der Welt und alle menschliche Thätigkeit in die Gestalt, in die wir uns umgewandelt fühlen, in die wir gehören mit unserm ganzen Daseyn, und in der wir uns auch nur wohl fühlen können – sie ist das Werk Christi, sie hängt zusammen mit seiner Sendung und Stiftung seines Reiches, in allem ist umgestaltet sein Geist, überall, wohin wir sehn, kommt uns Christus entgegen als der, von dem wir alles haben. – Wenn der Mensch erst bedarf einer Aufregung zur Liebe zu dem Erlöser, wenn er noch fragen muß, wie er dazu gelangen soll, so werden wir ihn in dieser Schwäche zu der Dankbarkeit hinleiten müssen, so wie das Kind durch das Gefühl seiner Hilflosigkeit selbst und durch die Wohlthaten zur Liebe seiner Eltern geführt wird. Und in dem Maße als wir uns alles vergegenwärtigen, was uns ein wichtiger Theil ist unseres Wohlergehens, wird diese Dankbarkeit Nahrung finden, und sie möge unser Leben leiten, sie möge das Bestreben | in uns hervorbringen denn es ist wahr, daß ihn diese Zeit und dieses Geschlecht fast nicht mehr kennt, denjenigen wieder kennen zu lernen, der uns das alles gegeben hat, sein heiliges Bild an allem, was dazu dienen kann, an dem Werke, von dem die Kunde es dargestellt hat, wieder aufzurichten in unserm Gemüthe, und dazu liegt uns hauptsächlich vor Augen jenes herrliche Buch, das sich freilich auch nicht mehr der Achtung erfreut, seitdem Christus nicht mehr geliebt wird, woran sie auch glauben, was darin stehe, sey später von vielen auch wohl bequemer und angemessener für uns gesagt worden, und man könne es dem öffentlichen kirchlichen Gebrauch abgerechnet, wo es freilich darauf ankomme, was als christlich gelehrt werde auch als solches aus diesem Buche zubeweisen, ganz bey Seite legen. Aber möchten doch die, welche erst durch das Gefühl der Dankbarkeit zur Liebe Christi gelangen müssen, möchten sie sich doch wieder befreunden mit den einfachen Wahrheiten, und der stillen Hoheit, die milde Kraft darin fühlen und einsehn daß das es ist, was wir gerade jetzt bedürfen. Denn unser Zustand, die Auflösung[,] macht uns die Kraft nothwendig und die Noth und den Druck, unter welchem alles steht, die Milde. Wer dem Herrn angehören will, muß, wenn immer so jetzt vor allem, ihm ähnlich seyn und man kann kein Erlöser sein, ohne mit dulden, verführen, erretten und erlösen zu helfen. Und dann m. Fr. von dieser stillen Beschäftigung des Herzens, von dem was uns aufbewahrt ist von seinem Leben, laßt uns wenden zu jenen schönen Verhältnissen: wo 2 oder 27 abgerechnet] abgerechet 39–1 Vgl. Mt 18,20

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3 versammelt sind: da bin ich mitten unter ihnen. Hier m. Fr. wo wir uns in großen Haufen versammeln, auch um [bey] dem Herrn zu seyn, hier kann nichts geschehen, um die Liebe erst hervorzubringen, wer kann hier von dieser Stätte anders reden, was für eine Gestalt können unsere Gebete annehmen, ohne die Voraussetzung, daß wir Christum lieben, daß sein Bild in uns wohnt, und daß wir nur trachten, es noch lebendiger und bestimmter in uns zu gründen. Aber wenn 2 oder 3 versammelt sind bey gleichen Bedürfnissen der Gemüther, bey der häuslichen Andacht, bey dem heiligen Geschäft, der Jugend Christi Bild einzupflanzen, da muß es geschehn, daß wir anfangen ihn zu lieben, dabey müssen die noch zarten und schwachen Pflanzen gewöhnt und gepflegt werden. Möge es unter denen, die hier versammelt sind, wenige oder keine geben, die ganz von Liebe zu Christo entfremdet wären, möge diese Betrachtung dazu gedient haben, es lebendig zu fühlen, daß wir wenn auch nicht immer mit Bewußtseyn leben, doch mit und durch Liebe gehandelt haben, daß, wenn wir auch mit eingestimmt haben sollten in die Weisheit der Erde, dennoch die Liebe in uns lebt, daß sie uns treibt, die Liebe zu Christo, dem wir alles verdanken, daß, wenn er uns fragte: Hast du mich lieb, ein Jeder mit Zuversicht antworten könne: „Ja Herr du weißt alle Dinge, du weißt, daß ich dich lieb habe.“

7 Vgl. Mt 18,20

19 Vgl. Joh 21,17

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Exaudi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,49 Nachschrift; SAr 26, Bl. 45r–48v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 77r–81r; Matthisson Keine

Sonnt. den 26. Mai 1811 M. Fr. Die Geschäfte der Menschen in dieser Welt sind von zweierley Art; einige so, daß bestimmte Gesetze und Ordnungen uns dabey leiten, und daß unserm eignen Willen wenig überlassen bleibt und daß wir Tugend und Redlichkeit nur beweisen können durch die Treue und Anstrengung, mit welcher wir sie verrichten; andere dagegen sind so, daß uns kein Gesetz und keine Ordnung dabey leitet, daß alles, was geschehn soll, unmittelbar aus unserm Innern hervorgehn muß, daß es keinen Richter gibt für uns als unser Gewissen. Es mag vielleicht auf den ersten Anblick scheinen, als ob wir alle mehr auf jene erstern Geschäfte gewiesen wären, und als ob diese letztern nur denen zu kämen, welche an der Spitze der menschlichen Angelegenheiten gestellt sind, von denen selbst in größern oder kleinern Kreisen Gesetze und Ordnungen ausgehn an welche sich die Thätigkeit der übrigen anschließen soll. Aber bey näherer Betrachtung finden wir, daß jedem und uns auch vieles von den Geschäften der zweiten Art obliegt, ja daß jegliches Schönste und Herrlichste, was er hervorbringen kann in seinem Leben, von dieser Art ist. Zuerst, m. Fr. z. B.: wie geschieht es, daß der Mensch zu einer Menge von Handlungen und Geschäften kommt, wobey ihn Gesetze binden? Doch dadurch daß er sich einen Beruf einen Geschäftskreis wählt und dabey leitet ihn doch kein äußrer Zwang, und nur sein Gewissen kann richten ob er wohl gewählt habe? Und welches ist das schönste und reichste Feld einer solchen Thätigkeit, wo, wenn auch kein Gesetz, doch eine herrschende Sitte, ein gleich bleibender Geist uns leitet, welches andere, als das Gebiet der Häuslichkeit, wo uns der herrlichste und reichste Genuß bereitet wird, und wovon der größte Theil unsrer Thätigkeit auf die Welt auszugehen pflegt. Aber einen solchen Kreis des häuslichen geselligen Lebens zu bilden, was für eine Ordnung kann dabey leiten; wie sind wir da unserer eigenen Einsicht unserm Willen, und der Stimme unsers eignen

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Herzens überlassen? Ja wenn wir achten auf das, was wir | wirken auf den Nächsten, wo wir ihm uns am meisten nahen in Liebe und Freundschaft, wo von uns ausgeht Rath, Kraft, Ermunterung und Beystand: es werden nicht die Verhältnisse sein, wo wir durch Gesetze gebunden handeln, sondern wo uns unser Herz zur Thätigkeit antreibt. Aber in allen diesen Fällen, wie vielen Gefahren sind wir ausgesetzt, wo viel leichter und gefahrenloser ist die Thätigkeit wo der Mensch durch Gesetze und Vorschriften gebunden sich frey fühlt von Verantwortlichkeit, so bald er nur seine Treue loben kann und seinen Fleiß. Dagegen bey den Handlungen, die wir nach seyner Willkühr vollbringen, wie oft müssen wir uns vorwerfen, daß wir etwas Gutes übersahen aus Flüchtigkeit, das Beßere aus irrdischen sinnlichen Abneigungen unterließen, daß wir das Gute übereilten, und den günstigen Augenblick nicht abwarteten, oder: daß wir es durch unaufhörliche Untersuchungen, durch Bedenklichkeiten ohne Ende versäumten. Wie nichtig müssen uns also bestimmte Vorschriften und zwar solche seyn, denen unser Herz seinen vollen Beyfall geben kann, und wo anders werden wir diesen finden können als im Gebiete des Glaubens und in dem göttlichen Worte der Wahrheit und Lehren. So laßt uns denn dieß zum Gegenstande unsers Nachdenkens machen:

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Luc. 24, 49. „Und siehe, Ich will auf euch senden die Verheißung meines Vaters. Ihr aber sollt in der Stadt Jerusalem bleiben, bis daß ihr angethan werdet mit Kraft aus der Höhe.“ M. Fr. die Zeit, in der wir uns befinden, führt uns natürlich auf die verlesenen Worte des Erlösers. Sie enthalten die Anweisung welche seine Jünger befolgen sollten von der Zeit seiner Auferstehung bis zu seiner gänzlichen Entfernung von ihnen und von der Erde, und bis zu der Erfüllung jener Verheißung des heiligen Geistes, die er ihnen hier gibt. Daß das Geschäft, zu welchem der Erlöser seine Apostel ausersehn hatte, unter diejenigen gehört, auf die wir hier unsre Aufmerksamkeit richten wollen, das ist jedem einleuchtend. Sie sollten ein ganz neues Leben in ihrem Volke beginnen, eine neue Ordnung in dem religiöses Leben stiften, und dabey konnte sie kein schon bestehendes Gesetz, keine alte Ordnung leiten, und keine andere | Regel und Vorschrift konnten sie in dieser Zwischenzeit befolgen, als welche ihnen der Erlöser gab. Freylich scheint diese Anweisung auf den ersten Anblick ganz allein auf diesen bestimmten Fall gerichtet, lediglich ihnen und nicht uns gegeben zu seyn. Aber m. Fr. es verhält sich mit jedem Worte der Weisheit so, daß es zunächst zwar auf den Fall gerichtet ist, für den es Rath und Hülfe enthalten soll, aber daß eben so gewiß jene allgemeinen Wahrheiten, Lehren und Gesetze zum Grunde liegen, die jedem nützen können, und so wird es nicht schwer fallen, allgemeine Vorschriften darin zu finden was nur den Jüngern gesagt war, und wenn wir das Allgemeingül-

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tige darin antreffen: so wird es uns auch einleuchten, wie diese Vorschrift auch auf uns anwendbar sey, wie sie auch noch Gültigkeit habe für uns und unsere Verhältnisse. Es liegt dreyerley darin, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten wollen. I. Er ermahnt seine Jünger zu dem wichtigen Geschäfte, das sie nun bald beginnen sollten, die Kraft zu erwarten aus der Höhe, II. indem er ihnen vorschreibt, bis dahin in Jerusalem zu bleiben: so macht er ihnen damit zur Pflicht, daß sie in dieser Erwartung der höheren Gaben, jene andern Pflichten und Geschäfte, wozu ihnen schon Vorschriften gegeben waren, nicht zu verabsäumen und III. sie sollten sich zu denen halten, mit denen sie gemeinschaftlich ihr Geschäft würden zu verrichten haben, und auf die sie wirken sollten.

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I. Indem er seinen Jüngern zu warten befiehlt, bis sie angethan wurden mit der Kraft aus der Höhe, so wissen wir alle, was der Erlöser damit gemeint. Es war der glorreiche glänzende Tag, wo ein Geist der Freymüthigkeit, des Eifers, der Einsicht und der keine Gefahr scheuenden Liebe über die Apostel kam, der Liebe für die Sache, welche sie führen und für die Menschen, unter welchen sie sie führen sollten und wodurch die erste Gemeinde Christi so herrlich begründet wurde. Aber fragen wir näher, welches war jene Kraft aus der Höhe, die sie erwarten sollten, und die sie damals, als der Erlöser von ihnen schied noch nicht in dem nöthigen Maaße hatten: so werden wir sehn, es war die volle Kraft und Stärke der lebendigen | Überzeugung. Freylich waren die Jünger mit einfachem Glauben von Anbeginn an dem Herrn gefolgt, anerkennend, er sey der von Gott gesandte Messias, und bereit, in der Hoffnung des göttlichen Beistandes alles zu übernehmen und zu erdulden. Aber: dieser Glaube war nicht so rein gewesen, wie es zu dem großen Geschäfte erfordert wurde, und darum waren sie auch irre geworden durch sein Leiden und Tod: so daß der Erlöser es nöthig fand, eine Belehrung hinzuzufügen, daß er ihnen die Schrift öffnen mußte, um ihren gesunkenen Glauben aufzurichten, und ihren erstorbenen Muth zur Verkündigung des Erlösers neu zu beleben. Das hatte der Erlöser in den Tagen seiner Auferstehung gethan; aber dennoch war ihre Überzeugung noch nicht so lebendig, daß sie sogleich hätten auftreten können. Darum vermahnt er sie: zu warten, bis diese Kraft von oben über sie käme, nicht eher das große Werk zu beginnen, als bis sie es mit fester unerschütterlicher Kraft und mit einleuchtend glücklichen Erfolgen beginnen könnten. Es war diese Kraft ferner ein reiner heiliger Antrieb, in welchem es unmöglich war, den göttlichen Ursprung zu verkennen. Daß nicht alle Jünger vor dieser Sendung des Geistes, vielleicht keiner ganz rein war von irrdischen Neigun16–20 Vgl. Apg 2,1–47

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gen und Ansichten, das haben wir [als] Ursache zu vermuthen: noch waren Vorstellungen von der unvollkommenen Religionsverfassung, zu welcher sie gehört hatten, übrig, noch hatten sie von dem neu zu stiftenden Reiche Gottes auf Erden zum Theil sinnliche irrdische Begriffe, und was der Erlöser selbst geäußert hatte von dieser Art, daran hatte sich der noch nicht ganz in ihnen erstorbene Keim des Sinnlichen gehalten und darin Nahrung gefunden. Das mußte erst vorüber seyn, jede Spur einer unreinen Absicht und sinnlichen Ansicht verwischt, sonst wären sie unfähig gewesen, das rein geistige und göttliche Reich zu gründen. Darum empfiehlt er ihnen eine Zeit des stillen Nachdenkens, der ersten Prüfung, und der Erwägung alles dessen, was er ihnen gesagt hätte und bis sie sich fühlen würden mit Kraft aus der Höhe ausgerüstet, bis dahin sollten sie ruhen und warten. | Endlich die Kraft aus der Höhe, welche nachher der Verheißung gemäß über sie kam, war nicht etwas bloß auf sie wirkendes, sondern etwas auf alle sich verbreitendes, weil in allen der Keim dazu liegt. Ein Augenblick war es, wo einer Menge der versammelten Menschen die göttliche Wahrheit eröffnet war oder wurde, es war eine von den sich allgemein verbreitenden Wirkungen des göttlichen Geistes, alles dessen, wessen der Mensch auszurichten fähig ist, welcher den Erfolg ihres Geschäftes sichert und Kraft und Hülfsmittel darreicht zur Fortsetzung des Werkes. Wie weise dieß Gebot des Erlösers war, wie angemessen dem Zustande der Jünger, wie nothwendig zur Erreichung des Zweckes – das kann Niemand übersehen. Aber eben so allgemein müssen wir einsehen, daß dieß für alle eine Regel, Vorschrift ist, und daß, wo Jemand in den Fall kommt, etwas Neues zu beginnen, aus ewigem Antriebe, wo alles auf ihn ankommt es Pflicht ist, dann abzuwarten die Kraft aus der Höhe. O m. Fr. auch von denen, die das Gute redlich gewollt haben, wie viel Übles ist von ihnen ausgegangen, wie viel Gutes erstickt worden, eben dadurch, dass sie ungeduldig ihr Werk begannen, ehe noch die Überzeugung fest war, und hinterher durch die ersten Hindernisse abgeschreckt und durch Zufälle von dem Ziele abgeleitet wurden. Und wenn die Sicherheit des Herzens verschwunden ist, wenn der Mensch nicht mehr mit Festigkeit auf sich selbst rechnen kann, wie wird er im Stande seyn, etwas Gutes und Großes zu vollbringen, ja wenn er das, was im heiligen Sinn, mit Kraft aus der Höhe begonnen werden soll, wenn er es beginnt ehe er sich geprüft hat ob nicht noch etwas Sinnliches und Unreines in seinem Willen und Denken; wie kann etwas Gutes daraus hervorgehn, wenn schon im ersten Anfang des Werks der Keim des Verderbens liegt, wenn irrdische, unreine Absichten, und Leidenschaften sich einmischen, unter deren Einfluß es entweder ganz untergehen muß, oder so geschwächt werden, daß die Widersacher des Guten, welche es hintertreiben und verrichten wollen, leichtes Spiel haben. Und gesetzt, beydes sey in uns vorhanden, gesetzt, wir hätten eine feste Überzeugung, von dem, was wir wollen, und das zuverlässige | Gefühl, nichts zu wollen als das Gute, und wir wollten nicht warten auf die

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Kraft aus der Höhe, die sich nicht in uns allein, sondern auch in andern offenbaren muß, wir wollten anfangen das Gute, wozu wir der Hülfe anderer Menschen bedürfen, zu einer Zeit, wo diese noch von andern Geschäften und Bestrebungen erfüllt, oder doch noch nicht gleich uns mit reiner Kraft ausgerüstet wären, wie könnten wir da einen guten Erfolg erwarten? Daher so viele scheinbare Siege des Bösen über das Gute, daher das häufige Mißlingen auch der edelsten und reinsten Unternehmungen, wir mögen nun sehn auf das, was uns begegnet, oder auf die Geschichte vorzüglich auch unserer Tage, und wir werden dann sehn müssen, daß nichts andres Schuld war, als weil die Kraft aus der Höhe nicht erwartet wurde: so müssen wir auch überzeugt seyn, daß der Herr diese Sicherheit des Herzens, mit der wir beginnen sollen, auch zu bezeichnen weiß in uns und anderen, so daß alles, was wir ohne diese unternehmen, ein voreiliges, vorübergehendes nicht bestehendes dauerndes Unternehmen verschwinden muß.

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II. Indem der Erlöser seinen Jüngern vorschrieb, in Jerusalem diese Kraft aus der Höhe abzuwarten: so lag darin der Wink: sie sollten, bis zu dem Augenblicke, wo sie ihren höhern Beruf antreten würden, in dem gegenwärtigen Zustande bleiben und alle ihre früheren Pflichten erfüllen. Denn Jerusalem war der Ort, wo sie die Pflichten der Religion nach den bestimmten Auftrage und Ordnungen am ungestörtesten obliegen konnten. Diese Stadt war der Ort, wo sie am vollkommensten unter sich vereint bleiben konnten und jeder die Pflichten erfüllen, zu denen sie als Jünger verbunden waren. So lange sie hier wohnten, bildeten sie eine häusliche Gemeinschaft, wo jeder den andern ermuntern stärken und kräftigen, wo jeder in dem innern aufsteigende nützliche Gedanken zu einem Gemeingute aller erheben werde, wo sie Überlegungen anstellen konnten über ihr Geschäft in der Zukunft, wo sie gemeinschaftlich und auf mancherley Weise sich vorbereiten konnten zu ihrem künftigen Beruf. Diese zweifache Pflicht sollten sie, bis jener Augenblick der Kraftsendung kommen würde, in Ruhe und in der Stille | des Herzens erfüllen. Und wie viel Gutes dadurch vorbereitend für das große Werk geschah, ist nicht zu läugnen, sie gründeten dadurch den Ruhm ihrer Frömmigkeit, so daß sie Gnade hatten vor dem ganzen Volke, sie ermunterten und stärkten einander, und da einmahl der Verein gegründet, ging [kein] Erweis der Liebe, keine Übung des gemeinsamen Nachdenkens, keine gegenseitige Belehrung verloren, und eben das ist eine allgemeine Vorschrift für alle. Wo wir mit etwas umgehen von jener Art, wo uns ein wichtiges Geschäft, eine große Begebenheit bevorsteht, wenn wir aufgefordert werden zu einer großen Thätigkeit, wozu Kraft aus der Höhe nöthig ist – da muß es für alle einen Aufschub geben, wo wir fühlen, daß wir die Kraft noch nicht haben, wenn gleich unser Beruf und 9 werden] wir

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das, was wir zu vollbringen haben, klar vor unsern Augen steht. Aber wie wird diese Zeit oft nur hingebracht mit leeren Phantasien über das, was geschehen soll, wie erscheinen den meisten Menschen die kleinern Obliegenheiten so lange sie mit Gedanken an die größern umgehen, als unbedeutend; wie viele, doch auch heilige Pflichten werden übersehen, und nicht nur Unthätigkeit, Untreue wird gemehrt, und unser Gefühl für Treue und Kraft abgestumpft: sondern auch zu wie vielen traurigen Folgen wird aus Mangel an Treue in kleinen Pflichten der erste Grund gelegt und zu wie vielen Vorwürfen hat es Anlaß gegeben, daß diese Vorschrift nicht erfüllt wurde. Ja m. Fr. wenn uns auch was Ungewöhnliches, Großes beschäftigt und unsre Seele erfüllt: was ist es dann, wodurch es uns theuer und wichtig wird? Doch nicht durch den Erfolg, durch den Ruhm und Glanz, der die That krönen soll: sondern das Größte kann und soll uns nur dadurch theuer werden, daß wir es für unsre Pflicht anerkennen; und wie können wir beweisen, daß wir das Große wollen und keine Aufopferung scheuen, wenn wir über diesen Pflichten untreu werden im Kleinen, im gewöhnlichen Gebiete des Lebens. Darum sehe doch jeder wohl zu, der umgeht mit einem großen Entwurf, daß er die kleinen Pflichten nicht vernachlässige, er gehe in sich und suche erst das Unreine in sich auf. Ja es gibt keine andere Art, wie wir uns in der dem Beginnen eines großen Wirkens angemessenen Stimmung erhalten können, als durch ausgezeichnete Treue, durch Eifer in den kleinen Verhältnissen des Lebens. Und darum ist gewiß diese Ermahnung des Erlösers auch uns vor allen nöthig: III. Die dritte Vorschrift, welche der Erlöser gibt ist die, uns in Liebe mit denen zusammenzuhalten, mit denen oder: auf die wir wirken sollen. Das war gewiß die Absicht des Erlösers bey jenem Gebote: sie sollten sich nicht zerstreuen, und wenn gleich der Hirt geschlagen und entfernt war, die Heerde sollte sich nicht zerstreuen, sondern zusammenhalten, damit das Werk Raum gewinnen könnte und sich fester begründen, und zwar in Jerusalem, wo sie allein unter sich, in dem Mittelpunkt ihrer Wirksamkeit waren, wo sie beobachten und leiten konnten die Stimmung, die sie brauchten, und auf die sich die Kraft aus der Höhe gründete. Es muß uns klar sein, wie viel schwächer das Werk des Herrn ohne diese Kenntniß der Stimmung begonnen hätte, und was auch nachher geschah, und es war bald der eigne Trieb, welchen die verfolgten, die ihm entgegenarbeiten – der Grund war doch gelegt; es war ein sichtbarer Mittelpunkt gestiftet, an welchem sich alle fernern Wirkungen | im Weinberg des Herrn anschließen konnten. M. Fr. und bey allem Bedeutenden im Leben ist es dieser Fall. Nichts können wir 6 für] m. 26–27 Vgl. Mt 26,31; Mk 14,27 (Zitat aus Sach 13,7)

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allein ausrichten, und der täuscht sich, der da meint, mit seinen eigenen Kräften etwas Großes zu Stande bringen zu können, es gilt im größern, wie im kleinern Kreise. Wo etwas Bedeutendes geschehen soll, daran muß fremder Wille, fremde Thätigkeit Antheil nehmen, da muß der vorgesetzte Zweck allen als etwas wichtiges, bedeutendes, als ein Bedürfniß erscheinen. Dazu gibt es keine andere Vorbereitung, als daß wir uns in Liebe mit den Menschen vereinigen, daß wir, wenn das, was wir wollen, von der Art ist, daß es nur einer vollbringt, uns befreundete Gemüther suchen, die uns durch Liebe, Beystand, Rath zu kräftigen vermögen und stärken. Das ist ja das Leben und die Gemeinschaft der Liebe, und unser Leben als Christen hat nur den Zweck, diese zu unterhalten und diese zu einem jeden göttlichen Zwecke zu brauchen. – Aber nicht nur mit denen sollten sich die Jünger zusammenthun, die ihnen helfen konnten sondern auch mit denen sollten sie vereinigt bleiben, auf die sie wirken wollten. Wie wäre sonst, wenn man nichts von ihnen gewußt hätte, wenn sie nicht in Gesprächen in öffentlichen Versammlungen in den Zusammenkünften im Tempel vorbereitend gewirkt hätten, wie wäre sonst, als nun die Kraft aus der Höhe kam, sogleich eine solche Menge um sie versammelt gewesen, wie hätten sie sogleich so viele Zuhörer gefunden. Wer diese nothwendige Vorschrift des Erlösers übersieht, wer nicht die Gemüther, worauf er wirken will, geschickt mache das Gute aufzunehmen, sie anzueignen und zu erarbeiten, der wird in keinem Gebiete des Lebens etwas Bedeutendes auszurichten und höchstens eine flüchtige Rührung hervorbringen, wie es in vielen geschah an jenem Tage der Pfingsten; aber bleibendes hätten sie nicht stiften können ohne diese Vorbereitung. Allmählig will das Gute gewirkt seyn, und wenn wir auch warten müssen auf Wirkung, auf Kraft aus der Höhe: so soll dieses Warten doch nicht Unthätigkeit seyn, noch weniger ein Brüsten in uns selbst, oder: ein stolzes Bewußtseyn dessen, was in uns arbeitet, und was von uns ausgehn wird: sondern wie das ganze Leben des Erlösers nichts war als ein Vorbereiten auf die Zeit, wo die Kraft aus der Höhe ausgegossen werden sollte auf seine Jünger zur Gründung seines Reichs: so sollen auch wir in unserm Kreise fortfahren zu thun, was uns obliegt, und beständig auf die Gemüther zu wirken suchen und deshalb in Gemeinschaft des Lebens und des Vertrauens mit ihnen bleiben so innig, und so ausgebreitet, als wir vermögen. Dieß sind die Vorschriften des Erlösers für jenes freye nicht durch äußere Gesetze bestimmte aber auf das Gute gerichtete Wirken in dem ganzen Umfange des Lebens. Die Jünger hatten die Verheißung des Vaters, und in diesen letzten Worten versprach ihnen der Erlöser aufs neue, daß er sie finden wollte. Und nicht auf sie allein ist sie ausgegossen, uns allen ist sie gegeben; denn wie oft hat sich diese Kraft aus der Höhe offenbart an uns und in dem, was wir thaten, wie ist alles Große und Herrliche nur durch sie, durch ihren Beystand zu Stande gekommen. Laßt uns den Vorschriften des Erlösers folgen, so wird uns diese Kraft nie fehlen, laßt uns bescheiden,

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demüthig das kleine thun, damit so an uns in Erfüllung gehe, daß er diejenigen, welche über weniges treu gewesen, über vieles setzt, und nicht eher beginnen, bis die Kraft kommt zu dem, was durch uns und mit ihm und für ihn gewirkt werden soll. Das ist das Vertrauen, das Hoffen auf Gott, auf welches wir gewiesen sind als Christen. Und was wir in diesem Sinne Gutes wollen, wird nicht vergebens sein und wenigstens bey einzelnen Gelegenheiten werden wir die Kraft aus der Höhe fühlen, die uns in den Stand setzt, etwas zu vollbringen, was wenigstens auch in das große Werk Gottes gehört, was auch Frucht bringt in dem Weinberge. Wie sie, die auf die Kraft harrten, geheiligt wurden: so werden auch wir in unsern Hoffnungen nicht getäuscht; wie ihnen die ganze Herrlichkeit des Herrn noch nicht erschienen war, die in allen Zeiten immer deutlich auch durch uns offenbart werden soll, aber doch die Überzeugung, daß durch sie der Grund gelegt war: so werden auch wir sie schauen, etc., wenn wir aufgeben das bürgerliche Bewußtsein, des häuslichen Lebens unsere verbessernde oder leitende Thätigkeit aufs künftige Geschäft nichts übereilen noch aber auf den Augenblick der Kraft bereitet und wenn wir fest halten in der Liebe, denn nur durch sie wird alles Gute gepflegt und wirksam; sie ist der Geist dessen, was im Namen des Herrn geschieht, sie die ewige Kraft der Liebe zu Gott und den Menschen. Amen.

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Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 6,8 Nachschrift; SAr 26, Bl. 49r–52v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 83r–86v; Matthisson Keine

Bruchstücke aus Schleiermachers Pfingstpredigt. 1811 Von dem Augenblicke an, m. Fr., wo Gott den Menschen geschaffen hatte, und sprach, es ist nicht gut, daß der er allein sey, ich will ihm eine Gehülfin geben, die um ihn sey, von dem Augenblicke an, kommt in jedes Menschen Brust diese Stimme: es ist nicht gut, daß der Mensch allein sey, sehnt sich ein Jeder nach Gemeinschaft, nach Umgang mit denen, die er lieben könnte. So wurden Familien gestiftet; aber auch in diese kehrte dieselbe Stimme zurück – Gesellschaften entstanden, Völker; und auch in diesen tönte wiederum diese Stimme, und richtete einzelne Menschen auf und erfüllte sie mit besondern Triebe und Kraft, die entlegenen Gegenden der Erde, die entfernteren Völker aufzusuchen und Kunde zu bringen von dem, was gegenseitig die Menschen verbinden könnte. Wer m. Fr. wollte es läugnen, daß wir dadurch, durch diesen Verein mit unsern Brüdern allein vollbringen können, was wir sollen, wie es läugnen, daß nur dadurch uns die schönsten und herrlichsten Güter geworden sind. Wir sehn es, je mehr sich der Einzelne auf sich zurückzieht auf sich selbst, je weniger er, sey es aus Willkür oder Nothwendigkeit, in dem großen Verein lebt, um so weniger kräftig kann sich sein Daseyn gestalten und eben so gegen Gesellschaften und Völker, je mehr sie entfernt und von andern abgesondert leben, je geringer sind ihre Fortschritte in der Ausbildung des Geistes, je mehr finden wir sie festgehalten in den Banden der Einseitigkeit und Beschränkung. Eben in der Gesellschaft, Gemeinschaft finden die Menschen Erlösung von allem, was sie drückt, nur da Befreiung von den Banden der Einseitigkeit und Beschränkung, nur da geschieht den Kräften, welche Gott ihnen geliehen, ihr Recht über das Sinnliche und Niedrige, nur da gelangen sie zu der ihnen bestimmten Gewalt. Aber, m. Fr. wenn nicht noch etwas Höheres 3–4 Gen 2,18

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hinzu kommt, wenn nicht der Geist Gottes sich ihnen den Menschen ergießt; so wird aus allem, was sie befreien und beglücken soll, ein um so verwickeltes, schwer zu lösendes Verderben. Das sey der Gegenstand Gal. 6, 8. „Wer auf sein Fleisch säet etc.”

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In der Allgemeinheit, mit welcher der Apostel diesen Ausspruch thut, um einer Menge von einzelnen Vorschriften die Krone aufzusetzen und sie in Eines | zusammenzufassen, mußte es auch gelten von denjenigen, was der Mensch in und durch die Gemeinschaft Gutes und Herrliches hervorbringen kann. Was es auch sey, wird es auf das Fleisch gesäet, so kann nur Verderben die Erndte davon seyn; wird es aber auf den Geist gesäet, dann erwachsen die ewigen Güter; dann gereicht es zum ewigen Leben. Das Fleisch, das ist die irrdische von dem göttlichen Funken entblößte Natur des Menschen; der Geist, das ist jener Geist dessen, der die Liebe ist, von dem die Fülle aller seiner Herrlichkeit und Seligkeit ausgegangen ist über die Welt und sein Werk. So laßt uns denn in Beziehung aufs Vorhergesagte und im Zuschlag mit unserer gestrigen Rede sehen, wie ohne den göttlichen Geist auch alles das nur zum Verderben ausschlägt, was aus der Gemeinschaft der Menschen Gutes entstehn soll. Es läßt sich unter zwei Hauptgesichtspunkten zusammenfassen. 1. Durch die Gemeinschaft der Menschen entsteht das Recht, die Ordnung Sitte und Gesetz, alles das, was den Einzelnen zurückhält, zum Nachtheile der Andern seine Triebe und Leidenschaften zu befriedigen, seinen besonderen Zwecken nachzujagen; 2. in der Gemeinschaft wächst und gedeiht allein Einsicht, Erkenntniß, Ausbildung des Verstandes und jener hohe Genuß des Lichtes und der Wahrheit zu einem frommen, Gottgefälligen Leben. Beydes aber, wie groß und schön es auch sey, ist nichts ohne den Geist. I. Wenn die Menschen, m. Fr. zu einer solchen Gemeinschaft gelangt sind, welche ohne eine allgemeingültige Ordnung nicht mehr bestehn kann; wenn es nothwendig wird, daß der einzelne Wille sich einem gemeinsamen unterwerfe, dann bildet sich, sey es allmählich und unvermerkt, oder sey es durch eine plötzlich sich entwickelnde Kraft, Recht und Gesetz. Wie tief die Völker stehen auf den verschiedenen Stufen des Daseyns, wie nahe den vernunftlosen Geschöpfen so lange ihnen dieß fehlt, das wissen wir, denen die Geschichten aller Zeiten und Völker bekannt sind, das kann sich 10 gesäet] gesät 17 Die Predigt vom 2. Juni 1811 nachm. ist nur durch das Berliner Intelligenz-Blatt belegt.

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längst Jeder denken, aus den Unordnungen und Störungen, welche entstehn müssen, wenn Recht und Gesetz auch nur von Einzelnen und bisweilen hintangesetzt werden. Ja gibt es etwas Nothwendigeres und Heilsameres, als daß durch Furcht oder Ehrfurcht die Willkür der Menschen gezähmt wird, daß er lerne entsagen und entbehren, daß ein gemeinsamer kräftiger Wille seine andere verderbliche Lust und Willkühr zurückhält, daß er lerne, von dem Vergänglichen auf größere Zwecke und auf einen herrlicheren Punkt sein Augenmerk zu richten. So wird die Rohheit gezähmt, so werden die wilden Leidenschaften gebändigt, so wird über die wilde Natur erhoben und der Geist nicht anders als aus dem Geiste und durch ihn, wenn er auch nur noch auf undeutliche Weise sich offenbart, wenn er auch im Einzelnen die kaum hörbare Stimme sich hören läßt, nicht anders, als durch ihn, entsteht den Menschen diese Wohlthat. Aber, wenn auch nicht überall anerkannt | wenn diese herrlichen Güter auf das Fleisch gesäet werden so kann nur eine Erndte des Fleisches die Folge seyn. Ja, was entsteht aus diesen herrlichen Gaben des Rechts der Ordnung und Gesetze, wenn die Menschen dem Geiste nicht gehorchen, wenn nur das Fleisch und die sinnliche Lust in ihnen thätig ist? – Das Recht wird nur ein Werkzeug der Leidenschaften und des Eigennutzes. Aber nicht bloß Sinnlichkeit und niedere Begierde ist das Fleisch, auch dumpfer Sinn, Trägheit ist eben so weit entfernt von dem göttlichen Funken, von dem höheren Lichte, und wenn unter einer trägen und leblosen Masse Recht und Gesetz seinen Sitz nimmt, o, wie bald sehen wir, was lebendig war, was gemeinsame Kräfte aufregen und verbinden sollte, sich verwandelte in todte Gebräuche, in Gewohnheiten, die nicht mehr verstanden werden und zu gar nichts führen; eben weil kein Leben und keine Thätigkeit hingedeutet wird zur Unterhaltung und Fortbildung der Ordnung und Gesetze, so veralten sie, passen nicht mehr dem herausgewachsenen Menschen, stehn im Widerspruche mit dem Geiste der Zeiten und Unordnung und Verwirrung welche oft ganze Geschlechter um den Genuß ihres Daseyns bringen, entstehn, wenn wir durch gewaltige Umwälzungen nur dadurch, daß das Alte zertrümmert wird, von diesem lästigen Übel loszukommen ist. Das m. Fr. ist die Erndte des Verderbens, welche diese herrlichen Gaben aufs Fleischliche gesinnt hervorbringen. Aber ist es möglich, daß wir uns dieß denken, wie wird es seyn, wenn wir uns Menschen, über die der Geist Gottes ausgegossen ist, vorstellen im Besitze dieser Rechte und Gesetze. Sie sind nichts anderes als die Spiegel der ewigen Gerechtigkeit und Liebe, durch deren Kraft der einzelne Mensch sich sieht als Werkzeug des göttlichen Willens, wodurch er fühlt, daß er nur Hände hat und Kräfte, um dem zu dienen; sie sind nichts andres, als das lebendige Band aller Tugenden und Vollkommenheiten des Geistes, der, womit angethan jeder wohltun und wuchern kann zum gemeinsamen Besten; worin gewurzelt jede hohe Kraft um so herrlicher gedeiht, wodurch geschützt sie sich wahren kann gegen Angriffe des Feindes, und worin alle

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diese Gaben des Geistes einen Ruhepunkt finden und eine Vereinigung für die höheren Zwecke des Lebens. Dann kann nichts, was so erworben ist, veralten und unbrauchbar werden, dann kann nicht, was ein göttliches Saamenkorn ist, ersticken im Bodes des Fleisches. Ja m. Fr. wenn unter den Menschen überall der Geist Gottes herrschte, dann brauchten Recht und Gesetz nicht einmal jene irrdischen Hölle des Buchstabens, dann dürfte sie nicht ausgerüstet erscheinen mit äußerer Gewalt, sondern sie wäre nur die gemeinsame Stimme aller Gerechten, Gebildeten und Mächtigen, welche leitend und ordnend nichts suchen als gemeinsames Leben und Thätigkeit zu Gottes Ehre. II. Was zweitens die Gemeinschaft der Menschen hervorbringt, das ist die köstliche | Frucht der Erkenntniß. Wie wäre es möglich daß von den Menschen vereinzelt, in dieser Hinsicht etwas Bedeutendes geschehen könnte! Wie bliebe jeder beschränkt auf seine ganzen Umsichten und Erfahrungen, wie jeder nur geheftet an seine niedrigsten unmittelbarsten Bedürfnisse. Aber in der Gemeinschaft kann sich allmählig regen ein höheres Leben, da kann von vielen gestützt der, in welchem Gott eine höhere Kraft gelegt hat, sich emporheben, sein Licht anzünden und es leuchten lassen vor anderen – durch die verbundene Gemeinschaft lernt der Mensch durch andere sich selbst verstehn, den Geist belauschen. – Aber wenn auch der göttliche Same der Erkenntniß nur gesäet wird aufs Fleisch: so können wir auch von ihnen nur eine Erndte des Verderbens erwarten. O, wie allgemein sind nicht die Klagen gewesen über die Thorheit und Verkehrtheit derer, welche weise sein wollten. Wie hat sie nicht niedergedrückt der Geist derer, welche freylich an Wissenschaft tiefer standen, in denen aber Freude und Lust war an der Wahrheit und Sinn für das Leben aus dem Geiste: wie haben sie geklagt, daß die an der Erkenntnißquelle ständen nichts thäten als daß sie sie vergifteten, daß nichts als Mißkenntniß und Verkehrtheit daraus entstände, und mehr oder weniger ist diese gegründet gewesen, wenn die Erkenntniß aufs Fleisch gesäet wurde. – Wie auch dem sey, uns lehrt, ist in uns Lust zur Erkenntniß, so werden wir mehr erwerben mit dem Wenigen, was uns gegeben ist. Aber wenn die Erkenntniß hervorgeht aus einem Gemüthe, das den Geist nicht kannte, oder wenn sie nur mitgetheilt wird denen, die noch im Schlamm des Sinnlichen versunken sind, freylich kann da nur eine Erndte des Verderbens entstehen. – Dann wird die Erkenntniß, deren erste und letzte Frucht die Liebe werden soll, nur eine Nahrung der Eitelkeit, eine Veranlassung, daß der eine auf den andern herabsieht, als ob er nicht seines Gleichen wäre, was entsteht anders daraus als jener Hochmuth, der sey es kurz oder weit vorher, immer vor dem Falle kommt; oder wenn das göttliche Saamenkorn den Boden nicht findet, wo es gedeihen 38–39 Vgl. Spr 16,18

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kann, was sehen wir entstehn als das, was in dem einen lebendige Einsicht und Offenbarung des Höhern wird, das in dem anderen ein todtes Wort, das erleidet Tod in leblosen Buchstaben und was entsteht dann aus der Erkenntniß als Aber|glaube, Vorurtheil, Irrthümer aller Art; wird [und] kann der mit den Schätzen der Erde wirken, der nur einen leeren Schein davon hat, womit er sich brüstet und bläht und andere täuscht? Aber wenn das Saamenkorn der Erkenntniß auf den Geist gesäet wird, wenn jeder nach seinem Maaße jenen Schatz der Weisheit mit Liebe aufnimmt und nur in der Absicht, um Gott in uns und durch uns zu verherrlichen, wenn wir sie uns aneignen, um den Herrn kennen zu lernen und uns selbst, die wir sein Werkzeuge sein wollen, dann kann nichts andres, als Herrliches und Großes hervorgehn, dann verschwinden alle Dünkel, und Aufgeblasenheit, und die wahre Demuth bemächtigt sich der Gemüther. Dann ist es nicht möglich, daß die Erkenntniß sey ohne Liebe oder das Verlangen sich mitzutheilen, dann wird alles ein Werkzeug, wodurch der Geist Gottes sich verbreitet und mittheilt, Licht und Leben schafft und erhöht, und was dem einen geworden ist durch die Gnade des Herrn, was er erkannt hat in der Tiefe des Herzens, gemein macht für alle, damit so es von Kreise zu Kreise sich fortbewegt, erhöhend beschränkend und zusammenziehend sein Leben verbreitet auf die noch schwächeren Brüder. Ja m. Fr. von allem, was Gott dem Menschen anvertraut, von jeder schönen und herrlichen Gabe, wird nur Verderben geerndtet, wenn sie aufs Fleisch gesäet wird, und nichts anderes als desto größere Verschuldung und desto tiefere Unseligkeit ist, was daraus entstehen kann, und die Frucht des Geistes dagegen ist Liebe, Weisheit, Freude und Gerechtigkeit, und dann muß Alles zum unvergänglichen Leben zur Seligkeit führen, was auch von irrdischen Gütern gesäet wird in einen solchen Boden. M. Fr. so sollen wir uns alle ansehn, wie derselbige Apostel von sich und seinen Mitaposteln sagt, daß sie angesehn werden müßten, als Haushalter der Geheimnisse Gottes. Vieles ist uns anvertraut in einer Zeit weit verbreiteter Gemeinschaft menschlicher Kräfte, und herrliche und alte Schätze von Ordnungen Rechten und Gesetzen haben wir zu bewahren, und viele Quellen der Erkenntniß und Einsicht sind uns eröffnet. O, daß kein giftiger Hauch darüber hinwehe, o daß kein Verderben des Fleisches herrschend würde sein, daß wir nur von allem was wir thun, Verderben erndten müssen daß wir alle in der Kraft des Geistes bewahrt bleiben, daß nur die Quelle der | Wahrheit und Erkenntniß nicht vergiftet werde, zu deren Betrachtung wir immer zurückkehren können und wo wir immer wiederfinden Worte des Lebens – o daß wir endlich alle lernen möchten, wohin es führt, wenn das Fleisch regiert, daß wir genug hätten an jenen wieder1 das] daß 28–29 Vgl. 1Kor 4,1

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holten Ansprüchen des Geistes, hier von Dumpfsinn und Trägheit, dort von Übermuth und trotziger Willkür, daß wir hell sehn möchten, wie alles, was uns an Schätzen die früheren Geschlechter hinterlassen haben nur verpraßet wird und vernichtet! O daß der Geist alle durchdringe, dieser Geist der Liebe zu Gott, der Trieb seiner Kindschaft im Herzen zu haben, und seiner immer würdiger zu werden, der Geist Jesu Christi, welcher auch in denjenigen, denen nur wenig geworden war von Einsicht und Erkenntniß, sich so kräftig erwiesen hat ein Reich Gottes zu stiften, welches doch das höchste ist, in welchem sich Alles aussöhnt, worin wir alle Befriedigung finden für alles, was unser Geist bedarf, daß er in allem lebe, was wir thun, daß er uns alles Irrdische betrachten lehre in einer höheren Beziehung, daß so das Bessere den Sieg gewinne über das Verdorbene und das Verderben. O m. Fr. die Herrlichkeit der Ausgießung des heiligen Geistes, die möge uns allen gegeben seyn; der Geist Gottes er ist auch zu uns gekommen, er redet zu uns aus ihren Worten und Werken, und daß er uns durchs Herz ginge gleich jenen Zuhörern der begeisternden Reden, und daß wir fragten, was sollen wir thun, daß wir selig werden. Denn daß auch wir vieles versäumt haben, daß auch uns das Heil oft nahe gewesen ist, und wir haben [es] nicht erwählt, wer wollte es läugnen? Aber alles ist gut zu machen, alles in das Rechte zu bringen, und keine Höhe menschlicher Vollkommenheit und Würde ist unerreichbar, laßt uns nur dem Geiste folgen, ihn suchen, alles, was Irrdisch ist und verderblich, verwerfen, und uns vorhalten den hohen Beruf als Brüder dessen, der der Erstgeborne ist, und mit ihm und durch ihn Kinder seines Vaters, und durch die Kraft seines Geistes, der so gern | in uns wohnen und uns alle zu seinem Tempeln machen möchte, dahin trachten, einig zu seyn mit ihm und durch ihn, mit seinem und unserm Vater, daß wir immer mehr einsehen und fühlen lernen, daß es kein höheres Glück gibt, als was uns erst dadurch wird, daß wir alles mit dem Geiste annehmen, daß wir einsehn, daß alles in der Welt der Kinder Gottes ist, und daß es nichts Gutes, nichts Edles und Schönes gibt, als was durch den Geist erwächst, daß alles Fleisch Verderben ist, und alles Leben ausgehn muß aus dem Geiste Gottes und seiner Kraft.

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Am 9. Juni 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 3,23–24 Nachschrift; SAr 26, Bl. 52r–52v; Matthisson Keine Keine Keine

Einige Gedanken aus Schleiermachers Predigt am Sonntage Trinitatis: 9. Juni 1. Joh. 3, 23.24. „Und das ist sein Gebot, daß wir glauben an den Namen seines Sohnes Jesu Christi, und lieben uns unter einander, wie er uns ein Gebot gegeben hat. Und wer seine Gebote hält, der bleibet in ihm, und Er in ihm. Und daran erkennen wir daß er in uns bleibet: an dem Geist, den er uns gegeben hat.“

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Der erste Sonntag nach dem Pfingstfeste, das letzte in der Reihe der christlichen Hauptfeste, ist dem Sonntag der Dreyeinigkeit geweiht, und nach ihm alle folgenden Sonntage bis zum Anfang des ersten christlichen Hauptfestes, gezählt. Von dieser wichtigen Lehre der Trinität ist sonst gar nicht mehr die Rede, [zuerst] weil die Klugen und Verständigen alles Eigenthümliche aufheben und in das Gebiet des Vernünftigen und Natürlichen herabziehen möchten, zweytens weil durch den Wust dessen, was hierüber gelehrt gestrebt ist in den Schulen, die Kraft fast ganz erstickt ist. Davon abgesehen wollen wir hier die Richtigkeit dieser eigenthümlichen Lehre der Christenheit betrachten, welche die Stimme ist alles Christenglaubens. Wer diese Stelle 1. Joh wählt zum Texte dieser Betrachtung, scheint zu erkennen zu geben, daß keine deutlichere Lehre in der Schrift daneben enthalten ist. So ist [es] nicht, denn so gewiß diese Lehre mit ausdrücklichen Worten nirgends steht: steht sie überall auf jedem Blatte des N.T. Sie ist es, welche uns wesentlich | als Christen unterscheidet, und da zu dem Leben aus Gott, das Gemüth kräftiget und erhebt (welche beyde Seiten dann das Wesentliche ausmachen von jeder christlichen Hauptlehre). Nur durch die Kraft des 10 geweiht] geweit

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göttlichen Geistes sind wir Christen, ohne sie ist alles, was wir denken und thun Stückwerk und unbegründet. Aber, wenn wir uns in Absicht diesen Wirkungen des göttlichen Geistes auf uns, mit Christo vergleichen: so hat er nicht auf ähnliche Weise in Christo Heiligung gewirkt; sonst wäre er nicht der Erlöser, sondern ein Erlöster, sonst nicht unser Vorbild, sondern wir würden ihn übertreffen können. (Also der Geist und Christi sind nicht eins.) An der Sendung dieses Geistes erkennen wir, durch die Kraft der Liebe, daß wir in Christo sind, und Christus in uns. So wird unser Leben ein Theil des göttlichen Selbst.

Am 23. Juni 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 1,16 Nachschrift; SAr 26, Bl. 53r–56v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 87r–92v; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher 2. Sonntag p. Tr. (den 23. Juni 11) Die Gnade etc. Bis jetzt konnten wir unsere Betrachtungen an das in uns zwischen den in längeren und kürzeren Zeiträumen aufeinanderfolgenden Festen fallende Historische knüpfen: jetzt sind unserm Nachdenken nur die allgemeinen Betrachtungen eröffnet, welche uns der Umfang des Christenthumes darbietet. Es hat besondere Vortheile, wenn diese Vorträge nicht jeder für sich allein dasteht, wenn in den hier angestellten Betrachtungen ein gewisser Zusammenhang stattfindet und ein gewisser bleibender Gesichtspunkt alles darin an seinen rechten Ort und in sein richtiges Verhältniß setzt. In einer Reihe von Vorträgen wollen wir daher nach Anleitung dessen, was sich als Geschichte und Lehre im N.T. findet, auf die Grundsätze und Handlungsweisen unsre Aufmerksamkeit richten, durch deren Beobachtung und Ausübung die christliche Kirche von dem schwachen Anfang an den wir sie in dem Feste der Pfingsten haben nehmen sehen, das geworden ist, was sie uns in der Folgezeit darstellt, und was sie noch mehr zu werden bestimmt ist. Dadurch werden wir beydes erreichen. Es wird sich uns das Bild dessen, der der Anfänger unseres Glaubens ist, und derer, welche in treuer Liebe ihm nachfolgten, in immer neuerer und schönerer Herrlichkeit darstellen, wir werden es inniger gewahr werden, was wir schon vermöge der in dem Evangelio liegenden Kräfte werden können etc. Röm. 1,16. 2 Die Gnade etc.] Gnade 2 1Kor 1,3 als Kanzelgruß

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M. Fr.: daß das zu dem Ersten und Nothwendigsten gehöre, sich des Evangelii nicht zu schämen, wenn es unter den Menschen die großen Wirkungen, wozu es bestimmt ist, hervorbringen soll, daß dieß eine Regel ist, die wir auch in den gegenwärtigen Tagen ganz vorzüglich Ursache haben, uns aufs neue vorzuhalten, das ist wohl einem Jeden einleuchtend. So laßt uns denn ohne Weiteres aus den Worten des Apostels die Aufforderung dazu hernehmen; daß auch wir uns des Evangelii in Christo nicht schämen: Laßt uns zuerst darauf unsere Aufmerksamkeit richten, wie nothwendig überhaupt dieß für die Sache des Christenthums und dann zweitens im Einzelnen darauf sehen, wie sich auch an Jeden Einzelnen unter uns diese Aufforderung wendet. I. Wie nothwendig es ist, daß die, welche das Evangelium Christi als eine | seligmachende Kraft Gottes erkennen, sich dessen nicht schämen, es wird wenig bedürfen, um dieß allen klar zu machen. Sehn wir zurück auf jene Zeit, wo der Apostel dieß schrieb, und welche sich anknüpft an die große Begebenheit, die der letzte Gegenstand unsrer christlichen Festbetrachtung war, und von welchem die öffentliche Verkündigung des Evangelii ausging – so müssen wir gestehn, wenn die Jünger des Herrn, ihres tiefen Gefühles und klaren Bewußtseyns ungeachtet von der seligmachenden Kraft des Evangelii, sich dessen geschämt hätten: wo wäre ihr Beruf, wo das treue Vermächtniß ihres Herrn und Meisters, wo wäre die Predigt, worauf sich unser wie aller Glaube gründet, wo die Gemeinschaft der Brüder in Jesu, die Gemeinde der Christen? Es gab vorübergehende Zeiten, wo zur Erhaltung des Christenthums nöthig war, daß seine Bekenner diejenigen nicht fürchteten, denen es ein Aergerniß war, und die daher jedes Mittel und alle Gewalt aufboten, um es zu unterdrücken, wo sie sich nicht fürchten durften vor denen, welche den Leib aber freylich auch nur den Leib tödten; aber unausgesetzt fortdauernd war jene Nothwendigkeit und erforderlich zu ihrem Beruf, jener, man kann es sagen, noch höhere Muth, vor denen sich nicht zu schämen, denen das Evangelium in seiner seligmachenden Kraft eine Thorheit war, und dieß Gefühl war es, welches den Apostel Paulus so mächtig trieb. Ohne falsche Schaam versuchte er in der alten Hauptstadt der menschlichen Herrschaft Kunst und Gelehrsamkeit, das einfache, kunstlose Evangelium zu verkündigen, ohne sich zu schämen vor denen, welche noch immer die Kunst der Rede in einem hohen Grade besaßen, ohne sich mitten unter der Pracht und dem Pomp des alten heidnischen Gottesdienstes und der Pracht der Altäre und Tempel der einfachen und schmucklosen Lehre zu schämen, und eben dieß gesteht er vor unsern Textesworten, wie er immer gewünscht in Rom das Evangelium zu verkündigen. Wenn er und seine Genossen diesem kleinlichen Fehler unterlegen hätten, nicht vor den Juden und Griechen denen es ein Aergerniß war, nicht vor den Weisen des

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Am 23. Juni 1811 vormittags

Alterthums, die eine höhere Weisheit suchten, nicht vor denen, welche nur fremder Meynung folgend auf etwas ganz andres gerichtet waren, würden sie das seligmachende Wort verkündigt haben. Und wenn gleich nach dem Tode des Erlösers ihnen die Thüren verschlossen waren; so würden sie es geblieben seyn, und eine kleine | Gesellschaft, auf welche sich eine Zeit hindurch die Liebe und der Glaube fortgepflanzt hätte, das wäre alles gewesen, was von seiner Erscheinung auf Erden zurückgeblieben wäre. – Und dann m. Fr. sehen wir auf die gegenwärtige Zeit, wie weit ist es doch gekommen mit der Sache des Christenthums einzig dadurch, daß man sich des Evangelii von Christo schämt. O gehn wir zurück in jene frühere Zeit, wo es nichts Wichtigeres gab für das Volk, als den Glauben der Väter zu verfechten gegen äußere Angriffe, wo jeder an allem, was zur Läuterung zur Erhaltung des Glaubens geschah innigen Antheil nahm, wo ein Jeder es sich angelegen sein ließ, die Rechte des Wortes Gottes zu vertheidigen gegen Mißbrauch, äußerer Gewalten und dasselbe auf neuen Eifer, auf innige Liebe zu Christo zu gründen; – sehn wir auf jene Zeit, wo mit anderem lebendigen Sinn, welcher dieser für die Angelegenheiten der Kirche sich kräftig und thätig erwies im Thun und Leiden, im Aufopfern und Mittheilen: da wurde unter der alten Redlichkeit und Treue auch Treue und Glaube gefunden in der Annahme des Evangelii und in der Befolgung aus willigem und reinem Herzen – vergleichen wir sie mit gegenwärtigen: o ich will das Bild in seinen einzelnen Zügen nicht weiter ausmahlen. Weit, sehr weit ist die Sache des Christenthums rückwärts gegangen, und weshalb, woher? Auf unsern Grund und Boden, wir können es sagen, aus dem Innern des Deutschen Volkes ist es nicht unmittelbar hergekommen; aber von einer fremden Weisheit haben wir uns verblenden lassen, von der Fremde her kam es, daß auf einmahl die sonst so klare dem Herzen so verständliche Lehre des Evangelii als ein Gewebe erschien von Zumuthungen, die der menschlichen Vernunft nicht zu machen wären, von Widersprüchen und Ungereimtheiten so daß die herzliche Verbindung der Gemüther durch Christum bald erschien als etwas, das der Mensch entbehren könne, was eigentlich auf nichts recht gegründet und nur in leere unnütze Formeln aufgelöst wäre. Es gemahnt mich das an jene alte einfache Erzählung von dem ersten Vater des Menschengeschlechts. Nachdem die ersten Menschen in ein freundliches Verhältniß mit dem Bösen getreten waren, da nahmen sie einen Anstoß an ihren bisherigen gegenseitigen Verhältniß, da scheuten sie sich, daß sie nackt waren, und machten sich Kleider: so haben auch wir, seitdem wir eine Freundschaft gestiftet mit einem fremden Verderben, Anstoß genommen an der nackten, einfältigen Lehre Christi und zu Künsteleyen gegriffen. Denn die Weisheit des Erlösers war denen | die nur eine 24–33 Vermutlich ist dies eine Anspielung auf die französische Aufklärung. 37 Vgl. Gen 3,7

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irrdische glänzende Weisheit suchten, zu unbedeutend und gering; die Wahrheiten, die auf keinem andern Boden als auf dem eines treuen Herzens gedeihen, waren denen, die nur nach etwas Schimmernden, Prunkenden suchten, etwas viel zu Geringfügiges. Daher suchten sie aus ihrem eigenen Verstande ein eignes Kunstwerk an die Stelle zu setzen, und wir haben uns davon blenden lassen, und sind mit dem Annehmen dieses der heiligsten Güter verlustig gegangen. Und noch lange Zeit wird erfordert werden, daß wir uns nicht mehr des Evangelii schämen sollten. Es wird immer eine bedeutende Anzahl von Menschen geben, deren Dichten und Trachten nur darauf gerichtet ist, auf den Genuß der irrdischen Wohlthaten, welche nur in der wenn auch noch so verfeinerten Befriedigung ihrer sinnlichen Triebe, ihr Wohl und Heil zu finden meinen, und solche wird es vorzüglich unter denen geben, welche die Güter dieses Lebens in großer Masse besitzen, und die deswegen unter den übrigen eine ausgezeichnete Stelle einnehmen und an aller Ausbildung des menschlichen Verstandes den meisten Antheil nehmen. Daher bildet sich denn eine Kunst, die einfachen Wahrheiten anzufechten durch Künsteleyen des Verstandes, eine leere, hohle Weisheit gegenüber zustellen jener schlichten einfachen und zum Himmel erhebenden, und wer sich durch den Glanz derselben blenden läßt, wer nicht den Muth in sich fühlt, in die Schranken zu treten, und in der Lehre des Evangelii den Kampf zu bestehen mit denen, welche sie verdrängen möchten durch ihre irrdische Weisheit, der wird sich des Evangelii schämen, der wird sich damit zurückführen in das Verborgene, der wird nicht leuchten mit seinem Lichte, wie er sollte, nicht auf die Verbreitung des Guten wirken, und an ihm wird es liegen, daß die Pforten der Hölle die Gemeinde des Herrn überwältigen. – Es wird auch an solchen nicht fehlen, die zwar fühlen, daß es etwas Höheres für die Menschen gebe, welche ehren die Stimme Gottes in der menschlichen Vernunft, welche fühlen den Unterschied zwischen dieser Gesinnung, und der, welche nur das Angenehme den Sinnen Schmeichelnde suchet, die sich aber doch vermessen wollen, daß, deswegen, weil der Mensch Kraft seiner Vernunft dieß erkennen könne, er sich nicht mehr zu halten brauche an eine Lehre und Anstalt, der immer sonst bis jetzt widersprochen wird, und an welche sich manches nicht zu Lobende angeschlossen hat, und rein für sich, sich allein überlassen, würde er das Wahre und Gute viel | besser und reiner in sich erzeugen, wenn er sich ganz entfernt halte von der christlichen Gemeinschaft und nur dem horche, was die Stimme Gottes in seinem Innern spricht. Wer sich nicht getraut, diesem Hochmuthe gegenüber zu treten, wer es nicht wagt, Jeden der in einem solchen Wahne befangen ist, darauf zurückzuführen, daß auch die höchste Vernunft nicht das wäre, wenn sie nicht geweckt, entwickelt, gebildet und gestärkt wäre durch andere, und daß wenn er zurückgehe, er in 25 es liegen] es nicht liegen

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der Gemeinschaft des Glaubens, in der Kirche des Herrn den Ursprung aller Erkenntniß, alle Stärkung und Kräftigung der Vernunft anknüpfen könnte. Wer nicht den Muth hat zu bekennen, daß die Schätze der frühern Weisheit mitten durch alle Zeiten der Finsterniß, der Unwissenheit und Barbarey, uns nur erhalten sind in der Kirche Christi und durch ihre Diener und Güter, wer nicht auftreten will gegen die, welche sich losreißend von aller frühern Zeit auf sich selbst sehen und auf ihrem eignen Boden alles Höchste und Größte erzeugen zu können wähnen, alles, was den Menschen schmückt und ehrt, der wird sich des Evangelii schämen, der wird denen doch das Feld lassen, welche auf dem schwachen Grunde einer sich selbst für neu ausgebenden Weisheit stehn und eines Lichtes, das plötzlich, man weiß nicht wohin gekommen sein soll, das allein den Menschen zum Genuß aller Güter und zum Ziel seiner geistigen Bestimmung führen soll, und wer sich schämt des Evangelii vor den Dünkelweisen der Welt, der wird seine seligmachende Kraft nicht verbreiten der wird vielmehr Schuld seyn, daß auch das Heiligste den Menschen bald als entbehrlich und unbrauchbar erscheint, daß der schöne und herrliche Bund der Christen gelöst wird und die Segnungen dieser Gemeinschaft verloren gehen. Ja m. Fr. war es damals nöthig, als noch in unscheinbarer Gestalt die Lehre Christi anfing sich auszubreiten, sich derselben nicht zu schämen: so ist es jetzt eben so nöthig ja nöthiger, nachdem die alte Herrlichkeit und der lang bestandene Glanz des Christenthums verdunkelt ist durch eine andere Weisheit, die nur allein glänzen und strahlen will: so ist es jetzt vor allen nöthig sich muthig zu dieser Lehre des Evangelii zu bekennen und sie zu üben, wenn das verdunkelte unscheinbare aber echte Gold derselben wieder zu seinem alten Rechte gelangen soll.

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II. Laßt uns nun noch kürzlich sehen, wie sich diese Aufforderung auch an Jeden einzelnen unter uns richtet. Mancher könnte sagen, daß sie doch nur zunächst an die erging, welche an der Verbreitung und Unterweisung im Christenthum Antheil nähmen; daß sich dieses Wort des Apostels Paulus zieme in dem Munde der Jünger Jesu, und noch jetzt in dem Munde der Lehrer, und es würde schon viel ge|wonnen seyn, wenn sich unter ihnen keiner fände der sich des Evangelii schämte und der, um nicht verlacht zu werden von den Weisen dieser Zeit, immer mehr ins Dunkel stellte von den eigentlichen Lehren und besonderen Kraft und Leben des Christenthums. Aber m. Fr. es giebt diesen Unterschied unter den Christen gar nicht so, wie es das Ansehn hat. Es gibt gar keinen solchen Gegensatz zwischen solchen, die nur berufen waren, das Evangelium zu lehren und zu verbreiten und solchen, die nur empfangen sollen. Denn wer da empfangen hat, der soll 3 bekennen] bekennt 39–1 Vgl. Mt 10,8

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auch wieder geben; wer gestärkt ist, der soll wieder stärken, und es fehlt uns nicht an Aufforderung und Beruf aufzutreten und zu zeigen, daß wir uns desselbigen nicht schämen, und so möge es sich jeder gesagt sein lassen daß er sich nicht schäme des Evangelii nach dem Maaße seines Glaubens und des Ansehens, das ihm unter seinen Brüdern zukommt. Ja meine Freunde nicht in allen ist dieser dasselbige. Diejenigen, welche die seligmachende Kraft in ihrem ganzen Umfange erfahren haben, in denen in der That jenes göttliche Licht aufgegangen ist, das über alle Leiden und Schmerzen erhebt, das in den Gemüthern jene Ruhe jene Heiterkeit erweckt, welche das Leben aus Gott bildet: so daß sie mitten unter den Menschen wandeln von ihren Irrthümern frey, über ihre Verirrungen und Schwächen erhaben und befreit von dem Widerspruche ihres Willens mit dem Höheren Göttlichen. Diejenigen, welche diese Kraft des Evangelii in dem Grade erfahren haben, von denen kann kaum gedacht werden, daß sie sich desselbigen schämen sollten; viel zu tief muß das Gefühl in ihnen seyn, wie weit höher ihre Liebe zu Christo seyn als die irrdische, und daß sie alle Vorzüge nur Christo und seiner Verbindung mit ihm verdanken, und wie wird höher die Liebe zu denen, welche derselbige Herr erlöst hat – als daß sie sich schämen sollten des Evangelii und nicht vielmehr es bekennen und zeugen von der Quelle woraus ihre wie alle Seligkeit herfließt. Aber m. Fr. wer unter uns doch noch fühlt, daß es Augenblicke giebt, wo er mitten unter Zerstreuungen der Welt, mitten unter den herüberhallenden Tönen der irrdischen Weisheit, sich des Evangelii schämt, o der sey doch wachsam und lasse sich gesagt seyn: wer da steht sehe wohl zu, daß er nicht falle. Denn m. Fr. mitten in diesem Leben aus Gott, wenn wir noch einen solchen Werth auf die Meynungen der Menschen legen, wenn wir uns von solcher Weisheit beschweren lassen wenn wir uns scheuen immer der Wahrheit die Ehre zu geben so ist mit dieser falschen Schaam der Grund zum Zwiespalt mit uns selbst und Gott schon gelegt. Es giebt andere, die freylich einen solchen Grad der seligmachenden Kraft nicht erfahren haben, aber die da fühlen daß in den Augenblicken, wo die Welt mit ihrem Ungemach sie niederschlägt, wo sie gedrückt werden von den Ereignissen, welche ihr Leben bilden und bewähren, der Glaube an die Lehre des Christenthums dasjenige ist | was sie am meisten beruhigt und stärkt, und unter der Versuchung zum Bösen in dem Kampfe des Fleisches und Geistes wirkt freylich, wie nichts andres, das reine Bild des Erlösers – alle diese fordere ich auch auf, sich des Evangelii nicht zu schämen, und auch diesen geringern Grad der seligmachenden Kraft desselben zu erkennen: so werden sie eben diese vorübergehenden Regungen befestigen, der Augenblicke werden mehrere werden, wo sie die Wohlthaten des Erlösers fühlen, mit dem Muthe wird ihnen die Kraft wachsen, und dieß ist der sicherste, zuverlässigste Weg, bald auch den höhern Grad dieser Kraft zu empfinden; dann werden sie es bald erfahren, was für eine Kraft darin liegt, wenn sie durch dieß muthige Be-

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kenntniß sich binden und nöthigen daß sie sich nun auch im Innern nicht schämen dessen, das sie vor der Welt bekannt – sie werden inne werden, daß alles Gute immer mehr mit den Segnungen des Christenthums zusammenhängt, wie alles erhöht wird und gestärkt dadurch, daß sie es an die Wahrheit Gottes anzuknüpfen; und so auch Christus ihnen der Weg werden der Wahrheit und des Lebens. M. Fr. so viel wenigstens muß in Jedem das Evangelium gewirkt haben dieß zu sehn und zu wünschen, und wenn nur jeder nach dem Maaße seines Glaubens sich nicht schämt, es zu gestehen: so müßte es ja bald deutlich werden, was die irrdische Vernunft sich selbst zu schreiben will wir mußten es einsehn und fühlen, daß alles Hohe und Vortreffliche nur dann in seinem wahren Wesen erkannt werden könne, wenn wir es dem wiedergeben, dessen Bild und Überschrift es so deutlich an sich trägt. Und darin lasse sich keiner irre machen oder durch fremden Glanz blenden; und keiner möge sagen, es könne weder schaden noch helfen, ob er sich schäme des Evangelii oder nicht; denn dieß ist leer und ohne Gehalt. Warum wollte er sich schämen, wenn es gleichgültig ist, und nicht was in seinem Innern ist, auch äußerlich bekennen, eine andere Rede im Munde führen als er im Herzen trägt? Nein wer noch in sich selbst Ursache findet, sich des Evangelii zu schämen, der muß auch gestehn, daß er noch ein Gebiet hat, wo es helfen kann, sich nicht zu schämen. Und daß dieß nicht ohne Wirksamkeit, ohne Folge, ohne Einfluß aufs Gebiet Gottes bleibt, das ist so deutlich. In jedem gesellschaftlichen Verhältnisse sind die Bedürfnisse der Menschen so mannichfaltig, die Geschäfte zur Befriedigung der gegenseitigen so vielfach und ineinander verwickelt, daß es keinen gibt, wenn er nur durch wichtige Dienste sich andern werth gemacht hat, der nicht auch in einzelnen Fällen seine Stimme seinen Rath sollte geben und einen Einfluß äußern können. Kein Kreis ist so klein und unbedeutend wo nicht dieß gegenseitige Verhältniß statt findet; und keiner ist so aus allen Verhältnissen | herausgerissen, daß ihm nicht der Einfluß, den das Alter auf die Jugend, eine gestärkte bewährte Kraft auf eine gegenüberstehende Schwäche, die Erfahrung auf die ungestützte Klugheit, zu Gebote ständen. Und eben darin besteht so sehr die Herrlichkeit und das unvergängliche Leben der Gemeinde des Herrn, daß alle zu einem Zwecke hinarbeiten können, daß in einem Jeden die Kraft, welche er besitzt auch wirken kann zum allgemeinen Besten, daß wer empfängt von einem der über ihm steht im Glauben, auch geben kann dem, der noch unter ihm steht und eben dadurch Christo wahrhaft dankbar zu werden. Laßt uns nur diesen Muth haben, dasjenige was wir als das Höchste fühlen, auch zu ehren vor der Welt, laßt uns nicht blenden lassen durch das Ansehen dessen, was durch Glanz und Schein der Sache des Christenthums entgegenstrebt; wir wissen es ja, daß dieses auf unerschütterlichem Boden gegründet ist, und wie wir wissen, 5–6 Vgl. Joh 14,6

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daß es alle Drangsale und mächtige Hindernisse glücklich überlebt hat, so können und müssen wir ja auch hoffen, daß es eben so auch allen folgenden Widerstand und Streit obsiegen wird. Darum halte jeder fest, und (habe) stets vor Augen das Vorbild des Herrn und seiner Apostel und möge jeder Muth haben zu zeugen von der seligmachenden Kraft des Evangelii, und keiner sich abhalten von der Welt, welchem Götzen sie auch dienen, und welches Bild sie verehren, zu bekennen: ich aber und mein Haus wollen dem Herrn dienen. Amen.

7–8 Jos 24,15

Am 7. Juli 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 5,4 Nachschrift; SAr 26, Bl. 57r–60r; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 93r–98r; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher den 7. Jul. 1811. Wenn die Frage, welches die Grundsätze sind und die Handlungsweise, durch deren Befolgung die Gemeinde des Herrn von dem ersten Anfang ihrer Entstehung an bis zu der Ausbreitung, die sie jetzt hat, gediehen ist, in einer Reihe zusammenhängender Vorträge beschäftigen wird: so muß uns nächst dem, worauf wir in unserer letzten Betrachtung unsere Aufmerksamkeit gerichtet haben, daß nämlich die Glieder dieser Gemeinde sich nicht schämen sollten des Evangelii, nun zunächst einfallen das Gesetz, das schon früher der Erlöser seinen Jüngern gab: ihr sollt euch nicht fürchten vor denen, die den Leib tödten; etc. Wie nothwendig dieses Gesetzes Befolgung im Anfange war, mit welchem Muthe, mit welcher Begeisterung, mit welcher Aufopferung alles Irrdischen es befolgt worden ist, wissen wir, und wie reichlich die Saat dieses Muthes Früchte getragen hat, und wie aus dem Märtyrertode derer, die sich freywillig dahin gaben, und der Wahrheit ihr Leben zum Opfer brachten, eine immer größere Schaar von treuen Bekennern hervorgesprossen ist, und wie durch alle Anfechtungen, alle Hindernisse, Verfolgungen die sie zu erdulden hatten, die Kirche siegreich sich hindurch gearbeitet hat, davon sind wir alle hinlänglich unterrichtet. Aber mancher könnte sagen, wenn auch Muth Furchtlosigkeit und Entschlossenheit, die freylich immer Noth thun, wenn etwas Großes gewirkt werden soll, im Anfange der Gründung und ersten Ausbreitung der christlichen Kirche nöthig waren: so sey doch jetzt keine Zeit und Gelegenheit mehr, sie anzuwenden. Kein Zwang werde mehr dem Gewissen angelegt, kein Hinderniß dem Glauben in den Weg gestellt, anerkannt sey die Gemeinschaft des Erlösers, und es möchte darum wohl heilsam seyn, eher auf andere als gerade auf diesen Gegenstand seine Aufmerksamkeit zu richten. Aber m. Fr. 6–7 Vgl. 23. Juli 1811 vorm.

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die Gebote des Erlösers sind nicht vorübergehend und nur für einzelne Zeiten gültig und nützlich: sondern eben so ewig und unveränderlich, wie er selbst ewig und ein und derselbe ist; und, m. Fr., wer mag in Beziehung auf dieses Gebot, mit Sicherheit eine solche Rede aussprechen? Wo ist der Tag, der uns bey dem ewigen Wechsel alles Irrdischen Bürgschaft leistete für den folgenden, wo ist der einzige Friede, der besiegelt wäre zwischen der Gemeinde des Herrn und der Welt, daß nicht der frühere Krieg von neuem wieder ausbreche? Sind alle Spuren davon schon so verwischt, haben wir nicht selbst erlebt, daß dem Gewissen noch Zwang angethan wurde, und daß Freudigkeit des Muthes nöthig war, um Widerstand zu leisten der Gewalt von außen, und wenn die[,] die nur Weltliches besitzen | und beherrschen wollen, den Bund des Herrn zu ihren Absichten gebrauchen oder zu mißbrauchen: sollte nicht eine Zeit kommen, wo sie einsehn, daß sie von dem Tiefsten und Innersten dieser Lehre am meisten zu fürchten hätten und daß sie die Heerde zerstreuen, anfeinden, und ihr die Ruhe und Wohlfarth rauben müßten, um ihren Endzweck zu erreichen? Ja m. Fr. die Verheißung haben wir vom Herrn empfangen: welchen ihr die Sünde vergebet, denen sind sie vergeben und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten; dieß Amt des Gerichts, das sich kein Einzelner noch weniger wir, vereinigt im Glauben an Christhum, nehmen lassen sollte, auszusprechen, was da gut ist, und was böse, und unsern Beyfall und Abscheu an den Tag zu legen und Widerstand zu leisten gegen das Böse. Aber eben dieß ist der Saame der Zwietracht, der immer aufs neue aufgeht, und um deßwillen der Geist der Welt immer fort anfeinden und beunruhigen wird diejenigen, welche vom Geiste Gottes beseelt sind. So wird es uns denn also auch jetzt heilsam seyn, uns an diese Vorschrift des Herrn zu erinnern und zu sehn, wie wichtig sie noch jetzt ist für das Bestehen seiner Sache und seines Bundes. 1 Joh. 5, 4.

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Wer m. Fr. unter allen Jüngern des Erlösers so viel sie uns bekannt sind ist mehr ein Verkündiger des Friedens und der Liebe gewesen, als der, welcher an seiner Brust lag, und doch erinnert auch er die Nachfolger und Bekenner des Glaubens, daß sie die Welt überwinden mußten, und das setzt Streit und Kampf voraus, und zum Kampfe gehört Furchtlosigkeit und Muth. Und darum führt er sie zum Bewußtseyn der Kraft, die sie nöthig haben: unser Glaube ist der Sieg der die Welt überwunden hat. Laßt uns denn sehen I. was dazu gehört und II. welchen Erfolg wir uns von diesem Kampfe zu versprechen haben. I. Was ist der Grund, die Quelle des Muthes den die Jünger Jesu bewiesen haben? Alles was von Gott geboren ist, das überwindet die Welt. Ja 17–19 Joh 20,23

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eben das Bewußtseyn, daß wir von Gott geboren sind, das allein ist eine sichere Quelle unseres Muthes, und die Gewährleistung des glücklichen Erfolges im Streite gegen die Welt. Aus Gott geboren seyn aber ist dasselbige, was in einer Unterredung des Herrn mit einem Freunde der Wahrheit mit den Worten ausdrückt wird: der muß aufs neue geboren werden, geboren werden aus dem Geiste, und was der Apostel nennt: wir | haben einen neuen Geist empfangen, den Geist der Kindschaft, der in uns ruft, Gott: unser Vater. Wenn wir das fühlen, daß der Geist Gottes in uns wohnt, daß er es ist, was uns treibt und regiert in allem unsern Thun und Treiben, daß wir nicht trachten, wie die, welche aus dem alten Menschen geboren sind, nach den Dingen dieser Welt, sondern wenn uns nur treibt das Gefühl, daß wir im Reiche Gottes bauen arbeiten, fördern, daß wir nur zu schaffen und zu mehren haben was recht ist und zu reden und zu rühmen von den großen Thaten desjenigen, der seinen Geist ausgegossen hat über uns: kann uns wohl je der Gedanke einfallen, wir könnten überwunden werden? Wie sollte die ewige Kraft, das Unvergängliche und Himmlische das sein, was vernichtet werden könnte vom Sinnlichen, Irrdischen und Vergänglichen? Wie wir fühlen, daß es nicht die irrdische Kraft des Lebens ist, die uns bewegt, nicht der vergängliche Hauch, nicht der Leib vom Staube, sondern der lebendige Odem, welchen Gott dem Menschen eingegeben, jene ewige immer neue Kraft des Höchsten: sollte uns je der freyherzige Gedanke einfallen können, daß wir diese Kraft schonen müßten und sie aufsparen, nachgeben bey Widerstand nicht verschwenden bey Kleinigkeiten, um sie zu verwenden auf wichtige Gegenstände auf gleiche Weise, wie die Menschen freyherzig und sorgend hinaus zu halten pflegen mit dem Irrdischen? Nein so darf der nicht denken, welcher es weiß, daß es eine ewige und unerschöpfliche Kraft ist, die in ihm wohnt, und die so oft sie angewandt wird immer neu aus der Quelle hervorgeht und sich immer und überall offenbart und darum gibt es auch keinen Unterschied zwischen groß und klein für sie. Einem einzelnen Menschen vorhalten sein Unrecht und sein Widerstreben gegen die ewige Kraft, einen verkehrten Widerstand leisten, einem Einzigen Kraft zu sprechen und austheilen, das ist dem aus Gott geborenen eben so wichtig, als alles was man groß nennen kann. Eben darum kann, wenn wirs fühlen, daß der Geist Gottes in uns wirkt, nichts mehr als gering scheinen, was vorkommt im Streite gegen die Welt, noch dürfen wir haushälterisch mit dieser Kraft umgehn wollen, und hier einmal die Augen zudrücken und übersehen das Verderbliche; noch hier schweigen und nicht der Wahrheit das Wort reden: sondern alles, was uns vorkommt, wird uns auch immer gleich heilig scheinen und unter allen Umständen werden wir es zu seinem Dienste verwenden, und das ist der Muth die 27 sie] si 5–6 Vgl. Joh 3,3–8

6–8 Vgl. Röm 8,15

20 Vgl. Gen 2,7

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Beharrlichkeit der Christen im Streite gegen die Welt. Wenn der Geist Gottes in uns wirkt: so ist ja alles übrige | in uns, jede große Mannigfaltigkeit von Geschäften, jeder Kreis, den jeder um sich gezogen hat von Hülfsmitteln der Thätigkeit, jede Gesammtheit von Talenten und Geschicklichkeiten; alles ist nichts weiter als ein Werkzeug des göttlichen Geistes; es ist uns nicht verliehen, um es nur zu genießen und zu besitzen, noch unsre Absicht, daß wir es so lange und stark und kräftig als möglich erhalten, sondern alles zu betrachten als ein Werkzeug, das nur Werth hat durch das, was es ausrichtet. Und so haben wir uns anzusehen mit allem was wir sind und haben. Und wenn wir uns so ansehn, kann uns da einfallen, uns dem Dienste des göttlichen Geistes zu entziehn und gegen einander auf die Waage zu legen die rasche unermüdete Thätigkeit, die Gefahren und Beraubungen auf der einen Seite, und auf der anderen den ruhigen Genuß, werden wir da wohl überlegen, und unter diesen Umständen zwar die Pflichten unseres Berufs erfüllen, unter andern aber unsere Pflicht und Thätigkeit aufschieben? Wer aus Gott geboren ist, dem ist die Welt untergegangen, für den ist der irrdische Genuß nicht da; er kennt keine andere Freude und Lust, wie er kein andres Licht und keine Weisheit kennt als die, sich dieser Kraft hinzugeben, mit allem sich ihr zu widmen, und wie von dieser abgesehn, alles was sonst der Mensch haben kann, ihm nichts andres ist, als Schwachheit: so muß er eben dadurch daß er sich dem göttlichen Geiste hingibt, beweisen, wie Gott mächtig ist in dem Schwachen. So m. Fr. ist das Gefühl, daß wir den Geist Gottes in uns haben, daß Christus ist der Erstgeborene unter den vielen Brüdern und daß wir geboren sind zu einem Leben mit ihm und zu Einer Gemeinschaft mit ihm und durch ihn mit seinem und unserm Vater, dieses Gefühl ist der Muth der Christen. Wer sich Eins fühlt mit Gott, wie könnte sich der vor etwas fürchten, wie könnte dem noch etwas schaden? Aber m. Fr. es gehört noch etwas andres dazu, wenn wir diesen Muth beweisen sollen. Denn woran können wir wissen, daß wir aus Gott geboren sind, daß der Geist in uns wohnt, und daß alle unsre Kräfte und Besitzthümer uns nur ein Werkzeug sind dieses Geistes, als wenn wir wirklich in seinem Dienste begriffen sind. Jede Abweichung von göttlichen Gesetzen, jede Sünde verringert in uns, ja verlöscht für den Augenblick dieß Gefühl der Vereinigung mit Gott und der Kräftigung aus seinem Geiste; sie macht uns schwach furchtsam und muthlos. Aber wie | sollen wir entrinnen, wir die wir wohl wissen, daß die Sünde ihre Rechte nie ganz aufgibt, daß wir so lange wir leben begriffen sind im steten Kampfe gegen sie. Aber laßt uns muthig und fröhlicher Zuversicht seyn im Glauben an Christum in welchem uns Gott den Sieg gegeben hat. Laßt uns das göttliche Gefühl nicht rauben lassen, daß er uns zu sich hinauf zieht, laßt uns das nicht vergessen, daß 37 im] in 22 Vgl. 2Kor 12,9

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auch wir durch ihn und mit ihm geheiligt sind zu einem unvergänglichen Leben, und daß keine Sünde die noch wider unsern Willen in uns ist, hindern kann, daß Gott uns annehme, dieß ist ja seine Verheißung, daß er mächtig sein wolle in dem Schwachen, und daß wir schwach sind kann uns doch das Bewußtseyn der Freyheit unsers Willens und unsers Muthes nicht rauben. Wenn nur unser Wille rein ist und gut, wenn wir uns nur das Zeugniß geben können, nicht nur die Welt außer uns zu bekämpfen, sondern auch das Weltliche in uns so werden wir durch den Glauben mit der Welt außer uns auch die Welt in uns besiegen und überwinden; so werden wir in jedem Augenblicke, wo wir neue Beweise von unsrer Schwäche erblicken, doch nicht muthlos werden, und immer aufs neue uns an Christum anschließen und seine Lehre stärken und kräftigen, und was irrdisch ist und sinnlich werden wir ansehn als außer uns, damit wir es bestreiten und besiegen mögen, und alles was in uns ist als Christo geheiligt, und so wird es wahr seyn, daß Gott mächtig ist in dem Schwachen.

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II. Und dieser Glaube ist der Sieg der die Welt überwunden hat. Dieß ist der Erfolg, den wir uns zu versprechen haben, wenn uns der Muth nicht verlässt. – Wir wissen, wie das Reich Gottes, und das Reich der Welt, die Kinder Gottes, und die Kinder der Welt einander entgegengesetzt werden, und daß unter dem letzten Ausdruck alles begriffen wird, was ungöttlich ist und sich dem Endzwecke Gottes widersetzt und was weggeschafft werden soll und dazu sind wir, das ist unser Beruf, daß wir die Welt überwinden. Es wird sich, was uns in dieser Beziehung obliegt, unter 2 Gesichtspunkte bringen lassen, wenn wir die Welt im Gegensatze des Reiches Gottes der Wahrheit und Liebe, ansehen als das Reich der Lüge und Gewalt. Wenn es dieß ist, das wir überwinden sollen: laßt uns sehen, wie gewiß wir rechnen können auf diesen Sieg. 1. Wir werden überwinden das Reich und den Geist der Unwahrheit und Lüge. Das ist aber, was die Menschen nicht bekennen wollen, daß Christus gekommen ist, um die Menschen selig zu machen, wenn sie die Augen verschließen gegen das Evangelium, wenn sie nicht anerkennen wollen die Stimme Gottes in ihrem Innern, die nur erweckt und gestärkt werden sollte durch die Offenbarung des Sohnes Gottes; wenn sie es | mit trüglichen Gründen rechtfertigen wollen, daß sie den Bösen dienen, und ihr Gebäude des Truges entgegenstellen der ewigen Weisheit Gottes. Nur durch die Kraft des Glaubens, nur durch den Muth der Bekenner des Evangelii kann überwunden werden dieser Geist der Lüge. Und um uns zu stärken, laßt uns zurücksehn auf die frühere Geschichte und inne werden, wie sehr er schon überwunden ist. Wie vieles von dem, was dieser Geist der Lüge beysammen hatte, ist schon so bekämpft und unterjocht, daß Niemand mehr als Wahrheit behauptet, wie vieles von dem, was zur wahren 3–15 Vgl. 2Kor 12,9–10

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Erkenntniß Gottes gehört ist schon so fest gestellt, daß niemand es wagt, laute Stimmen dagegen zu erheben. Auch bey solchen Menschen, die noch nicht gänzlich dem Reiche Gottes angehören, ist doch durch die Kraft und das Licht des Evangelii ein Gefühl erregt fürs Heilige, das sie freylich noch oft verletzen, gegen das sie sich aber nicht mehr offen zu empören wagen. So ist also schon durch die Kraft des Glaubens der Wahrheit ein Heiligthum erbaut, das nicht mehr zerstört werden kann vom Geiste der Lüge. So ist die Lüge und Wahrheit in Absicht auf ihre Macht und Herrschaft in einem engen Raum eingeschlossen, und alles Übrige ist uns als Feld übergeben worden, das wir anbauen sollen um liebend streitend und belehrend der Wahrheit immer mehr Raum zu gewinnen, und das Unkraut, das der Feind dieser Geist der Unwahrheit in die Gemüther geführt hat, mit schonender aber auch mit kräftiger Hand auszurotten, und den Boden zu reinigen für den Saamen des göttlichen Wortes. Aber wollen wir zu diesem Zwecke gelangen, so bedürfen wir, wie viel auch geschehe, fortwährend dieses Muthes und Kampfes. Auf eine unerschrockene Weise, mit einem Eifer der es ausspricht, daß uns nichts heiliger ist als was zum Reiche Gottes gehört, müssen wir uns dem Geiste der Lüge entgegenstellen und wenn wir auch nur gleichgültig scheinen gegen die Verletzungen der Wahrheit, gegen Frevel und Leichtsinn: so sind wir Schuld, wenn das Reich der Lüge sich weiter ausbreitet, wenn die Unwahrheit Kraft gewinnt, und das Licht, das sich immer weiter verbreiten sollte, auf einen engen Raum eingeschränkt wird. | 2. Was wir zu überwinden haben und nur durch die Macht des Glaubens überwinden können, das ist das Reich der Lieblosigkeit der Selbstsucht und Gewalt. Denn Gott ist die Liebe, und nur dadurch, daß diese herrscht, kann das den Menschen verheißene Heil näher und näher kommen. Auch hier müssen wir zurücksehn, was schon geschehn, wie schon die wahren Leidenschaften und Begierden der Menschen durch die Kraft des Glaubens gedämpft sind: so daß sie sich schon schämen der niedrigen Selbstsucht des Eigennutzes; aber auch hier ist beständiger Kampf und Streit nöthig, wenn dieser Geist der Habsucht und der Gewalt nicht weiter um sich greifen soll. Laßt uns nur unseren Muth stärken durch den Glauben, durch die gewisse Zuversicht, daß der Geist Gottes siegen muß über den Geist der Welt, laßt uns nur zu Hülfe nehmen die Bundesgenossen, die wir haben in der Brust die Freunde des Guten, und fest daran halten, daß obgleich wir überwunden scheinen, doch einen herrlichen Sieg davontragen werden. Da steht ja vor uns das Kreuz, als das Zeichen der scheinbaren Unterjochung und Niederlage, und doch ist es das Sinnbild des Sieges. Dem laßt uns folgen, mit dieser Kraft des Glaubens streiten: so wird er der Sieg seyn, der die Welt überwunden hat. Amen.

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Am 18. August 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 14,1 Nachschrift; SAr 26, Bl. 61r–64v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 99r–105v; Matthisson Keine

S. den 18. Aug. 1811.

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Das Gedeihen der christlichen Kirche hängt nicht allein ab von jenen großen allgemein gültigen Gesetzen, deren Befolgung ohne Unterschied jedem, der sich zu dieser Gemeinschaft des Herrn bekennt, obliegt, und von dem Gehorsam gegen welchen, aller Unterschied, den wir sonst nicht unter den Menschen bemerken und gelten lassen, billig ganz verschwindet; also auch nicht allein von den großen allgemein in die Augen fallenden Wirkungen, welche diese hervorbringen, sondern auch von dem stillen, mehr verborgenen Wirken des Einen auf den andern, von dem wichtigen Verhalten eines Jeden in solchen Verhältnissen, welche sich auf die Verschiedenheit der Menschen beziehn; und eben deswegen dem Einen auflegen Pflichten gegen den andern, welche dieser nicht gerade auf eben die Weise gegen jenen oder gegen andere zu beobachten hat. Wenn wir zum Gegenstande unserer letzten Betrachtung machten jenes große Gesetz der Eintracht für alle, welche als Jünger Eines und desselbigen Herrn und als Brüder in ihm und durch ihn leben wollen: so kann uns nicht entgehen, daß diese Eintracht sich nicht ausdehnen kann bis auf eine gänzliche Übereinstimmung aller in allen Dingen, daß die Vollkommenheit derselben darin sich zeigt, wenn sie besteht auch mit den verschiedenen Ansichten und Handlungsweisen, welche unter einer großen Menge immer entstehn müssen. Vorzüglich wichtig ist jene nur zu häufige Verschiedenheit der Meynungen über das, was sich sowohl als unmittelbare Darstellung des Glaubens in dem, was sie für wahr und gut hält, zu erkennen gibt, als auch in Absicht auf das, was die Werke betrifft. Fragen wir, woher diese Verschiedenheit besteht, wir 1 Abk. wohl für Sonntag 14 Die Predigt vom 4. August 1811 vorm. ist nur durch das Berliner Intelligenz-Blatt belegt.

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finden sie bald begründet in der Verschiedenheit der Menschen überhaupt, wonach dieser dasselbe so, der andere anders ansieht; aber diese Verschiedenheit kann immer nur Einzelne betreffen, und muß verschwinden in jener allgemeinen Eintracht in der sie die Christen befinden und zu der sie durch das Evangelium immer mehr gelangen sollen; bald finden wir sie entstehen dadurch, daß sich unter den Gliedern der Gemeinde solche einschleichen, denen der geistige Glaube fremd ist, und die unter dem Scheine des Christlichen Unchristliches suchen für sich geltend zu machen und andern zu empfehlen. Das ist eine Verschiedenheit, gegen die wir uns alle mit kräftigem und immer erneuertem Widerstand anlehnen sollen; – bald auch darin begründet, daß wie das Wort Gottes Fleisch geworden ist, wie der Geist Gottes wohnt in der zum Theil sinnlichen und irrdischen Natur des Menschen, eben deswegen | auch die Wahrheit nie in ihrem ganzen Glanze erscheint und aus dem Innern der Menschen das Gute selten ganz rein sich offenbart in seinen Handlungen. Daher sich denn Irrthümer in den Glauben und in die Handlungen der Christen einschleichen, welche wenn sie wahrgenommen werden, durch die Kraft der Wahrheit sollen überwunden werden. Einige gehn voran, in ihnen ist das Licht heller; in ihnen offenbart sich die Kraft Gottes mächtiger als in anderen; andere bleiben zurück, weil sie nicht dasselbe Maß von Kräften und Einsichten empfangen haben; sie hängen an dem; was sich ihnen als Wahrheit dargestellt hat, und es gewinnt Ansehen und Kraft, ist es so lange für Wahrheit gehalten worden und so erscheinen immer einige als die Freyen, Fortgeschrittenen, als die Vollkommenen im Glauben, andere als die Schwachen, Ängstlicheren, als die welche sich jener Freyheit nicht zu bedienen wagen. Und wenn wir uns richtiger Vorstellungen vom Guten und Wahren bewußt sind, diese Schwächern richtig zu behandeln, welche eben, ungeachtet sie mit gleicher Treue des Herzens mit gleicher Liebe zum Guten nach dem Reiche Gottes trachten, in der wichtigen Erkenntniß ihrer Pflicht und Bestimmung uns nachstehn, das ist gewiß eine große wichtige Angelegenheit für Jeden der sich werth fühlt der Erleuchtung und der Mittel, die Gott jedem späteren Zeitalter vor den früheren reichlicher gewählet, für jeden, der mit dem ihm anvertrauten Pfunde zum Besten der Menschen wuchern will. Röm 14, 1.

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Jedem fleißigen Leser der christlichen Urkunde wird bekannt seyn, worauf sich diese Worte beziehn. Durch die ganze Verfassung des Jüdischen Rathes durch die Art seines Gottesdienstes und durch alle die darauf sich beziehenden Vorschriften hatte sich eine Trennung zwischen ihm und andern Nationen festgesetzt, so daß ihm bey der strengen Verehrung des einzigen wahren Gottes nichts mehr ein Greul war; als Berührung mit denen, die das 32–33 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–27

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ewige Wesen verwandelt hatten in irrdische und vergängliche Gestalten und darum suchten sie sich zu hüten vor allem, was eine Gemeinschaft mit ihnen verrathen konnte. Durch die Verkündigung des Evangelii sollte diese Scheidewand aufgehoben werden, und derselbige Apostel, der jene Vorschrift gibt, kündigt es als eine bisher verborgen gebliebene unter den Rathschlüssen Gottes an, daß Juden und Heiden in die Gemeinschaft des Herrn aufgenommen werden sollten, daher viele aus den Juden, welche noch hingen an den alten Vorschriften und den Buchstaben vom Geiste nicht trennen konnten, und durch ihre Ängstlichkeit jene große Absicht unter allen Gläubigen eine Gemeinschaft zu stiften, hinderlich waren. Der Apostel sieht dieß als eine Krankheit an und bezeichnet die so gesinnten: die Schwachen im Glauben, und so enthält denn das Übrige eine Vorschrift, welche wir auch auf unsere jenen ähnlichen und fortbestehenden Verhältnisse anzuwenden haben. Diejenigen, welche bey treuer Anhänglichkeit an den Gesetzen des Christenthums bey herzlichen Glauben an den Erlöser | doch zögern an jedem weiteren Fortschreiten der Erkenntniß und Erleuchtung Theil zu nehmen, es geschieht bey ihnen aus demselben Grund, als jene sich der Aufnahme der Heiden ins Christenthum widersetzten. Sie verwechseln nämlich das Fortschreiten der Erkenntniß mit dem Scheine davon, eben wie jene durch die gänzliche Wegräumung aller Hindernisse das Wesen des Höchsten zu verletzen fürchteten. Laßt uns dieß ansehen als Verschiedenheit unsers Verhaltens gegen die Schwachen im Glauben. Zuerst laßt uns dieß festhalten, daß wir von dieser krankhaften Beschaffenheit unserer Mitchristen Kenntniß nehmen und der gemäß ein Verfahren gegen sie uns zur Pflicht machen müssen und zweitens zeigen wie die Vorschrift des Apostels auch jetzt und in jeder Beziehung genügen kann. I. Es möchte für viele schon an sich nicht überflüssig seyn, ihnen erst zu zeigen, daß gegen die als Schwache bezeichnete uns eigene bestimmte Pflichten obliegen, aber auch für die welche sich davon überzeugt halten, ist es heilsam zum deutlichen Verständniß davon zu reden. Es ist eine jetzt gewöhnliche Gesinnung, daß man denkt, man müsse jeden seinen Weg für sich gehen lassen; ja, wer die besondere Pflicht auf sich habe zu lehren, der lehre; wem es als ein bestimmtes Geschäft aufgegeben ist, für die Bildung des Geistes zu sorgen, der verrichte dies Geschäft in seinem ganzen Umfange und nach bester Überzeugung; aber wer einen solchen Beruf nicht hat, der bekümmere sich nicht darum, wie seine Mitbrüder gesinnt, er suche nur sein eignes Gewissen rein zu erhalten, und immer doch streng zu handeln. Aber m. Fr. daß das nur nicht eine Denkart ist, welche zusammenhängt mit der, die sich so verderblich gezeigt mit Mangel an Gemeinsinn einer Bruderliebe an herzlicher Theilnahme an dem innern Ergehen unserer 4–7 Vgl. Röm 3,29–30

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Mitchristen. Ja sie kann nichts andres seyn als dieses; denn wenn wir unseren Bruder wahrhaft lieben, wie könnte es uns gleichgültig seyn ob er in demselben Lichte wandelt, zu eben der Einsicht und richtigen Erkenntniß seiner Pflicht und Bestimmung gelangt ist wie wir, wie könnte es uns einerley seyn, ob er zunehme oder nicht in jeder Erkenntniß und allem was löblich ist vor Gott und den Menschen. So sagt uns auch das Wort Gottes durch den Mund desselbigen Apostels: Jeder sey bereit Rechenschaft zu geben von dem Glauben in ihm, und auch unsere Pflicht ist es, jede Erkenntniß und Handlung zu rechtfertigen vor denen, die noch nicht beydes mit uns theilen können, und welche eben so wie wir für sich besorgt sind, daß wir auf unrichtigen und gefahrvollen Wegen wandeln. Und laßt es uns ihnen nicht selbst überlassen, weil ihnen zu derselben Quelle die Erkenntniß dessen was recht ist und gut eröffnet wäre, weil in ihnen ja derselbe Geist wohne, der uns treibt und bewegt, – mit sich und uns aufs Reine zu kommen; es wäre Gefühllosigkeit und Hartherzigkeit | wir würden uns schuldig machen des Ärgernisses das wir nicht als von ihnen ohne unsere Schuld genommen, sondern als mit unserer Verantwortlichkeit ihnen gegeben betrachten müssen, weil wir eine der wichtigsten Pflichten verletzt haben. Aber das nicht allein; sondern, weil es eine Krankheit ist, so müssen wir wohl untersuchen, ob es nicht eine ansteckende Krankheit sey, wodurch das Übel noch größer und allgemeiner wird, und so, m. Fr.[,] so ist es. Wenn die Schwäche unserer Mitbrüder von der wir reden, eine Beschränktheit des Erkennens, des Verstandes ist, gegründet darauf, daß der Mensch sich nicht losmachen kann von dem, was durch die Zeit einen äußern Werth erlangt hat, wenn es aus jener zu großen Anhänglichkeit an den Buchstaben herrührt, eine solche Gewalt den Menschen zu entgegnen pflegt, was können wir anders sagen, als daß beydes seinen Grund hat in der Furcht, von welcher die Liebe ausgetrieben ist. Aber wer da fürchtet etwas zu thun oder zu unterlassen, wovon er das Gute nicht einsieht, dem fehlt die Freyheit des Geistes, der befindet sich in der Knechtschaft der Furcht; und daß die Furcht ein ansteckendes Übel ist, das wissen wir alle, daß sie sich leicht verbreitet unter dem schwachen Gemüthe, das zeigte sich von jeher auf allen Gebieten des Lebens, und auch im Gebiete der Religion. Ja es hat diese Denkart auch einen entscheidenden Einfluß darauf, daß auch die Kinder dieser Welt, welche bisher im Dienste der Sünde und der Sinnlichkeit gelebt haben, sollen herübergelockt werden in das Gebiet der Tugend und Wahrheit und Theil nehmen an den Wohlthaten der göttlichen Erleuchtung. Aber was zuerst in diesen Menschen entsteht, wenn sich jenen zuerst der Gedanke des Evangelii aufdringt, das ist die Furcht; denn wir wissen, daß jeder Mensch, der aus dem Dienste der Sünde kommt den Höchsten eher fürchtet als liebt. Alle diese, kommen sie zuerst in die Hände der Schwachen, ver7–8 Vgl. Röm 14,12

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wechseln bloß den Zustand der Dienstbarkeit; sie gehen aus einer Knechtschaft in die andere über, von der wenn auch nicht so harten und schimpflichen als der früheren, sie doch auch erst von neuem einer Erlösung bedürfen. Ja wie alles Gute dem Verderben ausgesetzt, wenn verkehrte Einsicht und falscher Eifer hinzukommt: so ist es natürlich daß alles Unheil und Verderben welches die Geschichte aufzuweisen hat, alle die Leiden und Verfolgungen, welche Unduldsamkeit, Härte und verkehrtes Bestreben die auf irrigen Wegen des Glaubens wandelnden herüberzuleiten auf den richtigen, gar zu häufig über die christliche Kirche gekommen ist, von denen ausgegangen, welche die Schwachen im Glauben in unserem Texte genannt werden, und denen sich die Stärkeren und Vollkommneren nicht annehmen wollten. Daher auf welchen Theil unsers Berufs wir sehen, auf unsere Rechtfertigung, auf unsern Antheil an der Vorbereitung des Evangelii, auf unsere Pflicht, die geistigen Güter der Wahrheit, des Glaubens, der Tugend den künftigen Geschlechtern zu erhalten, niemals dürfen wir ver|nachlässigen die Schwachen, wir müssen uns vielmehr eine Regel des Verhaltens gegen sie bilden, die wir unter allen Umständen treu befolgen. Welches nun ist die, welche uns der Apostel in unserem Texte gibt, und die vollständig auch jetzt fürs ganze Leben hinreicht: „Die Schwachen nehmet auf und verwirret die Gewissen nicht.“ Das ist die Regel des Apostels. Wir sollen sie aufnehmen, uns in Gemeinschaft des Geistes mit ihnen setzten, ihnen auf jede Weise zu Hülfe kommen und beytragen zur Stärkung, Erleuchtung und Heiligung ihres Gemüthes, aber so daß wir ja die Gewissen nicht verwirren. Wenn wir uns dies mehr vereinzeln und näher vor Augen halten: so finden wir folgendes darin. Wir gehn davon aus, diese Schwäche ist ein Irrthum, es ist derjenige Zustand, in welchem das Licht der Wahrheit durch das Dunkel, welches früher sie drückte, noch getrübt ist; aber der Irrthum ist nicht allein im Gemüth, er verbreitet sich auch nach außen, und daher bringt er auch verkehrtes Verhalten hervor. Was ist nun die Pflicht gegen die Schwachen? Die, sie innerlich zu heilen, ihnen zur Erkenntniß der Wahrheit zu verhelfen, jenes verdunkelte Licht zu seinem ursprünglichen Glanze zu erheben; aber dann auch besonders dem vorzubeugen, was aus ihrer unvollkommnen Einsicht in das Leben einfließt. Was der Apostel vorschreibt das ist nur, daß wir in diesem Geschäfte die natürliche Ordnung (der Gemeinschaft) nicht verletzen sollen. Von nichts anderm als von der Überzeugung kann die Heiligung ausgehn; aber es gelingt Niemandem, zu überzeugen, wenn er nicht zuvor Vertrauen erweckt, und noch weniger Verirrungen im Leben vorzubeugen, wenn wir nicht die richtige Überzeugung hervorbringen, welche allein im Handeln sicher leiten kann. Zuerst laßt uns die Schwachen aufnehmen dadurch, daß wir uns selbst rechtfertigen; denn dieses bedürfen wir immer vor ihnen. Was uns von ihnen scheidet, ist ja, daß wir uns von Vorstellungen losgemacht haben, die sie für wesentlich halten, die aber für die Wahrheit nur Stützen waren, in wiefern die Menschen noch nicht bis in

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den innersten Grund der Erkenntniß durchgedrungen waren, und darum waren sie im Widerspruch mit vielen Verhältnissen des gemeinsamen Lebens; darum wurden von ihnen, die im Frieden mit der Welt lebten angesehn als im Streite lebend mit dem Glauben; daher glaubten unsere schwächern Mitbrüder, daß wir uns von allem religiösem Zwange nur losgesagt haben, um der Welt zu gefallen, daß wir eben mit uns selbst im Widerspruche stehn, daß wir es ihnen aber verbergen, um auch als reif und stark vor ihnen zu erscheinen, und um dem Spotte, dem alle, die noch etwas glauben ausgesetzt sind, zu entgehen. Eben so ist es auf der Seite des Handelns. Dem Schwächeren versagt sich manches, was zum frohen Genuß zur unschuldigen Freude des Lebens gehört; dem Freyen erlaubt es sich, und beruht | sein zeitliches Leben auf Genuß und Wohlstand, und wie jene dieß als für sie unerlaubt und mit ihren Pflichten streitend ansehn, so glauben sie von ihnen, sein Gewissen spreche dasselbe, verdammen ihn auf gleiche Weise; aber er betäube die Stimme seines Gewissens, weil er nicht ganz von irrdischer Glückseligkeit lassen könne. Diesen Verdacht müssen wir erst bey unsern schwächern Brüdern vertilgen und dadurch sie aufnehmen, und eher lassen die sich nicht aufnehmen. Und wie leicht ist das, wenn wirs ernstlich meinen. Sind wir deswegen, weil wir zu helleren reineren Einsichten gelangt sind[,] sind wir darum nicht mehr im Kriege mit der Welt; hört der Gegensatz zwischen den Kindern der Welt und den Kindern Gottes auf, wenn diese es in einem höheren Grade geworden sind? Und wenn wir fortfahren zur Grundlage unseres Glaubens Treue und Gewissenhaftigkeit zu machen, wenn wir festhalten an den Hauptvorschriften des Christenthums, wenn wir des Evangelii uns nicht schämen, keine Gelegenheit vorbeilassen, daß zu zeigen – können dann die Schwachen noch glauben, daß unsere reinere Einsicht, und diese gemäße Handlungsweise nur ihren Grund haben im Bestreben der Welt zu gefallen; wenn wir im Streite gegen die Kinder dieser Welt keine Aufopferung scheuen, wenn wir nur das Gute und Wahre suchen und jedem zeitlichen Vortheile um dieser Hauptabsicht entsagen, wenn wir der Treue gegen unsere Pflichten uns keine Ausnahme erlauben, aber dann auch nicht unterlassen für unser äußeres Leben und für die Zukunft Sorge zu tragen, wenn wir auch hierin der Einsicht der Gesinnung treu bleiben, wenn sich unser ganzes Leben und Wille rein zeigt – dann werden unsere schwächern Brüder nicht glauben können, daß unsere freyere Art zu seyn und zu leben in irgend einem Verderblichen seinen Grund habe, und dazu fehlt es uns nicht an Gelegenheit; es bedarf keines besondern Berufes; denn so geordnet ist das Leben, daß jeder auf einem Posten steht in diesem heiligen Kriege, und daß jeder sich aufgefordert fühlt, aufzuopfern, sich zu versagen, und sich stark und muthig zu zeigen im Streite. Und wenn wir nicht nachlässig sind in der Arbeit, wenn 27 diese] dieser

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jener strenge Sinn in uns ist – ob wir dann auch verkannt werden von den Schwachen, laßt uns geduldig warten, die Zeit wird uns rechtfertigen; sie werden erkennen, welcher Geist in uns wohnt, und einsehn, daß es kein anderer seyn kann, als welchen Gott seinen Kindern sendet. Haben wir so ohne es auf eine andere Weise zu suchen, nur dadurch, daß wir kaum unsern Weg gehen, das Vertrauen der Schwachen gewonnen, können wir anfangen, sie zu überzeugen, ihnen unsere Grundsätze darzulegen, sie in allem auf die Gründe unsers Denkens und Handelns aufmerksam zu machen: so laßt uns dahin sehen, daß wir sie nicht eher, als sie zur festen eigenen Überzeugung gelangt sind zur Nachahmung unsers Lebens auffordern, denn das verwirrt unfehlbar das Gewissen; vielmehr laßt sie uns aufrufen, | ihrer eigenen Überzeugung treu zu bleiben, laßt es uns überall darstellen als eine heilige Pflicht, der eignen Einsicht und Überzeugung stets zu folgen, weil ja alles, was nicht aus dem Glauben aus der Überzeugung kommt Sünde ist. Wollten wir dieß Geschäft übereilen, wollten wir sie Theil nehmen lassen an unsrer freyen Handlungsweise, damit sie gleichzeitig im Erkennen und Handeln fortschreiten, wir werden bald sehn, daß dieß ohne Versündigung nicht abgehn kann. Irgend etwas muß den Menschen treiben zum Handeln, ist es nicht die innere Überzeugung, die Stärke der erkannten Wahrheit, so muß es etwas seyn, dem er eigentlich nicht Gehör geben sollte, und wenn wir durch die Überlegenheit des Geistes, durch [den] wir sollten Einsichten [und] Ansehen bey ihnen erlangt haben wie leicht ist es dann, daß eine Furcht an die Stelle der andern trete; es war die Furcht vor Gott, die sie vorher blind bewegte; es ist denn die durch die Achtung vor uns und der Wahrheit erzeugte Furcht vor unserem Ansehn und der Stärke des Geistes, oder vielleicht gar eine Furcht vor der Geringschätzung der Welt, die ihnen zu Theil werden könnte, wenn sie sich uns und unserm Leben nicht gleichstellten. Aber wenn was sie thun nicht aus dem Glauben kommt, es ist innere Sünde, wie es gemeint ist, und was wir so gestiftet haben; ist nur Verwirrung der Gewissen, es ist nichts als Unrecht, bald folgt die Reue ihm nach, wenn sie uns ansehn müssen als die, welche ihnen diese Schmerzen des Gemüthes bereitet haben, so wird alles Vertrauen wieder erlöschen. Aber dann auch m. Fr. es kann wohl seyn, daß wir unsere schwächeren Brüder zu der Klarheit der Einsicht erheben, daß sie uns wahren Glauben beymessen, und die Wahrheit und alle Verhältnisse in demselbigen Licht betrachten, wie wir, und daß es doch besser wäre, sie blieben bey ihrer gewohnten Handlungsweise, weil diese allein eine richtige und beruhigende Anwendung des Gewissens seyn kann. Nicht allen steht dasselbe an; nicht allen ist alles auf gleiche Weise erlaubt. Jeder Mensch hat seine Versuchungen, jeder eine schwache Seite, jeder irgend eine Gegend, wo er mit Strenge gegen sich verfahren muß, wenn er sich nicht verwickeln lassen will in die verderbliche Bande der Sünde. Darum laßt uns die Gewissen nicht verwirren, und unsre Handlungsweise zur Richtschnur aller machen

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wollen; was uns unschädlich ist, was wir mit Freyheit thun können, das könnte doch ihnen gefährlich werden, für ihre Sinnlichkeit eine verderbliche Seite an sich tragen, und sie mit Banden der Gewohnheit umschlingen, aus denen sie dann nicht wie sie wollten sich zu befreyen im Stande wären. Darum m. Fr. lasset uns die Gewissen nicht verwirren, nicht darauf müssen wir bey unserem Betragen gegen die Schwachen ausgehen, daß sie unsrer Meynung folgen, nach unserm Beyspiele sich richten, sondern nur darauf, daß sie das uns Erlaubte in unsrer Lebensweise aner|kennen, und dann prüfen, ob was uns erlaubt ist, es auch ihnen seyn möge, nur so bleibt ihnen das Gewissen rein, nur so Einigkeit und Friede mit sich selbst, nur so ihr Glaube selbstständig. [II.] Das, m. Fr. das ist die Vorschrift des Apostels. Aber viele könnten glauben, es wäre gerade jetzt nicht die Zeit, daran zu erinnern; eine lange Reihe von Jahren habe man gerade unter uns, in unserer Gemeinschaft daran gearbeitet, alle Irrthümer zu vertreiben, alle Schwachheiten zu heilen, und zurückgezogen von der größern Gemeinschaft mit der Welt, scheltend und nicht wagend hervorzutreiben ob wir wären die Schwachen in unsrer Zeit. Ja wohl, und ja leider ist es so. Nicht mit der Weisheit, welche der Apostel empfiehlt ist seit dem Entstehen der christlichen Kirche gehandelt worden gegen die Schwachen, nicht mit Sanftmuth hat man sie aufgenommen, und nicht hat man sich gehütet die Gewissen zu verwirren. Es sind gebraucht worden gegen sie die Waffen der Gewalt der List, und dann wieder[,] so ist man verfahren in diesem[,] die Wahrheit; als habe man es nur mit einem leichten Spiele des Lebens zu thun, und auf tausendfache Weise hat man die Gemüther verwirrt. Wie viele sind in diesem Tumulte, bey dieser lieblosen Härte ihrem Gewissen untreu geworden, die auf ihren eigenen Punkt der Einsicht zurückgeführt viel glücklicher sein und wahrhafter glänzen würden als jetzt, auf ihrem gegenteilig schimmernden Punkt den sie durch ihre innere Reife nicht verdienen. Und wie stehts denn um den großen Haufen, der alle Schwachheiten schon [im] Geist abgelegt zu haben scheint, ist es die geistige Freyheit oder der frevelhaftere Leichtsinn, der alle Schwachheit und Verehrung des Höchsten schon längst abgelegt hat und dem alle Tugend nichts weiter ist als eine verwickelte Kunst, das Leben täglich zu benutzen und von sinnlichen Gütern und Genüssen so viel als möglich zusammen zu häufen. Eben darum ist es eine desto größere Pflicht, die Schwachen aufzunehmen, denn dieser große Haufen, was hat er mit uns gemein, die Christum als ihren Herrn anerkennen, und in der Einfalt thun was zur Befestigung der Liebe zur Annäherung an Gott führen kann? Freylich mögen sie oft uns für ihres Gleichen halten wenn sie uns auf eine feige Weise das Leben führen sehen und die dann unserm Beyspiele fol34 so] zu

39 Gleichen] Gleiches

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gend auch höhnisch und spottend herfallen über die Ängstlichen und Gewissenhafteren. Ihnen müssen wir uns nähern, sie aufnehmen, zwischen ihnen und uns das Band der Liebe befestigen woraus allein wieder hervorgehn kann eine Gemeinschaft des Höchsten und ein gemeinsames Kämpfen gegen die leere hohle Weisheit der Welt und den hochherfahrenden verwerflichen Sinn, den nur der Friede des Gewissens und auch nur das besiegt weil er nichts ist als Selbstsucht, was das beschränkte aber treue gewissenhafte Gemüth in der Stille Gutes stiftet. Ja wohl ziemt es uns jetzt, daran zu erinnern, damit aus dieser großen aufgeblähten Masse sich wieder ein kleines Häuflein befreunde welches zu sich halte welches dankend handelnd und lobend sich fördere im Erkennen und im Gehorsam aus welchen allein unser wahres Glück und Heil hervorgehen kann. O laßt es uns körnerweise zusammenlesen das Salz der Erde, damit es in der Zerstreuung nicht allmählig und geistig dumm wird, jedem die Hand reichen, in dem noch Verehrung ist gegen Gott und Glaube an den Erlöser, und alles andere hintansetzen weil wir doch in diesen Wesentlichen übereinstimmen, und weil alles übrige nur Schein ist was uns trennt. So wird sich die wahre Bruderliebe, die Einigkeit der Gemeinde wieder gestalten und so können wir alle die Pflichten, die wir gegen das jetzige oder um eine tröstliche Aussicht zu eröffnen gegen das kommende Geschlecht haben, erfüllen, die Pflicht, den Geist des Christenthums die heilige Ehrfurcht vor dem Höchsten rein zu erhalten und unverfälscht zu überliefern. So wahr uns das Gute am Herzen liegt, so wahr wir fühlen, daß es allein in der Gemeinschaft des Glaubens vollendet werden kann so gewiß laßt uns die Vorschrift des Apostels ernst befolgen, so gesehn als die erste Regel des Lebens, die so lange und so sehr zum Schaden des Menschengeschlechts verwendet worden ist. Aus solcher Liebe und Treue zu dem Höchsten wird die wahre Duldsamkeit hervorgehen, eine andere und wirksamere als die welche unter einem Schattenbild und auf denen welche aus dieser Zeit geboren sind, sich so viel zu gute thun, damit immer auch bereiten ein Fortschreiten im geistigen Leben und in der Wahrheit, in welchem sich deutlich offenbaren kann der Unterschied zwischen den Kindern dieser Welt und den Kindern Gottes. Amen.

12–13 körnerweise] körnweise 13–14 Vgl. Mt 5,13

20 eröffnen] eröfnen

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12. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 12,11 Nachschrift; SAr 26, Bl. 65r–68v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 107r–111v; Matthisson Keine

Sonntag den 1. Sept. 11.

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Manche werden sich gewundert haben, durch den Gesang, den wir gemeinschaftlich eben vollendet, aufgemuntert zu werden zur Geduld, weil sie wohl wissen, wie zweideutig das ist, was so oft unter diesem Namen gepriesen und empfohlen wird, und wie wenig gerade zu der Zeit, wo wir leben, die Menschen, die so leicht nach dieser Seite hin mißverstehen, zur Geduld sollten aufgefordert werden ohne, was die Schrift darunter versteht, was unser Gefühl damit übereinstimmend dafür anerkennt, wohl zu unterscheiden von dem, was nichts ist als verwerfliche Schwäche. Aber eben diesen Unterschied wollen wir aufsuchen und das ist wohl gerade zu der jetzigen Zeit, unter den gegenwärtigen Umständen etwas für uns von der größten Wichtigkeit. Mit wenigen Worten wird es sich darlegen lassen, daß wie es zweierley Hoffnung gibt, die eine, welche nicht zu Schanden werden läßt, weil sie nur auf die Früchte einer angestrengten besonnenen Thätigkeit rechnet und eine andre, die nur harret und wartet, und von der wir wohl wissen, was für einen Ausgang sie hat: so auch eine zweifache Geduld, und die eine ist die, welche nur leidet und erträgt. Auch diese ist vortrefflich, wenn die Gewalt der Natur dem Menschen seine Thätigkeit unmöglich macht; wenn er von der Macht der Krankheit daniedergebeugt wird, dann nicht kleinmüthig zu werden, dann nicht durch äußern Schmerz den Frieden im innern Gemüth stören zu lassen, nicht wankend zu werden in seinen edlen Gesinnungen, sondern mit Geduld das Unvermeidliche zu ertragen; aber auch gewiß nur da wird das möglich seyn, wenn der Leidende alle Mittel anwendet, wenn er alles thut, was ihm noch in seiner Kraft steht, und eben darum ist die Geduld des Menschen da, wo er es mit entgegenstehen24 ihm] ihn

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den Kräften zu thun hat, denen er Widerstand leisten soll und darf nur eine harrende leere und verwerfliche. Aber die andere Geduld, die thätige welche darin besteht, daß durch alle Widerwärtigkeiten und Hindernisse und Trübsaale der Mensch sich nicht abwendig machen läßt von dem einmal vorgesteckten Ziele, und daß er bey allen Leiden und Widerwärtigkeiten nicht bloß erträgt und duldet, sondern auch lebt und handelt und die Hindernisse bekämpft und überwindet, das ist die Geduld, die Gottes Gebot erfüllt, und die sich durch nichts von diesem Streben stören läßt. Sie ist es von der in der heiligen Schrift die Rede ist. Denn das Wort was in unserer deutschen Bibel durch Geduld ausgedrückt ist, heißt eigentlich Ausdauer | Beharrlichkeit; es schließt den Begriff der Thätigkeit in sich, und nur sie mag man mit Recht die Krone aller Tugenden nennen; sie ist das Gegenstück zur Tapferkeit, welche wir in einem unsrer früheren Vorträge als eigenthümliche Tugend des Christenthums dargestellt haben. Denn wenn diese nur plötzliche gewaltsame aber auch schnell vorübergehende Angriffe zu bekämpfen hat: so hat die Geduld es zu thun mit den kleinern aber sich immer erneuernden Anfechtungen und Widerwärtigkeiten des Lebens, welche wir wissen es wohl, mehr den Muth niederdrücken und den Geist schwächen, als jene großen heftigen Angriffe. Sie ist es daher, welche allen anderen Tugenden ihren Werth gibt. Denn was der Mensch sonst Gutes an sich haben und schaffen mag, wenn er müde wird, sich durch die entgegenstehenden feindlichen Kräfte sich abschrecken läßt vom Kampfe und Streite: so ist von dem Augenblicke auch das Gute selbst anzusehen als erstorben und es verliert allen frühern Werth. Wie ohne diese Tugend nicht möglich ist zu wachsen und fortzuschreiten im Guten, wie sie gerade vergänglich eins von den Mitteln gewesen ist, durch welche das Reich Christi gestärkt, gemehrt und weiter ausgebreitet worden ist, das muß Jedem einleuchten. Laßt uns in dieser Stunde diese wichtige Pflicht der Geduld näher ins Auge fassen und uns gemeinschaftlich derselben ermuntern. Röm. 12, 11. „Seyd nicht träge, was ihr thun sollt.“ Viele herrliche kräftige Sprüche der heiligen Schrift enthalten die kräftigsten Ermunterungen zu der unüberwindlichen Beharrlichkeit und Ausdauer, von der wir reden wollen. Wenn der Apostel an einem andern Orte sagt: laß dich nicht das Böse überwinden, sondern überwinde das Böse im Guten – wie lebhaft stellen uns diese Worte den Zustand des Streites dar, worin wir nicht müde werden sollen. Oder wenn er ausruft: laßt uns Gutes wirken 6 nicht] er nicht 34–35 Röm 12,21

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und nicht müde werden – wie hält er uns eben dadurch das größte Ziel vor, das wir nur durch Beharren durch unermüdete Anstrengung erreichen können. Wenn der Erlöser selbst zu seinen Jüngern sagt, indem er sie aussandte, sein Wort zu verkündigen: Wer beharret bis ans Ende, der wird selig werden. Wie lebhaft bringt uns das vors Gemüth, wie alle noch so großen Anstrengungen dennoch ihren Werth verlieren, wenn wir nicht bis ans Ende beharren, nicht mit unablässiger Beharrlichkeit auf dem betretenen Wege bis zum Ziele fortgehen. Dennoch habe ich vor allen anderen herrlichen Sprüchen zur | Grundlage unsrer Betrachtung gerade diesen weit ruhigern, weit weniger kräftig und erhaben klingenden Spruch gewählt, weil darin zugleich das bestimmt nahmhaft gemacht wird, was die Meisten in ihrer Vervollkommnung zu hindern pflegt, nämlich die Ausdauer im Guten. So laßt uns denn im Sinne des Apostels reden über die Beharrlichkeit im Guten und zwar 1. zuvor überlegen, welches das Gebiet ist, in welchem diese Tugend ihre Anwendung findet und 2. sehen, welches die Hindernisse sind, die wir dabey zu überwinden haben. I. Welches ist das Gebiet des menschlichen Lebens, in dem diese thätige Geduld, diese unwandelbare Ausdauer bey dem was wir als nothwendig gut und recht erkannt haben, ihre Anwendung findet. – Wir können alles, was dem Menschen in diesem Leben, was vornehmlich dem Christen auf dem Wege zum Heil obliegt, aus zwei Gesichtspunkten betrachten[,] a. daß wir uns selbst innerlich dadurch bilden und gestalten sollen in die Züge, die uns durch das Vorbild Christi ins Gemüth gezeichnet sind, um des großen Namens wonach wir das Ebenbild Gottes heißen, werth zu seyn, und b. daß wir auch außer dieser inneren Bildung, jeder für sich und alle, außer uns[,] in der Welt uns darstellen als die, welche darin das Reich Gottes zu bauen, zu bilden und zu schaffen haben. Was das erste betrifft, so wissen wir, daß wir niemals damit zu Ende kommen, daß wir das Ziel der christlichen Vollendung nicht erreichen. Beharrlich seyn im Allgemeinen ist also auch da nothwendig, nur nicht bey einem und eben demselbigen. Denn was wir in dieser Beziehung auch thun mögen, es muß uns in unserer Heiligung fördern, wofern es nur etwas Gutes ist. Es läßt sich wohl eine unvollkommne Gemüthsart denken, die ermangelnd dieser thätigen Geduld der standhaften Ausdauer, etwas beginnt, das Begonnene bey eintretenden Schwierigkeiten und Hindernissen wiederfahren läßt; aber dann nicht in Trägheit versinkt und dabey beharrt; sondern einen andern Weg einschlägt; diese wird doch nicht ohne Frucht in sich selbst bleiben. Ein Mensch von dieser Gemüthsbeschaffenheit wird doch in sich selbst in dem langsam fort15 welches] lches 4–5 Mt 24,13

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schreiten, was er seiner Natur nach seyn und werden kann, und eben dieß, alles, was wir thun, wenn es auch ehe wir den rechten Erfolg damit erreichen, wieder verschwindet, doch etwas zur innern | Bildung beygetragen hat, das ist der letzte Trost, der uns in jedem Falle bleibt. Aber eben dies zweite Gebiet, der gemeinsame Beruf aller, auch außer uns etwas zu thun, den Willen des Höchsten äußerlich darzustellen, und das Reich Gottes zu fördern durch die uns einwohnende Kraft seines Geistes, das ist es, wozu wir bey jedem einzelnen Rechten und Guten was wir zum Gegenstand unsrer Thätigkeit machen, jene Beharrlichkeit und Ausdauer gebrauchen; ohne welche wir immer nur träge heißen werden. Und das meinte auch der Apostel wenn er sagt: seyd nicht träge in dem, was ihr thun sollt; was ihr als euren Beruf erkannt habt, wozu euch die innere Stimme aufruft, darin beharrt, da werdet nicht müde und träge, da laßt nicht nach, überwindet jedes Hinderniß jede feindliche, sich widersetzende Kraft, da besiegt die Macht des Bösen durch die Macht des Guten. M. Fr. wie viel große und herrliche Wirkungen zeigt uns die Geschichte überhaupt, aber besonders die der anderen Gemeinschaften, die nur dadurch hervorgegangen sind, wie bewies sie, daß sie selbst nur zu Stande gekommen ist durch die unerschütterliche Beharrlichkeit Einzelner. Wie viel herrliche Anstalten zur Erleichterung menschlichen Elends, zur Hülfsleistung der Schwachen, zur Sorgfalt für die Guten, zur Bildung kräftiger Geschlechter sind so aus der Beharrlichkeit Einzelner hervorgegangen! Wie vielen erscheint es als Thorheit, wie mußte es jeder nur gemeinen Denkart so erscheinen, wenn Jahre vergingen, wo nur die ersten Grundsteine zu diesen Stiftungen gelegt wurden, wenn Jahre vergingen, wo sie verlassen und ohne Bedeutung jeder Witterung Preis gegeben dastanden, bis sie am Ende doch noch, wenn die des Glaubens und der Geduld Ermangelnden schon lange die Hoffnung aufgeben und selbst die Beharrlichkeit verloren hatten, ihr Auge aufzurichten, durch die Kraft und den Sieg des Glaubens und der Beharrlichkeit vollendet wurden. Aber freylich durch die eigne innere Kraft ein solches Werk zu schaffen und zu vollenden, dazu scheinen nur wenige Menschen berufen. Es gehört eine große Stärke des Willens, eine große Sicherheit des Gefühls dazu, die mitten unter Widerwärtigkeiten und Hindernissen die einmal erlangte Überzeugung festhält. Aber eben darum wollen wir in dem Maße als uns diese Kraft fehlt und der Beruf, auf eine abgesonderte Thätigkeit unsern Willen zu richten, wir wollen uns halten an den großen gemeinsamen Endzwecke der Gemeinschaft, welcher wir angehören. Daß es nothwendig ist, daß etwas Einzelnes und gerade zu dieser Zeit geschehe, daß wir gerade dieses betreiben und | etwas anderes hintenanstellen, dazu gehört ein Glaube, der nicht Jedermanns ist, auch nicht aller derer, die das Gute lieben und fördern wollen. Aber daß es nothwendig ist daß wir alle das Gemeinsame des Bandes, welches uns als Christen umschlingt, befördern helfen und nicht müde werden, dazu beyzutragen und in jedem Au-

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genblicke zu thun, was geschehen kann, nicht zu ruhn wenn dringendes Bedürfniß, oder innere Neigung ein Talent, kurz wenn irgend etwas uns laut ruft, davon ist Jeder überzeugt, und auch dieß ist ohne Beharrlichkeit und ohne unerschütterliche Ausdauer nicht möglich. Zu der Zeit, als Christus noch auf Erden wallte, und mit dem kleinen Häuflein der Seinen den ersten Grund legte zu diesem großen sicheren Gebäude, dessen Bewohner wir sind, da floß alles in das eine zusammen, das Wort des Herrn zu predigen jeder so weit seine Stimme reichen konnte. Das ist es wozu er sie auffordert in der Rede, deren Schluß also lautet: Wer beharret bis ans Ende, der wird selig werden. Dazu fordert er sie auf, daß sie hingehen in seinem Namen lehren, sich nicht abwendig machen lassen sollten durch Drohungen durch Widerstand oder durch die Gunst der Menschen, sondern in aller Reinheit und Lauterkeit ihr Wort erhalten und jeden Fußbreit Land vertheidigen, wie ein gutes Volk sein Vaterland gegen feindliche Angriffe und dazu alle Waffen, die ihnen gegeben wären, tapfer zu gebrauchen. Jetzt m. Fr. nachdem der Grundstein des Gebäudes gelegt, nachdem es selbst in allen Theilen ausgeführt und vollendet ist, und allen Wellen und Stürmen der Zeit getrotzt hat, jetzt ist der Beruf der Christen ein, wenn nicht anderer doch weit umfassenderer. Jetzt nachdem das Reich fest gegründet dasteht, soll auch alles in seinem Umkreis hineingezogen, alles geheiligt, alles von der Kraft des Geistes durchdrungen werden, und wenn wir fragen, welches die Mittel dazu sind, so finden wir Abstufungen die wie eine Kette zusammenhängen, in welcher kein Glied fehlen darf: Recht, Ordnung Gesetz als die ersten Mittel, die wilde Natur des Menschen zu bändigen, die Gewalt seiner Leidenschaften zu zähmen, die Sinnlichkeit zu beschwichtigen, daß es möglich wird, das höhere Leben in ihm von seinen Umhüllungen zu befreien und selbstständig zu gestalten; Bildung des Verstandes zur weitern Umsicht und Erkenntniß, welche den Menschen auffordern, aus dem engen Kreise seiner Begriffe herauszutreten, die Welt mit einem Blicke anzuschauen, wie er dessen würdig ist, der sie beherrschen soll, und immer die herauszufinden, an die er sich halten soll, das ist der vorläufige Beruf, in dem wir treu und beharrlich sein müssen, daß wir uns keines von den köstlichen Gütern rauben lassen, aus welchen | und durch welche allein das herrliche Werk des Herrn kann erbaut werden. Und dann die Liebe und der Glaube im Gemüthe, und das Festhalten derselben in der Führung des Lebens, der Muth und die Beharrlichkeit im Guten und bey dem allen die köstliche Freyheit der Kinder Gottes – seht da die große Kette von himmlischen Gütern, deren Vertheidigung, Erhaltung und Vermehrung uns allen obliegt, und worin mit Beharrlichkeit ausdauern eines Jeden Beruf ist. Dieß vorausgesetzt, laßt uns sehen, was es doch sey, was die Menschen, auch die sonst das Gute lieben und wollen, so zurückhält, und schwächt, daß sie noch nicht ans Ziel ge9–10 Mt 24,13

30 Vgl. Gen 1,28

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langt, müde werden und nicht beharren. (Es ist der weit verbreitete Fehler der Trägheit).

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[II.] Der Apostel sagt es in unserm Texte: „seid nicht träge, in dem was ihr thun sollt.“ Wenn Jemand zu ruhen wünscht von seiner vorigen Thätigkeit, wie angestrengt er gearbeitet, wie viel er geleistet haben möge, betrachten wir ihn da, wo er müde wird: so erscheint er doch nur als ein Träger. Sind denn plötzlich die Kräfte in ihm erstarrt, mit denen er bis jetzt wirkte, kann er beweisen, daß er länger damit zu wirken nicht vermöge? Indem er dieß thut, indem er lebt und sich seines Bewußtseyns erfreut, und noch irgendwie seine Kräfte anwendet; sollte er sie statt zu einer nichtigen Selbstvertheidigung, nicht vielmehr gebrauchen zur Förderung der gemeinen Sache? Nur durch die That, nur dadurch, daß er erliegt, kann er beweisen daß er beharrt habe bis ans Ende. Es gibt eine zweifache Gestalt dieser Trägheit, die wir näher ins Auge fassen müssen. Die erste ist die stumpfsinnige blöde Trägheit derer, welche nicht sehen, was sie thun könnten. Wenn sie es sähen: so würden sie wohl arbeiten; aber ihre Augen sind gehalten und darum sind sie zur Unthätigkeit erschlafft. Wie oft es so ist, davon mag wohl Jeder seine Erfahrung und Beobachtung hinlänglich überzeugt haben. Sehr oft ist diese Trägheit nichts andres als Folge eines verkehrten Eigensinns; der einzelne Mensch ist oft mit allen seinen Gedanken und Kräften auf das Eine gerichtet was er thun will, und auf Eine bestimmte Art und Weise, wie er’s thun will. Daran reibt er seine Kräfte auf, daran verzehrt er sein Nachdenken, und wenn es etwas gewesen ist, was nach richtiger Einsicht, was auf diese Weise wenigstens nicht gelingen konnte: so ist er verdrossen, | sein Muth schwindet und er versinkt in Trägheit. Diesen möchte ich zurufen: Schicket euch in der Zeit. Wir haben gesehn, wie groß, wie weit umfassend der Beruf der Christen ist; lasset uns nicht auf eine strafbare Weise mit allen unsern Sinnen und Trachten nur an Einem hangen und dieses auf eine einzige Art vollbringen wollen. Haben wir die Überzeugung gewonnen, daß dieß nicht auszuführen ist: so laßt uns nicht träge werden, sondern etwas andres ergreifen, und wenn es auf die eine Weise nicht geht, auf die andere zum Ziele führen. Daher ist aber Beharrlichkeit nicht möglich ohne Klugheit, ohne Weisheit und Verstand der Welt, nur daß sie nicht in jene feige verächtliche Weltklugheit ausartet, die mit Gewandtheit vieles treibt zur Förderung des eigenen besonderen Wohlseyns. „Schicket euch in die Zeit“ ist ja der Aufruf des Apostels, der auf so vielfachen Wegen das Reich Christi auszubreiten bemüht war, der nichts unversucht ließ, den nichts kein Fehlschlagen der Hoffnung, kein Mißlingen abhielt, zu diesem Zweck hinzuarbeiten, der sich rein hingegeben hatte dem Dienste Christi. Bald entsteht diese Trägheit daher, daß es vielen an Kraft des innern Lebens und Willens fehlt. Nicht zu sehen ist, was zu thun ist, ist Schwachheit und kränklicher Zustand des Lebens. Es kann Liebe zum Guten mit dieser

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Schwachheit bestehn und gewiß viele, die davon erfüllt sind, leiden an diesem Übel. Denen möchte ich zurufen: Wohlan, bedient und erfreut euch dessen, daß ihr nicht allein steht; wenn ihr nicht sehet und erkennt, was und wie ihr thun sollt, ihr stehet in einem Bunde, wo sich andere Augen darbieten werden; ihr fühlt dann, daß ihr nicht allein gehen, sondern in Gemeinschaft mit euren Brüdern das Reich Gottes mehren sollt. Wohlan erkennt die Kräfte und Mittel in euch, um die zu finden, von welchen ihr Leitung empfangen möget, und denen folgt, von denen laßt euch anweisen, was ihr thun sollt, von denen erfahret, was und worin ihr zum Ganzen beytragen könnt; darin seyd treu und beharrt bis ans Ende: so werdet auch ihr die Krone des Lebens empfangen, so werdet auch ihr vor Gott gerecht und selig werden. – Aber die zweite Gestalt der verderblichen Trägheit ist die, welche wohl sieht, was zu thun wäre, was die Noth, was das augenblickliche Bedürfniß, was der Kampf, worin das Gute sich befindet, erfordert, aber welche sich zugleich einbildet und einredet, was nothwendig ist, sey doch unmöglich, jede Anstrengung jede Aufopferung zur Erreichung desselben vergeblich, und es sey statt dessen besser zu warten, ob nicht vielleicht anders woher die Hülfe kommen möge. Diejenigen welche sich in diesem Falle befinden, pflegen, um sich und ihre Trägheit | zu vertheidigen, bereitwillige Tadler zu seyn dessen, was andere thun, und ihre Geringschätzung auszusprechen gegen alle Handlungsweise und Hülfsmittel wodurch das Gute geschehen könnte. Aber das Tadeln ist nie leichter, wir wissen es ja, als wo wir weit davon entfernt sind, es besser zu machen und es ist nur die Wehr, wohinter sie ihre eigene Trägheit verschanzen. Es mag wohl ein Gebiet geben, wo es heilsam und nützlich ist, aber gewiß im christlichen Verein soll es fremd seyn; hier, wo nur die Liebe alle beseelen und vereinigen soll, und die Liebe zankt und eifert nicht, sondern sucht nur im Guten zu bessern. O, m. Fr. wenn Christus dieses Sinnes gewesen wäre, wenn er es nicht versucht hätte, mit den unscheinbaren, tadelnswerthen Werkzeugen das große Werk zu beginnen, wo wären wir, wo wäre das Gute – und sehen wir auf den Bund seiner Jünger, wie hätte Jeder an dem andern so vieles zu tadeln finden können, wenn er mehr Augen für Fehler und Mängel als Eifer für die gute, gemeinsame Sache gehabt hätte. Wer Christi seyn will – der folge seinem Beispiele, der trage mit Liebe und Schonung die Unvollkommenheiten und Gebrechen des Bruders; wohl mag er oft fehlen und unseren Zwecken entgegenarbeiten; aber wie wir nicht verzagen an uns, ob wir gleich noch straucheln, sondern weiter fortschreiten: so laßt uns auch die Schwachheiten unsrer Brüder überwinden, ihnen die Hand reichen aber nicht an ihnen verzagen; laßt uns sehn, was Jeder Gutes und Herrliches in sich trägt, was in jedem zu gebrauchen ist zu dem gemeinsamen Zweck, dann werden wir dem Ziele näher schreiten, dann wird die Kleinlichkeit 10–11 Vgl. Jak 1,12

27 Vgl. 1Kor 13,4

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verschwinden, nur die Fehler an Jedem aufzudecken. Ja wohl sind der Gefahren und Hindernisse viele, die uns im Wege stehn; aber laßt uns den ins Auge fassen und auf den vertrauen, der mitten unter Stürmen und Wogen den Seinen zurief: Ihr Kleingläubigen, und mit dem Gefühl seiner Kraft auch die Gewalt der Natur besiegte. Und von diesen Gefahren sind wir immer umringt wenn wir in seiner Sache arbeiten; immer haben wir zu kämpfen mit Hindernissen, Widerwärtigkeiten und Stürmen. Aber, ob er auch zu schlafen scheint, er ist da, der uns aufrecht erhält und die Stürme und Wogen, sie sind eine zu vorübergehende Kraft, als daß sie uns zu überwältigen vermöchten, denn früher oder später wird er aufstehen und Stillschweigen gebieten und die Seinen in den Hafen einführen, wohin wir zu gelangen wünschen, aber dann müssen wir auch gut und muthig steuern, denn nur wer beharret bis ans Ende, wird errettet; und Ausdauer, lebendiges Aufgeregtseyn in seinem Dienst, fest im Sinn alle uns anvertrauten Güter zu erhalten und zu verwahren und alles was nothwendig ist, wenn sein Bund bestehen soll, das ist was allen obliegt. Laßt uns nicht träge seyn, sondern beständig und wacker im Guten, uns schicken in die Zeit und Gutes thun und nicht müde werden – dann werden wir erfahren, daß alles Böse überwunden werden wird von dem Guten und daß denen, die Gott lieben, alles auch Gefahr und Noth zum Besten dienen werde. Amen.

3–5 Vgl. Mt 8,26

19–20 Vgl. Röm 8,28

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Am 13. Oktober 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

18. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Eph 4,25 Nachschrift; SAr 26, Bl. 69r–72v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 113r–118v; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher den 13. Oct. 1811.

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Wenn in den christlichen Belehrungen und Unterweisungen von einzelnen Pflichten und Tugenden des Menschen die Rede ist: so wissen wir es recht wohl, daß eigentlich keine abgesondert stehen kann, daß jede wo sie sich entfernt zeigt von den übrigen nichts seyn kann als leerer Schein, und daß alle mannigfaltigen Störungen, welche der gemeinen Ansicht nach durch die eine der andern in den Weg gelegt werden, in dem verschwinden, in welchem eine wie alle aus Einem Geiste hervorgehn. Diese Erinnerung scheint mir nothwendig voranzutreten in Beziehung auf eine Forderung über die ich unsre Andacht leiten werde; es ist die: daß Alles in dem Leben so viel wie möglich reine Wahrheit seyn soll und entfernt von allem Schein und allem geflissentlichen Trug. Daß auch die Besten unter einander nicht einig sind über den Umfang dieser Forderung, so bald von einzelner Anwendung derselben in dem geselligen Leben die Rede ist, daß die menschlichen Verhältnisse so verwickelt sind, daß, indem wir dieser Pflicht zu folgen suchen, wir uns hüten müssen, nicht andere Verhältnisse, die auch heilig sind zu stören, und Pflichten, die eben so wesentlich, zu verletzen, wer müße das nicht? – Auch kann nicht die Absicht dieses Vortrages seyn, alle diese Schwierigkeiten zu lösen; nur daran möchte ich erinnern, nur dazu ermuntern, daß je mehr wir uns als Christen als Brüder untereinander betrachten können und müssen, um so mehr auch die reinste Wahrheit uns Pflicht seyn muß. Darüber dürfte kein Streit seyn; denn das fühlen wir alle: der Geist Christi ist der Geist der Klarheit; wie er in das Herz jedes Menschen sah, so sollen auch wir in das eigene und in das unseres Nächsten sehn; wie er die Wahrheit war, so sollen auch wir von ihr geleitet werden. Der Geist Christi ist aber auch der Geist der Demuth, und woher kommt alle Abweichung von der Pflicht der Wahrheit, als daher, daß die Menschen

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mehr und besser scheinen möchten als sie sind. Von diesem Gesichtspunkte laßt uns ausgehn, und Einiges, was uns das wichtigste seyn muß von dieser Forderung, mit einander betrachten. Ephes. 4, 25: „Darum leget die Lügen ab und redet die Wahrheit: ein jeglicher mit seinem Nächsten, sintemal wir unter einander Glieder sind.“

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Es geschieht, indem der Apostel den Gegensatz aufstellt zwischen der Gestalt des alten, der Sinnlichkeit nachhängenden und dem neuen Menschen, der nach dem Bilde Gottes geschaffen ist, indem er den Verein der Christen durch denjenigen, von dem die neue Creatur ihren Anfang nimmt, als das wichtigste Werk seiner Erscheinung darstellt, daß er auch diese Ermahnung davon ableitet: „so leget die Lügen ab etc.“ | Je weniger wir denen zu vergleichen sind, an welche der Apostel diese Forderung richtete, welche erst kürzlich das Licht des Evangelii erblickt hatten, je weniger von uns vorausgesetzt werden kann, daß uns die Lehre des Evangelii noch eine neue und unvollkommene sey: um so weniger dürfen wir wohl die Anwendung von diesen Worten ableiten, daß ich erst warnen sollte vor Lügen, die aus Falschheit und Eigennutz entspringen, welche um äußerer Vortheile willen die Wahrheit hintansetzt; und um sich irrdisches Gut oder irrdische Macht zu verschaffen die theuersten Gaben des Himmels verfälscht und den Menschen unnütz und unbrauchbar macht, welche alles Vertrauen, so viel an ihnen ist, lösen[,] allen geistigen Verkehr hindert und hemmt, und die um so verworfener ist und abscheulicher, je weiter die Mittel, die sie anwendet, abliegen vom Wege der Heiligkeit, je höher die Stelle ist, wo der Mensch steht, weil er sich dann um so mehr erniedrigt, wenn er zu tief unter seiner Würde stehenden Kräften seine Zuflucht nimmt. Vielmehr kann nur die Rede seyn unter uns von den Abweichungen von der Wahrheit, wozu es nicht eines bösen Geistes bedarf, der den Menschen beherrscht, sondern welche auch im Leben derer, in denen der Geist des Guten überwiegend die Herrschaft führt, leider noch immer häufig genug angetroffen werden; kurz diejenigen Abweichungen, welche wenn wir in unsern eignen Busen greifen, auch wohl nicht selten in unserm Leben sich finden werden. Um unserer Betrachtung die Grenzen anzuweisen, innerhalb welchen sie sich wird halten müssen – laßt uns, indem wir vom Geiste der Wahrheit und von unsrer Verpflichtung ihr in jedem Augenblick treu zu seyn, reden, vorzüglich darauf sehen, was uns unter einander und gegen einander obliegt, insofern wir Christen, oder, mit den Worten des Apostels zu reden, insofern wir Glieder sind unter einander. Zweierley ist es vorzüglich, worauf wir zu merken 22 allen] alles

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haben: 1. auf alles, was in den Kreis unseres Berufes gehört; denn darüber sind wir einig, daß wir gegenseitig und gemeinschaftlich das Werk Gottes zu theilen haben, daß alles was wir thun, wir als Arbeiter in seinem Weinberge thun sollen, und daß in allem, was das Reich Christi auf Erden fördern soll, der Geist seines Glaubens und seiner Liebe weilen müsse. 2. auf alles dasjenige, was in die nähere Verbindung des Lebens gehört, in welcher unser Gemüth am meisten angesprochen wird, in diejenige Gemeinschaft, wo alle andern Zwecke und Richtungen verschwinden sollen außer dem Leben aus Gott durch Christhum, wo wir uns immer theurer werden müssen, durch den Werth, den jeder auf seine Lehre setzt. I. Zuerst, m. Fr. möge uns doch alle der Geist der Wahrheit beseelen in allem was zu unserm Berufe gehört. Laßt uns absehn von dem verkehrten und niedrigen Sinne derer, welche das Geschäft, welches sie auf Erden zu betreiben haben, nur betrachten | in Beziehung auf den Vortheil, denen also die gemeine Sache immer untergeordnet ist ihrem persönlichen Interesse. Denen kann die Wahrheit nicht heilig seyn, die sind schon dadurch von selbst zur Lüge bestimmt und es wird nur vom Zufall abhängen, ob ihr Interesse zugleich mit der Wahrheit übereinstimmt und ob der ihnen einwohnende Streit sich auch nach außen richten werde. Aber laßt uns fragen, auch denen, welchen ihr Beruf heilig ist, auch denen, welchen es nicht in den Sinn kommt, etwas Persönliches und Vergängliches an die Stelle dessen zu setzen, was der Zweck ihres Lebens und Wirkens seyn soll, ist auch denen die Wahrheit wohl immer so heilig, wie sie seyn sollte. Sehen wir nicht tausend Verletzungen und Störungen der Gesellschaft, die allein aus Untreue gegen die Wahrheit entstanden? Laßt uns nur aufmerken auf eine Gattung derselben und diese statt aller als Beyspiel näher betrachten, um doch alle übrigen zu verstehen und zu beurtheilen. Es gibt keinen Beruf des Menschen, bey welchem es nicht ankäme auf der einen Seite auf einen beharrlichen Widerstand gegen das Böse, auf ein redliches unermüdetes Schaffen des Guten auf der andern. In dieser Arbeit sind Stärkere und Schwächere neben einander gestellt; einige gehn voran und zeigen den Weg, andere folgen. In einigen bilden sich die herrlichen Gedanken und Entwürfe, wie dem Guten aufzuhelfen dem Bösen am wirksamsten zu steuern sey, und die übrigen reichen die Hand, geben die Kräfte her, helfen ausführen durch das ihnen einwohnende Maß des Geistes, was[,] ein höheres Maß davon[,] der andere in ihnen geweckt hat. Wenn uns neue Anforderungen kommen und Ermunterungen, dem Bösen Widerstand zu leisten, das Gute zu fördern, wenn uns gezeigt wird, was wir in dieser oder jener Beziehung zu thun haben, welche Kräfte anzustrengen, welche Aufopferungen zu machen sind, wenn wir dann fühlen, es sey Pflicht denen zu folgen die mit größerm Licht und Kraft vorangehen, wenn wir genöthigt sind gegen die, welche Anforderungen dieser Art an uns machen, uns zu erklären:

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wie oft geschieht es da nicht, daß wir uns für entschlossener geben als wir sind, für kräftiger, als wir uns fühlen. Mit Wärme und Eifer umfassen wir ihre Gedanken und Pläne, die Schwierigkeiten treten zurück; von unserer Schwäche die wir fühlen oder bald fühlen werden, sagen wir nichts, wir geben theure Versicherungen der Treue, der Anstrengungen der Beharrlichkeit; aber wenn nun die Zeit der Ausführung kommt, wenn uns die Schwierigkeiten näher vors Auge treten, wenn die Begeisterung, die andere in uns hervorgebracht haben, allmählig verschwindet; dann entspricht der Erfolg unserer Thätigkeit nicht unseren Verheißungen. Freylich könnte man sagen | das sey weniger Unwahrheit als Schwäche. In dem Augenblicke wo unser Gemüth sich an ein fremdes anschließt, wo wir bey der richtigen Ansicht uns aufgefordert fühlen, einem Gegenstande unsere Kräfte zu widmen, und unsern Entschluß auszusprechen, sey es uns wahrer Ernst; aber wir täuschen uns über unsere Ansichten und Kräfte. Aber m. Fr. das kann dem Anfänger gelten, das kann eine Entschuldigung seyn in Beziehung auf den, der noch wenig Erfahrung vom menschlichen Gemüthe gemacht hat; sind wir aber mehr geübt in dem Leben, haben wir Erfahrungen der Art bey uns und andern gemacht: wir dürfen es uns nicht verbergen, dann ist eine solche Unzuverlässigkeit und Ungleichheit schon in dem Augenblicke des Versprechens eine unbewußte Unwahrheit. Dürfen wir sagen, daß wir uns erkennen, wenn wir nicht zu unterscheiden vermögen, was als fester Vorsatz in uns dasteht, als ernster Entschluß, mit dem wir zugleich auch die Kraft der Ausführung fühlen, was dasteht als innige mit allen Grundsätzen unsers Lebens und Handelns zusammenstimmende Überzeugung, oder was sich uns bildet als gute und wohlgemeinte Gedanken als flüchtige nur von andern uns geliehene Überzeugungen, welches alles wie in Zukunft nicht im Stande seyn werden festzuhalten gegen die Leidenschaften, die uns noch beherrschen, gegen die Zaghaftigkeit, die wir noch nicht überwunden haben, gegen die leidige uns auch anhängende Fähigkeit, von andern andres anzunehmen welche allein entspringt aus dem Mangel eines festen Grundes in uns selbst. Darüber können wir uns nicht täuschen, wenn wir über die Jahre der leichtsinnigen flüchtigen Jugend hinaus sind, sobald das Leben unter dem Wechsel der Erfahrungen uns gereift hat. In dem Augenblicke, wo wir unseren Entschluß und unsere Überzeugung aussprechen, wo wir Wort und Hand geben wollen zum Beystand in einem guten Werke, laßt uns wahr seyn, damit wir auch Wahrheit reden unter unseren Nächsten, dieweil wir ja Glieder sind. Verbirgt sich auch tief in den Falten des Gemüths das Gefühl der Schwachheit wir können und sollen es hervorheben und es ist Pflicht, wenn wir zur Hülfe zum Beystande aufgefordert werden, wie der Neubekehrte in der Schrift zu Christo sagte: Herr ich glaube, aber hilf mei17 dem] m 40–1 Mk 9,24

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nen Unglauben, auch zu sprechen: Lieber ich wollte gern, aber ich weiß nicht ob ich schon will; es scheint mir wohl schön und vortrefflich, was du begehrst, aber ich weiß nicht ob ich schon fest und unerschütterlich davon überzeugt bin, ich könnte wohl leisten, wozu du aufforderst; aber ich erkenne meine Schwäche, ich bin nicht sicher, ob zwischen diesem und dem nächsten Augenblicke nicht eine andere Ansicht des Gegenstandes kommen wird. Fragen wir nach den Folgen von der Übereilung von diesem Leichtsinn im Zusagen: o denket daran daß wir Glieder sind: so können wir nicht zweifeln, woher der Unsegen des Nichtgelingens so Gutem. Geben wir uns für nichts mehr und größeres, | als wir sind, suchen wir uns das Bewußtseyn von uns selbst zu verschaffen, theilen wir es andern mit: so rufen wir ja die Anfordernden auf, ihre Kräfte erst an uns zu versuchen, so wird es ja ihre Pflicht und ihr Bestreben seyn, uns selbst erst zu befestigen, uns selbst erst Beystand zu leisten gegen unsere Schwäche und so gestützt und befestigt werden wir dann im Stande seyn die verlangte Hülfe zu leisten. Geben wir uns für mehr als wir sind, versprechen wir, was wir nicht stark genug sind zu halten bekennen wir uns zu der Wahrheit, von der wir fühlen, daß sie uns noch nicht so klar ist, daß nicht zurückbleibende Nabel und Flecken sich vermehren und jenes noch unsichere Licht überziehen und verdunkeln könnten. Dann verleiten wir ja die, welche uns stärken und kräftigen könnten zu einem falschen Betragen; sie halten uns für das, wofür wir uns geben, sie rechnen bey schwierigen Gelegenheiten auf uns, und das Gute was sie in dieser Zuversicht begannen wird dann vereitelt durch unsere Unzuverlässigkeit und Schwachheit. Wie vieles Verderbens Ursprung gerade dieß im Leben der Menschen ist – o in der Nähe und Ferne werden uns die Beyspiele tausendfältig vor Augen schweben und wir werden sehn, daß es gerade diese Unzuverlässigkeit ist, wodurch so vieles Gute und Nützliche gehemmt wird und verloren geht, daß durch diese Schwachheit den Bösen so oft Gelegenheit gegeben wird, die Guten zu überwinden. II. Möge der Geist der Wahrheit uns leiten in allen denjenigen Verbindungen mit andern, welche am meisten Sache des Gemüthes und des innern Menschen sind. Wenn uns die Namen des Freundes des Bruders und wie die Verhältnisse heißen mögen, welche die Sache der Liebe der Eintracht sind unter den Menschen, ausgesprochen werden, was schwebt uns darin anderes vor, als ein gegenseitiges Verhältniß der Wahrheit des Austausches der Gedanken und Empfindungen, als ein gegenseitiges ungetrübtes Hineinschauen in die Gemüther derer, die so mit einander verbunden sind. Darum kann es auch freylich kein solches näheres innigeres Verhältniß geben als eben durch die Wahrheit. Sie ist es, auf der sie alle ruhen und durch die sie allein gedeihen. Darum ist der falsche unlautere Mensch der diese 11 verschaffen] schaffen

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heiligen Guten zu besitzen wünscht, schon eben dadurch unfähig sie zu besitzen, an den ja kein Gemüth mit Wahrheit sich anschmiegt, und in dem Keiner sein inneres Wesen wieder legen kann, weil er unfähig ist zu empfangen was er selbst ja nicht wiedergeben kann. Aber wie steht es unter den beßeren Menschen um die Wahrheit | in diesen heiligen Verhältnissen? Alles mannichfaltige was Störung und Unordnung darin hervorbringt, was ist die reiche Quelle davon als Mangel an reiner ungetrübter Wahrheit? O, m. Fr. wenn wir auch vor denen, die wir lieben und mit denen wir in einer engern Verbindung leben, niemals beßer erscheinen wollten, als wir sind, wenn wir nicht so oft ohne Widerspruch Lob von ihnen annähmen, was wir nicht verdienen, Erklärungen und Auslegungen, die sie sich machen von unsrem Leben und unsrer Handlungsweise, unberichtigt hingehn ließen, wenn wir unser Urtheil immer aussprechen könnten, wie es wirklich ist, wenn auch unsere nähern Verhältnisse frey wären von aller Schmeicheley und Verschönerungssucht und von dem leidigen Bestreben, zu allem Guten, was aus der Verwandtschaft der Gemüther hervorgeht, noch etwas hinzuzufügen, was nur auf den Schein beruht, nur in der Eitelkeit Gefallsucht seinen Sitz hat, wie viel beßer würde es um uns stehen, wie viel reiner und ungetrübter unser Leben seyn, wie viel weniger wir uns vorzuwerfen und zu bereuen haben. Freylich wir müssen gestehn, wie der Mensch keines reinen Guten fähig ist, so lange er in dem Boden der sinnlichen Natur gehalten wird, wie alles auch das Göttlichste bald von stärkerem bald leiserm Hauche getrübt wird; so ergeht es auch dem Lichte der Wahrheit und es gibt kein irrdisches, menschliches Leben, worin lauter ungetrübte Wahrheit zu finden wäre. So wie wir sind, ist es sogar eine Weisheit, wenn wir unsern Brüdern, wenn auch nichts als Wahrheit, doch nicht alle Wahrheit geben. Vieles gibt es in den dunklen Falten des Gemüthes, was Wohlthat ist zu verbergen, manches, was hervor ans Licht zu ziehen und vor das Angesicht auch der innigsten Liebe frevelhaft wäre, ja manches wovon es beßer ist, daß der Mensch es selbst nicht weiß. So würde es nicht seyn, wenn nicht der Keim des Verderbens in uns ruhte, aber da dieser nie ganz ausgerottet werden kann, so ist es auch oft Wohlthat und Pflicht, nicht überall Wahrheit zu geben. Aber meine Fr. wie wahr das ist, es kann uns von der Pflicht der Wahrheit unser ganzes Leben zu widmen, nicht lossprechen und ob wir gleich keinen | sichern Maßstab haben was recht sey zu verschweigen, oder mitzutheilen laßt uns nur darüber treu und wahr seyn was wir mittheilen, wo sich uns ein Bedürfniß der Mittheilung aufdringt. Und wo wir geneigt sind die Wahrheit zu verbergen, da frage jeder sich selbst: was ist deine Absicht, ist es nicht nur die, daß du vor andern deine Schuld und Unvollkommenheit verbergen willst, ist es nicht Eitelkeit, welche macht daß du deinen Mitmenschen beßer vollkommner, liebenswürdiger 4 ja nicht] jnicht

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erscheinen möchtest, ist es nicht die verkehrte und verderbte Absicht, etwas dadurch bey ihnen zu erreichen, und durch das nicht ganz aufrichtige Urtheil über sie, sie an dich zu ketten, ihr Wohlwollen zu fesseln oder irgend etwas zu gewinnen, was doch nicht rechtmäßtig besessen wird? Wo so etwas die geheime Triebfeder ist, die uns leitet, da ist es der Geist der Unwahrheit, der uns belebt, da streuen wir den Saamen des Bösen aus, dessen Früchte nur Unsegen Unheil und Verderben seyn können. Freylich, wie wir auch schon oben bemerkt haben, verwickelt ist das menschliche Leben und ein Irrsal, aus welchem sich nur wenige rein herauswinden; aber die sich am meisten verwirren, das sind die Kinder der Welt. Denken wir uns die innigsten und heiligsten Verhältnisse unter den Christen allein beseelt von der Liebe zum Erlöser, getrieben von seinem Geiste, o wie viel von jenen Verletzungen und Störungen würde erspart werden, wie viel einfacher würde das Bild unseres Lebens seyn, und wenn wir es uns vollkommner und schöner vorzeichnen, hat es nicht seinen Grund darin, weil der Geist der Klarheit alle beseelt, weil jeder wandelt als vor den Augen Gottes weil das Gefühl der Allgegenwart des Höchsten es nicht zuläßt daß einer etwas ruhig genieße, was nur durch einen leeren Schein gewonnen ist, daß wir es inne werden durch ein christliches Leben wie wir nur durch Wahrheit und Einfalt würdige Mitarbeiter sind in dem Reiche Christi, welches nur ist ein Reich der Wahrheit und Klarheit, wie viel dagegen von den Kräften die zum göttlichen Dienste bestimmt sind, darauf gerichtet werden müssen, um die Lüge zu verbergen und den Schein zu erhalten. Ja m. Fr. aller wahrer Genuß des Lebens, alle Ruhe in uns selbst, aller Friede mit unserm Gewissen, ja jedes schätzbare und herrliche Band der Liebe und Freundschaft alles ruht nur auf dem Geiste der Wahrheit; alles wahre Verderben in diesen schönen Verbindungen hat sein Ursprung in der Lüge und Falschheit. Wohl dem, der nur auf dem Wege der Wahrheit das Wohlwollen | und die Liebe seiner Brüder erlangen und sich erhalten will, wer es verschmäht, durch Täuschung, Schein und Trug ihren Besitz zu erschleichen. Es ruhet ein Segen auf dem Geiste der Wahrheit. In demselben Augenblicke, wo wir unsre Fehler lieber gestehn lieber das Verderben in uns zeigen wollen, als uns eines Beyfalls erfreuen, den wir nicht verdienen, in diesem Augenblicke gewinnen wir ja das Wohlwollen der Menschen das uns ja gerade um dieser Aufrichtigkeit willen nicht entgehn kann. M. Fr. weil wir Glieder unter einander sind: so müssen wir die Wahrheit reden. Woher soll denn das Gute entstehn als aus threuer Vereinigung, und wie soll diese zu Stande kommen, wenn nicht Jeder weiß, wie er mit dem anderen daran ist, wie weit er auf ihn rechnen kann, und in unsern geselligen Verbindungen, was ist ihr schönster Zweck, als daß jeder mit dem anderen anschauen lernen soll das Werk [des] göttlichen Geistes, daß jedem klar werde, wie auch er darstellen soll das Ebenbild Gottes, zu dem wir geschaffen sind durch Christum, und daß, wie wir uns so in den Fehlern und Tugenden der andern spiegeln, wir es verste-

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hen, wo wir Trost und Hülfe in unserem Herzen zu finden haben, und wie anders kann das geschehn, als wenn wir ein lauteres wahres Leben führen. O laßt uns alles gering schätzen, was nur auf leeren Schein beruht, laßt uns deutlich sehn, daß die Lüge nur zum Verderben führen kann, daß sie alles Fortschreiten im Guten, allen Segen des Lebens ja unsere ganze innere Ruhe und Zufriedenheit untergräbt; und wir es zugleich inne werden müssen, daß das Leben nicht immer vollkommne Wahrheit seyn kann, lasset uns dennoch streben, daß wenigstens die Wahrheit der Lüge immer mehr Feld abgewinne, daß sie immer mehr vertrieben, und daß das Ziel einer ungetrübten Wahrheit uns immer mehr und näher vorschwebe, daß wir doch wenigstens den Nachkommen strenge Forderungen hinterlassen können; dann sind wir Streiter für die Wahrheit, sind Kämpfer auf unsere Unkosten, und im Gefühl unsrer Unvollkommenheit zeigen wir doch, daß der Geist Gottes uns treibe, welcher ist ein Geist des Lichtes und der Wahrheit. Amen.

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20. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 14,16–24 Nachschrift; SAr 26, Bl. 73r–76v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 119r–126v; Matthisson Keine

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M. and. Fr. – Einst in einer fröhlichen und zahlreichen Gesellschaft fand sich der Erlöser veranlaßt einige Vorschriften zu geben über das Betragen gegen den Nächsten, über den Gebrauch der göttlichen Wohlthaten vorzüglich da, wo es auf uneigennützige liebreiche Ertheilung ankomme und zu zeigen: was auch alle mitfühlten, daß nur für dasjenige, was aus reinem einfältigem Herzen hervorgekommen sey, sich Belohnung erwarten lasse im Reiche Gottes. Da fand sich gleich eine Stimme, welche weniger auf jene Vorschriften als auf diese Hofnung von Belohnung achtend den Wunsch äußerte: wenn man doch erst dort wäre, um an den Gütern des Himmels näher Antheil zu nehmen. – Wie eine solche Richtung und Stimmung des Gemüths, ganz vorzüglich auch jetzt, wo alle Klassen der Menschen so viele Beraubungen fühlen, sich zeige, das wissen wir alle. Wenn man den Menschen wie viel oder wenig sie leiden unter dem Druck der Gegenwart, das Bild einer solchen Zeit vorhält: so erfüllt sich ihr Herz mit Freude und Hofnung, so eignen sie sich mit großer Gewißheit die dort verheißenen Güter zu; ja nicht bloß auf die äußern wohlthätigen Folgen, welche von der Verbreitung des Guten ausgehn, sondern auch auf das Gefühl, welches aller Seligkeit zum Grunde liegt, das eines einfältigen Gewissens vor Gott und treuer Pflichterfüllung machen sie als auf etwas Zuverlässiges mit großem Entzücken Anspruch. Der Erlöser wurde veranlaßt durch die frühe Unterhaltung wie durch die letzte Äußerung, in einer merkwürdigen Gleichnißrede belehrend und warnend darzulegen, was für ein großer Unterschied Statt finde zwischen einer solchen Stimmung des Gemüths, wie sie die Äußerung verrathe, und zwischen derjenigen Richtung desselben, welche allein uns den Antheil an den Gütern des Himmelreichs führen kann. Laßt uns dieser Rede folgen und sie auf uns und unsere Lage und Hoffnung anwenden.

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Die Veranlassung zu diesem Gleichniß habe ich oben erwähnt; es bedarf wohl keiner besondern Auseinandersetzung, daß er dabey vorzüglich seine Sendung an das Volk Israels und den Erfolg derselben im Sinne hatte und daß er dadurch die Weissagung aussprach, es würden von denen, an welche sich seine Lehre zuerst gewendet hatte, wenige oder keine Antheil haben an den seligen Folgen seiner Erscheinung. Aber eben weil seine Sendung und sein Werk der Grundstein ist des gesammten Reichs Gottes: so spiegelt sich auch, wie im Innern desselben, das innere Wesen des göttlichen Reichs, so auch in seinen Schicksaln, den gesammten Schicksaln und Begegnissen zu allen Zeiten und bey jeder Veranlassung. So müssen wir das Reich Gottes ansehn nach der Belehrung des Erlösers selbst, nicht als etwas, was auf Erden irgendwo in seiner Vollkommenheit da wäre aber auch nicht als etwas, worauf wir erst harren müßten nach der Vollendung der irrdischen Dinge, sondern was hier selbst von uns und durch uns hervorgehn, durch | unsere Arbeit und Sorgfalt gefördert, erhalten und immer herrlicher hervorgerufen werden soll. Darum, was wir als nothwendig betrachten mögen zur Erhaltung und Vermehrung des Rechts und der Ordnung, was uns vorschwebt als unentbehrlicher Bestandtheil unserer Wohlfahrt, es gehört mit zum Reiche Gottes, und es wird dieselbigen Schicksale haben, die ihm widerfuhren zur Zeit des Erlösers. So laßt uns denn nach Anleitung dieser Rede reden von den Schicksalen des Reiches Gottes auf Erden und 1. betrachten, was der Erlöser von der Einladung dazu an die Menschen sagt, und 2. was er uns darin sehn läßt von dem Erfolge dieser Einladung. I. Es war ein Mensch, so hebt er an, der bereitete ein großes Mahl, und lud viele dazu ein. Der Erlöser knüpft seine ganze Rede an das Vorhergesprochene: daß die Wohlthat, welche man durch Vertheilung der irrdischen Güter den Dürftigen geleistet, Gott vergelten würde in seinem Reiche, und an den Ausruf der Menschen: Wohl dem, der da Brodt isset im Reiche Gottes. Es war damals ein allgemein verständliches und überall verbreitetes Sinnbild: unter der Gestalt eines Mahles das Reich Gottes zu denken, und wer unter uns könnte das unpassend finden, wenn wir es ansehn als das Sinnbild alles Genusses, dessen der Mensch in seinem Daseyn theilhaftig werden kann. Wir können uns das Reich Gottes nicht anders denken als den reichen allseitigen Genuß der Seligkeit damit verbunden, wir können uns keine andere Vorstellung davon machen, als daß der Mensch erst in dem Maße, als er Theil daran hat, der Herrlichkeit seines Lebens inne wird, 4 im] in 27–28 Vgl. Lk 14,14

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und alle Güter deren er fähig ist, vollkommen genießt, daß ihm eben in dem Bewußtseyn dieser Theilnahme alle Sorge und Noth verschwinde, so wie der Mensch beym fröhlichen Mahle alles, was noch Trauriges in ihm ist, verborgen läßt und im Genusse der geselligen Freuden dessen nicht gedenkt. Aber m. Fr. wie ein solches Mahl nicht Statt finden kann ohne Vorbereitung nicht bloß dessen, der es gibt, sondern auch derer, die es genießen wollen, wie denn der Erlöser anderswo, wo er auch dieses Bild gebraucht, aufmerksam macht, daß zu diesem Mahle Niemand kommen könne, der nicht ein hochzeitliches Kleid anhabe d. h. alle Forderungen der Sitte erfülle: so ist freylich auch das Reich Gottes nicht zu denken ohne Thätigkeit, und zwar erfordert die Theilnahme an demselben nicht eine solche, von der man wie bey jener nicht einsieht, wie sie mit dem Zwecke des Genusses zusammenhängt; sondern der Genuß und die Theilnahme ist eine solche daß sie erst Statt findet durch die Thätigkeit selbst und daß, wollte man auch dem Menschen diese erlassen, es der Natur der Ruhe nach nicht möglich ist, ihn an dem Genusse Theil nehmen zu lassen, wenn nicht diese Thätigkeit die ihn erzeugt, in ihm und durch ihn selbst vollendet worden ist. Darum müssen wir uns dieses Bild immer zusammenstellen mit einem andern, das auch dem Erlöser gewöhnlich und geläufig war, daß er das Himmelreich vergleicht einem Herrn, der Kräfte Gaben und Vermögen aller Art den Seinigen austheilt, um damit zu wuchern, und der dann kommt Rechenschaft zu fordern und die, welche nach dem Maße das ihnen zugetheilt dieselben gemehrt haben, eingehen läßt zur Freude. Nur beydes zusammen gibt uns ein richtiges Bild vom Reiche Gottes, nur aus beidem können wir sehen, was wir zu hoffen und wie wirs zu erlangen haben. Der Herr der das Mahl ausrichtete, lud viele dazu ein, aber nicht Alle und | eben so ist es mit dem Reiche Gottes. Wohl dürfen wir uns Gott nicht anders denken als den allgemeinen und gegen Alle liebreich gesinnten Vater aller Menschen, wohl den Menschen nicht anders als seiner Natur nach fähig, an dem Mahl an den Gütern des Reiches Gottes Theil zu nehmen; aber wenn wir die Vorstellung des Vaters näher bestimmen, wenn wir von diesem Verhältniß etwas Besonders ins Auge fassen, wie der Erlöser seine unmittelbare Sendung auf Erden: so können wir nicht anders sagen: viele sind geladen, aber nicht alle. Wir bemerken zuerst einen großen und bedeutenden Unterschied unter den Menschen im Allgemeinen. Einige Völker, einige Geschlechter einige Stämme sind schon eingegangen in den allgemeinen Austausch und Erwerb höherer Güter, in die Gemeinschaft alles dessen, welches die erste Bedingung der Theilnahme am Reiche Gottes ist; sie haben erreicht eine gewisse Bildung des Geistes, eine Erhöhung und Entwicklung ihrer Kräfte, eine Fertigkeit sie zu gebrauchen, während andere nur unter sich geblieben, auf sich beschränkt, nur mit der Sorge und Arbeit für das 7–9 Vgl. Mt 22,11–14

19–23 Vgl. Mt 25,14–21

33–34 Vgl. Mt 22,14

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dringendste Bedürfniß belastet wenig von dieser Gemeinschaft genießen zu können scheinen, und an diesen verwickelten Bestrebungen eben so wenig als an den beglückenden Erfolg Antheil nehmen. Gehen wir ins Einzelne und denken uns die Erfordernisse des Reiches Gottes: so finden wir dasselbe: die Vernunft des großen Haufens muß erst geläutert werden von Vorurtheilen und Irrthümern, und welche sind dazu mehr berufen, ihnen ihr Licht leuchten zu lassen, und der begleitenden Folgen dieser Erleuchtung sich zu erfreuen, als die, welche vor anderen ausgezeichnet sind mit Gaben und Kräften, und denen ein hohes Maß von Erkenntniß geworden ist. Müssen die Menschen, damit sie fähiger werden für das Reich Gottes, erst befreit werden von äußerem Druck und Hindernissen – wohlan wer ist mehr berufen, hierzu mit zu wirken als diejenigen, welchen von den gemeinsamen Kräften der bürgerlichen Gesellschaft der größere Theil zugetheilt ist, und welche an der Leitung der gemeinsamen Kraft eben deshalb großen Antheil haben. Wenn daher vom Reiche Gottes Gefahren und Widerwärtigkeiten entfernt werden müssen, und äußere Gewalt zu bekämpfen ist, die dem Guten widersteht: wer ist denn mehr der Berufene als die Fürsten und Führer der Völker als die Rathgeber, welche die größte äußere Macht in Händen haben. Und gehen wir in das Einzelne in die beschränktern Kreise des häuslichen Lebens hinein: so finden wir immer dasselbe. Einige sind auch hier immer die vorzüglich berufenen, berufen zu der Thätigkeit ohne welche das Gute nicht geschafft und erhalten werden kann und eben darum auch zu dem unmittelbaren und höhern Genuß, den die Erreichung des Guten mit sich führt. M. Fr. daß wir auch zu den Geladenen gehören wie könnten wir es anders als mit inniger Dankbarkeit gegen den Höchsten erkennen. Gibt es irgendwo ein wesentliches menschliches Gut auf Erden, woran wir nicht Theil nehmen, und zu dessen Besitz und Genuß wir nicht berufen wären? Ist nicht zuerst an uns ergangen die Stimme des Erlösers leuchtet uns nicht vor das Bild desjenigen, der zuerst und in einem höhern Sinne das Reich Gottes gegründet hat? Haben wir nicht unsern Antheil an aller Bildung unter den Menschen; ist nicht gestiftet unter uns Sitte, Gesetz und Ordnung die den möglichst freyen Gebrauch unserer Güter und Kräfte uns sichern; sind wir nicht aufgenommen in den allgemeinen Bund der Menschen welcher uns geschickt macht jedes Gute zu erhöhen und zu genießen? Wohlan denn, je weniger wir das zu läugnen vermögen, jemehr wir dieß mit Freude oder bescheidenem Gefühl erkennen müssen: um so wichtiger ist es II. zu hören, was der Erlöser von dem Erfolge dieser Einladung sagt. „Und als alles bereitet war, sandte der Herr seine Diener aus, und ließ den Geladenen sagen: Kommet, die Stunde ist da.“ Da er dieses und da er es nicht alles sagen läßt, so folgt daß sie seine Einladung schon angenommen hatten. M. Fr. so gewiß als wir von uns sagen müssen, der Herr hat uns

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geladen: so wenig wird einer seyn, der auftreten und sprechen wollte: er habe die Einladung nicht angenommen. Nein, m. Fr. wir sehn die Menschen im Einzelnen unter der Gewalt der Leidenschaften stehen, wie oft sie das Höhere | und Niedere ihres Daseyns vermischen wie selten sie jenes diesem vorziehen – wenn man sie fragt: wozu bist du da etwa nur an der Erde zu hängen ihr Geschäft zu treiben, und dem unvernünftigen weniger edlen Theil der Schöpfung gleich dein Leben zu verzehren: so wird Jeder sagen: nein, es sey ihm das Gefühl einer höhern Bestimmung aufgegangen. Angenommen haben wir alle den Ruf Gottes. Wir bekennen uns ja alle zur Lehre Christi, in der uns das Gefühl des göttlichen Reiches in vollem Lichte aufgegangen ist; wir stärken uns in dem geistigen Mahle seines Gedächtnisses, welches uns ein Unterpfand ist für jeden höhern Genuß, zu immer höherer Kraft und Seligkeit; und gehn wir ins Einzelne so müssen wir gestehn, von allen möglichen Gütern und Gaben ist uns nicht nur angeboten, sondern wir haben auch empfangen wir haben uns in vollen Besitz derselben gesetzt; wir sind unterrichtet von unseren Pflichten und Hoffnungen, belehrt durch Erfahrungen, wir haben jeder durch seinen Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft einen Platz eingenommen, der zugleich unsere Stelle ist in jenem großen geistigen Mahle, bey welchem zu erscheinen und zu genießen wir nicht allein berufen sind sondern auch versprochen haben. Und nicht nur das; sondern, wie viel besonders hat Jeder gethan, wodurch er sich zur Theilnahme verpflichtet; wie oft haben wir uns ereifert über die, welche das Werk Gottes stören, wie oft beklagt über das Betragen derer, welche verpflichtet für dasselbige zu wirken, die Gelegenheit dazu versäumten und in Stumpfsinn und Trägheit versunken ihre Pflicht vergaßen. Um desto mehr ist es unsere Pflicht zu erscheinen, wenn der Ruf an uns ergeht: Kommt, die Stunde ist da; und alles bereitet. Oder m. Fr. wollen wir, wenn nur im Allgemeinen und von ferne die Rede ist vom Reiche Gottes uns bereit zeigen zur Theilnahme, und wenn die Zeit da ist, und That gefördert wird, zurücktreten; wollen wir bey der Aufforderung zum Mahle nur den Genuß verstehn und meinen, die That sey schon vorangegangen, und wir wären nur da um zu genießen. Gewiß auch das werden wir nicht können, und wenn Jeder sich fragt[:] was ist, worin besteht dein Beruf zum Reiche Gottes: so wird er (bald) finden, daß es kein anderer ist und seyn kann; als überall und zu jeder Zeit, wo sich Gelegenheit findet für dasselbe zu wirken, seine Kräfte zu gebrauchen, und eben dadurch die Freuden desselben aufs innigste zu genießen, und eines höhern Daseyns fähig zu werden und zu fühlen, wie alle Leiden der Zeit, wie alle Beschwerden der Thätigkeit, wie alle Beschränkungen und Beraubungen unseres irdischen Wohlseyns nichts sind gegen die Freude und Herrlichkeit, welche nur aus der Theilnahme an diesem geistigen Mahle des Herrn hervorgehen kann. Aber wie geschieht es 22 Theilnahme] Theil

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und was sagt der Erlöser von dem Erfolge der angenommenen Einladung. „Als der Diener kam, da fingen sie an sich zu entschuldigen: der eine hätte in seinem irrdischen Geschäfte dieses, der andere jenes zu schaffen; der dritte hatte ein theu|res und inniges Band der Liebe geknüpft; was aber doch alles keinen abhalten kann, wenn er gerufen wird Theil zu nehmen an dem Mahle des Herrn. Meine Fr. ist das eine seltene oder alltägliche Erscheinung, welche der Anblick der Welt und Menschen darbietet? O, wie oft leider sehn wir, daß der Menschen seinen Beruf fühlt, daß er mit Lust, Treue, Ernst Vorbereitungen macht, daß er sich mit Angelegenheiten beschäftigt zeigt, ohne welche das Gute nicht gefördert werden kann; aber, wenn die entscheidende Stunde kommt und ihn zur thätigen Theilnahme auffordert, zurücktritt und nicht erscheinen will. Was ist es denn, was diesen Widerspruch erzeugt, was ist es, was ihn Gott und sich selbst so untreu macht? Wenn wir uns das Reich Gottes nur zu denken hätten als Genuß, wenn wir beym Bilde des Mahles stehen bleiben wollten: so hätten sie, nicht dabey erscheinen zu wollen, nicht Unrecht gehabt. So jene in unserer Gleichnißrede. Das Mahl sey ja nur Vergnügen, so meinen sie, und sie hätten jetzt andere Geschäfte und Pflichten; der eine hat einen Acker gekauft und es liegt ihm ob sein Eigenthum und Vermögen zu vermehren; der andere hat auch ein Geschäft, was sein irrdisches Wohl anbetrifft und sein Recht, und da wäre es pflichtmäßig und recht, diesen Angelegenheiten das Vergnügen aufzuopfern. Aber dem ist nicht so; Der Ruf der Einladung ist ein Ruf zur Thätigkeit, zum Genuß, der aber ohne Thätigkeit gar nicht seyn kann. Diesem zu folgen ist das wichtigste und höchste Geschäft, dem jedes andere weichen muß. Keinem darf die vorzüglich aufs Irrdische gerichtete Thätigkeit und Arbeit mehr gelten als das Ganze; ja wenn wir auf das sehen, was allein wahren Gehalt und Werth gibt: wir müssen gestehn: so muß er auch aller irrdischen Güter nicht froh werden können, ihren Besitz nicht sicher und fest gegründet haben, wenn ihm der Besitz der höhern Güter, der geistigen Gemeinschaft nicht gesichert ist, weil sie ja sonst allen Übeln, ausgesetzt sind, weil dann leicht Kräfte und Raum gewinnt, was feindselig gegen sie sich erheben kann, und dann auch allem irrdischen Sorgen den Untergang droht. Sollten wir glauben, es sey nur Unverstand der Menschen, welcher sie treibt, dann doch nicht zu kommen, wenn die Stunde da ist: ein anderer Bewegungsgrund wird uns aufgestellt in unserm Texte bey dem letzten. Jene ersten schlugen die Einladung doch nicht ganz ab; nur in dieser Stunde sey das gegenwärtige Geschäft dringend und erfordere ihre wirksame Gegenwart; sonst würden sie wohl erscheinen. Dieser aber spricht seine Ausschlagung stärker aus: er kann nicht kommen. So m. Fr. so ist es in der That. Wenn um irrdischer Angelegenheiten willen die Menschen ihrer Pflicht untreu werden: so ge|stalten sie es so, als schieben sie nur auf, was 4 ein] einen

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sie thun sollen; es werden wohl noch Zeiten seyn, Theil zu nehmen an der Vollbringung des Guten; nur in dieser Zeit und Stunde würden sie gehindert. Aber das Mahl wird nicht aufgehoben; der Antheil der Geladenen nicht aufgespart. Wer nicht kommt, wenn er gerufen wird, der hat sein Recht daran verloren. Aber um des heiligsten, theuersten Bandes der Liebe willen um desjenigen willen, womit Gott den Menschen zuerst nach seiner Erschaffung segnete, und worin und womit er ihm die Verheißung gab zu allem Vortrefflichen und Schönen, um deswillen scheint vielen Recht zu seyn sich damit zu entschuldigen, er könne nicht kommen. Wenn Thätigkeit gefordert wird, welcher der Genuß der häuslichen Freuden, der Genuß des Glücks im engen geselligen Kreise aufgeopfert werden muß: dann meinen sie, der heiligen Pflicht müsse die andere nachstehen; dann meinen sie: es gebe ja doch genug, die durch so enge Bande nicht gebunden wären und statt ihrer dem Rufe Gottes folgen könnten. Aber der Erlöser sagt: wer um meinetwillen nicht verlässt Vater und Mutter, Bruder und Schwestern, der kann mein Jünger nicht seyn, der schließt sich von selbst aus vom Antheil am Reiche Gottes. Aber m. Fr. es ist auch selten so wie es scheint. Es ist nicht die größte Anhänglichkeit an irrdische Güter an die Familienbande welche uns abhalten und wodurch wir uns entschuldigend das Ansehn geben möchten, als dienten wir den Unsrigen mehr; sondern größten Theils, denn Entschuldigungen enthalten ja selten den wahren Grund unserer Handlungen, verbirgt sich dahinter etwas weit Unwürdigeres. Erscheinen dem Menschen die Freuden des Mahls in der Ferne; dann verspricht er Theil zu nehmen, und der hält sich stark genug zu der damit verbundenen Vorbereitung und Thätigkeit; heißt es: die Stunde ist da: so sieht er die Sache und seine Thätigkeit, den Kampf und Streit wozu er aufgefordert wird in einem ungewissen Ausgange; dann ist es eben die innere Feigherzigkeit, diese, welche den Menschen von seiner Pflicht zurückhält, die Trägheit, die genießen will; aber nicht erwerben, welche jene Entschuldigung hervorbringt, daß sie nicht erscheinen könnten, auf die Freuden des Mahles Verzicht leisten wodurch sie sich ausschließen von der Thätigkeit in dem göttlichen Reiche und von allen Segnungen desselben. Wohlan was geschieht dem Menschen? Das Mahl kommt nicht um. | Es geschieht doch, was seinen weisen Absichten gemäß geschehn soll, was nach seinen ewigen Gesetzen unvermeidlich nothwendig ist: so wird das bereitete Mahl auch von Menschen genossen, aber nicht von denen, die berufen waren, und den Ruf nicht annahmen. Eben das ist der Grund, warum der Erlöser sagt: nicht die Weisen sondern die Thoren, nicht die Verständigen, die Gerechten und Reichen werden das Himmelreich schmecken, sondern die Unmündigen und Einfältigen und Armen. Überall gibts eine große Menge von Menschen, die unmittelbar nicht geladen zu seyn scheinen; aber wenn die Geladenen 14–16 Vgl. Lk 14,26

37–40 Vgl. Mt 5,3–10

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sein Mahl verschmähen, dann ruft der Herr diese; dann entstehen aus den Nichtgeladenen Gäste und Theilnehmer, und nur diese gelangen zum bereiteten Genuß. Wenn die Weisen es verschmähn, mit Anstrengung ihre Kräfte dem Dienste des Herrn zu widmen ihre Fackel hoch zu erheben und ihr Licht leuchten zu lassen für die Schwachen, dann rüstet sich der Herr Werkzeuge aus aus den Einfältigen im Volke, die seine Stimme vernehmen, dann rüstet er sich aus den Niedrigen und Schwachen Streiter aus für seine Sache, die seine Endzwecke mit Muth und Kraft vollenden mögen, und ihnen den Verachteten und Einfältigen öffnen sich die Herzen und Ohren der Menschen – das Mahl des Herrn kommt nicht um. Wenn (dann) die, denen Gewalt und Macht gegeben ist, wenn die, die schon lange Ordnung und Gesetz halten, beydes nicht benutzen um der Ungerechtigkeit Einhalt zu thun, um allen Mißbrauch, der mit den Gütern des Himmels getrieben wird, zu steuern alle irrdischen Kräfte zum Dienste des Höchsten zu richten und zu verwenden, und ihrer Verschwendung zum Schlechten Widerstand zu leisten; dann beruft der Herr Völker, die unter den gebildeten und genußreichen nicht genannt werden; sie ergießen sich dann wie verherende Sündfluthen über die Länder, wo Unlauterkeit ist und Verderbniß, und wie ein Gericht Gottes zerstören sie, was nicht bestehen kann und durch sie begründet sich eine neue Gestalt der Dinge, wie es auch mit der gewesen ist, in der wir jetzt leben und durch welche das Reich Gottes erhalten und erweitert ist, und zu dem die Nichtgeladenen gelangt sind. Aber wenn es dahin gekommen ist, wenn der Herr so entschieden hat; dann kann er nicht anders sagen, als: ich sage euch aber, daß keiner von ihnen mein Abendmahl schmecken wird. Denn die, welche die Stürme der Zeit überlebten, welche, gewaltsam mitfortgerissen in die neue Ordnung der Dinge übergehen, welche aufgenommen werden in den Genuß des Guten; das nun doch und ohne sie aufs neue bereitet ist: wie könnten sie je das Kleid aufweisen, in dem die Menschen allein erscheinen dürfen bey diesem Mahl, das Kleid eines guten Gewissens und der steten Bereitwilligkeit zum Reiche Gottes mit zu arbeiten; wie muß jedes Gute, was sie aus der Ver|wirrung hervorgehn sehen, sie nur noch mehr vernichten und zerknirschen, wie müssen sie sich unwerth fühlen und unfähig, irgend ein Gutes was ohne sie und gegen ihren Willen geschafft ist, mit zu genießen. Wie muß die Last der Vorwürfe sie zu Boden drücken und in allem was sie auch thun der Wurm der nimmer schläft, an ihrer Seele nagen, und wie wir uns denken das große Gericht Gottes nach diesem Leben: so ist es auch schon in dieser Welt und alle werden jenachdem sie der Ruf des Herrn annehmen oder verschmähen, schon hier gerichtet. Und daß keiner sich entschuldige mit dem was andere 24 sagen, als:] sagen: als, 28–30 Vgl. Mt 22,11–14

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thun. An jeden besonders ergeht der Ruf und jeder hat ihn angenommen, und ist verpflichtet ihm zu folgen, und Niemand darf die Entschuldigung machen, es gebe noch Etwas, was dem Menschen zu viel werth wäre, um es für das Reich Gottes stehen zu lassen, und es können nicht auch verlangt werden, daß er alles aufopfere und hingebe. Nur durch Opfer und Hingebung alles Irrdischen erwirbt er sich das Recht Theil an dem Mahle des Herrn zu nehmen, und ob alle ausbleiben, und ob er in die ganz fremde Gesellschaft der Unberufenen kommt; es ist doch der einzige Ort, wo ihm wohl seyn kann, und die einzige Art, wie er genießen kann, und wer treu bleibt dem Herrn der wird erfahren, daß kein Opfer zu groß gewesen ist, um Theil zu nehmen an dem Mahle des Herrn. Amen.

4 stehen] stehren

Am 10. November 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 20,23 Nachschrift; SAr 26, Bl. 77r–80v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 127r–134v; Matthisson Keine

Sonntag den 10. Nov. 11.

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Meine Freunde. Die Abschnitte der heiligen Schrift, die jetzt am Ende des kirchliches Jahres und ehe der neue Kreis unserer frommen Betrachtungen bey der Zukunft des Erlösers ins Fleischliche beginnt, seit langer Zeit zum Grunde der kirchlichen Andacht in dem größten Theile der christlichen Kirche gelegt werden, haben fast alle Einen Gegenstand. Es sind größtentheils Gleichnißreden des Erlösers die sich beziehen auf jene gänzliche Offenbarung des göttlichen Reiches, auf jene Verherrlichung dessen, was durch Christhum gewirkt werden sollte, und die nur in der gänzlichen Scheidung der Guten von dem Bösen gedacht werden kann; kurz sie beschäftigen sich mit dem letzten Gericht Gottes, und er stellt darin das Himmelreich in mancherley Gleichnissen dar. Wie nun alles, was auch von der herrlichsten und vollkommensten Gestalt des göttlichen Reiches gesagt wird, für uns nicht bloß Gegenstand unserer Hoffnung ist, sondern das, wonach wir auch schon hier streben, und von dem wir voraussetzen sollen, es könne die Annährung desselben nur durch unsere Treue und Wirksamkeit erreicht werden, davon halten wir uns alle überzeugt. Wem unter uns sollte auch nicht so zu Muthe seyn, daß, wenn wir auch gleich freylich wissen, es könne nicht anders seyn in diesem Leben, als daß die Guten und Bösen unter einander sind bis an den Tag der Scheidung, daß wir nicht wenigstens herzlich wünschen und nicht bloß wünschen sondern auch darauf hinarbeiten sollten, daß in der Gemeinde des Herrn in der Kirche Christi diese Vermischung nicht Statt finde, und daß die Scheidung zu jeder Zeit in ihrer reinen Schönheit sich dem Herrn darstellen könnte, die als ihr letztes und herrlich8 dessen] des

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stes Ziel betrachtet wird. Mitten unter diese Reden, in welchen Christus diese Scheidung der Guten und Bösen als das letzte Ziel seiner Bemühungen und dessen, was der Vater für ihn zu thun verheißen hatte, darstellt, tritt eine andere, welche an dem heutigen Tage der gewöhnliche Gegenstand der christlichen Betrachtung ist, in der freylich auch von der Verwerfung eines Menschen als unfähig zum Reiche Gottes geredet wird, aber so, daß der Erlöser sagt: deßwegen, weil er nicht vergeben habe seinem Mitmenschen und Mitknechte seine Schulden, werde seine eigene Schuld gegen ihn geltend gemacht und er hinausgeworfen in die Finsterniß. Diese Rede scheint nicht zusammenzustimmen mit den übrigen. Wie, wenn wir darauf hinzuarbeiten haben, die Guten von den Bösen zu scheiden, sollen nur diejenigen als solche erscheinen, die nicht verworfen werden können, welche gern und leicht verzeihen? Ist es die Gelindigkeit gegen die Sünde, welche das Urtheil der Verdammniß von den Menschen abwendet, und sollen also die, welche Strenge auf die Scheidung wirken wollen, sollen sie selbst das Loos der Verdammten, Verwerfung mit ihnen theilen? Dann wären ja, und das ist die Meinung der leichtsinnigen | Menschen, diejenigen, welche indem sie das Böse als Verwirrung und das Gute als Schwäche darstellen, allen Unterschied zwischen Guten und Bösen aufheben wollen, gerade diejenigen, welche der göttlichen Vergebung am sichersten wären. Daher entsteht für uns die wichtige Frage, wo ist die Grenzlinie zwischen der Gelindigkeit, mit welcher der Mensch die Sünde vergeben soll, und jener Strenge, wodurch er gleichsam als Gehülfe und Vorbereiter des richtenden Gottes da sein soll. Joh. 20, 23. „Welchen ihr die Sünden erlasset, denen sind sie erlassen, und welchen ihr sie behaltet, denen sind sie behalten.” Schon oft, m. christl. Zuhörer, habe ich von dieser Stätte herab über dieses ernste Wort des Erlösers geredet; daher ich eben so wenig über den Zusammenhang, in welchem sie stehen, etwas sagen als erinnern will, wie sie nicht einen den Aposteln allein, sondern uns allen ertheilten Auftrag in sich enthalten. Um deswillen habe ich sie zum Grunde unserer Betrachtung gelegt, damit uns aus den Worten des Erlösers selbst erinnerlich werde, wie er neben dem Erlassen auch das Behalten der Sünde, neben der milden vergebenden Liebe auch das strenge Urtheil gegen das Böse der Seinigen zur Pflicht macht und beydes mit gleicher Verheißung, als in seinem Namen gethan erklärt. Wir haben es zunächst mit dem letzten Theil seines Gebotes zu thun, und wollen in der gegenwärtigen Stunde Betrachtungen anstellen über das Urtheil der Christen, welches die Sünden behält. Laßt uns zunächst überlegen, wen dieses strenge Urtheil betreffen soll, und dann werden wir 1–3 Vgl. Mt 25,31–33; Joh 5,28–29

7–9 Vgl. Mt 18,23–35

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uns zweitens leichter einigen können, was der Geist dieses Urtheils ist, und worauf es dabey ankommt.

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I. Wenn wir die Sünden nicht bloß vergeben, sondern auch behalten sollen – wem sollen wir sie behalten? Denjenigen, welche uns der Erlöser in dem heutigen Evangelio darstellt, wo er von einem Knechte redet, dem sein Herr die Schuld erlassen hat, und von einem andern, dem eben dieser die geringere Schuld nicht vergeben wollte und wobey er den zum Vergeben ermuntert und vor der Strenge warnt, diese werden beyde dargestellt als Diener ihres Herrn. So stellt der Erlöser immer die Seinigen dar, diejenigen, welche sein Wort annehmen und glauben, seiner Lehre folgen und eben dadurch thätige Arbeiter sind in seinem Weinberge. Eben diese also unsere Mitknechte soll das strenge Urtheil gegen die Sünde nicht treffen, für sie ist die Nachsicht und Milde. Wir wissen es, wenn sie sündigen, wenn sie Schuld auf sich laden, es ist nicht das Innerste ihres zum Theil schon gebesserten und geläuterten Herzens, woraus sie hervorgeht; es ist die traurige Folge der menschlichen Schwachheit, die Gebrechlichkeit dieses schon geoffenbarten Herzens, der nur Mitleid gebührt und hülfreiche Liebe. Da ist es, da sowohl wo sie Fehler gegen uns selbst als gegen die gemeine Sache begehen, da ist es, wo wir uns der Schulden zu erinnern haben, die Gott uns vergeben hat; da sollen wir uns fragen, ob unser Herz schon ganz rein ist von Schwachheit, ob wir keines Fehltritts, keiner Übertretung mehr fähig sind, ob in uns nicht noch bald Selbstgefälligkeit, bald Eitelkeit, die von andern in uns erzeugt wird den richtigen Blick und die rechte That trübt und verdunkelt. Das also sind | die, auf welche uns der Erlöser verweist mit jenem Gebot, die Sünde zu erlassen, bis ins Unendliche hin zu vergeben, immer nur zu pflegen das in ihnen sich regende Gute, immer aufzumuntern, wo Trägheit und Schwachheit sich ihrer bemächtigen will, immer zu streiten gegen die inneren Feinde ihres Herzens, und ihrem Sehnen und Trachten nach Vervollkommnung Hülfe zu leisten. Wohlan m. Fr. wenn wir fragen, welchen wir die Sünde behalten sollen: sind es diejenigen, die sich außer aller Gemeinschaft des Glaubens und der Liebe mit uns gesetzt haben; sind es jene, die es nicht bloß zeigen in ihrem Wandel, sondern auch laut aussprechen, daß ihr Dichten und Trachten nur darauf gehe, die Freuden der Erde zu genießen, daß sie alles Gute und Edle nur zum Dienste der Sinnlichkeit gebrauchen, und Recht, Gesetz, Ordnung[,] Sitte ihnen nur so lange heilig ist, als alles dieß ihrem Vortheil dient. Dieß m. christl. Fr. sind die, welche für uns draußen stehn und von denen der Erlöser sagt: sie haben sich selbst gerichtet. Warum sollten wir ihnen, die wir schon kennen, noch eine angestrengte Aufmerksamkeit widmen, und auf das Einzelne ihrer Handlungen hinsehen? Auch wir haben sie schon gerichtet und wissen, daß 4–9 Vgl. Mt 18,21–35 (Sonntagsperikope)

37–38 Vgl. Joh 3,18

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nichts, was aus solcher Denkart hervorgeht, sich je unseres Lobes erfreuen kann. Um sie im Einzelnen zu richten, dazu sind die Gesetze und Ordnungen der bürgerlichen Gesellschaft. Sie werden es ja nicht dulden, daß die, welche ihnen Hohn sprechen, es ungestraft thun, sie werden ja nicht Nachsicht und Milde gegen sie anwenden, wodurch ihr Werth verloren gehn müßte, indem sie im Allgemeinen wohl Strenge zeigten, aber im Einzelnen der Gunst und dem Zufall Raum ließen über ihre ewig bestehende Gültigkeit. Und wenn die Thaten derer, die sich zu einem solchen Leben und zu einer solchen Ansicht der menschlichen Bestimmung bekennen, unbestraft blieben, wenn sie behutsam und schlau den Gesetzen entgehen: so gibts noch ein anderes Gericht auch für diese Thaten. Es ist das Gericht der öffentlichen Stimme, die auch in allen, selbst in denen, die noch auf eine unfruchtbare leere Weise die Wohlthaten des Glaubens und der christlichen Lehre genießen, sich vernehmen läßt für das Recht, für das, was aus dem Wesen der menschlichen Vernunft hervorgeht und jenen großen Unterschied feststellt zwischen dem, was recht ist und gut und wahr, und dem, was darauf ausgeht, die Wahrheit und das Recht herabzusetzen. Diese Stimme wird ja niemals verstummen, und alle wenn auch nicht als Jünger des Herrn werden doch als Mitglieder der menschlichen Gesellschaft sich gegen die verbinden, welche darauf ausgehen, alles menschliche Wohl zu zerstören und auf den Trümmern desselben ihr eigenes zu bauen wähnen. Welche bleiben uns demnach übrig, welchen Christus die Sünden zu behalten heißt? Es sind diejenigen, welche sich nicht losgesagt haben von jenen ewigen Wahrheiten, welche nicht verkennen die Stimme Gottes, welche zu ihnen redet in seinem Worte und in ihrem eigenen Herzen, welche sich rühmen, daß auch sie vernehmen das Wort des Herrn, welche es aufgenommen haben durch den Unterricht in ihrer Jugend, und dessen Lehren sie noch als wahr zu erkennen erklären; aber die doch das vernommene Wort im Herzen nicht bewahren, in denen es keine Frucht bringt, in denen es erstickt wird durch ein Verderben des fleischlichen Sinnes und Wandels, welches | sie auszurotten aus ihrem Herzen nicht ernstlich bemüht sind. Der Erlöser gibt uns in einer der herrlichsten Gleichnißreden einen bestimmten Fingerzeig, wie wir uns die verschiedenen Arten dieses Zustandes zu denken haben, indem er redet von solchen, die das Wort Gottes zwar in sich aufnehmen, aber dann kommt der Feind des Menschengeschlechts und nimmt es heraus. Wohlan, diese Söhne des strafbaren Leichtsinns, diese nicht festgegründeten Gemüther, die jetzt das Wahre und Gute mit Eifer umfassen, und jetzt eben so leicht von einer anderen Stimme gelockt werden, die freilich sich rühmen jeder guten frommen Empfindung, aber nicht tief in das Innere dringen, 6 Einzelnen] Einzeln 31–35 Vgl. Mt 13,1–23; Mk 4,1–20; Lk 8,5–15

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und sich dessen nicht bewußt werden, daß sie in dem nächsten Augenblick eben so leicht ein Raub einer sinnlichen irdischen Regung werden – diese sind es, denen wir die Sünde behalten sollen. Diejenigen ferner welche das Wort aufnehmen – und es geht auf aber bald wächst das Unkraut hindurch und gewinnt die Oberhand und die Sorgen des Lebens ersticken, was sich so eben aus dem edlen Saamen zu gestalten begonnen hatte. Diese also, die das Wort Gottes, jene heiligen Gründe aller menschlichen Veredlung und Wohlfahrt in das Innerste ihres Gemüths aufgenommen und begonnen hatten sich danach zu gestalten; aber aus dem fruchtbaren irdischen Boden wachsen dann auf wilde Neigungen und Leidenschaften die aber eine schöne Gestalt der Kraft und des Wachsthums an sich tragen und die dann ausgegeben werden für das, was aus edlem Saamen erzeugt sey, so daß man theils sich selbst überredet, theils dem allgemeinen Urtheile beystimmt es wären diese zu einem hohen Grade der Kraft und Vollendung gediehenen Fertigkeiten und Talente gewachsen auf dem Gebiet des göttlichen Wortes, deren Wurzel aber nicht herauskeimt aus dem göttlichen Saame und die wohl üppig um sich greifen und gedeihen können; aber keine edle Frucht tragen, und die bessere Saat, die sich angefangen hatte zu bilden, vielmehr ersticken – diese sind es denen wir die Sünde behalten müssen, damit der Unterschied deutlicher werde zwischen dem, was aus diesem edlen und was aus anderem Keine entsprossen ist. Endlich die erwähnt der Erlöser welche den Saamen aufnehmen, und in denen er auch keimt und aufgeht, aber der, wenn ihn die Hitze der Saame trifft, bald verdorrt; es sind die, welche zur Zeit der Anfechtung vom Guten abgeschreckt werden; die, in welchen das Wort Gottes Wurzel geschlagen hat, welche einen ernsten Entschluß gefaßt haben, aus welchem ein Wachsthum und eine Saat des Guten hervorgehen soll, welche ausgebildet haben ihr Urtheil über das was recht ist und Gott wohlgefällig und über das was verwerflich. Wenn aber die Zeit kommt, wo Aufopferung und Anstrengung gefordert wird, dann treten sie zurück aus Feigherzigkeit und Menschenfurcht, dann zeigt sich daß die Wurzel nicht tief genug gegangen ist, daß sie sich nicht kräftig genug in das Herz eingeschlagen hat, um das Innere ganz zu durchdringen. Diese sind es, denen wir die Sünde behalten sollen, damit alle sehen, daß es ein wahres Wort des Erlösers ist: Du sollst Gott mehr gehorchen, als den Menschen; fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tödten, aber die Seele nicht vermögen zu tödten etc; und wer nicht verlässt um meinetwillen Vater Mutter und alles was sein ist, der kann mein Jünger nicht seyn. So meine Fr. sind uns durch den Erlöser diejenigen bezeichnet, auf welche er zurückdeutet und auf welche das Gebot die Sünde ihnen zu behalten, und die Verheißung, daß sie ihnen auch behalten ist im Himmel, sich bezieht. 34–35 Vgl. Apg 5,29

35–36 Vgl. Mt 10,28

36–37 Vgl. Mk 10,29; Lk 14,26.33

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II. Laßt uns zweitens sehen: Wie haben wir dieß strenge Urtheil auszuüben. Die Antwort liegt schon leicht und offenbar in dem Ausspruch des Erlösers. Wie das Vergeben auch oft dargestellt wird, als ein Vergessen: so heißt | hier das Gegentheil behalten, es wird vorgestellt als ein Behalten im Gedächtnisse, als ein Festhalten in Gedanken, als ein stets im Augehaben dessen, was geschehen ist. Wie aber dadurch der Zweck unsers Urtheils erreicht wird, wird uns eine kurze Betrachtung zeigen. Denn m. Fr. was ist es, warum wir ihnen Sünde behalten sollen, als dieß, daß wir zunächst dem verderblichen ansteckenden Einfluß ihrer Denkart auf uns entgegenarbeiten; daß wir wo möglich ihr eigenes beßeres Bewußtseyn aufregen, damit sie allmählig wieder denen gleichen, denen auch wir die Sünde erlassen können. Aber eins ist nicht ohne das andere, und es möchte wohl keine (andere) Art geben, und kein anderes Mittel, diesem Verderben für uns selbst zu widerstehen, welches nicht auch dasselbige wäre, wodurch wir ihren Einfluß auf die ganze sittliche Welt zu hemmen suchen. Darum ist die Pflicht, die wir haben gegen das Reich Gottes gegen das Gedeihen des göttlichen Saamens nothwendig das Erste, und alles andere muß sich erst daraus ergeben. Wohlan so laßt uns zuerst für uns selbst die Sünde derer, denen wir sie behalten sollen, immer im Auge haben, selbst dann, wenn sie Gutes thun. Denn m. Fr. das müssen wir festhalten, wo ein solches Verderben im Gemüth waltet, da kann nichts wahrhaftes Gutes seyn, nichts was nicht von diesem Verderben befleckt würde, und das ist der Unterschied, warum wir dem einen das Böse erlassen, dem anderen behalten sollen. Auch in der Schwachheit der christlich Gesinnten sehen wir immer Mängel und Flecken, die wir abwaschen möchten, aber darunter doch verborgen die göttliche Gestalt, in welche er sein Leben zu kleiden sucht, doch den göttlichen Sinn und Geist welcher sein ganzes Leben und Daseyn erfüllt; aber auch im scheinbaren Guten das, der noch dem sinnlichen Verderben hingegeben ist, das Verderbliche. Welchen schädlichen Einfluß auf uns würden wir ihnen einräumen, wenn wir darüber unser Urtheil nicht feststellten, wenn wir durch Mangel an strenger Unterscheidung und Beurtheilung den Maßstab verlören, nach dem wir ihr und unser eignes Leben zu betrachten und zu richten haben, wenn wir der schmeichelnden Äußerung Gehör geben wollen und den entschuldigenden Reden welche andere bey ihren verwerflichen und scheinbar guten Handlungen zu erheben pflegen. Ja, wenn die Regungen des Gemüths, die auch in ihnen die Betrachtung der Wahrheit hervorbringt, nicht stark genug sind, um sie auf dem Wege der Gottseligkeit nicht zu schützen gegen Verführungen, wenn sie noch irrdischen sündlichen Wünschen und Rücksichten Gewalt über ihr Herz einräumen: so können auch die frommen Empfindungen, deren sie sich rühmen, nicht rechter Art gewesen seyn; so liegt doch ein Verderben zum Grunde, das ihnen Segen zerstört und alles Gute was daraus hervorgehen will, befleckt und vernichtet. Wir wissen, auch unsere guten Thaten, unser

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christliches Leben, unser göttlicher Wandel ruht auf dieser Erkenntniß des göttlichen Worts, auf den frommen Gefühlen des Herzens, die in unser Leben übergehn, und es eben heiligen und Gott wohlgefällig machen – o daß wir sie uns rein erhalten von aller fremden Beymischung! Wenn wir sie aber dem gleichartig setzen, was im Gemüthe des Menschen vorgeht, dessen Thaten schlecht stimmen zu seinen Einsichten und Gefühlen, und in denen man eine doppelte Reihe entgegengesetzter Empfindungen und Regungen verfolgen kann, von Gottwohlgefälligen auf der einen, und sündlichen verderblichen auf der andern Seite – wie werden wir dann noch über uns selbst wachen, von uns selbst Rechenschaft ablegen können! Eben so wenn wir alles, was sich von Fertigkeiten Gaben und Geschicktheiten des Menschen zu allen guten Werken in ihm findet | nicht bis auf die Quelle zurückverfolgen, wenn wir uns nicht bewußt werden, es hat nur seinen Ursprung in einem Gott zugewendeten Gemüthe, nur den Zweck, den Willen des Höchsten zu erfüllen. Wehe uns, der Keim unsers Urtheils ist schon verfälscht, wenn wir Talente und Gaben des Geistes, die nicht durch göttliche Wurzel genährt nur Mittel und Werkzeuge sind, um der Eitelkeit zu schmeicheln, leeren Ruhm damit bey den Menschen zu erwerben, wenn wir diese gleich setzen wollen mit dem, was sich freylich oft nur langsam, und weniger üppig und scheinend aus göttlichem Saamen entfaltet. Und noch mehr und vorzüglich in der gegenwärtigen Zeit, laßt uns wachsam seyn in unserem Urtheile gegen das, was solche Menschen auch Gutes bisweilen thun, die doch zu anderer Zeit der Feigherzigkeit unterliegen. Wie kann kräftige Liebe zum Guten da seyn, wo nicht alles übrige aufgeopfert wird, um ihr treu zu bleiben. Und wenn wir uns gewöhnen, eins gegen das andere in die Wagschale zu stellen, und das feigherzige Zurücktreten entschuldigen wollen durch das, was sie früher gutes und verdienstliches ausgerichtet haben – werden wir dann nicht auch uns bald damit entschuldigen wollen, und wenn wir so (nur) einmal etwas Gutes thun, um es zur andern Zeit unterlassen zu können: dann werden wir bald denen gleichen, die das empfangene Pfund aus feiger Furcht es zu verlieren, ungenutzt vergraben? Um uns davor zu hüten, laßt uns festhalten und stets im Auge haben: der Mensch, welcher von Menschenfurcht beseelt ist, kann nicht thun, was Gott gefällt; er fehlt gegen das Gebot der Selbstverleugnung, und wer sich nicht selbst verleugnet kann nach dem Ausspruche des Erlösers sein Jünger nicht seyn, und wer sein Jünger nicht ist, der hat auch seinem Geist nicht, und wer nicht aus seinem Geiste handelt, hat auch nie etwas Gutes gethan. – Aber nicht nur für uns selbst, laßt uns die Sünde der Menschen im Auge behalten: sondern auch öffentlich laßt uns der inneren Stimme die Ehre geben, laßt uns nicht von Feigherzigkeit ergriffen unser Urtheil zurückhalten und verschweigen. Ja, laßt uns laut verkündigen, daß wir nicht glauben an die 30–31 Vgl. Mt 25,25

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schönen Reden der Menschen, wenn nicht ihr Leben Zeugniß gibt, daß es nicht Worte allein sind, sondern daß auch ins Leben gegangen ist ihre Erkenntniß, daß wirksam sind jene frommen Regungen, deren sie sich rühmen; laßt es uns laut und unverholen sagen, wie wenig wir denen trauen, die von allzu beweglichem Gemüthe im nächsten Augenblick eben so leicht zum Bösen hingerissen werden, als sie in diesem empfänglich und erwärmt sind fürs Gute und Edle, daß wir keinen Werth legen auf Gaben und Vollkommenheiten, wenn nicht darin ist jene reine Liebe zu Gott, jener ungefärbte Glaube, jene Treue des kindlichen Gemüthes, daß auch die ausgezeichnetsten Gaben und Fertigkeiten keinen Werth für uns haben, | wenn sie nicht aus dem Glauben kommen und zum göttlichen Dienste gebraucht werden; daß wir sie wohl bewundern können, aber nicht achten und werthschätzen, weil wir alles, was zum Guten dienen kann, nur sehen wollen in den Händen des Glaubens und der Liebe, und weil uns die Gaben solcher Menschen gefährliche Werkzeuge zu seyn scheinen, in denen der Feind wohnt, der das Gute, was wir bauen und fördern, zerstören möchte. Laßt uns kräftig auftreten gegen die Feigherzigkeit und Furcht vor irdischer Gewalt, die sich laut ausspricht in diesen Tagen; laßt es uns äußern und zeigen, daß wir nichts halten von jener verderblicher Klugheit die jetzt die Kräfte, das Gute zu fördern, zurückhält, weil jetzt, es die Zeiten nicht sind, die jetzt dem Laster schmeicheln, dem Bösen huldigen, um desto unbemerkter und sicherer das Gute zu wirken, um für eine beßere Zeit Kräfte bereit und ungeschwächt zu haben. Nein nur in der Treue gegen den einfachen Befehl Gottes, nur in der herrschenden Neigung, stets seinen Willen zu erfüllen nur in dem Gehorsam, der in jedem Augenblick rein erhält das Gewissen, nur darin liegt das Heil; nur daraus kann Gutes kommen; nur in dieser tapfern Gesinnung kann die Sache Gottes Rettung finden, und untergehn muß sie, wenn sie gelassen wird in den Händen der Feigen und Muthlosen. Wenn wir so zuerst uns selbst hüten vor der Sünde derer, denen wir sie behalten, wenn dann unser Wort und Wandel nur da ist zum Dienste Gottes, und wir uns nicht scheuen auszusprechen, was sich als Urtheil des göttlichen Geistes uns aufdringt: so ist dieß die einzige Hofnung, um beßernd auf sie zu wirken. Eben weil sie den Saamen des göttliche Wortes aufgenommen haben, weil sie sich bekennen zu den großen Lehren des Glaubens der menschlichen Vernunft: so muß ihnen gelegen seyn an dem Urtheil der Guten: so wird sie, des Beyfalls und der Achtung der Guten beraubt, eine edle Menschenfurcht ergreifen, woraus sich (allein) die wahre Gottesfurcht enthüllen kann; so werden sie versucht werden, zu erwägen, ob auch die göttliche Saat so gereinigt ist von Unkraut, dessen Daseyn in ihnen wir zu erkennen geben; so werden sie in unserm Ernste ein Gegengewicht finden gegen den Leichtsinn, und einen Unterschied fühlen zwischen 39 gereinigt] gereigt

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flüchtig vorübergehenden Regungen des Herzens und zwischen einer so festen, tapfern, sich stets gleichen Gesinnung, welche unser Urtheil begründet. Und erreichen wir dieß nicht; ist so Rede, wie That bey ihnen verloren, sehen wir in unserm Bestreben keine Wirkung auf sie: so laßt uns doch festhalten an dem Glauben daß wir recht gethan, und nicht aufhören das zu thun, was wir als unsere heiligste Pflicht erkannt haben. Es ist ja die Sache des Herrn, für die wir arbeiten, und für die unsre Kräfte zu verzehren unsere größte Seligkeit seyn muß, und weil es die seinige ist, wird sie nicht untergehen | dieß zu hoffen, sind wir berechtigt, und wenn unser Glaube und unsere That stark sind, so wird unsere Hoffnung nicht zu Schanden. Ist aber erst unser Glaube schwach; dann verlieren wir auch die Kraft, den Befehl des Herrn zu erfüllen; aber erfüllen wir ihn treu und standhaft, üben wir durch alle Beschwerden und Widerwärtigkeiten unsere Kraft; gewinnt dadurch unser geistiges Leben, so wird auch der Glaube nicht von uns weichen, der Glaube daß der Herr der so mächtig sich erweist in dem Schwachen, der um unser Herz und Gemüth allmählig zu seinem Tempel zu bilden, es stärkt und erfüllt gegen alle Stürme von außen, daß er mit derselbigen Kraft die ganze Menschenwelt gestalten wird zu einem großen Tempel der Liebe und des Glaubens, zu dem wir gehören und gehören werden bis ans Ende unserer Tage. Amen.

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Am 8. Dezember 1811 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 21,25–36 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 26, Bl. 81r–84v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 135r–143r; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher

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Meine Fr. Bald nachdem der Erlöser sich von der Erde entfernt hatte, erwarteten seine Jünger auf manches früher gegebene verheißungsvolle Wort desselben gestützt seine nächst bevorstehende herrlichere Wiedererscheinung, und ihre Erwartung wurde erfüllt, wenn gleich nicht in demselbigen, doch in einem andern und höhern Sinn. Nicht leiblich erschien ihnen seine Gestalt aufs Neue und etwa noch deutlich mit den Spuren seines Leidens und Todes bezeichnet; aber sein inneres Wesen würde ihnen in einem herrlichern und höhern Lichte offenbar; und nicht bloß als Erlöser ihres kleinen Häufleins sondern als Erlöser des ganzen Menschengeschlechtes mochte er sich ihnen offenbaren, und so ist seitdem die allmählig fortschreitende Bildung der Menschen zu einem christlichen gottwohlgefälligen Leben zu dem seligen Zustande der Kindschaft mit Gott nichts gewesen als eine oft sich wiederholende Reihe solcher herrlicheren Erscheinungen des Erlösers. Von Zeit zu Zeit ist seine göttliche Gestalt den Menschen zurückgetreten in den Schatten, und dann ist sein Wort und seine Lehre von ihnen verschmäht, verkannt und auf manche Weise verunstaltet worden; dann aber ist sie wieder herrlicher erschienen als je, aus dem Dunkel ist ein reineres Licht aus dem Irrthum glänzendere Wahrheit hervorgegangen und die ganze Gemeinde der Christen hat erkannt, daß das Werk der Erlösung durch den Herrn nur in einem solchen Fortschreiten bestehen kann, indem wir ihn immer deutlicher erkennen. Darum müssen wir auch in dieser Zeit, welche zur Bereitung der Herzen für die Freude über seine Ankunft bestimmt ist, nicht bloß auf diese seine erste Erscheinung sondern auf alle nachfol0 Das Jahr 1811 ist zu vermuten, weil in den für Matthissons Nachschriften in Betracht kommenden Jahren die Predigttermine der Adventssonntage entweder belegt sind oder durch das Überlieferungsumfeld unwahrscheinlich sind.

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genden unsere Augen hinrichten und auf die Zukunft, wo er immer noch herrlicher erscheinen wird. Und diese Betrachtung ziemt sich gewiß und in unserer jetzigen Lage besonders. Wir fühlen, daß das Geschlecht der Menschen und besonders die zur Gemeinschaft des Herrn gehören von vielen und großen Übeln schwer niedergedrückt werden; wir können es uns nicht verbergen, daß die Ursache darin liegt, daß seit langer Zeit der großen Menge sein Bild verdunkelt ist, schlaff sind die Bande, wodurch wir an ihm hangen sollen, abgestumpft ist die Liebe, die wir zu ihm fühlen sollen, geschwächt ist jener Glaube, durch welchen allein der Mensch geschickt | wird zu allen guten gottgefälligen Werken. Darum, wie wir uns auch die Zukunft und die Erlösung von diesen Übeln ausmalen, darin sind die beßern einig sie kann uns nur unter der Gestalt kommen einer neuen alle Übel vernichtenden und die Quelle eines neuen Lebens eröffnenden Erscheinung dessen, von dem alles Heil ausgeht, und der der allgemeine Name ist, in welchem die Menschen ihre Seligkeit suchen sollen. Und in diesem hoffnungsvollen Glauben, in dieser allein richtigen und dem göttlichen Worte gemäßen Ansicht der Dinge soll uns nichts stören, und ohne von ihm zu einer gleichen Verwirrung verleitet zu werden, wollen wir die nur bedauern, die in einer anderen Kraft Rettung und Heil suchen, und uns fest überzeugt halten, daß, wenn nur erst Christus herrlicher erscheinen wird, wenn Glaube und Liebe erst inniger uns an ihn knüpft, dann auch alles Gute das wir immer begehen dessen Mangel wir immer schmerzlich fühlen mögen eben so gewiß reichlicher aufblühn muß, als es nur aus dieser Quelle des Heils hervorgehen kann. Aber wie da, als der Erlöser von der Erde verschwand, seine Jünger durch eine heilige Stimme aufgefordert wurden, nicht unthätig der schwindenden Erscheinung nach zu sehen: so sollen wir nicht unthätig seiner (neuen) Erscheinung entgegen sehen; sondern wie wir sie befördern und herbey führen mögen und würdig vor ihm stehn, das muß unsere erste Sorge seyn, und so sey es denn der Gegenstand, worauf wir in dieser Stunde unsere Gedanken und unsere Andacht hinrichten.

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Luc. 21, 25–36 Die Jünger des Erlösers hatten lange Zeit geglaubt, daß allmählig die Verehrung des Volkes gegen ihren Herrn und Meister zunehmender, daß es durch die wiederholte Darlegung der göttlichen Wahrheit, durch den zunehmenden Ruhm aller seiner Worte und Thaten gewonnen werden würde für seine Lehre und für die Anordnung seiner Würde als des göttlichen Gesandten den sie erwarteten um durch ihn von ihrer Noth erlöst zu werden. Oft schon hatte der Erlöser ihnen Winke des Gegentheils gegeben, ganz deutlich 31 Luc. 21, 25–36] Luc. 21, 25– 24–26 Vgl. Apg 1,9–11

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spricht er sich darüber aus in seiner letzten Rede, welcher er während seines letzten Aufenthalts zu Jerusalem theils an die Seinigen theils an die versammelten Haufen des Volkes hielt. Er fand es nothwendig | die Seinigen vorzubereiten nicht nur auf das, was ihm persönlich bevorstand, sondern auch auf die Schicksale, welche in der Folge alle seine Bekenner treffen würden. Darum legt er es ihnen in den verlesenen Worten vor Augen, daß die größte Verbreitung des von ihm ausgehenden Heils, die er darstellt als seine zweite Offenbarung, nur folgen könne auf Tage der Zerstörung und Vernichtung; sie darauf vorzubereiten und ihnen zu zeigen, wie sie sich zu verhalten hätten, das ist der Endzweck in dieser Rede. Laßt uns diese Worte bey der großen Ähnlichkeit jener Zeiten mit den unsrigen auf uns selbst und auf unsere Hoffnung anwenden, und wenn wir wahrscheinlich finden müssen, daß die Tage seiner neuen Erscheinung nur entstehn können aus den Tagen der Zerstörung, so laßt uns aus seinen Worten lernen, wie wir uns dann zu betragen haben. Es ist zweierley, was wir als besonders auf uns anwendbar herausheben. 1. Daß wir festhalten an der Zuversicht zu seinen Worten 2. daß wir uns hüten, daß unser Herz nicht beschwert werde. I. Wenn unserer Hoffnung und unserem Glauben das traurige Bild der Gegenwart entgegentritt und ihn zerstören will: so laßt uns festhalten an der Zuversicht zu den Worten unseres Herrn. Ach, es ist eine harte Lehre, die die Menschen nur selten und darunter immer nur wenige vernehmen, daß das Gute nicht anders als aus dem Übel hervorgeht, daß der Verklärung die Zerstörung vorhergehe, und daß nur die, die durch das Feuer des Leidens geprüft und bewährt sind, in das herrliche Gebiet der Freude, welches ihnen der Herr bereitet hat, eingehen können. Bey weitem der gewöhnlichste Zustand der Menschen ist ein solcher, wo nur Angenehmes und Unangenehmes, so auch Gutes und Böses gemischt und schwer zu übersehen ist, welches die Oberhand habe, und die Frage darnach, wenn sie auf das Allgemeine gestellt wird, als ein unnützer Vorwitz von den Meisten zurückgewiesen wird, im Kleinen und Einzelnen aber sich Jeder bemüht, aus dieser Mischung so viel er kann das Unangenehme und Böse entfernt zu halten und mit dem Guten und Angenehmen des Lebens in dem stillen Genusse desselben sich zu begnügen. Andere Zeiten sind es, wo gewaltige Kräfte gegeneinander treten, wo das Böse mit dem Guten in einem heftigen Kriege begriffen ist, wo man nur sieht, wie wenig das Auge durch die Mischung und Zährung hindurchzudringen vermöge, und wie jeder mit allen seinen Bestrebungen nur auf den einen Punkt hinarbeitet, an dem sein Glück zunächst zu sein scheint, wo (dagegen) jene Vereinigung | der menschlichen Kräfte, die uns als heiligste Bestimmung geboten und die einzige Bedingung alles wahrhaften Heils ist, dennoch ist vernachlässigt worden; wo das Böse, nachdem es allmählig und ohne Widerstand zu finden, plötzlich hereinbricht und alles bestehende Gute zertrümmert. In solchen Tagen der Veränderung der gewaltigen Erregung und Zerstörung da

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ist das Herz der Menschen verzagt und mutlos, um so mehr, je länger sie an jenen Zustand der Schlaffheit und des Genusses sind gewohnt gewesen. Da fängt ihre Hoffnung ihr Glaube an zu wanken; die Bilder die sie sich entworfen hatten von [einer] glücklichen Zukunft von dem allmähligen Fortschreiten des Guten, diese reichen nicht mehr zu und die meisten sind in Gefahr, von der traurigen Ansicht hingerissen zu werden, daß in solchen Zeiten die Welt nichts sey als ein trostloser Schauplatz der Verwirrung, wo kein sterblicher hindurchzudringen vermöge, und nichts zu erwarten, als daß alles zertrümmert werden und alles verloren gehn müsse was bisher von Großen und Kleinen Gutes gearbeitet und gestiftet ist. Meine and. Fr. wenn auch wir in Gefahr sind, von dieser trostlosen Ansicht überwältigt zu werden, dann laßt uns das Auge des Glaubens auf die Worte des Erlösers richten, von denen er sagt: Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte nicht, auf die Worte der Verheißung die er so zuverlässig in unserm Troste ausspricht: das Reich Gottes ist nahe. Aber laßt uns dabey die damalige Lage der Dinge nicht mit der jetzigen verwechseln und nicht dieselben Worte der Verheißung die er dort seinen Jüngern gibt, uns auf eine ungebührende Weise aneignen, sondern nur an das Allgemeine, was darin liegt, wollen wir uns halten und bey diesem was aber tröstlich genug ist, in unserer Betrachtung stehen bleiben. Wie es damals war, daran wird uns eine kurze Betrachtung erinnern. Das Volk dem der Erlöser angehörte und zu dem er gesandt war, hatte es immer unterlassen, auf den höhern Sinn seiner Rede zu achten, immer vergeblich hatte er darauf hingedeutet, was zu ihrem wahren Frieden diente. Hätten sie sich versammelt zu den Schaaren um unter seiner Fahne zu streiten, vielleicht wäre der Kelch des Leidens von der damaligen Zeit vorübergegangen. Da sie es nicht thaten, konnte das neue Heil nur aus der Zerstörung der damaligen Zustände hervorgehn. Das, worauf der Erlöser auch in unserm Texte hinweist mit seinen Noth und Zerstörung drohenden Worten, es war der angeborene Gottesdienst, jene angeborene bürgerliche Verfassung des Volkes, zu dem seine Jünger und Freunde gehörten. Sie hatten lange eingesehn durch seine Belehrung erleuchtet, wie jener Zustand nicht dauern könnte sie waren überzeugt, wie nur auf die neuen Grundsätze der geistigen Gemeinschaft aller Menschen das Reich Gottes könne gegründet werden und waren gefaßt, das wobey auch sie erzogen waren, was auch sie mit Anhänglichkeit geliebt hatten, es müsse untergehen, aber auch fest in der Überzeugung in dem tröstenden Glauben, es müsse etwas Beßeres entstehen, und der Erlöser richtet darauf | das Wort seiner Verheißung, wenn die Tage der Zerstörung kommen, so sollten sie gewiß seyn, daß auch die Erlösung gekommen und das Reich Gottes nahe sey. Auch wir m. Fr. fürchten ahnden nicht etwa eine bevorstehende Zerstörung, wir leben und athmen in derselben; vieles von dem, was unserm Volke heilig gewesen, ist zerstört und Neues ist in vielen Gegenden 37 Beßeres] Beßer

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an die Stelle gekommen; wir aber erwarten mit Furcht und Zagen, ob der Kelch des Kreuzes ihnen vorübergehn oder: ob auch bey ihnen bald Neues an die Stelle des Alten treten werde. Aber in dem Neuen, was sich gestaltet hat, erkennen wir die Erlösung noch nicht: so wie wir uns nicht überzeugen können, daß in unserm vorigen Zustande das Wort des Herrn und alle Segnungen seiner Liebe nicht hätten fortbestehen können. Wenn wir uns selbst nur von innen heraus wiedergeboren hätten, so wäre alles Äußere umgestaltet und einer beßern Zeit würdig geworden. So ist es nicht geschehen; die äußeren Formen sind zerbrochen, aber der verderbliche Geist ist geblieben. Darum können wir jene Verheißung des Erlösers nicht auf uns anwenden daß, wenn die Tage der Zerstörung kommen, die Erlösung nahe sey; vielmehr haben wir Ursache zu befürchten, wie der Kampf sich von nun entzündet, wie immer fort eine Zerstörung auf die andere folgen, wie ein Umwälzung die andere nach sich ziehen und ein Übel das andere verschlingen werde um ein neues zu gebären ehe die Erlösung erscheint, ehe Licht aus dem Dunkel hervorgeht, ehe die Gemüther von der traurigen Verworrenheit befreit, und die aufgeregten Leidenschaften unter die Gewalt des Göttlichen gebracht werden. Darum können wir nicht das Wort des Erlösers auf uns anwenden, dieß Geschlecht wird nicht vergehen, bis alles geschehen, bis des Menschensohn kommt von oben in einer größern Herrlichkeit. Aber m. Fr. an das Allgemeine wollen wir uns halten „Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht.” Wohlan, vergeht sein Wort nicht, so vergeht auch nicht seine Gemeinde, wenn es lebt als sein Wort und Leben: so vergeht auch das nicht, daß eben diese Gemeinde selbst die Pforten der Hölle nicht zu überwältigen vermögen sollen. Wie gewaltsam auch die Zerstörung sey – wie alles in Furcht und Zagen und Warten der Dinge begriffen sey – wir haben eine Kraft und Zuversicht die uns nicht sinken läßt, uns genügt es, fest zu halten im Glauben an den, den wir erkannt haben als die Quelle des Heils. Hat uns ihn der ewige Vater geschenkt, wie sollte er uns nicht mit ihm nicht alles schenken, hat er begonnen das Werk der Erlösung, wodurch der Vater sich verklärt in seinem Sohn, o es wird auch fortschreiten; und ist es vollendet, und ist die Gegenwart vorüber, so nicht mit ihr alles Ungemach und Leid, alle Drangsal und Noth, so wird der Nachwelt nur als kurze Unterbrechung erscheinen auch diese Zeit der Zerstörung, und sicher fortschreiten der unabänderliche Gang des Heils auch durch das Dunkel dieser Schicksale und aller widerstrebenden Kräfte. Diese Zuversicht ist der Fels, auf welchen die Gemeinde Jesu | erbaut ist; wer sie festhält, der ist eingewurzelt in die Gemeinschaft des Herrn und steht fest und unerschrocken in jedem noch so wüthenden Sturme, wer sie fahren läßt, der ist verloren, der ist hingegeben der äußeren 24–27 Vg. Mt 16,18 Mt 16,18

30 Röm 8,32

30–34 Vgl. Joh 17,4–5

37–40 Vgl.

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Gewalt und dem Brausen der Wasserwogen, der ist hingerissen in die Verwirrung der menschlichen Schicksale (auf eine Weise daß er nicht mehr den Herrn darin erkannt) und was wir sonst suchen mögen zu halten und zu stützen, wenn wir nicht halten und stützen die Lehre Christi – wir sind nicht sicher, daß es etwas Gutes ist, wir können nicht beurtheilen, wie weit das was wir wollen, schon durchdrungen ist von der Verderbniß der Zeit – aber halten wir fest an dem wahrhaft Guten, an allem, was der Wille des Höchsten ist, denkt jeder voll Zuversicht und Glauben nur daran, sich überall zu beweisen als ein würdiges Mitglied der großen Verbindung die der Herr unter uns gestiftet hat und sie zu erhalten und zu fördern, dann wird eben dadurch alles erhalten werden, was der Erhaltung werth und fähig ist, dann stehen wir fest auf dem Damm, der jedem Sturm der Zeit trotzt, dann ist die Brücke gebaut, die hinüber führt aus der verworrenen Zeit in eine darauf folgende ruhigere und herrlichere. II. Aber laßt uns auch die Ermahnung des Herrn betrachten: Hütet euch, daß eure Herzen nicht beschweret werden. Ich füge die anderen Worte nicht bey, weil er nicht bloß warnen gewollt haben kann vor einem groben Mißbrauch der zu unserer Erhaltung verliehenen Gaben vor dem Übermaß sinnlicher Neigungen vor dem Übernahme in dem irrdischen Genusse: sondern bey dem Erfolg wollen wir stehen bleiben „daß die Herzen nicht beschwert werden”, der Geist nicht schwerfällig unbeholfen und ungeschickt wird zu den mancherley Bewegungen und Thätigkeiten zu denen er bestimmt ist, die Klarheit und Ruhe des Handelns und der reine freye Blick des geistigen Auges nicht getrübt werde durch die Nebel die aus dem Übermaße auch des an sich edelsten und unschuldigsten Genusses entstehn daß wir nicht unthätig werden zur Arbeit durch die darauf folgende Schwächung und Auflösung der geistigen Gaben und Kräfte. In diesem weitern Sinn haben wir alle nöthig, uns diese Warnung zu Herzen zu nehmen. Wie wenige Menschen gibt es, die in dem Zustande der Ruhe nüchtern bleiben; die meisten sind bald von einem trägen Schlafe, bald von einem leichten flüchtigen Rausche überwältigt, und nicht nur aus dem Übermaße sinnlicher Genüsse, sondern auch aus dem Mittelmäßigen eines unschädlichen Genusses geht dieser verdächtige Zustand hervor, sobald das Gemüth nur darauf gerichtete ist. Wie vermöchten wohl diese, sich zu übernehmen im Genusse der Thierischen Sinnlichkeit und ihr Herz auf eine so grobe Weise zu beschweren; aber haben nicht alle, auch im Genuß des häuslichen Glücks, des stillen geselligen Lebens des innigen herzlichen Zusammenseyns mit den Theuren und Lieben, der stillen Freude an allem was geschickt zur Erheiterung und Verschönerung des Lebens, haben nicht alle sich übernommen, welche an diesem obgleich an sich noch so edlen und 32 Mittelmäßigen] Mitteläßigen

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geistigen Gütern so hangen, daß man nicht auf sie anwenden kann: wohl dem Knechte, den sein Herr wenn er kommt, wachend findet, sondern von denen man sagen muß, daß sie eingeschläfert in träger Ruhe oder berauscht von einem übermäßigen Genusse | des an sich Edlen und Erlaubten nicht sehen was ihnen obliegt in den größern Verhältnissen der Welt, nicht wahrnehmen, was der Zustand der Dinge dringend fordert, nicht hören die Stürme und das Brausen und versinken in den Geschäften und den Genüssen ihres engen Kreises sich nicht kümmern um die Furcht und das Zagen mit welchem die anderen Menschen der Dinge warten, die da kommen sollen – haben die nicht ihr Herz beschwert und wenn gleich in an sich leichtern und geistigern Genüssen, die nur gesunde Nahrung sind und die Lebenskraft stärken und erhöhen sollen, haben sie sich nicht darin übernommen ihr Herz damit beschwert, wenn sie, um sich diesen angenehmen Zustand zu erhalten, sich selbst täuschen über das was ihnen bevorsteht und droht, absichtlich vor den Gefahren die Augen verschließen, und auf wenige Gegenstände in ihrer eingeschränkten Sphäre ihre Thätigkeit hinwenden, oder wenn sie anderes erkennen, denn mit sich selbst und ihren Pflichten unendlich zu Werke gehen, nachlassen von dem, was sie thun sollten, um sich nur diesen süßen Zustand eines angenehmen Schlummers oder Rausches zu erhalten, (und dann bald diesen bald jenen Theil ihres Berufes versäumen). O hütet euch, daß eure Herzen nicht beschwert werden, hängt an nichts so, daß ihr es wenn eine höhere Pflicht gebietet, nicht lassen könnt, erhaltet euch das helle Auge des Geistes, die ruhige Kraft, damit ihr sehet und thun könnt, erschlafft nicht im Genuß, wiegt euch nicht in der Ruhe eines stillen häuslichen Lebens, laßt euch nicht einschläfern mit dem leidigen Troste, daß es ja alle nicht anders machten, daß die meisten ja gelobt hätten, was aber Niemand loben noch verantworten kann, der das große Wort gehört hat: ihr sollt Gott mehr gehorchen als den Menschen, und wer Vater und Mutter nicht verläßt um meinetwillen, der kann mein Jünger nicht seyn. Wer dann nicht verleugnen kann die Ruhe und das häusliche Glück wer dann, wenn Christus ihn ruft zur Thätigkeit, das stille Zusammenseyn mit den Lieben nicht aufgeben kann, wer nicht nur den Menschen mehr gehört, sondern auch die hergebrachte Gewohnheit und Trägheit nicht entsagen will, wie ist der beschwert und niedergedrückt wie unwürdig zu stehen vor des Menschensohn. Darum seyd wacker und betet, aber nicht eingeschlossen ein jeder in seine eigene Zelle, und sich freut und beruhigt, wenn es in seinem Hause in dem Leben mit Weib und Kind noch immer so geht, wie bisher; sondern wachsam zu seyn wenn der Herr kommt, ist der Aufruf, damit was er fordere, wir sogleich verstehen und nicht gleich denen welche nur blind und zweifelnd folgen, sondern als solche, die sich überall in die Wege des Herrn schicken ihn überall erkennen, 1–3 Vgl. Lk 12,37

28–30 Vgl. Apg 5,29

29–31 Vgl. Lk 14,26

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Am 8. Dezember 1811 vormittags (vermutet)

und ihn preisen in dem Leid und Trübsale, wie in der Ruhe und dem sanften Wohlbehagen, wachsam auf alles was geschieht und was wir thun können, und wenn alles verloren geht uns bewußt unserer Treue und des Werthes unserer Arbeit gewiß der Ehre, an welcher die Jünger Christi, an der die Kinder Gottes festhalten müssen, daß sie nicht das Himmlische erkannt haben, und daß keine so scheinbar leitende Gestalt des Bösen ihm erschienen ist als etwas Gutes und Begehrenswerthes und Finsterniß als Licht; so uns zu wappnen, betet, so daß euer Gebet ist ununterbrochene | Gemeinschaft mit Gott und eine fortgehende Heiligung alles dessen, was ihr thut, nach dem Geheiß des Apostels: alles was ihr thut, ihr esset oder trinket, das thut zur Ehre Gottes. Bringt ihr nur in alles, was ihr thut das Bewußtseyn Gottes, dann werden auch die stillen ruhigen Genüsse euch nicht verführen, dann wird nicht euer Herz beschwert und verkehrt werden: sondern wie ihr nur das Göttliche sucht, so werdet ihr euch keine Stimme Gottes vorübergehen lassen, sorgfältig erfüllen, was der Herr fordert. Und wenn wir so handeln – ob wir dann die Tage der Erlösung sehen werden mit leiblichem Auge oder mit dem Auge des Geistes, ob dieses Geschlecht vergehen wird ehe der Erlöser erscheint, oder ob er auch jetzt schon erscheinen wird – wir wissen es nicht; aber würdig werden wir seyn zu stehen vor des Menschensohn, würdig zu seiner Zeit, von ihm jene Verheißung zu empfangen, daß, was wir auch gethan, ihm gethan haben, was wir entbehrt, ihm, was genossen, ihm genossen haben sollen, jener Ausspruch, daß unser Leben gelebt worden ist in seiner Gemeinschaft und in dem Glauben und Vertrauen zu ihm, und daß wir dann eingehen werden in das Reich Gottes, das er uns bereitet hat von Anfang an, indem wir aber auch gewesen sind und gearbeitet haben, und daß wir nur allmählig durch seine Gnade und unter seinem Beystande eine Stufe des Wohlergehens und der Gemeinschaft mit Gott nach der andern ersteigen können, und wer würdig ist vor des Menschensohn zu stehen, der kann getrost jedem menschlichen Gerichte entgegengehen; wer es auch sey, Mitwelt oder Nachwelt, Freund oder Feind, der ihn richtet, wer gerechtfertigt ist vor Gott, der steht überall als Sieger da und jedes Leiden, das ihm begegnen kann, ist nur eine Probe der göttlichen Gerechtigkeit, und in welchem Zustande er lebe, er ist frey, denn das Reich Gottes ist in ihm. Amen.

10–12 Vgl. 1Kor 10,31

20–23 Vgl. Mt 25,40.45

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Am 22. Dezember 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,19–27 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SAr 26, Bl. 85r–88r; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 145r–151r; Matthisson Keine

Den 22. Dec. 11.

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Zu der Zeit, als das Wort Fleisch ward, als die Ankunft unsers Erlösers nahe bevorstand, welch ein sehnsüchtiges Warten war da verbreitet über das Volk, welch ein ungeduldiges Harren dessen, der da kommen sollte, und welche Hoffnungen welchen Frieden verbreitete gleich seine erste Erscheinung über die, welche doch nur ahnen konnten, was der ewige Vater damit gemeint habe. Wie entwickelte sich nachher vor den Augen der Menschen diese Erscheinung, wie himmlisch und hehr strahlte der Glanz der ewigen Weisheit und Liebe von ihr, mit welchem erhabenen Triumph wurde sie der Erde entrückt, welch ein lebendiger Geist des Glaubens und Vertrauens schwebte aus der Höhe herab über diejenigen, welche ihr nachfolgten, wie waren sie eifrig und bereit das begonnene Werk weiter zu führen, wie gingen sie vom Geiste getrieben allen Leiden und oft dem schmähligen Tode getrost entgegen, wie hat sich seitdem befestigt und gegründet auf Erden das herrliche Reich Christi, wie immer tiefer ins Herz der Menschen gegraben und immer genauer gestaltet sein großes göttliches Bild – und wie ist dennoch die Gestalt der Menschenkinder auf Erden jetzt so traurig, wie gehen sie einher, nicht wie die Freyen, sondern gedränkt und wiedergebeugt von einem schmachvollen Joche, nicht als die Erlösten, sondern als die, welche seufzen und harren, ob nicht Einer erscheine, der sie rette und befreye. Ist es denn vergeblich gewesen jenes sehnsüchtige Warten, war sie nur eine Täuschung die Erscheinung des erwarteten Heils; ist es nichts mit diesem Glauben, mit dieser Hoffnung, mit dieser Kraft göttlicher Liebe, wenn doch das rechte Heil nicht gekommen ist und die Menschen noch immer darauf harren. Ja wohl bedürfen sie, wie sie es fühlen, der Erlösung; ja wohl ist es noch nicht da, wie es sollte und könnte, das Reich des göttlichen Sohnes – aber worauf wir auch hoffen, was wir auch erwarten: es ist

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Am 22. Dezember 1811 vormittags

nur er und wieder er, er, der gewesen, der da ist und seyn wird, er, der vor uns war, und nach uns kommen wird, er, aus dessen ewiger Fülle wir allein nehmen können, Gnade um Gnade, Freude um Freude. Daß also unser Blick nicht anders wohin sich wende, daß wir nicht anders woher das Heil und die Rettung erwarten als von dem Namen, der allein dazu gegeben ist, das ist es, was vorzüglich in dieser Zeit, wo wir dem frohen Feste seiner Erscheinung entgegen gehen, unser aller Herzen beschäftigen muß. Und so sey es der Gegenstand, den wir uns jetzt näher vor Augen halten wollen.

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Joh. 1, 19–27. 85v

Wie Johannes m. Fr. nichts wollte für sich selbst und von sich selbst, nichts aus eigner Kraft und Beziehung auf sich in der Welt | ausrichten; sondern nur da war, um auf den hinzuweisen, den noch Niemand erkannt hatte, der aber allein alle Erwartungen, von denen damals das Volk erfüllt war, zu stillen vermochte: eben so ist seit dem das Amt das Evangelium zu verkündigen nichts, als ein Hinweisen auf den, der so lange schon da gewesen ist, der auch jetzt wie immer alles Heil und Glück gewährt, welches die Menschen fähig sind zu genießen, der auch eben so nach uns seyn wird, um jede Sehnsucht des menschlichen Herzens, wenn sie anders göttlicher Natur ist, zu befriedigen. Diese Hinweisung auf Jesum als den, der auch nach uns kommen wird, als den, auf den wir allein harren und von dem wir alles erwarten sollen, diese laßt auch jetzt unser aller gemeinschaftliche Gedanke seyn. Laßt uns zuerst mit den Worten des Johannes die Verheißung vorhalten, die er aussprach: er ist es, der nach mir kommen wird und der euch taufen wird mit Geist und mit Feuer, und dann das Wort bedenken, welches er allen zurief: bereitet den Weg des Herrn. I. Wie damals Priester und Leviten zu Johannes kamen und fragten, wer er wäre[,] vielleicht die Voraussetzung theilend, mit der sich das Volk trug, vielleicht lauschend, was er dazu sagen würde, wenn man fragte, ob er Christus sey, der verheißen war, oder Elias, der vor Christi Erscheinung wiederkommen sollte, oder sonst ein Prophet, aber als er das leugnete, ihn fragten, warum er taufe, was er überhaupt seyn wolle: so geht es auch noch jetzt denen, deren Amt es ist, Jesum zu verkündigen und auf ihn hinzuweisen. Es gibt einige, welche glauben, als ob alles Gute, was den Menschen fehle, ausgehen müsse vom Dienst des Evangeliums, als ob, wenn nur die, die es verkündigen, die das Wort lehren, ihre Schuldigkeit beobachten, wenn sie nur die Herzen auf den rechten Weg führten, alles von selbst werden müßte, dessen der Mensch bedarf; andere, welche fragen, da doch das nicht seyn könne, da diese Kraft nicht in ihnen liege, warum sie sich überhaupt mit den Wünschen und Hoffnungen der Menschen befaßten, 2–3 Vgl. Joh 1,16

23–24 Vgl. Lk 3,16

25 Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4

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warum sie eine Sehnsucht in ihnen erweckten nach dem, was sie, obgleich einer höhern Stimmung und Kraft sich bewußt, ihnen doch nicht geben konnten, was sie selbst sich zu erringen zu schwach wären und was sie von Leiden und Drangsalen gebeugt um so schmerzlicher vermissen – und sie müssen ihren Beruf rechtfertigen wie Johannes können es auch nur wie er. Wir sind nicht Christus, sondern nur da, um von ihm zu zeugen, wir können nur mit Wasser taufen, und wie jenes Untertauchen bey der Taufe nur etwas Vorübergehendes ist, so sind es an sich auch nur flüchtige Eindrücke, die von unsern Reden hervorgehn; wie das wohlthätige Wasser die Pflanze nur erquickt nährt und belebt, aber nicht die lebendige bildende Kraft in ihr ist: so können auch wir kein inneres Leben schaffen, sondern nur | wecken nähren und erhalten was die höhere Kraft in die Menschen gelegt hat. Er muß vor uns gewesen seyn, sonst sind wir nichts; aber dazu sind wir da, daß wir hinweisen auf den, den fast Niemand erkannt, den auch jetzt noch so wenige erkennen wollen als den, von dem alles Heil kommen muß. Aber das müssen wir verkündigen und jeder thue es mit der lautesten Stimme: er ist mitten unter euch getreten, den Niemand erkannt und der euch taufen wird mit Feuer und Geist. Ja mit Feuer wird er taufen, wenn er erscheint, seiner Gemeinde eine herrlichere Gestalt zu geben, nicht mit dem ruhigen sanften Element des Wassers, mit den zerstörenden und vernichtenden, mit Schrecknissen und Gewalt mit Schwert und Feuer. Auch damals als der Erlöser erschien, glaubte das Volk schon viel gelitten und den Kelch der Drangsale erschöpft zu haben. Es war beraubt seiner Selbstständigkeit, es wankten seine Rechte und wie fest das Gebäude des Tempels stand, als Christus weissagte daß kein Stein auf dem andern bleiben würde, gab es wohl wenig Gemüther, die es ahndeten, daß diese Weissagung sich erfüllen würde. Es war aber der Kelch des Leidens nicht erschöpft: es sollte alles gestört werden, und Schrecknisse Greuel und Drangsale, wie sie die Geschichte selten aufzuweisen hat, waren ihnen noch vorbehalten. An diesen Gedanken gewöhnt euch, ihr die ihr euch sehnt nach Erleichterung und Rettung; sagt euch, daß Christus kommen wird um mit Feuer zu taufen, aber sagt euch auch, daß der Christ nur geläutert werden kann durch das Element des Feuers und daß dann erst seine Frömmigkeit und Tugend hervorgeht, wie das reine Gold aus dem Feuer der Läuterung; und eben der, der mit Feuer taufen wird, er wird auch taufen mit Geist, mit neuen Regungen jener sinnlich belebenden Kraft, mit dem göttlich erleuchtenden Licht, mit jener innern herrlichen Kraft der Wahrheit und Liebe, mit der Kraft, welche über den fleischlichen und irdischen Sinn der Menschen so weit erhaben ist, wie der ewige Geist der sie regiert, über die vergänglichen Elemente die er schafft ordnet erfüllt und aufrollt, wie er will. Andere als diese Erwartungen vermag der Diener des Evangelii in den Herzen der Menschen nicht zu 25 Vgl. Mt 24,2; Mk 13,2; Lk 21,6

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erwecken hindurch durch das Feuer des Leidens zeigt er den Weg zur Herrlichkeit und in keiner andern Kraft belebt lehrt er das ferne aber glänzende Ziel erreichen als in der Kraft des Geistes der von Christo ausgeht. Wenn aber der kommen soll, der schon unter uns getreten ist, wenn er aufs neue sein Reich unter uns begründen soll. Wohlan, laßt uns auch

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II. bedenken das große Wort des ersten Verkündigers Jesu: Bereitet dem Herrn den Weg etc. – Nicht auf eine übernatürliche wunderbare Weise, nicht durch den Dienst der himmlischen Herrschaaren, nicht durch Glück und Zufall, sondern allein durch den Dienst der Menschen, durch | menschliche Kräfte und menschliches Thun kann er sein Reich gründen, wenn er erscheint, er muß Diener finden und Arbeiter, die seiner gewärtig sind und bereit, und wenn er es gründen will, wo kann es anders wohnen als in den Gemüthern der Menschen, wo kann er es anders aufrichten als in ihren empfänglichen Herzen. Er muß aber außer den Dienern und es können mir dieselbigen seyn, auch Gemüther finden welche würdig sind des bereiteten Heils, welche eingehn können in sein Reich. Darum richtet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben. Und wenn er kommen wird so wird euer, die ihr euch anschließen wollt an seine Diener, die ihr seine Gaben nur hinnehmt um damit für ihn zu wuchern die ihr euch stets des empfangenen zu erhaltenden aber auch zu mehrenden Pfundes bewußt seid: so wird euer Kampf nicht seyn mit Fleisch und Blut mit dem schwachen und Niedrigen; mit den Gewaltigen mit den Herrschern der Erde mit den Herrschern des Bösen werdet ihr streiten müssen. Darum ziehet an die Rüstung Gottes, ergreift des Schild des Glaubens, den Harnisch der Wahrheit und Gerechtigkeit und das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes. Damit rüstet euch übet den Leib und die Seele und stärket den Muth zu ertragen alle Beschwerden und Mühseligkeiten die euch bevorstehn, zu streiten ob dem Reiche der Wahrheit welches euer Herr und Meister errichten will mit allen Kräften die ihr empfangen, lernet allem entsagen, was nicht mit diesem bestehen kann, und was euch nicht, wenn ihr zuerst trachtet nach diesem Reiche Gottes, von selbst zufällt. Aber dann richtet auch den Weg des Herrn in eurem eigenen Herzen und in denen eurer Mitbrüder, damit wenn er kommt, er finde die in sein Reich eingehn können, die angethan sind mit dem hochzeitlichen Kleide, das allein die Aufnahme in dasselbe verschaffen kann. – Soll es wieder seyn ein Geist des Mißtrauens wie in dem alten Zustande, den wir als die Ursache so vieler Übel ansehn müssen, wollen wir wieder nur so unter einander leben, daß jeder sich hütet vor 29 will] willen 6–7 Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4 17–20 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–27 Eph 6,11–17 33–35 Vgl. Mt 22,11–14

20–25 Vgl.

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seinem Bruder wie vor einem Feinde, jeder nur die Grenzen seines eigenen Gebietes zu befestigen sucht, und jeden nur ansieht als wenn er einbrechen wolle in seine Glückseligkeit und in sein Wohlbefinden und sich von allen Seiten verschanzt gegen Störung und Schmälerung seines Genusses mit jenen kleinlichen Hülfsmitteln, die ein so verderb|licher Sinn darbietet. Er, der erschienen ist, erkennt kein andres Reich als das Reich der Liebe; wohlan! so öffnet doch zuerst das Herz der Liebe, so verscheucht doch jedes Gefühl des Mißtrauens, so ebnet doch die Hügel und füllet die Thäler zwischen euren Herzen so beharrt doch nicht in dem eigensüchtigen Streben in dem Trachten über und vor den Nächsten herauszutreten: sondern sorget daß mit allen Kräften die Gott verliehen hat, geschafft werden könne und möge, was noth ist, daß jeder entfalte den Reichthum göttlicher Gnade, daß Christus allein die Herzen erwähle daß ihm es überlassen sey zu bestimmen, welche Stelle einem jeden gebühre in seinem Reiche. So wendet euch hin zur Liebe, zur Demuth zu Anerkennung fremden Werthes zum Gefühl, welches alles Gute obgleich es von andern geschieht, für eigenes anerkennt; dazu bereitet euch und richtet den Weg des Herrn, damit, wenn er kommt, sein Reich gegründet werde. Und gewiß es soll auch nicht wieder seyn ein Reich der Trägheit, sinnlicher Üppigkeit, irdischer Aufgeblasenheit, thörichten Eigendünkels, sondern ein Reich der Wahrheit und Liebe. Wohlan hütet euch daß eure Herzen nicht beschwert werden mit Sorgen der Nahrung, mit den Gelüsten der Welt, daß es auch nicht hange an dem, das, wie es verkehrt erworben wird, auch nur Verkehrtheit des Herzens daraus folgt, daß ihr, als die welche kämpfen sollen, entsaget allen Lüsten und Begierden, daß es keinen Genuß gebe als Genuß des Heils, als das Gefühl des Wohlwollens, der Freundschaft und Liebe der Erkenntniß der Wahrheit. So bereitet dem Herrn den Weg in eurem Herzen: so arbeitet an euch selbst und dann auch draußen im Weinberge des Herrn; so rüste jeder sich und alle Gemüther um sich her; so vor allen Dingen, weil eure Hoffnung allein auf die Zukunft gerichtet seyn kann, so bildet und bereitet das Herz der euch anvertrauten Jugend; so belehrt sie, aber so wandelt auch vor ihnen! Aber als Johannes sagte: Richtet den Weg des Herrn, da nannte er sich selbst eine Stimme eines Predigers in den Wüsten. In die Wüsten hatte er sich begeben da lebte er fern von den geselligen Freuden der Menschen, angethan mit einer härenen Kleidung, schlechter ärmlicher Speisen sich bedienend und so strömte das Volk zu ihm hinaus erfüllt von unedeln und verkehrten Erwartungen, aber nicht um sich des Bessern belehren zu lassen. M. Fr. ist die Stimme, welche uns auffordert | dem Herrn den Weg zu bereiten, ist sie auch die Stimme eines Predigers in der Wüsten? Die Verkündigung des Evangeliums entfernt sich nicht von dem Leben und der Gesellschaft der Menschen; sie haben nicht nöthig hinaus zu gehen in die Einöde um einen 8 Vgl. Lk 3,5

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Einzelnen aufzusuchen und zu vernehmen; mitten unter ihnen läßt sie sich vernehmen; aber – sie ist doch die Stimme eines Predigers in der Wüste! Wie trieben sie es, wie suchen sie auf einem ganz andern Wege das Heil dessen Bedürfniß sie fühlen, wie erwarten sie es bald ruhig im Schooße der Trägheit, bald vom Gewühl wilder Leidenschaften in welchem andere sich verwickeln und aufreiben, und wobey sie müßig zuschauen, um dann die Früchte ihrer Zurückgezogenheit zu genießen; bald von gewaltsamen Anstalten, welche die Menschen zum Rechten und beglückenden führen sollen auf eine äußere Weise, von den Strafen des Gesetzes, von der Strenge bürgerlicher Einrichtungen; aber die Stimme, die ihnen zuruft, das Heil zu finden und herbey zu rufen durch das Rechte, das sie thun, durch die Wahrheit, die sie suchen und vertheidigen, durch den Geist der Einigkeit und Liebe, der sie aneinander ketten soll, sie hören sie nicht. Ja selbst diejenigen, die sich versammeln in den Häusern der Andacht, wo sie doch wissen, daß nichts geredet werden kann als das Wort Gottes, was gehen sie hier zu hören? Wie Christus sagt: wollt ihr ein Rohr sehen, das vom Winde bewegt wird: so hoffen auch Viele von dieser Stätte, wo doch allein Christus genannt werden kann, zu empfangen was ihnen bey dem steten Wechsel ihrer Ansichten Wünsche und Hofnungen eine Quelle seyn könnte von Trost und Fassung, heute dieses und morgen andres zu hören, thöricht wünschend und wähnend daß die Kraft des Evangeliums nach ihrem Bedürfniß sich bequeme, und bald dieses bald jenes Kleid anziehe und sich bewegen lasse von jedem Winde der Lehre, die da kommt, man weiß nicht woher und geht, man weiß nicht, wohin. Oder wie der Erlöser sagt: wollt ihr einen sehen, der in purpurne Kleider gekleidet ist? – so gehen auch viele an diese Stätte, nicht um Christum zu hören, sondern schöne Worte und wohl zusammengefügte Redensarten und allerley, was ihnen | angenehm sey und erfreulich. Aber die mit purpurnen Kleidern angethan sind, die suchet in den Palästen der Könige, da wo es weltliche Pracht und Herrlichkeit gibt und wo sie seyn muß, da mögen auch weltliche Reden und glänzende Worte vernommen, die auch nur bestimmt sind, um einen weltlichen und vorübergehenden Erfolg zu bewirken – wir aber, wir wollen nichts anderes als Christum verkündigen, und blieben wir auch immer die Stimme eines Predigers in der Wüste. Aber dennoch wir sind ja nicht ganz verlassen; hier ist ja bereitet der Tisch des Herrn; es müssen ja auch Genossen das seyn, hier versammeln sich ja alle die, welche die Gemeinde des Herrn bilden um sich zu erbauen zu belehren zu ermuntern, so muß ja doch der Geist in ihnen wohnen, so müssen sie ja bemüht seyn ihn zu suchen. Wohlan! alle die mit Recht, mit geprüftem und gereinigtem Herzen, sey es heute, sey es ein ander Mal, an diesem Mahle der Christen theilnehmen – an sie wende 40 Mahle] Male 16–17 Mt 11,7; Lk 7,24

24–25 Vgl. Mt 11,8; Lk 7,25

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sich unsere Rede; sie mögen sich bereiten zu richten den Weg des Herrn, sie sind das Salz der Erde; an ihnen muß erscheinen die Gewalt und Herrlichkeit Christi, und wie er sie bildet und gestaltet zu seinem Ebenbilde: so möge ihr ganzes Leben nichts seyn als Wahrheit Liebe und Glaube; so möge an ihnen sich zeigen die Tapferkeit des Seins in welchem aller Frieden des göttlichen Lebens wohnt, die Bereitwilligkeit zu entsagen und zu leiden, die Einfalt der Tauben und die Klugheit der Schlangen in der Stille des Gemüths wie im Gewühle der Welt – das ist das Öl, das ihr in euern Lampen tragen müßt, wenn ihr dem Herrn entgegengehen, wenn ihr Theil haben an seiner Herrlichkeit, eingehen wollt in das Innere seines Reichs, wo sich seine ganze Göttlichkeit und Liebe offenbaren wird. Amen.

2 Vgl. Mt 5,13

6–7 Vgl. Mt 10,16

8–9 Vgl. Mt 25,1–13

Am 25. Dezember 1811 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Phil 4,4 Nachschrift; SAr 26, Bl. 89r–92v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 32, Bl. 153r–160v; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher am ersten Weihnachtsfeyertage 11. „Ehre sey Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Mit diesen Worten, m. and. Fr. bewillkommne ich euch zu dem Feste der christlichen Freude, welches uns in diesen Tagen, um es gemeinschaftlich mit einander zu feyern, an dieser Stätte versammelt. Wie wir, ein jeder mit den Seinigen im engern Kreise die Feyer des Andenkens an unsere eigene Geburt mit dankbarer Erinnerung an alles Gute, das uns widerfahren ist, und das wir vollbringen durften, fröhlich begehen: so feyern wir an dem Gedächtnißtage der Geburt Christi den Anfang jenes gemeinsamen höhern und göttlichen Lebens, an welchem Theil zu nehmen, und es auch durch unser Daseyn darzustellen, unser aller Bestimmung ist. O, wie gern führen die Menschen bey Festen gemeinschaftlicher Erinnerung an alles das, was ein gemeinsames Gut ist für alle, dasselbe auf seinen ersten Ursprung zurück, um sich seines sichtbaren Fortschreitens, seiner allgemeinen Verbreitung in solchen Augenblicken desto lebendiger bewußt zu werden und zu erfreuen. Aber die meisten Anfänge menschlicher Güter treten zurück in das Dunkel; weniges gibt es, auf dessen ersten Ursprung ein helleres Licht fällt in jener frühern Zeit der Vergangenheit. Nicht so ist es dem Gute aller Güter ergangen, welches das höchste ist und einzige, in welchem alle eingeschlossen seyn müssen, die diesen Namen verdienen sollen. Dessen Anfang durfte nicht verborgen werden und so liegt er da in herrlicher Erleuchtung und dessen Andenken wir uns mit inniger Freude, mit jeder gemeinsamen geistigen Theilnahme erneuen, und indem wir uns im Geiste jenen stillen Raum vergegenwärtigen, wo der Erlöser das Licht der Welt erblickte, finden wir uns an den Punkt gestellt, von welchem alles, was unserm Leben einen 2–3 Lk 2,14 als Kanzelgruß

24–25 Vgl. Lk 2,7

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Werth gibt, ausgegangen ist. So wie weniges sich so bestimmt und deutlich auf seinen ersten Ursprung zurückführen läßt: so ist auch weniges so rein aus einer und derselben Quelle hervorgegangen. Aller Friede, alles Heil, was den Menschen zu Theil geworden, hat das Werk seiner Erlösung hat der Geist seiner Lehre über die Menschen ausgegossen, und alles was Gutes sich findet im Gebiete des Glaubens, im Reiche der Liebe, es geht alles in diesen Keim seiner Geburt zusammen und wie er der Gegenstand ist, so ist er auch der Anfänger und Vollender des Glaubens, und wie wir in den letzten segenbringenden Tagen seines Daseyns, seine göttliche Kraft und Hoheit in dem herrlichsten | Glanze erblicken: so umgibt auch, dem Auge des Glaubens erkennbar, gleich seinen ersten kindlichen Eintritt in diese Welt der nämliche göttliche Glanz. Wohl m. Fr. ist uns dieses Fest seiner Geburt mit Recht ein Fest der innigsten Freude; in diesem Sinne feyerten es seine Bekenner von jeher, darauf deutet jede christliche Sitte, darauf bezieht sich auch die Freude, die wir selbst in denen zu erwecken suchen, die an diesem höhern Leben, worauf sich die unsrige gründet, noch nicht mehr Antheil zu nehmen vermögen, als ihnen unsere Zuversicht im voraus gibt. Aber wie flüchtig, wie vorübergehend sind alle Augenblicke der Freude; wie bald zerstreut sie das geschäftige Leben, wie bald verwischt die Sorge jegliche Spur derselben! Nicht so ergehe es der unsrigen, die uns an diesem Feste erfüllt! Sie bezieht sich ja auch nicht auf das, was vergänglich ist, und was um fortzubestehen, sich immer zerstören und wiedergebären muß; sie bezieht sich auf das Höhere und sowie dieß darum auch das Bestehende und Ewige ist: so soll auch sie stets in unserm Herzen verweilen. Wohl mag es Tage und Augenblicke geben, und die gegenwärtigen sind gewiß solche, wo wie sich lebendiger im Gemüthe des Menschen regt, wo sie herrlicher aufgeht in seinem Herzen; aber nie soll sie ganz daraus verschwinden; tief vielmehr soll sie in das Innerste dringen, eine lebendige Wurzel soll sie schlagen, damit sie daraus immer neu hervorwachse, in alles was wir denken und thun in unser ganzes Leben soll sie sich einmischen, und wie Christus unser aller Heil ist: so soll auch die Freude an Christo uns alle verschönen. Es ist ja alles um so vergänglicher, je oberflächlicher es ist, um so bleibender, je mehr Antheil es hat an dem Ewigen und Göttlichen. Dieß Gepräge sey unserer Weihnachtsfreude aufgedrückt, und dies uns darzustellen, tiefer ins Herz zu drücken das ist das natürliche Geschäft dieser Stunde. Philipp. 4, 4. „Freuet euch in dem Herrn allewege, und abermal sage ich, freuet euch!“

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Diese Worte sind nicht anzusehen als in unmittelbarer Beziehung geredet auf die große Begebenheit, deren Andenken wir in diesen Tagen feyern; es 8 Vgl. Hebr 12,2

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Am 25. Dezember 1811 vormittags

ist nicht gerade die Geburt des Erlösers, auf welche der Apostel hinweist; aber indem er allgemein dazu auffordert, gibt er zu erkennen, daß die Freude in dem Herrn | nicht an irgend einen einzelnen Augenblick, nicht an das Andenken einzelner heilbringender Begebenheiten gebunden seyn, sondern daß sie die herrschende Stimmung unseres Gemüths seyn soll. Wohl muß sie ganz vorzüglich bey der Erinnerung an die Geburt unsers Herrn und Heilandes sich unser bemächtigen; wohl muß es dieses Fest vorzüglich seyn, von welchem sie in reicher Fülle über unser Leben ausströmt, und so laßt uns denn die Aufforderung des Apostels zur Freude auf das heutige Fest anwenden. Die Reihe der einzelnen Betrachtungen, welche wir mit einander anstellen wollen, liegt in den Worten unsers Textes. Wir werden uns danach zuerst überhaupt aufzufordern haben, daß wir uns freuen; dann bedenken, daß wir uns freuen sollen in dem Herrn und endlich, daß wir uns freuen alle Wege, ohne durch irgend etwas in unserer Freude unterbrochen und gestört zu werden. I. Gedenken wir also in diesem christlichen Sinne der Geburt des göttlichen Kindes: wohlan, so wollen wir uns freuen. Diese Aufforderung des Apostels ist zunächst an diejenigen gerichtet, welchen alles, was zu den höhern Angelegenheiten des Glaubens gehört, mit den Empfindungen der Freude wenig verträglich erscheint, welche diese Empfindungen für zu irdisch halten und für zu laut oder dem Verhältnisse der Menschen zu Gott wenig angemessen und bey denen daher jede fromme und unschuldige Empfindung der Freude die Gestalt und Farbe der Wehmuth oder des Schmerzes annimmt. Ihr, bey denen dies der Fall seyn mag, ich weiß es wohl, ihr gehört zu den Beßern und für das Heil eurer Seele ist mir nicht bange; aber es ist doch noch ein Mangel, eine Unvollkommenheit eures Gemüths, welches glaubt, den lebendigen Antheil an dem göttlichen Leben nicht vereinigen zu dürfen mit der Freude und dem Frohsinn. So wohl mögt ihr oft zu euch sprechen: wenn ich hintrete an die Stätte der Geburt des Erlösers, wenn ich hier den Anfang seines irdischen Lebens mir vergegenwärtige, wenn ich in ihm, dem neugeborenen Kinde schon das Urbild erblicke jener Reinigkeit und Unschuld des Herzens, die mir fehlt, wenn ich in ihm wahrnehme die Herrlichkeit und Majestät und ihn gleichwohl unterworfen allen menschlichen Unfällen und Kümmernissen – wie sollte nicht Wehmuth und Trauer sich meiner bemächtigen, wenn ich vergleiche wie mein Daseyn schon bey seinem ersten Anfang vom Keim der Sünde und des Verderbens durchdrungen ist, wie schon in dem ersten Pulsschlage meines Lebens die Vorherbestimmung lag zu allen fehlerhaften Neigungen und Schwachheiten, die das Erbtheil sind der menschlichen Natur, wie er | dagegen von seinem ersten Lebensaugenblicke an frey blieb von jenem traurigen Zwiespalte, von dem steten Kampfe des Geistes und der Sinnlichkeit in uns, von allem Verderblichen und Bösen, dem wir unterworfen sind und

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das wir so leicht entschuldigen mit unserer Schwäche, wie er gleichwohl mit den Unvollkommenheiten und Widerwärtigkeiten des Lebens, (mit jenen Reizungen zum Bösen, welche irdisches Wohl oder Leiden in uns erregt) zu streiten hatte, wie er alles menschliche Elend und Ungemach über sich ergehen lassen mußte, wie er in allen Stücken ist versucht worden, aber ohne Sünde. – Aber m. theuren Mitchristen, dazu ist er gekommen, daß er diese Schmerzen von uns nehme, daß sein irdisches Daseyn unser Leben unsere ganze Natur durchdringen und heiligen solle; dazu ist er ja unser Bruder geworden, daß wir Zutrauen gewönnen und Antheil nehmen an seinem göttlichen Leben, darum ist es ja so verdienstlich, daß wir das, was wir in ihm am meisten verehren und lieben, als unser ansehn und auf uns selbst übertragen wollen, darum ist er uns ja so ähnlich geworden im Leben und Leiden, daß wir dieses Vertrauen zu ihm fassen, darum hat er uns ja so brüderlich begrüßt, darum Knechtsgestalt angenommen, daß wir erkennen und uns freuen sollen, wie er darin gleichwohl die höhere Natur so rein dargestellt hat, daß Einer doch da ist, der unbefleckt vor uns steht und dem als ihrem Vorbilde die Übrigen nachstreben sollen. Ist es nicht statt der Wehmuth verborgener Stolz, wenn uns diese Betrachtungen die Freude stören, und erkennt ihr nicht an euch selbst und an euern Brüdern die Wirkung seiner Erscheinung? Wenn wir unsere Kinder betrachten und wahrnehmen, wie sie jetzt leichter gebildet werden, ist es nicht, als ob seit dem die menschliche Natur sich mehr gereinigt hätte von Roheit; sehen wir nicht viel weniger wilde Triebe und Begierden in unserer Jugend, und viel weniger grausenerregende Ausbrüche der Leidenschaft und thierischer Sinnlichkeit; ist es nicht als ob durch die Länge des Zusammenlebens der Menschen, das Fleischliche sich mehr befreundet hätte mit dem Geiste, als ob die menschliche Natur schon offener wäre und empfänglicher für das Göttliche? Und das ist es, was ihr Christo zuzuschreiben, wofür ihr ihn zu preisen habt, das was jeden zur herzlichen Freude an ihn aufmuntern soll. – Ich weiß wohl, ihr denkt auch so: Wenn ich den Erlöser bey seiner Ankunft ins Fleischliche betrachte, hätte nicht eben die herrliche, die göttliche Kraft, die Reinheit und Unschuld | seiner Natur, welche ich da schon mit dem Auge des Geistes in ihm wahrnehme, hätte sie nicht sein irdisches Leben frey erhalten sollen von allem Übel, das, wie es oft die Quelle derselben ist, wie anzusehen pflegen als den Widerschein oder die Folge der Sünde? ihn den Reinen, meinen wir, ihn der nichts Verderbliches in sich trug, hätte auch nichts Verderbliches treffen sollen, auch äußerlich hätte sein Leben von aller Unbill, von allem Ungemach verschont bleiben, kein Schmerz kein Leiden, kein Kummer hätte ihm dem Heiligen nahen sollen, und wenn er gleichwohl dieses alles litt – ist es nicht meine Sünde, die ihn geschlagen hat, sind es nicht meine Wunden, die er getragen und es sollte sich nicht die reinste Freude in mir mit Wehmuth mischen, und ist es überhaupt nicht diese, die dem Christen überall am besten geziemt? – Nicht so! m. Fr. Laßt uns beden-

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ken, daß nichts, wie unwürdig und schmachvoll es erscheint, sein reines Leben verunreinigen und verunstalten konnte und daß seine göttliche Kraft, wie sehr sie auch äußerlich angefochten ward und verdunkelt, dennoch alles Übel besiegt hat. Und dazu war er gekommen, daß er litt. Wir wissen es ja, daß die Herrschaft der Sünde nicht hinweggenommen werden kann ohne Leiden und daß kein göttliches Leben errungen wird ohne Schmerz. Und sollen wir nicht dieselbige Erfahrung an uns selbst gemacht haben? Freylich in vielem, was wir leiden, erkennen wir die eigene Verschuldung; aber auch vieles, während wir fürs Gute arbeiten, dulden und tragen wir, das wir uns nicht selbst zuzuschreiben haben – und gerade in solchen Leiden, wie rein fühlen wir uns da, welches Bewußtseyn der Unschuld und Kraft durchdringt da unser Gemüth, wie werden wir inne, daß dieses unsern Schmerz veredelt, wie können wir am reinsten und schönsten uns solcher Augenblicke erfreuen. Wohlan! so laßt uns bey allem irdischen Leiden, das dem Erlöser begegnete, uns dennoch freuen, und getrost allem, was auch wir um des Guten willen leiden müssen, entgegen gehen. So wollen wir uns gleich bey seiner Geburt freuen über alles, was aus dieser Quelle geflossen und nichts soll unsere Freude stören. Und wenn wir uns freuen so wollen wir uns freuen in dem Herrn.

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II. Er, dessen Geburt wir feiern, er ist der Herr über alles, was seinen Namen trägt; ihm ist ein Geist und eine Gewalt gegeben ewiger und göttlicher Art und er herrscht auf einem göttlichen Stuhle über die Geschlechter der Menschen. – M. Fr. wo viele beysammen leben, Einem gemeinschaftlichen Zwecke nachgehend, da muß – sey es unter einer bleibenden der vorübergehenden Gestalt, auf diese | oder jene Weise – es muß einen Herrn geben, und indem wir so, im Großen oder Kleinen Einem Herrn gehorchen: so trägt jeder das Gefühl in sich daß er nicht einem Einzelnen gehorcht und seinem persönlichen Willen, sondern daß er dem Höhern in ihm gehorcht, welches freylich in allen sich findet, aber doch in Einem auf eine ausgezeichnetere Weise sich ausspricht, so, daß es sich aller seiner übrigen Kräfte bemächtigen soll. Von Herzen wohl ist einem Jeden, der die Güter des Lebens zu schätzen weiß, der Gefallen hat an Ordnung und Recht, wenn er einem Herrn gehorcht der es mit Recht zu heißen verdient, und gern sucht er, um sich in dieser Vorstellung seiner Vollkommenheit zu erhalten und wohl zu gefallen, auch die entferntesten Züge der Ähnlichkeit zusammen, um sich ein Bild zu entwerfen, daß er stets vor Augen habe, um sich immer von neuem daran zu erfreuen und zu stärken. Sind aber viele Haufen der Menschen in Einer Gesellschaft beysammen: so ändert sich und wechselt auf manche Weise diese Herrschaft. Wohl uns, daß wir in einem höhern Sinne Einem Herrn alle dienen, einem, der in einem Sinne, wie sonst keiner, diesen Namen verdient, einem, in dem sich alles Göttliche das wir sonst nur in einzelnen Zügen unter den Menschen antreffen, allein vereinigt, der alles

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was wir uns Großes und Herrliches denken, in der Vollendung in sich darstellt und den wir in jedem menschlichen Herrn als unsers Gleichen ansehen, der unser Bruder geworden ist und der keinen höhern Titel kennt, als daß er der Erstgeborne ist unter den vernünftigen Menschen. Jede Vereinigung der Kräfte unter den Menschen bey einem sichtbaren Mittelpunkte, jedes bedeutende Streben, wobey er als lebendiges Vorbild vor Augen schwebt, alles ruht in ihm. Von ihm geht aus jeder Gedanke des Guten, jedes Bild jede Gestalt der Tugend, der Weisheit und Vollkommenheit, und jedes Gebot, durch dessen Befolgung das menschliche Leben veredelt werden kann, es ist ein theures Wort seiner Lehre, und alles Gute, wozu wir mitwirken, was wir mit unsern Kräften vollbringen, es ist ein Dienst diesem Herrn gethan, dem nichts umsonst gethan wird, ein Beytrag zur Mehrung seines herrliches Reiches und je mehr wir ihm dienen, je herzlicher wir ihm unterworfen sind, um desto mehr theilen wir seine Vorzüge, den Ruhm und die Herrlichkeit und die Macht unsers Herrn. Und als Herrn erblicken wir ihn schon bey seiner Geburt; schon von dem ersten Augenblicke seines irdischen Daseyns an können wir uns seiner als unsers Herrn erfreuen, schon bey seiner Ankunft auf der Erde übte er Herrschaft über die nahe ihn umgebenden Gemüther durch die herrlichen Ahndungen von seiner wunderbaren Kraft. Damals schon gab es Verehrer desselben, die alles, was in Beziehung auf ihn gesagt wurde, in treuem Herzen bewegten. Und jemehr er wuchs und zunahm beides an Wahrheit und Erkenntniß, desto größer und allgemeiner wurde auch sein Einfluß über die Menschen, desto fester und inniger hingen an ihm die Gemüther und wie hat sich seitdem sein Geist so allgemein verbreitet! M. Fr. wenn wir schon in dem neugebornen göttlichen Kinde nach Anleitung der Schrift und unsers Gefühles die Vereinigung des Göttlichen und Menschlichen auffinden und verehren: so laßt uns erwägen, daß diese allein die wahre Quelle ist aller dauernder Gewalt und Herrschaft auf Erden. Nur das Reich kann bestehen, welches sich gründet auf die Einigung des Menschlichen mit dem Göttlichen, wo das Menschliche dem Höhern innig verbunden, getreu, gegenwärtig und ergeben ist, und alle andere Macht und Herrlichkeit, ist nur die eingebildete eines angebeteten Götzen, und ein solches Reich kann nicht bestehen, denn es trägt den Keim des Verderbens in sich, und darum war das Kind | Jesu, wie wir es uns schon bey seiner Geburt denken, weit größer und mächtiger, denn alle menschlichen Herrscher und Gebieter und seine Herrschaft fest gegründet, denn sie trug in sich den Keim des Lebens und der Ewigkeit, und ohne diesen wird kein Reich bleiben und alles gemeinschaftliche Leben der Menschen in dem Maße bestehen und untergehen, als es dem Göttlichen befreundet ist oder entfremdet. Und wenn es uns scheint, als habe das Reich Christi mit der Trennung der Menschen mitzuleiden, wenn es uns scheint, als ginge es, wie der Erlöser auf Erden, in Knechtsgestalt einher so lange die, welche als Eine Herde unter Einem Hirten verbun-

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den seyn sollen, sich entzweien und in blutigen Fehden bekriegen, solange jeder sein Wohl nur sucht durch und in dem Untergange des andern – o laßt uns den lebendigen Glauben an die siegreiche heilbringende Macht Christi nicht verlieren. Wir finden es ja in allen menschlichen Geschicken stets von neuen bestätigt: wenn ein Reich zu groß wird, wenn es mehrere zu verschiedene Gesellschaften in sich schließt, wenn das Gefühl der Einheit nicht so groß ist als das Interesse der Einzelnen verschieden: so ist auch zur Zwietracht und Auflösung der Grund gelegt, und eben deswegen gibt es menschliche Reiche, die zu groß sind und nicht bestehen können; aber das Reich Christi kann nicht zu groß seyn weil es sich gründet auf dasjenige, was ja in allen Menschen dasselbige ist; nur daß dieses noch nicht alle erkennen, daß vielen das Irdische noch zu viel werth ist und daher aller Zank und Hader, Zwietracht und Feindschaft. Aber, es ist der Herr der Frieden verheißen hat und sogewiß, wie es einen Hirten gibt, wird es auch eine Herde geben. Wir müssen es glauben, es wird endlich einmal die Zeit kommen, wo Friede Gerechtigkeit und Eintracht unter den Menschen wohnt, wo ihnen alles Irdische nur lieb und werth seyn wird um des Göttlichen, wo ein Geist der Liebe und Eintracht der alle belebt, mächtiger sein wird als alles, was diesem entgegen strebt; wo sie zwar in mancherley Beziehung getrennt, aber doch feindlich neben einander seyn werden in Einer Gemeinde des Herrn. Darum nennt er sich ja auch den Fürsten des Friedens; darum ist er ja gekommen allen Hader unter den Menschen zu vernichten und alle Zwietracht zu zerstören, und wie er ein Bild ist der göttlichen Liebe, ein Reich der Liebe zu stiften. Und fühlen wir den Anfang des durch ihn verheißenen Heils nicht schon in uns selbst? Wie wir auch an den Feindseligkeiten der Menschen Antheil zu nehmen gezwungen sind – fühlen wir nicht dennoch diese Liebe in unserm Herzen, fühlen wir nicht, so gewiß wir Christen sind, daß wir nicht gegen unsere Brüder, sondern nur gegen das Böse in ihnen streiten, daß wir vielmehr das Göttliche überall in ihnen lieben und friedlich aufnehmen, und daß, wie sehr wir ihnen sonst entgegenkämpfen, daß wir doch eifrig und herzlich danach trachten, dieses ihnen zu erhalten und in ihnen zu mehren – und so wie von der Geburt des Erlösers an sich dieses Reich des Friedens begründet, größere Fortschritte gemacht und schon zum Theil die Wildheit der menschlichen Natur gezähmt hat: so wird es auch immer fort sich verehren, so werden die Menschen immer deutlicher ihr wahres Heil erkennen und von innen heraus und darum freylich nur allmählig und spät sich in diesem Friedensreiche vereinigen. Und so laßt uns ihn als den Fürsten des Friedens begrüßen, durch dessen Kraft die Zwietracht und der Streit getilgt werden soll III. und darum laßt uns auch seiner freuen alle Wege und unsere Freude durch Nichts gestört werden, nicht durch irdische Lust, nicht durch 21 Vgl. Jes 9,5

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irdische Leiden. O es gibt Freuden, die mit dem Gedanken an den Herrn, mit der Liebe zu ihm nicht bestehen können, und die sind es, welche außerhalb seines Gebietes liegen, an denen wir keinen Antheil haben dürfen, aber darum sollen sie auch nicht unsere Freude an dem Herrn unterbrechen. Aber was sonst das Zusammenseyn guter Menschen, was Wohlwollen Liebe und Freundschaft von Lust und Freude in das menschliche Leben bringt, das ist uns zu genießen erlaubt; es liegt nicht außer seinem Reiche denn es läßt sich mit diesem vereinigen. Gott, der uns seinen Sohn gegeben | hat, wie sollt’ er uns mit ihm nicht alles schenken. So sagt der Apostel und das ist der wahrhaft christliche Sinn, wonach wir alles Gute alles Unschuldige an ihn die Quelle unsers Heiles anschließen. Ja, wir mögen einen sichern Prüfstein für unsere Freude daran haben: verträgt sie sich mit dem Gedanken an die Heiligkeit unseres Herrn, verlöscht sie uns sein Bild nicht können wir uns den irdischen Genuß zusammen denken mit dem Göttlichen und ihn selbst ansehen als eine natürliche Folge, als einen reinen Ausfluß unserer Gemeinschaft mit Christo; dann ist es rein und heilig was wir Gutes und Frohes genießen und wir dürfen es mit gutem Muthe; dann wird alles, was wir so in Beziehung bringen mit Christo, zu seiner Ehre genossen werden, uns seinem Bilde näher bringen und nicht hindern daß dieses selbst im Augenblicke des Genusses immer vollkommner und herrlicher in unserem Herzen aufsteige. Aber eben so wenig laßt uns unsere Freude gestört werden durch irdisches Leiden. Ach m. Fr. der ist freylich wahrhaft gebeugt und leidend, dem die Schmerzen der Erde den Genuß der geistigen Güter rauben, der sich der irdischen Pein und Noth so hingeben kann, daß er das Gefühl und Bewußtseyn des höhern Lebens durch Christum verliert; aber m. Fr. wer das in sich gewahr wird, der schließe auch auf eine geheime Quelle des Verderbens in seiner Seele, der erkenne, daß er noch nicht sich selbst und sein ganzes Leben dem Herrn zum Opfer gebracht hat, daß er noch etwas anderes sucht, als das göttliche Leben, daß er noch nicht nach der Absicht Gottes alles Menschliche nur in Beziehung auf das Himmlische sieht und alles Irdische nur würdigt und schätzt in seinem Verhältnisse zum Ewigen. Je mehr wir uns mit Christo vereinigen, je mehr wir Theil nehmen an dem durch ihn begründeten göttlichen Leben, desto höher werden wir erhoben werden über alles irdische Leiden und Ungemach. O wie hat er uns so herrlich vorangeleuchtet! Laßt es nicht vergeblich für uns gewesen seyn, daß er sich den Leiden dieser Erde unterzog, daß er Knechtgestalt annahm, um uns zu zeigen, wie auch aus der niedrigen äußerlichen Gestalt das Göttliche herrlich hervorleuchten könne, und wie rein es sich entwickelt, wie glänzend seine göttliche Macht und Majestät aus der irdischer Niedrigkeit hervorgegangen ist, das schauen wir an seinem Beyspiele. So ist er der Herr gewesen, so hat er gesiegt über 8–9 Vgl. Röm 8,32

37 Vgl. Phil 2,7

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alles Irdische, so ist seine innere Herrlichkeit durch keine Schmach, durch kein Leiden der Erde getrübt worden, und wenn unsere Freude in ihm rein ist: so müssen auch wir in uns dieselbe Kraft fühlen, alles Irdische zu besiegen und das ist das Gefühl, welches bey der Betrachtung des Erlösers sich gänzlich unserer bemächtigen soll; das müssen wir inne werden, daß die Freude an ihm mit keiner andern verglichen werden kann, und daß aller Schmerz alle Trübsale und Leiden dieser Zeit nichts sind gegen den Gewinn dessen, der ihm nachfolgt, und treu sein Bild im Herzen trägt und äußerlich darstellt. So laßt uns an diesem Feste seiner Erscheinung ihn und seine ganze Herrlichkeit von neuem in unser Herz aufnehmen, damit er sich immer mehr auch an uns beweise als der göttliche Sohn, als der Herrscher über alle Geschlechter und damit auch aus unserm Leben über sie ausgehen mögen wohlthätige wenngleich dunklere Strahlen gegen das glänzende Licht, womit er die Welt erleuchtet hat. Amen.

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Predigten 1812

Nachschrift der Predigt vom 6. Dezember 1812 vormittags, SAr 35, Bl. 2r; Pischon – Faksimile (91 %)

Am 5. Januar 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

Sonntag nach Neujahr, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,35–51 Nachschrift; SAr 27, Bl. 1r–4v; Matthisson Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 1–22 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 387–399; 21843, S. 375–387. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 7–22. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 387–397 Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 1r–9v; Matthisson Keine

Sonntag den 5. Jan. 1812.

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Noch fest in der Erinnerung ist uns allen der Anfang eines neuen Jahres; noch lebt die neue Freude, in der wirs begonnen, noch sind wir voll der Hofnungen, die wir uns ausgebildet haben, noch sind kräftig und stark die Entschlüsse, die wir gefasst haben. Ich meine die Freude an dem, dessen Eigenthum wir uns nennen und den und dessen gestifteten Glauben wir bekennen vor der Welt, ich meine die Hofnung die jeder gefasst hat beym Anfang eines neuen Zeitabschnittes, nach dem Maße seiner Kräfte für die Zukunft zu wirken zur Mehrung des göttlichen Reiches, ich meine die Entschlüsse, alles daran zu setzen um diesem Zwecke zu leben, und alles Irrdische um des Ewigen willen aufzuopfern. Darum m. Fr. werden wir hoffentlich alle mit voller Zuversicht des Herzens vorher die Worte der Ermutigung Christi treu zu bleiben gesungen haben, und was könnte besser thun, als diese Stimmung der Andacht in unserer Betrachtung benutzen. Auf der andern Seite scheint es mir zweckmäßig; wie ich schon früher gethan habe, die Zeit zwischen dem Feste der Geburt unseres Erlösers und der Zeit seines Leidens der Betrachtung einiger wichtiger Momente seines Lebens zu widmen. O es ist dessen so viel, was wir von ihm lernen können; überall wo wir ihn handeln sehn, finden wir die in ihm wohnende göttliche Tugend deutlich und erkennbar sich aussprechen; jeder der von seiner Neigung auf der einen Seite des Gemüths hingeleitet und leicht verführt wird, das rechte Maß zu verlassen, findet eben dieses überall wieder in seinen Handlungen, und keiner ist uns gegeben von allen, keiner, obgleich so viele sind, von

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welchen die Geschichte mehr aufbehalten hat, keiner, der so vollkommen jedem das Vorbild seyn könnte, dem er nachlebe. Und diese Zeit ist in diesem Jahre so kurz, daß ich kein Mittel der Betrachtung missen und daher auch gleich unser erstes Zusammenseyn in diesem Jahre, das unsern Betrachtungen gewidmet zu sein scheint, dazu verwenden möchte. Aber bey den Ansprüchen auf diese Stunde der gemeinschaftlichen Erbauung lassen sich wie ich meine, wohl mit einander vereinigen. Wenn wir ein neues Jahr beginnen: so erscheint uns auch alles neu; mit neuem Muth, mit neuer Kraft gehen wir auch in den bestehenden bisherigen Verhältnissen fort, neue Abschnitte scheinen uns da zu seyn, wo doch im Grunde alles in ununterbrochener Reihe fortgeht, und wie vieles erwarten wir nicht auch wirklich Neues; wie manche Verhältnisse sehn wir vor uns die wir erst einzutreten gedenken, wie manchen Erfolg hoffen wir | zu dem wir in der Zukunft erst beyzutragen haben werden. Wenn wir darauf unsere Aufmerksamkeit richten, wie der Erlöser anfing, als er zuerst seinem großen Berufe entgegenging: so werden wir darin die vollkommenste Anweisung und Ermunterung finden, so wird uns das den rechten Weg zeigen, wie auch wir in diesem Gefühl des Neuen anzustrengen, und Berufe von uns gefordert um zur Vollendung des göttlichen Willens mit zu verbreiten. Das sey es, worauf wir unser Nachdenken und unsere Andacht in dieser Stunde richten wollen.

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Joh. 1, 35–51 Das Zusammenleben des Erlösers mit seinen nächsten Freunden und Schülern, dieses m. Fr. ist der erste Grund der christlichen Kirche geworden. Weniger auf dem, was er öffentlich vor dem Volke lehrte und that, mit wie großer Begierde er auch aufgenommen wurde von dem großen Haufen der Menschen, weniger darauf beruht sein Werk, also auf der nähern Verbindung zwischen ihm und den Wenigen, die ihm folgten und treu blieben in den Zeiten der Trübsale und Leiden und eben deswegen gewürdigt wurden sein Werk auf Erden weiter fortzusetzen. Wie er sich diese sammelte, das ist der unmittelbare Anfang seinen Werkes wie diese sich zu ihm finden, das ist das erste Vorbild des Verfahrens aller, die sich auch zu Christo finden und mit ihm und unter ihm das Reich Gottes fördern wollen. Fragen wir, wie sollen wir mit dem neuen Muth, der neuen Kraft, die der Anfang des Jahres in die dabey angestellten Betrachtungen in uns erweckt hat, unsere Arbeit anfangen, lasst uns auf Jesum und auf die Seinigen sehen. Von beyden werden wir es nach unseren verschiedenen Verhältnissen lernen können. Es ist aber zweyerley, worin, wiewohl auf verschiedene Weise, Jesus und seine Jünger übereinstimmen und dies laßt uns besonders beachten. 1. eben so gerade und schlicht wie sie das große Werk beginnen, laßt auch uns erfahren und 2. eben so vertrauensvoll und gläubig. 21 Joh 1, 35–51] Joh 1, 35.

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I. Lasst uns alles, was das neue Jahr uns die ganze künftige Zeit des Lebens uns bringen wird, eben so gerade und schlicht beginnen wie wir Jesum und die Seinigen ihr Werk beginnen sehen. M. Fr. Johannes war zu jener Zeit ein Mann, auf den die Augen des Volkes gerichtet waren; er verkündigte die Nähe des Reiches Gottes, und daß durch Büßen und Sinnesänderung die Menschen sich anschicken und würdig machen sollten, in dasselbe einzugehn und die ganze Menge des Volkes, aller Stände, aller Gesinnung und Lebensart strömten ihm entgegen um von ihm die Weise diese Buße und Sinnes|änderung zu empfangen, und er war es, der nicht für sich redete und handelte, und von sich Zeugniß gab, sondern einzig von dem, der schon unter das Volk getreten war, und ganz deutlich heftete er die Erwartung des Volks auf Jesum, als auch er zu ihm kam, um sich taufen zu lassen und in seiner Nähe, wie wohl nur kurze Zeit verweilte. Zweytens wie benutzte Christus dieses Zeugnis Johannes, welches ihm den Eintritt in die Welt und in die Bekanntschaft mit seinem Volke eröffnete? Wir sehn, daß er nichts thut, um es weiter zu verbreiten. Da war auch kein Diener kein Freund, der es aufgefangen, und um ihm die Bahn zu öffnen, seinem Ruhm verbreitet hätte, keine Sorge, daß es auch zu den Großen zu den Obersten des Volkes gelangen möchte, um diese, die schon so aufmerksam waren auch Johannes, noch aufmerksamer zu machen auf den, für den dieser nur arbeitete; sondern ruhig und gelassen ging Jesus seinen Weg weiter, still erwartend, was dieses Zeugniß seines Freundes und Vorgängers für Wirkung auf das Volk hervorbringen möchte. Johannes hatte schon eine Anzahl von Jüngern und Freunden um sich versammelt, und es musste auch Christo als die erste Nothwendigkeit erscheinen, sich solche zu finden; denn zwischen Einem, der auftritt um etwas Großes zu beginnen, etwas Neues zu lehren, und zwischen dem großen Haufen bedarf es Vermittler, welche von ihm empfangen in reichem Maße und dieses, einem Jeden nach Maßgabe seiner (Kräfte) Empfänglichkeit weiter vertheilen unter die übrigen. Aber nichts that er, um Einzelne auf eine besondere Weise an sich zu ziehen. Wenn er in Johannes Nähe geblieben wäre, wenn er sein Zeugniß verbreitet, und durch Zeichen und Wunder es bekräftigt und einen Glanz um sich verbreitet hätte, der den des Johannes (bald) verdunkelte, so hätte es nichts fehlen können es wäre von selbst ein großer Theil der Schüler des Johannes ihm zugeströmt. Er aber geht seinen Weg weiter und wartet geruhig, ob sich ein solches Häuflein um ihn sammeln werde oder nicht. M. Fr. was war dieß anderes als jene edle hochherzige Verschmähung aller unrechten Mittel und alles dessen, was nur dadurch erreicht werden kann, was war es andres als der hohe Glaube, daß was die Quelle der stillen Gelassenheit des ruhigen Wartens, welche die ersten Schritte seines große Weges bezeichnete. O, laßt uns ihm darin folgen. Was in ihm wirksam war, es war 35 wartet] warted

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nichts anderes als die göttliche Kraft, der er vertrauen konnte und mußte; aber laßt uns vereinigen, was in uns etwas wirken, woraus von uns etwas Gutes hervorgehn | soll, es kann auch nur seine Kraft seyn. Nur was sein Geist schafft ist das wahrhaft Gute und bleibende, wozu wir nun einzelnen Erfolg als Beytrag geben können. Laßt uns diese göttliche Kraft überall so wie er und die Seinigen ehren; kein irdisches Mittel laßt uns zu Hülfe nehmen, noch das, was durch sich selbst wirken soll, und einen irdischen Glanze umgeben, der wohl blendet die Augen der Menschen aber nicht ihr Inneres erleuchtet; nicht da, wo wir für Gott, mit und aus Gott handeln, irgend etwas Vergängliches und Irdisches ansprechen, um davon Hülfe zu leihen, die doch nicht wahrhaft helfen kann; sondern mit dem selbigen einfältigen und stillen Glauben an die göttliche Kraft laßt uns alles beginnen; wo uns etwas Gutes aufstößt, von dem wir sehen, es würde geschehen, wenn wir alle Kräfte besäßen, die zur Vollbringung erforderlich sind, wenn wir auf dem Platze stünden, von dem wir am kräftigsten wirken könnten, wenn die Kräfte der Menschen ohne deren Vereinigung freylich nichts Großes vollendet wird, sich zu den unsrigen gesellen – lasst uns warten, was die Zeit bringen wird, und still fortgehn auf unserm Wege, damit der Herr entscheide, ob dieß gerade durch uns und jetzt geschehen soll, und eben dieß war es auch wieder was bey Christi Verfahren zu Grunde lag. Als die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn – daß die Zeit gekommen sey, daß er das ausersehene Werkzeug Gottes sey, das war seine feste Überzeugung, und darum kann er so ruhig seinen Weg gehen, wohl wissend daß der Herr ihm beystehe und die Wege eröffnen werde, die er gehen müßte. Eben diese Zuversicht zu Gott laßt auch uns haben; lasst es uns fest halten: nur das geschiehet, dessen Zeit erfüllt ist; alles was sonst die Menschen ersinnen und erstreben mögen, alle Anstrengungen ihrer Kräfte zu irgend einem Zwecke, sie sind vergeblich wenn die Stunde nicht gekommen ist, und wie schön die Blüthe war von unserer Arbeit, die Frucht wird unreif vom Schicksal abgeschüttelt. Ob dessen was wir wünschen und thun sollen, ob dessen Stunde gekommen sey, das können wir mit solcher Zuversicht wie der Erlöser nicht wissen; aber die Zuversicht müssen wir haben: ist sie gekommen: so wird Gott auch unser Bemühen segnen, so wird er uns Hülfe senden, die Gemüther erregen, daß unsere Rede und That Gehör und Eingang finde bey den Menschen, daß sie sich mit uns vereinigen, und aus dieser Vereinigung wird dann hervorgehn, wozu jeder Einzelne nur einen geringen Beytrag geben könnte. Aber so still und ruhig der Erlöser zu Werk ging, so wenig er die Menschen suchte, so wenig wies er sie, und als die Jünger seines Freundes und Vorgängers sich zu ihm wandten, so schloß er sie von seinem nähern Umgange nicht aus. Kommt und sehet sagt er zu ihnen und bittet, daß sie den Tag bey ihm bleiben, daß er sehe, ob sie für seine Ansich20–21 Gal 4,4

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ten und Lehren offen genug wären und es sich ergebe, ob sie für einander paßten, ob sie geschickt zu seiner Arbeit und empfänglich wären für sein großes Werk. Und das m. Fr. gehört auch zu den einfältigen Wegen, die wir zu betreten haben. So wenig es dem, der das Gute befördern will, anständig ist, sich den Menschen aufzudrängen | und in einem Platz desselben entweder hineinzustürmen oder hineinzustürzen: so ist es auch die erste Pflicht desselben, das Gemüth denen zu öffnen, auf die er wirken, mit denen er sich verbinden will. Wohl gibt es darbey eine löbliche Vorsicht, die wir auch den Erlöser selbst ausüben sehn; aber jeder ist schuldig, wenn er anderen sich nähern will, sich zu seinen Grundsätzen und Gesinnungen zu bekennen, damit sie wissen, was sie von ihm zu erwarten haben, und wie der, welcher von Menschenliebe beseelt ist, das wahre Gute seinem Bruder zu befördern strebt und das Bild ihres wahren Heils überall im Herzen trägt: so ist es gewiß auch Schuldigkeit und Pflicht eines jeden, seine Ansichten von dem was zum Frieden dient, andern mitzutheilen, über die Mittel wodurch es und über die Art wie es geschafft werden kann, sich ihm mitzutheilen. Dadurch allein kann sich eine Verbindung bilden, woraus etwas Gutes entsteht, daraus allein hervor gehen die Liebe und Treue die fest hält in Noth und Tod, wie die Liebe und Treue der Jünger zum Erlöser. Eben so m. Fr. sind uns auch die Jünger des Herrn ein lehrreiches Beyspiel der Einfalt mit welcher ein Kind Gottes seinen Weg betritt. Sie hatten sich vorher an den Johannes geschlossen, seine Rede gehört und waren nachdem sie bekehrt und die Taufe empfangen hatten, nicht heimgekehrt, sondern entschieden bey ihm zu bleiben, um sein Bestreben mit ihrer Thätigkeit und Hülfe zu begleiten und zu befördern, verlassend alle Rücksichten auf weltliche Lust und Ehre, beschränkt auf das entsagungsreiche Leben, welches ihr Meister entfernt von den Menschen in der Wüste führte. Als nun Johannes sie auf Jesum hinwies, als auf den, welchen er nur aufgetreten war die Bahn zu bereiten: so trauten sie dem Zeugnisse des Mannes, der ihnen als streng und wahrhaft in allen bisherigen Verhältnissen bekannt geworden war, sie glaubten ihm ohne Zeichen und Wunder zu verlangen daß Jesus der verheißene Prophet sey; sie trauten seinem Zeugnisse und suchten (vertrauensvoll und gläubig) die Bekanntschaft dessen, an dem sie von ihm gewiesen wurden. So gingen sie zu Jesus und blieben einen Tag bey ihm, haben da gewiß schon über das, was ihr Herz erfüllte, mit ihm geredet und die wahren Grundzüge seiner Lehre und seines Glaubens empfangen, und nichts Wunderbares und Ausgezeichnetes erwartend haben sie sich allein den stillen Eindrucke seines Daseyns und seiner Lehre überlassen und dieß genügte, um mit Ehrfurcht und Liebe zu ihm erfüllt zu werden. M. Fr. auch diese Gewandheit laßt uns nachahmen. Ein solches unbestimmtes Verlangen, eine solche unbefriedigte und ihr Ziel nicht kennende Sehnsucht, wie 11 wie der] wie die der

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wir in den Jüngern des Johannes finden, ist gewiß in uns allen, und in allen beßern Menschen zu allen Zeiten. Denn daß das, was wir haben, noch nicht das Rechte ist, daß es noch etwas Beßeres Befriedigenderes, Vollkommeneres gibt, das wir nicht sehen aber ahnden, das ist es, was den Menschen zum Beßern treibt, das ist der Stachel, durch den wir angetrieben werden, dem fernen Guten nach zu jagen. Viele von uns sind schon in irgend einen Beruf menschlicher Thätigkeit getreten, aber sie haben ihn bisher nur von seiner irdischen Seite angesehn; es erwächst nun ein höheres Bestreben in ihnen, um zu wissen, wie sie diesen besondern Beruf; und den allgemeinen, den sie nun gefunden, und auch den das | unbefriedigte Verlangen hindeutende, zu vereinigen haben, dazu bedürfen wir der Freunde, einige helle und stille Gemüther, an die sich Jeder anschließen kann mit Zuversicht, und so wie Jeder in Verhältnissen steht, wo er der Selbstständige ist, wo er andere erleuchtet mit seiner Lehre, und stärkt und leitet mit seiner Kraft: so gewiß gibt es auch andere, wo er an andere sich anschließt und von ihnen lernen muß. Laßt uns dabey zu Werke gehen wie die Jünger des Erlösers. Laßt uns eben so wenig wie sie dabey auf äußern Glanz sehn, und nur denen folgen wollen, die durch äußere Auszeichnung uns in die Augen fallen. Wenn sie geglaubt hätten, der Erlöser müße auf eine ausgezeichnete und wunderbare Weise auftreten, wenn sie angesteckt gewesen wären von der Hofnung des Volkes, die Zeichen und Wunder von ihm forderte, (um ihn anzuerkennen als Messias) so wären sie von Johannes gewichen und hätten ihre Sehnsucht und ihr Verlangen auf einen anderen gerichtet. Aber sie thaten es nicht, und hatten ihn auch da nicht voreilig verlassen, als er ihnen sagte: er sey es nicht der da kommen sollte, sondern sie waren bey ihm verharrt und nun trauten sie seinem Worte, als er sie hinwies zu Jesus. Ja m. Fr, haben wir Einen oder wenige gefunden, die uns erschienen sind als solche, die durch ein längeren Umgang bewährt, welche nur das Göttliche suchen und das Irdische durchaus dem höhern Zwecke nachsetzen, denen freye offene Wahrheit über alles geht, die einen höhern Maßstab in sich tragen, wonach sie sich und die Menschen beurtheilen – laßt uns ihrem Urtheile trauen, wenn sie uns von sich und auf die andern hinweisen, die aber eben dieser Gesinnung voll dasselbe wollen als sie. Das stimme schon unser Herz zum Verlangen nach größerer Einigung mit diesen, das errege schon unsere Aufmerksamkeit, das entzünde den Keim der Liebe zu ihm, und wenn wir dann hingehen und sehn wie die Jünger Johannes’ zu ihm, und laßt uns denselbigen Glauben dasselbige Vertrauen uns erfüllen wie sie. 28 längeren] länge 25 Vgl. Joh 1,20

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II. Und das führt uns zu der zweyten Betrachtung: Laßt uns gläubig und vertrauensvoll jedes gute Werk beginnen, wie auch die Jünger Jesu ihr gemeinsames Leben begannen. Wir finden aber bey ihnen zweierley Arten des Glaubens und Verhaltens. Wie sie sich von Johannes zu Jesus wandten, da blieben sie den Tag bey ihm und am folgenden Tage riefen sie schon mit Zuversicht ihren engen Freunden entgegen: wir haben den Messias gefunden, und am zweyten sagten sie ihnen: kommt und seht. So einfältig hatten sie sich dem ersten Eindruck ihres Zusammenseyns mit dem Erlöser hingegeben. Man pflegt große Bedenklichkeiten und Zweifel zu hegen gegen die Wirkung des ersten Eindrucks den irgend einer auf uns macht und wir geben uns Mühe uns und andere davon zu vermahnen, und sie darauf aufmerksam zu machen wie leicht man sich dadurch täuschen lasse, wie oft Menschen beym ersten Anblicke weit mehr versprächen, als sie nachher zu leisten willens und fähig | wären, und wie dem durch den ersten Eindruck dem Getäuschten in dem, den er sich als ein hohes Bild menschlicher Vollkommenheit gedacht hat, später oft Mängel Schwächen Verkehrtheiten und Verderbtheiten ins Auge fielen, die er doch nicht in ihm gesucht. Auch das ist wahr; aber m. Fr. ich möchte zuversichtlich behaupten, daß ein solcher Irrthum nicht ohne Sünde ist. Wer reines Herzens den Menschen naht, den wird der erste Eindruck, den sie auf ihn machen, nicht leicht zu einem falschen Urtheil über den Werth ihres Herzens, über den Gehalt ihres ganzen Wesens verleiten. Welche reines Herzens sind, die sollen zu Gott schauen, und also auch schauen das Göttliche in den Menschen; also muß ihnen auch das Göttliche, was in den Menschen ist, sicher und gewiß entgegentreten: sie müssen gleich nach einem kurzen Zusammenseyn gleich bey dem ersten Gespräche die Kraft fühlen, die in ihnen ist, und von dem Geiste, der sie belebt, ergriffen werden. Lassen wir uns aber blenden von der Außenseite, woher kommt das anders, als daß wir für das Sinnliche empfänglicher sind denn für das Geistige; daß wir mehr dem Schein folgen, statt durch diesen hindurch auf das Wesen zu dringen, und das ist aber der Frevel, der Leichtsinn und die Unreinheit des Herzens, die uns verführt. Lasst uns reinen Herzens zu ihnen nahen, mit denen wir uns verbinden in allem: so wird nichts unser geistiges Auge trüben, so werden die Kinder der Finsterniß sich nicht vor uns verbergen können, und was uns so ergreift, wie die erste Rede des Erlösers auf die Jünger es wird dieselbige Kraft, die in allem ist, welche durch ihn und mit ihm zum Reiche Gottes gehören. Eine andere Art von Glauben zeigt uns einer unter den Jüngern des Johannes mit Namen Nathanael. Ihm kam sein Bruder entgegen mit der frohen Nachricht: Wir haben den Messias gefunden. Nathanael konnte wissen, daß ihre 5 ihm] ihnen

5 riefen] rufen

22–23 Vgl. Mt 5,8

7 sagten] sagen

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Bekanntschaft erst kurz sey und darum war er auf seiner Hut und besorgt ob nicht ein persönliches Vorurtheil sie irre leite. Darum setzt er ihnen auch ein anderes entgegen: was kann von Nazareth Gutes kommen? Eben so als Christ zu ihm sagte: Siehe ein rechter Israeliter, in welchem kein Falsch ist: so wurde er durch dieses Entgegenkommen nicht bestochen, das Lob, das der Erlöser ihm gab, bildete nicht sein Urtheil über ihn: sondern er sprach viel mehr nach dem Grunde: Woher kennst du mich? Das m. Fr. ist der wahrhaftig prüfender Glaube, den wir gewiß auch anwenden müssen, wo wir noch nicht selbst gesehn haben, um uns nicht vorher durch andere Menschen bestechen zu lassen; aber der Aufforderung: Komm und siehe! müssen wir folgen wie Nathanael, und als er vernommen, worauf jenes Lob beruhte, wovon uns eben die Geschichte den Zusammenhang nicht erzählt, da war auch folglich sein Glaube stark und fest und reif und mit Zuversicht und Überzeugung ruft er: Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist wahrlich der König von Israel. Und einen eben so herrlichen und nachahmungswürdigen Glauben finden wir bey dem Erlöser. Was hatte er während des zweytägigen Aufenthaltes gefunden als einige befreundete Gemüther die sich an ihn schlossen und laut bekannten, mit welcher Zuversicht sie ihn für den Messias hielten. Wie viel ihnen aber noch fehlte, das wissen wir, wie wenig sie damals den wahren und vollen Sinn Christi verstanden, das spricht sich auf allen Blättern der Evangelisten aus, und doch hatte der Erlöser an ihnen genug und er ist zufrieden mit diesem Anfange seines Werkes. Als er einige treue gläubige Gemüther gefunden, die sich dem Eindruck des Göttlichen unbefangen hingaben, die ohne auf äußeren Schein zu sehn, ohne Rücksicht zu nehmen auf weltliche Güter, ihm folgten und nicht abwarten wollten, daß etwas Äußeres zu Stande komme, als er Einen gefunden, der streng prüfte, kaltblütig und vorsichtig noch manches berichtigen konnte um den heftigen, vorschnellen Eifer der Anderen ein Gegengewicht entgegenzustellen, als aber dieser, beyde Elemente eines freundlichen und kräftigen Lebens gesammelt hatte – da glaubte er sein Werk in den ersten Zügen begründet und mit frohem Muth und der festen Überzeugung ruft er ihm zu: du wirst Größeres als dieses sehen: wahrlich von nun an | werdet ihr den Himmel offen sehen, und die Engel Gottes hinauf und hinab sehen auf dem Menschensohn. O, m. Fr. laßt uns jetzt, wo wir von neuem in die Zukunft sehen, lasst uns dasselbige Verlangen hegen und denselben Glauben setzen wie der Erlöser. Wie herrlich hat sich das seinige bestätigt, welches herrliche Reich ist aus dem kleinen Anfang hervorgegangen, wir haben auch seit dem die Herzen vervielfältigt, worin er wohnt, und die Zungen, die seinen Nahmen aussprechen. Wonach wir auch streben, was wir auch wünschen, und erwarten von einem künftigen höheren Heil der Menschen, von einer vollkommenen Gestalt des göttlichen Reichs, von einer größern Gewalt die Christus ausüben wird in dem Reich der Wahrheit des Glaubens und der Liebe: es liegt noch eben so dunkel vor unserem Blick, wie damals der

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Fortschritte fürs Reich vor den Augen des Erlösers. Aber wer, worauf auch sein Dichten und Streben zunächst gerichtet ist, sollte nicht wenige treue Gemüther kennen, die sich durchgängig dem Heil der Menschen hingegeben haben, die Verzicht leisten auf menschliches Glück und Wohlseyn, die nichts suchen als den Willen Gottes, und Dienst mit jeder Aufopferung zu thun entschlossen sind, und haben wir einige liebevolle einfältige Gemüther; ist Vorsicht dabey und Klarheit und strenger Sinn: o laßt uns darauf gründen was wir bauen wollen; dieses sind die Keime, woraus sich eine gemeinsame Thätigkeit entwickelt, deren Werk allein ewig ist, das sich die Gesinnung, „klug wie die Schlangen und unschuldig wie die Tauben“, die der Erlöser den Seinigen vorhält wodurch das Reich Gottes befördert werden kann und muß – und wo in dieser Gesinnung, mit dieser Kraft gehandelt wird da allein wirkt der Geist Gottes, da allein sind die Menschen aufs Bleibende und Unvergängliche verbunden, da ist der Grund gelegt auf welchem Christi Reich erbaut werden kann, da kann nichts anderes geschafft werden, als was mit diesem zusammen hängt und eben so wenig ist, weil es ja auf demselbigen Grunde steht und nach derselbigen Regel gefördert werde. In diesem Gefühl lasst uns der Zukunft entgegengehen; solche Verbindungen mit wenigen aber treuen einfältigen aber kräftigen Menschen laßt uns für das schönste Gut halten; denn worauf wir sonst hofften, was wir sonst erstreben wie lang es auch bleibe, schnell kann es die Zeit hinweg nehmen und alle Erfolge, die nicht in diesem Geiste herbeygeführt wurden, wie vergänglich und nichtig sie sind, wir haben es durch die hellsten und schlagendsten Beweise erfahren; aber hat treue innige Vereinigung, hat Liebe und Freundschaft, Festhalten an gemeinsamen Grundätzen jemals den Menschen, der mit verderblichen Sinn sich hingab und beharrte, getäuscht, und gibt es etwas, woran wir schönern Genuß fassen könnten als eben diese Vereinigung? Das sey das Köstlichste, was wir suchen und wo anders wollen wir die Herzen finden als in der Gemeinde des Herrn. Da laßt uns suchen, die dem Herren gehören und nicht bloß zum Schein seinen Namen bekennen, mit denen laßt uns reden wie Christus that mit den Seinigen vom Reich Gottes, und haben sie dieselbe Zuversicht von seinem Werke, gestaltet sich in ihnen auf gleiche Weise sein Bild, sind sie mit uns einig über die Art, wie das Gute befördert werden kann und muß: so sey nichts mehr zwischen ihm und uns, alle Scheidewand falle, aller Unterschied sey aufgehoben, und ohne Rücksicht auf den Abstand der Geisteskräfte, auf ihren Irrthum und Schwächen, die ihm noch ankleben, laßt uns hoffen daß der uns gemeinschaftlich belebende Geist, diese überwinden wird, und laßt uns, fest bauen auf das was sich auf sein Bund der Liebe gründet. Und wer 1 Reich] Reichs 10 Vgl. Mt 10,16

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dieß thut, der kann mit schöner Hofnung der Zukunft entgegengehen, dem öffnet sich durch das drückende Dunkel der Gegenwart eine glänzende herrliche Aussicht. O so laßt uns dann mit Treue und Liebe uns verbinden und mit einfältigem gläubigen Herzen dem Erlöser nahen, ihn laßt uns dienen in ihm wirken, und fest vertrauen, daß wie er auch uns zur Mehrung seines Reichs gebraucht, auch wir wenn nicht mit leiblichen doch geistigem Auge die Herrlichkeit seines Reiches schauen werden. Amen.

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Besonderheiten:

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 4,4–26 Nachschrift; SN 592, S. 5–22; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 23–44 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 400–413; 21843, S. 388–400. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 23–38. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 398–408 Nachschrift; SAr 27, Bl. 5r–8r; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 9v–18v; Matthisson Erste von zwölf Predigten, die Pischon in einem Büchlein zusammengestellt hat und Schleiermacher als Geburtstagsgeschenk am 21. November 1812 überreichte. (Vgl. Einleitung, Punkt I.1. und II.3.C.a.)

Die Handlungsweise des Erlösers in der Erzählung von der Samariterinn. Über Joh. 4 v. 4–26. Gehalten den 19. Januar 1812. 5

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M. a. Fr. Wenn es von jeher auch unter den Christen viele gegeben, welche sagten, dass die hohe und göttliche Verehrung, die wir gegen den Erlöser hegen ihn unsern Blicken so weit entrücke, dass sein Dasein auf Erden und das, was wir von seinem Leben und den einzelnen Vorfällen desselben wissen, auf das unsre nicht einen großen Einfluss haben könne, weil der Maaßstab der Vergleichung verloren gehe und dass es deshalb heilsamer sein möchte, wenn wir ihn weniger verehren: so ist das bei vielen eine gutgemeinte aber verkehrte Gesinnung, eine gewiss mit Verkehrtheit des Herzens begleitete Klügelei des Verstandes. Es giebt keine wahren Christen, die den herzlichen Glauben an das Göttliche im Erlöser jemals zum Vorwande gebraucht hätten die Anforderungen von sich zu weisen, die das Vorbild, das er uns gelassen an jeden von uns thut und wenn er unser Bruder geworden ist in Allem, was in reinem Sinne der menschlichen Natur menschliche 1 Davor Titelblatt: Zwölf Predigten von D. Schleiermacher. Gehalten im Jahre 1812.

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Schwachheit ist, so | sind wir seine Brüder geworden in dem, was so weit es sich in seinem Leben offenbart, göttliche Kraft heißt, obschon es nur schwach und unvollkommen in unsrer Natur sich darstellen kann; wir sind es durch jene Mittheilung des Geistes, die von ihm ausgeht und wodurch wir allein in das Verhältniss treten können, dass er uns angehört und wir ihm. Aber etwas Anders ist es, wenn von dem besonderen Berufe des Erlösers die Rede ist, von seiner eigenthümlichen Lebensweise, die die Erlösung zum Zweck hatte. Daraus entstanden natürlich Verhältnisse, die die wenigsten unter uns theilen können und der äußere Anschein nach einer geringern Ähnlichkeit, als wir wünschen möchten. Aber lasst uns zusammenrechnen und bedenken, wie viel ein jeder Verehrer Jesu von der Betrachtung des Lebens Jesu Segen für das seine habe, lasset uns bewundern, wie ohngeachtet aller Verschiedenheit fast nichts vorkommt in dem Leben des Erlösers, woraus wir nicht für das unsrige lernen könnten; ja, m. Fr., lasset es uns besonders, die wir hier versammelt sind und jetzt leben, erkennen, wie diese scheinbare Verschiedenheit jetzt weit geringer ist, als zu jeder andern Zeit, jetzt, wo alle besonderen Verhältnisse jeder für sich bestimmte Beruf, eine Kleinigkeit erscheint gegen den allgemeinen, mit allen Kräften | die wir fühlen, zu erhalten[,] zu stützen, zu verbreiten das Gute, worauf alle Hoffnung des Herzens gegründet ist. Und eben dieser allgemeine Beruf, dem wir den größten Theil unsrer Kräfte widmen müssen, er war der besondre des Erlösers und so kann es denn nicht fehlen, betrachten wir ihn und unser Dasein aus diesem Gesichtspunkt, dass Betrachtungen über einzelne Gegenstände aus seinem Leben von großem Segen für uns sein müssen. Möge es auch die heutige sein! Tex t.

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Es würde weit das Maaß unsrer Betrachtungen überschreiten Alles, was diese einfache Erzählung Schönes und Rührendes enthält uns anzueignen und die köstlichen Worte Jesu alle gebührend zu erklären. Wir wollen uns dieß mal nur beschränken, weniger auf den Inhalt des Gesagten, als auf die ganze Handlungsweise zu achten, und was eine unmittelbare Anwendung auf unser gemeinsames Leben findet, herauszunehmen.

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I. Zuerst ist es gewiss jedem merkwürdig wie der Erlöser bedacht ist von einem ganz gewöhnlichen Vorfall, von einer Kleinigkeit im menschlichen Leben ausgehend seinem Gespräche mit einer ganz unbekannten Person die Richtung zu geben auf die höchsten Wahrheiten seiner Lehre und den Zweck seiner | Erscheinung auf Erden. – Es ist etwas Eigenthümliches und Herrliches in der Lehrart unsers Erlösers, dass überall die gewöhnlichen Dinge des menschlichen Lebens ihm zu Bildern dienen, welche auf die großen Wahrheiten seiner Lehre, auf das höhere Leben, das ergründen wollte und auf das Verhältniss des Menschen zu Gott führen. Speise und Trank

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gebraucht er gewöhnlich so, und auch hier fängt er so an, indem er Wasser fodert, den Durst des Ermüdeten zu löschen zu dem, was die Kraft des höheren Lebens im Menschen verbürgt, und auf einige Weise stärken soll, hinzulenken. Ja er hatte schon die herrlichen Worte gesprochen, welche Lebenskraft verheißen, die allem Durst und allem Verlangen ein Ende macht, als dennoch, entweder nicht verstand oder nicht verstehen zu wollen schien die mit welcher er sprach und als er es so nicht erreichte, fing er von einem andern Ende an: von dem, was er, wir wissen nicht wie von ihren persönlichen Angelegenheiten wusste und was sich eignete sie auf das Innre ihres Gemüths und die Bedürfnisse der Seele hinzuleiten und dann gelang es ihm, dass sie ausrief: Herr du bist ein Prophet und nun war sie, wo er sie haben wollte und da trug sie ihm vor die große streitige Frage zwischen ihrem und seinem Volke, die in einer | langen und hartnäckigen Feindschaft lebten. Freilich hatte der Erlöser seinen Beruf als Lehrer des Volks schon angetreten, war so schon erschienen in Galiläa wo er auferzogen war, so aufgetreten auf einem hohen Feste in Jerusalem, und hatte das merkwürdige Gespräch mit Nikodemus schon gehabt, welches im vorigen Capitel erzählt wird. Aber in der Gegend, die er jetzt bereiste, unter den Samaritern, die keinen Theil nahmen an jüdischen Festen, die auf einem andern Ort anbeteten und sich aller Gemeinschaft mit den Juden enthielten, unter diesen war er unbekannt. Er stand [als] ein Fremder vor der Fremden, und fing an, womit ein jeder unter uns anfängt, von den gewöhnlichen Kleinigkeiten des Lebens zu reden, eine höfliche Bitte an sie richtend, aber doch ungeachtet sein Stand ihr unbekannt war, scheute er sich nicht, sie auf alle Weise auf die wichtigste Angelegenheit des Lebens hinzuführen. – O, m. Fr. möchte das ein Beispiel sein, dem wir alle folgen. Wie viel Zeit wenden wir nicht auf den geselligen Verkehr mit unsern Brüdern! nicht viele giebt es, die sich nur auf einen kleinern Kreis von Menschen beschränken, wo es nicht erst eines besondern Vorwandes und einer Gelegenheit bedarf, um von den wichtigsten Angelegenheiten des Lebens zu sprechen, sondern wo diese schon von selbst den Gegenstand der Un|terhaltung ausmacht, aber in den weiten Kreisen, worin alle verflochten, wo die Menschen nicht so vertraut aber auch nicht so fremd sind, als der Erlöser der Samariterinn: wie treiben wir uns so viel und lange herum bei bloßen Kleinigkeiten, bei den einzelnen geringfügigen Vorfällen des Lebens, und wenn von den persönlichen Verhältnissen der Menschen die Rede ist, nicht bloß der Abwesenden sondern der Gegenwärtigen, wie selten geschieht es so, dass dadurch das Herz aufgeregt werde, eine heilsame Betrachtung im Gemüthe hervorgebracht, die Kleinigkeiten auf das Große hinzuführen, dass aus diesem 27 den geselligen] das gesellige 16–18 Vgl. Joh 3,1–21

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Verkehr, bestimmt das irdische Leben zu erheitern, das Andenken an das Sorgen zu erlöschen, etwas bleibendes Gutes hervorgehe. Keinesweges, als ob ich die Anforderung machte, es sollte aus unsrer Gesellschaft alle Freude und alles Erheiternde verbannt sein und wir sollten bloß ängstlich trachten von hohen und göttlichen Dingen zu reden: nein; allein kann es im Gemüthe des Christen ja ganz aufhören sich dieses Verlangens bewusst zu sein, mit dem, was in seinem Innern so herrlich und lebendig wohnt, auch denen, für die er lebt, auch in der That zum Nutzen, zur Stärkung ihres höhern Lebens zu gereichen? Fühlen wir nicht, wie diese Gesinnung sich durch alle Freuden und Scherze hindurchziehen kann, und wie sie dann | die rechte Gelegenheit schon angeben wird, auch in den kleineren Kreisen wie der Erlöser von den Kleinigkeiten bald auch auf die großen und wichtigen Gegenstände zu kommt. M. Fr. O lasset uns erwägen die heitre und belebende Stimmung, mit der wir aus einem unschuldig frohen Kreise herausgehen, was wir davon tragen von den erheiternden Gesprächen, Scherzen, und den Bestrebungen den Geist zu ermuntern; was wir davon tragen, wenn wir auch geschöpft aus dem Gebiet der Sorgen, wie bald wird es besiegt und verschwindet wieder unter den Mühseligkeiten, ohne etwas Wesentliches im Gemüth zurückzulassen. Aber sind wir aus einem solchen Zusammensein geschieden und dem hellern lebendigern Bewusstsein von einer großen heilgen Wahrheit, mit der erfreulichen Erfahrung von der Gesinnung eines Einzelnen, dem wie uns die großen Zwecke im Herzen liegen: welches Geschäft begleitet uns da, welche hohe Kraft ist dann in uns erregt. Dann ist uns etwas geflossen von dem Strom des lebendigen Wassers, dann etwas erreicht, was nicht verfliegt in den nächsten ängstlichen Augenblicken. Lasset uns aber nicht übersehen, wodurch den Erlöser dieser Übergang vom Geringen aufs Höhere erleichtert wurde. Es war Jakobs Brunnen, worauf er saß, wo ihm die Samariterinn begegnete, ein Denkmal des Erzvaters aus längst vergangener Zeit, weit früher als jene Gesetzgebung, die die Sitte und Verfassung ihres Volks begründete als Alles, was jene unselige Trennung hervorgebracht | hatte zwischen Juden und Samaritern. – Wenn wir recht viel haben in unsern Umgebungen Sitten, Gebräuchen und ganzen Lebensweisen, was uns erinnert an die alte vergangene Zeit, geringerer Bildung vielleicht auf der einen Seite, aber auch treuer Einfalt des Herzens und der Gesinnung auf der andern, woraus sich geschichtlich nach Gottes Fügung Alles entwickelt hat, was uns theuer ist und in eine Zeit führt, wo das Unselige worüber wir klagen, noch nicht war: wie viel leichter ist es da Vertrauen zu fassen, das Herz aufzuschließen, weil man sich eines Höhern und Heiligern bewusst ist, einer unendlich alten heiligen Gemeinschaft, die ihr Recht ausübt über die Gemüther und wichtiger ist als alles persönliche Dasein des Einzelnen. O es ist ein großer Segen im Zusammenleben der 13 kommt] kommen

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Menschen, wenn sie ehrenwerth halten und treulich achten und bewahren Alles, was aus früher Vergangenheit, aus dem Strome der Zeit sich erhalten hat, fern von jener leichtfertigen Gesinnung, umzuwandeln die Gestalt des Alten, nicht ehrfurchtsvoll zu scheuen, was die Spuren des Alterthums an sich trägt, und was die vergangenen Geschichten uns vergegenwärtigt, und nur leben zu wollen in dem, was verschwindet und Gestalt und Farbe des Augenblicks zeigt; fern von dieser leichtfertigen Gesinnung, die den Menschen zum Sohn der Gegenwart macht, vielmehr sich gern beschäfftigen mit dem, was den Ursprung alter Geschichten und Sitten an sich trägt, eben darin gern leben, und in der Kenntniss des Alten, das auch die Hoffnung für die Zukunft bestimmen und lei|ten muss, aber den gegenwärtigen Augenblick sich trösten das erleichtert die Eröffnung der Herzen, das knüpft eine innigere Gemeinschaft, als die mit den flüchtigen vorübergehenden Gestalten des Augenblicks, das öffnet das Herz, nicht nur über das, was eben so schnell vergeht als es gekommen, sondern auch über das Bleibende, was den Übergang bildet zu dem, was aller Vergänglichkeit und Zeit entrückt ist. Wenn es so Vieles giebt im menschlichen Leben, was die Menschen nur auf Augenblicke verbindet, so lasset uns heilig halten das, worin sich das lange Zusammensein der Menschen, die ein Volk bilden, erhält und vergegenwärtigt die Kenntniss dessen, was die Alterthümer und die Vorzeit der Station betrifft! Je weiter sie sich verbreitet, desto inniger wird die Gemeinschaft, ein desto engeres Band ist geknüpft, gemeinsame Ansichten und Einsichten eröffnen leichter die Herzen und auch in den freieren Ansichten giebt es zu erhebenden und stärkenden Betrachtungen die Veranlassung. II. Zweitens möchte ich auf die Art aufmerksam machen, wie der Erlöser sich über jenes Verhältniss zwischen Juden und Samaritern gegen die Frau erklärt. – Sobald sie überzeugt war, er sei ein Prophet, war es ihr Bedürfniss Erläuterung zu fodern, vertrauend, es werde aus ihm nicht der Geist des Juden sondern der Geist des gemeinsamen Gottes reden. Der Erlöser führt sie zuerst darauf, was er voraussagte, es werde bald die Zeit kommen, wo von diesem | Streit nicht mehr die Rede sein werde, wo man nicht auf diesem Berge noch in Jerusalem anbeten, wo aber mitten in der Zerstörung eine andre Art sich bilden würde, Gott anzubeten, im Geist und in der Wahrheit, wo die Menschen nicht mehr getrennt sein würden durch verschiedenen Dienst Gottes, der doch noch nicht viel mehr wäre als ein Dienst der Lippen und Hände sondern einig in einer Anbetung im höheren Sinn. Aber indem er sie hierauf führte unterließ er nicht ihr seine Überzeugung über das Verhältniss zwischen beiden streitenden Theilen zu geben. „Ihr wisst nicht, sagt er, was ihr anbetet.“ Aus einer dunkeln Zeit, nicht im lebendigen Zusammenhange mit der frühern Geschichte, nicht aus vollständiger Kenntniss der Offenbarung von den Vätern zu den Propheten, sondern zu-

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sammengerafft aus dunkeln Erinnerungen und einzelnen Überbleibseln war der Gottesdienst der Samariter entstanden. „Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, wir aber wissen es!” unser Gottesdienst gründet sich auf die Geschichte, reihet sich an Moses und die Propheten und das Heil kommt von den Juden. Nicht ihr seid es, sondern wir, aus deren Mitte der zu erwarten ist, der auch diesen Streit lösen und ein höheres Reich Gottes stiften wird. Denn auf diese allgemeine Erwartung gehen diese Worte und so verstand sie auch jene. M. Fr. Jenes feindselige Verhältniss zwischen Juden | und Samaritern, die dennoch einig waren in dem, was ihr Volk von andern unterschied, in dem Glauben an Einen Gott, und das ursprüngliche Gesetz desselben annahmen, aber nachher über das Einzelne in Feindschaft gerathen waren, wo jener gemeinschaftliche Sinn verschwand, dieses Verhältniss, wie oft wiederholt es sich nicht immer noch vor unsern Augen. So sind Zweige der gemeinsamen Kirche Jesu getrennt, einig nicht nur in der Verehrung Eines Gottes, auch in der Verehrung des Erlösers, in der dankbaren Anerkennung der Gebote und in der Verehrung desselben geschriebenen Worts, das durch den Mund der Jünger der Geist des Herrn den Geschlechtern hinterlassen hat, einig, indem sie Jahrhunderte lang ungeschieden mit und in einander gelebt und der gemeinsamen Kraft des Worts sich erfreut, im Einzelnen hernach getrennt und das zum Besten auf eine Weise, worin Gottes Absicht sich nicht verkennen lässt. Aber, wenn sie in Feindschaft getrennt sind, wenn das Gemeinsame ihnen verschwindet, wie es doch hier und da ist, wenn sie statt einander zu fördern in der Erkenntniss und Ausübung des Wahren und Guten einander absprechen die Einsicht und das Gefühl und die Theilnahme an dem Höhern, welch ein unseliger Zwiespalt! So sind verschiedene Zweige desselben Volks getrennt, verbunden durch dieselbe Sprache durch gemeinsame Gesinnung seit Jahrhunderten. Hat sich aber ihr Staat gelöst, sind sie so getrennt, so ist auch das eine Führung Gottes eine Anstalt der göttlichen | Liebe, aber sind sie in feindseligem Hass getrennt, dass statt der brüderlichen Liebe Hass und Neid sie entzweit, dass jeder statt innig Theil zu nehmen an dem Schicksal des andern, sich nur freut seiner verringerten Macht, Wohlstandes und Ehre, welch ein verderblicher Zwiespalt! Eben so die verschiedenen Stände in demselben Staate, die sich doch verhalten sollten, wie Glieder eines Leibes, wenn sie von Neid und Missgunst oder gar von Übermuth und Hoffart getrieben sich immer mehr entzweien, wenn sie einander Abbruch zu thun suchen, welch ein unseliger Zwiespalt! O, m. Fr, wenn wir gefragt werden über unsre Meinung, wie der Erlöser gefragt wurde, lasset uns das zuerst den Menschen zu Gemüthe führen: es wird eine Zeit kommen, und in vieler Hinsicht ist sie schon da, wo nicht mehr von einem und dem andern die Rede sein wird, wo es gelten wird aus einer allgemeinen Zerstörung zu retten, was beiden heilig 31 dem] den

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und werth ist, in dessen einmüthigen Besitz ihr viele Jahrhunderte gelebt habt und wovon euer Blick abgezogen ist. Das sei das erste, die Gemüther zu der Erkenntniss zu führen, jeder Streit und Zwiespalt sei seiner Natur nach vergänglich, gewiss kommt die Zeit, wo Alles was die Menschen trennt verschwinden muss, um eine höhere Einheit zu bilden; bricht der Zwiespalt aufs neue aus, was anders als eine Zeit der Verwirrung kann diesem ein Ende machen und die Eintracht und Bruder|liebe erwecken und aufs neue beleben. Aber wenn sie geneigt sind das worüber sie streiten in Beziehung auf die höhere Eintracht geringer zu halten, dann lasset uns auch die Ansicht, die jeder davon hat nicht verhehlen. Auch von dieser Seite muss Gemeinschaft und Liebe gefördert werden, auch die Kraft der Wahrheit, auch das Aussprechen verschiedener Überzeugungen muss dahin würken, eine auf das Bessere gerichtete Stimmung der Gemüther zu Stande zu bringen. Durch die Überzeugung, wie vergänglich der Zustand des Streits ist, sei vorgebeugt, dass die Mittheilung nicht aufs neue in Streit ausarte, dann lege jeder was gut und lobenswerth auf seiner Seite ist für die Gemeinschaft an, das wird hervorbringen Ehrfurcht vor den verschiedenen Rechten, Achtung gegen die verschiedenen Ansichten; wenn die Menschen getrennt sind, wird es sie vorbereiten, dass der göttliche Segen und das wahre Leben nicht in der Trennung beruhe sondern in der Einigung, die ihr zum Grunde liegt, zu welcher Alles später oder früher zurückkehren muss. III. Endlich lasset uns merken auf das offne Bekenntniss Christi: ich bins, der mit dir redet! Er hatte ihr dargelegt die Vorzüge der Juden, sie gewiesen auf die Zeit des Aufhörens des Streites; sie war in dem ersten Augenblicke nicht überzeugt, sie wollte sich vorbehalten weiter darüber nachzudenken und wies auf eine Zeit hin, wo diese Belehrung aus dem Munde des höchsten Propheten kommen werde. Ich bins, sagte | darauf Christus. – Nicht immer finden wir den Erlöser so offen reden über seine Bestimmung. Als er einst seine Jünger fragte: wer das Volk sage, dass er sei? und wofür sie ihn hielten? und sie ihn für den Sohn Gottes erklärten, – verbot er ihnen, dass sie es weiter redeten und als das Volk ungeduldig in ihn drang und die Lehrer scheinbar ungeduldig fragten: sage uns endlich, ob du der Christ bist? sagte er: wenn ich es nicht auch sagte, glaubtet ihr es doch nicht, haltet euch an meinen Werken! – aber hier sagt er offen und unumwunden: ich bin es! M. Fr, auch wir leben in einer Zeit, wo man nicht gern sagt, wer man ist; wo man es nöthig findet mit dem Bekenntniss seiner Grundsätze zurück zu halten, damit nicht Ohren da sein, welche lauschen, damit nicht feindliche Gewalten hören, wie theuer uns sind die Rechte und Vorzüge des Vaterlandes, damit nicht leichtsinnige im Weltlichen versunkene Menschen da 28–31 Vgl. Mt 16,13–20, Mk 8,27–30; Lk 9,18–21

33–34 Vgl. Joh 10,37–38

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sein, denen unser Bekenntniss und unsre Anhänglichkeit an den Glauben des Christenthums, an seine ewigen Lehren und strengen Gebote zum Spott und zum Übermuth dienen, und so ist es mit allem, was uns theuer ist und heilig. Denn wo das Vertrauen verschwunden ist sich selbst aus eigner Kraft erhalten zu können, was doch eigentlich dem Leben seinen Werth giebt, wo man sich umlagert fühlt von feindlichen Gesinnungen, gestört fühlt die Kräfte, womit wir würken könnten, da leidet auch das Vertrauen des Einzelnen zum | Einzelnen. Einzeln und zu ganzen Haufen kann man uns fragen, was wir sind und wonach wir trachten und wir haben keine anderen als ausfliehende Antworten. Wohl! es mag heilsam sein, sich dieser Vorsicht zu bedienen; übt sie! der Erlöser that es auch; aber lasset nicht das Misstrauen euch ganz das Gefühl der Zuversicht und des Glaubens an befreundete das Gute und Heilige achtende Menschen benehmen; lasset es euch zur Freude und zur Stärkung gereichen, wenn ein Gleichgesinnter vor euch tritt, ja dem ihr zutrauensvoll sagen möget: ein solcher bin ich, der mit dir redet! Und worauf sah der Erlöser? Nicht in allem war er mit der Frau einig, stand selbst auf der entgegengesetzten Seite, aber dadurch ließ er sich nicht abhalten, so offen sich zu äußern. Sobald sie ihn als Propheten erkannte, hatte er Theilnahme bemerkt an den Großen, wichtigen Gegenständen, hatte bemerkt, wie sie sich tröste, sie werde hören, was der Messias verkündigen und gläubig aufnehmen, was er bringen werde, und an diesen offnen Sinn für die Wahrheit, an dieses rege, lebendige Gefühl für die Hauptangelegenheiten des Volks, in seiner Beziehung auf Gott, sowohl als das Gesetz; daran hielt sich der Erlöser, das öffnete ihm den Mund. Da war nicht jenes Nachlaufen nach seinen wunderbaren Thaten, nicht jenes scheinheilige Fragen der Pharisäer; es war ein einfältiges, ge|wiss nicht von Fehlern freies, aber ein der Wahrheit offnes, von schönen Hoffnungen erfülltes Herz, das ihm entgegen kam; da öffnete er sich ohne Rückhalt mit der tröstenden Rede: du brauchst nicht zu warten, ich bins, der mit dir redet. Diese Worte freilich haben wir nicht zu sagen, wir können uns nicht rühmen, aus unsrer Mitte werde der hervorgehen, der alles Gute retten werde so wie wir nicht wissen, ob es nur einer sei? und wer? der das, was ungleich ist, ebnen und den höheren Frieden in unser Herz zurückführen wird. Aber dass auch wir nur von dieser Hoffnung erfüllt sind und es tief fühlen, nur dadurch, dass die Herzen der Menschen zu Gott gekehrt werden, dass Glaube und Liebe sich ihrer bemächtigen, nur dadurch, dass die Herzen der Menschen lernen das Irdische verachten und der Zwietracht entsagen und nichts anderes wollen, als den Himmel auf Erden, den Christus geöffnet, nur dadurch könne erreicht werden, was sie suchen. Wo wir einen finden, dem wir es ansehen und anfühlen, mit dieser Hoffnung ist ihm gedient, dem lasst uns den Trost und die Stärkung nicht versagen, und ihm zurufen: ich bins, der mit dir redet!

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O, welche schöne Frucht trug diese Unterredung dem Erlöser, als Männer und Frauen kamen, ihn sahen und baten zu bleiben und sagten: sie glaub|ten, nicht um jener Rede willen, welche die Frau gesagt, sondern weil sie ihn selbst gehört; wie war da schon sein Gemüth erfreut, wie stärkte er sich an dieser frohen Erfahrung mit dem Gedanken: das Feld sei schon reif zur Erndte und wie bewillkommte er seine Jünger: er wolle sie senden zu schneiden, was sie nicht gesäet; wie ermuthigend war es für sein künftiges Leben und seinen Beruf, für den Weg, den er noch zu wandeln hatte. – Ja, wenn wir uns gleichgestimmten Gemüthern eröffnen, auch uns wird es nicht an Stärkung fehlen, und wissen wir noch nicht, was daraus entsteht, erkennen wir, es sei noch nicht das Reich Gottes, sondern nur ein zerstreuter Theil, es ist doch ein Feld, reif zur Erndte, es offenbart sich doch die Hoffnung, dass Gott kommen werde, sein Stuhl schon aufgerichtet sei zum Gericht, dass die Zeit komme wo das Volk der Gerechten leuchten werde wie die Sonne, was vergraben war in ewige Nacht. Wohlan! die Stärkung, die auch der Erlöser sich bereitete, lasset sie auch uns nicht versagen, nicht versäumen, nicht verschmähen, uns, die wir sie wohl noch nöthiger brauchen als der Erlöser. Was anders, als einen kleinen Beitrag kann jeder geben, alle aber können aus einem Verein der Kraft hervorgehen, alle aber können sich nur gründen auf Liebe und Vertrauen, und unserem Umgange mit Menschen liege nichts zu Grunde, als das Streben zu forschen und zu sich|ten, ob nicht einer sei, dem wir uns öffnen können der Gefühl und Sinn habe zum Höhern, ob wir nicht das Herz eines solchen treffen können, das mit uns gleiches Glaubens und gleiches Eifers ist für das Gute, dem wir nachstreben. So wird auch unser Leben gesegnet sein gleich dem des Erlösers, wenn wir treu bleiben dem Vorbilde, das er uns gelassen hat. Amen!

2–4 Vgl. Joh 4,42

5–6 Vgl. Joh 4,35

6–7 Vgl. Joh 4,38

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Am 2. Februar 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 8,28–34 Nachschrift; SN 592, S. 23–37; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 45–64 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 414–424; 21843, S. 401–411. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 39–52. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd.1, 1873, 21876, S. 408–417 Nachschrift; SAr 27, Bl. 9r–9v; Matthisson (unvollendet) Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Von den unglücklichen Besessenen, die Jesus heilte, von den Gergesenern, in deren Gegend die Heilung geschah und von dem Erlöser, der jene heilte. Über Matth. 8, 28–34. Gehalten den 2. Febr. 1812. M. a. Fr. Keinen kleinen Theil von den Lebensbeschreibungen unsers Herrn nehmen ein die Erzählungen der Evangelisten von den einzelnen Handlungen der Wohlthätigkeit, die er an Leidenden mancher Art verübte, und die sie nicht als ein Werk gewöhnlicher menschlicher Kunst und Geschichtlichkeit, sondern als einen Ausfluß höherer göttlicher Kraft ihren Lesern darstellen. Wenn viele unter den Christen unsrer Tage mit diesen Erzählungen nichts anders zu machen wissen, als dass sie sich Mühe geben das Übernatürliche und Wunderbare so viel sie vermögen zu zerstreuen und das, was als Eine Handlung einer höhern Kraft dargestellt wird in eine Menge einzelner zufälliger Umstände und in ein Zusammentreffen mehrerer glücklicher Kräfte zu zerlegen, so zeigt das wohl eine Gesinnung an, von welcher ich nicht sagen will, dass sie immer dem Glauben der Christen fremd und ohne alle Ahnung sei von dem, worauf es dabei ankommt; aber gewiss eine solche, welche verwechselt das Gebiet des Herzens und des Glaubens mit dem, worin der Verstand, wie an ihm die Mittel nicht fehlen, | schwierige 8 Leidenden] Leidende

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Aufgaben aller Art zu lösen hat. Nicht zu diesem Zwecke schrieben die ersten Jünger Christi oder ihre Nachfolger diese Erzählungen nieder, sondern, wie einer ausdrücklich sagt, damit sie glauben möchten, Jesus sei der Christ, nicht nur aus dem Erfolg, nicht um der wunderbaren Art willen, womit er herbeigeführt wurde; sondern aus dem Ganzen dieser Erzählungen sollte, die sie lesen und hören ansprechen der Geist eines Gesandten des Herrn. – Freilich sind wir mit unserm Glauben an diese Erzählungen nicht eben so gewiesen als die, für die sie zunächst mündlich und nachher unter mancherlei Gestalt schriftlich verfasst sind. Denn bei uns hat sich seitdem das größste Wunder, auf welches Christus selbst die Gläubigen hinweist zu oft und zu reichlich erneuert, als dass wir nöthig hätten unsern Glauben an jenen Wunderthaten zu stärken, nehmlich jenes große Wunder dass an die Stelle der Finsterniss das göttliche Licht getreten ist, dass die Kinder dieser Welt umgeschaffen sind durch das Wort und die Kraft Jesu in Kinder Gottes, dass sie alle erfahren haben, dass seine Lehre von Gott sei, ja, dass die größste aller seiner Weissagungen, dass seine Gemeine durch die Kraft der Hölle nicht überwältigt werden werde, seit so vielen Jahrtausenden immer ist in Erfüllung gegangen. Aber doch können diese Erzählungen jetzt noch immer dasjenige leisten, worauf dort seine Jünger es vorzüglich absahen. Auch die Erweise seiner äußern | Wohlthätigkeit und Milde stehen in Beziehung auf sein großes Geschäft als Erlöser und Erretter der Menschen und der Geist, der sich darin ausspricht und ihn eignete der Erstgebohrne zu sein unter den Söhnen Gottes spricht sich in diesen einzelnen Thaten jetzt auf diese dann auf eine andre Weise aus. Aus diesem Gesichtspunkt wünsche ich eine von diesen Erzählungen der Evangelisten zum Gegenstand unsrer Betrachtung in dieser Stunde zu machen. Tex t.

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Matth 8, 28–34.

Die drei ersten Evangelisten erzählen einstimmig diese Begebenheit mit wenigen Veränderungen, welche jeder aufmerksame Leser leicht in Übereinstimmung bringen kann. Es ist daraus zu schließen, daß sie für eine bedeutende unter den einzelnen Begebenheiten des Erlösers von Anfang an ist gehalten worden und Bedeutendes wird sich auch uns daraus zu Tage geben, wenn wir sie nur ansehen wollen als eins von den vielen Beispielen, die uns lehren auf welche Art die Bemühungen des Erlösers von den Menschen seiner Zeit aufgenommen wurden und wie er selbst dabei sich verhielt. Unsre Betrachtungen werden am besten und natürlichsten fortschreiten und zusammenhängen, wenn wir auf die handelnden Personen nach einander besonders Achtung geben I. zuerst auf die Unglücklichen, die dem Erlöser begegneten II. auf die Einwohner der Stadt, in deren Gebiet die Geschichte vorfiel III. auf den Erlöser selbst. | 3 Vgl. Joh 20,31

16–17 Vgl. Mt 16,18

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I. Nicht selten ist in den neutestamentlichen Erzählungen die Rede von solchen Unglücklichen, die durch den Namen der Besessenen bezeichnet werden und von welchen voraus gesetzt wird, daß ein böser Geist in ihnen wohne. Was es für eine Bewandniss damit gehabt habe ist nicht leicht auszumitteln, indem die Erscheinung, auf welche diese Bezeichnung angewendet wird von verschiedener Art ist. Zunächst müssen wir uns halten an einen allgemeinen Sprachgebrauch damaliger Zeit, nach welchem alles Böse, alles Drückende, dessen Ursach nicht in die Augen fiel oder nicht leicht zu erkennen war eben so unmittelbar auf den Fürsten des Bösen zurückgeführt wurde, wie das Gute unmittelbar auf Gott zurückgeführt wird, je weniger man die natürlichen Ursachen und äußerlichen Zusammenhang erkennt. Im gegenwärtigen Fall leuchtet es besonders in die Augen, daß der Zustand dieser Unglücklichen eine Zerrüttung des Gemüths war, woraus ganz verschiedene Erscheinungen hervorgingen. Sie scheuten die Gesellschaft der Menschen und ihr Aufenthalt war in den Todtengräbern, über dem Trübsinn und der Schwermuth, wovon dieß das Kennzeichen ist machte zuweilen Platz einer unzähmbaren Wuth. Sie gingen aus den Gräbern hervor, unbekleidet und wild, nach der Erzählung eines andern Evangelisten wandelten sie und niemand getraute sich dieselbe Straße zu gehen. Diese Straße kam der Erlöser mit den Seinigen gegangen, nachdem er am jenseitigen Ufer gelandet. Da erkannten ihn die Unglücklichen, zu denen sein Ruf schon musste gekommen sein und begrüßten | ihn mit dem Namen des Sohnes Gottes. Aber so weit ging die Zerrüttung ihres Gemüths, daß sie nicht anders als in dem Namen des bösen Geistes redeten, von welchem sie glaubten, daß er in ihnen wohnte, sich selbst sahen sie nur als den Leib desselben an und wiewohl sie sich hätten freuen sollen, wenn sie fähig gewesen sich selbst zu denken, sich ihrer selbst bewusst zu sein, sprachen sie aus mit Furcht und Zittern, weil sie sich nur bewusst waren des bösen Geistes: kommst du uns zu quälen vor der Zeit, da sie hatten rufen sollen: kommst du uns zu befreien von dem Übel, das uns quält, kommst du uns zu befreien von dem fremden Geiste, damit wir des unsrigen wieder froh werden? Ja als nach den andern Evangelisten der Erlöser einen dieser Unglücklichen fragt: wie heißest du, antwortet er auch nur im Namen des bösen Geistes: ich heiße Legio, denn unsrer sind viele, in dem Bewusstsein der vielfältigen Verwirrungen des Geistes der sich widersprechenden und nicht zu erklärenden Erscheinungen, aus denen sein trauriges jammervolles Leben zusammengesetzt war. 11–12 Zusammenhang] Ergänzung aus Pred. Slg. 3, 1814, S. 50 (vgl. KGA III/1) der 18–19 Vgl. Lk 8,27

34 Mk 5,9

16 dem]

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O, m. Fr., ihr habt es schon gefühlt, indem ich davon rede, welch ein Bild ist das von dem Zustande eines Menschen der der Sünde die Herrschaft über sich eingeräumt hat; wie mannigfaltig sind die Zerrüttungen des Gemüths, wie widersprechend alle Ausbrüche der Begierden und Leidenschaften des Menschen, der keine höhere Gewalt in sich gegründet hat als nur der Sinnlichkeit und der Sünde. Und wenn wir freilich alle auch in uns fühlen diese Gewalt, so können wir doch das sagen, sie ist doch nicht wir | selbst, wir fühlen sie als etwas fremdes; wir erschrecken wo wir sie gewahr werden und wo sie einen neuen verborgenen Keim und Schössling heraustreibt und wir wissen und fühlen, daß wir die wahre Einheit den vollen Besitz unsrer selbst nur zu erwarten haben wenn noch dieses und jenes ausgetrieben wird aus unserm Innern. Aber der Mensch der Sünde fühlt auch die Sünde nur als sich selbst, und wenn er nun von außen her vernimmt die Stimme der Vernunft, des göttlichen Geistes, den Ruf des göttlichen Worts, so bricht er in ähnliche Ausrufungen aus: kommst du mich zu quälen, ehe es Zeit ist? denn Zeit scheint es ihm immer noch nicht zu sein, dieser Gewalt ein Ende zu machen, wiewohl er fühlt es müsse ein Ende werden, es könne nicht ewig so bleiben, so ist doch eben das die Gewalt der Sünde, daß er es aufschieben will von einem Tage zum andern, daß ihm bange ist vor dem Zustande, wo er ihr würde entsagen müssen, daß es ihm vorkommt, er würde dann nur ein Leichnam sein, aus dem der Geist gefahren ist, und wenn Alles jetzt nur da ist zum Dienst der Sünde und alle seine Glieder und Kräfte nur von ihr bewegt werden, meint er, er würde starr und unbeweglich da liegen bis einst späterhin auch an ihn der Ruf ergeht zu einem neuen Leben. – Aber dennoch, m. Fr., in demselben, worin die ganze Fülle des Jammers und Unglücks in dem Zustand sich zeigt, zeigt sich auch schon der erste Keim des Bessern, woran der Erlöser sein mächtig würkendes Wort anknüpfen konnte. Er war nicht in dem Zustand der gänzlichen Zerrüttung in diesem Augenblick, es musste eine Erinnerung | in ihnen wach werden, von dem was sie vom Erlöser früher schon gehört hatten oder wenn sie ihn seiner Erscheinung nach als den erkannten auf den sein Volk damals hoffte, so war ja das ein um so deutlicheres Zeichen daß der Sinn für das Höhere und Göttliche nicht ganz in ihnen erstorben war und indem sie bang die Worte aussprachen[:] kommst du uns zu quälen? lag nicht darin die Überzeugung, der böse Geist, der sich ihrer bemächtigt habe könne nicht bestehen in der Gegenwart, der würksamen Nähe des Sohnes Gottes? und eben in dieser Überzeugung setzten sie voraus, er werde ihn austreiben und eben dieser Glaube [ ] den Anfang der Befreiung. Wohlan, auch an dem ist nicht zu verzweifeln, der so tief sich in die Macht der Sünde begeben hat, daß er sie hält für sein eignes Leben für sein wahres Ich und Selbst und sich fürchtet vor dem Augenblick wo sie könnte gebrochen 2 der der] der die

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werden, wenn er nehmlich ahndet und fühlt, es gebe etwas dem diese Macht weichen müsse, wenn das göttliche Wort, das heilige Bild des Erlösers ihm in Erinnrung bringt das Wahre, Ewige, Göttliche, das unter der Zerrüttung des Gemüths lange geschlafen hat in seinem Innern, wenn das Gefühl in ihm erwacht, daß in der Nähe dieses Geistes die Macht der Sünde nicht bestehen kann, daß dieser Geist da ist und jetzt ihn treibt mit seiner göttlichen Kraft, daß der andre ausfahren muss. O, da bemächtigte sich der Erlöser der verlornen Seelen, denn wie die Erzählungen der andern Evangelisten sagen, legten sie ihre Wildheit ihr ungebändigtes Wesen ab und bekleidet und der Ordnung und Sitte sich fügend, setzten sie sich zu seinen Füßen zu verneh|men die Worte des Lebens. – Wohl uns allen, daß an dem nicht ganz zu verzweifeln ist, der die Sünde für sein innres Selbst hält, denn wenn ich gleich sagte, wir fühlen sie in uns als ein Fremdes, darf ich doch nicht hoffen, daß das allgemein als wahr gilt. Wenn auch ihre Macht im Innern gebrochen ist giebt es keine Schwächen keine Begierden, keine Leidenschaften, die ihr so tief in euer Innres verflochten fühlt, daß wenn die Stimme eures Gewissens und der Religion an euch kommt und ihr fühlt, daß ihr diesen weichen sollt, euch bange ist, einen Theil eurer selbst zu verlieren ohne diese unordentlichen Gemüthes und euch das, was gefordert wird als ein Schmerz und eine Aufopferung erscheint, die ihr nicht ertragen, ohne die ihr nicht leben könnt. Wohl werden wir diese Erfahrung gemacht haben und werden sie machen, so lange wir leben, aber dann lasset uns glauben, daß mit der Macht dessen, der uns vorangegangen keine Macht und keine Gewalt der Sünde bestehen kann und uns ihm hingeben, daß er sie austreiben könne aus unserm Innern. II. Aber lasset uns zweitens Acht geben auf das Betragen der Bewohner in deren Gebiet der Erlöser diese Wohlthat verrichtete. – Die Hirten flohen und gingen in die Stadt und erzählten was sich begeben hatte mit der Heerde und den Besessenen, da ging die ganze Stadt hinaus ihm entgegen und baten ihn, daß er von ihrer Grenze wiche. – O wie wunderbar und unerwartet, gab es in ihrer Stadt keine Elenden und Leidenden, hatten sie keine Kranken und Gichtbrüchigen ihm hinauszutragen, war keiner von einem besondern Leiden des Leibes und der Seele gequält, den sie ihm hatten bringen können, | damit er seine Kraft auch an ihm beweisen sollte, sollten sie nicht, wie schon die Unglücklichen ihn begrüßt hatten, denselbigen auch angesehen und erkannt haben als den Sohn Gottes. Woher denn diese wunderbare Verstocktheit und Unempfindlichkeit bei der That, die geschehen war, den nicht zu erkennen, auf den das ganze Volk, zu dem sie 14 das] daß

33 den ... ihm] dem ... ihn

9–11 Vgl. Mk 5,15; Lk 8,35

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gehörten, hoffte. Wo sollen wir sie anders suchen, als in der Erzählung der Hirten, von dem was sich begeben hatte mit der Heerde. Ein Recht sich zu beklagen hatten sie wohl nicht, denn die, welche Unglückliche dieser Art, die zu ihnen gehörten, herumwandeln ließen ohne Hülfe ohne Aufsicht, ohne weder andern Sicherheit noch ihnen Linderung zu gewähren, wie konnten sie sich beklagen über das, was zu ihrem Nachtheile geschah, da diesem Zustand der Unglücklichen ein Ende gemacht wurde, da gewiss viel Ärgernis geschehen war da er währte, so daß keiner wagte dieselbige Straße zu ziehen: Aber sie meinten wenn Jesus in ihre Stadt käme und alle Elenden aufrichtete und sich von ihnen anerkennen lassen wollte als den Helfer und es geschehe dann eben dieses zum Nachtheil des einen und des andern und sie wurden dann aus der gewöhnlichen Ruhe und Gemächlichkeit des Lebens gerissen, da waren sie verstockt genug lieber seiner Hülfe nicht zu begehren als sich dem auszusetzen, was damit verbunden sein könnte. O, m. Fr, macht es nicht der große Haufen der Menschen mitten unter uns eben so als der Haufen der hartherzigen und verstockten Bewohner der Stadt. Freilich das fühlen sie, wenn Christus unter sie träte, wenn er anfinge nach seiner Macht und Weise handeln, wenn sie für die | Schäden ihrer Seele, für das Elend ihres Lebens seine Hülfe annehmen sollten, wenn sie statt des Zustandes, worin sie sind und worin ihnen mit mehr oder minderer Betäubung wohl ist, seinen Zustand statt dessen nach seinem Gesetze unter sich erbauen sollte, dann würde es an Aufopferungen und Störungen des gewöhnlichen Ganges der Dinge an Unbequemlichkeiten nicht fehlen dann würde der eine hier von seinem Rechte, der andre dort, der dritte von dem Übermuthe womit er über andre herrscht und sie quält ablassen müssen dieses und jenes, dann würden sie in dem wie sie meinen wohlerworbenen Besitze ihrer Einsichten und Vernünfteleien gestört und gekränkt werden auf mancherlei Weise und eben dieses scheuend, bitten sie nicht immer noch, daß er von ihren Grenzen wiche. Wenn man ihnen sagt, es ist kein Heil, wenn ihr nicht Jesu folgt, wenn ihr euch nicht von ihm trösten lasst, jene äußre Kraft möge wohl genügen für eine gewöhnliche Zeit, jene Kraft möge genügen für gewöhnliche Umstände, aber es kommen Zeiten und sind schon da, wo sicher nichts Rettung ist als daß in jedem ein innres neues Leben aufgeht, es ist kein Heil als in einer neuen Ordnung der Dinge die jeder mit den Gefühlen derer ergreifen muss, die Jesum kennen und folgen: sagen sie da nicht eben so, die bürgerlichen Verhältnisse das gesellige Leben mit dem habe die Religion der Glaube das Christenthum nichts zu schaffen, die müssten nach andern Gesetzen geordnet werden, aus diesen Grenzen möge der Erlöser weichen und sein Geschäft nur in einzelnen Gemüthern suchen. – M. Fr., lasset uns weiter sehen. Vierzig | 5 weder ... gewähren] Ergänzung aus Pred. Slg. 3, 1814, S. 55 (vgl. KGA III/1) men] kommt eine 33 daß] das 36 folgen] follen

32 kom-

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oder fünfzig Jahre nach jenen Tagen, wo der Erlöser zu ihnen gekommen war, wie sah es da aus unter ihnen, wo war da der Wohlstand, den sie sich nicht stören lassen wollten, wo waren da alle die Rechte und Genüsse welche sie aufgeben zu müssen zu sehr fürchteten? Unter den Greueln eines verwüstenden Krieges unter den Schrecknissen des Hasses, der Empörung, der Zwietracht und des Mordes, war Alles, Alles verloren; das kam daher, weil er vor ihnen gehend den Staub geschüttelt hatte von seinen Füßen und dasselbe Gericht wird ergehen über alle die für die großen Angelegenheiten der Menschen nicht des Erlösers Stimme hören. III. Wohlan, m. Fr. so lasset uns sehen auf den Erlöser selbst. – wie er in dieser Beziehung handelt. Nicht will ich aufmerksam machen, wie er durch die furchtbarste verwüstende Außenseite des Menschen und den Jammer in seinem Innern sich nicht abhalten lässt zu nahen mit seiner hülfreichen Macht, wenn er nur den leisesten Ausruf findet von Anerkennung und Ehrfurcht vor dem Göttlichen und dem ewigen und nothwendigen Streit zwischen Guten und Bösen: Lasset uns von dieser Seite nur auf das Weitere der Begebenheit sehen. Wo kam der Erlöser her? aus seiner Stadt, aus der Gegend, wo er seit geraumer Zeit gelehrt und gelebt hatte und auf mancherlei wohlthätige Weise gewürkt, aus der Gegend von welcher er späterhin sagen musste: wehe dir Capernaum, wehe dir Bethsaida, wären solche Thaten geschehen in Sodom und Gomorra sie hätten Buße gethan im Sack und in der Asche. Von da kam er in eine | neue, von ihm noch nicht besuchte Gegend, ihr wollte er sein hülfreiches Dasein eine Zeitlang weihen, da baten sie ihn, gleich nach dem ersten Beweise seiner Kraft, daß er weichen möchte aus ihren Grenzen und still und ohne ein Wort des Widerspruchs und ohne sie fühlen zu lassen jene Macht, welche kennend seine Jünger ihn baten Feuer vom Himmel fallen zu lassen auf die Heuchlerischen und Verstockten, ging er wieder zurück über den See. – O, m. Fr., eben so sehen wir ihn und seine Kraft noch itzt gehen die, welches Christus bekannt ist und seine ganze Art geläufig ist, vor deren Augen gleichsam seine Wunder geschehen sind; aber das Alles ist ihnen zur Gewohnheit geworden. – Auf der einen Seite waren sie Zeugen seiner Thaten, aber als es darauf ankommt sich für ihn zu erklären musste er jenes Wort aussprechen: Wehe dir Capernaum! und auf der andern Seite findet er die, welche im weltlichen Sinne vertieft gar nichts mit ihm theilen ihn verweisen wollten. Und worauf ist er nun zurückgewiesen? darauf, daß er an den Einzelnen seine Macht verklärt, ihnen seinen Geist mittheilt, sie heilt von ihren Gebrechen und Jammer, und daß es Gemüthe gab mit dem Glauben, daß er 14 Ausruf] Ergänzung aus Pred. Slg. 3, 1814, S. 58 (vgl. KGA III/1) 7–9 Vgl. Lk 10,10–12

20–22 Vgl. Mt 11,21; Lk 10,13

26–28 Vgl. Lk 9,54

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wahrhaftig ist der Sohn des Höchsten, der zum Beherrscher und Retter des menschlichen Geschlechts vom Ewigen gesetzt ist. Wenn nun die Lage des Erlösers in der Welt, die nichts anders sein soll, als sein Reich, in der kein Name gehört werden soll als der seinige; wenn er in der noch immer in der Lage ist, daß nur Einzelne ihn an|erkennen und ihm gehorchen, daß auf der einen Seite Gewöhnung den Sinn der Menschen abstumpft und ohne Eindruck das ewige Wort der Liebe verloren ist und auf der andern Seite ihre Ohren so verstopft sind, daß sie nicht hören des Erlösers Stimme, wenn wir uns zwischen solchen Menschen auch einzeln fühlen und als ein kleines Häuflein: o lasst in uns den Glauben nicht wanken, daß sein Reich doch gewiss kommt, lasset das Gefühl in uns wohnen, daß es eine göttliche Macht ist, die aus seinen Augen und seinem Munde in unser Herz gedrungen ist, daß das Gute nicht beschränkt bleiben kann auf seine geringe Würkung, o, lasset es uns immer von neuem den Menschen sagen: es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name den Menschen gegeben, worin sie sollen selig werden als allein in dem Nahmen Jesu Christi. Und m. Fr. wenn wir uns fühlen ähnlich jenem Unglücklichen, den der Erlöser errettet hat aus einer so greuelvollen Gewalt der Sünde und der, wie er vorher einsam und zerrüttet, in Feindschaft mit den Menschen gelebt hat, nun auch nichts anders begehrte, als Antheil an dem Herrn, bei ihm zu sein und mit ihm zu gehen, um so mehr als die Nächsten sich weigerten ihn aufzunehmen; wenn wir in dem schmerzlichen Gefühle, wie verkannt der Glaube ist, dem wir das Wohl unsrer Seele verdanken, wie wenig geachtet der ist, in dem wir Alles andre lieben sollen, wenn wir in diesem Gedanken | am liebsten uns zurückziehen möchten von den Kindern der Welt, aus allen Verbindungen, in andächtige Stille und mit keinem andern leben möchten als mit dem Erlöser auf diesem traurigen irdischen Schauplatz, so lasset uns denken, daß an einen jeden unter uns, dem das Gefühl aufgeht das Wort des Erlösers gerichtet ist. Gehe hin zu den Deinigen und sage wie große Dinge dir Gott gethan hat, ziehe dich nicht zurück aus dem Verkehr mit Menschen, sei, wenn auch ein einsamer und ungekannter und überhörter Zeuge meiner wunderthätigen Hülfe und Macht, eine Stimme unter ihnen, die immer aufs neue ermahnt, diese zurückzurufen und zu erbitten die sie so hartherzig von sich gestoßen haben, eine Stimme, die wenn es zu spät ist dient zum Zeugniss wider sie, wie wohl sie es hätten haben können wie leicht es ihnen gemacht worden und wie sie die einzige, die göttliche Hülfe von sich gestoßen haben. Wohl, so lange es mit den Bemühungen des Erlösers zum Heile der Menschen noch nicht besser geht, als damals, 29 das] daß

34 immer] imme

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so lange die, so seine Hülfe erfahren haben und ihm angehören nur ein kleines Häuflein ist, so lasst uns dieß als sein heiliges Gesetz ansehen, das er uns auferlegt hat: unser Leben auf Erden soll ja nicht sein die Zeit der Freude und Erndte und wenn er sich nicht geschont so wollen wir auch nicht die drückenden Gefühle und Lasten von uns weisen, sie uns freilich sich aufdringen | in dem Leben mit den Menschen, denen er fremd ist, weil sie ihn von sich gewiesen haben, lasst uns das Geschäft treulich ausüben und ohne zu scheuen bekennen wie große Dinge er an uns gethan hat. So wie im Leiden der Menschen nicht erlöschen konnte das Andenken an den vorigen Zustand so mögen auch wir nicht vergessen das Andenken an unsern Zustand, da auch wir den sinnlichen Götzen dienten, wie die andern; sondern gern und willig wollen wir ihnen bekennen: solche waren auch wir, aber ihr sehet welche wir jetzt sind! und eben hierauf bauend nichts anders verkünden als den Erlöser, daß sie auch von ihm sich helfen lassen und zurückkehren zu seiner gnädigen Herrschaft und auch nur im Kleinen den Vorschmack genießen von dem Reiche Gottes auf dessen herrliche Erscheinung zu hoffen wir angewiesen sind. Amen.

16 genießen] genossen

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Besonderheiten:

Invokavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 7,40–53 Nachschrift; SN 592, S. 39–54; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 64–83 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 425–436; 21843, S. 412–423. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 53–67. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 417–426 Nachschrift; SAr 27, Bl. 13r–16v; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 19r–26v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Predigt von Schleiermacher den 16. Febr. 1812. Von dem Vorurtheile des Buchstabens und dem Vorurtheile des Ansehens. Über Joh. 7, 40–53. 5

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Die Zeit ist wieder herangekommen in welcher unsre gemeinsamen Betrachtungen vorzüglich dem leidenden Erlöser gewidmet sind. So wird es vielen scheinen als müsse sich unser Blick, der auf sein Leben auf sein Auftreten als öffentlicher Lehrer gerichtet gewesen ist plötzlich zu den letzten Tagen seines irdischen Lebens hinwenden, aber m. A., es wäre eine sehr beschränkte Ansicht wenn wir das Leiden des Erlösers nur da suchen wollten, wo die Nähe seines Todes, wo endlich der offenbare Sieg seiner Feinde die Schmähungen und körperlichen Schmerzen unsern Blick auf sich ziehen. Vielmehr seit das Wort Fleisch geworden ist Christus versucht worden gleich als wir, und was mehr als das Leiden versucht die Menschen, und wenn gesagt wird daß er einhergegangen sei in Knechtgestalt, so ist eben dadurch ausgesagt, daß er ausgesetzt gewesen sei allen Leiden, welche weniger die Natur, als die Menschen unter einander sich bereiten. – Lasst uns also in dieser Zeit, weniger auf die letzten Tage sehen als auf das, was auch vorher in seinem heilbringenden Leben als das Leiden | muss angesehen 13 Vgl. Joh 1,14

15 Vgl. Phil 2,7

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werden, gewiss wird auch das eine Quelle sein ihn zu bewundern und an ihn als unser Vorbild uns anzuschließen und so lasst uns unsre diesjährigen Passionsbetrachtungen beginnen. Tex t.

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Joh. 7, 40–53.

Und es ward eine Zwietracht unter dem Volk über ihn; über ihn, der nur gekommen war den himmlischen Frieden ihnen allen zuzuwenden. Und ein jeglicher ging also heim wieder zurücktretend von ihm, dessen göttliches Wort gemacht war um alle zu ihm zu ziehen. Sollen wir das, m. Fr., und die Gefühle, die davon dem Erlöser im Gemüthe sein müssen nicht zu seinen Leiden rechnen, daß das Volk, dem er sich gewidmet hatte, ihn so wenig erkannte, daß der herrliche Eindruck, den diese Rede auf wenige machte so leicht zu verwischen war und seine Anwesenheit auf dem Feste, wo Tausende des Volks versammelt waren, vergeblich gewesen war für seinen großen Zweck? das, gewiss müssen wir als einen der ersten Auftritte seines Leidens ansehen. Woher aber dieses m. Fr.? Der Evangelist Johannes, der es sich ganz vorzüglich angetragen sein lässt in seinem Leben Christi auseinander zu setzen, wie sein Verhältniss zum Volk auf der einen Seite zu den Absichten auf der andern gewesen wodurch sein Leben der traurigen Entwicklung sich entgegenwendete, hat deutlich genug die Gründe aufgezeigt. Soll Christus aus Galiläa kommen? Seid ihr auch verführt? Muss Christus nicht aus dem Flecken Bethlehem aus dem Samen | Davids kommen? Seht, wie wir es auch immerdar betrachten, es muss uns überall den Anblick geben eines Sieges des Vorurtheils über die Wahrheit. Nicht wenige waren bewegt von seiner Rede und wenn einige sagten, er sei ein rechter Prophet gingen andre noch weiter und sprachen: Er ist Christus. Ja selbst aus denjenigen, die ausgegangen waren ihn zu greifen kehrten viele zurück mit dem Zeugniss: Es hat nie kein Mensch also geredet, wie dieser Mensch. M. Fr. Alles Licht kommt von oben, alle Wahrheiten, die unsern Geist erheben unser Herz beseligen sollen, alle kommen, wir wissen es, bald unmittelbar von dem, welcher sagte: wen da dürstet, der komme zu mir und es werden Ströme des lebendigen Wassers von ihm ausgehen. Doch immer sehen wir noch in der Welt denselben Kampf und es wiederholen sich die Siege des Vorurtheils über die Wahrheit. So lasset uns in dieser Rücksicht den verlesenen Abschnitt betrachten, um über dieses Leiden des Erlösers fruchtbar nachzudenken. Es sind zwei Vorurtheile, die in unserm Text sich deutlich aussprechen 1. Das Vorurtheil des Buchstabens 2. das Vorurtheil des Ansehens. Lasset uns aber beide in Beziehung auf die Geschichte des Erlösers und zugleich auf unser Dasein und Leben in der Welt miteinander nachdenken. 30–31 Vgl. Joh 7,37–38

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I. Der Buchstabe einer alten Weissagung lautete so, wie auch einige in der Erzählung unsers Textes sagen: Christus soll kommen aus dem Flecken Bethlehems, dem Stamm|orte Davids und aus seinem Geschlecht. Die meisten aber glaubten damals, Christus komme nicht von daher sondern aus Galiläa und diese Anhänglichkeit an den Buchstaben war so stark daß, was die göttliche Kraft seiner Rede sie überzeugen wollte, er sei Christus, sie darum von sich zurück wiesen. Es kann uns nicht entgehen, wie wunderbar mit dieser Anhänglichkeit die Zuhörer des Erlösers sich täuschten: Er war würklich aus dem Samen Davids, war geboren in dem Flecken Bethlehem und die ihr ganzes Ansehen wenden wollten auf den Buchstaben, wandten so wenig Fleiß an zu erforschen, ob der Buchstabe gegründet sei und blieben bei dem Gerücht stehen, welches nichts aussagte über seine früheren Verhältnisse. Gesetzt aber, sie hätten sich auch nicht getäuscht, hätten durch weitere Forschung heraus gebracht, Jesus sei von dem Samen Davids vom Stamme Bethlehems, und hätten deshalb geglaubt er sei Christus, würde uns nicht bange werden, daß sie doch wieder einen andern Buchstaben finden würden, der sie irren möchte, wie der Evangelist sagt, nehmlich: wenn Christus komme, werde niemand wissen von wannen er sei. Und m. Fr. wenn es nun nicht so gewesen wäre, wenn Christus nun nicht von dem Stamme Davids, wenigstens nicht aus dem Flecken Bethlehem gekommen wäre, sollte das die Kraft gehabt haben den Glauben, den die Erscheinung des Gottgesandten in ihnen hervorbrachte zu untergraben und zu ertödten? Wie David der erste gewesen war, der das Reich Israel gegründet hatte so sollte Christus ein neues göttliches Reich ein geistiges Israel gründen und wäre das nicht Grund genug gewesen für einen begeisterten Propheten zu sagen: Christus müsse kommen vom | Geschlechte Davids, wie ja so oft Gleichheit und Ähnlichkeit der Gesinnung mit Gleichheit der Abstammung verbunden ist. Ja wenn auch das fest gefunden hätte, er sollte sein vom Geschlechte Davids, müsste es buchstäblich sein, daß er in Bethlehem geboren werden müsse, könnte das etwas anders heißen, als, er wird ein Nachkomme sein Davids, denn Bethlehem war der Stammort des davidischen Geschlechts? – Ach! m. Fr. überall ist das große Wort des Apostels wahr: Der Buchstabe tödtet, nur der Geist macht lebendig. Den Glauben, der durch den Geist gewürkt ward, den seine Erscheinung in ihnen erweckt hatte die Ahnung, daß er der göttliche Lehrer sei, der Retter des Volks, die hervorgegangen war aus seiner Rede der Buchstabe, mochte er damit übereinstimmen oder nicht, er konnte diese Ahnung, diesen Glauben nur tödten, indem er was in einem Höheren, Wesentlichen und Ewigen gegründet war auf ein Einzelnes und Zufälliges zurückführte und so seiner festesten Stütze beraubte und seinen höheren, wahren Ursprung zweifelhaft 1–3 Vgl. Mi 5,1

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33 Vgl. 2Kor 3,6

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machte. – Das Vorurtheil des Buchstabens, wie viel Unheil hat es von jener Zeit an angerichtet im Reiche Christi! Der Buchstabe der Schrift, m. Fr. ist oft eben so schwer zu finden, wie die buchstäbliche Gültigkeit und Wahrheit der Weissagungen der Propheten von den meisten zu entdecken war, und wenn man ihn auch gefunden hat, so ist es doch wieder nur der Geist, der ihm seine wahre Deutung giebt, und wenn der Buchstabe, wäre er uns | auch noch so ehrwürdig und heilig, dem was aus der Gesammtheit des Lebens Christi und seiner Lehre hervorgeht, und was uns dieser als göttlicher Geist in Kraft und Wahrheit uns angesprochen hat, widerspräche, wir könnten niemals, ja wie sollten, wie dürften wir anders, als eine andre Auslegung dazu suchen, wie diejenigen, die nicht geforscht hatten aber meinten, Christus sei nicht in Bethlehem geboren, eine andre Auslegung hätten finden müssen, womit ihr Glaube bestehen konnte, denn die Kraft der Wahrheit soll über das Vorurtheil siegen. – Wehe denen, m. Fr. in Allem, was die größten und wichtigsten Angelegenheiten des Menschen betrifft, die sich halten an den Buchstaben, sie haben sich selbst an etwas Todtes gewiesen und was daraus hervorgehen was man dadurch gewinnen kann, kann auch nur Todtes sein, so wie es deutlich zu Tage liegt in der bürgerlichen Ordnung, daß wer sich nur an den Buchstaben hält, es nur thut, weil er den Forderungen ausweichen möchte, die der darin zum Grunde liegende Geist an ihn macht, und was er auch schafft und darbietet, in Unendlichkeit ist sein Bestreben und zeigt, daß er die Quelle des lebendigen Wassers nicht in sich hat, und so ist es in den gesammten Gebieten des Wissens und Glaubens und vor Allem in dem, was das Verhältniss der Menschen zu Gott betrifft. – O, m. Fr., wenn wir uns zusammen vor Augen stellen könnten alle die unnöthige Seelenangst, alle die vergeblichen Thränen und Seufzer | allen den leeren Druck des Lebens und des Geistes, den die Menschen auf sich geladen haben, weil sie sich nur hielten an den Buchstaben und sich nicht trauten zu schöpfen aus der lebendigen Quelle des Geistes, ja wenn wir alle die Verirrungen bei einander sähen, alle die frevelnden und ruchlosen Auslegungen von dem göttlichen Willen zu welchen die Menschen verleitet worden sind, die sich nur an den Buchstaben des Gesetzes hielten: o wahrlich! es würde uns eine bittere Wehmuth, ein tiefer Schmerz und Schauder ergreifen, vor dem bodenlosen Verderben, wohin der todte Buchstabe den Menschen hinabreißen kann der den Geist in ihm nicht aufzufinden weiß. II. Das zweite Vorurtheil ist das Vorurtheil des Ansehens und gewiss nicht wenige von den traurigen Siegen über die Wahrheit, von denen in 1 Das] Daß

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der Erzählung unsers Textes geredet wird, kommen auf dessen Rechnung. Es offenbart sich in unserm Text auf eine zwiefache Weise: erstens in dem verächtlichen Namen, womit Christus und alle die, welche ihm anhängen, bezeichnet und wodurch alle anderen abgeschreckt wurden: bist du auch ein Galiläer? soll Christus aus Galiläa kommen? zweitens dadurch, daß ein solcher Werth darauf gelegt wurde: glaubt auch wohl einer der Obersten oder Pharisäer an ihn? sondern das Volk das nichts vom Gesetze weiß und in dem Fluche der Unwissenheit dahingeht. Christus befand sich zu dieser Zeit in der Hauptstadt des jüdischen Landes, wo sich alle Herrlichkeit des Gottesdienstes vereinigte, wo alle zum Theil prächtig erneuten Überreste ehemaligen Glanzes und ehemaliger Herrlichkeit | waren, wo man alle Schätze der Weisheit und Erkenntniss um sich versammeln konnte, und wo sich die große Menge des Volks von den Eindrücken aller dieser Größe überströmt und geblendet, vereinigte. – Da war es, wo sich der Stolz derer, die in beständiger Nähe und Gemeinschaft in fortwährender Berührung mit dieser Herrlichkeit lebten, gegen die, welche aus entfernten Gegenden herzugekommen waren, nur einen vorübergehenden Wohnplatz hier aufgeschlagen hatten und jene Schätze nur an den festlichen Tagen genossen, erheben konnte, und immer finden wir einen großen Unterschied gemacht zwischen denen, die aus Jerusalem selbst waren und den Entfernten aus abgelegenen Ländern und unter diesen war Galiläa, wo Nazareth lag, wo der Erlöser erzogen war, die Städte Capernaum und Bethsaida, die schon früh der Schauplatz seiner Größe und Thätigkeit gewesen waren, unter diesen war Galiläa wieder einer der gering geschätztesten Theile des Landes. Was kann von Nazareth Gutes kommen? haben wir früher einen sagen hören, der nachher einer seiner treuesten Schüler wurde und jetzt ist der Name Galiläer schon ein Spottname geworden, womit der Erlöser und seine Schüler bezeichnet werden. – M. Fr. Es kann keinem unter uns entgehen, wie jetzt noch herrliche Wahrheiten, heilbringende Kenntnisse verschmäht werden aus diesem Grunde, wie das Reich der Finsterniss und der Irrthümer verlängert wird und befestigt, wenn man eine Wahrheit eine Erkenntniss, die sich darbietet mit einem verächtlichen, lächerlichen Namen zu bezeichnen weiß. Und wie geht es oft damit her? Einer, der nicht versteht, was geredet worden, nicht weiß, was damit gemeint sei, und der, wie | er selbst nur auf einer niedrigen Stufe des vernünftigen und sittlichen Daseins steht, auch das Edelste und Höchste nur nach seinem Maaßstabe misst, nur aus solchen Gründen zu erklären weiß und es seiner Erkenntnissfähigkeit und Denkungsart widersprechend findet, bezeichnet es auf eine solche Weise, die nur den Ursprung ausdrückt und ihm seiner Ansicht angemessen scheint. Oder es wird den Menschen dargeboten ein Zusammenhang von Wahrheiten und Lehre, der ihren Geist erleuchten soll und in ihr Leben 25 Joh 1,46

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eingreifen, es leiten und ordnen: aber in der zufälligen Darstellung, in der Art, wie sie in der besten Meinung, um sie ihnen verständlicher und anschaulicher zu machen, eingekleidet werden findet einer nach seinem niedern Sinn etwas Lächerliches oder Geringfügiges und das giebt dann dem Ganzen den Namen, und in dem Namen sieht dann auch der große Haufe nichts anders, als was er so nennen hört und so ist der Sieg des Vorurtheils über die Wahrheit, der Sieg des Spottes gegründet. Oder es besteht irgend eine gefährliche Ansicht unter den Menschen, eine geheime Verbindung Einzelner in der Gesellschaft, aber fern von dieser und ohne alle Kenntniss und Gemeinschaft mit derselben steht ein anderer auf, und sagt, wovon er im Gemüthe bewegt ist, und was der Gott, der alle erleuchtet, in sein Herz gegeben hat, als ein kräftiges Mittel zur Förderung des gemeinsamen Wohls, zur Rettung aus Gefahr und Verderben, und theilt es redlich mit, aber so gleich findet man eine verdächtige Ähnlichkeit des Ausdrucks mit jener Ansicht, oder wenn sie nicht da ist, wird sie angedichtet, und den ein göttlicher Beruf trieb, wird nun | angesehen als der einer gefürchteten und gefährlichen Rotte anhängt. So, m. Fr., so siegt denn das Vorurtheil des Namens nicht selten in der bürgerlichen Gesellschaft, wie in der Geschichte des Geistes über die herrliche göttliche Wahrheit. O, m. Fr. wir können uns nicht genug waffnen und verwahren gegen diese unbegreifliche Gewalt der Wörter und Namen und wir können es uns nicht fest genug vornehmen jeder Bezeichnung einer Sache, die uns als etwas Großes angekündigt wird, unsere Ohren zu verstopfen, als ob sie nicht da wäre und ohne Beziehung auf den Namen das was uns geboten wird, selbst zu untersuchen. Seht die Geschichte der Menschen in ihrer äußern bürgerlichen Verbindung, wie in der Kirche Christi, überall werdet ihr die traurigen Beweise finden von dieser Gewalt, die unseligen Folgen davon, daß der Name mehr galt als die Sache. Wer irgendwo eine abweichende Meinung erst mit dem Namen der Ketzerei gebrandmarkt, wie oft ist dieser dann aufgewärmt worden, um eine Wahrheit, eine Lehre, wegen einer entfernten, zufälligen Ähnlichkeit mit jener in gleiche Verdammniss zu werfen. Und eben so ist es nicht selten denen ergangen, deren Bestreben es war, die bloß von dem Eifer erfüllt waren, die Menschen zu den edelsten, theuersten Gütern hinzuführen, daß sie durch diese Gewalt des Namens denen sind gleich gestellt worden, die nichts als sich selbst im Auge hatten und bei dem Wege der Menschenbeglückung nichts als ihr eignes Glück, ihre eigne Ehre gründen wollten. | Die zweite Art, wie sich dieß Vorurtheil des Ansehens offenbarte, war, daß ein solches Gewicht darauf gelegt wird: Glaubet auch irgend ein Oberster oder Pharisäer an ihn? sondern nur das Volk. Auch das war nicht einmal wahr, denn schon Nikodemus war einer der Obersten und in der spätern Lebensgeschichte giebt der Evangelist zu verstehen, daß auch von den Prie16 gefürchteten] geführchteten

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stern viele Christo angehangen und in diesen war gewiss jetzt schon der Keim und die Ahnung, daß er der Messias sei aufgegangen. Von der großen Masse galt es freilich, daß sie nicht glaubten und ausgeschickt hatten ihn zu greifen und in diesem Zusammenfassen der Mehrzahl werden dann die einzelnen Beispiele des Gegentheils erstickt und der ganze Stand der Angesehenen, wird denen, in welchen die Ahnung von seiner Göttlichkeit aufgegangen war, in welchen der Glaube an ihn, den Messias Wurzel geschlagen hatte, vorgehalten; daß sie von diesem äußern Glanze geblendet die höhere, im Innern entsprungene Erleuchtung von sich wiesen. Freilich, m. Fr. wenn wir die damaligen Umstände erwägen: so finden wir vieles, was die Zeitgenossen des Erlösers entschuldigt; denn er liegt sehr tief in der menschlichen Natur, dieser Hang, das für gut und recht zu halten, was diejenigen thun, das für wahr was die glauben, welche im äußern Glanze stehen, über welche die Güter dieser Welt verbreitet sind, und es mögen wohl nur wenige sein unter den Menschen, die von dieser verderblichen Neigung ganz frei wären. Dazu kommt eine andre Entschuldigung: die Obersten waren damals zugleich diejenigen, denen die Bewahrung und Verbreitung der Erkenntnisse anver|traut war, welche über das Gesetz, welches die sämmtlichen göttlichen Belehrungen in sich fasste und über den Gottesdienst, worin sich das Verhältniss der Menschen zu Gott immer vergegenwärtigte, zu wachen hatten. Wenn nun die, bei denen die Schätze der Erkenntniss gesucht wurden und die die Schlüssel des Himmelreichs zu haben schienen, und zugleich den Glanz und die Güter dieser Welt, wenn diese ein Licht verwerfen, was einigen entgegengeleuchtet hatte, wir dürfen uns nicht wundern, wenn das in ihnen Verdacht erzeugte und durch den äußern Glanz geblendet, so viele glaubten, sie hätten sich hinreißen und täuschen lassen. O, m. Fr., lasset uns zuerst wachen und einen jeden unter uns besonders sorgsam wachen über diese gefährliche Neigung, der kaum irgend ein Mensch sich zu entziehen vermag und die nie ganz ausgerottet ist, die höhere Ordnung der Gesellschaft und alle äußre Herrlichkeit, möge sie den Menschen nun erscheinen als hervorgebracht durch Weisheit und verständige Ordnung durch freie Wahl und Anerkennung der Menschen selbst, oder möge sie angesehen werden als unmittelbare Anordnung Gottes, immer wendet sich doch der Blick derer, die die tiefern Gegenden der Gesellschaft einnehmen in die höhern und hellern, immer sind die Hochstehenden ein Gegenstand der Bewunderung und Nachahmung; weil man sich ihnen nähern möchte ein Gegenstand der Nachahmung, daher auch von ihnen allzuerst der Strom des Verderbens ausgegangen ist. Aber, m. Fr., indem wir uns vor diesem Hange zu hüten streben, lasset uns bedenken, wie viel leichter es uns gemacht worden ist als Christi Zeitgenossen und 8 äußern] aeüßern

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uns mit Anhänglichkeit und | Sorgfalt an derjenigen Ordnung der Dinge halten, worin diese größere Sicherheit sich gründet: ich meine nehmlich die, daß Ansehen und Gewalt jetzt nicht mehr eins und dasselbige ist mit dem Stande und der Gemeinschaft derer, denen man die höchsten Einsichten die richtigsten Erkenntnisse der Wahrheit zutraut und daß diese sich in einem Zustande befinden, wo von dem äußern Glanze der Welt nur wenig Strahlen zu ihnen hinüberfallen. Mögen wir immer fest darauf halten, daß in dem Maße als einer durch die Höhe des Platzes auf den er gestellt ist, das Gesetz und die äußre Ordnung darstellt in demselben Maße wir ihm treu gehorchen, aber lasst uns auch das fest halten, daß wir glauben dürfen, es sei nicht alles gut und recht, was geboten wird, damit wir nicht durch diesen Gehorsam mit in den Irrthum hineingezogen werden; noch weniger lasst uns voraussetzen sondern es vielmehr als eine außerordentliche Erscheinung ansehen, wenn wir eben da, wo die Ausübung des Rechts und Ansehen und Glanz ist, auch reine Liebe zur Wahrheit und reine helle Einsicht in das Gebiet des Wahren und Rechten sich findet, und nächstdem, m. Fr. lasset uns auch darüber freuen, daß uns durch die Anordnung der Dinge, durch den Weg, den sie gegangen ist, die Einsicht in die Wahrheit und Erkenntniss offener steht als andern, daß denen, die sich aus innrer Überzeugung und festem Glauben an die Vortrefflichkeit desselben dem großen Geschäffte gewidmet haben, die Menschen festzuhalten auf der erreichten Stufe des Guten, sie zurückzuführen zum Erlöser, daß diesen keine Grenze ihres Forschens und ihrer Mittheilung gesetzt ist; denn das sichert uns, daß wir nicht wieder in Finsterniss und Barbarei zurücksinken, sondern daß wenn irgendwo Irrthum und Finster|niss im offnen Krieg sich erheben gegen die Wahrheit, diese gleich wieder besiegt werden können. Nicht einer von denen, die tiefer eingedrungen sind, die das Evangelium lehren, die an der Vermehrung des Christenthums viel Eifer beweisen zweifelt daran: so lange der Weg der Untersuchung offen bleibt so lange dem Gewissen keine Grenzen gesetzt werden und so lange die Freiheit des christlichen Lehrstuhls gesichert ist, wird und kann uns das (Gegentheil) nicht begegnen. Und daß sich das ändern sollte, dafür ist Gott sei Dank! gesorgt durch die gegenwärtige Ordnung, da die, welchen die Macht und der Glanz zu Theil geworden ist, Gott sei gedankt, so wenig Einfluss haben auf das Gebiet der Erkenntniss und des Glaubens, da, Gott sei es gedankt, diejenigen, die sich der Untersuchung und Verbreitung der Wahrheit widmen keinen andern Zweck haben können da ihnen vom äußern Ansehen, vom weltlichen Glanz so wenig beschieden ist. Wo beides, m. Fr., den Menschen entzogen wäre, wo man, weil beides verbunden ist, nicht unterscheiden kann, ist es die innre Kraft der Wahrheit die den Menschen treibt, oder eine Rücksicht auf sein Wohlergehen und das Streben durch große Erleuchtung sein Ansehn zu vermehren; oder wo der Mund derer, die die Wahrheit lehren wollen verschlossen ist, wo von einem äußern Standpunkte aus be-

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stimmt wird, was den Menschen ans Herz gelegt und was als Wahrheit gelehrt werden soll: da wird es bald dahin kommen, daß jedes Vorurtheil siegen kann über die Wahrheit und von Liebe keine Spur zu finden ist und wohin wird es weiter kommen, worauf anders kann dann der Blick der Menschen fallen als auf diejenigen, welche mit dem Glanze der Welt mit | Gütern der Erde überhäuft, die von ihren Stricken gebunden, ihren Lüsten ergeben sind und von allen geistigen Gütern sich selbst ausgeschlossen fühlen und erkennen. – Wehe einem Volke! wo es dahin gekommen ist, wo der Zugang zur Wahrheit so gesperrt ist, wehe dem Menschen! wenn nichts mehr im Stande ist, ihn für die Hoffnung zu beleben, daß die Wahrheit über allen Druck allmählich dennoch siegen und die Welt überwunden werde, und daß unser Leben bestimmt sei dazu beizutragen, ja dafür jede Gefahr zu bestehen, jedes äußre Gut aufzuopfern. Wohlan, m. Fr., so viele unter uns, die dem Stande nach, worein sie Gott gesetzt, vermöge der Lebensbahn, die sie sich vorgezeichnet haben, vermöge den Verhältnissen, in welchen sie stehen zu den Unmündigen an Geist und Gaben, so viele unter uns die Beruf haben andre zu führen und zu leiten, indem sie mittheilen was der Geist Gottes in ihnen gewürkt hat, die mögen festen Schrittes ihren Weg gehen, Christo nachfolgen, mögen sich durch nichts abschrecken lassen, wenn sie es auch voraussehen, wie er es voraussah, daß vorläufig zwar das Vorurtheil siegen werde, die mögen nicht ermüden auf den irdischen Sinn ihrer Anvertrauten neue Angriffe zu machen und dem Göttlichen das Feld zu erkämpfen: denn Alles kommt darauf an, daß der Mensch seine Seele rette, sein eignes Gewissen bewahre und damit, wenn die Menschen nicht aus ihrer Trägheit herauszutreiben waren, er in That und Wahrheit seine Hände in Unschuld waschen könne und sich gestehen, daß es an ihm nicht gelegen, wenn sie die ihnen dargebotenen Güter der Tugend | des Rechts und der Wahrheit verschmähten und von sich stießen. Wohlan, soviel unter uns sind wir sind es in gewissen Beziehungen alle, die dazu bestimmt sind, von andern geleitet zu werden, Wahrheit zu empfangen von denen, die ihr näher stehen: o, lasset uns bedenken, was das Wort sagen will: Christum zum andern Mal kreuzigen, und das Bild derer, die alles was zu den Ursachen seines Leides und Sterbens gerechnet wird, begingen in ihrem Leben wiederholen und eben so, wie jene gegen alles Licht und allen Segen, der von ihm ausgeht handeln, wie jene gegen ihn gehandelt und eben so durch irdische Rücksichten bethört die himmlischen Güter sich entgehen lassen, die Christus uns erworben hat. Wer Ohren hat zu hören, der höre! Amen!

32 Vgl. Hebr 6,6

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Am 1. März 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Oculi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 20,20–28 Nachschrift; SN 592, S. 55–68; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 84–103 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 437–448; 21843, S. 424–435. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 67–81. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 427–436 Nachschrift; SAr 27, Bl. 17r–20r; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 27r–34r; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Predigt von Schleiermacher den 1. März 1812. Von dem Schmerze des Erlösers über die Bitte der Mutter der Söhne Zebedäi. Über Matth. 20, 20–28. M. a. Fr. Es ist, wie ich neulich schon erklärt habe in unsern dießmaligen Betrachtungen über das Leiden des Erlösers unsre Absicht, es nicht sowohl in dem aufzusuchen, was ihm Schmerzliches in den letzten Tagen seines Daseins begegnete, sondern die große Wahrheit, daß er versucht worden ist allenthalben gleich wie wir ohne die Sünde, in den frühern Ereignissen seines Daseins aufzusuchen. Wir haben neulich gesehen, wie die Stimmung seines Volkes, zu dem er vorzüglich gesandt war und derer, die es führen sollten gegen ihn, der aufgetreten war das Reich Gottes zu verkündigen, eine Quelle des Leidens und Schmerzes sein musste. Lasst uns sehen, wie wir dieß schon in seinen unmittelbaren Verhältnissen zu seinen Freunden antreffen. Gar vieles wird einem jeden gleich ins Gemüth kommen, die Absichten die sie sich gemacht hatten, wie auch sie nicht fern waren von dem Vorurtheile, der Gesandte Gottes dürfe nicht anders kommen als mit äußerm Glanz und Herrlichkeit, Vorstellungen, wobei sein Leiden und sein Tod 18 wobei sein] wobei sei 5 Vgl. 16. Februar 1812 vorm.

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am geschicktesten sein würde sie zu vertreiben. Aber es waren nicht ihre Irrthümer allein, welche schmerzliche Empfindungen in ihm | erregen mussten, es waren auch verderbte Neigungen, die sich an die Irrthümer anschlossen und Gelegenheit nahmen sich in die noch nicht befestigten Gemüther zu verbreiten und dieß musste um so schmerzlicher für den Erlöser sein, gehörte um so mehr zu seinem Leiden, je mehr Alles, was er thun wollte sich an das innerste Herz anknüpfen musste. O, wir wissen es selbst, daß wenn der Irrthum die Quelle der Sünde geworden, die Sünde nicht ausgerottet ist, wenn der Verstand den Irrthum aufgeklärt hat, daß da noch Kämpfe noch schmerzliche Läuterungen dazu gehören das Herz ihr zu entreißen. Je mehr die Hoffnung des Erlösers auf die Seinen gerichtet war und sein Herz in seiner treuen Liebe zu ihnen, und mit ihrer zu ihm einen Erfolg finden musste für Alles was die Welt ihm versagte um so mehr werden wir hier eine Quelle seines Leidens finden und einen Anlass Alles, was ihn schmerzen könnte auch aus unsern Herzen zu vertreiben.

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Was war es, was die Mutter zweier Apostel Jesu für ihre Kinder bat, was war es, was diese selbst zu wünschen schienen und worüber die zehn übrigen Genossen unwillig wurden: das Sitzen zu seiner Rechten und Linken? Das war bekanntlich damals das Zeichen der ersten Ehre, wer so zur Seite dessen gestellt oder gesetzt ward, der auf dem Throne saß, der war auch der Nächste nach ihm. Womit sollen wir also die Richtung, welche ihre Wünsche nahmen, benennen. Es war das Streben nach Ehre, nach Auszeichnung, | nach dem Hervorstechen vor allen andern; dieser Sinn, der nicht der Sinn Jesu war, wie er dieß in den letzten Worten unsers Textes so deutlich zu erkennen giebt. Wir dürfen ihn wohl am wenigsten voraussetzen bei dem einen der Söhne Zebedäi, dem Jünger, den der Herr lieb hatte, aber bei seinem Bruder, der vielleicht nur eben darum gleiche Auszeichnung verlangte und gleichen Antheil an dem herrlichen Platze, aber bei der Mutter, die sich bittend zu Füßen niederwarf, aber bei allen übrigen, die wohl nur deshalb unwillig wurden über diese Forderung, weil sie meinten, daß ihnen auf gleiche Weise dieser Platz der Ehre und Herrlichkeit gebühre, müssen wir diesen irdischen Sinn anerkennen. Es wird auch sein Gefühl einem jeden sagen, daß die Antwort des Erlösers das Gepräge eines innern Schmerzes an sich trägt, der sich aber so wenig als möglich zu erkennen geben will, und gewiss! dieses in seinen Jüngern zu finden es konnte nichts anders als ein herbes Leiden seiner Brust sein, und zweierlei ist eigentlich, was ihn schmerzen musste und was wir zum nähern Gegenstand unsrer Betrachtung machen wollen. I. es musste ihm dieß eine trübe Aussicht geben auf die Erfolge seiner Bemühungen

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II. es musste nothwendig das reine Gefühl der Liebe zu seinen Jüngern schwächen. Lasset uns auf beides besondre unsre Aufmerksamkeit richten und es zu unsrer Erbauung und Belehrung anwenden. 58

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I. Ein solches Streben nach Auszeichnung, Glanz und Ehre | wenn auch nur im Reiche Christi selbst, musste die Hoffnung des Erlösers von dem, was seine Jünger leisten würden in seinem Dienste nothwendig auf mancherlei Weise schwächen. An dem freilich, was vorzüglich zu fordern war von denen, welchen nach seinem Tode und seiner Entfernung von der Erde sein Geschäfft übertragen werden musste, an dem Muthe sich den Gefahren auszusetzen, die Leiden, die damit verbunden waren, die er verkündigte, mit ihm und nach ihm zu übernehmen ja selbst die Taufe des Todes nicht zu scheuen, daran fehlte es ihnen nicht, und gewiss mit innerer Überzeugung sprachen sie das Ja aus, als der Erlöser sie fragte: ob sie auch im Stande sein würden, den Kelch zu trinken, den er trinken werde? und an diesem Muthe, an dieser Tapferkeit und Bereitwilligkeit hat es denen nie gefehlt, deren höchstes Streben dahin ging, ausgezeichnet zu werden vor ihren Brüdern und den obersten Platz einzunehmen. Auch durfte der Erlöser nicht besorgen, dazu waren sie ihm zu lieb, dazu hatten sie schon zu tief geschöpft aus der Quelle seiner Weisheit und Kraft, er durfte nicht besorgen, daß diese Richtung auf das Gute aus ihrem Gemüthe ganz weichen werde, er konnte voraussetzen, daß sie, wenn ihnen nicht der erste Platz gegeben würde, eben so gut vorlieb nehmen würden mit einem untergeordneten in einem irdischen, vergänglichen Reiche. Aber vorausgesetzt, daß herrschend blieb in ihren Seelen die Richtung aufs Gute, das Bewußtsein, das einmal sich ihrer bemächtigt hatte, ihm zu leben, | seinem Dienste ihre Kräfte zu weihen, musste ihm doch eben dieß Streben, daß sie die ersten und zweiten sein wollten in seinem Reiche bange machen und Besorgniss erwecken für den glücklichen Erfolg seines Werkes. Denn, m. Fr. was es auch für ein Gebiet sei, dem der Mensch sich hingiebt, am meisten dem Wahren, dem Guten, dem Ewigen, will er darin mit Erfolg dienen, will er die Sache weiter fördern, so muss er lernen und damit anfangen sein selbst zu vergessen. Denn ob es auch anfangs eins zu sein scheint die Liebe zu dem, dem ich meine Kräfte widme und das Bestreben vor allen andern darin ausgezeichnet zu sein und mich als einen solchen anerkannt zu sehen öffentlich, diese beiden Bestrebungen, wie nahe sie verwandt sind und vereinigt, bald gehen sie immer weiter auseinander, der Dienst der Sache erfordert oft dasjenige, wobei die Person am wenigsten leuchten kann und glänzen. Die Gaben, die Talente, die trefflichen Eigenschaften und Kräfte der Sache zu helfen, die dem einen fehlen, so muss er zurücktreten und darauf allein sein Bestreben richten, die aufzusuchen und ausfindig zu machen, die da haben, was ihm fehlt, die zu sammeln, zu ermuntern und zu beleben, die mit ihren

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Kräften der Sache Gottes zu helfen vermögen, die sie retten können aus einer Gefahr oder weiter fördern auf einem begonnenen Wege. Aber dieß Streben sich selbst nur zu finden, selbst zu glänzen, wie bald verblendet es die Augen dessen, der davon erfüllt ist, verhindert ihn zu sehen, was Noth ist dem Werke des Herrn und lässt ihn denken: was kannst du thun mit dem was dir verliehn ist an Kräften und Gaben daß | dir Anerkennung und Ruhm und Beifall werden möchte in der Welt? und es entsteht ein Bestreben, das hervorzuziehen, das als wesentlich und nothwendig darzustellen, worin er etwas Erhebliches leisten kann, eine unbewusste Neigung bei allem guten Eifer für die Sache ihr doch immer die Wendung zu geben, daß er ihr gewachsen sei, das mit sich bringt eine Unfähigkeit das Wahre zu sehen, und bei weitem nicht den Nutzen zulässt den wir der Sache Gottes leisten könnten, ja was noch mehr ist, ihn nothwendig verleiten muss solche Schritte zu thun, was, wenn er vor dem Lichte der Wahrheit sein Thun betrachtet, die Quelle bittrer Reue für ihn werden muss. Und dieser Fehler, was für Unheil hat er nicht in der Sache Christi gestiftet, wie sehr hat er nicht in spätern Zeiten seine Gemeine verunreinigt: wenn es Zeiten gab, wo man es für eine große Auszeichnung, für den höchsten Beweis der Vollkommenheit im Christenthum hielt, mit auserlesenen Spitzfindigkeiten aufzustellen eine neue Meinung und siegreich zu Felde zu ziehen gegen die, welche man des Irrthums beschuldigte und so verworren als möglich zu machen und schwer zu durchschauen den Zusammenhang der an sich klaren und einfachen christlichen Wahrheiten; wenn es andere Zeiten gab, wo man den Ruhm des Christenthums darin suchte, daß es auch äußerlich scheinen musste, und dahin arbeitete daß das auf Demuth gegründete Reich Christi auch in der Welt hervortreten möchte als das glänzendste, daß die Gewalt der Kirche unter sich brächte die Gewalt der Fürsten und alle weltliche und irdische Macht erscheinen müsse als abhängig und untergeordnet der göttlichen. – O, welche sträflichen Verirrungen! nur diesem Ehrgeiz zuzuschreiben! wie mögen sie sich schon damals dem Gemüth des Erlösers | vorgestellt haben, wie mag es ihm geahndet haben, daß beides, wogegen er sich in unserm Text so nachdrücklich erklärt, der Stolz der Pharisäer auf ihre Wissenschaft und das weltliche Ansehen, welches die Priester sich vor dem Volke geben wollten, die alle Sünde, wieder aufkeimen würde bei seiner Gemeine. Und noch mehr, m. Fr. Nirgend besteht das Innre ohne ein Äußres, was in dem Menschen eine rege Kraft ist, ein lebendiges Bestreben; es sucht sich auch äußerlich darzustellen und sein Dasein zu offenbaren in der Welt. Wenn nichts im Menschen würksam ist als der Geist, so ist auch sein Äußeres nur ein natürlicher Abdruck und alles Thun ein reiner Spiegel desselben, wenn aber jenes Streben, der Wunsch ausgezeichnet zu sein vor andern in dem Menschen herrscht so wird dieß Verhältniss getrübt, so strebt er dem, was nur eine Äußerung des Geistes sein sollte, einen äußern Glanz zu geben, der das Auge auf sich ziehe, daß die ausge-

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zeichnet werden, die so gehandelt haben und richtet so das Auge der Menschen auf die Nebensachen und macht daß das Wesen, das Innre der Sache verdunkelt und zurückgedrängt wird. O eben diesen unseligen Glanz der Kirche, der aus einer verkehrten Ansicht hervorgegangen ist, wie mag ihn der Erlöser geahnt und schmerzlich gefühlt haben, wie mag das sein reines Auge getrübt und Thränen daraus hervorgelockt haben! M. Fr. lasst uns dieß nicht bloß anwenden auf das, was die Kirche des Erlösers betrifft, lasst uns nicht glauben, daß es irgend ein Gebiet gebe, was auch dem Menschen heilig sein muss, wo ein andres Gesetz gelten könne als dieses, welches fordert nur die Sache zu suchen und die Person zu vergessen. Es scheint, als ob der Erlöser selbst einen solchen Unterschied angebe, indem er zu seinen Jüngern sagt: | Ihr wisst, die weltlichen Fürsten herrschen und die Oberherrn haben Gewalt, aber unter euch soll es nicht also sein! Aber freilich konnte und musste er damals so zusammenstellen weil die Seinigen in der Welt von dieser Gewalt und Herrlichkeit ausgeschlossen waren, aber jetzt, sind nicht und sollen nicht alle die Gewalt haben Diener sein seines Reiches und seines Geistes? gehören sie nicht, wenn sie den Namen Christi führen zu denen, von welchen der Erlöser sagte: also soll es nicht sein unter euch? Gewiss, es ist gleich nothwendig, und so viel hier versammelt sind, denen etwas von irdischer Macht gegeben ist, die irgend einen Theil haben an der Gewalt der Erde, wie sie sich von dem höchsten Stamm bis hinab zu den kleinsten Zweigen verringert und vertheilt, wo sich jeder dessen bewusst ist, alle mögen es sich gesagt sein lassen: also soll es nicht sein unter euch, sondern so jemand will unter euch gewaltig sein, der sei euer Diener! Anders sollen und können wir nichts betrachten, was irgend Gewalt heißt und Ansehen in der Welt und uns gegeben ist, als daß es eine Aufforderung ist und Verpflichtung zum Dienst, den wir der Welt leisten sollen, daß wir dadurch Werkzeuge sein sollen im Reiche Christi, von dem Alles, was wir Gutes und Herrliches besitzen allein herrührt. Seit er erschienen ist und sein Reich besteht, ist uns Alles nur mit ihm und durch ihn geschenkt, und jedes menschliche Gute, Alles trägt sein Bild und seine Überschrift, wie viele es auch noch geben mag, die das nicht anerkennen wollen, und darum ist auch noch immer alles demselbigen Gesetze unterworfen. Ist noch eine andre stärkere Liebe in euch, als die zu ihm, wollt ihr nicht alle in das Reich Christi mehren und fördern ohne | zu trachten oder daran zu denken, wo ihr sitzen wollt, oben oder unten: so ist der Erfolg aller eurer Bemühungen ungewiss, so wird, was anfangs ein unschuldiger mit der Liebe zu Christo wohl zu vereinigender Trieb war bald eine Leidenschaft werden, die euch von dem Wege des Guten abführen und euch immer unähnlicher machen wird dem, der, mit aller Fülle der Gottheit ausgerüstet, nur strebte wie er dienen möge in der Welt. Es giebt eine Meinung, welche beides vereinigen möchte und mancher wird sie als Einwurf in seinem Innern tragen: wer nicht der Ehre nachstrebte, sagt man, von dem sei zu

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besorgen, er werde bald die Schande tragen. Zumahl jetzt in einer solchen Zeit, wo Demüthigungen und Herabwürdigungen aller Art zur Gewohnheit geworden, wo die Farbe der Scham sich zu verlieren scheint von dem Angesichte der Menschen, jetzt sei es am wenigsten Zeit, die Menschen abzumahnen von dem Streben nach Ehre, nach der Achtung der Welt, man würde sie sonst in der Gewohnheit sich zu erniedrigen und unterdrückt und erniedrigt zu werden nur stärken, und zur Bequemung zur Schande gewöhnen wollen. Es ist wahr, m. Fr. diese Besorgniss, sie gilt gewiss von allen denen, die Christo nicht angehören, in denen der Geist Gottes nicht lebt, denn diese, immer nur einer sinnlichen Gewalt unterthan, sei es die Lust der Welt, sei es Trägheit und Ruhe, wonach sie streben, wenn die nicht von der Schande zurückgehalten werden durch die Furcht vor der Schande, welche ja auch nichts ist als Streben nach Ehre, sie werden gewiss immer tiefer und tiefer sinken, jeder Schritt wird sie | dem Verderben nähern und nicht zu ermessen ist der Abgrund, in den sie gewiss sich stürzen werden. Aber leer ist diese Besorgniss, wenn von denen die Rede ist, die vom höhern Geiste getrieben werden, von denen, die man nur zu ermahnen hat, daß sie immer nur auf das Ewige, Unbestechliche sehen und sich nicht irre machen lassen, ob sie viel oder wenig gelten in der Welt, die man bloß aufmerksam machen muss auf das, was Christus fordert, und ihnen sagen: ihr seid da sein Reich zu befördern, dem euer Leben zu widmen, dazu habt ihr Gaben und Kräfte empfangen, darum seid ihr aufgenommen in seine Gemeinschaft, darum nennt er euch seine Brüder; er ist es von dem ihr Alles zu erwarten habt; aber das Sitzen zu seiner Rechten und Linken, das ist euch nicht beschieden, das hängt auch nicht zusammen mit dem Maße der Treue und des Eifers, den ihr in seinem Dienste bewiesen habt, das kommt vom Vater, der die Schicksale der Welt lenkt, von dem alle Ordnung und aller Zusammenhang der Dinge herrührt, und eben darum ist es nicht das, wonach ihr trachten sollet, sondern das wird der verleihen der Gericht hält und das ist der Sohn, der euch richten wird nach dem was ihr gewollt habt, nach dem Eifer den ihr angewandt und euer Lohn wird sein, daß er in Ewigkeit bleibe in euch und ihr in ihm. II. Der verkehrte Ehrtrieb, den der Erlöser in seinen Jüngern wahrnahm musste nothwendig seine reine Liebe zu ihnen trüben, ja in gewissem Grade schwächen. Was konnte er in ihnen lieben? Schöne Eigenschaften waren in ihnen nicht vertheilt, keiner war weder | so ausgebildet noch so außerordentlich, daß sie um deswillen ihn hätten anziehen können, aber was er in ihnen lieben konnte, war der reine auf ihn gerichtete Sinn, die Art, wie sie ergriffen wurden von dem Göttlichen, das sich ausdrückte in seinem Dasein in seinen Worten und Thaten, das Gefühl von dem sie durchdrungen waren, das in ihnen lebte, das Bewusstsein, welches sie bekannten: 25 euch] ihm

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wohin sollen wir gehen, Herr, du allein hast Worte des ewigen Lebens! Um dieses Sinnes willen liebte er sie, das war es, warum er sie erwählt hatte im Vertrauen, daß sich in diesem Sinn alle Eigenschaften des Geistes, alle Künste des Lebens entwickeln würden, je nachdem sie noth wären in denen, welchen er seine Nachfolge übergab. Wenn er nun wahrnehmen musste, daß nicht er allein die Quelle ihrer Anhänglichkeit an ihn sei, etwas komme auch darauf, daß sie hofften zu richten die zwölf Stämme Israels, wenn sein Reich anhöbe; wenn er sehen musste, diese Rücksicht sei schon so weit gewachsen, daß sie der Keim zur Zwietracht geworden, daß sie sich stritten um den nächsten und höchsten Platz neben ihm und über allen andern; so musste das ihm das traurige Gefühl geben, daß ihre Liebe nicht rein sei, sondern daß etwas seiner und seiner Bestimmung Unwürdiges sich darunter gemischt habe; und wenn er nun ihrer reinen Liebe vertraut hatte, wenn es sein höchstes Bewusstsein war seinem Vater zu sagen: die du mir gegeben hast, die habe ich bewahret, wie musste er diesen geistigen Schatz diesen Gegenstand seiner Liebe verringert fühlen und durch Sinnliches und Irdisches verunreinigt! – M. Fr. was kann der Erlöser an uns lieben, als nur eben diesen kindlichen, einfäl|tigen, auf ihn gerichteten Sinn. Wenn wir in vielen Stücken weit gebildeter sind als seine ersten Jünger, wenn mancherlei Gaben und Kräfte, Künste und Talente in uns sich entwickelt haben, die ihnen fehlten, können wir deshalb einen Anspruch auf seine Liebe machen, als nur inwiefern sie sich in uns gebildet haben und entwickelt aus dem Bestreben ihm zu dienen und zu seinem Reiche beizutragen durch Alles, was wir ihm darbringen zum wohlgefälligen Opfer. Hat irgend eine andre Rücksicht uns dazu bewogen, hat uns bestochen das Lob der Welt, gekitzelt der Stachel der Eitelkeit, dürfen wir darum vor ihn treten und uns empfehlen zu einem Platz in seinem Reich? Wird nicht etwas sein, weswegen wir uns fürchten müssen, daß er sagen werde: ich kann euch noch nicht erkennen, es ist noch etwas in euch was in allen Übelthätern ist? und was vermag das reine Verhältniss des Herzens zu dem, welchen wir als Quelle alles Guten ansehn, mehr zu trüben und in das Herrlichste unsers Lebens etwas Unreines zu bringen als wir streben zu sitzen zu seiner Rechten und zu seiner Linken wenn wir auch durch ihn und neben ihm glänzen und scheinen wollen vor allen übrigen, wenn uns daran, was wir durch ihn geworden sind und für ihn thun nicht genügt, und wir einen Durst in uns haben, den er nicht löschen kann, den Alles nicht löschen kann, was Heilbringendes von ihm ausgeht? – O, m. Fr. was der Welt Noth thut, es ist nichts anders, als der reine Eifer derer, die nichts arbeiten, nichts erstreben, als was in sein Reich gehört, die nichts begehren als sein Wort und seine | Liebe geltend zu machen, die Menschen segnen mit der Kraft, die von ihm ausgeht, sein Ebenbild verherrlichen und darstellen, sein Reich erbauen, so weit sie mit 1 Vgl. Joh 6,68

7–8 Vgl. Mt 19,28; Lk 22,30

14–15 Vgl. Joh 17,12

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den ihnen verliehenen Kräften langen können, der Eifer derer, welche deswegen Alles tief verachten müssen, was irdischen Sinn athmet, die weil sie Christo angehören überall gegen die zu Felde ziehen müssen, welche sich scheuen irgend etwas aufzuopfern von den sinnlichen Gütern und um so den Besitz eines scheinbaren Glückes zu erhalten, die ewigen Güter hingeben, welche Christus uns erworben hat. O, m. Fr. diesen Eifer, lasst ihn uns fest halten und durch keinen irdischen Trieb verunreinigen, lasst uns das Wort bedenken: wo das Auge nicht Licht ist, da muss Finsterniss sein und lasst uns bewusst werden, daß jede sinnliche Neigung und Richtung das reine Auge des Geistes trüben müsse, daß nur, die reines Herzens sind, Gott schauen und also auch das, was er in jedem Augenblicke von den Menschen fordert, daß nur wer reines Herzens ist und alle irdischen Begierden aus sich verbannt hat das wahrhaft Rechte findet zu jeder Zeit aber am meisten in der der Verirrung und Umwälzung wo der Buchstabe des Gesetzes und Rechts nicht hinreicht, daß nur der, der den höchsten ewigen Richter erkannt, vermag, was so oft Noth thut um des Rechts willen den Schein des Unrechts ertragen, der gleich anfangs auf die Apostel fiel, als sie dem Worte getreu waren: man muss Gott mehr gehorchen denn den Menschen, der auf alle fallen muss welche mit aller Macht mit allen ihnen dazu verliehenen kräftigen Mitteln dem Verderben, der Verachtung und Verkennung des göttlichen Reichs entgegenarbeiten. O, gewiss wenn es verderblich ist | nach der Ehre der Welt zu trachten, so ist es am verderblichsten in einer Zeit, wo es scheint als müsse erst gezeigt werden was Ehre sei, wo alle großen Gefühle erstorben sind oder zerrüttet, wo nur aus der Brust Einzelner Wahrheit und Leben hervorgehen muss auf eine ursprüngliche Weise. Darum lasst uns an nichts anderem halten, als an ihm, von ihm lernen uns in sein Bild gestalten, und nichts wollen, als sagen zu können, was der Jünger zu seinem Meister sagte: Herr, du weißst alle Dinge, du weißst, daß ich dich lieb habe; lasst uns, ohne zu streiten um dem Platz in seinem Reiche, nur das Reich im Auge haben, daß es sich gründe und gedeihe, lasst uns mit allem Guten so eng verbunden so ein Herz und eine Seele sein, daß wer auch sitze zu seiner Rechten es zu sein glauben und auch den kleinsten Beitrag der Brüder ansehn, als ginge er von ihm aus, als ausgehend aus seiner Kraft, als darstellend den göttlichen Geist, der allem menschlichen Thun und Würken seinen Werth giebt, dann, m. Fr., dann werden wir, wie er es fordert ihm ähnlich werden, der nicht herrschen wollte, nicht Ehre suchte, sondern gekommen war in die Welt, daß er diene und daß er sein Leben gebe zu einer Erlösung für viele. Amen.

8 Vgl. Mt 6,22–23; Lk 11,34–35 Mt 20,28; Mk 10,45

18 Apg 5,29

28–29 Joh 21,17

37–38 Vgl.

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Am 15. März 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 21,10–16 Nachschrift; SN 592, S. 69–80; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 104–125 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 449–461; 21843, S. 436–448. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 82–97. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 436–446. – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd. 1, 1970, S. 333–344 Nachschrift; SAr 27, Bl. 21r–24v; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 35r–42v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Predigt von Schleiermacher Gehalten den 15. März 12. Der wankelmüthige Sinn der Menschen als Quelle des Leidens unsers Erlösers. Über Matth. 21, 10–16. Was wir in dieser Zeit schon an mehreren Beispielen gesehen haben, daß, was wir bei dem Erlöser eigentlich Leiden nennen dürfen nicht erst mit der Zeit beginne welche man im engern Sinne mit diesem Namen bezeichnet, sondern ihn von dem ersten Anfange seines irdischen Lebens an begleitete, nehmlich der Schmerz über die Sünde, und den Widerstand, welchen sie seinem göttlichen Würken entgegensetzten, eben dieses wollen wir noch in Beziehung auf das, was dem eigentlichen Leiden des Erlösers vorangeht näher erwägen. Lasset uns nun sehen, wie eine Betrachtung der Art uns selbst am heilsamsten werde, und wir eine doppelte Rücksicht dabei zu nehmen haben, denn einmal sind wir berufen und auserwählt als Glieder an demselben Leibe, woran der Erlöser das Haupt ist, nach dem Maaße das Gott uns gegeben Antheil zu nehmen seinem Leiden und so muss der Widerstand, den er empfand uns überall begegnen und wie er in den Tagen 15–16 Vgl. Eph 4,15

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seines irdischen Lebens sich erwiesen hat das ist das große Vorbild dem wir folgen sollen, dann aber freuen wir uns seiner Erlösung eben mit dem demüthigen Gefühl, daß nie ganz in uns ausgerottet | wird die Sünde und dann mögen die die ihm Schmerzen machten uns vor Augen stehen als die warnenden und schreckenden Beispiele, damit ein göttlicher Hass in uns und durch uns entstehe gegen das Böse, und dem göttlichen Geiste in uns und durch uns Raum geschafft werde. Dieß sei die Rücksicht welche unsre das Göttliche im Auge habende Betrachtung in dieser Stunde nehmen soll.

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M. a. Fr. bei dem letzten Eintritt unsers Erlösers in die Hauptstadt seines Volks sehen wir ihn ohnstreitig auf dem höchsten Gipfel seines Ansehns unter den Menschen und auf dem höchsten Grade seiner Würksamkeit. Er heißt nicht nur Jesus der Prophet, sondern seine Jünger und ihnen nach das Volk, und ihnen nach die Kinder im Tempel schrieen ihm nach: Hosianna dem Sohne Davids, welches eben der Name war, der dem erwarteten Erretter beigelegt wurde. Wir sehen ihn im Tempel das Recht ausüben, das dem zukam, der eine schönere und höhere Ordnung göttlicher Dinge unter den Menschen stiften sollte. Aber wie bald, m. Fr. wie bald sehen wir die ganze Lage der Dinge sich ändern, wie bald das ganze Volk, das ihm zugejauchzt, ihm abgewendet, und den Herrn, dem es sich ergeben, gefangen und gebunden in den Händen seiner Feinde, ihn, der ausgerufen worden als Sohn Davids gesendet in dem Namen des Herrn dargestellt und angesehen als einen Übelthäter. – Wenn wir nach der Ursach fragen so kommt uns auf der einen Seite entgegen der Unglückliche unter seinen Jüngern, der ihn verrieth und die Feindschaft | der Obersten, die nur das Volk gefürchtet, das ihn anhing. Wie hätten sie es auch wagen können (Hand an ihn zu legen) wie hätte Feindschaft und Verrätherei sich ihm nahen dürfen, der so begünstigt war, wenn nicht auf der andern Seite dazugekommen wäre der wankelmüthige Sinn der großen Menge. Diesen erkannte der Erlöser schon damals als sie alle ihm Palmen streuten, ihn bewillkommten als den Erretter, der war es also gewiss, der sein Herz tief verwundete, der war bei seinem höchsten äußern Ansehn selbst das Leiden seiner Seele. Dieß sei es also: Der wankelmüthige Sinn der Menschen als Quelle des Leidens unsers Erlösers worüber wir nachdenken wollen, in der Ordnung, die schon angegeben worden, und I. sehen, wie wir unsern Erlöser dabei handelnd finden und wie wir dabei zu handeln haben 30 Vgl. Mt 21,8; Mk 11,8

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II. die, die unserm Erlöser solch bittres innres Leiden bereiteten uns zum warnenden Beispiel vorstellen. Ja, m. Fr. wir können und dürfen es uns nicht leugnen, die Lage derer, welche das Gute wollen und lieben, die an dem Werke der Erlösung arbeiten wollen, ist noch immer dieselbe wie die des Erlösers. Nur ein geringes, unscheinbares Häuflein ist, die fest hängen an dem, was sie als wahr und recht erkannt haben, in der Menge der Menschen aber eben der wankelmüthige Sinn, wie in dem Volke des Erlösers. Ja jeder, der auf seine auf das Gute gerichtete Würksamkeit sieht, wird finden wie dieser ihn niederschlägt, so lasst uns sehen, wie hat der Erlöser gehandelt als er diesen wankelmü|thigen Sinn am schmerzlichsten fühlen musste. I. [1.] Zuerst: er ließ sich, weil er ihn kannte, durch die guten und wohlwollenden Gemüthsbewegungen der Menge nicht täuschen. – O, m. Fr. jeder andre, dem an dem Feste, (das Tausende aus allen Gegenden in Jerusalem versammelte), ein solcher Beifall der Menge entgegengekommen wäre, wenn sich von allen Seiten so viel Bereitwilligkeit gezeigt hätte seine Hülfe anzunehmen so viel Eifer sich an ihn anzuschließen, würde er nicht die schmeichelhaftesten Hoffnungen ausgebildet und geglaubt haben, nun könne ihm der große Erfolg nicht mehr fehlschlagen? So nicht der Erlöser. Wir finden zwar nicht, daß er sich laut über die Ehrenbezeigungen des Volks geäußert sie von sich gewiesen hätte, aber wie richtig er Alles, was geschah würdigte, das sehen wir aus seinen Reden, zwischen dieser Zeit und seiner Gefangennehmung die der Evangelist, in einem großen Reichthum uns aufbehalten hat. Sie enthalten alle, daß dennoch das Volk ihn verwerfen und von sich weisen, daß dennoch die Verführung die Oberhand behalten werde und strenge Vorwürfe gegen die, die da verführten und sich verführen ließen. O, m. Fr. möchten wir das alle von ihm lernen und gelernt haben, denn freilich ist nichts bittrer, nichts für ein menschliches Gemüth, das nicht so wie der Erlöser mit höherer Kraft ausgerüstet ist, niederschlagender, als verfehlte Hoffnungen, die sich nicht zufällig gegründet, sondern welche richtige Ansicht gegründete Überzeugung in der Welt verschafft haben. Mögen wir darum eben so schnell urtheilen können als der Erlöser und nicht mehr darauf bauen, als sich auf so schwache, wankende Gründe bauen lässt. | 2. Aber mögen wir zweitens auch die Gemüthsbewegungen so wenig und benutzt lassen, als er. In den Tempel gehen, keinen Widerstand fürchten, die alte Ordnung ändern, Missbräuche, die sich eingestellt hatten, fast gewaltsam abändern, freilich mit Berufung auf die ewigen Worte des Herrn, das Alles hätte er nicht thun können, wenn in dieser Zeit sich nicht die Herzen der Menschen für ihn erklärt hätten, so daß seinen Feinden keine Hoffnung aufgehen konnte, daß nicht ihm, wenn sie jene Missbräuche in dieser Stunde aufrecht erhalten wollten der Beistand des Volks geworden

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wäre. Darum benutzte so weislich und recht der Herr die günstige Stimmung der Menschen und suchte aus der flüchtigen Rührung allen Vortheil zu ziehen. Sah er gleich, daß es ihm nicht gelingen werde den Tempel zu einem geistigen Tempel Gottes umzuschaffen, die göttliche Ordnung geltend zu machen und sich anerkannt von seinem Volk, so wollte er doch wie wankend der Zustand der Dinge auch war, ihn doch so weit verbessern, so viel Mängel ausrotten, als ihm möglich war. – O, meine Freunde, möchten wir alle, jeder in seinem Würkungskreise wie der Erlöser fühlen die Überzeugung von dem Wankelmuthe der Menschen. Sie kommt uns täglich überall entgegen, darum soll jedes fromme Gemüth dürfen so weit abgestumpft sein, daß es sein Handeln nicht ändre und diene der Bereitwilligkeit mit der die Menschen jetzt folgen, denn wer kann wissen, wie lange sie dauert, wie bald ihr der Thorheit wie der Wahrheit offnes Gemüth eine andre Richtung nennt. So lässt dieß uns nicht zu schmeichelhaften Hoffnungen kommen, | daß wir einen festern Grund brauchen zum Ewigen so mögen wir die, wenn gleich unsichern und vergänglichen Hülfsquellen um so rascher, um so gewissenhafter benutzen, denn auch das ist ein Pfund, das uns Gott anvertraut hat, auch der vorübergehende Beifall der Menge ist eine würkende Kraft, die wir gebrauchen sollen, wo ein jeder angestellt ist im Weinberge des Herrn, damit zu leisten, so viel wir können. Und darum 3. lasst uns dem Erlöser ähnlich werden, in diesen vorübergehenden, flüchtigen Regungen doch den guten und göttlichen Ursprung nicht zu verkennen. So that es der Erlöser und eben darum duldete er es, ließ er sich gefallen den seiner Größe zukommenden Zuruf, eben darum widersetzt er sich ihnen nicht mit einer düstern Strenge mit der er hätte sagen können, daß sie nicht würdig wären ihm zuzurufen. Sondern wir sehen in ihm die Milde und als die Hohenpriester und Ältesten kamen und ihm zuriefen: hörest du wohl, was diese sagen; oder nach einem andern Evangelisten, strafe deine Jünger und wehre dem Volke, so that er weder das eine noch das andre, sondern erkannte und wollte anerkannt wissen, es sei die Stimme eines höheren Geistes, die aus der Menge des Volks redete. – So, m. Fr., mögen auch wir gesinnt sein, möge uns das Bewusstsein des Wankelmuths der schönsten Stimmung der Menschen nicht zum Schwermuth verstimmen. Wenn sie gleich nicht der tüchtige Boden sind, sondern der harte, in welchen der Same des Göttlichen nicht hineindrang oder der leichte wo er oben liegen bleibt und weggeweht wird, wenn es doch nur der göttliche Samen ist, den wir finden, | lasst uns das Göttliche anerkennen, wo wir es finden, es sind ja der Äußerungen, der Stimmung für das Gute nicht so viele daß wir eine vernachlässigen nicht so mannigfaltige, daß wir eine entbehren könnten. Je geringer die Menge, je beschränkter die Zahl derer ist, die sich ergeben dem göttlichen Geiste um so mehr lasst uns doch seine Wür28 Vgl. Mt 21,16

29 Lk 19,39

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kungen anerkennen, auch wenn sie noch mit dem Geiste der Welt sich vereinigen, so mögen sie uns erscheinen als eine Erwartung eine Vorbereitung zum Besseren so mag uns weniger das Flüchtige niederschlagen, als das erheben, daß es sich doch bewegt, daß es doch Augenblicke giebt, große Augenblicke in dem Leben der Menschen, wo das Göttliche ihnen nahe steht, dass sie sich wiederholen und näher aneinanderdrängen, und doch Gutes sich niederschlage und Segensreiches in den Boden der Gemüther, den wir gefunden haben. – So werden wir ähnlich dem Erlöser, treue und standhafte Diener Gottes und nicht ganz erfolglose Beförderer des Guten sein, das von ihm, unserm Erlöser zuerst ausgegangen ist. – Aber, m. Fr., wenn wir in dieser seiner göttlichen, milden, tadellosen Würksamkeit den Erlöser sehen, wenn so sein göttliches Bild vor uns steht, möchten wir dann nicht ausrufen mit einem seiner Apostel: Herr gehe von mir hinaus, denn ich bin ein sündiger Mensch. Eben auch dieses, was so plözlich die irdischen Angelegenheiten wendete, eben dieser wankelmüthige Sinn wer mag sagen, daß er frei davon ist? Freilich m. Fr. wenn, wie der Erlöser die Apostel, so die Stimme des Innern uns fragte wollet ihr auch weggehen? so haben auch wir keine andre Ant|wort als jene: Herr wohin sollen wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens; aber es giebt unbewachte Stunden, wo auch wir wankelmüthig sind, wie die besten seiner Jünger, diese giebt es für jeden und wer sie noch nicht erfahren zu haben glaubt, wer noch so fest steht, der sehe zu, daß er nicht falle. Eben deswegen lasset noch kürzlich den Wankelmuth des Volks II. uns vorhalten als ein warnendes und schreckendes Beispiel. – Als sie es erfahren hatten, wir wissen nicht wie, denn die Geschichte schweigt darüber, der Prophet aus Galiläa, von dem sie gesprochen, er rede gewaltig, der sei nicht ein bloßer Prophet, nicht aus Galiläa sondern aus dem Stamme Davids, als er kräftig und mit dem Zeugniss göttlicher Würde in den Tempel auftrat, als die Zahl der Unglücklichen und Leidenden zu ihm zuströmte und er sie heilte: da hörten sie nicht auf zu rufen: Hosianna sei dem, der da kommt mit Kraft aus der Höhe! Aber, m. Fr., wie lange dauerte ihr begeisterter Eifer, ihre rege Theilnahme? bei einigen bis die ergreifende Gewalt der Gegenwart worüber wir, bis sie den Erlöser irgendwie aus dem Auge verloren, bis die Gewalt dessen, was von Kindheit an für sie bestanden hatte, bis die entgegenwürkende Rede derer, die mit den Zeichen äußrer Würde angethan waren, hervortrat, kurz in dem Gemüth, an der Stelle des Göttlichen, entgegensetzte Würkungen hervorgebracht Zweifel erregt, Leidenschaften in Bewegung gesetzt wurden, da war jene Anerkennung ver25 wie,] wie?, 13–14 Lk 5,8

16–19 Vgl. Joh 6,67–68

21–22 Vgl. 1Kor 10,12

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schwunden, von | jener göttlichen Verehrung jede Spur ausgelöscht, da waren sie Werkzeuge jener (Feinde des Herrn) zu anderer Absicht oder wenigstens in dumpfe Gleichgültigkeit zurückgezogen. – Bei andern dauerte ihre Theilnahme nicht länger, als bis sie aufgerufen etwas zu thun, ob sie noch länger die holdselige Gegenwart, die Gewalt der Rede, die begeisternde Nähe des Göttlichen genießen oder ob er der Gewalt seiner Feinde hingegeben, alles Äußre aufgeben, in den verworfenen Zustand zurücksinken sollte, ja als der Augenblick der Entscheidung kam, da vermochten ihre schwachen Gemüther nichts; und wenn sich nur einige in das: kreuzige, kreuzige ihn! einließen, so waren die andern schwach genug zu schweigen. Sie hätten ihre Stimme erheben, eine entgegengesetzte Bitte vorbringen können mit derselben Anhänglichkeit, derselben Gewissheit womit sie ihm Palmen streuten, wie anders würde dann die Entscheidung jenes großen Augenblicks ausgefallen sein. Nie dürfen wir uns freilich einbilden, es habe der göttliche Rathschluss sich ändern können, aber es ziemt den Menschen nicht so auf den Erfolg zu sehen, sondern nur das was er thut [muss] recht gethan sein. So hätte es ihnen geziemt, dem Glauben und der Hoffnung auch durch die That zu huldigen, seinen Feinden gegenüber zu treten und dem, der dastand um zu richten, zu zeigen, wie getheilt das Volk wäre. Ja, m. Fr., das sind die beiden Klippen, an welchen unbefestigte Gemüther scheitern; wenn entgegengesetzt auf sie gewürkt, der irdische Sinn aufgeregt und in ein entgegengesetztes Interesse gezogen wird; wenn | ihnen vorgespiegelt wird, welch ein wankender Zustand entstehen würde, wenn sie ergriffen, was sie für gut erkannt, dann suchen sie zu beschönigen, was Feigheit und Muthlosigkeit ihnen eingiebt und dann werden sie bald die Beute derer, die Lust oder Leidenschaft treibt über sie zu herrschen. – Wenn sie aufgefordert werden die schönsten Güter des Lebens Freundschaft [und] Ruhe, ja das Leben selbst daran zu setzten (für das Göttliche), dann zeigt sich, welche von ihrem Glauben durchdrungen sind und welche wankelmüthig, jetzt einsehen, jetzt zweifeln können. Aber was sind die Folgen, wenn dieser Sinn die Oberhand gewinnt! – Als das ganze Volk schrie und die Kinder im Tempel und die Hohenpriester und Schriftgelehrten zu dem Erlöser sprechen: Hörest du auch was diese sagen? spricht er zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, aus dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast du Lob zugerichtet! Er schwieg von dem Volke und wies nur hin auf die Stimme der Kinder und so ist noch immer, wo der wankelmüthige Sinn die Oberhand gewinnt, da arbeitet die kleine Zahl der Guten vergebens für die Gegenwart, das ist die bleibende Hoffnung dessen, der nicht verzagt, daß der Herr sich Lob bereitet aus dem Munde der Unmündigen, die Zeugen sind 16 das] daß 9–10 Lk 23,21

35 wies] wieß 12–13 Vgl. Mt 21,8; Mk 11,8

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von den großen Augenblicken des Verderbens, aber die Schuld nicht tragen, von dem, was der wankelmüthige Sinn zerstört hat. Das Göttliche kann freilich nicht untergehen, der Rathschluss des Ewigen darf nicht unerfüllt bleiben, aber später hinausgesetzt ist seine Stunde, wo wankelmüthige Gemüther nicht gefasst sind, dem Ziele | schnell entgegenzueilen. Als der Erlöser dem Volke wehren sollte rief er, wie ein andrer Evangelist erzählt: wenn diese nicht redeten, so werden die Steine nicht schweigen! Ja, m. Fr., das ist es was man überall sagen muss mit derselben Bewegung, die dem Sinne des Erlösers zum Grunde lag. Diese flüchtigen Ausbrüche sind das Einzige, wodurch die Menschen empfinden, daß etwas großes vor ihnen bestanden hat, nichts anderes würde davon reden als die zerstörten Denkmähler, die todten Überreste, denn wo Augenblicke für das Reich Gottes versäumt werden, da ist Zerstörung, da trifft das Gericht Gottes ein, wenn der Herold, der es verkündigte schnöde von uns zurückgewiesen wurde. So lasset uns zittern und schaudern vor diesen Folgen, sehe ein jeder zu, daß das Herz fest werde und sei ein jeder bereit Alles zu wagen und Alles zu verlieren um sich nur treu zu beweisen für das, was er als wahr und recht erkannt. – Ja, wem gleichen jene Wankelmüthigen an denen so lange zärtliche Pflege gewendet wird wem gleichen sie als einer Erzählung, die unserm Texte folgt. Der Erlöser ging zur Stadt hinaus nach Bethanien und als er am Morgen wieder in die Stadt ging hungerte ihn, und er sah einen Feigenbaum am Wege und ging hinzu aber als er hinan kam fand er nichts als Blätter, da ergrimmte sein Herz in ihm und er sprach, daß du alsbald verdorrest, da ich nicht finde, was ich an dir suche – Früchte. Das, m. Fr. sind die wankelmüthigen Menschen. Auch | jener Feigenbaum war gepflegt worden und dazu ist sooft vor ihnen geredet worden, was sie erkannten und begeistert annahmen, davon haben sie wieder geredet aber wenn die Zeit kommt da sie Früchte tragen sollen sind nur Blätter da, der leere wiewohl schöne Schmuck, schöne Reden und Gefühle kann man bei ihnen finden, daß es scheint, ein heller Saft durchdringe sie, aber leer sind sie an Frucht. Aber was haben sie zu erwarten und in einer so entscheidenden Zeit am ersten als daß sie verdorren, das Leben flieht, das zum Ziele nicht kommt, während die äußre Gestalt noch lange dasteht – ein schändliches Denkmahl! O Reben lasset uns sein an dem Weinstock des Herrn daß sein Geist, sein Dasein, sein göttliches Bild uns durchdringe, daß wir nicht das klingende Erz sind oder die tönende Schelle, sondern voll des lebendigen Glaubens mit dem der Erlöser erfüllt war, der nicht darauf sieht, ob Berge ver26 und] un

27 wieder geredet] Ergänzung aus SAr 27, Bl. 24r

7 Vgl. Lk 19,40 20–24 Vgl. Mt 21,18–19; Mk 11,12–14 36–1 Vgl. 1Kor 13,1–2

35 Vgl. Joh 15,5

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setzt werden müssen, und von der lebendigen Liebe, wovon uns der Herr das ewige Beispiel gegeben, der auch an den schwachen Jüngern mit inniger Treue hing und sie alle verband wie er uns alle verbinden möge, daß wir ihm treu bleiben im Leben und im Tode. Amen.

Am 27. März 1812 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Karfreitag, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 23,33–34 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SN 592, S. 81–92; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Siebente Sammlung, 1833, S. 269–288 (vgl. KGA III/2) Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 430–441; 21843, S. 430–441. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, Bd. 7, 1835, S. 199–213. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 337–346 Nachschrift; SAr 27, Bl. 25r–28v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Über das Geheimniss der Erlösung. Predigt von Schleiermacher am Charfreitage den 27. März 1812 Nachmittags. Über Luc. 23, 33–34. O, hilf, Christe, Gottes Sohn, Durch dein bitter’ Leiden Daß wir dir stets unterthan’ All’ Untugend meiden, Deinen Tod und sein Ursach Fruchtbarlich bedenken Dafür, wiewohl arm und schwach Dir Dankopfer schenken. Amen. M. a. Fr. Wir haben in unsern bisherigen Betrachtungen während der Leidenszeit des Erlösers immer darauf gesehen, wie sich überall in seinem irdischen Leben, da wo er in seinem göttlichen Beruf auftritt, wo er sich der Achtung und des Beifalls wenigstens eines großen Theiles der Menschen erfreute, wo er durch wunderbare Thaten seinen Beruf und seine göttliche 4 Luc. 23, 33–34] Luc. 23, 34 5–12 Vgl. Porst’sches Gesangbuch, 1812, Nr. 71: „Christus, der uns selig macht“ (Melodie von „Einen guten Kampf hab ich etc.“), Str. 8

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Sendung kund that, überall auch sein Beruf zu leiden offenbart, eben so aber auch da, wo er eigentlich und in dem Sinn worin es alle Welt versteht, litt, auch da zeigt sich eben so deutlich seine göttliche Würde, seine über Alles erhabene Bestimmung. Und eben dieß, m. Fr. daß beides so in einandergeht, und sich gar nicht von einander trennen lässt, die Offenbarung des Sohnes Gottes auf Erden und sein erlösendes Leiden für die Welt, eben das ist das große Geheimniss der Erlösung, auf welches | unsre Betrachtungen alle zurückkommen, welchem sie alle gewidmet sein müssen, wenn auch eine Zeit vor der andern sich mehr eignet das Auge der Menschen darauf hinzulenken. Und wohl mit Recht ist dieß der wiederkehrende Gegenstand unsrer Betrachtungen, weil er so unendlich ist und unerforschlich, daß, so wie man gesagt hat, die Engel Gottes gelüstete hinein zu schauen, das Auge des Menschen wenigstens immer nur einen kleinen Theil davon übersehen kann. Mehr werden wir auch jetzt nicht können und wollen in dieser der Betrachtung des Todes unsers göttlichen Erlösers gewidmeten Stunde. Möge denn auch diese Betrachtung, von der Seite, von der wir sie uns ans Herz legen, tief eindringen in dasselbe und in uns allen Früchte des ewigen Lebens schaffen. Tex t.

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Luc. 23, 33–34.

Wie können wir anders, m. Fr., als auch unter diesen Worten in dem leidenden Erlöser den Göttlichen, den Sohn des Allerhöchsten wiederfinden. Er, der Verurtheilte, er der eben ans Kreuz Geschlagene, tritt hier auf, einmal als der Richter der menschlichen Thaten, und der zu ergründen weiß, von wannen sie ausgegangen und was sie werth sind und eben deswegen auch als der Anwalt und Fürbitter für diejenigen, die ihm die Stunde des Todes bereitet hatten. Wir können diese Worte des Herrn nicht zu Herzen nehmen, ohne von dem Leiden des Erlösers auf die Sünde, die die Quelle desselbigen war und auf den bessern Zustand, welcher die glückselige Folge desselben werden sollte, zu gleicher Zeit hinzublicken. Und in diesem Hinblick wollen wir jetzt nach Anleitung der Worte unsers Textes | und recht eigentlich aus dem Gesichtspunkte derselben über das Geheimniss der Erlösung nachdenken. Es fällt uns dabei aus den Worten unsers Textes vorzüglich zweierlei in die Augen I. das erlösende Leiden Jesu war das Werk der Sünde, denn sonst hätte er auch nicht das milde, liebevolle Wort: Vater vergieb ihnen! über die aussprechen können, durch die das Leiden über ihn gekommen war II. die erlösende Erleuchtung, die von ihm ausgeht, soll je länger, je mehr die Entschuldigung, die der Erlöser denen, die ihn leiden machten, angedeihen ließ, unthunlich machen und aufheben. 19 Luc. 23, 33–34] Luc. 23, 34

25 Anwalt] Anwald

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Das ist es, was wir jetzt in frommer, christlicher Andacht näher erwägen wollen.

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I. Zuerst also, m. Fr. das erlösende Leiden unsers Heilandes war und musste sein, das Werk der Sünde. Wir sind im Allgemeinen nur zu sehr geneigt und es lässt sich in einem gewissen Sinn dieß auch von den Bessern unter den Menschen sagen, den Werth der menschlichen Handlungen nach ihrem Erfolge abzumessen. Wenn dasjenige, wovon wir wohl wissen, daß es aus einem verderbten Gemüthe hervorgekommen sei irgend etwas Glückliches und Heilsames sei es auch nur zufällig und auf eine vorübergehende Weise in seinem Gefolge mit sich führt, so lassen wir leicht einen Blick der Entschuldigung darauf fallen, und auf der andern Seite, wenn dasjenige, wovon wir wissen, daß es höchstens im Irrthum und in der Übereilung gehandelt war, schreckliche Folgen nach sich zieht o da dringen wir streng auf das in der ersten Quelle verborgene Böse: Was giebt es Heilsameres und Beglückenderes | für das ganze Geschlecht der Menschen, als das Leiden und den Tod des Erlösers? aber sollten wir deswegen wohl anders, als mit unpartheisch freiem und strengem Auge auf die sehen, die ihm dieß Leiden zugezogen hatten, sollten wir für unser Urtheil einen andern Maaßstab haben, als den uns Christus selbst gegeben hat: es muss ja Ärgerniss kommen, aber wehe dem Menschen, durch welchen es kommt. Ja, so können und müssen wir sagen: Christus musste leiden! Oft, m. Fr., sehr oft blicken wir hin und her, wenn sich große Dinge in der Welt ereignen, wie sie wohl anders hätten kommen können, wie sich die Reihe der Begebenheiten anders entwickeln und gestalten konnte, und die Weisesten sind immer die, welche darauf zurück kommen, daß es so sein musste wie es geschehen. Denn es ist nichts Willkührliches in den ewigen Rathschlüssen des Herrn, aber eben dieß, diese Nothwendigkeit der Erfüllung, nirgends sehen wir sie bestimmter und deutlicher als in dem, was mit dem Erlöser vorgeht. Wagen wir es einmal, uns den Ausgang seines Lebens anders zu denken, stellen wir uns einmal vor einen nicht leidenden Christus, einen für den sich immer mehr vermehrte die Achtung und die Ehrfurcht der Welt, dem sich immer mehr und mehr öffneten ihre verstopften Ohren, der durch die Offenbarung seiner Kraft und göttlichen Würde auch die rohen Gemüther vereinigte, vor dem sich Alles versammelte, um nicht nur seine Worte der Weisheit zu hören sondern auch seine Befehle zu vernehmen und der sich nur unter Ehre Freude und Glück ein Reich Gottes sammelte, wie das ist, welches er durch seinen Tod und durch sein Leiden gesammelt hat: Keiner unter uns vermag das auszudenken. | Denken wir uns sein Leiden und Sterben hinweg, so verliert unser Glaube seine festeste Stütze seine himmlische Sicherheit, ja das Bild christlicher Tugend, welches durch diesen Glauben in un18–19 Mt 18,7

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serm Herzen lebt, was Gott wohlgefällt, dieses Bild eines Christo ähnlichen Lebens, es verliert seine göttliche Würde, das was es am meisten geschmückt, das was uns am meisten reizt und zu ihm hinzieht. Denn wir können uns das Besserwerden nicht anders denken, als daß es sei ein Sieg nach dem Kampfe und so auch den Anfänger und Vollender unsers Glaubens nicht anders als der in das Reich Gottes in die Herrlichkeit des Herrn eingegangen ist durch Leiden und Trübsal. Aber wie es gewiss ist, daß Christus leiden musste um der zu sein, der er sein sollte, so ist auch gewiss, daß sein Leiden das Werk der Sünde war, und daß es ihm vor allen vorbehalten war, das milde Wort Vater vergieb ihnen! über die auszusprechen, die seinen Tod veranlasst hatten. Wie anders konnte er auch leiden? Wie er sich der Entbehrung des irdischen Genusses hingegeben hatte, wie die Freuden der Welt keinen Reiz für ihn hatten und so auch der vorübergehende sinnliche Schmerz keinen Stachel, wie er für sich und die Seinigen nichts anders wollte, als daß durch sie und an ihnen der Wille Gottes geschehe, was konnte es für ihn für eine andre Quelle des Schmerzes geben, als die Sünde, die Gewalt, die sie ausübte über die Menschen, die er mit göttlicher Liebe umfassen und beseligen wollte, der Widerstand den sie seinen heiligen und göttlichen Absichten entgegensetzte. Ja man kann sagen: ehe der Zeitpunkt kommen konnte wo eine ewige Erlösung von der Sünde und der Gewalt derselben sich offenbaren sollte, musste sie so stark geworden sein und so mächtig, so reich an Kraft und an Fülle, daß sie den Heiligen | und Göttlichen, den Sohn Gottes vom Leben zum Tode zu bringen vermochte, daß sie die innere Stimme des Göttlichen im Menschen, die das Wahre und Rechte erkennt, nicht bloß vorübergehend übertäubt, sondern man kann wohl sagen, fast ganz erstickt hatte. M. Fr. als die Mutter zweier Jünger zu Jesus kam und für sie bat, daß er sie in seinem Reiche sitzen lassen möge, den einen zu seiner Rechten, den andern zu seiner Linken, da war die erste Frage, die er an sie richtete: könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde, und euch taufen lassen mit der Taufe, da ich mit getauft werde? Wir dürfen nicht die Nächsten nach ihm sein wollen in seinem Reich, fern von aller stolzen Anmaßung darf uns nur genügen an dem niedrigsten und gleichsam entferntesten Platze, in ihm, aber dennoch müssen wir im Stande sein auf diese Frage, wenn er sie an uns richtet, wenn unser Innres sie uns vorlegt mit ja zu antworten; diejenigen, die würdig sein wollen in sein Reich einzugehen, und sein Reich ist nur der Lohn für die treue Theilnahme an seinem Werke, so zu leiden für die Sünde wie Christus. – Ja lasset uns bereit sein, diesen Kelch zu trinken, aber nur diesen. Das Leiden des Erlösers, das nur von der Sünde herrühren konnte, läutere unser Herz, daß auch in diesem kein anderes Leiden statt finden könne, als das über die Sünde. Wenn wir murren wollen über das was von Gott über uns verhängt ist, wie es 5–6 Vgl. Hebr 12,2

26–30 Vgl. Mt 20,20–23

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nach den ewigen Gesetzen der Natur und nach der Art, wie wir davon abhängen und ihnen unterworfen sind, wie es nach seinen unerforschlichen Wegen und wie wir sie uns absondern können von dem Thun und Treiben der Menschen, auf uns kommt: so lasset uns gedenken an ihn, der zwar alle Tage seines Lebens gelitten hat, aber ein anders als durch die Sünde außer ihm, bei dem nichts statt fand in seinem | Innern, was den Frieden zwischen Gott und ihm, die Eintracht seines Willens mit dem göttlichen, und die reine Freude seines Herzens an allen Werken seines himmlischen Vaters hätte stören können. Nur, m. Fr. wenn wir uns mit diesen Waffen rüsten, wenn wir an dem Leiden des Erlösers diese Kraft lernen und diese unbesiegbare Freudigkeit des Herzens, dürfen wir hoffen, daß, was wir leiden durch die Sünde, ebenfalls beitragen werde zur Erlösung derselben, daß auch durch unser Dasein in den Gemüthern, wenigstens einiger Menschen gestärkt und befestigt und weiter ausgebildet werde das Reich des Göttlichen und daß alles Einzelne, was wir Gutes vollbringen in unserm Leben verewigt sein werde ein Zug seines Bildes und das, warum wir leiden, in uns die Kraft zur Überwindung der Sünde stärken und mehren und wie in allen, die das Gute wollen und lieben, neue Kräfte hervorrufen werde, zu einem nie erlöschenden Erfolge der Sache Gottes. II. Zweitens müssen wir aus den Worten unsers Textes nehmen, wie eben die Erlösung Jesu Christi der Entschuldigung, die er seinen Zeitgenossen und Feinden angedeihen lässt, je länger je mehr ihre Kraft nehme, der Entschuldigung: Vater vergieb ihnen, denn sie wissen nicht, was sie thun! Vor der Ankunft des Erlösers und ehe er sein großes Werk vollbracht hatte, auf Erden, da war eine Zeit der Unwissenheit, und so beschreiben es auch die Jünger des Erlösers auf allen Blättern unsers heiligen Buches, die uns von ihnen übergeben worden, eine Zeit der Finsterniss, in welcher Gott die Geschlechter der Menschen dahingehen ließ ohne Ziel und Leitung. Wenn der Mensch nicht weiß, was er thut, nicht erkennt, was er thun soll, und wie sich das, was er beginnt dazu verhält, so kommt es nur daher, daß die Erkenntniss Gottes seinem Herzen fremd ist. | Freilich hatte sich der Ewige von jeher, auch vor der Zeit des Erlösers den Geschlechtern der Menschen offenbart, freilich ist die Unmöglichkeit irgend etwas Menschliches zu denken oder zu thun, ohne daß das Bewusstsein des ewigen Wesens, in uns aufginge, so groß daß es nie ganz verloren gehen konnte, weil sonst die menschliche Natur ganz hätte herabsinken müssen zur thierischen; aber dennoch wie verunstaltet war überall vor dem Erlöser dieses Bild und das Bewusstsein Gottes, wie geneigt war das menschliche Herz es sich zu bilden, wie es selbst war. Darum wurde jede sinnliche Gewalt, jede irdische Lust und Kraft, jede verkehrte Leidenschaft sogar, wovon der Mensch beherrscht wird, gestaltet in das Bild eines höheren Wesens und vergöttert, so daß der Mensch aus dem Bilde des Hohen und Göttlichen nicht die

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Erkenntniss dessen hernehmen konnte, was recht oder unrecht sei. Ja selbst das auserwählte Volk welches die ihnen allein anvertraute Lehre unter sich fortgepflanzt hatte, daß nicht Gott nach dem Bilde der Menschen gedacht und dargestellt wurde sondern der Mensch nach dem Bilde Gottes, selbst dieses war derselben Verkehrtheit dahingegeben, eben so lieblos (in seinen Äußerungen) gegen die Brüder, eben so streng vergeltend im Äußerlichen, eben so mehr auf das Äußre und Scheinende als auf das Innre haltend, wie es selbst war, so bildete es sich auch seinen Gott. Anders seit der Zeit des Erlösers. Das Nichtwissen ist nun vorbei und der Gedanke Gottes ist für alle Ewigkeit hinaus verklärt in der menschlichen Brust durch ein himmlisches Licht, seit wir Gott und das göttliche Wesen haben erkennen lernen in dem ewigen Sohne, und was Gott sei und göttlich als seinen Bruder in der eignen Brust wieder zu finden. Seitdem vermag der Mensch sich selbst in das Bild Gottes, wie es rein und von allem Irdischen unge|trübt in Christo und durch ihn dasteht sich selbst zu gestalten, seitdem ist in seinem Innern aufgegangen und fest geworden jedes Wissen um das, was gut ist, Gott ähnlich und ihm wohlgefällig und keiner ist mehr unter denen, die Christum anerkannt haben, welcher sagen und von dem gesagt werden dürfe: er weiß nicht, was er thut! O, m. Fr. an jenem heiligen Tage, dessen Gedächtniss wir heut feiernd begehen, litt unser Erlöser und er allein für die Sünden der Welt. Vorausgesehn hatte er schon lange und vorausgesagt: daß nach seinem Leiden beginnen werde das Leiden seines ganzen Volks für und durch seine eignen und seiner Väter Sünde und bald nachher und schrecklich genug brach die vorhergesagte Verwüstung ein. Und seitdem er den Grundstein gelegt hat zur Erlösung der Welt durch sein Leiden für die Sünde, geht es, wechselnd allerdings unter mancherlei Gestalten, bald stärker hervortretend, bald sich verbergend, eben so fort, daß ein Kampf eingeleitet ist bei dem es keinen Frieden giebt zwischen denen, die dem Herrn anhängen und zwischen der Sünde der Welt, daß diejenigen, welche der Sünde Widerstand leisten leiden nach der Ähnlichkeit ihres Herrn und Meisters und diejenigen, welche die Sache der Sünde treiben, die sich von einer wilden Gewalt regieren lassen, wenn sie auch eine Zeitlang in Freude und Lust und Vernachlässigung dessen, was ihnen drohend bevorsteht, dahingegangen, dennoch zuletzt viel mehr, viel bitterer, viel verworrener leiden durch ihre und ihrer Väter Sünden. – So auch wir, m. Fr. O, welche Unredlichkeit der Verwirrung in der Tagen unsers Lebens, o welch ein schwerer und unübersehbarer Kampf, der diesem Geschlechte auferlegt ist, o welch ein Druck, der sich häuft über die, welche das Werk des Herrn treiben, wie gebunden ihre Hände, wie geringgeschätzt | ihr Wort, wie verachtet ihre Gesinnung und wie laut überall das Frohlocken und Jauchzen der Kinder dieser Welt über sie. Dieses, ja so musste es sein und wird hinfort immer so sein, dieses vielfache erlösende Leiden wird noch immer so hervorgebracht wie das Leiden Christi. Da ist ein Haufe Kurzsichtiger, der sich nicht trennen

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will von der Art und Weise, wie er so lange sein irdisches Wesen fortgetrieben hat in der Welt, da ist ein Haufe Verblendeter, welcher für das, was äußerlich die Ehre Gottes zu befördern scheint, was der Kampf erscheint für die Beförderung des Guten sich vielfach mühen und ihre Kräfte daran setzen, aber von dem was Gott gefällt fern sind in ihrem Innern, ein Haufe Feigherzige, welche, obwohl sie wissen, was das Gute ist und das Rechte bei jedem Anschein für dasselbe zu handeln sich schützen mit dem Rechte menschlicher Schwachheit und Irrthums, ihre Hände ablassen von dem, was sie begonnen und in den Zustand der Unthätigkeit der Dienstbarkeit und Knechtschaft der Sünde und derer, die ihre Sache führen zurück fallen: aber von allen diesen ist keiner, von dem man sagen könnte: er wisse nicht, was er thut. O, ist uns nicht allen durch Christum das Wort Gottes gelehrt, unser Wissen gereinigt in unserm Herzen, daß wir unterscheiden können das Äußre und das Innre und diesem mehr Werth beizulegen als jenem, ist uns nicht durch ihn, der der Wahrheit und dem göttlichen Willen gehorsam war bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz, ist uns nicht durch ihn ein Maaß aufgestellt menschlicher Kraft und Größe, an welche wir streben sollen hinzureichen, hat er nicht auf eine Art, daß keiner zweifelhaft ist in seinem Innern verheißen, daß alle die, welche ihr Leben um seinet willen verlieren es in ihm finden und behalten werden? So ist es, m. Fr. Keiner, der der Sünde dient, keiner, der Jesum zum zweitenmal kreuzigt indem er irgend wie sein Werk gefährdet und unterbricht oder sich feigherzig davon lossagt, keiner kann sich entschuldigen, daß er nicht wisse was er thue, der Erlöser hat diese Entschuldigung mit sich ans Kreuz genommen | und sie darf nach seinem Leiden nicht mehr gelten für die, die sich nach seinem Namen nennen und dadurch bezeugen, daß sie ihn kennen und verehren. Aber, m. Fr., wir, die wir ihm dienen nach unsern Kräften, wir, die wir in dem Spiegel seines Lebens und seiner Lehre das Wort und den Willen Gottes erkennen, den wir zu erfüllen haben, wir die wir uns bereit fühlen und es auch durch die That beweisen, Alles Irdische aufzuopfern um seinet willen – uns kommt diese Entschuldigung zu statten, für die vorübergehenden Irrthümer und Schwachheiten unsers Lebens, für Alles was mit dem guten Willen in der Meinung ihm zu dienen in wahrem lebendigen Eifer für das Reich Gottes, aber mit mangelhafter Einsicht begonnen und gethan wird. So steht es jetzt, in der Welt der Christen wenigstens, nur für die vorübergehenden Übereilungen gilt die Entschuldigung: sie wissen nicht, was sie thun; wer aber besonnen den Anfänger und Vollender unsers Glaubens verlässt, wer auf eine beharrliche Weise die Stimme unterdrückt, die in seinem Innern redet, der darf nicht sagen, er wisse nicht was er thue; denn in irgend einer verborgenen Falte seines Herzens in öfter wiederkehrenden Augenblicken eines helleren Bewusstseins, die er aber sogleich zu verdunkeln bemüht ist, 19–20 Vgl. Mt 10,39; Mk 8,35; Lk 17,33

37 Vgl. Hebr 12,2

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hat er es gewusst und diese werden zeugen wider ihn an jenem Tage der Vergeltung. – Aber wir die wir nicht Christus sind, sondern nur seine schwachen Brüder und Diener, wenn wir auch leiden durch die Sünde der Welt, o wir wollen wenigstens, weil wir nicht in das Innre der Menschen sehen können weil es eine Sache ist allein zwischen ihnen Gott und Christo, wie viel sie eine Schuld auf sich zu wenden haben und Rechenschaft zu geben von den ewigen Gütern, die Christus uns erworben hat, wir aber nicht zu Richtern bestellt sind über sie: wir wollen ihnen diese Entschuldigung zu statten kommen lassen und hoffen, daß sie nicht wissen was sie thun, wenn ihr verkehrtes Thun und Treiben den Guten neue Hindernisse aufgestellt, wenn durch ihr sündhaftes Leben Schmerz und Leiden | das Gott geweihte Leben der Brüder trübt; wir wollen, um auch in der verzeihenden Güte, in der milden schonenden Liebe dem Erlöser gleich zu sein, die er geübt hat bis zum letzten Augenblick seines Lebens, damit nicht, was bitterer ist als alles Leiden im Abscheu gegen das Böse der Hass gegen die Bösen unser Leben vergälle und den Frieden unsers Herzens trübe, wir wollen ihm, der einst richten wird das Gericht überlassen über die von denen wir geneigt sind zu sagen wie er, daß da sie nicht mit uns sind, sie nur wider uns sein können und dass sie zerstreuen, weil sie nicht sammeln. Haben wir aber unser ganzes Leben in der That mit der brünstigen Liebe der Christen ihm geweiht, haben wir beschlossen für ihn und mit ihm zu leiden, was uns wie ihm sein himmlischer Vater auferlegt, sind wir bestimmt was unsre Kräfte vermögen zu thun und zu leiden, um die fortschreitende Erlösung: so lasst uns auch wie er denen vergeben, durch die wir leiden, lasst uns wie er bis auf den letzten Augenblick unsers Lebens uns thätig beweisen, sorgfältig lauschen und mit liebevollem Blick uns umsehen, ob nicht einer da sei unter diesen, der sein Herz reinigen lasse von der Verkehrtheit, der abwischen lasse den Dunst des Irrthums an der Oberfläche seines edlen Geistes und wieder gewonnen werde dem Dienste der Wahrheit und Tugend, so wie es zu den letzten Thaten unsers Erlösers gehört, auch nur eine einzelne verlorne Seele zu retten. Ja, m. Fr., so tapfer und beharrlich dem Bösen widerstehen wie er, treu und gehorsam sein, dem erkannten Recht bis zum Tode und so wir in der Liebe zu Gott und Christo, so auch nicht müde werden in der Liebe zu den Menschen, selbst zu den verlornen Brüdern, das lasst uns jetzt wie immer, aber besonders jetzt lernen unter dem Kreuze des Erlösers. Amen.

18–19 Vgl. Mt 12,30; Lk 11,23

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Karsamstag, vermutl. 13 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 24,30–31 Nachschrift; SAr 27, Bl. 29r–32v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 43r–47v; Matthisson Konfirmationspredigt

Einsegnungspredigt von Schleiermacher den 28. März 12. Luc. 24, 30.31. Diese Worte sind aus der Erzählung von den beyden Jüngern, denen der Erlöser nach seiner Auferstehung begegnete, und über das, was sich in diesen Tagen begeben hatte, [das] die Schrift eröffnete. Wir können nicht sagen, daß sie sich unmittelbar auf diese Handlung beziehen, zu deren Vorbereitung wir uns hier versammelt haben; es ist nur von der gewöhnlichen Mahlzeit die Rede, wenn es heißt: „als er mit ihnen zu Tische saß: nahm er das Brodt etc.” Sie waren an jenem Tage des Osterlammes, wo der Erlöser nur mit den ihm Vertrautesten, mit den Zwölfen zusammen war und das Gedächtniß seines Todes stiftete, nicht gegenwärtig gewesen, und konnten auch wohl in diesen unruhigen, verwirrungsvollen Tagen nichts davon erfahren haben. Aber, war doch auch diese Einsetzung selbst nichts, als eine höhere und besondere Heiligung, die der Erlöser gerade dem Gewöhnlichen und Täglichen, der Mahlzeit, beylegte. Er bediente sich dabey der gewöhnlichen, täglichen Nahrungsmittel, die jeder genoß, und an das dabey übliche Gebet und Erinnerung an Gott knüpfte er die Vorstellung an, die er den Seinigen hinterlassen wollte. Wir müssen auch eben die gewöhnliche Mahlzeit nicht als etwas so Geringes ansehn; es war ein Zeichen vertrauter Verbindung, wenn einer mit dem andern aß. In dieser waren die Apostel mit Christo gewesen, sie hatten mit ihm gegessen und getrunken, weshalb es denn geschah, daß bey dieser Gelegenheit ihre Augen geöffnet wurden. Gar leicht können wir davon das Mahl des Gedächtnisses zu dessen Genusse wir uns vorbereiten, und auf unsere Verbindung mit Christo Anwendung machen, und darauf wollen wir jetzt unsere Aufmerksamkeit richten. In der unsern Textesworten vorhergehenden Erzählung heißt es: Ihre 3–5 Vgl. Lk 24,13–35

26–2 Vgl. Lk 24,15–16

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Augen wurden gehalten, daß sie ihn nicht erkannten, ob sie gleich mit ihm wandelten, und er mit ihnen redete. Meine geliebten Freunde: so geht es in dem | Drange und den Geschäften des Lebens uns allen oft, wie es damals seinen Jüngern ging, die auch mit ihrem Gemüthe nur auf Einen Punkt gerichtet waren. So sind oft, wenn wir in einem mühevollen sorgenvollen Geschäfte hingehn, unsere Augen gehalten, daß wir der innern Gegenwart des Erlösers nicht inne werde, daß mehrere seiner Aussprüche an unsern Ohren vorübergehen, ohne so, wie sie es sollten von uns geschützt und aufgenommen zu werden, ja so daß wir oft sogar zweifeln, ob dies uns jenes seinem Sinne, seiner Lehre und Absicht angemessen sey oder zuwiderlaufe. In dieser Erfahrung, die jeder an sich gemacht haben wird, müssen wir es als Bedürfniß fühlen, von Zeit zu Zeit unsere Nähe und Verbindung mit dem Erlöser zu erneuern; und dazu hat er dieses Mahl seines Gedächtnisses gestiftet, und so ist es bey dem Genusse desselben das, was ich uns Allen von Herzen wünsche, daß unsere Augen geöffnet werden, daß wir ihn erkennen wie er war in seinem äußern Leben und in dem Innern seines heiligen Gemüthes, daß das Vorbild, dessen Fußstapfen wir nachfolgen sollen, das Urbild aller menschlicher Vollkommenheit uns bey dieser Gelegenheit mit lebhaften Zügen vor unser Inneres trete damit dadurch unsere Liebe zu ihm und unser inniges Verlangen, uns in sein Bild zu gestalten, aufs frische erregt werde, damit durch das Aufschauen auf dieses Bild, alles was in uns von Zeit zu Zeit aufsteigt, ihm Mißfälliges Rohes und die Gewalt des göttlichen Geistes Hinderndes, damit das alles erkannt, bekämpft, ausgerottet werde – daß wir ihn erkennen wie er sich für uns hingegeben hat, damit wir bedenken, wie wir auf diese Weise, durch seine erlösende Aufopferung alles Heil über uns und über die künftigen Geschlechter kommen könne, damit sein göttlicher Gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz uns erfülle mit lebendiger und herzlicher Dankbarkeit und mit dem Streben, ihm anzuhängen, ihm zu leben mit und aus allen Kräften, aber auch mit demselben Muthe, mit derselben Treue und Beharrlichkeit in Erfüllung seines Willens und in allem, was zu seiner Nachfolge gehört, die denen geziemt, die an ihm ein so sich selbst ganz hingebendes, alles aufopferndes ein so gehorsames und tapferes Vorbild gehabt haben – daß wir ihn endlich erkennen, wie | es sein Streben gewesen ist, diejenigen, die ihm nachfolgen, seine Wahrheiten ergreifen, in herzlicher brüderlicher Liebe zu versammeln, das ist es, worauf der Sinn und Geist dieser christlichen Einrichtung des Gedächtnißmahles uns hinweist. M. Fr. das müssen wir alle Tage fühlen, wie wenig der Mensch allein vermag, wie er in allen verschiedenen Auftritten seines Lebens, unter allen wechselnden Umständen desselben Hülfe und Unterstützung bedarf, wie ihm Liebe Noth thut; aber auch das müssen wir erfahren haben, daß es keine so sichere, keine so treue und hülfreiche Liebe gibt als die Liebe derer, die nur im Geiste Jesu leben, die mit uns durch die treue Gesinnung und Verehrung gegen ihn verbunden

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und verwandt sind; denn da ist das Bindungsmittel selbst etwas Geistiges und Ewiges, und so muß auch die darauf sich gründende Liebe ewig seyn, wogegen alles andere, was Menschen verbinden kann, theils seine einschränkende Beziehung hat, theils an dem hängt, was vorübergeht und eben deshalb selbst nicht bestehen kann. Aber wenn es keinen Theil unseres Lebens und unserer Bestimmung gibt, wo nicht alles darauf ankommt, daß wir vom Geiste Gottes getrieben, daß wir des Namens Christi würdig handeln: so gibt es auch nichts im Leben, wo nicht die darauf sich gründende geistige Liebe das kräftigste Mittel wäre zur Erreichung unserer Bestimmung. Ja auch die Liebe, wodurch die Natur die Menschen verbindet, wird erst dadurch geheiligt, gesichert und erhalten, wenn sie Eins werden im Geiste Jesu und in seiner treuen Verehrung. Gewiß hat jeder schon in seinem Leben tröstliche Erfahrung davon gemacht, was die fromme Liebe gleichgesinnter Gemüther gewährt, und so mögen denn beym Genusse dieses Mahles unsere Augen geöffnet werden, daß wir Christum erkennen als den, der uns diese Wohlthat in einem hohen und geistigen Sinne erworben und gesichert hat; wir mögen fühlen, daß, wenn die uns verlassen, oder uns nicht helfen können, mit denen wir sonst am nächsten verwandt und verbunden sind, wie in jedem christlichen Bruder, wenn wir uns mit Zuversicht und Liebe an ihn wenden, überall das finden werden, was er uns gewähren kann, um uns bey dem, was | das Heiligste und Theuerste ist, zu erhalten, und alles was uns im Leben aufgegeben ist, alles im Geiste Christi thun und Leiden zu helfen. „Und so geschah es, daß ihre Augen geöffnet wurden und er verschwand vor ihnen.“ Ja, m. Fr., so wird es uns größten Theils auch gehen; denn die lebhafte Erinnerung an den Erlöser, eben dies erhöhte Gefühl seiner Gegenwart, eben diese das Gemüth durchdringenden Eindrücke dessen, was er war, und gethan hat, die in uns öfter eben besonders bey dem Genusse dieses Mahles entstehen, diese können nicht bleiben; sie sind vergänglich ihrer Natur nach; aber die Früchte sollen bleiben. Wie der Jünger sagt: Brannte nicht unser Herz, da er mit uns redete: so erinnere uns jeder erhöhte Genuß seiner Gegenwart auch an das Frühere, was uns damals nur dunkel vorüberging damit es durch die Erinnerung uns lebendig und klar werde. Wie die Jünger sich aufmachten und nach Jerusalem zurückkehrten, um den übrigen zu verkündigen, was geschehen war: so mögen auch wir durch die That, dadurch, daß wir in unserm Leben ausdrücken, was das Gefühl der Nähe des Erlösers in uns gewirkt hat, und wenn er selbst vor unsern Augen verschwunden ist, Zeugniß ablegen, daß er da gewesen ist, und auch in ihnen aufregen die Erinnerung selbiger Eindrücke und uns gegenseitig befestigen zum lebendigen Glauben zur frohen Hofnung, wie sie durch die Kraft seiner Auferstehung in seinen Jüngern war. In diesem unsern gemeinschaftlichen Wunsch für den 30 Vgl. Lk 24,32

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wirksamen und kräftigen Genuß des Mahles Jesu Christi schließen wir gewiß alle ein folgende junge Christen, welche in den größern Bund der Verehrer Christi aufgenommen werden und morgen zum ersten Mahle an dem Genusse seines Gedächtnißmahles Antheil nehmen wollen. Möge die Gemeinde, mit der sie sich zunächst vereinigen, und die ihnen ein Bild ist der ganzen christlichen Kirche, mit herzlicher Liebe aufnehmen, wie wir, ihre Lehrer sie mit eben solcher und mit frohen zuversichtlichen Hofnungen ihr zuführen. Möge bey dieser heiligen Handlung unser aller Wunsch und aufrichtiges Gebet sie begleiten, | daß sie sich des Nahmens der Christen immer würdiger machen und die guten Entschließungen mit denen sie jetzt erfüllt sind, bewahren und erfüllen wollen, und daß sich ihnen Christus in seiner ganzen Göttlichkeit immer mehr offenbaren möge.

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Meine und unser aller Wünsche lieben Kinder habt ihr gehört. Ich will auch jetzt nicht viel Worte mehr an euch machen; es würde auch umsonst seyn, was ich nicht hoffen kann durch eine so lange Zeit während unsers engeren Zusammenseyns von euch erreicht zu haben, in dem gegenwärtigen Augenblicke vollenden zu wollen. Ich will nun noch einige Worte des Abschieds mit euch reden. Zuerst, meine Lieben, seid ihr bis jetzt mehr oder weniger in einer Verbindung gewesen, die nun aufhört; mehrere haben die Stunden des Unterrichts getheilt; einige sind den andern zu Hülfe gekommen, und der Reichere hat dem Ärmern mitgetheilt von dem Schatze seiner Erkenntniß. Laßt das Andenken an diese eure Verbindung nicht untergehen, wenn euch auch die Verhältnisse des Lebens künftig hin trennen werden. Ihr werdet in dasselbe Verhältniß immer wieder kommen unter allen Beziehungen in denen ihr mit den Menschen steht; aber keines wird so rein seyn, so unmittelbar auf das Höchste und Wichtigste gerichtet, kein anderes Verhältniß der Gemeinschaft, das heiligste eben abgerechnet was euch allen aber noch fern liegt, als eben dieses. Ihr werdet in diesem engern Zusammenseyn die Erfahrung gemacht haben, die sich euch ebenfalls im Leben oft wiederholen wird, daß auch schon unter dieser kleinen Anzahl ein bedeutender Unterschied Statt findet, eine große Ungleichheit in den Gaben des Geistes und also auch in dem Maße der Erkenntniß. Mögen die, welche Ursache haben, Gott in dieser Rücksicht besonders dankbar zu seyn, mögen sie sich dieses Glückes erfreuen mit demüthigem Herzen – das ist die Art, wie es bewahrt seyn will, und wie es ihnen und andern zum Segen gereichen kann – mögen sie einen Beruf darin finden, der ihnen schon jetzt oft geworden ist, denen, welche Gott weniger ausgerüstet hat, behülflich zu seyn[,] | mögen sie einsehen, daß es etwas Größeres gibt, als dieß, und daß es nicht ankommt auf das Maaß der Erkenntniß, sondern auf die Reinheit des Herzens und die Treue des Willens; und davon hat kein Mensch an

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und für sich mehr oder weniger; darin sind sich alle gleich, und wir alle bedürfen, daß der Geist Gottes in uns wohne, von dem es kommt. – Ihr trennt euch nun auch von mir, lieben Kinder, nachdem viele lange, und länger als es sonst gewöhnlich ist, an meinen Bemühungen des Unterrichtes Theil genommen haben. Es ist traurig, daß auf ein so nahes Verhältniß größten Theils eine völlige Trennung folgt; denen unter den vielen, die wir in dem göttliche Worte unterrichten, wie wenige gibt es, mit denen wir nachher noch in immer nährer Verbindung stehn! Freylich sind wir darüber nicht Herr, wenn Verhältnisse des Lebens uns aus einander reißen, und so kann ich euch für diesen Fall nichts anders mitgeben als die Überzeugung, daß ich es für das größte gehalten habe, euer Herz zu öffnen dem Gefühl der christlichen Würde, und euch dem zu verbinden, der für uns die Quelle alles Heils und aller Sicherheit des Geistes ist. Aber möge diese Trennung nicht größer seyn, als sie seyn muß. Mein Herz bleibt euch mit Liebe zugethan; ich werde mich freuen, wenn ich Gutes von euch höre, und es wird erfreulich und angenehm seyn, wenn ihr mir in der Folge Gelegenheit gebt, an dem was euch Gutes und Leides widerfährt, Antheil zu nehmen, wenn ihr wie ihrs bedürft, ein Wort des Rathes, des Trostes, herzliche Zusprache, irgend einen Erweis der Liebe bey mir holen wollt, und so, meine Kinder, entlasse ich euch jetzt von mir, indem ich das Letzte hinzufüge und euch der Zahl derer Christen beygeselle, welche als hinreichend bekannt mit dem Willen des Erlösers angesehen werden, für sich feststehen, und für sich selbst Rechenschaft ablegen sollen. Bedenkt es, daß es ein großer und wichtiger Schritt ist, den ihr jetzt thut; und daß ihr nur würdig seyd ihn zu thun, nicht als vollkommen unterrichtet, sondern entschlossen, dem Geiste Gottes, dessen Stimme zu vernehmen ihr gelernt habt treu zu folgen, dem euer Herz einzuräumen, und nach dessen Anweisung euer Leben einzurichten. Möge es euch eine ernste Stunde | seyn, in welcher die größte Sorge, die bis jetzt andere für euch gehabt haben, nun auf euch selbst gelegt wird; denn als Christen werdet ihr nun für würdig erklärt, d. h. nicht für solche, die keiner Belehrung weiter bedürfen, und die schon einen hinreichenden Schatz von Weisheit sich gesammelt haben, sondern für solche, die nunmehr wissen sollen, wo sie die Weisheit, der sie bedürfen, zu suchen haben, und es fühlen, wenn es ihnen Noth thut, aus zu suchen nach Belehrung aus dem Worte Gottes. Darauf beziehen sich meine Fragen, die [ich] euch hier im Angesichte der gegenwärtigen Versammlung vorlege. Zuerst, ob ihr, wie ihrs (vorläufig) bey der Taufe durch andere gethan habt, jetzt mit Bewußtseyn und der Zustimmung eures Gemüthes entschlossen seyd, Christum als Herrn und Meister anzuerkennen, bey ihm und seinem Geiste Trost und Rath zu suchen und euer Leben dem Willen und Worte Gottes gemäß einzurichten. Ist das euer ernster Vorsatz: so antwortet Ja. – Zum andern, ob 35 die [ich] euch] Ergänzung aus SAr 33, Bl. 47r

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ihr, in der Überzeugung, daß wir das Verhältniß der Menschen zu Gott nie vollkommen verstehen lernen, daß eure Überzeugung von Gott und euren Pflichten zwar begründet aber immer noch mangelhaft und dürftig sey, entschlossen seyd, die Segnungen der christlichen Gemeinschaft zu genießen, und fleißig zu halten zu den Versammlungen der Christen, um eure guten Entschlüsse zu erneuern, euer Herz zum Guten zu stärken und euren Verstand zu erleuchten durch die gemeinsamen Betrachtungen des Wortes Gottes und ob ihr euch des Rechtes der Theilnahme an dem Gedächtnißmahle so bedienen wollt, wie es Christen geziemt, nicht als äußern Gebrauch, sondern als Zeichen und kräftige Erinnerung eurer Vereinigung mit Christo, als Veranlassung zur Selbstprüfung als die schönste Gelegenheit, den Geist Gottes Wurzel fassen zu lassen in eurem Herzen. Ist also einen fleißigen Gebrauch zu machen von den christlichen Übungs- und Erbauungsmitteln euer ernster Vorsatz, so antwortet: Ja. So ergeben sich heute, Gott, in dieser Stunde auf eine besondere Weise diese | Gemüther deinem Geiste. Du weißt, wie wahr das ist, was sie jetzt versprochen haben, aus welcher lebendigen Überzeugung, aus welchem ernsten Willen sie hervorgegangen. O erhalte sie bey dem Einen, daß sie deinen Namen fürchten, dich und deinen Sohn lieben, daß sie von deinem Geiste geleitet zu werden, für das höchste Gut ihres Lebens halten, bewahre ihre jungen Herzen bei den mancherley Versuchungen, die ihnen immer mächtiger entgegentreten, je tiefer sie in die Verhältnisse, Geschäfte und Sorgen des menschlichen Lebens verwickelt werden; laß tiefer wurzeln, und statt zu ersterben, kräftiger werden die Überzeugung von der Wahrheit des Christenthums, laß sie den Schatz des Glaubens und der Liebe bewahren und heilig halten, und verleihe ihnen deinen Segen, daß sie von diesem Tage bis ans Ende ihres Lebens würdige Mitglieder der großen Verbindung bleiben, in welche sie nun treten, werth den Namen Christi zu nennen und zu führen und zu den Deinigen zu gehören. Das verleihe ihnen und uns allen.

14 so ... Ja] Ergänzung aus SAr 33, Bl. 47v

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Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 6,3–5 Nachschrift; SN 592, S. 93–104; Pischon Keine Nachschrift; SAr 27, Bl. 33r–36r; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 48r–52v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Wo unser Leben dem Leben der Auferstehung Jesu gleichen soll. Predigt am ersten Osterfeiertage, den 29. März, 1812. Über Röm. 6, 3–5. M. a. Fr. Es ist gewiss ein ganz eigenthümliches Gefühl, mit welchem wir uns in die Tage der Auferstehung des Erlösers hineindenken, nach den verwirrungsvollen Tagen des Leidens. Nach den bittern Schmerzen der Trennung und des Todes sehen wir ihn wieder auf der Erde und doch nicht mehr ganz der Erde angehörig, thätig wie er sonst war aber auf eine verklärte Weise und erhaben über allen Schmerz, dem er sich vorher hingegeben, der Möglichkeit des Leidens entzogen. Getrösten wir uns, m. th. Fr, getrösten wir uns bei diesem eigenthümlichen, in einem gewissen Sinne schauerlichen Eindruck jenes geheimnissvollen Daseins der Worte des Jüngers den Jesus lieb hatte, welcher sagte: es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden, wir wissen aber, wenn es erscheinen wird, werden wir ihm so gleich sein. Denn wir werden ihn sehen, wie er ist, und so machen wir uns so haben sich von jeher die Christen gemacht diese Tage der Auferstehung zu einem Pfande und einem bestimmten Bilde eines künftigen herrlicheren Daseins, in welchem wir eben so wie er den Beschwerden und Leiden der Erde werden entnommen sein. Aber, m. th. Fr. so fest auch diese Hoffnung steht, so hat auch die Auferstehung des Erlösers in diesem Sinn angesehen eher eine andre Bedeutung, denn es war ja nicht sein Dasein jenseits dieser Erde, was sich offenbart, sondern es war das Letzte freilich nur Kurze aber Herrlichste seines Daseins auf der Erde, | und selbst jener Jünger des Erlösers, als er die Worte aussprach, dachte vielleicht, wie wir 13–15 Vgl. 1Joh 3,2

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wissen, daß es die Jünger des Erlösers lange Zeit gethan haben, dachte vielleicht nicht an ein Leben jenseits der Erde auf einem andern Schauplatz, sondern an ein Leben auf der Erde, wohin der Erlöser siegreich zurückgekehrt sein würde um sein Reich auf der Erde aufzurichten. Wie natürlich pflanzte sich daher von den Jüngern des Erlösers auch uns der Wunsch fort, o, möchten doch auch wir schon auf dieser Erde, wie wir ja alle Segnungen seiner Erlösung genießen sollen ein Leben führen können wie das seiner Auferstehung, so ruhig, so friedsam, so aller äußern Sorgen entnommen, so ein reines hohes göttliches Dasein. Wohlan, lasset uns diesen Wunsch, weil er doch etwas ausspricht, woran wir als Christen ein Recht haben durch sein Leben und seine Auferstehung lasset uns ihn verfolgen und in dieser Stunde, die der Feier der Auferstehung gewidmet ist, nachdenken und sehen, wie weit er uns gewährt werden könnte. Dazu wollen wir uns vereinigen in frommer Andacht. Tex t.

Röm. 6, 3–5

Dieses ist eine Rede, m. a. Fr., die sich in den Schriften dieses Apostels oft wiederholt, es ist ihm ein gewohntes Bild, die Taufe, die Aufnahme in den Bund der Christen darzustellen als eine Gemeinschaft des Todes auf der einen und der Auferstehung Jesu auf der andern Seite. Die Fluthen waren, vorzüglich bei jenem Volke von jeher das Bild der Leiden und das Untergetauchtwerden in dieselben Bild des Todes; aber gereinigt in neuer Schönheit in frischem Glanze seiner Glieder stieg der Getaufte aus den Fluthen empor, gleichend also dem Auferstandenen, auf dessen Tod er war getauft worden. – Unmittelbar | haben freilich die Worte des Apostels eine andre Beziehung als die, worauf ich vorher gedeutet habe. Er will den Christen zu Rom zu Gemüthe führen, die welche mit Christo in den Tod begraben wären durch die Taufe sollten auch mit ihm gestorben sein der Sünde und wandeln in einem neuen Leben. Aber so zieht er doch diese Hoffnung, dass wir der Auferstehung Jesu gleich sein werden, wieder ins Gebiet unseres jetzigen Lebens herab und ist es nicht der allgemeine Glaube und die feste Überzeugung aller Christen, dass alles Übel und alle Noth dieser Welt nichts anders sei als natürliche Folge der Sünde, dass also, wenn diese erst getödtet und begraben sei auch alle Noth und alle Beschwerde hinweggenommen sein werde. Billig also fragen wir uns, wenn wir uns befleißigen der Sünde abzusterben und in einem neuen Leben mit Christo zu wandeln, was haben wir für eine Hoffnung, darin schon hier seiner Auferstehung gleich zu sein, dass alle Noth und alle Last dieser Erde von uns genommen sei, wie sie von ihm genommen war an den Tagen seiner Auferstehung. Das sei die Frage, die wir uns jetzt gemeinschaftlich beantworten wollen. Ich glaube nicht, dass ich nöthig habe zu erinnern, es könne freilich nicht unser 5 auch] auf

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ganzes Leben auf Erden darin den Tagen der Auferstehung unsers Herrn gleichen, denn wir wissen ja, dass weder die Sünde in uns ganz erstirbt, also die Quelle des Leidens und der Noth in uns nie versiegt, noch auch dass wir sie | außer uns ganz besiegen und also auch über ihr ganzes unseliges Gefolge triumphiren können, wie der Erlöser, aber irgendwo muss es sich doch geltend machen lassen, dieses Recht, irgend wie in Erfüllung gehen diese herrliche Hoffnung. Und da, glaube ich, haben wir diese Erfüllung zu suchen: 1. wo wir uns in stiller, andächtiger Betrachtung unsers Glaubens erfreuen, 2. wo wir entzogen dem Getümmel der Welt nur mit denjenigen leben, die unserm Herzen die Ersten und Liebsten sind. Wie dieser Theil unsers Lebens dem Leben der Auferstehung Jesu gleichen soll, das lasset uns mit einander unter dem Beistande des göttlichen Geistes betrachten. I. Zuerst also: in solchen Stunden, wo wir in abgeschiedener, stiller Betrachtung uns unsers Glaubens freuen, da soll alle Last und alle Noth der Erde uns eben so fremd sein, wie sie es dem erstandenen Erlöser war. Der Gerechte lebt seines Glaubens sagt die Schrift, was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde, setzt sie hinzu und so ist freilich und muss sein der Glaube die Kraft, die uns in allen Augenblicken, unter allen Verhältnissen des Lebens beseelt, deren wir uns bewusst sind, das große Gut, dessen wir uns immer erfreuen. Aber, m. Fr. wir dürfen doch nicht übersehen den Unterschied zwischen | der Art und Erweisung des Glaubens, welche unter allen Sorgen und Geschäfften des Lebens uns begleiten, und zwischen der Art wie er in der Stunde der stillen Betrachtung aus dem Gemüthe sich entwickelt und immer näher verklärt. Was wir auch beginnen und zu schaffen haben, unser gesammter Beruf ist unsre Stelle im Reiche Gottes, unser Posten im Weinberge des Herrn. Da sind wir angewiesen zu arbeiten, zu pflanzen zu begießen, auszujäten, und was wir beginnen in diesem Sinne und vollbringen, es sei immer im Glauben gethan, in der festen Überzeugung, dass wir das Rechte und Gute wollen und thun, dass was wir uns vorsetzen zur Vollbringung der Geist Gottes in uns erzeugt und zum Entschlusse ausgeboren habe und dass es einen Beitrag geben müsse zur Erfüllung des göttlichen Willens. Ja so glaubte und wusste auch der Erlöser, dass er das Werk seines Vaters thue, in jedem Augenblicke auch seines irdischen Lebens. Aber wie erwies sich sein Glaube in ihm? Ist es möglich, so hören wir ihn rufen, so gehe dieser Kelch vorüber. Dieser Glaube hindert ihn nicht, dass nicht das ganze Bewusstsein seines Leidens in ihm war, hinderte ihn 18–19 Vgl. Röm 1,17; Hab 2,4 Mk 14,35–36; Lk 22,42

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37–38 Vgl. Mt 26,39;

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nicht, dass er über den Widerstand des Bösen und über dessen, wenn gleich vorübergehenden Sieg tiefen Schmerz fühlte und die schönste Frucht war, dass er hinzufügt: doch nicht mein Wille sondern dein Wille geschehe! und so wird auch mitten in dem täglichen Leben, mitten | unter der vorkommenden Abwechselung des Gelingens und Misslingens unser Glaube sich endigen mit der stillen gelassnen Ergebung in den Willen des Ewigen, aber er wird uns nicht hindern oft auszurufen: ists möglich, so gehe dieser Kampf vorüber! wenn wieder eine Hoffnung etwas Gutes zu vollbringen im Begriff ist zu scheitern, wenn wieder die Macht des Bösen die vereinten Kräfte des Guten überwinden will, da werden wir ausrufen: ist es möglich, so gehe dieser Kelch vorüber! da werden wir auch bei allem Glauben fühlen, dass diese Welt nur ein Schauplatz ist des Streites, wo auch dem Vertrauen, dem Frieden frommer Gemüther immer noch Leiden, Sorgen und Schmerz beigemischt ist. Anders, m. Fr., der Glaube oder die Erweisungen des Glaubens, die uns erheben fern von den Geschäfften und abgeschieden von den Sorgen und Ereignissen des zeitlichen Lebens, in den Stunden stiller göttlicher Betrachtung. Da, m. Fr., wo wir nicht von der nächsten Gegenwart befangen sind, wo der Ewige unser Gemüth ausfüllt vor dem tausend Jahre sind wie ein Tag, wo wir unser Herz erweitern um hineinzuschauen in seine ewigen Geheimnisse, in seine das Ganze umfassende Rathschlüsse, wo der Glanz des ewigen, über alles Zeitliche erhabenen Reiches Gottes uns umstrahlt da gleichen wir dem Erlöser in den Tagen seiner Aufer|stehung, da haben auch wir alle Leiden und selbst den Tod weit hinter uns, da kümmert uns nicht mehr, ob das Einzelne uns gelingen oder misslingen werde, womit wir unser Leben ausfüllen, da verschwindet alles das einzelne und kleinliche Thun, woran wir unsre Handlungen knüpfen, vor dem Ewigen und Unvergänglichen, der sich dem Auge unsers Geistes darstellt, da finden wir in unserm ganzen Wesen nichts anders als die Kraft, die wir dem Tode und der Auferstehung Jesu verdanken, die die Sünde und den Tod überwindet als das Bewusstsein des neuen geistigen Lebens, die sichre Hoffnung auf die Ewigkeit des göttlichen Reiches, die frohe lebendige Anschauung jener Verbindung der Gläubigen, die nach Christi Verheißung selbst die Macht der Hölle nicht vernichten wird, die feste Zuversicht auf ihn, den Anfänger und Vollender unsers Glaubens, der auch unser Werk herrlich hinausführen wird und der bestimmt ist zu herrschen über alle Geschlechter der Menschen und über das ganze Reich der Geister. O da muss ja seine Kraft, die Freude über seine Auferstehung auch in uns sein, wie sollte da, wo wir uns selbst ganz vergessen und seiner Gnade und Herrlichkeit voll nur in dieser leben, wie sollte da die Noth und Beschwerde des Lebens uns berühren, wie sollte da 10 ist] ists 3 Lk 22,42 Hebr 12,2

18–19 Vgl. 2Petr 3,8; Ps 90,4

32–33 Vgl. Mt 16,18

33–34 Vgl.

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in diese innige Freude und Lust sich eindringen können etwas von den irdischen und vergänglichen Dingen dieser Welt[,] da sind, da sollen wir sein eben so wie er bei seiner Auf|erstehung, zwar auf der Erde lebend, aber über ihr erhaben und nur das Höhere und Göttliche in unserm Dasein und in unsrer Bestimmung fühlend. II. Unser Leben soll gleich sein den Tagen der Auferstehung Christi da, wo wir fern vom Getümmel der Welt nur mit unsern Vertrauten und Liebsten leben: So that auch der Erlöser in den Tagen seiner Auferstehung. Es wäre unmöglich zu denken, wie er in diesem seinem erhöheten Zustande wieder sich sollte gemischt haben unter den großen Haufen der zweideutigen oder verkehrten Menschen, nachdem er durch sein leidenvolles Leben und durch seinen Tod ihnen gerecht worden und mit ihnen vollkommen abgefunden war, so dass sie keinen Anspruch weiter an ihm haben konnten. Nur die Seinigen besuchte er, zu ihnen gesellte er sich, wo sie mit einander von der übrigen Welt abgeschieden waren; ihren äußern irdischen Beruf trieben, zu ihnen gesellte er sich, wenn sie mit einander wandelten von ihm redeten und in die Geheimnisse seines Schicksals, die sie freilich nur unvollkommen durchschauten, vertieft waren, zu ihnen gesellte er sich endlich, wo sie mit einander verbunden waren im Gebet zum Lobe und Preise und zur Fürbitte vor Gott. – Wer unter uns könnte wohl so unglücklich sein sagen zu müssen, dass solche Stunden des ruhigen Zusammenseins mit den unserm Geiste befreundeten Gemüthern ihm nicht beschieden wären. Nein, es ist nicht möglich! Wem das höhere | Leben im Reiche Jesu aufgegangen ist, der ist nicht bloß aufgenommen in den allgemeinen Bund der Liebe derer, die in und durch Christum leben, es müssen sich ihm auch einzelne Gemüther anschließen sich ihm eröffnen, es muss ihm mit ihnen sei es durch die Bande der Natur oder durch die Wahl der Freundschaft ein engeres innigeres Verhältniss bestehen. Wohlan, m. Fr., wo so auch nur wenige versammelt sind in seinem Geist und Namen, da ist er nicht nur mitten unter ihnen, wie er verheißen hat, der Erstandene, sondern auch in ihnen selbst ist die Kraft und das höhere Leben seiner Auferstehung. Was haben wir da Dringenderes und Nothwendigeres zu thun, als dasjenige mit einander zu theilen, was das Werk des göttlichen Geistes in uns ist was dieser Gutes und Vollkommnes in unserm Gemüthe gewürkt hat, als aufzuregen die Freude, die vom Herrn kommt, als uns zu befestigen in der treuen Ergebenheit, die wir ihm schuldig sind, einer dem andern zu öffnen das Innre des Herzens, dass jeder lerne von dem andern, sich tröste mit dem andern, sich stärke und kräftige mit und durch den andern. Was können wir da fühlen als eine solche Liebe, die von äußern irdischen Bedingungen und 14–15 Vgl. Joh 20,19 30 Vgl. Mt 18,20

15–16 Vgl. Joh 21,1–7

16–18 Vgl. Lk 24,13–35

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Verhältnissen nicht abhängt, die sich nicht so kümmert, ob dem geliebten Gegenstand widerfährt, was wir im Irdischen Glück und Unglück nennen, oder die sich erhebt, wenn ihm wehe gethan wird, oder die sich niederschlagen lässt wenn sie ihn findet belastet und gedrückt von den Lasten und Schmerzen dieser Erde, sondern | jene Liebe, die nur lebt in dem geistigen Leben dessen den sie liebt, sich nur erfreut dessen, was der Geist Gottes würkt in dem geliebten Gegenstande und was er mitten unter den Leiden unter den Wehen und Gefahren des Lebens um so herrlicher hervorbringt, kurz eine Liebe die sich nur an dem Göttlichen weidet und sich dessen erfreut. O, m. Fr. in solchen Stunden des geistigen Genusses wie dürfte da eine Sorge, eine Furcht oder ein wehmüthiges Gefühl uns verstimmen. So war es auch nicht im Zusammensein der Jünger mit dem Erlöser, er wusste es ja und auch ihnen war es nicht verborgen, dass sie wie er den Kelch des Leidens würden trinken müssen (er gürtete ja seinen Jünger) und giebt es für diesen zu verstehn in den Worten, dass er würde geführt werden, wohin er nicht wolle. Aber das trübte nicht die reine göttliche Freude, störte nicht ihr über die Erde erhabenes gemeinschaftliches geistiges Leben. Und ein solches Leben, wenn wir uns mit seiner Kraft stärken, nur ihn lieben und in ihm leben, ein solches ist auch uns bereitet, ein Leben, wo wir ihn nicht nur suchen, sondern wo er uns, wenn auch nur in vorübergehenden Augenblicken, wie zur Zeit seiner Auferstehung wahrhaft erscheint, ein Leben, worin uns, was von den Gefühlen des Unglaubens und Zweifels, wie sie wohl auch noch in den Jüngern entstanden sich noch findet, leicht vergeben wird, weil es leicht verschwindet im unmittelbaren Anschaun, im Leben in welchem selbst die Mahle des Leidens, wie der Erlöser sie an seinem ge|kreuzigten Leibe trug, wie wir sie in dieses heilige Zusammensein auch mitbringen werden von den Schmerzen und Leiden des Lebens nur dazu dienen, um desto leichter, sichrer und herrlicher erkannt zu werden, wie auch der Ungläubige den Herrn um so sichrer erkannt, als er seine Finger in die Nägelmahle legte und seine Hand in die offne Seite. – M. a. Fr. wo vereinigt sich beides wahr und inniger: die stille andächtige Betrachtung, der mit neuem Glanze mit ewigem Lichte sich im Herzen entwikkelnde Glaube an das Reich Gottes und Jesu auf der einen Seite und das innigere Zusammenleben des Geistes mit denen, die in Christo uns am nächsten befreundet sind auf der andern Seite, als eben dieser Ort, wo wir als Christen bei einander sind, wo wir zur gegenseitigen Belebung und Erleuchtung uns vereinigen, wo das gemeinschaftliche Aufsehn auf Jesum, den Vollendeten, dem Geiste Schwingen angürtet und das Herz den Regungen der reinsten Liebe öffnet. Darum wurde auch von Anbeginn an der Tag 5 in] im 13–16 Vgl. Joh 21,18

29–30 Vgl. Joh 20,24–29

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der Auferstehung Jesu zugleich der Tag des Herrn, der Tag andächtiger Betrachtung, dem Genusse der reinsten Liebe geweiht, der Tag, an welchem auch wir ein den Sorgen und Geschäfften der Erde enthobenes höheres Leben führen sollen. O, das lasst uns vorzüglich bedenken und dadurch den Tag der Auferstehung des Erlösers feiern und wenn es mir gelungen ist in dieser Betrachtung euch zu zeigen, das Gefühl in euerm Innern hervorzurufen, dass es möglich ist, (wenn auch nur auf eine kurze Zeit) dass unser Leben gleichen könne | den Tagen seiner Auferstehung so lasst den Entschluss in uns sich befestigen, dass so oft wir hier erscheinen und uns versammeln, als seine Brüder und Nachfolger uns versammeln, uns innig verbinden kein geringeres Leben führen zu wollen als das seinige war nach seiner Auferstehung, ganz zu genießen die Kraft und den Trost dieser Auferstehung und ganz des ewigen Segens, den wir auf und durch ihn haben, zu genießen uns zu erfreuen und so durch ihn gestärkt, ihm immer näher gekommen, immer mehr und inniger ihn im Herzen tragend, denn auch den Glauben und die Liebe, die jeder empfangen aus seiner Fülle, nach außen zu offenbaren in jedem, wozu ein jeder unter uns berufen sein mag in der Welt. Amen. Ja Preis und Dank sei Dir, gnadenreicher Vater, der du Jesum auferweckt hast von den Todten, mit dem du uns auch alle leiten wollest in ein ein neues göttliches Leben. O, lass uns ganz unsrer Verbindung mit dem Erstandenen froh werden, erfülle uns immer mehr mit seinem lebendigen Geiste, durch den er ist offenbart worden als der von Ewigkeit bestimmt war zu erscheinen der Sohn Gottes und lass uns immer mehr seine Jünger und Brüder sein, je länger je mehr ihm ähnlich werden in der Kraft, worin er sich über die Dinge der Welt erhob, in dem Sinn allem abgestorben und begraben zu sein, was nur der Erde gehört, dass, wie er bat, dass seine Jünger eins sein möchten wir selbst unter uns und ihm immer näher verbunden werden, geläutert durch seine Kraft und der Friede Gottes, den er am Tage seiner Auferstehung aufs neue den Seinigen schenkte, immer neu in uns wohne. Amen.

8 den ... Auferstehung] Ergänzung aus SAr 27, Bl. 36r 28 Vgl. Joh 17,22

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Am 12. April 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

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Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,2–23 Nachschrift; SN 592, S. 105–120; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 126–151 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 462–477; 21843, S. 449–463. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 82–97. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, 447–459. – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd. 1, 1970, S. 345–359 Nachschrift; SAr 27, Bl. 37r–40v; Matthisson Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 53r–60v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser als das Vorbild unsers vertrauten Lebens mit denen, die uns die liebsten sind. Predigt am Sonntage Misericord. Dom. den 12. April 12. Über Joh. 21, 2–23. An dem Feste der Auferstehung unsers Erlösers, m. a. Fr. richteten wir unsre Betrachtung auf das letzte verklärte Leben desselben auf dieser Erde und darauf, wie auch wir könnten in diese Ähnlichkeit mit ihm gekleidet werden. Ich suchte damals zu zeigen, dass dieses theils da geschehe, wo wir zu seiner Verehrung und zur Anbetung seines und unsers gemeinschaftlichen Vaters vereinigt sind, theils auch da, wo wir zurückgezogen von den Geschäfften und Sorgen der Welt in der Stille vereinigt sind mit denen die uns die nächsten und liebsten sind unter den Menschen. Was nun dieses Letztere betrifft so scheint es mir einer nähern Erwägung noch besonders werth und der gegenwärtigen Zeit unsrer gottesdienstlichen Versammlungen angemessen zu sein. Denn wir haben gewöhnlich die Zusammenkünfte der Menschen, auch derer, welche sich von dem großen Haufen durch eine höhere Richtung des Geistes und durch einen festern Sinn auszeichnen 6–13 Vgl. 29. März 1812 vorm.

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doch oft so ganz andre Art und Weise, wie sehen wir so vieles darin, was uns | eher an alles Andre, als an jene letzten Tage des Erlösers erinnert, ja wie wenig mag es überall, auch bei denen, die sich nicht mit Unrecht seine Nachfolger nennen, ein solches Zusammensein geben: Darum ist es gewiss eine wichtige Betrachtung zu sehen, worauf es denn beruhe, dass unser inniges vertrautes Zusammensein ein solches, den Tagen des Erlösers nach seiner Auferstehung gleichendes Leben darstelle. Wir werden dazu das Vorbild finden eben in dem Zusammensein der Jünger Jesu in jenen Tagen. Denn so stand es mit ihnen: Ihre Stunde zu einer größern Thätigkeit nach außen war noch nicht gekommen, den großen Beruf für die Sache ihres Herrn zu reden, zu kämpfen, zu leben, zu sterben, konnten sie noch nicht; die ihnen und der großen Sache ihres Herrn feindselige Gewalt der Welt hatte wenigstens für den Augenblick gesiegt, und sie waren auf den engen Kreis, in welchem wir sie finden, beschränkt bis auf die Stunde, welche der Herr sich vorbehalten hatte, und wo sie würden erfüllt werden mit einer größeren Kraft aus der Höhe. Eben so sind es die Zeiten, welche zwischen die Erfüllung unseres mehr auf äußere Thätigkeit gerichteten Berufs und die Zeiten fallen, wo wir das Bedürfniss uns an die, welche uns vor allen werth sind enger anzuschließen, mehr als je fühlen, die sind es, welchen ein solches Zusammenleben gewidmet sein soll | so lasset uns an dem schönen Vorbilde der Jünger unsers Herrn uns spiegeln und sehen, wie auch dieser Theil des Lebens Gott wohlgefällig und der Kraft seines Geistes gemäß soll eingerichtet werden. Tex t.

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M. a. Fr. Es kann nicht daran gedacht werden, diesen so reichhaltigen Abschnitt aus der Geschichte der letzten Tage des Erlösers in einer Betrachtung wie die unsrigen nur sein dürfen zu erschöpfen, es ist meine Absicht nur dasjenige, was wir in mancherlei zerstreuten Zügen finden zusammen zu stellen und uns das Zusammensein der Jünger unter sich und mit dem Erlöser als das Vorbild unseres vertrauten Lebens mit denen, die uns die liebsten sind, darzustellen. Lasset uns I. im Allgemeinen auf die Stimmung und den Gemüthszustand achten, in welchem wir die Jünger Jesu finden, und dann II. auf die besonderen Zwecke, worauf sie als der Erlöser unter ihnen erschien, ihr Zusammensein richteten. I. Indem wir zuerst auf den Zustand achten, in welchem sich die Jünger Jesu damals befanden, so kann uns nicht entgehen: [1.] einmal: sie waren versammelt als herzliche und innige Vertraute, als mit einander verbunden 15–16 Vgl. Lk 24,49

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durch das Höchste, was es für den Menschen auf Erden | giebt, denn so müssen wir auch zu jener Zeit ihr Zusammensein ansehn. Denn sie waren nicht bei einander um jenes irdischen, kleinlichen Geschäffts willen, was sie nach der Erzählung unsers Textes trieben, sondern sie waren schon bei einander, als es Simon Petro in den Sinn kam zu den übrigen zu sagen: wir wollen fischen gehen, und sie thaten es nur neben bei als etwas, was ihr gemeinsames Leben nicht störte. Sie hatten Jerusalem verlassen und waren in jener Gegend, wo Jesus so oft lehrend und handelnd mit ihnen gewandelt war, denn wie oft finden wir ihn auf jenem See, bald auf der Höhe seiner Ufer, bald von den Schiffen aus seine Jünger und das Volk lehrend. Dort hatten sie sich hinbegeben um desto ruhiger und stiller sich an ihn, an ihren Herrn und Meister, an die Hoffnungen, die er damals in ihnen erweckt hatte, an die Lehren, die er ihnen mitgetheilt, an den Geist, worin er mit ihnen geredet hatte, zu erinnern. Das war es, was sie eben dort hinführte, das war es, warum sie sich aus dem Verkehr der Welt zurückgezogen und auf den engern Kreis derer beschränkten, denen Jesus und die Sache Jesu so ausgezeichnet werth war, und dieß schon lange zum eigentlichen Geschäfft ihres Lebens gemacht hatten. Und gewiss, m. Fr. nur die, die eben so durch gemeinsame Beziehung durch gleichen Antheil an dem Höchsten, was es für den Menschen giebt, verbunden sind, nur die werden ein solches Leben führen können, als das der Jünger Jesu, worüber nicht viel Worte zu machen sind, wovon nicht viel Äußeres | geschaut und gesagt werden kann; aber wie weht es uns an, aus der einfachen, schlichten Erzählung, als ein Leben inniger, herzlicher Liebe, als ein stiller, seliger Genuss einer schönen, vergangenen Zeit, auf nichts anderes gerichtet als darauf, das Bild des Erlösers fest zu halten, zu beleben, immer heiliger und reiner im Gemüthe aufzubauen und darüber alles Irdische und Vergängliche zu vergessen. Freilich die, welche wenn sie auch in einen engern Kreis versammelt sind, nichts haben, was sie verbindet, als die Lust dieser Welt, die werden sich wohl in einen fröhlichen, flüchtig vorübergehenden Rausch einwiegen können, aber ein Leben, jenem ähnlich ist ihnen nicht beschieden, und die, die auch im vertrauteren Kreise nichts anders wissen, als die Lasten und Sorgen und drückenden Geschäffte dieses Lebens, die natürlich, auch wenn sie nützlich und auf einen heilbringenden Zweck gerichtet sind, doch nur auf eine Seite hin den Menschen treiben, dass er des Innersten seines Daseins nicht froh werden kann, die werden dann auch da verfolgt sein und begleitet von den lastenden Sorgen, denen wird auch da das Höchste und Schönste des Lebens sich verbergen, und auch im vertrauteren Zusammensein, werden sie den stillen, höhern Frieden des Herzens nicht finden, der sich so deutlich im Leben der Jünger Jesu ausspricht. [2.] Es kann uns ferner nicht entgehen, dass die Jünger des Herrn nur in kleiner Gesellschaft beisammen waren, nicht einmal alle die zwölfe | sondern Johannes zählt uns auf: Simon Petrus und sich und seinen Bruder, Thomas

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und Nathanael und noch zwei andre, die er nicht nennt. Auch unter denen, die in der That dasselbige Ziel hatten und in demselbigen Geiste lebten sammelt sich erst ein engerer Kreis solcher, die durch gewisse frühere Verhältnisse des Lebens durch eine genaue Kunde, die einer vom andern hatte, oder durch eine größere bestimmte Ähnlichkeit der Richtung ihres Lebens und ganzen Daseins näher verbunden waren und eben in diesem engsten Kreise ging ihnen das schöne selige Leben am herrlichsten auf. – So ist es gewiss und so muss es auch sein, m. Fr. Wo wir im vertrauten Beisammensein das Höchste genießen wollen, da müssen wir uns auf eine geringe Anzahl beschränken. Die Gegenstände, die zu betrachten sind und worauf das Eigenthümliche und Herrliche dieses Lebens beruht, das gegenseitige Eröffnen der Gemüther bis in die feinsten verborgensten Falten des Herzens, das innige Beschauen dessen, was in den einen und den andern vorgeht, erfordert eine so innige Nähe, dass nur wenige daran Theil nehmen können. Sobald wir uns einen größern Kreis denken, so sind diese Gegenstände zu klein: um von allen, die sich wegen der größern Anzahl schon mehr von einander entfernen müssen eben so genau und eben so segensreich betrachtet zu werden, da muss sich das Zusammenleben gleich mehr im Allgemeinen halten und geht dann über in die gemeinschaftliche Verherrlichung Gottes und alles dessen, was von Gott ausgehend, dem Menschen erquickend und heilbringend ist wozu wir eben so gut den ganzen großen Haufen der Gleichgesinnten einladen können. Nur die, die es verstehen sich so einen engen Kreis vertrauter und wahrhafter Freundschaft empfänglicher Gemüther zu sammeln, nur denen kann es gegeben sein, diese schöne beseligende Erfahrung zu machen. Es kann | viele treffliche ja große Menschen geben, denen diese stille Seligkeit des Lebens, diese schöne Frucht eines engen Beisammenseins nicht beschieden ist, denen es für das Kleine und Einzelne des Gemüths, eben für dieses Leben an dem milden liebenden Sinne fehlt, womit es aufgefasst werden muss, deren sämmtliche Bestrebungen aufs Große gerichtet sind und im Großen nicht das Kleine und Einzelne sondern nur das gesammte Ganze und Allgemeine zu umfassen vermögen. – Dass nun aber in diesem vertrauten engen Zusammensein die Jünger Jesu in der That eines solchen stillen seligen Friedens genossen, kann uns aus der allgemeinen Erzählung nicht entgehen, wenn wir sehen, wie sie sich Alles Guten und Großen was ihnen widerfährt in demselben, so werth achten und wie sie auch das irdische Geschäfft was wir sie nebenbei treiben sehen in diesem reinen Genusse nicht stören konnte. Der Evangelist Lukas erzählt uns aus den ersten Tagen des Zusammenseins der Jünger mit ihrem Herrn und Meister eine ganz ähnliche Geschichte, wie sie auch zusammen waren, und die Netze auswarfen und auch nichts gefangen hatten, und Jesus sich zu ihnen gesellt und ihnen Anweisung gab, wie sie 37–3 Vgl. Lk 5,1–8

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das Netz auswerfen sollten, und da, als sie einen reichen Zug gethan hatten rief Petrus schaudernd und furchtsam aus: Herr gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch! – Jetzt geschieht es eben so, aber als der Jünger, den Jesus lieb hatte ihm leise zurief: es ist der Herr! da hat er nichts eiliger zu thun als sich zu gürten und ins Meer zu springen, um nur eher bei dem zu sein, den er liebte und ehrte. | Ja, m. Fr., das ist der schöne und eigenthümliche Charakter in dem vertrauten Zusammensein derer, die Gott und Christum lieben, wenn sie erst in dem ihm gewidmeten geistigen Leben Fortschritte gemacht haben, dass sie sich alles Guten und Schönen was ihnen durch die göttliche Wahrheit zu Theil wird, herzlich und innig erfreuen und sich desselben auch werth achten, unbeschadet der Demuth, welche der innigste Grund alles frommen und christlichen Sinnes ist. O, es kann ein solches Zusammensein ja im Ganzen auf nichts andres führen, als darauf, dass man in sich der göttlichen Wohlthaten und Gnadenwürkungen bewusst werde, dass man sich lebendig erinnert, wie der Herr das innre Leben gepflegt, befestigt, gestärkt wie er so oft das Gemüth erhoben hat, wo es Noth that, wie er uns ausgerüstet hat vor allen mit Gaben, ihm zu dienen und alle unsre Kräfte seinem großen Werke zu widmen; wenn wir so das innre Leben austauschen, wohin kann es führen, als dass wir fühlen, daß nicht jeder für sich ein irdisches sinnliches Leben führen solle, sondern dass er in uns allen lebt und wir in ihm, dass wir uns ansehen als einen Tempel, den sein Geist bewohnt und worin sich seine Größe spiegeln seine Herrlichkeit offenbaren soll, dass wir uns aller seiner herrlichen Wohlthaten von Herzen erfreuen, dass wir es fühlen mit inniger Dankbarkeit, wozu er uns ausersehen, wie hoch er uns vor andern begnadigt hat und wie wir in allen Erfahrungen ein Unterpfand finden, dass er höherer Gaben uns theilhaftig machen will, so dass wir jeder neuen Offenbarung seiner Liebe, jeder segensreichen Erscheinung seiner Nähe, wie die | Jünger mit Eilfertigkeit und Lust, mit innerm Drange des Herzens als die denen es beschieden ist und zukommt entgegengehen. – 3. Endlich: in allen dem vermochte jene Jünger des Herrn das Geschäft nicht zu stören was sie trieben. – Es ist unstreitig der geringfügigsten und einfachsten eines und wozu gewiss am wenigsten ein besonderes Geschick, eine Ausrüstung des Geistes oder ein Zusammensein von äußern Verhältnissen erfordert wird. Dabei hatte der Erlöser viele von ihnen gefunden, und sie setzten es fort bis die Stunde kam, die sie zu einer größern, ausschließlich dem Erlöser und seiner Sache gewidmeten Thätigkeit aufforderte. Als der Erlöser sie zu erst von diesem Geschäfte hinwegrief, da sagte er: lasset eure Netze und folget mir nach, ihr sollt Menschenfischer werden! Das hatten sie gethan als seine treuen 9 sie] sich 2–3 Lk 5,8

20 solle] sollen 21–22 Vgl. 1Kor 3,16

38–39 Vgl. Mt 4,19; Mk 1,17

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Diener, in seinem Gefolge waren sie geblieben so lange er unter ihnen wandelte; nun da er sich von ihnen gewendet hatte und ihre Stunde noch nicht gekommen war, waren sie im engen Kreise der treuen Liebe vereinigt und trieben dasselbe Geschäfft nebenbei, aber gewiss war es ihnen unvergessen das große Wort: ihr sollt Menschenfischer werden! immer gewiss schwebte ihnen vor die Ähnlichkeit zwischen diesem geringfügigen Geschäfft und dem großen Berufe der Auserwählten. Und in diesem Gefühl, dass auch im Geringfügigsten Irdischen sich die Ähnlichkeit des Heiligen und Göttlichen auffinden lässt, dass auch daran die Spuren des Göttlichen nicht ganz verschwinden, wenn es in einem göttlichen Sinne gethan wird, eben in | diesem vermochten sie mit heiliger Betrachtung, mit treuer Anhänglichkeit an ihren Herrn und Meister, in dem gegenseitigen Aufmuntern, Trösten und Erheben auch dieses irdische Geschäfft zu verrichten. – Und eben dieß m. Fr. ist ein Zeichen von der innern Vertraulichkeit der Gemüther und von der festen gemeinsamen Richtung auf das Ewige, wenn uns diese auch in den kleinen geringfügigen Geschäfften des Lebens nicht verloren geht, wenn wir vom Fischen kommen und vom Mahle aufgelegt sind zu allem demjenigen, was die Liebe des Erlösers Großes und Heiliges gewährt und verlangt. So lasst uns II. sehen: auf welche große Zwecke der Erlöser ihr Zusammensein richtete. 1. Zuerst fällt uns hier in die Augen das Bestreben des Herrn in dem Gespräche, das er anknüpft mit Simon Petro, dessen Beziehung einem jeden, dem die Leidensgeschichte des Erlösers erinnerlich ist, deutlich sein wird. Also: sich zu verständigen über die Irrungen und Fehltritte des Lebens, das war das erste, wozu der Erlöser diese seine Erscheinung unter den Jüngern benutzt. – Es war freilich von einem eigentlichen Vergeben zwischen ihm und seinem theuern Jünger nicht die Rede. Vergeben war ihm Alles schon im Voraus und er konnte sich getrost auch auf die Sicherheit berufen, mit der sein Herr und Meister in sein Innres sah: du weißest alle Dinge, du weißst, dass ich dich lieb habe, wenn ich auch im Stande war, ungeachtet deiner wiederholten Warnung, in einer schwachen unbewachten Stunde, im Drange unerwarteter außerordentlicher Ereignisse zu fehlen. – O, m. Fr., wo bedürfen wir es mehr, | uns über unsre Fehltritte zu verständigen, als unter und mit denen, die wir am meisten in der Welt lieben. In den Verhältnissen zu andern Menschen, die fern von uns stehen, in den allgemeinen, wo unser Betragen durch Recht und Gesetz gebunden und bestimmt ist, da wird nicht leicht derjenige, der in seiner Gesinnung sicher und an eine gewissen Besonnenheit gewöhnt ist, er wird nicht leicht fehlen, untadelich 22–23 jeden] jedem 5 Vgl. Mt 4,19; Mk 1,17

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vor denen dazustehen, die nicht viel mit ihm zu theilen haben. Dazu gehört nur ein kleiner Grad von Redlichkeit, Treue und Selbstbeherrschung. Aber wenn wir fragen nach dem innern Leben mit den Unsrigen, nach dem Zusammensein mit denjenigen, welche uns die nächsten und liebsten sind, von denen uns nichts scheidet, an die wir durch nichts Einzelnes, sondern durch den innersten Sinn des ganzen Lebens gebunden sind, wie oft ereignet es sich da, dass wir fehlen, wie oft haben wir da Gelegenheit noch Schwächen zu erfahren wie wenig pflegen wir da unsre Fehler zu bewachen sondern lassen jeder Bewegung unsers Innern, die in uns aufsteigt und unsern Gleichmuth stört ungestörten Lauf, wie wenig vermögen wir da vor ihnen zu verbergen, wo noch eine Schwäche liegt und wie oft müssen sie die [ ] Folgen derselben erfahren und tragen. Es ist eine Erlaubniss, die wir uns geben müssen, der Antheil an die Gebrechlichkeit und Schwäche des Menschen, der auch in das reinste, schönste, Gott wohlgefälligste Leben kommt, aber eben darum ist es auch ein so schöner wichtiger Theil unsers vertrauten Zusammenlebens in den Stunden wo alle Gemüther aufs innigste mit einander verbunden | sind und so zusammen gehören, wo sie nur von dem großen Zwecke der Bildung ihres Lebens zur Ehre Gottes erfüllt sind, da sich über das, was in jedem schwach und fehlerhaft ist zu verständigen, nicht wie die Kinder dieser Welt um sich gegenseitige Vorwürfe zu machen oder durch Schonung und Nachsicht gegen das, was die andern gefehlt einen Freibrief zu lösen für eine andre Schwäche für den nächsten Fehler von dem sie vielleicht fühlen, dass er nicht mehr fern ist, nicht um die stolze Rolle dessen zu spielen, der vergiebt, sondern nur um besserer und heiliger einer auf den andern zu würken um sich zu verständigen und gewiss zu werden, dass der andre schon in sich gegangen ist, und ihn selbst, wenn er traurig und niedergeschlagen wenn er verzagt sein sollte, ihn auf das lebendige Bewusstsein des festen Grundes von Treue und Liebe von Wahrheit und Glauben, der in unserm Innern sein muss, aufmerksam zu machen und wenn das nicht vorhanden ist, ihn anzutreiben, dass er mit sich eins werde, ihm Anleitung zu geben dass er einsehe wo es noch liege, woran es noch fehle, und was den in ihm schon herrschenden Geist des Guten auf Augenblicke unkräftig und unwirksam zu machen vermocht habe und was den schon glücklich gedämpften Fehlern und Leidenschaften des frühern Lebens einen vorübergehenden Vorschub gegeben habe. – So war es, als der Erlöser sich mit seinen Jüngern verständigte und was war die schöne Frucht, die es trug, als dass Petrus zu dem schönen Bewusstsein kam und zutrauensvoll ausrief: Herr, du weißst alle Dinge, du weißst auch, dass ich dich lieb habe und dass sich diese Zuversicht trotz seines Fehlers durch die wiederholte Frage des | Herrn erneute und stärkte. Diesen Segen des vertrauten Zusammenlebens werden auch wir haben, wenn wir uns verständigen über unsre Fehltritte. Es muss uns denn klar werden, dass das Böse schon im Verschwinden ist, dass der Geist Gottes schon unüberwindli-

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che Macht in uns genommen hat, dass wenn die alte Sünde sich noch regt es nur ein vorübergehender Irrthum ist ein unschädlicher Schmerz den sie dem geistigen Leben bringt und der nur dazu beiträgt das innige Bewusstsein, wie nahe [wir] schon dem sind, der uns von der Erde alle zu sich hinaufziehen will, wie nahe wir dem sind, immer mehr und herrlicher zu fühlen. [2.] Endlich sehen wir, wie der Erlöser sein Zusammensein mit den Seinigen dazu benutzt, sie auf die Zukunft, der sie entgegengingen näher vorzubereiten. Als der Erlöser zu Petro sagte: wenn du alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken und ein andrer wird dich gürten und führen wo du nicht hin willst, verstanden die Jünger dies als eine Andeutung seines Todes, als er von dem Jünger, den er lieb hatte zu Petro sagte: „was hindert es dich, so ich will, dass er bleibe bis dass ich komme?“ verstanden sie es so als ob er vorzüglich bestimmt sein sollte, in dem irdischen Leben zu harren bis jene herrliche Wiedererscheinung, die sie erwarteten, sich vollenden werde. Ob der Erlöser es so gemeint oder nicht ist nicht die Untersuchung dieses Orts, aber das müssen wir fest halten, dass er beiden Winke geben will über das, was ihnen bevorstand und so soll auch unser vertrautes Zusammenleben eine beständige Vorbereitung sein auf das, was uns nachher im Getümmel der Welt, wenn wir unserm Berufe folgend ein | jeder von seinem Platze aus, das Reich des Herrn fördern, was uns dann bevorsteht Erfreuliches auf der einen und Drückendes auf der andern Seite. – So sahen es auch die Jünger des Erlösers an. Der glänzende Ausgang von Christi Sache schwebte ihnen vor auf der einen Seite, einer sollte bleiben, bis der Herr wiederkäme, sollte seine herrliche Wiedererscheinung auf Erden, wo er sammeln würde die zerstreuten Theile seiner Macht und eine Herrschaft gründen, woran sie die Geschickteren und Vollkommeneren vorzüglichen Antheil bekämen, was sie sich auf eine irdische leibliche Weise dachten, einer sollte diese volle Offenbarung des göttlichen Reiches und seiner Herrlichkeit und Macht erleben; und mit einem Tode zur Ehre Gottes sollte der andre ihn preisen, und keine Spur findet sich, dass sie den Glücklichen beneidet, keine Spur, dass ein weicher wehmüthiger Schmerz über das traurige Loos des andern sie befallen und die schöne Stunde entweiht hätte. – Eben so in demselbigen Geiste lasst auch uns, wo auch nur zwei und drei so innig versammelt sind auf unser irdisches Loos uns vorbereiten. Scheint es, dass einem vorbehalten sei die glückliche Zeit, die besseren Tage zu erleben, die wir erduldend, durch misslingendes Thun und vergebliche Wünsche befördern, dass er diese in ihrem vollen Glanze erleben und mitgenießen werde, was können wir anders thun, als uns herzlich freuen, als die die Ein Leib sind, wovon er 32 traurige] Ergänzung aus Pred. Slg. 3, 1814, S. 149 (vgl. KGA III/1) 34 Vgl. Mt 18,20

39–1 Vgl. Eph 4,15

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das Haupt ist und die Schmerz und Lust gleich theilen müssen. Scheint uns ein andrer dazu bestimmt im Dienste des Herrn zu leiden und sich abzumühen, den Kampf mit dem Bösen alle Tage seines Lebens zu bestehen und zu enden mit dem schönen herrlichen Tode in diesem großen | Berufe: wie könnten wir das anders, wenigstens in solchen vertrauten Stunden, als ein beneidenswerthes großes Loos fühlen, was können wir da anders, als ihn und uns stärken zu Allem, was er zu dulden haben wird, ihn erfüllen und beseligen mit jener Freude des Herrn, die dann noch in der Stunde des Leidens ihn stärken und als die beste Mitgabe ihn geleiten wird auch in die Stunde des Todes. – So, m. Fr., so ruht auf ein solches vertrautes Zusammensein, der zweifache Segen: dass wir uns genau bewusst sind der innern Führung des göttlichen Geistes, des großen Werkes der Heiligung, durch den Kampf, den wir mit der Welt aber auch mit der Sinnlichkeit unsers Herzens führen, und eben so des großen Rathschlusses Gottes mit den Geschlechtern der Menschen, mit dem Geschlechte dieser Tage und dem, was seine Stelle einnehmen wird, dass wir uns freuen des Looses, das jedem geworden ist und uns stärken und ermuntern mit innerer Kraft den Kampf des Lebens zu kämpfen, so wie jedes Guten, das uns zu Theil wird zu erfreuen und das hier erhöhte Gefühl unsrer Kraft unsers Muthes aus diesem stillen Leben in das thatenreiche dieser Welt mit hinüberzunehmen. Das ist das Leben von dem in der Offenbarung Johannes geschrieben steht: und es wird kein Leid mehr sein und kein Tod und kein Geschrei der Schmerzen, denn das Alte ist vergangen. Amen. Der du die ewige Stadt aufbaust unter den Kindern dieser Erde, von dem da ausgehen die Ströme des geistigen Wassers, das keinen mehr dürsten lässt, der du in allen sein willst, die deinem Sohn an|gehören durch das heilige Gefühl deiner Nähe: o lass unser Leben immer mehr sein ein Leben seiner wahren Jünger, die verdienen seine Brüder zu heißen, ein Leben derer, die das Irdische nicht achten, so sie das Ewige und Himmlische gewinnen. Amen.

21–23 Vgl. Offb 21,4

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Am 7. Mai 1812 nachmittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

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Himmelfahrt, 14 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 1,6–11 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SN 592, S. 121–131; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Siebente Sammlung, 1833, S. 417–438 (vgl. KGA III/2) Wiederabdrucke: SW II/2, 1834, S. 519–531; 21843, S. 518–530. – Predigten. Siebente Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 307–322. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 2, 1873, S. 406–416. – Kleine Schriften und Predigten, ed. Gerdes u. Hirsch, Bd. 3, 1969, S. 281– 293 Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Von den Verheißungen des Erlösers bei seinem Scheiden. Predigt am Himmelfahrtstage. Den 7. Mai. 12. Über Act. 1, 6–11. Auf mannigfaltige Art, m. a. Fr., hatte der Erlöser, so wohl auf seinen Tod als auf das gänzliche Hinscheiden von dieser Erde seine Jünger schon vor den Tagen seines Leidens vorbereitet. Bald waren es wenigen verständliche aber bedeutungsreiche Worte, bald waren es die innigen Ergüsse der herzlichen Liebe, bald waren es die ernsten Ermahnungen des scheidenden Freundes und Lehrers, bald waren es die trostreichen Verheißungen dessen, der auf seine Erhöhung zur Rechten des allmächtigen Vaters hoffte. Von allem dem ist nichts was sich ausschließend auf die damaligen Freunde des Erlösers bezog, alle diese Worte sind auch uns gesagt, mit der gleichen Liebe hat er alle umfasst, die durch das Wort jener an ihn glauben würden, und wie wir alle zurückgelassenen Vorschriften tief ins Herz geprägt sein lassen, so mögen wir auch unsern Theil hinnehmen an den Verheißungen, die der Scheidende seinen Jüngern hinterließ. Diese seien es denen in dieser Stunde an dem der Feier der Erhöhung des Erlösers gewidmeten Tage, wir unsre Andacht weihen. Tex t.

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Sowohl die Worte des scheidenden Erlösers selbst, als was hernach diejenigen sprachen, die die Jünger gleichsam in seinem Namen beruhigen und

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trösten sollten mussten sie alle die mannigfaltigen Verheißungen erinnern, die der Erlöser ihnen | in den letzten Tagen seines Lebens gegeben hatte. Diese lassen sich in den beiden zusammenfassen, dass er ihnen versprach er wolle bei ihnen sein alle Tage bis an der Welt Ende und dass er ihnen sagte: er wolle wieder kommen um zu richten alle Geschlechter der Menschen. – Als der Erlöser im Begriff ganz von ihnen zu scheiden, sagte: ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, so konnte damit nicht gemeint sein, als ob sie seinen Geist, den heiligen Geist gar nicht gehabt hätten, nach den Tagen seiner Auferstehung hatte er sie anschaulich bekannt gemacht mit diesem Geiste dem Hauche seines Mundes, und früher als seine Apostel auf die Frage: wer sie sagten, dass er sei antworteten: er sei Christus! spricht er: nicht Fleisch und Blut kann euch das offenbart haben, sondern die Kraft, die vom Vater ausgeht. Aber was er meint war, dass diese Kraft immer aufgeregt werde durch seine Nähe bei liebenden Gemüthern sie sei nicht für die Zeit und nichtige Bedingungen und so scheide er, sie nicht zurücklassend in Trauer und niedergeschlagenem Muthe. Jetzt sagt er ihnen: sie sollten warten zu Jerusalem bis dass sie angethan würden mit Kraft aus der Höhe und ist das nicht als wolle er sie erinnern an seine Alles Gute würkende Nähe, die immer bei ihnen sein solle bis an das Ende der Tage. Und wenn jene zu ihnen sprachen: ihr Männer von Galiläa, was stehet ihr und sehet gen Himmel? woran dachten sie anders und konnten sie denken, als an die Verheißung die er ihnen gegeben, dass er wiederkommen werde ein Herr und König, ein Richter über alles was da lebet! | Wohlan, m. Fr. diese beiden Verheißungen, an welche seine Jünger in der Stunde seines Hinscheidens so deutlich erinnert werden dass er bei ihnen sein wolle bis an das Ende der Tage und dass er wiederkomme zum Gericht[,] wollen wir, die wir in der Seele seiner Jünger es fühlen müssen, wie schmerzlich und beraubend es war [ ] nur in einer dunkeln Zukunft und glänzender Gestalt erwarten, wir wollen diese Verheißungen uns zueignen nicht als etwas Fernes und Fremdes, denn er zaudert nicht und verzeucht nicht und deswegen konnte er sagen: euch gebührt nicht Zeit und Stunde zu wissen, weil das nicht an Zeit und Stunde hängt, wollen es uns aneignen als das, was von jener Zeit an in Erfüllung ging, und immer mehr in Erfüllung gehen muss. I. Erstens lasst uns gedenken der Verheißung des Erlösers ich bleibe bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt und der beseligenden und stärken29 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von etwa zwei Zeilen gelassen. 3–4 Vgl. Mt 28,20 5–6 Vgl. Mt 25,31–33 6–10 Vgl. Joh 20,22 Mt 16,13–17 17–18 Vgl. Lk 24,49 36–37 Vgl. Mt 28,20

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den Kraft aus der Höhe die allen zufließt die Theil an ihm haben. – Ja, m. Fr. unser eignes Bewusstsein, unsre fromme und christliche Erfahrung muss es uns sagen: er ist bei uns immerdar und auf mannigfaltige Weise. – Er ist bei uns in der Schrift, er ist bei uns in den innersten und erhebendsten Aufregungen des Gemüthes, er ist bei uns in Gestalt derer, die sein Ebenbild tragen und mit Kraft und Ehre seinen Namen sichern. 1. Was er selbst sagt: ihr sucht und forschet in der Schrift | denn ihr meint ihr habt das ewige Leben darin und sie ists, die von mir zeuget, o in wie viel herrlicherem wie weit größerem Sinn ist dieses Wort wahr geworden seitdem die Erzählungen von seinen Leben und Thaten von den Seinigen aufgezeichnet, seitdem die Vorschriften aus seinem Umgange gesammelt und in diesem heiligen Worte der Schrift ist aufbewahrt worden. Wo wir auch suchen und forschen mögen mit reinem Herzen überall kommt er uns daraus entgegen überall ist er uns vorgebildet, überall sein heiliges Vermächtniss das, was uns zurückgeblieben. Was uns gesagt wird in der Schrift von der Vereinigung der Menschen mit Gott, von dem erbarmenden Reichthum der Gnade die er durch seinen Geist auf uns ausgießt, von der väterlichen Treue womit er unser Leben beschützt, wo erfahren wir es deutlicher, wo steht es uns lebendiger vor, wo ergreift es uns mehr als da, wo es sich verbindet mit den heiligen Zügen seiner Gestalt, wo er es redet, wo es aus seinem Munde in unser Gemüth hineinströmt ihn in seinem Thun vergegenwärtigt. 2. Und dann am meisten fühlen wir seine Kraft aus der Höhe in seiner zwar nicht leiblichen aber innigen und gemeinschaftlichen Nähe in seiner für fromme Gemüther unmittelbaren Gegenwart. Aber woher ist dies Wort gekommen, das von ihm zeuget als von dem Schatze den die ewige Liebe gesammelt und aufgehäuft hat? Auch die Seinigen unter den Menschen auch wir sind ihm nicht immer gleich gegenwärtig, eine Stunde zeichnet sich aus vor der andern mit reicherem Segen begabt vor Gott, und was diese in Worte nie|derschrieben aus diesem Schatz, woran ein frommes Gemüth hängt, da gewiss, wenn der Herr in seiner göttlichen Gestalt verklärt in Licht und Glanz in ihrem Gemüthe hervortrat da waren sie bemüht aufzunehmen sein Leben, jedes ewig gültige Wort seiner Lehre niederzuschreiben um die irrenden und gebeugten Herzen der Gläubigen zu trösten und zu belehren. Und wie er allen Segen, den seine ersten Jünger genossen in jenem großen und feierlichen Gebete, denen verheißen hat, die durch ihr Wort an ihn glauben werden, so ist er uns nahe in allen lebendigen erhebenden Bewegungen unsers Gemüths. Und wie er auch nach den Tagen seiner (Auferstehung und) Himmelfahrt jenem Jünger erschien, dem 6 sichern] sichren 7–8 Vgl. Joh 5,39

38–4 Vgl. Apg 9,1–19

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ersten, den er nach jenen aussandte, wie er ihn sah vom Himmel herabblikken auf die damals so verwirrungsvolle, dunkle Erde, wie er ihn sandte als ein Licht zu erleuchten die Heiden, als der erschien, zwar in heiligem Eifer für Gott, aber ihn verkennend und im Verfolgen der Seinigen begriffen, wie er nachher noch bei den Seinen war der ungewiss, ob mit leiblichem oder geistigem Auge ihn sahen, wenn sie entzückt waren durch seine göttliche Kraft; auf diese Weise erscheint er noch allen im Gemüth und jeder wird Augenblicke aufzuzeigen haben, wo er in sich fühlte eine allen irdischen Schmerz besänftigende Ruhe, und den Glanz schaute der von dem ausströmen muss, der zur Rechten des Vaters thront, wenn sein Bild in unsern Seelen aufgeht um uns eben so wie jene zu erheben, wenn die Feinde des Guten über uns herfallen, uns eben so hinzuziehen auf die Straße, die er gewandelt, ganz eben so aus der Dumpfheit uns aufzumuntern zu einem ihm ganz | geweihten Leben. 3. Und, m. Fr., wie nahe, wie oft ist er uns so nahe, als, nach seiner Verheißung, wo zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen! Ja, da ist er es noch auf eine besondre Weise, indem uns aus dem Leben und Gemüthe derer, die ihn verehren die eigenthümlichen Züge entgegenstrahlen welche in heiligen Augenblicken sich zu dem Ganzen gestalten, das ihn uns darstellt. So ist er uns nahe, muss er uns allen nahe sein. Und verklärt er sich nicht durch jede Erleuchtung des Verstandes, die von ihm ausgeht, ist irgend ein Lob, das wir nicht am stärksten in den Zügen seines Lebens erblicken, ist irgend eine Tugend, die nicht gleichsam seine Überschrift trage und von ihm abstamme? So erblicken wir ihn überall, wo wir Brüder sehen, die sich darstellen als seine Jünger, die sein Reich in der Welt zu fördern suchen und getrennt von denen die Alles wagen um den sinnlichen Genuss oder die nichts wagen um des Guten willen, mit sich und dem Pfunde, das ihnen der Herr vertraut, wuchernd erwarten ob er sie über kurz oder lang sie über weniges oder vieles setzen werde und ihn erblicken in der Kraft, in der Demuth in der Liebe kurz, zerstreut freilich und schwach und in getrübtem Glanze aber dennoch die eigentlichen, die wahren Züge seines Bildes. Ja so, m. Fr., ist er auch nach seiner Entfernung von der Erde, ohne die äußre Gestalt, nicht mehr getrennt von den Seinen, ihnen nahe bis ans Ende der Welt. II. Das Zweite aber scheint einer solchen Auslegung nicht fähig, nichts scheint ferner zu liegen als das Gericht des Herrn, es gemahnt uns als sei sein Stuhl noch nicht aufgerichtet | wenn wir gemischt sehen Gutes und Böses, wenn Leiden und Glück gleich, ja wenn man nur sagen könnte gleich vertheilt sind. Aber der Erlöser hat diese Auslegung gewollt, wenn er sagt: wer an mich glaubt der hat das ewige Leben und kommt nicht in das 16 Vgl. Mt 18,20

40–1 Vgl. Joh 5,24

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Gericht[,] wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet, denn ich bin nicht gesandt in die Welt sie zu richten, sondern selig zu machen. Was wollen wir also warten auf Künftiges? wer unter dem Gericht steht ist gerichtet, wer nicht ins Gericht kommt hat das ewige Leben, seitdem es gilt dies Wort des Herrn, ist er auch da, so gewiss als er sitzet zur Rechten Gottes und richtet die Geschlechter der Menschen. – Dies Gericht, es besteht darin, das zuerst kenntlich gemacht werden die Guten und die Bösen, dann dass sie geschieden werden von dem, der sie scheiden wird zu seiner Rechten und Linken und endlich dass sie den Lohn davon tragen werden und gehet an von dem, wo das Werk, das er ausrichten wollte vollbracht war. 1. M. Fr. Ist das nicht das Licht, womit er uns erleuchtet, jene geistige schaffende Kraft, welche im Menschen Licht und Finsterniss scheidet, dass uns durch seine Lehre kenntlich werden, je näher sie ihm gleichen oder sich von ihm entfernen, kenntlich werden die Guten und die Bösen. So viel Tausende sind von denen man sagen muss nichts Entscheidendes sei bei ihnen zu suchen und sie sprechen doch das Urtheil aus, was da Gutes sei und Böses, durch den Mund seiner Diener, so viele die | sein Wort gehört haben macht der Herr doch kenntlich die Guten und die Bösen. Ja was man hört von der verderblichen Kunst, das Böse zu verschleiern und für gut zu halten, was sich doch zeige für schlecht, diese Täuschung, können wir sagen, dass wir sie schuldlos erleiden, da jeder Tag uns weiser machen müsste, diesen Unterschied richtig zu finden, können wir uns verbergen, dass es deutliche Kennzeichen des Guten und Bösen gebe auch für einen Menschen, der reinen Sinn bei sich und andern geweckt hat für wahres Wohl? je mehr das Wort des Herrn würkt und sich die Gemüther aneignet um desto bestimmter wird jeder gezeichnet sein der sein Zeichen auch nicht an sich trägt und erkannt werden von allen Kindern des Lichts die unseligen Kinder der Finsterniss und des Zornes. 2. Aber auch die Scheidung der Guten und Bösen geht an jenem Tage in Erfüllung. Freilich umgeben sind wir von allen Seiten und gedrängt von den Bösen, dass es kaum möglich scheint dem der unsers Sinnes ist, die Hand zu reichen, aber jeder der dem Herrn gehört, ist er uns nicht nahe und jeder, der uns als ein Feind, als ein undankbarer Verleugner Christi erscheint, wie fühlen wir uns nicht von ihm geschieden, giebt es etwas, was uns mit ihm verständigen könnte, irgend ein geringfügiges Unternehmen, was wir mit ihm theilen möchten? Wie fest immer auch und nahe gedrängt wir stehen, die ungleichen Gemüther bleiben für das | Licht in der Finsterniss und 11 jene] jede

17 viele] vieler

1–2 Vgl. Joh 3,17–18

30 wir von] wir vor

6–10 Vgl. Mt 25,31–46

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[ ] Gemeinschaft ist ihnen nicht verliehen. Es kommt also nur darauf an die Täuschung zu entfernen. Raum und Zeit hinweg zu nehmen und die Tausende zu sehen, die noch nach der Stunde der Himmelfahrt anbeten. Wie nahe uns die Bösen stehen es ist eine Kluft zwischen uns befestigt, kein Wort kommt hinüber von ihnen zu uns und sie können nichts von uns annehmen als wenn wir an Christi Statt bitten ob sie sich wollten versöhnen lassen mit Gott. 3. Aber endlich was zu diesem Gericht gehört und als Hauptsache angesehen wird dass die Gerechten eingehen in ihres Vaters Reich und die Bösen in den Ort, der ihnen beschieden ist, auch das lasst uns nicht in einer entfernten Zeit an einem folgenden Tage erwarten. Greife ein jeder in seinen Busen und schaue dass und wie der Herr richtet. Oft sagen wir freilich, die Tugend sei ihr eigner Lohn, dem Frommen fehle nicht der Schutz Gottes nicht, auch in den Stürmen der Welt sein Friede, oft sagen wir, der Böse sei seines eignen Glückes nicht froh, inwendig sei der Wurm, der nicht stirbt. Aber wenn wir dann sehen, wie es Böse giebt, die verstockt sind im innersten Gemüth, und wie es keine Stimme mehr giebt, die sie verdammt, die in einem unwürdigen Genuss aber doch in Fröhlichkeit den Becher ihrer Lüste schlürfen, und auf der andern Seite, wie freilich | der Fromme den Frieden Gottes in sich trägt, aber höher als die menschliche Vernunft, wie ungeduldig er harrt auf den Tag des Herrn, wie traurig er weint über jeden misslungenen Versuch das Gute auszubreiten, wie bitter er sich verzehrt in dem Hohn und Spott derer, die ihn nicht beurtheilen können: wo ist da die Seligkeit für die eine, wo das Entbehren auf der andern Seite? Aber noch einem andern höhern Standpunkt lasset uns nehmen, wo wir den Frommen erleuchtet sehen von dem Lichte, das von oben strahlt, wissend, dass ja allemal im Streit und durch den Streit etwas gewonnen werden könne über das Böse, und so über das Zeitliche hinaus im Ewigen beruhend und so sich erfreuend in Gott, stark genug über das Betrübende des Augenblicks hinwegzusehen, stark genug um getröstet zu werden über das, was der Gegenwart fehlt; auf einen höhern Standpunkt uns stellen wo das thierische Vergnügen was der Böse genießt, uns nicht als Glück erscheint, sondern wo wir betrachten den Verlust, den er leidet an dem göttlichen Ebenbilde das Abnehmen der Kräfte im Menschen, das Versinken unter die Botmäßigkeit sinnlicher Naturgewalt, dass der verliert, der da nicht mehr erhält auch das, was er hat, wie der Erlöser sagt und wir werden nichts verlangen als das 1 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von etwa eineinhalb Zeilen gelassen. 7–8 Vgl. 2Kor 5,20

20–21 Vgl. Phil 4,7

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um die göttliche Gerechtigkeit an diesen in ihrer ganzen Strenge zu erkennen, und den Trost [ ] ohne zu wanken im Glauben. | So waltet der, der zur Rechten Gottes sitzet, so segnet er und beglückt und leitet die, die seine Stimme hören und ihm folgen, die dieses Sinnbild Gottes in sich gestalten lassen, und so richtet er jene Ungläubigen. So lasset uns ermahnen, wie jene, nicht gen Himmel zu sehen, sondern auf die Erde, da wird er uns entgegen kommen in seiner Liebe und seiner Macht, da lasset uns näher an ihn schließen, damit wir auch seiner beglükkenden Nähe gewürdigt werden, dass auch bei uns in Erfüllung gehe, was er seinen Jüngern anvertraut, dass wenn auch wir binden und lösen die Sünde sie behalten oder vergeben sei und auf demselben Stuhl mit ihm nach seinem Sinn und Gesetz richten die Geschlechter der Menschen. Amen.

3 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von etwa einer Zeile gelassen. 6 Vgl. Joh 10,27

12–13 Vgl. Joh 20,23

13–15 Vgl. Mt 19,28; Lk 22,30

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Besonderheiten:

Exaudi, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Petr 4,8–10 (Sonntagsperikope) Nachschrift; SN 592, S. 133–142; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 152–175 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 478–491; 21843, S. 464–477. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 117–134. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, S. 459–470; 21876, S. 459–470 Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Wie wir eine Zeit, zwischen großen Ereignissen liegend anwenden sollen. Predigt am Sonntage Exaudi. Den 10. Mai. Über 1Petr. 4, 8–10.

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M. a. Z. Am Tage der Himmelfahrt unsers Herrn haben wir uns mit einander dessen erfreut, dass an uns die großen Verheißungen, die er seinen Jüngern zurückließ, vorzüglich die Verheißung seiner geistigen Nähe und Gegenwart in Erfüllung gehen können. Wenn wir weiter hinaussehen auf das uns bald bevorstehende Fest, an welchem wir die rechtliche Ergießung der göttlichen Kraft zur ersten Pflanzung seines Reiches begehen, so können wir auch nicht anders als dankbar bekennen, was Gott an jenen getan hat, das thut er auch an uns. Jeder unter uns soll und wird Augenblicke seines Lebens nachweisen können, wo er sich eine göttliche Kraft erworben, wo auch er sich besser fühlte, etwas Größeres, Heiligeres, Bleibenderes zu würken, als der gewöhnliche Lauf des Lebens darbietet. Aber jene Augenblicke sowohl, wo der Herr uns nahe ist, als diese, wo eine geistige Kraft Gottes auch in uns ein und aus uns ausströmt, es sind die köstlichsten Augenblicke unsers Lebens. Und darin sind wir, m. Fr. dem größten Theil nach den Jüngern unsers Herrn nicht gleich. Ein kleiner Zeitraum ist es, der jenen zwischen dem lag, was sie in seiner Nähe genossen hatten und dem, was ihnen in reichlicher Ergießung des heiligen Geistes am Tage der Pfingsten ward, was 20 Pfingsten] Pfingsten ihnen 4–7 Vgl. 7. Mai 1812 nachm.

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ihnen nichts Vorübergehendes war, son|dern eine bleibende und dauernde Gabe sein musste. Zu einem so hohen und großen Beruf sind nur die wenigsten unter uns bestimmt, nicht unser ganzes Leben ist so einem bezweckenden Darstellen Gottes bestimmt, sondern jeder kann sich selig preisen, wenn es nur eine Zeit seines Lebens gegeben hat, die sich so auszeichnet. Daher nimmt der größte Theil unsers Lebens eine solche Zeit ein, die wir vergleichen können mit der der Apostel zwischen seiner Auffahrt bis zur Ausgießung seines Geistes, eine Zeit, wo ihnen auch der Geist einwohnte, denn sie hatten ihn schon lange empfangen, wo der Herr nicht fern war, der nie ganz von ihnen getrennt war, aber wo der große Charakter ihres Lebens und Berufs gleichsam verschwunden war, wo ihr Beruf still und unbedeutend, ihre Kraft nicht auf höhere Weise erregt war. Wie nun solche Zeit so viel bedeutet, einen je größern Theil sie bei uns einnimmt desto mehr müssen wir sie zu hohen Augenblicken richtig [ ] und zweckmäßig anzuwenden wissen.

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Diese ermahnenden Worte des Apostels beziehen sich ganz auf den gewöhnlichen Zustand der Menschen. Es ist darin nicht von einer besonders gesteigerten Aufregung des Gemüths, nicht von einer besondern Würkung nach außen, wohin die Menschen ihre Thätigkeit richten sollen, sondern von dem ruhigen Zustande eines frommen Gemüths und den Erweisungen, die sich auf den gewöhnlichen Lauf der menschlichen Dinge beziehen, die Rede. Lasset uns betrachten, wie wir, wie ich es vorher angedeutet habe, | eine Zeit, so zwischen großen Ereignissen in der Mitte liegend, anwenden sollen. Wir finden dazu in den Worten unsers Textes eine dreifache Anleitung: I. ermuntert der Apostel zum Gebet II. zur Liebe III. zur treuen Benutzung der Gaben, die jeder bekommen hat, und das ist in dem angegebenen Sinn näher zu erwägen. I. So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet, das ist die erste Ermahnung des Apostels, nachdem er vorher daran erinnert hat, dass das Ende der Tage nahe herbei gekommen wäre d. h. eben jenes Ereigniss, wie die Apostel damals es sich dachten, wo der Herr, wie sie meinten wieder erscheinen und alle geschäfftig sein würden die große Trennung zwischen Guten und Bösen bewürken zu können. Seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet. Wir sehen wie der Apostel auch schon durch seine Ausdrücke auf einen Zustand hinweist, in dem wir uns gewöhnlich befinden. Nicht von der Begeisterung zum Gebet nicht von dem erhöhten Zustande, wo der Mensch seiner Gemeinschaft mit Gott sich besonders bewusst wird, son38 Gebet] Gebet ist

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dern nüchtern und wachsam ermahnt er uns zu sein zum Gebet, weder ausarten zu lassen in Dumpfheit der Gemüther, welches der Schlummer der Seele ist, noch auch sie andern Beschäfftigungen zu widmen, sondern auf das Gebet hinüberzulenken. Wenn wir den Ausdruck Gebet in seiner ganzen viel umfassenden Bedeutung nehmen, so wird sich zeigen, was der Apostel gemeint hat. Wodurch anders, als durch stille Beschäfftigung mit Gott erhalten wir uns | in dem Lauf der irdischen Dinge jene heilige Sehnsucht nach dem Ewigen und Besseren, die nie in uns versiegen soll. Ach, nur gar zu leicht und das ist die Gefahr, wovor der Apostel warnen will, gar zu leicht beruhigen wir uns bei einer [ ] bei der unvollkommenen Gestalt, welche bei dem gewöhnlichen Lauf der Dinge auch die Gemeinschaft der Gläubigen darstellt. O, das sollte nicht sein, m. Fr. wer sich begnügt an dem, was da ist, der wird zu leicht die herrlichen Augenblicke, die nur selten eintreffen, ungenutzt vorübergehen lassen, und darum, o erhaltet euch das Andenken an die Augenblicke, wo die himmlische Flamme in euch entzündet ward und ihr mit vorzüglicher Lebendigkeit zur Vollbringung alles Guten ausgerüstet waret. Wenn dann auch nicht der Erlöser immer so deutlich vors Auge tritt, nicht auch die ganze Ergießung des Geistes Folge des nüchternen Gebetes ist, dass doch die Sehnsucht nach dem Ewigen und Bessern nicht ganz von euch weichet und ihr nicht in die Anfechtung und Versuchung zur Sünde fallet. – Es gehört dann aber auch dazu, was der Mensch durch stilles in sich selbst gezogenes Handeln von sich selbst und in der Nähe Gottes zur Reinigung seiner Seele thun kann und auch darum lasset uns im gewöhnlichen Verlauf der Dinge, in Erwartung des Großen, das da kommen soll nüchtern sein zum Gebet. In besonders feierlichen oder besonders angestrengten und aufgeregten Augenblicken zieht sich was noch unrein ist im Menschen gleichsam auf den Boden zurück, liegt niedergedrückt unter der großen Kraft des Göttlichen ohne sich zu regen, aber im gewöhnlichen Lauf der Dinge tritt das Recht das freilich verjährte Recht der alten Gewohnheiten und Neigungen wieder in ihre volle | Thätigkeit, weil wir keinen Zweck vor uns sehen, wozu wir uns anstrengen sollen und kommen dahin der Sünde, die so leicht die Gestalt der Unschuld annimmt, einzuräumen, was über sie schon gewonnen war. Dann lasset uns aus dem gefährlichen Lauf der Dinge zurückkehren in unser Gemüth, wachsam sein und betrachten, was wir gewesen sind und zu thun haben, so lange wir noch dem Bösen vorbeugen und den Zustand, den wir nie verlassen sollten, wieder herstellen können, ehe denn ein Tag kommt, wo wir es nicht können. 1 weder] werden gelassen.

11 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von beinahe einer Zeile

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II. Ermahnt der Apostel zu brünstiger Liebe untereinander. O, m. Fr. niemals werden die Jünger des Erlösers diese Liebe so gefühlt haben, als in den großen Tagen, wo sie alle erfüllt wurden mit Kraft aus der Höhe, wo jeder im andern weniger sich selbst als das göttliche Feuer sah, welches sie alle belebte, wie sie von diesem Feuer beseelt dastanden, dem ganzen Volke gegenüber, welches dastand, von einem andern Geiste beseelt, als der Stoff, den sie bearbeiteten, dem sie widerstehen sollten. Ja, wenn Anfechtungen von außen kommen, die die Menschen zusammendrängen, wo die Entwickelung ihrer Anfechtungen sich aussprechen muss in dem, was sie von Gott beseelt sich berufen fühlen zu thun, da tritt die Inbrunst der Liebe hervor, da verschwindet das kleinliche Wesen und jeder verachtet es sich zu trennen von dem großen gemeinsamen Bunde. Aber, m. Fr. lasst uns bedenken: würden die Jünger dieser Liebe fähig gewesen sein, wenn sie vorher einmüthig gewesen waren bei einander, in Liebe im Tempel, in Liebe in ihren Häusern, das Brodt brechend, das sie an die große Liebe des Herrn erinnerte, aufnehmend gastfreundlich | die Brüder? so werden sie uns beschrieben in jener Zeit zwischen der Auffahrt des Herrn und dem Feste der Pfingsten, einmüthig bei einander, sich nicht loslassend, sondern unermüdet sich die Hand reichend und beistehend und theilend, was auch der gegenwärtige Augenblick gab. O, m. Fr. wenn unser Blick auf Tage der Zukunft gerichtet ist, wo wir zu etwas Größerem als das Gewöhnliche berufen sind, lasset auch jetzt uns brünstig sein in Liebe, vorbereiten jene Kraft, ohne welche der Mensch nichts kann und nach Gottes Willen nichts soll. Von jenem Worte des Apostels: seid gastfrei unter einander bis zu dem Austausch der Überzeugungen von den wichtigsten Gegenständen des Lebens [ ] in fester Zuversicht, dass ein jeder auf den andern rechnen könne [ ] Ach, in dem gewöhnlichen täglichen Lauf der Dinge ist zu viel dieser Liebe entgegen, zu leicht verlieren wir das Gemeinsame aus den Augen und es erscheint bei unsern Brüdern mehr, was ihr entgegen ist, als was mit ihr würken soll. Darum lasst uns in solchen Zeiten erhalten das Bewusstsein der brünstigen Liebe gegen die, die mit uns sind eines Geistes und wenn der Augenblick kommt, der uns auffordert etwas Großes durch uns und für uns zu bewürken, dann werden wir auch alle für einen stehen und wenn nicht allen gegeben ist zu reden und so thun doch die welche reden ihre Kraft in den andern finden durch die gemeinsame Kraft des Geistes zu leiten und zu handeln. |

24 jenem] jenen gelassen. 3 Vgl. Lk 24,49

27 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von beinahe einer Zeile

14–15 Vgl. Apg 2,46

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III. Endlich ermahnt der Apostel zu derjenigen Erweisung der beiwohnenden Kraft des Guten, die jede Zeit mit sich bringt: dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes. Wen, m. Fr. sollten diese Worte nicht erinnern an manche ähnliche des Erlösers selbst, indem er neben einander stellt, die mancherlei Gaben und das gemeinsame Maaß derselben, welches die Menschen empfangen haben und indem er die große Warnung giebt, dass dem, welcher am Tage der Rechenschaft nicht würde Früchte aufzeigen können von dem was ihm anvertraut worden, auch genommen werde, was er hat, wer aber treu gewesen über Weniges dann gesetzt werde über Vieles. – Ja, m. Fr. das lasset uns nicht vergessen im gewöhnlichen Lauf des Lebens. Es ist eine allgemeine vom Wege des Bessern führende Abweichung, dass der gewöhnliche Lauf der Dinge die Menschen dumpf, gleichgültig, missvergnügt macht, dass der, welcher Gaben in sich fühlt meint, es sei kein würdiger Gegenstand da, sie anzuwenden und besser sie zusammenzuhalten, es sei unnöthig, sie vor einem so gleichgültigen Geschlechte, in so gleichgültigen Zeiten verwenden zu wollen. O, das ist ein gefährlicher Wahn, der da zu führt nicht zu haben, da wo man braucht und wie sollte diese Stimmung nicht angewandelt haben. Ein jeder wird wissen, dass sie träge macht und stumpf und dass unsre Unzufriedenheit wenn sie uns erst in Unthätigkeit gesetzt hat, uns dahinführt, dass wir die Gaben der höhern | Kraft verlieren, dass sie, wenn wir sie äußern möchten uns dann nicht mehr zu Gebote stehen, da wir sie ohne Übung gelassen. Darum lasst uns treulich dienen mit der Gabe, die jeder empfangen hat, wir haben nicht nöthig zu sparen, denn wir haben einen gütigen und reichen Herrn, der mehr mittheilt des Guten, was wir aufgewendet, lasset uns ausspenden die Kraft, auch in dem uns nicht genügenden Laufe der Dinge, lasset uns würksam sein und sei es auch nur wenig, es kommt auch zum Vielen und nicht bange sein, dass wir arm werden, dann wird er uns immer mehr geben, dann werden wir je größer der Gegenstand ist immer mehr fühlen von der Kraft, die sich in die ergießt die in der einmüthigen Liebe ihn berühren und sich ihm nahen. Lassen wir uns aber einschläfern, wie wollten wir Rechenschaft geben von dieser bedeutenden Zeit des Lebens! Warten wir auf große Augenblicke, diese Erwartung kann uns doch täuschen, weit hinaus kann sich ziehen, was wir im Auge haben, es könnte die letzte Stunde unsers Lebens schlagen und worauf wollen wir unsre Ansprüche gründen über mehr gesetzt zu werden, wenn wir mit dem Kleinen nicht treu gewesen sind? – Lasset uns auf den Herrn und seine Jünger sehen. Wie oft sehen wir den, der zur Erlösung des ganzen menschlichen Geschlechts gekommen war mit Einzelnen sich beschäfftigen, oft nur seiner äußern Lage, dem geringfügigen Übel des Lebens abhelfen, ja so wenig das Kleine übersehend, dass er sogleich | 4–10 Vgl. Mt 25,14–30; Lk 19,12–27

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fühlt und inne wird, wenn solch eine Kraft von ihm ausgeströmt war. Dadurch, m Fr. lasset uns ihm gleich werden, durch die Liebe, die sich im gewöhnlichen irdischen Leben zeigt, durch die treue Verrichtung der Geschäffte, die nichts Großes sind, aber nothwendig und unentbehrlich um die Gesellschaft der Menschen in dem Zustande zu erhalten aus dem etwas Großes hervortritt, das menschliche Geschlecht zu üben dass es heranreife, wo es zum Großen berufen wird darum lasset uns treu sein in Wenigem, damit es uns nicht fehle über Vieles gesetzt zu werden, wenn die Zeit kommt, wo Vieles ausgetheilt wird und geschehen kann. Darum wenn wir nicht anders als in brünstiger Liebe und als die treuen Haushalter Gottes, wenn wir so in Frömmigkeit, Liebe und treuer Geschäfftigkeit des Tages harren, wo der Herr auf eine herrlichere Weise kommt, werden wir gleich sein denen, von welchen er sagt, dass sie dem Bräutigam entgegen gegangen waren und weil sie Öhl mit sich genommen waren ihre Lampen nicht verlöscht in der Dunkelheit der Nacht und sie geleiteten den Bräutigam, dagegen die andern, die kein Öhl hatten, nicht finden konnten und umkehren mussten und nicht eingelassen wurden, als der Tag der Geschäfftigkeit und nachher der Freude kam. Er hat uns gezeigt, was die wahre Weisheit, die stille | Klugheit der Kinder Gottes sei. Lasst uns ihm folgen und gewiss sein, dass die, die nur im gewöhnlichen Lauf der Dinge des Evangelii würdig gewandelt und darin fest und unwandelbar gewesen sind, in andern Zeiten Größeres zu bekommen und den Genuss einer andern höhern Seligkeit zu fühlen, bestimmt sind. Amen.

1 Vgl. Lk 8,46

13–18 Vgl. Mt 25,1–13

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Am 21. Juni 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

Besonderheiten:

4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 7,24–34 Nachschrift; SN 592, S. 143–158; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 205–223 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 510–521; 21843, S. 496–507. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 157–170. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 485–494 Nachschrift; SAr 27, Bl. 41r–44v; Matthisson Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Wie in großen Wendepunkten die Würdigen sich unter einander und gegen die Unwürdigen beweisen. Predigt am 4. Sonnt. nach Trin. den 21. Juni. 12. Über Luc. 7, 24–34. 5

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Dass diese Welt, m. a. Fr., ein Schauplatz eines beständigen Wechsels ist, das ist den Kindern derselben das Erfreulichste, denn nur in dem Neuen vermögen sie ihr Dasein, wie sie es wünschen, zu genießen, sie sind unterworfen, gegen das, was veraltet, abgestumpft zu werden, und ihre Neigungen bedürfen eines immer sich erneuernden Kreises, wogegen diejenigen, die ein geistiges Leben zu führen streben, es das ist, wovon ihre Beschwerden und Klagen über diese Dinge am meisten ausgehen, weil sie es fühlen, wie die menschliche Schwachheit, durch diesen Wechsel am meisten aufgeregt, die Ruhe und Stille des Gemüths, wodurch der Mensch seine Seligkeit schafft, zerstört, ihn von diesem losmacht und in jenes verwickelt, seine Augen und Hände von dem abgezogen werden, was ihm das Wichtigste ist; dann ist es eben das Wechselnde des Lebens, wo er der Kraft und der Richtung des Gemüths auf das Höhere am meisten sich bedürftig fühlt, da wo er gewahr wird, wie er der Haltung bedarf um in sich selbst das Unveränderliche aufrecht zu erhalten gegen alles Bewegliche und Veränderliche um ihn her. Darum sehen wir schon in Einzelnen, wie | es sich äußert als einen hohen Grad des Glaubens und der Frömmigkeit, wenn wir bei dem Wechsel des Äußern unsre Stellung behaupten, wenn uns das von

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unserm Ziele nicht abführen und irre machen kann. Aber wie ist es dann, wenn der Wechsel das trifft, was das Wichtigste ist, wenn [ ] untergeht wenn entgegengesetzte Ansichten unter einander sich theilen und diejenigen, die die liebsten sich waren durch eine gewaltige Kluft sich getrennt fühlen, dann gilt es die Kraft eines festen Gemüths, welches an die Kraft des Göttlichen gewöhnt, diesen Veränderungen nicht mehr unterworfen ist, zu bewähren, dass es auch da in sich gleich bleibt. Das sind die Zeiten, wo die Würdigen und die Unwürdigen am meisten sich zeigen, die, welche dem Bösen widerstehen und die, welche ihm nur unterworfen sind und Alles andre um sich [ ] wissen. Lasset uns überall, wo das Veränderliche am stärksten sich offenbart, wie der Göttliche und Ungöttliche handelnd gegeneinanderstehen, das lasset uns lernen aus einer Betrachtung unsers Erlösers, die ich euch vortragen werde.

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M. a. Fr. Uns alle gewiss muss die größte Veränderung in der ganzen Entwicklung des menschlichen Geschlechtes diejenige erscheinen, als aus dem alten Bunde der neue hervorging, bestimmt das Gechlecht der Menschen auf immer zu beseligen und zu Gott zu führen, in sich selbst freilich mancherlei Veränderungen unterworfen, dennoch | fähig und bestimmt ein ewiges und unvergängliches Reich Gottes zu bilden. In diesem Scheidepunkte trafen zusammen Johannes und Jesus, jener der letzte in dem alten Bunde wahrhaft Gott gesendete Mann, dieser der Anfänger des neuen, der Herzog des Glaubens, der den Menschen in das hellste Licht setzen und auf immer sichern sollte die ewigen Güter. Die Worte unsers Erlösers, die wir jetzt angehört haben, beziehen sich eben auf diesen Scheidepunkt, der den Menschen damaliger Zeit dargeboten wurde. Von sich und vom Johanne redet der Erlöser und von der Art, wie der große und der unwürdige Haufe des Volks beide aufnahm. Seine Worte geben uns Anleitung über das, was ich oben vorher eingeleitet, näher nachzudenken, indem wir betrachten wie in großen Wendepunkten der menschlichen Dinge die Göttlichen und Würdigen der Menschen sich gegen einander und wie sie sich gegen die Unwürdigen beweisen. [I.] Der Erlöser, m. a. Fr, rechnet den Johannes den Täufer nicht unmittelbar zu den Seinigen, denn er stellt in seiner Rede einen Gegensatz auf zwischen ihm und denen, die in dem neuen von Jesu zu stiftenden Reiche eingehen würden: er ist der größte, sagt er, unter den Propheten, aber der Kleinste im Reiche Gottes ist größer denn er. Wie beide, so lange sie zusammenwürkten, sich gegen einander verhielten, das sehen wir aus | dieser Äußerung des Erlösers und aus einzelnen Worten des Johannes über ihn. Wir können es so zusammenfassen: jeder erkannte den andern an als das, was er war, aber jeder ging auch seinen eignen Weg ungestört fort. So, 12 lasset] lernet

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m. Fr. erkennt Johannes unsern Erlöser in seiner Rede an das Volk, das ihn in so zahlreicher Menge umgab, er hatte seit der Zeit, dass Jesus selbst aufgetreten war keinen andern Endzweck, als den auf ihn hinzuweisen, als denjenigen, der ein weit größeres Geschäfft triebe, einen weit höheren Beruf hätte als er, mit dem er nicht wagte sich zu vergleichen, wenn er sagt, dass er nicht werth sei ihm die Schuhriemen aufzulösen und von dem er anerkannte: er muss wachsen ich aber muss abnehmen. Aber dennoch wendete er sich nicht selbst ein Schüler Jesu zu werden, sondern blieb auf dem ihm angewiesenen Wege. Mit derselben Strenge, auch nachdem der Milde und Liebevolle aufgetreten war, mit derselben Strenge rief er das Volk zur Buße, zur Anerkennung seiner Sündhaftigkeit und seines Verderbens und zeigte, wie es ihnen obläge sich zu dem zu wenden, von dem allein ihr Heil ausgehen würde. So erkannte auch der Erlöser den Johannes an: Wahrlich! ich sage euch, fährt er fort, nachdem er seine strenge Tugend und Rechtschaffenheit in Vergleich gestellt hatte mit denen, die auch das Wort Gottes zu lehren vorgaben, aber nach dem herrschenden Ver|derben der Menge und den Mächtigen der Erde sich fügten, wahrlich, ich sage euch, dass unter allen, die von Weibern geboren sind kein größerer Prophet ist, denn Johannes. Nie hat Johannes Zeichen und Wunder gethan, denn gewiss würden die Geschichtsschreiber uns das nicht verschwiegen haben, er that kein anderes Zeichen, als dass er mit dem Feuer der Rede tief einbrannte in die verhärteten Gemüther der Menschen; er sagte auch nicht vorher weit entfernte, zukünftige Dinge, welche dasjenige betroffen hätten, worauf die Gemüther damals gerichtet waren, und wovon die alten Propheten geweissagt hatten, von den Begebenheiten und Schicksalen des Volks: sondern sein Geschäfft war, dass er, auf der einen Seite, das Gesetz, dem das Volk huldigte, ausüben lehrte und was nachher der große Apostel, der sich am meisten um die Verbreitung des Christenthums verdient gemacht, davon sagt, dass nichts aus dem Gesetz ausgehen könne als die Erkenntniss der Sünde, dass er dazu und zur Sinnesänderung aufforderte, und dann, dass er zeigte und hinwies auf die Ordnung der Dinge, der er aber selbst noch nicht huldigte, während er immerfort drang auf die Haltung des Gesetzes, das er selbst mit gleicher Strenge beobachtete, worin aber, wie er wohl musste nichts anders ausgehen konnte als dass man eine andere Kraft, die aber nicht außerhalb sein könnte, sondern in dem Men|schen würke, als ein tiefes Bedürfniss fühlen lerne. Darum, weil eben dies das wahrhafte Geschäfft aller Propheten des alten Bundes gewesen war die Menschen zurückzuführen von allen Verirrungen des Herzens, und immer deutlicher die Hoffnung des großen Heiles auszusprechen, darum war Johannes der größte unter allen Propheten. Aber indem er ihn so anerkennt, setzt er hinzu: wer aber der Kleinste ist im Reich Gottes, der ist größer, denn er! und 6 Vgl. Mk 1,7; Lk 3,16

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29–30 Vgl. Röm 3,20

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verschweigt es nicht, weder sich noch andern, dass die neue Ordnung der Dinge, die er zu gründen gekommen war, in welche aber Johannes nicht hineinreichte, eine weit größere Herrlichkeit in sich schlösse als Alles was auch die glänzendsten Zeiten und Erscheinungen des alten Bundes dargeboten hatten und indem er es ausspricht und Johannes es demüthig anerkennt, stimmen wieder beide zusammen. – O, m. Fr., lasst uns zuerst doch nicht das große Wort vergessen: was streben wir anders, als nur der Kleinste zu sein im Reich Gottes und wenn wir es sind, sind wir größer als alle die ausgezeichnetsten, die in früheren Zeiten vor der Mittheilung des Evangeliums geglänzt haben. Der Antheil, den wir haben an dem Leben Christi, die Züge seines Bildes, die sich in uns einzeln gestaltet haben, sichern uns eine solche Herrlichkeit zu, die sind es, die uns auch in seinen Augen einen so | hohen Werth beilegen. Aber lasst uns dasselbe auch im Allgemeinen auf ähnliche Verhältnisse im Leben anwenden. Das Reich Gottes, wie es auf Erden gegründet werden soll, die ewigen Verfügungen des Höchsten mit dem Geschlechte der Menschen nehmen wechselnde Gestalten an. Mit Beschränkung und Unvollkommenheit muss Alles beginnen und allmählich nur kann daraus das Höhere und Vollkommnere hervorwachsen und nicht immer ein fortwährendes Fortschreiten bietet die Geschichte uns dar sondern oft ein längeres Verweilen auf derselben Stufe und dann wird er, aber nicht ohne Streit und Kampf, aber nicht ohne Reibung und Verwirrung und Zerspaltung der Gemüther ein plötzliches Hervorbrechen eines neuen Lichtes, worin sich herrlicher die höchste Kraft, wovon Alles ausgeht, offenbart. Nicht allen ist es dann gegeben in dem ersten Beginnen schon Theil zu nehmen an dem Nächsten, das sich regt, wenige nur immer sind ihm näher durch ihre Natur und von schnellerem Eifer beseelt, gehen voran und brechen andern die Bahn, andere durch Gewöhnung, durch Eigenthümlichkeit ihres Sinnes durch eine frühere und feste Richtung des Gemüths bleiben geheftet an das Alte; aber wie sich auch die Menschen theilen mögen, die Würdigen unter ihnen, die Erleuchteten von denen ist fern jede feindselige Leidenschaft der Hass und die Eifersucht. Die Geringschätzung und | verderbliche Parteilichkeit, sondern sowohl die dem Neuen als die dem Alten sich zugesellen, beide erkennen in beiden das Werk Gottes und jeder sucht auf seine Weise und in seinem Sinne das Gute zu stiften und zu fördern und die Menschen Gott zuzuführen, beide haben das richtige Gefühl dass das Alte vergehen muss, um dem Neuen Platz zu machen was beginnt; aber jeder sieht auch, dass es nicht nur darauf ankommt dass das Neue beginne, sondern auch, dass das Alte würdig ende. Wie jenes Jesus Geschäfft war, so dieses Johannes. Das Neue zu begründen war Jesus gekommen und in dem Gefühle des wesentlichen Bedürfnisses eines Neuen das Alte endigen zu lassen, das war es, wonach Johannes strebte und alles Ehrfurchtgebietende der alten Ordnung, alle Strenge des Gesetzes, alles Ansehen, was der Name eines Propheten ihm gab zu Hülfe rufend würkte er mit göttlicher Kraft

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ausgerüstet und mit heiligem Eifer entflammt auf sein Volk, ohne selbst das Gebiet, was ihm durch seine Natur angewiesen war, zu verlassen. Er sollte zwar das Neue sehen, wie Moses von der Höhe des Berges herab das gelobte heilige Land und selbst bis an die Grenze sein Volk geleiten und es stärken und vorbereiten um das Land der Verheißung das gemeinsame Erbe durch Kampf zu gewinnen, er selbst aber sollte in seinem zeitlichen Leben nicht hinein | gehen. So lasset uns, wenn wir menschliche Dinge in einem Wechsel begriffen sehen, die mit eben so tiefer Achtung ehren, mit welcher Jesus von Johannes redet, welche wohl begreifen die Zeichen der Zeit, tief durchdrungen sind von der Nothwendigkeit eines Neuern Bessern, aber einen festen Beruf fühlen für sich selbst der alten Gestalt, dem was untergehen will anzuhängen und es durch ein würdiges Dasein auf der einen Seite zu verherrlichen und auf der andern Seite es leise der neuen Gestalt der Dinge anzunähern. Und so mögen auch die, welche so an das Alte geknüpft leben, darum sich nicht scheuen, wie Johannes zu bekennen mit gleicher Redlichkeit, dass was sich nahe das Große und Herrliche sei, mögen sie alle Kräfte, alles Ansehen, allen Einfluss, der ihnen zu Gebote steht, benutzen, wie Johannes, um zu zeigen, wie noth das neue Heil thue, wie wenig bei dem gegenwärtigen Geschlechte zu leisten ist als das Gefühl des tiefen Verderbens (und dass ein Neues Bedürfniss ist) einzuflößen was nur durch eine neue Ordnung ausgerottet werden kann, und es kann nicht fehlen dass uns diese Gegensätze überall aufstoßen. Ich will nicht reden von dem großen Gegensatze des Ewigen mit den Dingen, die wir die weltlichen nennen und die einen großen Einfluss haben auf das Reich Gottes, aber bleiben wir nur bei jener Verschiedenheit des alten und neuen Bundes stehen, es ist noch immer | dieselbe große Scheidung im Werden und überall tritt uns der Gegensatz entgegen. Es giebt eine Sitte, eine Lebensweise eine Gesinnung im Christenthum, welche die Züge und die Gestalt des alten Bundes trägt, es giebt einen mildern heitern Charakter desselben, ganz dem ähnlich, welchen Johannes gegenüber Christus aufstellt. So theilten sich schon seine Jünger und so sehn wir noch immer in und neben einander diese Gestalten. Aber keiner wird es leugnen, dass in der letztern das vollere Heil, der ewige Friede Gottes sich offenbart und dass das Andre zum Vergehen bestimmt ist. Lasst uns beide ehren und jeden ungestört seines Weges gehen, im herzlichen Vertrauen, dass auch er zu demselben Ziele gelangen werde, da er erkannt hat und in sich trägt das, wovon alle wahre Seligkeit allein ausgehen kann. II. Aber lasst uns nun zweitens sehen, wie sich Jesus und Johannes betrugen gegen die große des neuen Heiles unwürdige Menge des Volks. Der Erlöser beschreibt sie uns in dem letzten Theile seiner Rede. Wir unter2–7 Vgl. Dtn 34,1–4

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scheiden darin zwei verschiedene Stufen der Unwürdigkeit und des Verderbens. Auf der einen Seite schildert er uns den Wankelmuth und die Unentschlossenheit der großen Menge, die wohl das Bedürfniss nach einem Bessern fühlte, aber die Kraft nicht anwenden wollte um es sich zuzueignen, die mit | unstetem Sinn bald das Eine als das Vortrefflichere begehrt, bald von dem Andern hingerissen wird, aber nirgends bildet sich eine bestimmte Nachfolge, nirgends geht das Gute ein in ihr Innres und wird eine Quelle des gemeinschaftlichen Wohlergehens, sondern das Alles sind nur auf der Oberfläche spielende Eindrücke und sie versinken entweder in den Schlamm der Unthätigkeit und Trägheit oder werden eine Beute derjenigen, die von einer bestimmten Feindschaft gegen das Gute ausgehend wohl wissend diese schwankende Menge an sich zu reißen und zu ihren selbstsüchtigen Plänen zu gebrauchen. Diese stellt uns der Erlöser auf als die, die immer anders bewegt werden, da er spricht: Johannes der Täufer ist gekommen und aß nicht Brodt und trank keinen Wein, so sagen sie: er hat den Teufel! des Menschen Sohn ist kommen, isset und trinket, so sagen sie: Siehe der Mensch ist ein Fresser und Weinsäufer, der Zöllner und Sünder Freund! M. Fr. wie betrugen sich die beiden Helden der damaligen Zeit gegen diese unwürdige, theils gesinnungslose, theils verworfene Menge? Ach, dass der große Haufe sich um sie her sammelte konnten sie nicht ändern, und beide fühlten es schmerzlich, dass er so beweglich und empfänglich erscheint und sich doch nichts Gründliches und Bleibendes in ihm und aus ihm bilden ließ. So kamen sie zu Johannes in die Wüste und lie|ßen sich von ihm rühren und erschüttern von seiner gewaltigen Rede, nahmen die Taufe an zu besserm Leben und Wandel und gingen wieder fort die alte Bahn. So liefen sie dem Erlöser nach, nicht nur in die Tempel, auf die Märkte und Straßen, sondern selbst in die Wüste folgten sie ihm, wo er so gern bisweilen mit den Seinigen allein gewesen wäre; so lauschten sie den Worten der Weisheit aus seinem Munde, so schmeichelten sie sich mit einer neuen Gestalt der Dinge mit Hoffnungen des göttlichen Reiches. Aber, wenn dann eine kräftige und harte Rede aus seinem Munde kam, wenn er sie aufforderte sich entscheidend zu erklären für ihn und dem Streben nach dem Irdischen zu entsagen, wenn sie ausdauern sollten in Verfolgungen und Leiden und seinen Kelch trinken und sein Kreuz auf sich nehmen, dann ging die große Menge hinter sich und wenn sie heute ihn noch bewillkommt, als den der gesandt war aus der Höhe, als den unbezweifelten Fürsten der Herrlichkeit, so waren sie morgen dazu bewogen, dass sie ihn steinigen wollten als einen Gotteslästerer, dass sie bereit waren ihn seinen 3 einem] einetm 30–34 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23 34–37 Vgl. Mt 21,9; Mk 11,9–10 38 Vgl. Joh 10,33 38–1 Vgl. Mt 27,22; Mk 15,13; Lk 23,21

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Feinden auszuliefern und das Kreuzige über ihn riefen. So kannte sie der Erlöser, wusste wie wenig von dem neuen Leben und Heil aus diesem Geschlechte hervorgehen werde, so pries er nur die Kinder selig, die noch in der Unschuld spielten | und die, wenigstens zum Theil, wenn die Gerichte des Herrn eintrafen, fähig waren in das Reich Gottes einzugehen. – Aber ob er sie auch in ihrer Schwachheit und Erbärmlichkeit kannte, hörte er doch nicht auf an ihnen zu arbeiten. Er verschloss ihnen nicht den Quell seiner Rede, theilte ihnen mit aus dem Schatze seiner Liebe und Kraft und seine Aufforderungen an sie nahmen kein Ende, als mit den letzten Auftritten seines Lebens und Leidens und dann ergossen sich die Thränen, die ihm schon oft in den Augen gestanden hatten über die Söhne und Töchter Israels. O, m. Fr. lasset auch uns in den Zeiten, die jenen gleichen die große bewegliche aber haltungslose Menge eben so behandeln, wie der Erlöser und Johannes es thaten. Wir wissen nicht, wie viele darunter einer reinern Erkenntniss und strengen Befolgung des Guten fähig sind, aber weil wir es nicht wissen, weil es doch Augenblicke giebt, wo auch sie von dem Größern gerührt und bewegt werden, lasst uns versuchen ihnen zu zeigen und annehmlich zu machen, wovon ihr Heil abhängt, lasst uns ihnen predigen, wie das Reich Gottes immer im Kommen begriffen ist, aber nie kommt mit äußerlichen Gebehrden, sondern im Innern sich gestalten muss. Aber auf der andern Seite, m. Fr. diejenigen, welche die würklichen erklärten Feinde alles Guten sind, deren boshafte List, deren scharfsinnige Niedrigkeit sich bald | zu dieser, bald zu einer andern Gestalt des Guten bekennt, um von dieser aus desto sicherer jene und von jener aus desto sicherer diese zu bekriegen und zu vernichten, die sich der angebornen Ehrfurcht der Menge für das Alte zu bedienen wissen, um das was als wahrhaft Göttliches sich regt zu verschreien als ungöttlich und verdächtig zu machen, wie thaten Johannes und Jesus diesen? Ihr Otterngezüchte! rief der Täufer ihnen entgegen, wer bringt euch her zu mir? und wollt ihr euch einbilden, dass ihr dem Zorn des Himmels entrinnen könnt und zur wahren Buße und zum Heile gelangen? – und Jesus selbst, der Sanftmüthige, Milde und Liebevolle konnte ergrimmen im Geiste über sie und hatte ihnen gesagt: dass was sie sündigten gegen des Menschensohn möge ihnen vergeben werden, aber dass sie immerfort Sünden begingen gegen den heiligen Geist d. h. dass sie fortführen, dasjenige wovon ihre Überzeugung und ihr Gewissen ihnen sagte: es sei die göttliche Weisheit und Wahrheit, zu entstellen, davon abzuhalten die Menschen die sich hingezogen fühlten sich ihr zu öffnen und hinzugeben, werde ihnen nicht vergeben. – Wohlan, m. Fr., anders nicht als Jesus, das höchste Muster der Liebe und Milde, anders wollen auch wir nicht zu Werke gehen, gegen diese Feinde des Guten. Wie 10–12 Vgl. Lk 19,41–42 Mk 3,28–29; Lk 12,10

28–31 Vgl. Mt 3,7; Lk 3,7

33–35 Vgl. Mt 12,31–32;

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sie auch gestellt sein mögen, in der Welt, es waren auch | die Obersten des Volks zu denen Jesus und Johannes gesandt waren, wie sie auch gestellt sein mögen gegen uns, überall mögen sie fühlen, was wir von ihnen halten, wir wollen es ihnen nicht verbergen, dass sie es sind, die das Verderben des Volks bereiten, und über die es Wehe schreien wird, wollen es nicht verbergen, dass wir ihren scheinheiligen und verderblichen Sinn wohl erkennen, dass wir wissen, es sind nur leere Worte wenn auch sie die großen Namen der Gottesfurcht des Rechtes und der Wahrheit im Munde führen, womit sie nur Verwirrung anzustiften begehren und in den Schlamm des Lasters in den Abgrund des Verderbens die große Menge hinabzustürzen suchen; und eben so furchtlos, denn keiner entgeht ja seinem Geschick, dass auch andere Menschen es sehen und eben so muthig wollen wir ihnen entgegenstehen wie Johannes und Jesus und eben so kräftig und laut gegen sie das Wort führen, das Wort, womit der Jünger Jesu sich sicherte: man muss Gott mehr gehorchen, denn den Menschen! Und dieser Eifer wird sowenig unsre Seligkeit stören als wir annehmen können, dass die Seligkeit in den Augenblicken des göttlichen Grimmes in der Seele des Erlösers geringer gewesen wäre. Dieß Ergrimmen im Geiste ist nichts als die Bezeugung der Stärke des göttlichen Geistes, der sich gegen das Verworfene regt, und wenn er in demselben Augenblicke uns Zeugniss giebt, dass wir Gottes Kinder sind | und nur sein Reich suchen, so ist dieser Eifer gerechtfertigt und geheiligt, so wird er nicht ausarten in Leidenschaft und Sünde aber stark genug sein uns zu bewahren vor dem Unwürdigen, uns rein zu erhalten vor den Flecken der Welt, dass wir im Stande sind von dem Pfunde, das uns Gott anvertraut hat, dem Höchsten Rechenschaft abzulegen. So, m. Fr., berührt freilich auch das reinste und heiligste Gemüth der Wechsel des irdischen Daseins, so spiegeln sich in ihm die Spaltungen, in welche die Menschen zerfallen: aber Alles ist doch zusammengehalten durch die Einheit des göttlichen Geistes, Alles nur verschiedene Gestaltung der gemeinschaftlichen Liebe, die in unser Herz sich ergießt und Alles nur Ausfluss aus dem Urquell der Wahrheit und des Lichts, dem unsre Augen immer mögen geöffnet bleiben. Amen. Heiliger Gott und Vater, der Du mit unerforschlicher Weisheit das Werk Deiner Hände regierst, dessen ewiger Kraft wir vertrauen, dessen Reich ewig ist und kein Ende nimmt, erhalte uns unter allen Verwirrungen des irdischen Lebens dabei, dass wir Deinen Willen erkennen. Lass Deinen Geist in den Schwachen mächtig sein, dass wir ihn immer erfüllen. O lass uns nichts den reinen Blick auf Dich und Deine Gnade trüben, 1 auch ... Obersten] auch die das die Obersten 15 Apg 5,29

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und so vertrauend auf den Frieden, der in dem reinen Bewusstsein liegt uns immer mehr in die Gestalt Deines Sohnes bilden auch unter den Lasten der Erde! Amen.

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10. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 8,19–21 Nachschrift; SAr 27, Bl. 45r–48r; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 61r–66v; Matthisson Keine

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M. a. Fr. Daß die Liebe so wie das Wesen Gottes so auch das eigenthümliche Werk und Wesen des Menschen vor allem aber derer ist, die sich durch nichts anderes, als durch dieselbe in das Ebenbild dessen, der die Liebe ist, zu gestalten suchen, das ist diejenige Überzeugung, das innerste Bewußtsein, welches wir mehr, als ein anderes, mit einander gemein haben. Aber welche eine reiche, mannigfaltige und den Menschen auch leicht verwirrende, und wie die irrdische uns oft unordentlich erscheinende Welt bietet uns die Liebe dar; welche verschiedenen Stufen in denen sich auch hier das Wesen des Höchsten aufthut und offenbart von jenem ersten Gefühl des Menschen, der nichts sucht, als das Sinnliche, aber es doch nicht allein will, sondern es mitfühlt und mitgenießt in dem was er um sich her verbreitet, bis zu dem, der vor allem die höhere Natur liebt, diese zu bilden zu beleben zu vervollkommnen und hindurch das Gefühl eines erhöhten Daseins zu verbreiten sucht, der in sich und andern nur Werkzeuge des höchsten Wesens sieht, die eben so bereit sind, unterzugehn als sich herrlicher zu entwickeln, und der eben darum die höchste göttliche Liebe fühlt und übt, und dann jene mannichfaltigen Gestalten derselben, welche in der beschränkten Natur des Menschen ihren Grund haben, wie sie sich hier zart, weich, ja bis zum Krankhaften weich gestalten; dort groß erhaben herrlich und kräftig ja bis zur Härte. Daher denn, daß so oft die, welche in demselben Geiste leben und von derselben Kraft der Liebe beseelt sind, sich untereinander ein Räthsel zu sein scheinen und sich nicht verstehen; daher oft missbilligende verdammende Urtheile über das, was in einer höheren Stufe in einer herrlichern Erweisung der Liebe seinen Grund hat. O, m. Fr. um uns hierüber zu 9 verschiedenen] verschieden 4 Vgl. 1Joh 4,8.16

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berichtigen um in diesen wichtigsten Gegenstande sicher zu sein und einig, wohin können wir uns wenden als zu dem, der das höchste Bild der göttlichen Liebe gewesen ist? Was er herrliches gewirkt hat und gethan, es ist in dieser seiner göttliche Kraft gegründet, und wenn er auf der einen Seite die höchste Stufe menschlicher Vollkommenheit darstellt und auf der andern Seite von den Schranken der menschlichen Natur befreit ist, wie können wir anders, als die höchste Liebe und den mannichfaltigsten Reichthum ihrer Gestalten in ihm und seinem Leben wahrnehmen. Laßt uns einen Vergleich mit demjenigen, was bei dem letzten Vortrage der Gegenstand unserer gemeinschaftlichen Andacht war, heute auf eine andere jener wunderbar entgegengesetzten Äußerung seiner Liebe achten und auch für uns den Reichthum und die Fülle derselben aufs neue schätzen lernen. Luc 8, 19–21

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Bei dieser Erzählung, welche uns drei der Evangelisten aufgezeichnet haben, gewiß als einen für jeden merkwürdigen Zug, kann wohl kaum anders als eine wunderbar gemischte Empfindung sich Jedes bemächtigen. | Es erscheint als eine Art von kalter Zurücksetzung, die der Erlöser gegen die beweist, die ihm durch die Bande der Natur am nächsten waren, eine Art von Verläugnung und öffentlicher Entsagung und doch wissen wir, wie sein Herz seiner Mutter zugewandt war in den letzten Augenblicken seines Daseins und wir können uns in ihm weniger, als in einem andern Ungleichheit und Wankelmuth des Sinnes denken. In der That wissen wir zu wenig von den persönlichen Verhältnissen des Erlösers mit den Seinigen, um ein ganz sicheres Urtheil zu fällen über das, was in dieser seiner Rede zum Grunde liegt. Es lassen sich aber 2 verschiedene Ansichten aufstellen und welcher wir auch nachgehen, sie werden uns beide Veranlassung geben, über die Ordnung in den Abstufungen und Erweisungen der Liebe nach dem Beispiele unsers Erlösers nachzudenken. Laßt uns daher die beiden Fälle, die eingetreten sein könnten, mit einander gemeinschaftlich erwägen. [I.] Zuerst von den Brüdern des Erlösers wird uns an einem andern Orte erzählt, daß sie nicht an ihn geglaubt hätten, und es gibt noch eine Geschichte in den Lebensbeschreibungen des Erlösers, wo deutlich gesagt wird, er habe es vermieden mit ihnen aufs Fest gen Jerusalem zu reisen. Von seiner Mutter zwar wissen wir, wie sie gleich anfänglich, als sie ihn noch unter dem Herzen trug, alles Wunderbare was von seiner Geburt geweissagt war, alles Herrliche, was sich bei derselben und bei seiner ersten 13 Luc 8, 19–21] Luc 8,19– 9–11 Die Predigt vom 19. Juli 1812 vorm. ist nur durch das Berliner Intelligenz-Blatt belegt. 30–32 Vgl. Joh 7,5 31–34 Vgl. Joh 7,10 34–2 Vgl. Lk 2,19.41–51

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Darstellung im Tempel ereignete, in ihrem Herzen bewegte und bewahrte. Wir sehen sie als er zuerst seine Freunde um sich versammelt, als Zeugin seiner Wunderthaten auftreten; wir sehen in den letzen entscheidenden Augenblicken ihn begleiten und unter seinem Kreuze stehen. Ob aber in der ganzen Zeit seines öffentlichen Lebens ihre Theilnahme, ihr Glaube an ihn sich gleich geblieben, das vermögen wir nicht zu beurtheilen und so wäre es möglich, daß seine Wege auch ihr wenn gleich nur eine Zeit lang dunkel und unverständlich waren, daß sie zu denen gehörte, welche zweifelnd sagten: wenn er der wäre, der Israel erlösen wollte, so müsste er wohl anders handeln, und wenn nicht – so stand sie zwischen ihm und ihren übrigen Angehörigen und es gibt in den Evangelien deutliche Spuren, daß sie ihn nicht erkannten; denn als er nach Nazareth kam, wo er gewohnt hatte, so nahmen sie sein Zeugniß nicht an, und sagten: woher kommt ihm solches? ist er nicht des Zimmermanns Sohn, sind seine Mutter und seiner Brüder nicht unter uns? Wohlan m. Fr. wenn es die Brüder waren, die nicht an ihn glaubten, wenn es die Mutter war, die sie wankelmüthig in ihrem Glauben gemacht hatten: so sagen denn die Worte des Erlösers, indem er sich bei ihrer Anmeldung umsah und sagte: diese sind meine Mutter und meine Brüder diese, die Gottes Wort hören und an mich glauben sie sagen uns, daß die geistigen Bande, welche Menschen vereinigen, weit höher und edler sind als welche die Natur knüpfte und das ist das eine große Gesetz bey der Ordnung der Erweisungen und Abstufungen der Liebe. O, m. Fr., daher, daß auch der Erlöser sagen mußte: ich bin nicht gekommen den Frieden zu bringen, sondern | das Schwerdt, daher daß er sagen mußte: wer nicht verläugnet um meinetwillen Vater und Mutter Bruder und Schwester, der ist mein nicht werth; daher daß er sagen mußte, in den Tagen wo es sich entscheiden würde, wer Antheil nähme am Reiche Gottes, da würde aufstehen der Sohn wider den Vater und die Mutter gegen die Tochter, und der eine würde angenommen werden und der andere verstoßen, daher das Wort, daß die Liebe, die nichts, als Glück und Freude verbreiten sollte, die Quelle sein werde der bittersten Thränen und des tiefsten Jammers. O m. Fr. gewiß es sind Glückliche unter uns, und mögen es Viele sein, die von diesen Spaltungen und Schmerzen nichts wissen, die mit denen verbunden, die ihnen durch Natur und Gemüth verwandt sind, den gleichen Weg gehen zu dem Heil, das von oben kommt, mit ihnen verbunden sind durch die gleiche Liebe zum Erlöser und zu der gleich gehorsamen Trauer in der Erfüllung des göttlichen Willens. O mögen sie ihr Glück, ihr seltenes Glück preisen und festhalten, mögen sie bedenken, daß er zu dem gehört, was auch 13 woher ... solches] Ergänzung aus SAr 33, Bl. 62v 13–16 Vgl. Mt 13,55–56 Mt 10,35

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25–27 Vgl. Mt 10,37

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der Erlöser in den Tagen seines irdischen Lebens nicht genoß, daß er nicht bloß des äußeren sinnlichen Wohlseins, sondern auch dieses innere sich entäußerte und mögen sie, mögen wir alle, denen das Schönste des Lebens zu Theil geworden ist, wie wir es dankbar hinnehmen, es auch treu zu bewahren suchen. O mögen alle, denen dieß Glück geworden ist in der Einfalt des Herzens und in redlicher Offenheit hingehen, die es allein bewahren kann. Denn wenn wir über das wichtigste im Leben anfangen uns zu verschließen, wenn sich die Gemüther nicht mehr mit Lebendigkeit öffnen und austauschen ihre Gedanken und Absichten, so kommt es gar bald dahin, daß wir ihnen fremd werden, daß wir uns nicht mehr verstehen, und das ist das Erste, wodurch auch die reinste Liebe getrübt werden mag, und worauf bald eine Trennung und ein Zwiespalt erfolgen muß, den wir zu schlichten dann nicht mehr im Stande sind. Diejenigen aber, denen vielleicht dieses schönste Glück des Lebens versagt ist, die, sei es durch frühere eigene oder fremde Schuld, sei es durch unglückliche Umstände, von denen sie sich rein waschen können, mit solchen durch unauflösliche Bande verbunden sind, welche nicht gleichen Sinnes mit ihnen nicht derselbigen Erhebungen fähig sind, nicht auf dieselbe vollkommne Weise den Willen Gottes und die Bestimmung des Menschen fassen, mögen sie es sich zum Troste gesagt sein lassen, daß der Erlöser sich nicht schämte, sie Brüder zu nennen, daß auch er darin versucht ist, und daß es geschehen könne ohne Sünde. Mögen sie immer muthig sein, die heiligen Bande, welche sie an die Gleichgesinnten knüpfen, an die welche denselben Weg gehen und in demselben Geiste Gott dienen, mögen sie diese Bande fest halten, sich durch nichts durch keine Lust und durch kein Leiden trennen lassen von denen, an die ein höherer Geist sie knüpft und laut gegen die ganze Welt bekennen, das sind meine Mutter und meine Brüder, die mit mir in Einem Sinne das Wort Gottes fördern. O, sie werden in der heiligen | frommen Liebe, welche die Herzen vereint, Ersatz finden für die schönen Empfindungen, für das Glück, welches aus den Quellen der Natur strömt, und das ihnen versagt ist; sie werden aus einem Herzen nach Liebe durstend Liebe finden und in der Liebe selig sein, und eben so wenig, wie es der Erlöser gethan hat, es fehlen lassen an irgend etwas, was von ihnen gefordert werden kann. II. Eine zweite Ansicht, die wir uns bilden können von diesem Verhalten des Erlösers gegen seine Mutter und Brüder ist folgende. Es mag sein, daß seine Mutter damals eben so fest und gläubigen Herzens an ihm hing, wie bei seiner Geburt und unter seinem Kreuze; es mag sein, daß es nicht mehr die ungläubigen Brüder waren, die zu ihm kamen; aber der Erlöser war zunächst umgeben von seinen Jüngern und von den Haufen des Volks, die 8–10 öffnen] öfnen

17 gleichen] gleiches

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er lehrte und durch die jene bis zu ihm nicht dringen konnten; er hatte sich vor ihnen vertheidigt gegen die Beschuldigungen seiner Feinde, er hatte in erhabenen kräftigen Gleichnissen geredet vom Reiche Gottes und war im Begriff ihnen den innersten Sinn darüber aufzuschließen; es waren die Nahen und Fernen versammelt, um seine Werke zu vernehmen und er war begriffen in der Erfüllung seines himmlischen Berufs. Jene aber, seine Mutter und Brüder waren gekommen, um ihn zu sehen, mit ihm zu reden, nicht in den großen Angelegenheiten seines ewigen Reiches, sondern um sich zu letzen mit dem lang Entfernten und sich einen Genuß zu verschaffen ihrer Liebe und Anhänglichkeit, um ihn zurückzuführen in die engern Verhältnisse des häuslichen Lebens und was sich da und was ihm sich ereignet hatte, mit einander auszutauschen. Wenn es so war, so heißen die Worte des Erlösers: diese sind meine Mutter und meine Brüder so viel. Jetzt sind es diese, welche den nächsten Anspruch an mich haben, diese deren Ohren geöffnet sind meiner Lehre und denen ich den Willen des Höchsten verkündige, die ich mit der Bande der Liebe an mich ziehen muß, diesen muß ich mich jetzt zu dem großen Zwecke am engsten anschließen und alle andern müssen den großen Ansprüchen, die sie an mich haben, weichen. Das heißt also: die großen Werke der Liebe die Mühe und Arbeit sollen vorangehen dem Genuß, auch dem reinsten und tadellosesten und das ist das zweite große Gesetz der Ordnung in der Liebe, welches wir vom Erlöser lernen. O m. Fr. wenn wir, die wir den Willen Gottes und die hohe Bestimmung des Menschen kennen, wenn wir von Genuß reden, von Wohlbefinden von Glückseligkeit was können wir meinen – nicht den sinnlichen irdischen, sondern den, der aus der Liebe hervorgeht, vom geistigsten bis dahin, wo auch der irdischen und größten Genüsse dadurch, daß sie durchdrungen und gewürzt sind von der Liebe, ein Bestandtheil werden können des höheren Lebens; aber das Werk der Liebe, das Reich Gottes zu fördern, mit | dem Lichte der Wahrheit zu leuchten, die Wankenden zu befestigen, die Irrenden zu belehren, zuzusprechen denen, die des Trostes bedürftig, jedes von den Werken der Liebe, es soll vorangehen jedem Genuß, und wir sollen uns versagen, uns zu diesem zu wenden, wenn wir in jenem begriffen sind. Daher freilich daß die Liebe, die eine Quelle des Genusses sein sollte, so oft nichts anderes als Mühe und Arbeit hervorbringt, und daß auch das Leben das der Liebe am geöffnesten Menschen, wenn es vorüber ist, nichts weiter war als Mühe und Arbeit und Beschwerden. Aber wir sollen es wissen, daß das irdische Leben nichts sein soll als dieses, wir sollen den Genuß, der nichts ist als Genuß, nur mit sparsamer Hand in den leeren Zwischenraum unsrer Thätigkeit einflechten, wir sollen, daß wir Arbeiter sind in dem Weinberge des Herrn, niemals vergessen. O darum, wenn es uns vergönnt ist m. Fr. ein solches glückliches genußreiches Leben mit verbundenen Gemüthern zu führen, wenn wir in den Segnungen und Seligkeiten der Freundschaft und Liebe schwelgen können, o daß daran unser Herz doch niemals

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Genüge finden mag, auch wenn es der tadelloseste nicht nur unschuldige sittliche sondern selbst der höhere Genuß des Lebens ist, auch wenn wir ihn darin setzen, daß wir mit gleichgesinnten Menschen alle unsere Ansichten der äußern Welt, alle Bewegungen unsers Gemüthes, alles Große und Herrliche, was wir denken und fühlen einander austauschen und so die reinste Quelle der Freude und des Glücks theilen; wenn wir in dem andern wie in einem Spiegel unsere Ansichten, Grundsätze, Gefühle wiederfinden, aus dem sie uns, etwas anders freilich gestaltet durch die Eigenthümlichkeiten seiner Natur, aber darum nur erfreulicher und schöner entgegenstrahlen, wenn wir das alles haben und genießen, aber es entsteht daraus kein Werk der Liebe wenn wir einander so gleich gesinnt sind und unser Leben hat so das Gepräge des Genusses angenommen, daß alle Reibung und Thätigkeit aufhört – laßt uns eine Liebe suchen, die uns Arbeit und Mühe bringt, eine Liebe, aus der Werke hervorgehen können, Menschen, die wir zu stützen zu ermuntern zu pflegen haben, oder von denen wir, weil sie höher stehen hinaufgezogen werden können; aber laßt uns nicht leben wollen ohne kräftige Werke der Liebe. Das ist es, was im Gefühl der höheren Kraft des Geistes den Menschen heraustreibt von dem Punkte, wo er am ruhigsten leben könnte, was ihn treibt, sich zu suchen eine Bahn der Mühe, der Arbeit und Noth im Reiche Gottes. So der Erlöser, dessen ganzes Leben eine Beschäftigung war mit denen | in welchen er Empfänglichkeit für sein Wort ahndete und die Fähigkeit und Tüchtigkeit die Verkündiger desselben zu werden, aber mit denen er nichts hatte als Mühe und Arbeit – und sie selbst diese großen Apostel – wenn sie von ihm ausgesandt wurden, das Evangelium zu predigen, thaten sie es zuerst vor einem großen gemischten der Mehrzahl nach unfähigen Haufen des Volkes, sonderten sich daraus ein kleines Häuflein von empfänglichen Gemüthern aus, und hatte in diesem auch nur der erste Funken des Glaubens und der Liebe gegründet, dämmerte so das Licht der Wahrheit in ihnen, daß sie wenigstens mit angestrengten Augen die nächsten Gegenstände erkennen konnten; so trieb der Geist der Liebe und der Arbeit sie weiter zu andern um an ihnen dasselbe zu versuchen und nichts war ihr ganzes Leben als Unruhe Mühseligkeit und Arbeit. O mögen wir es doch nicht besser haben wollen, mögen wir uns dahin stellen, wohin der Erlöser sie führte als er zu ihnen sagte: Hebet eure Augen auf: das weite vor euch ausgebreitete Feld ist reif zur Erndte; aber der Arbeiter sind wenig; nicht sollt ihr künftig hindurch gehen wie ihr sonst an meiner Seite thatet, und die einzelnen Ähren raufen und sie spielend genießen; sondern zur strengen Arbeit sollt ihr euch begeben und dankbar erwägen daß ihr oft erndtet, wo ihr nicht selbst gesäet habt. Ja m. Fr. dazu leuchtet uns das Vorbild des Erlösers, zu dieser großen Verläugnung. Lockt uns die Liebe zu denen, die uns die Nächsten sind ladet sie uns zum Genuß 34–37 Vgl. Mt 9,37; Lk 10,2

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dieses gemeinsamen wahrhaft höheren Lebens, o daß wir nicht zu tief uns verlieren im Genuß, daß wir bald suchen die Stätte der Mühe und Arbeit, und sind darin begriffen, o daß wir uns nicht unterbrechen mögen, daß wir dann, wenn es sein muß, unser Herz verhärten und sagen, nur die will ich sehen, an denen und für die ich arbeiten kann zum Besten des Reiches dem ich angehöre mit allem, was ich bin und habe, und laßt uns damit trösten daß es uns dann am Genuß an dem unsre Kräfte zu üben und zu stärken nie fehlen kann. Und die dort draußen standen für den Erlöser, die Mutter und Brüder, für uns alle stehen sie ja nicht draußen, bei uns haben wir sie in unsern Mauern, nicht dürfen wir unstät wie der Erlöser umherwandeln, wo wir ihnen selten begegnen, sondern vereinigt mit ihm leben wir wie in der Stille des ruhigen Hauses; da ist der Genuß, der uns nie fehlt, da die Rückkehr von der Arbeit und Beschwerde zur Freude des Lebens, da die Vereinigung des Genusses | und der Arbeit, da finden wir, die beides mit uns theilen, und uns jeder nach seinen Kräften dazu erheben und stärken. Wie viel leichter wird es uns geboten, beides zu vereinigen, wie unverantwortlicher ist es, wenn wir aus Verlangen nach diesem Genusse uns stören ließen in den Werken der göttlichen Liebe. Je mehr wir uns hinneigen zur Verweichlichung zur Auflösung des Lebens im Genuß, um desto mehr laßt uns bedenken, daß eben die, für die wir arbeiten sollen, uns auf die Seele gebunden sind, daß wir sie als Mutter Brüder und Schwestern achten müssen, und daß wir uns ihren Ansprüchen auf unsre Kräfte ohne einen Raub am Hause Gottes zu begehen, nicht entziehen dürfen. Wie den Erlöser wird dann auch uns die Liebe begleiten und stärken in den letzten Augenblicken unsers irdischen Lebens, wie er werden wir dann das gepflegte, aber nicht vollendete Werk niederlegen in die Hände und das Herz treuer Genossen, wie die Mutter dem Sohn, es ihrem Eifer empfehlen und in dem reinsten Genuß des Lebens in der Liebe rufen: daß es vollbracht ist. Amen.

27 dem] der 28 Vgl. Joh 19,30

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Am 16. August 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen:

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12. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 10,17–20 Nachschrift; SAr 27, Bl. 49r–50r; Matthisson (unvollendet) Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, 1814, S. 241–268 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 522–532; 21843, S. 508–517. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, 1835, S. 171–183. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 494–502 Keine

Den 16. Aug. 12.

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Wenn wir, m. a. Fr. zurücksehn auf den Weg, den das menschliche Geschlecht von Zeit zu Zeit in seinen verschiedenen Theilen vom ersten Anfang seiner Entwicklung bis zur Höhe seiner Vollkommenheit zurücklegt: so finden wir die verschiedensten Bestrebungen, den verschiedensten Maßstab für den Werth seines Daseins. So lange der Mensch zu kämpfen hat mit den Kräften der Natur, ist es ihm viel, wenn er nur einiger Maßen die Mühseligkeiten des Lebens von sich zu entfernen weiß; wenn er Herr wird ihrer Kräfte und einsehn lernt, wie viel ihm zu Gebote steht: so strebt er nach mannigfaltigem Genuß, nach Reichthum der verschiedensten Befriedigung. Wenn er auch sich selbst betrachten und finden lernt und seines Gleichen um sich her, wenn er über die Feindschaft der Natur erhaben, ihre sanften Bande lieben und achten lernt, so ist ihm das das Meiste, wenn er alles, was ihm Gutes und Schönes und des menschlichen Wunsches werth erscheint, zunächst über die Seinigen und über alles was den menschlichen Namen trägt, verbreitet. Wenn endlich die Zeit kommt, wo er zum höchsten Bewußtsein seiner selbst gelangt, wo Gutes und Böses und das Reich des Guten und Bösen ihm gegenüber steht und dagegen der Unterschied zwischen Angenehmen und Widerwärtigen seinen Werth verliert, wenn er sich gestellt sieht auf den Kampfplatz für das Gute und gegen das Böse, dann ist hier so viel als möglich wirksam zu sein, und auf diesem heiligen Gebiete ein Denkmal seines Daseins zu stiften, das höchste Ziel seiner Wünsche. So einige; andere dagegen eben von diesem Gegensatze des Guten und Bösen eingenommen, gehen mehr in die Stille ihres Gemüthes zurück. Nicht was

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sie außer sich thun und wirken mögen, aber wie es in ihnen beschaffen ist, und daß sie sich da fühlen den Guten angehörig, das ist diesen das höchste Ziel ihrer Wünsche. Und beide, demselbigen Zwecke hingegeben, sind auf mancherlei Weise im Streit die einen beschuldigen die andern, es sei noch nicht rein von Selbstliebe und Eitelkeit das menschliche Gemüth, die andern entschuldigen sich, verkennend, wozu der Mensch da sei und wollen, weil die Arbeit schwer sei und mühevoll, so wollten sie sich zurückziehen in stillen ruhigen Genuß. Diesen Streit kennen wir alle, und für uns alle wird es Augenblicke geben im Leben, wo wir uns auch auf verschiedene Seiten hin neigen, und wo der entgegengesetzte Theil Recht zu haben und bei ihm die höchste Weisheit zu liegen scheint.

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Luc. 10, 17–20 | 49v

Vor sich her hatte der Erlöser 70 seiner Jünger gesandt zu verkündigen überall in der Nähe der Straße, die er wandeln wollte gen Jerusalem, daß das Reich Gottes nahe sei, ihn bekannt zu machen als den, der es herbei zu führen gekommen war und er hatte zur Bekräftigung ihrer Worte aus der Fülle seiner Macht ihnen mitgetheilt, wunderbare Thaten zu verrichten, welche die Aufmerksamkeit der Menschen auf sich ziehen und Bürge sein sollten, daß das was sie redeten, von oben geredet sei, und nun kamen sie wieder um sich vor seiner Reise nach Jerusalem mit ihm zu vereinigen und legten Rechenschaft ab von ihren Bemühungen und sprachen voll Freude: „Herr, es sind uns auch die Geister unterthan in deinem Namen.“ Diese mannichfaltigen Arten der drückendsten menschlichen Übel, welche die damalige Zeit ansah als Wirkungen von der Macht des Bösen, diese zu haben, das schien den meisten außerordentlich und höhere Kräfte zu erfodern; das waren die sichtbaren den Menschen weit und breit kundwerdenden und ihre Bewunderung erweckende Handlungen. Sehet, sagt der Erlöser, nicht nur dazu habe ich euch Macht gegeben, sondern auch über alle Gewalt des Friedens und nichts wird euch geschehen. Ich habe euch hingestellt auf diesen großen Kampfplatz damit ihr euch bewähret im Kampf gegen das Böse, aber darin freuet euch nicht, sondern, daß eure Namen im Himmel geschrieben sind. Wir sehen, hinweg weiset der Erlöser seine Jünger von dem Gelingen ihrer Absichten, von den Werken, die sie ausgeführt haben; sie sollen ihre Freude in etwas anderm suchen. Das laßt uns in der gegenwärtigen Stunde mit einander überlegen, und uns eben dieses Wort des Erlösers in unser freilich ganz andern Verhältnissen an das Herz legen. Daß wir uns nicht freuen sollen über das Gelingen unserer Werke selbst in diesem göttlichen Streite fürs Gute und gegen das Böse. Ich will euch dar12 Luc. 10, 17–20] Luc. 10, 17– 13–15 Vgl. Lk 10,1–12

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über zu 2 Betrachtungen auffodern. Einmal, als Freude angesehn, ist es eine, welche aus derselben Quelle eben so viel Leiden gegenübersteht und welche also die höchste nicht sein kann. Zweitens, als Beweis unserer Kräfte und unseres Geistes, unseres Innern angesehen, ist es ein Maßstab, der niemals unsern Werth rein und richtig bezeichnen kann. I. Als Freude angesehn, kann die die wir fühlen über das Gelingen im Streite für das Gute, auch nicht die höchste sein, weil ihr mannichfaltiges Leiden derselben Art entgegensteht; aber welche die höchste sein soll, muß sein rein und ungetrübt, aus einem Gegenstande muß sie herfließen, der allein nur die Quelle der Seligkeit sein kann. So ist es aber nicht mit ihr. O, es gibt herrliche glückliche, gepriesene Zeiten des Lebens, wo uns im Seegen Gottes viel gelingt von dem, was wir für unsern Beruf halten müssen, sei er groß oder | klein, denn darauf kommt’s nicht an, sondern darauf kommt es an, wie viel von dem, was uns darin obliegt, gedeiht. Wenn wir in vielen gesegneten Augenblicken des Lebens auch oft wo wir nicht andenken wie es dem Erlöser ging, eine Kraft von uns ausgehen fühlen, welche die bösen Geister scheucht und in einem kleineren Kreis Ruhe und Frieden zurückführt, Gesundheit schafft und Lebensgefühl statt der Krankheit und des Überdrusses, wenn es uns ergeht in unserm Kreise, wie dem Erlöser, daß schon von fern die Geister klagen, Jesu du Sohn David pp. wenn das Böse vor der schon oft erfahrenen Gewalt des Guten flieht, daß wir die Stätte schon bereitet finden, wo wir heiter und ungestört fortwirken können: o wie sind wir dann geneigt, und wie natürlich ist es, eben in diesem Gelingen wenn auch die Gnade Gottes es zu begünstigen scheint, die höchste Befriedigung unsers Lebens zu finden und gleichsam nichts in unser Bewußtsein aufzunehmen als die Freude darüber und Gott zu preisen für das was er durch uns gethan hat. Aber m. Fr. es bedarf noch nicht einer alten Erfahrung und eines langen Lebens, um zu wissen, daß auch Zeiten ganz anderer Art kommen. Wenn es uns geht, wie jenem Apostel, vor dem die bösen Geister wichen und nach dessen kräftiger und gesalbter Rede [Der Text endet hier.]

20 Vgl. Mk 3,11; Lk 4,41

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24. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 14,25–33 Nachschrift; SN 592, S. 159–173; Pischon Keine Drucktext Schleiermachers; Predigten. Dritte Sammlung, Nr. 13, 1814, S. 269–291 (vgl. KGA III/1) Wiederabdrucke: SW II/1, 1834, S. 550–563; 21843, S. 535–548. – Predigten. Dritte Sammlung, Ausgabe Reutlingen, Bd. 3, 1835, S. 206–222. – Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 1, 1873, 21876, S. 517–527 Teil der von Pischon zusammengestellten Nachschriftensammlung

Wie es nicht so leicht sei ein Jünger Jesu zu sein und viele es wähnen, die es doch nicht sind. Über Luc. 14, 25–33. Gehalten den 8. Novbr. 12. M. a. Fr. Wenn so oft unter den Christen geklagt wird über die große Gewalt des Unglaubens, über die weit überlegene Menge derer, die dem Lichte des Erlösers nicht folgen und auf dem Wege, auf dem er uns vorangegangen ist, nicht fortgehen; so ist bei weitem nicht der wichtigste und gegründeteste Theil dieser Klage gegen die gerichtet, die der Wahrheit des Erlösers sich laut entgegenstellen, sondern gegen die, welche obwohl sie es bei sich selbst wissen, dass das Eigenthümliche des Christenthums ihnen fremd ist, doch den äußern Schein desselben anzunehmen nicht verschmähen, noch mehr aber gegen diejenigen, welche, da das, was sie zu Jüngern Jesu machen würde, ihr Gemüth doch nie durchdrungen hat, sich dennoch selbst täuschen, als ob sie Nachfolger und Jünger Jesu wären, wie andre. Wie oft wir diesem Wahn begegnen auf der Bahn des Lebens, das werden wir wissen und es ist keine Täuschung dabei möglich, aber woher er entsteht? Wohl daher, m. Fr., weil der Kraft des Evangelii, nach|dem die Gestalt der Welt und der menschlichen Dinge es mit sich bringt, jetzt am meisten auf diese Art, dann auf jene sich äußert, hier in der strengen, dort in der lieblichen Gestalt heraustreten muss um dasselbe Werk zu fördern als Kraft des gemeinschaftlichen Geistes. Solche Äußerungen sehen die Menschen und fassen es auf, und finden sie etwas Ähnliches in ihrem Innern, so meinen

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sie [ ] es sei dasselbe, schließen sich denen an die diese göttliche Kraft lebendig in sich fühlen und sind hernach verwundert und verwirrt wenn sie sich ganz getrennt von ihnen fühlen. M. Fr. wenn der Mensch ohne Gefährten des Lebens in der Welt nichts ausrichten kann und auch nach dem Willen Gottes nicht soll, wie sehr müssen wir es wünschen da unterscheiden zu können die welche wahre Jünger Jesu sind oder es zu sein nur wähnen; und wenn es nicht leicht ist dem Menschen in sein Innres zu schauen, wie nöthig ist es diese Betrachtung anzustellen um sicher zu werden ob ein jeder selbst zu diesen gehöre oder zu jenen. Lasset uns daher, was der Erlöser selbst von seinen wahren und seinen Scheinjüngern gesagt hat, zu Herzen nehmen und näher erwägen. Tex t.

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Luc. 14, 25–33.

Und es ging viel Volks mit ihm, da wandte er sich und | sprach diese Rede; viel Volks, worunter nur wenige waren, die nach diesem Maaßstabe fähig gewesen wären seine Jünger zu sein, ohnerachtet auch sie ihn bewunderten, ohnerachtet auch sie ihn verehrten und ihm nachzogen um seine göttliche Rede zu hören oder seine wundervollen Thaten zu sehen. Und er begehrte aus dem Innern seines Herzens sich zu entschlagen der eiteln Menge und eben darum hielt er ihr so streng vor die großen Schwierigkeiten, die es habe sein Jünger zu sein. Die damaligen Zeiten aber, m. Fr., sind freilich nicht mehr die unsern, das thut jetzt weniger Noth, dass der Mensch um als ein wahrer Jünger Jesu aufzutreten hassen müsse Vater und Mutter Weib und Kind und was die Natur ihm sonst geeinigt hat, auch kümmern sich theils die Menschen wenig darum, wie weit immer der, welcher sie angeht, der Lehre des Erlösers anhange, oder sie finden es doch ganz vortheilhaft und ehrenvoll auch solche unter sich zu sehen, die es nicht thun, auch das thut nicht Noth sein Kreuz auf sich zu nehmen und es zu tragen, dass wir Jünger Jesu sein, sondern das kommt jedem sonst wohl wo anders her in der Welt und er muss es tragen, er sei ein Jünger Jesu oder sei es nicht. Aber jede Zeit hat auch ihre eignen Gefahren und Schwierigkeiten, jede ihre eigne Weise, wodurch die Menschen sich zutrauen Jünger Jesu zu sein und es doch | nicht sind. Lasset uns also stehen bleiben bei dem Allgemeinen in dieser Rede, wie der Herr denen die um ihn sind zuruft doch wohl zu überschlagen, ehe sie den Bau anfangen ob sie ihn hinausführen können und sehen: wie es nicht so leicht sei als die meisten Menschen glauben ein Jünger Jesu zu sein und viele es wähnen, und doch nicht sind. Das lasst uns weiter zeigen, indem wir richten 5 dem] den

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I. ein Wort der Warnung an die, die solchem Wahn unterworfen sind II. und dann ein Wort der Beruhigung an die, denen ihr Herz sagt, dass sie Jünger Jesu sind die aber doch von der harten Rede des Herrn schmerzlich getroffen werden.

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I. Das Wort der Warnung, das ich reden will zu denen welche ohne überlegt zu haben, sich einlassen Jünger Jesu zu sein, es bezieht sich darauf, dass es viele giebt, die etwas haben, was dazugehört, aber nicht Alles und deren Streben und Trachten eben darum ein leeres und fruchtloses sein muss. Es giebt viele, welche meinen, um ein wahrer Jünger Jesu zu sein, dazu gehöre ein weiches liebevolles Gemüth, nicht für sich allein leben und würken zu wollen, gerührt und getroffen zu sein von dem Unglück und dem Elend der Menschen, bereitwillig zu helfen, dienstfertig zu pflegen die Unglücklichen | mit Aufopferung des eigenen Vortheils. So mild und liebevoll sehen sie ja auch den Erlöser. Der Jesus, der einher zog zu heilen die Krankheiten und Gebrechen, zu lösen die Seelen, die gebunden waren in Israel durch irdische Noth, das ist der Jesus, dem sie anhängen, und indem sie so im Dienste der Menschheit leben, sie von Lasten zu befreien oder zu erleichtern, meinen sie dass sie Jesu Jünger sind. Wer wird auch sagen wollen, dass er ein Jünger Jesu sei, ohne so zu sein, wer wird sagen wollen, der könne ein Jünger Jesu sein, der die irdischen Dinge, worauf er seine Kraft gerichtet, nur für sich und nicht für andere gebraucht. Aber ihr weichen, liebevollen Gemüther, überlegt doch ob ihr habt an diesem Einen das, womit ihr den Bau ausführen könnt, seht mit Freude darauf, wie ihr durch eure Milde in einem andern schönen Sinn euch Brüder und Schwestern erworben habt, aber wenn ihr auch dann nicht stark genug seid, ihnen wieder weh zu thun, wenn es darauf ankommt nicht sie vom Übel zu befreien, sondern das Böse herauszureißen aus ihrem Herzen: o, wie wenige Steine könnt ihr da legen zu dem großen Bau! Ja prüfet euch wohl und seht ihr, wie ihr bereit seid aufzuopfern und zu entsagen, wie es aber euch schmerzet euch selbst weh zu thun, wie ihr viele Beschwerden übernehmt, aber das Kreuz nicht zu tragen wagt, das | die Welt euch auflegt: o, wie wollet ihr da seine Jünger sein! Andre meinen auf solche Erweisungen der Tugend und Gutmüthigkeit des Gemüths komme es nicht an, wenn man ein Christ sein wolle und ein Christ, werde der Mensch nur durch die reine, richtige Erkenntniss der Wahrheit, die der Erlöser gelehrt, dass die Menschen so geneigt sind die Wahrheit in Irrthum zu verkehren das Licht in Finsterniss erlöschen zu lassen, das ist es weswegen sie arbeiten. Das that der Erlöser auch [ ] 40 Pischon hat an dieser Stelle eine Lücke von etwa zwei Zeilen gelassen.

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zugesetzt hatten sie nach freier Willkühr und hinweggenommen was jeden drückte nach eignem Dünkel. Dagegen erhob sich der Erlöser und sagte: er sei gekommen das Gesetz wieder herzustellen in seine alten Rechte und zu vertilgen, was die menschliche Willkühr daran gedreht hatte und dieser Jesus, der große Redner, der mächtiger redet als die Pharisäer und Schriftgelehrten, das ist der Jesus, dem sie nachgehen. O freilich, m. a. Fr. thut es uns wohl Noth, dass wir das Kleinod, welches die Gnade des Herrn uns anvertraut hat nicht in ein schwaches und leicht zerstörbares Gefäß fassen und was haben wir anders als unsre Gedanken, Vorstellungen und Gefühle und was Alles begreift als das Wort, wodurch wir das festhalten, und wer wollte leugnen, dass die, welche auf Reinheit des Worts und der Lehre dringen, etwas haben, was dazu gehört | ein Jünger Jesu zu sein. Aber ihr, die ihr darauf alle eure Ansprüche gründet vergesset doch nicht was geschrieben steht, dass der Buchstabe tödtet und nur der Geist es ist, welcher lebendig macht, vergesset es nicht dass der Erlöser und seine Jünger von dem Buchstaben auf den Geist, der Leben giebt, zurückführen, wie er nichts ist für die Wahrheit der Lehre, als dass der lebendige Geist gebunden werden soll durch den todten Buchstaben, bedenket doch wie wenige in den Worten diesen Geist fassen und wie wenige es sind gegen die, welche sich nicht dadurch verführen lassen, von denen wir sagen können nicht mit klügelnder Weisheit sagen, sondern deutlich nachweisen in der Erfahrung und in der Geschichte, dass er ihnen geworden ist eine Quelle des Irrthums, auch wo es galt für einen heiligen Ausspruch; nehmt zu Herzen, dass der Buchstabe immer todt ist und nur Verzeihung erhält, wenn er den Geist in sich schließt; aber wenn ihr so an einem Buchstaben der Lehre haltet, wie wollt ihr bestehen vor dem, der gesagt hat: ich habe noch viele andere Schaafe, sie sind aber nicht aus diesem Stalle, wenn ihr nur die für Mitbrüder in Christo halten wollt, die gerade an diesem Buchstaben halten, und so äußerlich darthun was Christus ist, | und wenn ihr nur beschränkt seid auf diese, die so diesem Buchstaben angehören, o wie wollt ihr den Bau hinausführen, der die vereinten Hände aller, aller von welchem einzelnen Haufen sie auch sein mögen, erfordert. Andre wieder sagen, dass sei es weniger, dass es auf den Glauben und die Lehre ankomme, das Christenthum sei That, nicht die vollbracht wird durch leichte Gutmüthigkeit, sondern die That, die an das strenge Gebot der Pflicht sich hält, die hervorgeht aus dem, was Recht ist, die davon um keinen Preis in der Welt abzubringen ist. – O freilich, das ist die erste Bedingung des Christenthums. Wo nicht diese Treue gegen die eigne Überzeugung ist, wo der Mensch von dem, was die Stimme des Gewissens ihm sagt mit klügelnden Gedanken sich zerstreut, wo die That nicht auf den Glauben folgt, da kann ja gar nichts geschehen an dem Bau, den die Jünger des 2–3 Vgl. Mt 5,17

14–15 Vgl. 2Kor 3,6

26–27 Vgl. Joh 10,16

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Erlösers ausführen sollen. Aber die ihr glaubt, dass das Alles sei, woher kommt ihr denn zu der Überzeugung der ihr hernach so treu seid, muss euch nicht erst gegeben werden, und wenn ihr euch fragt: muss ich wohl dieses und jenes thun? redet diese Stimme wohl anders, wo Menschen Aussprüche euch irre machen, oder eine Lust in euch aufsteigt, eine verbotene, gefährliche, die ihr verdrängen sollt durch diese Stimme? | Aber wie weit werdet ihr gedeihen mit euerm Bau, wohl den Grund werdet ihr legen aber ihn nicht aufführen zum Himmel, denn es gehört dazu ein Herz, das wie das Herz Jesu die ganze Welt in sich schließt, ein Geist der Liebe, der das ganze menschliche Geschlecht umfasst, eine tiefe innige Sehnsucht, die das Auge des Geistes wendet nicht auf die enge Bahn des Lebens, sondern überall hinzuschauen, wo noch eine Lücke auszufüllen, noch ein Stein hinzuzufügen ist zu dem Bau, den ein anderer gelegt hat, und ohne diese, die wohl etwas anderes ist als eure Stimme der Pflicht, ohne diese, das ganze Herz erfüllende Sehnsucht, könnt ihr nicht Jünger des Erlösers sein. Endlich, m. Fr. es giebt noch andere und ihre Anzahl, wie sie schon sonst immer groß gewesen ist, scheint auch in unsern Tagen wieder zuzunehmen, welche weder an den Buchstaben des Wortes und der Lehre noch in der Übung der Tugend die Nachfolge des Erlösers suchen. Beides ist ihnen zu gering. Mit einer Sucht sich in das Geheimnissvolle und Wunderbare zu vertiefen meinen sie, dass nur das Haften an dem Wunderbaren es sei, was die Jünger des Erlösers macht die Würksamkeit aus dem innern Grunde des Lebens | die Untersuchungen des Verstandes und des Buchstabens, welche doch sein müssen zu erhalten ist ihnen unbedeutend und gering, sondern, meinen sie, das Christenthum solle den Menschen über die Erde erheben und über die Erde geht Alles hinaus, was sie begehren, und in dem Bestreben des Erlösers und seiner Jünger Spuren zu suchen und zu erforschen darüber den Gesichtskreis unsers Wissens weit hinaus liegen, das ist es was ihre Jüngerschaft ausmacht. So meinen sie sei der Erlöser gewesen wo er von der Welt sich getrennt in den stillen Stunden des Gebets, da habe sich ihm aufgeschlossen die innerste Tiefe der Gottheit, da wären, was er auch den Seinigen zu sehen versprochen, auf ihn herab und von ihm herauf gestiegen die Engel Gottes, da sei er sich selbst auf eine unbegreifliche Art bewusst geworden seines Einsseins mit Gott. Dieser sich über die Welt erhebende und alles Menschliche ausschließende Jesus, ist der, dem sie angehören. O wer könnte es verkennen, dass die Lehre des Herrn über das Irdische geht, dass der Besitz des Christenthumes ist der Besitz des Himmlischen und Überirdischen; aber dass wir auch nicht so suchen etwas ganz Falsches und Unzureichendes dass wir nicht, indem wir so Himmel und Erde trennen etwas ganz anderes betreiben, als der, welcher | beide innig vereinen wollte, dass sie nicht versäumen und es verkennen, dass er schon da ist. Ja wenn ihr ihn so nur im Himmel sucht, so entgeht 42–4 Vgl. Mt 25,1–13

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er euch, denn er ist da unter uns, der Bräutigam ist eingeschlossen mit seiner Braut in der hochzeitlichen Kammer, und ihr die ihr hinausgeht es fehlt euch und hat euch immer gefehlt das lebendige Oehl in euern Lampen und ein leeres Irrlicht ist es, dem ihr gefolgt seid. Die sich so vertiefen in Gespinnste, was ist jemals durch sie gebaut worden an dem Thurme, nicht einen Zoll breit ist er emporgestiegen durch dieses leere gespenstige Dasein, wo nie ein Gedanke zur That wird, weil der Mensch nichts thun kann, der die Pflichten des irdischen Lebens vergisst und Gedanke und That gewaltsam auseinanderreißt. Aber so ist ein jeder von diesen etwas, aber wehe dem, der da glaubt Alles, und nicht in dieser oder jener Seite ist das Leben des Christen, sondern sein ganzes Leben, das, dem wir absagen müssen es ist ein Jesus in dieser oder jener Gestalt und dem wir nachgehen müssen es ist der ganze Christus, dem müssen wir folgen, wenn wir sein wollen Reben an diesem Weinstock und die Mittel erringen, ihm wahrhaft anzugehören. II. Lasst uns noch kürzlich sehen auf das Wort der Beruhigung, das uns allen gesagt ist, besonders | denen, die durch des Erlösers Wort sich schmerzlich getroffen fühlen. – Wenn der Erlöser so geredet hatte sagten seine Jünger: das ist eine harte Rede, und der Erfolg davon war, dass ihn viele verließen. O, m. Fr. wer sollte in solchem Betracht nicht auch die Erfahrung haben, dass die Menschen hinter sich gehen, dass auch solche, welche lange mit ausgezogen sind sich von uns trennen und so immer kleiner erscheine das Häuflein der wahren Jünger des Herrn und wir bedürfen doch der Gesellschaft, fühlen doch dass wir nicht allein stehen können und bauen. Wie leicht gerathen wir dann in die trübsinnige Meinung, es sei mit dem großen und heiligen Bau, wo nicht vorüber, doch ein Stillstand und unmuthig glauben wir, dass wir nun nichts mehr dazu beitragen können. Aber dann lasset uns gedenken an das Wort des Erlösers: fürchte dich nicht du kleine Heerde! Es ist von Anbeginn eine kleine Heerde gewesen und doch hat sie gefördert, was uns selig macht, es waren nur wenige, aber unter diesen Wenigen, welche herzliche Liebe, welch ein Vertrauen, welche Übereinstimmung des Gemüths! O haben wir gelernt bei den Jüngern Jesu zu unterscheiden die falschen von den wahren und suchen wir diese, wir werden sie finden, nicht bloß die, welche das Gute wollen, sondern die, mit denen wir als Mitjünger und | Schüler des Erlösers und Meisters leben können. Und wer kann aufstehen und sagen, er habe nicht so viel gefunden, dass diese ihn ermuntert hätten, wer kann auftreten und sagen: er stehe allein? O, des traurigen Irrthums! Er gehe in sich und bitte den Herrn, dass

14–15 Vgl. Joh 15,5 Lk 12,32

18–20 Vgl. Joh 6,60–66

19 Joh 6,60

28–29 Vgl.

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er ihm die Augen öffne, so wird er finden die Brüder und Schwestern, die er lieben kann und soll aus dem Grunde seines Herzens immerdar. Und was das Andere betrifft, die Besorgniss, wie es so schwer sei ein Jünger des Erlösers zu sein und ob auch wir wohl es sind und auszuführen haben den Bau, den wir begonnen, ob auch wir bestehen können im Kampfe mit der Welt und nicht Botschaft schicken müssen und um Frieden bitten: gedenket an das Wort des Erlösers, das er zu den Seinigen sprach: ihr habt mich nicht erwählet, sondern ich habe euch erwählet! Wohlan! wenn wir ihm folgen, lasset uns ihm auch glauben. Ihm, seiner Gnade, seiner Führung haben wir es zu verdanken, dass wir seine Jünger sind, und er hat uns erwählet, so hat er es gethan zu Arbeitern in seinem Weinberge zu Streitern in seiner Kirche, und er muss ja wohl wissen, wen er gebrauchen kann an der Stelle, wohin er ihn gestellt | hat zu thun, was seinem Reiche angemessen ist. Ja, m. Fr. wenn wir demüthig nichts von uns halten, nicht anders als schwach und gebrechlich uns finden, und wie so viel uns fehlt seine Jünger zu sein, wie wir in dem Einen zurückbleiben und das andere unvollendet gelassen haben; so lasset uns in Glauben und Treue ihn um sein Urtheil ehren und darauf merken, dass eben das seine große Verherrlichung ist, dass er mit so schwachen Werkzeugen das Erhabene vollführt das die Größe seiner Gnade, dass sie in den Schwachen mächtig ist. Ja, m. Fr. möchten auch wir, wenn der Erlöser eine harte Rede gesprochen, wo viele irre werden, festhalten an ihm und nicht von ihm gehen, sondern auch da nichts anders antworten können als der Jünger, den der Herr fragte: ob sie nicht auch von ihm gehen wollten: Herr, wohin sollen wir gehen? Du hast Worte des ewigen Lebens. So lasset uns nicht der Verzagtheit unsre Herzen ergeben, sondern neu belebt werden durch ihn und so auf ihn gegründet wird sein Wort und seine Kraft uns nie verlassen und wir immermehr werden Werkzeuge in seiner Hand. So können wir begegnen | mit zehn Tausenden zwanzig Tausenden, die wider uns stehen und wo zwei oder drei versammelt sind, da ist er mitten unter uns! Das sei unser Trost und unsre Zuversicht! Amen. Heiliger Gott und Vater, wir sagen Dir Lob und Dank, dass Du uns würdig gehalten von neuem Dein Wort zu hören und aus demselbigen zu schöpfen Erleuchtung, Trost und Stärkung. Ja lass uns je länger je mehr lebendig auf Dich hoffen um dessenwillen, der gekommen ist, uns zu Dir zu ziehen. Lass uns immer mehr vertrauen auf das Wort Jesu, dass wer ihn liebet, den werde er zum Vater führen und sie würden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen. Heilige uns immermehr als Deine Tempel rüste uns immer mehr aus mit Stärke und Kraft das 8 Joh 15,16 19–20 Vgl. 2Kor 12,9 29 Vgl. Lk 14,31 29–30 Vgl. Mt 18,20

22–25 Vgl. Joh 6,67–69

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Werk Deines Sohnes zu fördern, aber dann auch mit Stärke und Kraft zu hassen unser eignes Leben und nur Dich zu lieben und den Du gesandt hast! Amen.

Am 22. November 1812 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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26. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 25,1–13 Nachschrift; SAr 27, Bl. 51r–52v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 33, Bl. 67r–72r; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher am [ ] Eingang fehlt. Tex t. Matth. 25, 1 seq. M. Fr. Daß die Gleichnißrede des Erlösers den oben angedeuteten Zweck hat, darüber kann wohl kein Zweifel sein. Alle die, von denen er hier redet, gingen dem Erlöser entgegen, das Verlangen bei ihm zu sein, die Liebe zu ihm, den innerlichen Anspruch, von ihm anerkannt zu werden, schreibt er allen zu; er unterscheidet aber den Erfolg der Weisen von dem der Thörichten. So laßt uns denn über den Unterschied desselben reden nach den verschiedenen Beziehungen, welche in der Sache selbst, im Wesentlichen seiner Rede liegen. [1.] Zuerst ist gewiß unter Ankunft des Bräutigams eben dasselbe vorgebildet, was in den letzten Reden des Erlösers so häufig wiederkehrt, der entscheidende Punkt für die Begründung und Feststellung seines Reiches, den sich seine Jünger zuerst unter seiner bald nach seinem Tod zu erwartenden Wiederkunft auf Erden dachten. Dann erst sollten sich die Gemüther ganz entscheiden, dann sollten seine Anhänger sich trennen von der übrigen Welt. Allein m. Freunde wir dürfen wohl kein Bedenken tragen, auch darauf die Rede anzuwenden, worauf unsere Erfahrung uns führt: daß nämlich nichts gleichförmig geschieht, so auch nicht die Entwickelung des Reiches Christi auf Erden. Es ragen viele solche Punkte hervor in der Geschichte, welche als entscheidend für das ganze Geschlecht angesehen werden können. Ob einer dann da ist und bereit, das entscheidet für sein 0 Das Jahr 1812 ist zu vermuten, weil in den für Matthissons Nachschriften in Betracht kommenden Jahren der Predigttermin zum Kirchenjahresende entweder belegt ist (1810 und 1811) oder durch das Überlieferungsumfeld unwahrscheinlich ist (1813 bis 1815). 4 Dies ist wohl ein Bezug auf den fehlenden Predigteingang.

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Leben, für seinen Antheil an dem, was sich durch die Entscheidung im Reiche Gottes begründet. O, wenn wir einen solchen entscheidenden Punkt erwarten, o wie bereit sind da alle, die das Gute wünschen und lieben, alle für die das Reich Gottes das Höchste ist, und das Wandeln darin das Wünschenswertheste, wie bereit sind sie diesen Punkt nicht nur herankommen zu sehen sondern auch zu befördern. Seht da, das ist das Entgegengehen, der Eifer der Seele, die glühende Liebe, die zuversichtliche Erwartung, seht da, das sind die brennenden Fackeln, mit denen die Jungfrauen dem Bräutigam entgegengehen. Aber die allmählige Entwicklung und Herannahen eines Gutes entspricht selten der Ungeduld der Menschen, zieht es sich in die Ferne zurück: so entschlafen die einen so gut als die andern; aber wenn sich das Geschrei von der Annäherung von Neuem erhebt, dann offenbart sich der Unterschied zwischen den Weisen und den Thörichten; diejenigen, deren erster Eifer auf einem Grund der Beharrlichkeit und Geduld ruht, und die, bei denen er nur ein vorübergehendes Gefühl war. Die Ersten, obgleich auch sie eingeschlafen und nachlässig geworden waren, bei der ersten Ankündigung, daß der Bräutigam sich nahe, sind sie wieder vollkommen so gut ausgerüstet als zuerst. Anders freilich ist es mit vielen andern. Der Erlöser redet nicht einmal von denen, welche sich auch mit aufgemacht aber bei dem ersten Ausbleiben sich verloren hatten; er stellt uns solche vor, welche wieder erwacht von ihrer Lässigkeit, den Glauben an seine Erscheinung nicht verloren hatten; aber es fehlt ihnen an dem, was sie haben müssten, um | zu ihm zu gelangen. Das ist das Bild derjenigen welchen es an Geduld und Ausdauer fehlt, die nur so lange um ein Gut sich bemühen, als es in frischer lebendiger Gestalt ihnen vor Augen steht. Ist der erste Eifer verraucht: so haben sie nicht Kraft, die Schwierigkeiten zu überwältigen, nicht den Muth, den dunkeln Weg zurückzulegen. Dennoch, wenn wir daran denken, daß sie mit derselben Liebe wie jene erfüllt ausgegangen waren: so scheint uns die abschlägige Antwort der andern ihnen von ihrem Öle abzugeben, hart. Aber kann es anders sein? Läßt sich der feste Glaube, die Beharrlichkeit so schnell aus einem Gemüthe in das andere hinübergießen? Läßt sich was lebendig in dem Menschen gewesen sein muß, läßt sich ihm das von außen beibringen? Kann ein andres Verhältniß Statt finden, müsste jene nicht diese verlassen und diese jene beneiden? Die Weisen geben ihnen den Rath, aufs neue in die Schule des Lebens zurückzukehren, und dann wieder zu kommen; aber indem sie diesem Rath folgend erst lernen wollen, was ihnen fehlt: siehe da so kommt der Bräutigam. Und werden wirs nicht minder hart fühlen, daß er ihnen die Thüre verschloß? Sie berufen sich darauf, daß sie mit jenen zugleich ausgegangen und nur sich verspätet hätten; aber ich kenne euch nicht[,] antwortete er. Aber, m. Fr. es gilt hier, was der Erlöser sagt: er thue nichts aus eigener 4 ist] is

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Willkühr; er richte keinen, sondern wer gerichtet sei, der habe sich selbst gerichtet. Und überlegen wir näher: die, welche nicht ausharren können in der Erwartung des Gutes, die es weniger lieben, je öfter sie in der Erwartung getäuscht sind, das sind auch die, für welche das Gut selbst, die Rathschlüsse Gottes und seine große Führung des Menschengeschlechts bald ihren Reiz verlieren; sie haben eben so wenig, wie in der Erwartung des Reiches Gottes, im Genusse desselben Fähigkeit und Kräfte auszuharren. M. Fr. laßt uns zurücksehen auf die zuletzt vergangene Zeit. Wie war unsere Erwartung gespannt, wie hatten wir ein Ziel vor Augen und einen Glauben, es müsse erscheinen, worauf wir hoffen! Wie viel sind unter uns, die sich ganz lossprechen können, daß sie nicht schläfrig geworden, als es nicht gleich erschien, und unter denen, welche erwachten, wie viele die nicht zu demselben Eifer erwachten! wie viele, welche in sich selbst unfähig sind, rein zu genießen, was Gott der Herr den Hofnungen der Menschen und der angestrengten Thätigkeit derer, welchen es an Öl für die Lampe nicht fehlt, endlich gegeben hatte! Wie viele die nun in gleichem Zustand draußen stehen, als wären sie ausgeschlossen, und es ist doch allein ihr Gemüth, was sie ausschließt von dem Lobgesange, der drinnen erschallt und von denen, die sich der unmittelbaren Nähe des Bräutigams erfreuen.

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2. Die Anwesenheit des Bräutigams, sie bedeutet uns auch im Allgemeinen die wirkliche Gegenwart im Reiche Gottes; das Warten, das Entgegengehen der Jungfrauen, es ist nur Vorbereitung zum Reiche Gottes, und die Erwartung, zu welcher Lust und Freude genügt, wird zwar auch erfordert; aber das Einzelne, das ist der Beitrag, den wir zu geben haben, damit etwas wirklich werde, und unter denen, die ihn geben[,] werden unterschieden [in] Weise und Thörichte. Die Weisheit ist der Inbegriff alles dessen im Gemüth, welches zu einer durchgeführten umfassenden Thätigkeit gehört, was der Mensch haben muß, damit er unterscheiden kann, was er wolle und welche Mittel er zu ergreifen habe, um seinen Endzweck zu erreichen; Thorheit dagegen ist die Leerheit des Gemüthes, welche nicht beharrt, nicht weiß, wie die Wünsche erfüllt werden können, oder es versäumt, die dazu nöthigen Kräfte und Eigenschaften sich zu erwerben. O wir wissen es wohl: der gute Wille, die reine Gesinnung, die ungefärbte Liebe ist der erste Grund | von allem; ohne sie hätte nichts Werth; aber wir wissen auch, daß, wenn diese Liebe zum Erlöser nur als Lust in der Seele wäre: so würde nie etwas Wirkliches daraus hervorgehen, und das Reich Gottes nur in Wünschen und in leeren Erwartungen bestehen. Dadurch m. Fr. finden wir in der Erfahrung diese Erscheinung so häufig. Wie viele Menschen die nur guten Willen mitbringen, die aber keine tüchtige Fertigkeit keine Kunst besitzen, das Ge1–2 Vgl. Mt 7,1–2

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müth zu regieren, keine Kraft, andere Menschen zu halten zu tragen zukünftig zur Thätigkeit zu leiten, Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen, Licht zu verbreiten; wie vielen fehlt dieß und gleichwohl bekennen sie sich beseelt von Liebe und Lust zum Erlöser. Woher diese Thorheit? O bei einigen ist sie nichts als frevelhafter Leichtsinn; die Beschäftigungen des Gemüths, das Hin- und Herschauen, wie viele verleitet es zum bloßen leeren Brüten über Hoffnungen, bei welchen das Gemüth ungeläutert bleibt. Aber es giebt auch viele, wo es einen andern Grund hat. Macht man den Gegensatz zwischen dem was geistig ist, und dem, was weltlich: so kann man leicht dahin kommen, alles niedrig und irdischen Ursprungs zu halten, ausgenommen den guten Willen und die gute Gesinnung. Wenn die Rede ist, wodurch die Menschen dann thätig gemacht würden, etwas im Reiche Gottes zu Stande zu bringen: so sind es dieselbigen Tugenden und Geschicklichkeiten, deren sich auch die Kinder dieser Welt bedienen und so entsteht der verkehrte Gedanke, als ob man sich diesen durch Erwerbung und Anwendung derselben nicht dürfe gleichstellen. Übung in weltlichen Dingen, Lernen und Schöpfen aus der Erfahrung, Aufmerken auf die Zeit, auf Gelegenheit und Umstände, damit man lerne durch welche Mittel am besten der Zweck erreicht werde, das scheint vielen entweder etwas Geringfügiges oder wohl gar uns Christen unwürdig; aber der Erlöser selbst klagt in nicht unverständlichen Worten über diesen verkehrten Sinn: daß die Kinder der Welt oft klüger wären als die Kinder des Lichtes. Daher meinen sie auch; wenn sie so viel in der Welt und durch weltliche Mittel erstrebten so käme etwas heraus was sie selbst gearbeitet; alles Gute aber komme und geschehe allein durch den Herrn. Aber wenn wir selbst unsere Kräfte geübt, den Menschen in uns tüchtig gemacht haben zum Guten, wenn wir Eigenschaften oder Kräfte uns erworben oder in uns ausgebildet haben, die uns unsern Platz in der Welt anweisen: ist das nicht das Werk Gottes, und gebührt nicht ihm auch davon die Ehre? Und freilich wohl kommt das Gute vom Herrn, aber wenn wir uns nicht vorbereiten; verlangen wir, daß Gott uns das Vollbringen durch Eingebung, durch ein plötzliches Wunder geben werde, daß uns, ohne unser Zuthun plötzlich in dem Augenblicke Kräfte entstehen sollen, deren wir zur Vollbringung des Guten bedürfen? O, das ist die Thorheit derer, welchen es dann fehlt an Öl; die zum guten Willen mit bringen aber keine Werkzeuge zum Erreichen, und die dann gleich jenen thörichten Jungfrauen ausgeschlossen werden vom Reiche Gottes. Oder gibt es ein Sein in demselben, als durch unsere Anstrengung und Thätigkeit? Sehen wir zurück auf die vergangene Zeit, die unsere ganze Thätigkeit aufrief: so brauchte vieles von dem, was wir zu thun hatten, keine Vorbereitung, keine Übung; hinzugeben aufzuopfern von unsern Gaben, von unserm Glücke, das Leben selbst darzubringen, das verwehrte der kräftige Wille. Aber dieses 21–22 Vgl. Lk 16,8

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ist nicht Alles. Wie nothwendig ist die Weisheit einer verständigen Leitung, damit die Kräfte nicht vergeblich verschwendet werden, damit die Früchte nicht untergehen; o wie doppelt verdammlich und ausgeschlossen sind diejenigen welche in solcher Zeit versäumt haben, sich die nöthigen Eigenschaften zu erwerben, sich auszurüsten mit Einsichten und Fertigkeiten aller Art; o nein thöricht und doppelt thöricht die, welche sich verlassen möchten auf das, was der Augenblick bringen könnte. Endlich

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3. die Gegenwart des Bräutigams, was stellt sie uns anders dar, als die festliche Freude, die innere Seligkeit im Reiche Gottes; unter diesem Bilde stellt der Erlöser so oft sein Reich vor, weil es das ist, woran gemeinschaftlicher Genuß, woran eine über die gewöhnlichen Sorgen des täglichen Lebens erhöhte Glückseligkeit, ein Gefühl des gemeinsamen Daseyns unter den Menschen | sich anknüpft. Worin besteht dieser Genuß im Reiche Christi? O, daß uns das Licht leuchte, wobei wir den Herrn und seinen Willen erkennen, daß die Wärme des Glaubens, des thätigen Lebens in uns geweckt werde und erhalten, welche allein auf die reine Freude im Herrn gerichtet ist! Aber wenn ein solcher Genuß Statt finden soll unter unvollkommenen Menschen, was gehört dazu? der milde Geist, der ebenso bereit ist zu vergeben wie der Erlöser, und wenn wir das Reich Gottes selbst schwach unvollkommen und der Nachsicht anderer bedürftig, auch nur mit schwachen Menschen gründen und genießen sollen; o wie nothwendig ist es dann, daß uns diese Unvollkommenheit nicht störe, und wenn jenes Licht, dessen wir bedürfen, jene kluge und einsichtsvolle Thätigkeit dargestellt wird durch den Schein der Lampe: so ist das milde Öl das Bild dieses milden, vergebenden Geistes, von welchem allein jene Flamme, welche wärmt und leuchtet unter den Menschen sich nähren kann. Die Strenge, die Härte der verdrießlichen Menschen, die immer aufgeregt werden durch jede Schwachheit, durch jede, wie es ihnen scheint, Zurücksetzung, nicht hinreichender Anerkennung ihres Werthes, o wie oft verlöscht da das Öl. Dieß also, die vergebende Liebe müssen die mitbringen, welche dem Bräutigam entgegengehen und ihn einholen wollen. Und wem vergeben wird, und nicht wieder vergiebt, wird ausgeschlossen. O m. Fr. in dieser Zeit so verwickelter Thätigkeit, wieviel Veranlassung haben wir da, Vergebung [zu] empfangen oder zu ertheilen; laßt uns die Thorheit ausrotten, die Selbstsucht, das empfindliche, eigensüchtige verdrießliche Wesen aus unserm Gemüthe verbannen! Und wenn wir aus diesem Gesichtspunkte unser Leben in dieser Zeit betrachten, dann laßt uns nicht übersehen, wie es zu Christi Zeit geschah. Wie viele wurden nicht rein; wenn von allen diesen nur Einer umkehrte und Christi sein Leben weihte: wie klein wird das Häuflein derer sein, die sein Reich ausmachen, wenn von diesen 5 weise, und 5 thöricht sind. Darum laßt uns strenge prüfen, ob wir Öl haben in unsern Lampen, und denen, welchen es fehlt, rathen, lieber umzukehren und sich erst fähig

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und würdig zu machen zum Empfange des Erlösers; laßt sie uns wenigstens zeitig genug in unsere Gemeinschaft der leitenden Liebe und des Rathes aufnehmen. Mit diesem Vorsatze und dieser Gesinnung laßt uns das neue Kirchenjahr beginnen; pp.

Am 6. Dezember 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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2. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 4,19 Nachschrift; SAr 35, Bl. 2r–12v; Pischon Keine Keine Keine

Erste Predigt. Wie sollen wir Jesum Christum, der aufs neue uns erscheint, aufnehmen? Am 2. Sonntage des Advents den 6. Decbr. 1812. Ueber 1. Joh. 4. Vers 19. M. a. Fr. Wir fangen den Kreis eines neuen Jahres unsrer gemeinschaftlichen Andacht und Gottesverehrung damit an, daß wir uns freuen der Erscheinung unsers Erlösers auf Erden, daß wir uns vorbereiten das Fest seiner Geburt zu begehen mit einem Sinn, der ihm wohlgefällig und lieb sein kann, und wo anders als hier hätten wir den Anfang eines neuen Zeitabschnittes in dieser unserer | Beziehung setzen können. Von seiner Erscheinung beginnt Alles, woraus sich am größten und herrlichsten unser Heil, unser gesammtes Wohlergehen entwickelt hat. An seine Geburt und sein Leben sind alle Begebenheiten geknüpft, wodurch die lebendige Einsicht und der heilige Glaube sich über so viele Geschlechter der Menschen verbreitet hat. Nachdem das Leben des Erlösers auf Erden geendigt war, richteten sich bald die Wünsche und Hoffnungen der Sinne auf eine neue Zukunft des Herrn, auf seine Alles überstrahlende Herrlichkeit, von da an warteten sie mit Sehnsucht der Rückkehr zur Befestigung seines Reiches und des Gerichts, wodurch dasselbe befestigt werden soll. M. Fr. in beider Hinsicht ist der Anfang eines neuen kirchlichen Jahres eine neue | Ankunft des Erlösers. Er wird aufs neue vor uns treten in den mancherlei Zeitpunkten seines Lebens, aufs neue wird sich seine Lehre vor uns entwickeln, aufs neue wird er vor uns treten mit dem Worte seiner Weisheit und seiner göttlichen Liebe. Aber jede neue Zukunft soll auch und wird sein eine neue Zukunft zum Gericht. In einem jeden neuen Jahre, wo wir von neuem folgen seinen Fußstapfen, sollen wir uns strenger scheiden von denen, die diesen Weg 1 Davor Titelblatt: Predigten von Doctor Schleiermacher. Im Kirchenjahr 1812 und 13.

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nicht wandeln, uns immer mehr lieben als Brüder, uns sondern von der Welt und unbefleckt erhalten von dem Niedern. Billig also, indem dieses Jahr vor uns steht, als eine Zukunft des Erlösers, werden wir daran denken, wie wir ihn empfangen, ihn die Stätte unsers Herzens | reinigen sollen und bereiten. Das ist es, wohin unsre Andacht in dieser Runde sich richten soll.

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Diese Worte, m. a. Fr. gehen allerdings ursprünglich und unmittelbar auf Gott den Vater unsers Herrn Jesu Christi und den unsrigen, aber gewiß eben so im Sinne des Apostels, wenden wir sie auf unsern Herrn selbst an. Denn wenn er es in diesem seinen Briefe so wiederholentlich einschärft, daß unsre Liebe zu Gott nichts andres sei als der Wiederschein der Liebe Gottes zu uns, worin setzt er diese Liebe Gottes zu uns, als darin, daß er uns seinen Sohn gesandt in die Welt, wo|durch können wir einsehen, daß wir die Brüder lieben müssen, als dadurch, daß die wahre Erkenntniß zwischen Gott und Menschen vermittelt ist durch ihn? Und wenn er sagt: wer bekennet Jesum Christ, der ist von Gott geboren, und wer da liebet den, der ihn geboren hat, der liebet auch den, der von ihn geboren ist, – wie könnten wir es besser anwenden als auf den, den er den eingebornen Sohn des Vaters nennt. Wohlan, wenn wir fragen: wie wollen wir Jesum Christum, der aufs neue erscheint, aufnehmen? Lasset uns ihn lieben, denn er hat uns erst geliebt! Mit Liebe, m. A. lasset uns ihn aufnehmen, und diese Liebe sei I. eine dankbare, II. eine verlangende, und III. eine hoffnungsreiche und vertrauende Liebe. | I. Wenn ich dazu auffordere, daß unsre Liebe zum Erlöser sein soll eine dankbare Liebe, so leuchtet ja das jedem von selbst ein, daß wir ihm so wenig als Gott etwas wiedergeben und vergelten können; aber das Wesen der Dankbarkeit ist eben auch die Erkenntlichkeit, und das ist es, was ich [Zu Z. 8–10 von Schleiermacher geändert in:] Diese Worte, m. a. Fr. gehen allerdings dem Zusammenhang nach ursprünglich noch unmittelbar auf Gott den Vater unsers Herrn Jesu Christi und den unsrigen, aber gewiß eben so im Sinne des Apostels, wenden wir sie auf unsern Herrn selbst an. [Zu Z. 23 von Schleiermachers Hand:] NB. die Bruderbeziehung [Zu Z. 24 von Schleiermachers Hand:] Gott sei Dank der uns eilig gegeben [Zu Z. 25 von Schleiermachers Hand:] Zeige uns die Rebe [Zu Z. 26 von Schleiermachers Hand:] Wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken 16–18 Vgl. 1Joh 5,1

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meine. Indem der Erlöser aufs neue unter uns erscheint, lasset uns festhalten und wieder sehen, was er uns früher gewesen, lasset uns in inniger Erinnerung zusammen fassen, was wir durch ihn schon genossen haben und geworden sind. Ich glaube, es wird niemand etwas Bedeutendes einzuwenden haben, wenn ich sage, daß der größeste Theil der Menschen, auch unter uns die wir hier versammelt sind, ja vielleicht keiner ausgenommen, den übrigen Theil | des Lebens frischer im Gedächtniß hat, als was sich auf unser Leben mit dem Erlöser, und durch ihn bezieht. Wie wir gekommen sind zu der Stätte, die uns mit der bürgerlichen Gesellschaft eint, wie unser Beruf sich entwickelt hat durch erfüllte und getäuschte Hoffnung, wie wir durch Freuden und Widerwärtigkeiten dahin gekommen sind, wo wir stehen, davon weiß jeder eine genaue Rechenschaft abzulegen, und Alles gestaltet sich in ein Bild des Lebens, was dem Menschen, sobald er darauf zurückkommt, deutlich vor Augen steht. Dasselbe nehmliche gilt von den Verbindungen der Liebe und Freundschaft mit andern! Wo wir diesen oder jenen zuerst getroffen haben, wie sein innres Leben sich uns zuerst entfaltet hat, wo wir ein Vorur|theil, das wir zuerst über ihn gefaßt haben, fahren lassen, wie er sich uns werth gemacht hat im leiblichen oder geistigen Zeiten der Noth, das haben wir in lebhafter Dankbarkeit in der Erinnerung. Ja, wie wir geworden sind dieses und jenes, denn nicht ohne Sinn bildet sich der Geist des Menschen aus und allmählig gewinnt er in der Welt an Gaben und Einsichten, und er weiß sich zurückzurufen, wie und wo ihn dieses allmählich oder unerwartet ist klar und deutlich geworden. Wohlan, m. Fr. ist es auch so in Beziehung auf das, was wir durch den Erlöser besitzen, in Beziehung auf unsre Freundschaft mit ihm, in Beziehung auf die geistlichen Güter, womit er uns, den einen mehr, den andern weniger gesegnet | hat in der Zeit unsers Lebens. O, wie wir uns auch seiner bewußt sind und mehr als alles Einzelne in der Welt (das klare Bewußtsein) den klaren Zusammenhang unsres Lebens in Christo und durch Christum haben, und wie wenige unter uns mögen den haben: o, sehet einmal zurück in die Vergangenheit, vergegenwärtigt auch das, wißt ihr noch, wie sich das gebildet hat in euch, ist euch noch gegenwärtig der Augenblick, wo eins seiner Worte euch zur Besinnung brachte, euch aufmunterte aus der Verzagtheit, noch gegenwärtig der Augenblick, wo ein Strahl von seiner Weisheit mit wunderbarem Lichte euch in die Seele strahlte und belebte, sind sie euch gegenwärtig die Fortschritte der Heiligung, wo ihr immer mehr seine | Kraft gefühlt habt und die Stunden, wo ihr schwach waret, o habt ihr ein Bild, – wie aus ihm, dem ewig grünenden Weinstock in euch die zarten und schwachen Reben seine höhere Kraft eingedrungen ist? O lasset uns das nicht vergessen und undankbar sein, und lebendig das Vergangene uns darstellen, denn ohne das giebt es keine Liebe. O, sehet einen Men9 Stätte] Stette

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schen, der euch lieb ist! wie tritt aus seinem vergangenen Leben bald dies bald jenes euch heraus; wie tritt es euch hervor, wie er damals dieses und dort jenes euch geworden ist und Alles das mit zarten Fäden zusammenhängt. Jetzt erscheint uns Jesus aufs neue, o möge es eben so sein, und in den seligen Augenblicken der Gegenwart das Vergangene | uns vor Augen stehen, das Vergangene, wie wir auch da und dort schon seine Nähe gefühlt haben in unsern Herzen; wenn uns eins oder das andere seiner herrlichen Worte entgegentrat; aber die Kraft, die wir schon früher daraus geschöpft, die Stärkung in diesem oder jenem Augenblick, die wir daraus gesogen, sie werde uns gegenwärtig, und mit neuer Liebe lasset uns den aufnehmen, der uns schon so viel war. O, m. Fr. es ist hierein etwas Erfreuliches, daß es ein so eng geschloßener Kreis ist, um den unser Leben mit dem Erlöser sich dreht, von jedem Punkte gewinnen wir eine schöne Ansicht, um die sich Alles zusammendrängt; o in diesen Momenten, wodurch das Band der Liebe sich befestiget hat, | werden wir immer auf eine andere Art, aber immer auf dasselbe Bild zurückgeführt, und was kann mehr dem flüchtigen und vergeßlichen Leben zu Hülfe kommen, als was darauf sich bezieht. So lasset, m. Fr. den neuen Kreis der Erinnerung an die große Begebenheiten des Christenthums ansehen und beginnen, daß Alles das, eine dankbare Erinnerung werde an den, der uns zuerst geliebet hat. II. Soll die Liebe, mit der wir den Erlöser aufnehmen sein eine verlangende Liebe. Einem zufälligen feindseligen Zusammentreffen der Menschen, dem geben wir den Namen der Liebe noch nicht. Wo Liebe ist, da soll sein ein eifriges Verlangen, eine Sehnsucht des Herzens sich mitzutheilen und zu empfangen, | da muß gefühlt werden ein Bedürfniß der Nähe und des Zusammenseins mit dem geliebten Menschen, und wo dieses nahe ist, da ist keine Liebe. War es nun das Bedürfniß des göttlichen Herzens bald in die Menge hinauszutreten, um den Samen seines göttlichen Wortes zu streuen, bald Einzelne nur sich zu nahen, was könnte er suchen und finden als Verlornes, was durch ihn erst aus dem Schlummer geweckt werden konnte, und dennoch war er darin sein ganzes Leben hindurch begriffen, suchend solche, die seine Liebe empfangend ihn wieder lieben würden. Und auch jetzt, es ist eben sein Zurückkommen, was die Menschen suchen, was da ist, ehe denn in unserm Herzen das Bedürfniß eines Erlösers oder ein Bestreben uns eben | seine Erlösung zu gewinnen aufgeht, ehe wir wissen, was von ihm gekommen ist, und was erst im nähern Zusammenhang mit ihm genossen werden wird. So sucht er uns, indem wir mit den ersten Tagen des Lebens ihm geweiht werden, so sucht er uns, indem in unser zartes Leben, das noch keine Ahnung von ihm hat, sein Bild gestaltet und eingeprägt wird, indem unserm Gedächtniß mitgegeben werden, als ein sicheres Bedürfniß für die Tage der Zukunft Worte der Weisheit, in denen er uns dargestellt wird, und wir ohne die höheren Beziehung, wodurch

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wir einst lernen das ewige Reich Gottes zu finden; o so sucht er uns durch die Warnungen, denen keiner entgeht, daß sich zeigen die Keime des Verder|bens, die im Herzen geblieben sind, die Schwäche der Lust, daß entsteht das Bedürfniß einer göttlichen mit großer Kraft ausgerüsteten Hülfe, die wir in ihm finden. So ist es eine verlangende und suchende Liebe mit der der Erlöser jeden unter uns erst geliebt hat. O, wir sollen es nicht so hinnehmen, sondern wie er uns erst geliebt, so lasset uns ihn wieder lieben, mit ihm theilen Alles, was in unserm geistigen Leben vorgeht. Gelegenheit müssen wir gewiß haben die Nähe eines solchen großen Freundes zu bedürfen und zu schätzen. Fehlen kann es nicht, daß es Augenblicke in unserm Leben giebt, aus denen uns zu retten wir nur ihn suchen, nur zu ihm unsre Zuflucht nehmen können. O wie oft ver|irrt sich unser Geist, verirren sich die besondern Beziehungen, nach welchen wir, wie sie einzeln da stehen, unser Leben richtig zu leiten müssen, wie viel Veranlassung ist da den zu suchen, der einen einfachen sichern Weg uns gebahnt hat, den wir, ob er auch oft uns verschwindet, auf diesem Wege immer wieder finden und uns vorangehen sehen. Wie oft wir auch mit Klarheit das Leben, es wird wieder dunkel vor unsern Augen und wir entbehren den Zusammenhang unsers Daseins mit dem aller Menschen, und wenn es so dunkel geworden ist um unsre Augen, was könnte uns wichtiger sein als den suchen, der das wunderbare Licht von oben gebracht hat, aus dem es | uns immer entgegenstrahlt, Alles aus jedem Punkt unsers Daseins deutlich macht. Wie oft, m. Fr. suchen wir uns zu befleißigen, den Acker Gottes zu reinigen von dem Unkraut und haben Ursach zu bemerken, daß das Verderben sich nicht ausreißen lässt; o, was [ist] da zu thun, als den aufzusuchen, der mit ewiger Kraft und in dem Gefühl vergebender und reinigender Liebe, denn beides ist nicht zu trennen, dasteht. Mit dieser vergebenden und heiligenden Liebe wird er wieder dastehen in dem neuen Jahre vor uns schwachen bedürftigen Menschen. Lasset uns nicht träge seiner warten, sondern ihn aufsuchen, wo wir ihn bedürfen, kräftig wird dann seine Liebe unser | Gemüth leiten und je mehr wir suchen mit dieser Liebe, desto mehr kann er sich mittheilen und in unser Herz schaffen, was zum fortschreitenden Heil desselben gehört. III. Aber drittens soll unsre Liebe auch sein eine hoffnungsvolle, vertrauungsreiche Liebe. Keiner unter uns kann sich das Verhältniß zwischen ihm, dem Erlöseten und Jesu dem Erlöser allein und getrennt von allem Uebrigen darstellen. Wir müssen und fühlen es, daß unser Dasein besteht in dem Zusammenhange des christlichen Bundes und des ganzen Daseins seines Reiches auf Erden, und wir bedürfen es, daß wir mit Hoffnung und 26 vergebender] vergebenden

26 reinigender] reinigenden

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mit Vertrauen in dem angeschlossenen | Kreise weiter mit Hoffnung und Vertrauen auf das Gelingen des Guten hinsehen; wir fühlen es, daß unsre Schwachheit es bedarf, daß wir nicht niedergedrückt werden und etwas überkommen, woran auch unser geistiges Leben hängt. M. Fr. viel Hoffnung gewährt es uns schon unser Zusammensein als Christen, wenn wir nicht unterlaßen wollen uns tröstend darzustellen dieselben Worte des Erlösers, die wir hier hören werden. Zu wie wenigen wurden sie gesprochen als sie den Lippen des Erlösers entflohen, und wie wenige waren es, die sie auffassen konnten, und wie ist gewachsen die Zahl derer die sie verstehen und wie viele Früchte des Heils ha|ben sie getragen unter dem hingeschwundenen Geschlechte der Menschen und tragen sie noch immer in gläubigen Herzen. Und wenn wir sehen auf die, die mit dem Erlöser wandelten, wie klein war das Häuflein und wie schwach der Zusammenhang, wie kleinmüthig die Herzen, wie getheilt ihre persönlichen Verhältnisse unter einander, und aus so schwachen Werkzeugen ist doch geworden das große Werk, und wie sollten wir zweifeln, wie er uns geliebet hat so wird er immer hängen an den Seinen, und wie in den vergangenen Tagen das Wort Gottes auf Erden durch sie gefördert worden ist, so wird es auch sein in der Zukunft. So lasset uns ihn mit Liebe aufnehmen, mit Treue ihm nachzie|hen und hineinschauen in sein göttliches Leben. O wie viel Ursach hatte er als Mensch bange zu sein und sorgenvoll, und wie fest vertraute er in den Tagen seines Lebens und in der Stunde seines Todes. Diese Hoffnung lasset uns von ihm ergreifen und dadurch zu dem Muth und der Tapferkeit beseelt werden, wodurch allein Alles seine Dauer erhalten kann. Immer möge sein Wort hier, wo wir gemeinschaftlich uns versammeln als seine Jünger, in uns bekräftigen seine Macht, daß die Hoffnung, daß sein Reich nicht untergehen kann in unsern Herzen sich immer mehr befestigen, immer kräftiger und sicherer werde. Amen. O, gütiger Gott und Vater! sei Du | aufs neue auch in diesem kirchlichen Jahr unter uns mit deinem Geiste und laß an uns allen gesegnet sein die Verkündigung des Evangelii, laß uns immer mehr aus seiner unerschöpflichen Fülle nehmen Gnade um Gnade, laß uns immer mehr gestaltet werden in das Bild deines göttlichen Sohnes und immer mehr zunehmen an Liebe, Glaube und Hoffnung. O, dann wird unser Leben dir immer wohlgefälliger sein und auch wir werden Theil haben, wenn dein heiliger Wille auf Erden vollbracht wird. Amen.

1 angeschlossenen] anggeschlossenen 33–34 Vgl. 1Kor 13,13

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Am 25. Dezember 1812 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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1. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 2,8–11 (Anlehnung an die Festtagsperikope) Nachschrift; SAr 35, Bl. 18r–22r; Pischon (unvollendet) Keine Keine Keine

Dritte Predigt. Wie wir das Fest der Geburt Jesu Christi als das Jahresfest unsers Herrn und Königs und als das unsers einzigen Freundes ohne Gleichen begehen sollen. Über Luc. 2, 8–11. Am ersten Weihnachtstage 1812.

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Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Amen. Tex t.

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Luca. 2, 8–11.

M. a. Z. Nicht sind wir jenen Hirten zu vergleichen welchen, ohne dass sie an etwas Großes und Besonders dachten, unter den gewöhnlichen Beschäfftigungen ihres täglichen Lebens, die große frohe Botschaft verkündigt wurde. Nein mitten aus dem Leben, das uns durch ihn geworden ist, mitten im Besitz der Wohlthaten, die er uns erwiesen hat, ertönt sie uns aufs neue, darin eben verschieden, dass es keine besondre Erscheinung ist und keine Klarheit der Engel uns umleuchtet, wohl aber erkennen wir im Glanze eines solchen Tages die Klarheit seines Lichtes, welches uns so lange geleuchtet, wohl die Klarheit seines Lichtes, wenn wir zurücksehen auf | die Jahrhunderte, seit welchen die Botschaft erschollen: Christus ist geboren, der Herr in der Stadt Davids. Wenn alle unsre christlichen Zusammenkünfte uns eine Ausbreitung jener Botschaft sind, weil wir nur ihn die untereinander feiern, so sind doch diese Tage zum Andenken seiner Geburt bestimmt ganz besonders eingesetzt, daß wir gleichsam sein Jahresfest begehen sollen. Wenn ein treues Volk das Jahresfest seines Herrschers feiert, so erinnert es 1 Vgl. Titelblattangabe zur Predigt vom 6. Dezember 1812 vorm. Kanzelgruß

7–8 Lk 2,14 als

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sich mit Dankbarkeit und Liebe der weisen Gesetze, die er gestiftet hat, der Weisheit mit welcher er regiert, des starken Arms mit dem er es vertheidigt. Wenn ein Kreis vertrauter Freunde unter sich das Jahresfest eines unter ihnen begeht, so erinnern sie sich froh und dankbar der heiligen Stunden, die ihnen allen durch ihn geworden sind, aller Stärkungen und Erheiterungen des Lebens, die ihnen sein Dasein gewährt. Es kommt beides zusammen, da wir das Jahresfest des Erlösers begehen. Er ist unser Herr und König, dazu gesetzt, dass er König sei im Hause Gottes ewiglich, und er ist unser Freund, wie er sich selbst ja nennt der Sünder Freund, und wir sind ein | Kreis der Seinigen, die sich freuen dessen, von welchem ihnen alles Gute des Lebens kommt. Wohlan! wir rufen uns zu, uns ist große Freude widerfahren Christus ist uns geboren, der Herr in der Stadt Davids. – Wir wollen uns diese Freude erwecken und mittheilen indem wir auf diese beiden Punkte sehen I. wie wollen wir das Jahresfest des Erlösers feiern als das unsers Königs, II. als das des einzigen Freundes ohne Gleichen. I. Es ist das Jahresfest unsers Herrn und Königs, das wir begehen. Als sein Volk, und, ich hoffe es sagen zu können, als sein getreues, ihm verbundenes und folgsames Volk sind wir, ist die Christenheit überall in diesen Tagen vereinigt, sein Fest zu begehen. Lasset uns gedenken der gerechten und heiligen Gesetze in seinem Reiche, der Weisheit mit welcher er es regiert, als der Statthalter Gottes auf Erden, lassest uns gedenken des starken und mächtigen Armes, womit Jesus Christus sein Reich vertheidigt. – Auf zwei großen Gesetzen ruht das ganze Reich des Erlösers: heiliget euch in der Wahrheit, Gottes Wort ist die Wahrheit! und liebet euch untereinander so wie ich euch geliebt habe! | O, m. Fr. wer diese Gesetze in sich aufgenommen hat und danach sich regieren lässt, der wird den preisen, der sich gegeben hat, wer sie erst erkennt erwacht aus der Welt, als das himmlische Licht muss er sie sogleich fühlen. Was ist es, was die Menschen so niederdrückt, weshalb sie seufzen und das Leben ihnen so langsam zu vergehen scheint, als weil sie sich nicht heiligen in der Wahrheit, dem Schein und Truge fest halten, nur an der Oberfläche hängen und diesem huldigen, was ihnen fast unter den Händen vergeht. Wer sich in der Wahrheit heiliget, der hat, wie der Erlöser verheißt ein ewiges Leben in sich, eine Quelle des lebendigen Wassers nie versiegenden Wassers, die Wahrheit lässt ihn je länger je mehr erkennen, welches die wahren Güter des Lebens sind, klärt auf, was ihn an den Besitz der ewigen Güter hindert und was sie verschafft. Darum indem Christus dieses Gesetz gab, hat er gewollt, daß jeder in sei9 Vgl. Mt 11,19; Lk 7,34 35–36 Vgl. Joh 4,14

25–26 Vgl. Joh 17,17

26–27 Vgl. Joh 13,34; 15,12

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nem Reiche nach wahren Gütern trachten solle, denn ist erst der Schein und Trug geschwunden, erkennt der Mensch erst seine Bestimmung und was Gott der Herr aus der Fülle seiner Gnade ihn gewähren will, da ist er auf dem rechten Wege Alles zu erwerben und unter seinem Schutz zu genießen. | Und das zweite Gesetz, o wie herrlich das ist und statt aller andern, muß ein jeder unter uns gefühlt haben und täglich inne werden. Was sind alle Kräfte ohne die Kraft der Liebe, wie ist der Mensch ohne sie ohnmächtig und allein, unvermögend etwas festzuhalten. Alle Erkenntnisse des Ewigen, wie besitzen wir sie nur durch die Kraft der Liebe und wie verstärken und verherrlichen sie sich durch diese Kraft der Liebe, wo jeder etwas hinzuthut und alle andere Anstrengungen der Menschen, wie zerschellen sie doch an den Kräften mit denen sie zu streiten haben und an dem eignen Innern selbst, das nicht in dem großen Gesetze der Liebe steht. – Und mit welcher Weisheit unser Herr und König sein Reich regiert? – Es giebt keine Gewalt der Welt ohne Unterordnung, ohne Leitende und Folgende und so hat er von Anfang an seine Kirche geordnet und so hat sie immer bestanden. Sonst drängen die Menschen sich dahin, wo sie gebieten können, in seinem Reiche aber hat der Erlöser die ewige Ordnung gesetzt: wer unter euch herrschen will sei der andern Diener! Das sind die mächtigen Grundpfeiler, die jedes Verderben von diesem Reich abhal|ten. Es ist nicht möglich, dass jemand in diesem Reiche zu einem Einflusse gelange, als der, der Aller Diener sein will, nach nichts strebt, als alle dieser Güter theilhaftig zu machen, denn auf keinen andern hören seine Schafe als auf ihren Hirten und auf den, der seine Stimme verbreitet und verkündigt so weit er gehört werden mag. Darum ist das Reich Christi ein Reich des Friedens, darum fühlt sich jeder voll und ganz, denn es giebt noch den, von welchem alle Kraft ausgeht, fühlt sich leitend und mittheilend, denn es giebt noch immer schwächere und ein jüngeres aufwachsendes Geschlecht, dem er mittheilen kann und einprägen, was er empfangen. – Und m. Fr., wie vertheidigt unser Herr und König sein Reich! mit welchem starken Arm, den auch die Macht der Hölle nicht zu überwältigen weiß, und das Alles kraft seines Gesetzes und Zurufes: wer sein Leben erhalten will, der wird es verlieren, wer es aber nicht achtet um meinetwillen, wer es in die Schanze schlägt für die große Sache Gottes, der wird es gewinnen, weil er nicht am Zeitlichen hängt sondern am Ewigen. So ist er uns vorangegangen durch Leiden Trübsal und Tod, auf dass er sich erwürbe und er|hielte ein Volk zum Eigenthum; so sind denselben muthigen und blutigen Weg gegangen die Zeugen seines Reiches. Und das ist auch in ruhigen Tagen die tägliche Erfahrung eines jeden. Wir alle haben sein Reich zu vertheidigen gegen 26 denn] den 19 Vgl. Mt 20,26; Mk 10,43

31 Vgl. Mt 16,18

32–34 Vgl. Mt 16,25

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Verführung und Irrthümer des Verstandes und Herzens und wer dennoch sein Leben behalten will mit den aufgesammelten Fehlern und Irrthümern der Menge, nur so streiten will dass er sein Leben zu erhalten sucht der wird und kann es nicht gewinnen, aber die, denen die Sache Gottes Alles ist, die das Reich vertheidigen, dessen Bürger sie sich fühlen und nichts anders zu sein begehren. – Ja, so ist das Reich des Erlösers, so ist es immer gewesen, so hat es sich erhalten bis auf diesen Tag und wenn wir es vergleichen mit menschlichen Anstalten, die von einer großen Anzahl von Kräften geleitet und beherrscht werden, sehen wir nicht, dass alles Elend daher kommt, dass sie nicht der Wahrheit dienen und durch etwas anders herrschen wollen, als durch die Liebe, dass jeder sich erhebt über den andern und nur herrschen will indem er dienet! Aber wenn das Reich des Erlösers besteht unter denen, die seinen Namen tragen und allein durch solche, die eingebürgert sind in dieses Reich Christi; | woher diese Gewalt des leeren Scheins, woher diese wachende Feindschaft, woher, wenn wir auf das Rund der Erde blicken, woher die Tausende von Leichen, die gestorben sind, nur um ihr Leben zu verlieren, nicht zu gewinnen? Das zeigt uns freilich, wie viel wir noch zu thun haben, wie die große belebende Kraft, die der Geist Christi unter den Seinigen verbreitet, müsse verherrlicht werden, wie vom Höchsten bis zum Niedrigsten noch alle mehr nöthig haben sich zu unterwerfen diesem Herrn und König; und dann lasset uns seine Jüngerschaft begehren und es laut in die Welt rufen: Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein andrer Name den Menschen gegeben, darin sie sollen selig werden als allein in dem Namen Jesu Christi, und wenn wir, seine Gemeine, nicht suchen Alles zusammenzuhalten und dem Rechten zu verbinden, uns zu stärken und zu kräftigen gegen die angeborne Feigheit, so ist kein Heil zu finden! Ihr großen Potentaten, Nehmt diesen König an, Wenn ihr auch wollet rathen Und gehn die rechte Bahn Die zu dem Himmel führt; Sonst, wo ihr ihn verachtet, | und nur nach Hoheit trachtet, euch Gottes Zorn berührt! II. [Der Text endet hier.]

22–23 Vgl. Apg 4,12 28–35 Vgl. Porst’sches Gesangbuch, 1812, Nr. 17: „Nun jauchzet all’, ihr Frommen“ (Melodie von „Von Gott will ich nicht“), Str. 4

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Predigten 1813

Autograph Schleiermachers der Predigt vom 16. April 1813 vormittags, SAr 13, Bl. 20r – Faksimile (92 %). Der rechte Seitenrand ist nicht wiedergegeben.

Am 28. März 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

Laetare, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Jer 17,5–8 und 18,7–10 Drucktext Schleiermachers; Predigt am 28. März 1813, 1813, S. 1–31 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 37–50; 21844, S. 69–83 Zwei Predigten, 1863, S. 3–20 Sämmtliche Werke, ed. Grosser, Bd. 5, 1877, S. 30–41 Auswahl Predigten, ed. Langsdorff, 1889, S. 70–84 Geistliche Weckstimmen, ed. Winter, 1913, S. 54–69 Vaterländische Predigten, Bd. 2, 1920, S. 77–90 Patriotische Predigten, ed. Schotte, 1935, S. 64–72 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Predigt anlässlich des Aufrufs „An mein Volk” von Friedrich Wilhelm III. von Preußen

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Predigt am 28. März 1813 gesprochen von F. Schleiermacher d. G. G. D. u. O. O. Lehrer an der Universität zu Berlin, auch Prediger an der Dreifaltigkeitskirche daselbst. Zum Besten der Auszurüstenden. Berlin, in der Realschulbuchhandlung. 1813. |

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Der Aufforderung, diese Predigt zu dem angegebenen Zweck dem Druck zu übergeben, habe ich mich nicht entziehen gewollt. Einige Erweiterungen im Einzelnen abgerechnet, wird der niedergeschriebene Vortrag möglichst dem wirklich gehaltenen gleich sein. |

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Meine andächtigen Zuhörer! Durch ein außerordentliches Ereigniß finden wir die Reihe unserer Vorträge über den leidenden Erlöser unterbrochen, und unsere heutige Zusammenkunft einem ganz andern Gegenstande gewidmet. Wie waren wir schon Alle durch die Begebenheiten der letzten Wochen auf das innigste bewegt! Ausziehn sahn wir aus unsern Mauern das Heer eines dem Namen nach uns verbündeten Volkes: aber nicht, als ob Freunde von uns schieden, war uns zu Muthe; sondern mit dankbarer

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11–13 Gemeint ist der Aufruf „An mein Volk” von Friedrich Wilhelm III. von Preußen. 16 Gemeint ist Frankreich.

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Freude fühlten wir den langen schweren Druck endlich von uns genommen. Jenem folgten auf dem Fuße die Schaaren eines andern Volkes, dem Namen nach mit uns im Kriege: aber mit der fröhlichsten Begeisterung wurden sie aufgenommen, wie sie sich auch zu erkennen gaben, als des Königes und des Volkes Freunde. Und als wir nicht lange nach ihnen auch unsere eignen Krieger zurückkehren sahen, da durfte keiner mehr zweifeln; sondern froh ging die Rede | von Mund zu Munde, Dank dem himmlischen unverkennbaren Zeichen, welches Gott der Herr durch die schrecklichen Zerstörungen des Krieges im Norden gegeben, Dank den edlen und tapfern Heerführern, die selbst den Schein des Ungehorsams und die Verletzung des Buchstabens nicht achtend, es wagten, wahrhaft im Sinn und Geist des Königs handelnd den ersten entscheidenden Schritt zu thun, um uns von den unerträglichen Banden, die uns so lange gefesselt hielten, zu befreien, Dank dem Könige, der in diesem dargebotenen günstigen Augenblick nichts anderes, als seinen, dem unsrigen ganz gleichen Sinn konnte walten lassen, Dank dem allen, die große Veränderung, der Uebergang von der Knechtschaft zur Freiheit bereitet sich. Aber wie unverholen wir auch unter uns Gott freudig dankten: es war noch nicht Zeit es öffentlich zu thun; denn der König hatte noch nicht geredet. Endlich erscholl es uns, das lange und ungeduldig erwartete Königliche Wort, welches, wiewol es gewiß uns allen aus den öffentlichen Blättern tief eingeprägt ist, wir, da es auf des Königs Befehl heute von allen Kanzeln der Stadt soll verlesen werden, auch gewiß alle mit Freuden und Rührung nochmals hören werden. Also lautet es: |

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Hierauf folgte der Aufruf des Königs: an mein Volk. So der König; und ich enthalte mich billig lobpreisend über dies Königliche Wort zu reden. Sie ist noch frisch in uns Allen, die Freude über die Gewißheit des Kampfes, die uns dieses Wort giebt, über den edlen und hohen Geist, in dem hier ausgesprochen worden, was lange jeder Beste im Volk gefühlt und gedacht hatte. Und nun, kaum hatten wir diesen herrlichen Ruf vernommen, so schlug unser Ohr der Jubel einer alle Deutschen theuern und ehrwürdigen Stadt, die zuerst von dem unmittelbaren feindlichen Joche befreit ward; und – die Krone von allem – wir sahen unsern theuren König selbst unter uns treten, mit einem Ge11 Buchstabens] Buchstaben 3–4 Gemeint ist Russland. 26 „An mein Volk. So wenig für mein treues Volk, als für Deutsche, bedarf es einer Rechenschaft über die Ursachen des Krieges, welcher jetzt beginnt. Klar liegen sie dem unverblendeten Europa vor Augen. Wir erlagen unter der Uebermacht Frankreichs. Der Frieden, der die Hälfte meiner Unterthanen mir entriß,

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fühl, ja wir dürfen es uns gestehen, wie es noch nie sein Herz kann gehoben haben, weil er noch nie Veranlassung hatte, so innig und wahr zu empfinden, was doch für einen Herrscher das beglückendste und erhebendste ist, die reinste Uebereinstimmung zwischen seinem Willen und seiner Völker Wunsch; wir sahen ihn das Heer, auf seinen Befehl zum Kampf geweiht und gesegnet durch Gebet, hinaus geleiten den Weg, der es dem Feinde entgegen führt. Dieses nun, der Durchzug unsers Heeres zum Kampf, zum entscheidenden Kampf um das | höchste und edelste, ist der Gegenstand, der, wie er gewiß uns Alle erfüllt und bewegt, uns

gab uns seine Segnungen nicht; denn er schlug uns tiefere Wunden, als selbst der Krieg. Das Mark des Landes ward ausgesogen. Die Haupt-Festungen bleiben vom Feinde besetzt, der Ackerbau ward gelähmt, so wie der sonst so hoch gebrachte Kunstfleiß unserer Städte. Die Freiheit des Handels ward gehemmt, und dadurch die Quelle des Erwerbes und des Wohlstandes verstopft. Das Land ward ein Raub der Verarmung. Durch die strengste Erfüllung eingegangener Verbindlichkeiten hoffte ich, meinem Volke Erleichterung zu bereiten, und den französischen Kaiser endlich zu überzeugen, daß es sein eigener Vortheil sey, Preußen seine Unabhängigkeit zu lassen. Aber meine reinsten Absichten wurden durch Uebermuth und Treulosigkeit vereitelt, und nur zu deutlich sahen wir, daß des Kaisers Verträge mehr noch wie seine Kriege uns langsam verderben mußten; jetzt ist der Augenblick gekommen, wo alle Täuschung über unsern Zustand aufhört. Brandenburger, Preußen, Schlesier, Pommern, Litthauer! Ihr wißt, was ihr seit 7 Jahren erduldet habt, Ihr wißt, was euer trauriges Loos ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert euch an die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, den großen Friedrich. Bleibet eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft. Gedenkt des großen Beispiels unserer mächtigen Verbündeten der Russen, gedenkt der Spanier und Portugiesen, selbst kleine Völker sind für gleiche Güter gegen mächtigere Feinde in den Kampf gezogen und haben den Sieg errungen, erinnert euch an die heldenmüthigen Schweizer und Niederländer. Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden, denn unser Beginnen ist groß, und nicht gering die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Ihr werdet jene lieber bringen für das Vaterland, für euren angebornen König, als für einen fremden Herrscher, der, wie so viele Beispiele lehren, eure Söhne und eure letzten Kräfte Zwecken widmen würde, die euch ganz fremd sind. Vertrauen auf Gott, Ausdauer, Muth und der mächtige Beistand unserer Bundesgenossen, werden unsern redlichen Anstrengungen siegreichen Lohn gewähren. Aber welche Opfer auch von Einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen Preußen und Deutsche zu seyn. Es ist der letzte entscheidende Kampf den wir bestehen, für unsere Existenz, unsere Unabhängigkeit, unsern Wohlstand. Keinen anderen Ausweg giebt es, als einen ehrenvollen Frieden, oder einen ruhmvollen Untergang. Auch diesem würdet ihr getrost entgegen gehen, um der Ehre willen, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben vermag. Allein wir dürfen mit Zuversicht vertrauen. Gott und unser fester Wille werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sicheren, glorreichen Frieden, und die Wiederkehr einer glücklichern Zeit. Breslau, den 17. März 1813. Friedrich Wilhelm.“ Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen, Jg. 1813, Nr. 35, 23. März 1813, Bl. 1

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besonders in dieser Stunde beschäftigen soll, damit auch für uns dieser heilige Krieg beginne mit demüthigend erhebenden Gedanken an Gott, damit ihm unsere Hoffnung und unsere Freude geheiliget werde.

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Text. Jerem. XVII, 5–8. So spricht der Herr: Verflucht ist der Mann, der sich auf Menschen verläßt, und hält Fleisch für seinen Arm, und mit seinem Herzen vom Herrn weicht! Der wird sein wie die Heide in der Wüste, und wird nicht sehen den zukünftigen Trost; sondern wird bleiben in der Dürre in der Wüste, in einem unfruchtbaren Lande, da niemand wohnet. Gesegnet aber ist der Mann, der sich auf den Herrn verläßt, deß der Herr seine Zuversicht ist. Der ist wie ein Baum am Wasser gepflanzet und am Bach gewurzelt. Denn obgleich eine Hitze kommt, fürchtet er sich doch nicht, und sorget nicht, wenn ein dürres Jahr kommt; sondern er bringt ohne Aufhören Früchte. | und Jerem. XVIII, 7–10. Plötzlich rede ich wider ein Volk und Königreich, daß ich es ausrotten, zerbrechen und verderben wolle; wo sich es aber bekehret von seiner Bosheit, dawider ich rede, so soll mich auch reuen das Unglück, das ich ihm gedachte zu thun. Und plötzlich rede ich von einem Volk und Königreich, daß ich es bauen und pflanzen wolle: so es aber böses thut vor meinen Augen, daß es meiner Stimme nicht gehorcht, so soll mich auch reuen das Gute, das ich ihm verheißen hatte zu thun. Nicht etwa, wie es wol scheinen könnte, um eine Vergleichung anzustellen zwischen uns und dem Volke, gegen welches wir zu Felde ziehn, habe ich diese Worte des Propheten unserer Betrachtung zum Grunde gelegt; sondern nur um in unserer eignen Geschichte das entgegengesetzte recht zu unterscheiden, um uns auf das wesentliche der großen Veränderung hinzuführen, deren wir uns erfreuen. Denn m. Fr. an dieser Stätte geziemt uns nicht die Freude nur darüber, daß Druck und Leiden, unter denen wir lange geseufzt haben, nun auf | hören, nicht die Freude, welche uns heitere Bilder künftigen Wohlergehens vormalt, das wir zu gewinnen hoffen: sondern dieses darf uns hier nur das zweite sein und letzte. Und tritt uns dennoch dieser Gegensatz immer vor Augen: so laßt ihn uns so wenden, daß wir fühlen, wie der Prophet es uns vorhält, daß im Einzelnen, noch mehr aber im Großen, der Wechsel der Schicksale abhängt von dem Steigen und Sinken des inneren Werthes. Ja ganz von dieser Seite unserer Würdigkeit vor Gott laßt uns die große Veränderung hier betrachten. Ueber beides dazu gehörige, nemlich Erstlich welches denn in dieser Hinsicht ihr eigentlicher Inhalt und ihr wahres Wesen sei, und Zweitens, wozu wir uns

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deshalb müssen aufgefordert fühlen, können uns diese Worte richtig leiten.

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I. Um richtig aufzufassen, was die Hauptsache sei in der großen Veränderung unseres bürgerlichen Zustandes, welche durch die Erklärung dieses Krieges beginnt, müssen wir zurückgehn, auf eine ältere uns Allen wol bekannte, und von einem großen Theile von uns noch selbst erlebte Zeit, als wir nach einem tiefen Verfall und nach schrecklicher Verheerung, welche | diese Länder betroffen, durch die Anstrengungen mehrerer weiser und strenger Regenten, durch zweckmäßige Benutzung der Ereignisse, durch glücklich geführte Kriege, am meisten aber durch einen in dem Volke selbst sich bildenden edlen und freien Geist des Aufstrebens, ein Volk und Königreich wurden, von welchem die ganze Welt sah, der Herr wolle es bauen und pflanzen, und habe verheißen ihm Gutes zu thun. Und plötzlich genug für alle die, welchen das allmähliche Wachsen weniger bemerklich wird, fanden wir uns auf diesem Gipfel. Aber auch allmählig und indem wir noch lange höher zu steigen wähnten, glitten wir abwärts, und stürzten dann eben so plötzlich hinunter. Denn wir begannen auf unsere Stärke zu pochen, auf die Furcht uns zu verlassen, welche wir andern Völkern einflößen könnten, und so sollte uns ohne Anstrengung der eignen Kraft, ohne eigne gottgefällige Werke die Nachwirkung des alten Ruhmes immer höher tragen; wir wurden der Mann, der Fleisch für seinen Arm hält und dessen Herz von dem Herrn weicht. Unredlicher Gewinn vergrößerte unser Gebiet auf eine mehr scheinbare als gedeihliche Weise, denn wir gewannen nur wenig wahre Brüder, die gern denselben Gesetzen folgten und auf dasselbe Ziel arbei|teten; indem andere Staaten sich anstrengten und aufrieben in immer wiederholten Kriegen zum Theil um dieselbigen hohen Güter, für die wir jetzt kämpfen wollen, meinten wir durch die Ruhe immer mächtiger zu werden und furchtbarer. So folgte allmählig auf die trotzige Klugheit eine verzagte, und wir wurden noch auf eine andere Weise der Mann, der sich auf Menschen verläßt; denn auch wer Menschen schmeichelt und sie fürchtet, verläßt sich auf Menschen. Mit unserm Ruhm selbst ward auch unser Ehrgefühl je länger je mehr ein Schattenbild. Und immer mehr wich unser Herz von dem Herrn; in einem aufgeblasenen unnatürlichen Wohlstand verloren sich immer mehr die alten Tugenden, eine Fluth von Eitelkeit und Verschwendung verheerte die mühsamen Werke langer besserer Jahre; und wie deutlich sich auch die Stimme des Herrn vernehmen ließ und uns ermahnte zur Buße, wir gehorchten ihm nicht, wir thaten Böses vor seinen Augen, und darum reuete ihn das Gute, das er verheißen hatte, uns zu thun. Und plötzlich, als es eben schien, wir wollten uns aufraffen aus der langen Verblendung und Betäubung, in der aber die

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Meisten nur nicht ärger als je befangen waren, plötzlich redete der Herr wider uns als wi|der ein Volk und Königreich, das er ausrotten, zerbrechen und verderben wolle. Da überfiel uns jenes schwere zermalmende Kriegesunglück, und auf diesen plötzlichen Sturz von der Höhe in den Abgrund folgte das immer tiefer und schmerzlicher sich eingrabende Verderben des Friedens. Ich rede nicht von den Entbehrungen, von der Noth, von der Verarmung, von der immer steigenden Verwirrung in allen äußeren Lebensverhältnissen, sondern nur von dem innern geistigen Verderben, das durch diesen Zustand, man weiß nicht, ob man sagen soll nur ans Licht gebracht oder auch wirklich erzeugt und gebildet worden ist. – Die traurige Gewöhnung Unwürdiges fortwährend zu erdulden, wie wir sie öffentlich und einzeln in diesen sieben düstern Jahren geübt haben, mit dem Gefühl, daß dem gerechten Unwillen freien Lauf lassen, das Uebel nur mehren könne, ohne irgend einen heilsamen Erfolg, diese Gewöhnung und dieses Gefühl sind die Frucht der Schlaffheit, der Entnervung, der Feigherzigkeit: aber wie wurden nicht Feigherzigkeit, Schlaffheit und Entnervung durch sie vermehrt und verbreitet, bis jede Zuversicht zu sich selbst, bis jede Hoffnung – mit Ausnahme der thörichten auf eine Hülfe, die bloß von außen käme – bis selbst der | Wunsch sich helfen zu können, ja bis das Gefühl eines besseren Zustandes würdig zu sein verschwand, und die trostlose Vorstellung sich der Gemüther bemächtigte, die lebendige geistige Kraft des Volks sei ganz erschöpft, und die Stunde des völligen Untergangs da, wie diese Besorgniß denn in nicht wenigen unter uns gewaltet hat, die von einem Tage zum andern die gänzliche Auflösung unsers eigenthümlichen Daseins erwartend, und nicht mehr hoffend den Trost der Zukunft zu sehen, nur sannen, wie man sich am bequemsten fügen könne dem fremden Joch. – Die Unmöglichkeit, in der wir uns so oft befanden, ohne Lug und Trug der augenblicklichen Gefahr zu entgehen, die Nothwendigkeit Lob und Billigung, ja Uebereinstimmung und Freundschaft zu heucheln, da wo wir nur verachten und verabscheuen konnten, dies alles war schon die Frucht der Schamlosigkeit, welche um des Lebens willen jeden edleren Zweck des Lebens hintansetzt: aber wie ist nicht diese Schamlosigkeit durch jenen Zustand furchtbar ausgebildet worden, und welches Maaß von Erniedrigung gehörte schon dazu, um nur den öffentlichen Unwillen zu reizen! – Die Unsicherheit alles Besitzes und aller Rechte, sie war großentheils schon eine Folge des Leichtsinns, mit dem man so | oft in Zeiten der Drang32 Schamlosigkeit] Schaamlosigkeit 12–13 Mit der Niederlage bei Jena und Auerstedt und dem damit verbundenen Einzug Napoleons in Berlin am 27. Oktober 1806 begann die französische Besatzungszeit.

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sale nur die Noth des Augenblicks abzuschütteln oder die flüchtige Lust desselben zu genießen sucht, ohne zu bedenken, was man auf lange hinaus zerstört oder auf das Spiel setzt: aber bis zu welchem Grade hat jener unsichere Zustand diesen Leichtsinn gesteigert! Wie sahen wir Ueppigkeit und Aufwand es den glücklichsten Zeiten gleich thun, wie sahen wir Wucher und leichtsinnigen Frevel an fremdem Eigenthum saugen und das eigne vergeuden, als sei alles doch nur schnellem Untergange geweiht! Das ist das tiefe Verderben, in welches wir auf der einen Seite gerathen waren, und wenn auf der andern unser Fall und diese seine Wirkungen Vielen zuerst die Augen öffneten, Andere deutlicher als vorher erblicken ließen, wo es uns fehlte; wenn sich in Vielen ein schöner Eifer entzündete, was uns außen unwürdiges drückte, abzuwerfen, was uns innen verunreinigte, zu verbannen: so konnten selbst diese edlen Keime des Besseren ohne Haltung und Zusammenhang nur Besorgnisse vor einem ungeregelten Ausbruch erregen, hinter denen sich dann die Feigherzigkeit und Niederträchtigkeit Anderer nur desto unüberwindlicher verschanzte und befestigte. So war unser Zustand, m. Fr.! und Nie|mand konnte sich verhelen, daß, wenn wir in denselben Verbündungen und derselben Abhängigkeit blieben, wir immer mehr werden müßten wie die Heide auf der Wüste. Wenn ich nun die Lossagung von dieser Gemeinschaft, und den Kriegsstand, in den wir dagegen getreten sind und dessen Beginn wir feiern, auch für uns Alle als den Beginn ansehe zur Erhebung von diesem tiefen Falle; wenn ich hoffe, es werde nun Gott reuen des Unglücks, das er uns gedachte zu thun: so beruht dies vornemlich auf folgendem. Zuerst und damit ich bei dem anfange, was jeder augenblicklich muß auf das innigste gefühlt haben, diese Veränderung ist an sich die Rückkehr zur Wahrheit, die Befreiung von der erniedrigenden Heuchelei, die warlich von jedem, je mehr er glaubte in seinen Reden nicht sich selbst, sondern den Staat darstellen zu müssen, zu einer schauderhaften Vollendung getrieben war. Nun, Gott sei Dank, sagen wir wieder, wo wir verabscheuen und wo wir lieben und verehren, und wie jeder Ehrenmann mit der That stehen muß zu seinem Wort, so müssen wir schon darin uns frei fühlen und stark, müssen fühlen, daß wir hoffen dürfen; denn wer sich der Wahrheit ohne Rückhalt er|giebt, der verläßt sich auf den Herrn. Aber eben weil das Wort allein nichts ist, und dieses Wort mehr als jedes andre die That fordert: so ist diese Veränderung die Rückkehr zum freien Handeln und zur Selbstständigkeit. Wie lange, meine Freunde, haben wir eigentlich keinen Willen mehr gehabt in unsern allgemeinen Angelegenheiten, immer den Umständen uns gefügt, immer der drückenden

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fremden Gewalt, so weit diese nur reichen wollte! Nun haben wieder einen Willen, nun hat der König im Vertrauen auf sein Volk einen Entschluß ausgesprochen, in welchem, weil nach diesem Wort und dieser That keine Versöhnung zu hoffen ist, der Entschluß liegt zu einer Reihe muthvoller Thaten, die nur enden können, wie auch das Königliche Wort es sagt, mit rühmlichem Untergang oder mit Sicherstellung dieses köstlichen Gutes der Freiheit. Und eben deshalb ruht auch auf dieser Veränderung die Hoffnung, daß wir uns erhalten werden unsere eigenthümliche Art, Gesetz, Verfassung und Bildung. Jedes Volk, m. Fr., das sich zu einer gewissen Höhe entwickelt hat, wird entehrt, wenn es fremdes in sich aufnimmt, sei dieses auch an sich gut; denn seine eigne Art hat Gott jedem zugetheilt, und darum abgesteckt Grenze und Ziel, | wie weit die verschiedenen Geschlechte der Menschen wohnen sollten auf dem Erdboden. Wie drängte sich uns aber vorher auf das fremde, wie drohte es je länger je mehr die gute eigne Sitte und Art überall zu verdrängen! und welch ein fremdes! halb der zügellosen Wildheit jener schaudervollen inneren Verwirrungen entsprossen, halb für die spätere Tirannei erdacht. Indem wir aufstehn um dieses ganz von uns abzuwerfen und für die Zukunft abzuhalten, werden wir wieder ein Königreich das sich auf den Herrn verläßt; denn auf den verläßt sich ein Volk, das beschützen will um jeden Preis den eigenthümlichen Sinn und Geist den Gott der Herr ihm anerschaffen hat, das also kämpft um Gottes Werk; und nur in dem Maaß, als uns dieses gelingt, können wir werden wie ein Baum am Wasser gepflanzt, der sich nicht fürchtet wenn eine Hitze kommt und der seine eignen Früchte bringt ohne Aufhören. Vorzüglich aber erwächst uns eine freudige Hoffnung des Erstehens aus der Art und Weise wie das große Werk dessen Beginn wir feiern, sich entwickelt. Lasst uns zuvörderst nicht unerwähnt vorübergehen an den Gaben, die wir von Reichen und Armen groß und klein dargebracht sehen auf | dem Altare des Vaterlandes. Wir wollen sie nicht betrachten nach ihrer Zulänglichkeit zu dem Zweck, dem sie gewidmet sind, – denn wie willig und wie reichlich gespendet, tilgen sie doch nur einen kleinen Theil des Bedürfnisses – sondern nach ihrer innern Bedeutung und nach dem Geist dessen Aeußerungen sie sind. Indem wir sie darbrachten, warteten wir nicht bis gefordert ward und geboten, sondern so wie wir das Bedürfniß kannten, eilten wir herbei. Wie es der Tod jedes gemeinen Wesens ist, wenn nur der Buchstabe des Gesetzes waltet, und niemand durch That und Gefühl weiter Theil nimmt, als dieser ihn anweiset, wie dies ein sicheres Zeichen davon ist, daß die höheren Güter des Lebens durch die bestehende Ordnung 1 haben] zu ergänzen wohl wir

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nicht hervorgebracht werden, und der Durst nach ihnen nicht geweckt wird: so ist dieser treue lebendige Geist für das, was dem gemeinen Wesen Noth thut, ein sicheres Zeichen davon, daß der belebende Saft wahrer Liebe eingetreten ist in den Staat, und daß die Blätter dieses geistigen Baumes grün bleiben werden auch in der Hitze und im dürren Jahre. Und wenn Mancher alles, was ihm von irdischen Kleinoden und Juwelen geblieben war, hingegeben hat: so laßt uns dies ansehn als das nothwendige Anerkenntniß, daß | es in diesem Kampf nicht geht um irdische Güter, sondern um geistige, und daß wir bereit sind und bis zuletzt auch bleiben werden zu allen Entbehrungen und Aufopferungen jener um diese zu gewinnen, und zufrieden, wenn wir nach glücklich entschiedenem Kampf das Gebäude unseres irdischen Wohlstandes auch ganz von Grund auf anfangen müssen zu errichten. Das heißt sich auf den Herrn verlassen und nur nach seinem Reiche trachten. – Laßt uns aber besonders sehen, auf die Art wie die Vertheidigung des Vaterlandes soll gestaltet werden. Unter allen Spaltungen, die unsere Kräfte lähmten und unsere Fortschritte hemmten, war keine unseliger, als die zwischen dem Soldaten und dem Bürger, ruhend auf der eingewurzelten Meinung als ob derjenige, der sich mit den Gewerben des Friedens beschäftigt, weder Sinn noch Geschick haben könne, in den Zeiten der Gefahr sein Eigenthum und das gemeinsame Vaterland zu vertheidigen. Daher die Vorzüge, die denen eingeräumt wurden auf denen die Sicherheit des Staates allein beruhte, und noch mehr denen, die ausschließend berufen waren, jenen zu befehlen, daher der Uebermuth des Soldaten, der den Muth für eine ihm ausschließend eigne Tugend hielt, daher die Ei|fersucht des Bürgers auf jene Vorzüge, und die allgemeine Abneigung gegen einen Stand, der im Frieden nur als eine Last für alle andere erschien. Manche löbliche Versuche waren schon gemacht, dieses Uebel zu vermindern, aber ohne bedeutenden Erfolg. Jetzt soll diese Trennung aufgehoben werden; nur der Unterschied soll bestehn zwischen solchen, welche sich mit den eigentlichen Künsten des Krieges fortwährend beschäftigen und in der Genauigkeit aller Uebungen und Fertigkeiten das Vorbild aller andern sind und der Kern an den sie sich anschließen, und solchen, die nicht eher als bis es Noth thut, und nothdürftig unterwiesen und geübt die Waffen ergreifen: aber Muth soll allen zugemuthet werden, den Gebrauch der Waffen sollen Alle kennen, die Gefahr sollen Alle um so mehr theilen, je höher sie steigt. Stufenweise sind wir sehr weislich hieher geführt worden. Man kannte den muthigen Eifer unserer Jugend, wenn es je diesen Kampf gelten sollte; er ward aufgefordert, und wir sahen sie auf den ersten Ruf aus allen Ständen, von 7 dies] dis

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allen edleren Beschäftigungen her zu den Waffen strömen. Wo neues Gute schnell verbreitet werden soll, da müssen oft die Väter belehrt werden durch die Kinder; man hofft mit Recht auch jetzt werde es so sein, und nach | jenem Beispiel der Jugend, für die mehr wir alles wagen sollten, als sie für uns, werde nun jeder bereit sein, an der Vertheidigung des Vaterlandes Theil zu nehmen, nach der ihm angewiesenen Ordnung. Darum errichtet nun der König die Landwehr. Und da auch dies heute besonders kund gemacht werden soll, so höret, wie Er darüber redet: (Hier folgte der Aufruf zur Landwehr.) Welches hohe Gefühl muß dieser Beruf in Allen erwecken! welche feste Zuversicht zu der so vereinten Kraft! welches glückliche Vorgefühl von der Eintracht und Liebe, zu der alle Stände fest werden mit einander verbunden sein, wenn sie alle neben einander werden gestanden haben dem Tode entgegen für das Vaterland! Welche glückliche Ahndung von dem gemeinsamen Bestreben hierdurch ein Leben zu gründen, das solcher Anstrengungen werth sey, und an dem eben so 10 „Ein vor Augen liegendes Beispiel hat gezeigt, daß Gott die Völker in seinen besondern Schutz nimmt, die ihr Vaterland in unbedingtem Vertrauen in ihrem Beherrscher mit Standhaftigkeit und Kraft gegen fremde Unterdrückung vertheidigen. – Preußen! würdig des Namens, theilt Ihr dies Gefühl! Auch Ihr hegt den Wunsch, von fremdem Druck Euch zu befreien. Mit Rührung werde Ich die Beweise davon gewahr, in dem Eifer, mit welchem die Jünglinge aus allen Ständen zu den Waffen greifen und unter die Fahnen Meines Heeres sich stellen; in der Bereitwilligkeit, mit welcher gereifte Männer, voll Verachtung der Gefahr, sich zum Kriegsdienst erbieten, und in den Opfern, mit welchen alle Stände, Alter und Geschlechter wetteifern, ihre Vaterlandsliebe an den Tag zu legen. Ein mit Muth erfülltes Heer steht mit siegreichen und mächtigen Bundesgenossen bereit, solche Anstrengungen zu unterstützen. Diese Krieger werden kämpfen für Unsere Unabhängigkeit und für die Ehre des Volkes. Gesichert aber werden beide nur werden, wenn jeder Sohn des Vaterlandes diesen Kampf für Freiheit und Ehre theilt! Preußen! zu diesem Zwecke ist es nothwendig, daß eine allgemeine Landwehr aufs Schleunigste errichtet und ein Landsturm eingeleitet werde. Ich befehle hiermit die Erste und werde den Letztern anordnen lassen. Die Zeit erlaubt nicht, mit Meinen getreuen Ständen darüber in Berathung zu treten. Aber die Anweisung zur Errichtung der Landwehr ist nach den Kräften der Provinzen entworfen. Die Regierungen werden selbige den Ständen mittheilen. Eile ist nöthig. Der gute Wille jedes Einzelnen kann sich hier zeigen. Mit Recht vertraue ich auf ihn. Mein getreues Volk wird in dem letzten entscheidenden Kampfe für Vaterland, Unabhängigkeit, Ehre und eigenen Heerd, Alles anwenden, den alten Namen treu zu bewahren, den Unsere Vorfahren Uns mit ihrem Blute erkämpften. Wer aber aus nichtigen Vorwänden und ohne Mangel körperlicher Kraft sich Meinen Anordnungen zu entziehen suchen sollte, den treffe nicht nur die Strafe des Gesetzes, sondern die Verachtung Aller, die für das was dem Menschen ehrwürdig und heilig ist, das Leben freudig zum Opfer bringen. Meine Sache ist die Sache Meines Volkes, und Aller Gutgesinnten in Europa! Gegeben Breslau, den 17ten März 1813. Friedrich Wilhelm.“ Gesetzes-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten 1813, S. 36–37

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viel Kraft und Einheit sich verkünde! So m. th. Fr. sehen wir überall in dieser herrlichen und kräftigen Veränderung unseres Zustandes, die ersten Anfänge eines glücklichen Erstehens von einem tiefen Fall, die wieder lächelnde Huld des Höchsten, der aufs neue verheißt uns Gutes zu thun. | Laßt uns nun auch denken wie wir seiner Stimme gehorchen, lasst uns noch mit wenigen Worten betrachten, wozu wir uns durch diese Veränderung der Dinge zunächst müssen aufgefordert fühlen. Ich werde dabei um so kürzer sein können, als schon durch das vorige Euer Sinn auf das muß gerichtet sein, was ich zu sagen habe. II. Ich rede zuerst von denen, die unmittelbar zur Vertheidigung des Vaterlandes berufen sind, mögen sie nun zu den Heeren gehören die schon in Bewegung sind, oder mögen sie durch den eigenen Geist, oder das Recht des Looses jener großen Vormauer einverleibt werden, welche sich erst bilden soll. Nicht das überflüßige will ich thun, sie zum Muth und zur Tapferkeit zu ermahnen. Der Muth kann demjenigen niemals fehlen, der ganz von dem großen gemeinsamen Zweck durchdrungen ist, und ihn ganz zu dem seinigen gemacht hat. Denn findet er sich dann in der großen, zu einem schönen Ganzen geordneten Masse von streitenden Kräften, kann er sich unmöglich vereinzeln sondern muß sich nur als einen kleinen Theil jenes Ganzen betrachten: so kann auch seine Aufmerksamkeit und sein Verlangen nur auf die Bewegun|gen des Ganzen gerichtet sein. Und daß diese jedesmal den vorgesteckten Zweck erreichen, das allein ist es, wozu er aus allen Kräften mitwirkt; und so muß ihm dasjenige, was ihm selbst hiebei begegnen kann, und wäre es auch das letzte menschliche, nur als ein ganz unbedeutender Zufall erscheinen, auf den er selbst so wenig achtet als im Ganzen darauf geachtet werden kann. Das ist der natürliche Muth dessen, der die Sache liebt, für die er kämpft. Aber dazu möchte ich ermahnen, daß nicht persönlicher Ehrgeiz den hohen Adel und die wahre Wirksamkeit dieses Muthes schwäche. Mögen sie nie wetteifern um das was jeder ausrichtet, sondern um den Sinn den jeder beweiset, um die Tugend die er ausübt. Wer dies und jenes zu thun strebt, und nicht grade das was an seinem Ort ihm jedesmal zukommt, der entreißt sich der natürlichen Ordnung gemeinsamer Thätigkeit zum Schaden des Ganzen. Wenn öffentliche Auszeichnungen sich allerdings an einen Erfolg halten müssen: so möge jeder streben nicht sie zu erwerben sondern sie zu verdienen, möge jeder bedenken, daß Alle, die treu ihre Pflicht thaten diejenigen mit erwerben halfen die Andern geworden sind, und daß das Bewußtsein alles, was mit Eifer und Lust möglich war, gethan zu haben und die An|erkennung derer die dieses wissen, jede andere Auszeichnung

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aufwiegt. – Dazu möchte ich ermahnen, das nicht Leichtsinn jenen natürlichen Muth dämpfe. Nicht wenige scheinen zu glauben, es sei schon alles gethan, es bedürfe kaum der Heere die bereits ausgezogen und zum Nachrücken schon fertig sind, um die zerstreuten erschreckten Trümmer des aufgeriebenen Feindes bis an die letzten Grenzen des deutschen Vaterlandes zu treiben; und wenn nun noch die waffenfähigen Männer aufgeboten würden, so könnte dies weniger sein für die unmittelbare Noth, als nur damit bei dieser herrlichen Gelegenheit für die Zukunft eine bessere und kräftigere Gestalt der Vertheidigung gebildet werde. Diese mögen sich hüten, damit nicht das unerwartete, welches am meisten den Menschen niederschlägt, sie mit seiner furchtbaren Gewalt treffe, und sie denn doch sich fürchten wenn die Hitze kommt. Des Königes Wort ist weit entfernt diese leichte Ansicht zu begünstigen, es verhehlt uns nicht die Macht des Feindes, die Größe seiner Mittel; und die Erbitterung, die er gegen uns fühlen muß, ahnden wir selbst. Laßt uns um unsern Muth zu sichern auf alles gefaßt sein, auch darauf unmittelbar alle Haus und Heerd zu vertheidigen oder zu rächen. | Ich rede demnächst von uns Andern in Beziehung auf jene, die Vertheidiger der gemeinen Sache, von uns als ihren Angehörigen und Befreundeten. Das Gefühl, welches sonst, wenn der Staat in Krieg verwickelt war, nur das Antheil von Wenigen blieb, und um welches sie von den Andern bald bedauert wurden, bald beneidet, nemlich die Geliebtesten der Gefahr des Todes in der Schlacht und den mancherlei Unfällen des Krieges ausgesetzt zu sehn, dieses Gefühl will jetzt allgemein werden. Denn wer sollte nun nicht unter den Schaaren des Heeres oder der Landwehr wenn nicht Vater, Gatten, Bruder und Sohn, doch Verwandte, Wohlthäter, Zöglinge, Befreundete des Herzens eben jenen Gefahren entgegen gehn sehn? So laßt uns denn fühlen, daß wir deshalb nicht zu bedauern sind, sondern glücklich zu preisen, daß je werther uns die Unsrigen sind, um desto mehr wir auch alles große und ruhmvolle ihres Berufes mit empfinden und uns aneignen sollen! Laßt uns, je mehr wir sie lieben als uns selbst, um desto mehr, eben wie wir uns selbst dem Vaterlande mit Leib und Leben hingeben würden, wenn es uns riefe, so auch sie demselben von ganzem Herzen darbringen und weihen! Manches theure Blut wird | fließen, manches geliebte Haupt wird fallen: Laßt uns nicht durch zaghafte Trauer, durch weichlichen Schmerz das ruhmvolle Loos verkümmern, sondern dahin sehen, daß wir der großen Sache würdig grün bleiben und frisch. Laßt uns bedenken, wie viel glücklicher es ist, das Leben zum Opfer darbringen in dem edlen 6 waffenfähigen] Waffenfähigen

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Kampf gegen diese zerstörende Gewalten, als im ohnmächtigen Kampf ärztlicher Kunst gegen die unerkannte Gewalt der Natur. Und die liebende Sorge, die wir Alle gern, wenn wir könnten, den Unsrigen reichen würden in Krankheiten und Verwundungen, laßt sie uns ganz gemeinschaftlich machen, wie die Sache gemeinsam ist; laßt uns sorgen und dienen, wo wir können, des festen Vertrauens, daß es eben so den Unsrigen an zärtlicher Pflege und Behandlung von ähnlich gesinnten nicht fehlen wird! Vor allem aber laßt uns sorgen, daß die wohlverdiente Ehre derer nicht untergehe, die sich diesem heiligen Kampfe weihen. Die Noth und Entwürdigung der vergangenen Jahre und das herrliche geistige Erstehen des Vaterlandes in diesen Tagen laßt uns, wie wir selbst ganz davon ergriffen sind, auch den Gemüthern des unter uns aufwachsenden Geschlechtes auf das tiefste einprägen, daß dieser ewig denkwürdigen Zeit | auch wirklich gedacht werde, wie sie es verdient, und jeder Nachkomme, den es trifft, mit würdigem Stolz sagen möge, da kämpfte oder da fiel auch einer von den Meinigen. Ich rede weiter im Gegensatz zu denen, die das Vaterland draußen vertheidigen, von denen, die es innen ordnen, leiten und die mancherlei Dienste, die es fordert, versehen sollen. Möge diese große entscheidende Zeit sie alle zu verdoppelter Treue und Sorgfalt erwekken, zu verdoppeltem Abscheu vor jeder innern Verwahrlosung durch Trägheit und Unordnung – denn ich will nicht sagen durch Eigennutz und Untreue – während draußen Blut und Leben der Bürger dargeboten wird, als vor dem schändlichsten Verrath an eben diesem Blut und an allen Tugenden, die es opfern. Mögen sie bedenken, daß alle Kräfte gewissenhaft müssen angewendet, alle Zweige des gemeinen Wesens treu verwaltet werden, wenn das große Werk gelingen soll. Vor allem mögen sie bedenken, daß die Kämpfenden, wenn ihr Muth ausharren soll, in der Kraft und Weisheit, der Verfassung und Verwaltung die Gewährleistung sehen wollen für die höheren Güter, um derentwillen sie kämpfen. Darum wolle ja niemand un|ter uns sich für weise halten, wo er es nicht ist, niemand sich zum größten Nachtheil des gemeinen Wesens an einen Platz drängen, den er nicht auszufüllen vermag, niemand sich durch Vorurtheile der Freundschaft verblenden lassen, die Unternehmungen eines solchen Dünkels zu begünstigen. Wo aber einer weise ist, da strebe er zu wirken und wirke kräftig und treu. Die der Gerechtigkeit pflegen, mögen bedenken, daß der heilige Sinn für das Recht der Völker und Staaten, der diesem ganzen Kampfe zum Grunde liegt, nur da gedeihen kann, wo das Recht der Bürger treu verwaltet wird; die auf Ordnung und Sicherheit halten sollen, mögen bedenken, daß überall in der Verwaltung ihres Geschäftes sich am glorreichsten zeigen soll jene edle und schöne Verbindung der Freiheit

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und des Gehorsams, deren wir uns lange schon rühmen und durch die wir uns in Tagen der Ruhe wie in Zeiten des Krieges am meisten unterscheiden müssen von der früheren Zügellosigkeit und von der späteren Knechtschaft des Volkes, gegen welches wir streiten. Die die Gesinnungen des Volkes erheben und den Geist der Jugend bilden sollen, mögen bedenken, daß sie in ihrer stillen Wirksamkeit die Pfleger und Verwahrer der heiligsten Güter sind, daß es | von der Treue in ihrem Beruf und von dem Segen, der darauf ruhet, abhängt, daß Kräfte da seien, womit, und daß überall etwas da sei, wofür wir kämpfen, ein Glauben, eine Hoffnung, eine Liebe. Die endlich die öffentlichen Abgaben verwalten, mögen bedenken, daß unter der dürftigen irdischen Gestalt des Geldes und der Dinge ihnen der Tribut der Anstrengungen aller edlen und geistigen Kräfte dargebracht wird, welche die Herrschaft des Menschen über die Natur begründen, daß es nicht der Ueberfluß, nicht das Ersparte, sondern das Abgedarbte des Volkes ist, worüber sie schalten. Mögen Alle die durch Zeiten wie diese so sehr gesteigerte Wichtigkeit ihres Berufs bedenken, damit zuerst sie selbst, denen gehorcht wird, in ihrem großen Beruf der Stimme des Herrn gehorchen. Ich rede endlich im Gegensatz derer, welche außen oder innen unmittelbar für das Vaterland thätig sind, mit denen, welchen dieses nicht vergönnt ist, und welche nicht einmal wünschen dürfen, daß die Nothwendigkeit einträte, die auch sie zu den Waffen rufen würde. Wolan, wenn es ihnen leid thut, diese große Zeit ganz einer stillen Thätigkeit zu weihen, wenn sie auch gern Krieg führten: so mögen sie darauf achten, daß wir einen innern Krieg | zu führen haben, der von gleicher entscheidender Wichtigkeit ist. Wenn unser wahrer Verfall in Schlechtigkeit mancher Art besteht, so fangen wir erst an uns von demselben zu erheben; viel ist noch zu vertilgen, viel zu bekämpfen. Laßt uns in diesem Kriege tapfer sein, er bedarf auch des Muthes, er hat auch seine Gefahren. Keiner erfreue sich eines ungestörten Ansehns in der Gesellschaft, der noch Muthlosigkeit oder Gleichgültigkeit durch Wort und That predigt, und geneigt scheint den vorigen Zustand mit Ruhe den Kämpfen um einen bessern vorzuziehn! Keiner bleibe unbeobachtet und unentlarvt, welcher meint, je mehr aller Augen nach außen gewendet wären, um desto sicherer und verborgener könne er einer jetzt mehr als je frevelhaften und verrätherischen Selbstsucht fröhnen. Keiner bleibe ungezüchtigt, der etwa in dem thörichten Wahn, für den Fall eines unglücklichen Ausganges sich selbst 27 wahrer] wahre 10 Vgl. 1Kor 13,13

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ein leidlicheres Schicksal zu bereiten, irgend die kräftigen Maaßregeln hemmen, oder sich von ihnen ausschließen wollte, die unumgänglich nothwendig sind, um einen glücklichen Ausgang herbeizuführen. Ja sollte sich Engherzigkeit und Verworfenheit dieser Art gar im großen oder kleinen in die öffentliche Verwaltung einschleichen | wollen: dann laßt uns, weil die Gefahr doppelt ist, auch doppelt ankämpfen und nicht ruhen, bis wir siegen. So werden auch wir das unsrige zu bestehen haben, wir werden denselbigen Krieg führen wie jene, nur auf andere Art; und wenn diejenigen, die hinter zweideutigen Truppen aufgestellt sind, um die zu schrecken, welche unzeitig weichen wollten, doch auch ohne gefochten zu haben, einen Theil des Sieges sich zuschreiben können: so werden auch wir dasselbe dürfen. Dies m. Fr. sind die Aufforderungen, welche die gegenwärtige Zeit an uns macht. So stehe jeder auf seinem Posten und weiche nicht! so halte sich jeder frisch und grün im Gefühl der großen heiligen Kräfte, die ihn beleben! so vertraue jeder Gott und rufe ihn an, wie wir es jetzt gemeinschaftlich thun wollen. Barmherziger Gott und Herr! Du hast großes an uns gethan, daß du unser Vaterland berufst, um ein freies und würdiges Dasein, in welchen wir dein Werk fördern könnten, zu kämpfen. Verleihe nun weiter Heil und Gnade. Der Sieg kommt von dir, und wir wissen wol, daß wir nicht immer wissen, was wir thun, wenn wir von dir bit|ten, was uns gut dünkt. Aber mit größerem Vertrauen als je, ja mit einem starken Glauben flehen wir von dir Heil und Segen für die Waffen unsers Königs und seiner Bundesgenossen, weil uns fast dein Reich in Gefahr zu schweben scheint und die edelsten Gaben, die uns vergangene Jahrhunderte erworben haben, wenn diese Anstrengungen vergeblich wären. Schütze unseres Königes theures Haupt und alle Prinzen seines Hauses, die beim Heere gegenwärtig sind. Verleihe Weisheit und Kraft den Heerführern, Muth den Kriegern, treue Ausdauer allen! Und wie du auch das Glück des Krieges magst wechseln und sich wenden lassen, daß uns nur seine Segnungen nicht entgehen! daß jeder geläutert werde und gefördert am inwendigen Menschen! daß jeder wie viel oder wenig es sei, thue was er kann! daß wir Alle gestärkt werden in der Zuversicht zu dir, und in dem Gehorsam gegen deinen Willen, der bis in den Tod geht, wie der Gehorsam deines Sohnes. Amen.

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Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 1,7 a. Autograph Schleiermachers; SAr 13, Bl. 20r–20v (unvollendet) Texteditionen: Keine b. Nachschrift; SAr 28, Bl. 1r; Matthisson Texteditionen: Keine Keine Keine

a. Autograph Schleiermachers Charfreitag 1813

20r

Eingang. Wem die Feier gleichgültig oder das sich immer erneuernde Gefühl am Kreuz unverständlich wäre, der wäre kein Christ. Aber wenn alle die daran Theil nehmen nach dem innersten Grund gefragt werden sollten welche unendliche Menge verschiedener Ansichten würde man dann erfahren, so daß man dadurch weiter zweifelhaft würde ob das das Eigenthümliche des Christenthums sein könne. Daher auch die religiöse Feier oft den Gegenstand mehr vorübergeht als ergreift, man will keinem vormachen, keinem etwas aufdrängen wohinein er sich nicht finden kann. Diese verschiedenen Meinungen auseinanderzusetzen gehört nicht hierher. Aber Meinung und Lehre ist nicht das ursprüngliche. Durch sie komt der Glaube nicht in die Seele, sondern sie sind nur Wiedererkennungs- und Verständigungsmittel, wir sollen dabei uns rufen, ja so ist es das ists in meinem Innern. Also auf das unmittelbare Gefühl des eigenthümlichen Werthes den der Tod Christi für uns hat wollen wir sehn, dies uns in dieser Stunde vergegenwärtigen. Text.

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Das ist es aber, daß das Blut Christi uns rein macht von Sünden worauf unser eigenthümliches Gefühl beim Tode Christi ruht. Indem 13–14 Wiedererkennungs- und Verständigungsmittel] Wiedererkennungs- Verständigungsmittel

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wir uns von demselben Rechenschaft zu geben suchen, wollen wir zuerst einige unzureichende Ansichten entfernen, und dann uns die Grundpunkte worin unser Gefühl ruht vergegenwärtigen. 5

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I. 1. Vor die gesellschaftliche Ordnung war eine Zeit der Rache, wo nur Blut versöhnte mit Beleidigung, ohne keine Ruhe. Dies der verhaßte Ursprung der Opfer. Wie sich oft etwas mit frühen Vorstellungen zusammenhängendes noch lange erhält, so auch dieses. Daher auch die | jüdischen Opfer, mit diesem Christus verglichen [Der Text endet hier.]

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b. Nachschrift Charfreitag 1813. (den 16. April)

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1. Joh 1, 7. „Und so wie wir im Licht wandeln, gleich wie er im Licht ist: so haben wir Gemeinschaft unter einander und das Blut Christi macht uns rein von aller Sünde.“ Worauf gründet sich der Trost des Kreuzes Christi?

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I. Beschreibung mancher unrichtiger Vorstellungen. a. Christi Tod als ein Opfer für das sündige Menschengeschlecht darzustellen[.] b. Als spiegele sich in dem Grundsatze: Wo Sünde ist, muß auch Strafe sein, die göttliche Gerechtigkeit ab. Aber durch die Schmähung der Sinnlichkeit, durch die Bezähmung und Brechung der Macht der Sünde wird noch keine Kraft des Guten hervorgebracht. c. Als befestige der Hinblick auf seinen Tod den Glauben und die Treue. Auch darauf kann sich der hohe Trost nicht gründen; weil dann Christi Leiden und Sterben nur für die Schwachen von Wichtigkeit sein könnte. II. Was ist es denn, wodurch das Kreuz Christi der höchste Trost wird für das ganze Menschengeschlecht in allen Zeiten? a. Es befreit uns von dem Leiden der Sünde (das ewig und unzertrennlich verbunden ist mit der Sünde) die wir nicht selbst begangen, so wie er die Schuld anderer, unschuldig büßte. b. Er befreit uns wenn die Tugend in uns das herrschende Gefühl ist (wenn wir im Lichte wandeln) von der Strafe und 2 Ansichten] Ansichten zu

6 Dies] zu ergänzen wohl war

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c. von der Macht der Sünde. d. So ist das todte Holz der Baum des Lebens für alle geworden, die als Glieder an ihm gewachsene Früchte bringen; so wird es der Welt als Fahne vorgetragen im Kampfe wider die Sünde[.] Amen.

Am 19. April 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostermontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 6,5–12 Nachschrift; SAr 28, Bl. 1v–2r; Matthisson (unvollendet) Keine Keine Vor der Predigt Vocalmusik (Berliner Intelligenz-Blatt)

Röm. 6, 5–12. 2. Ostertag. (Schleiermacher)

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Eine nicht eben so glänzende und fröhliche Erscheinung als für die Verehrer Jesu damals, kann für uns die Auferstehung sein; denn unser Glaube und unser christliches Leben bedarf jetzt nicht erst dadurch begründet zu werden; auch nicht der Überzeugung und Gewißheit von der Unsterblichkeit unserer Seele welche uns die Auferstehung Christi verschafft ist es was uns am wichtigsten sein und am meisten beschäftigen muß; sondern vielmehr als Bild unserer Auferstehung unsrer Wiedergeburt zu einem geistigen Leben. Worin ist dieses geistige Leben ähnlich den Tagen der Auferstehung Christi? 1. Daß es ein der Welt verborgenes Leben ist. Die Welt versteht nicht unsere Liebe und Treue, unsern Eifer unsere Frömmigkeit, unser ganzes Leben dessen Quelle und Heil Gott ist aber gleich wie er nach seiner Auferstehung nur seinen Jüngern erschien, die Welt ließ, und sich nur mit ihnen beschäftigte: so sollen auch wir mit den Brüdern zusammenhalten und wenn einer den andern erkennt mitten [im] Gewühl der Welt: so ist es ihm eine eben so [ ] und kräftigende Erscheinung, wie den Jüngern | die Erscheinung ihres Herrn und Meisters. (So wie damals einige die Welt glauben machen wollten, als sei es mit der Auferstehung Christi nichts als daß die Jünger seinen Leichnam gestohlen hätten, und als seien die Erscheinungen des Herrn nur ein Gespinst: so halten auch die Weltkinder unser geistiges Leben nur für den Leichnam ihres wie sie meinen vollgültig wahrhaft glückseligen Lebens, für ein Gespinst pp.) 17 Loch im Blatt

20 seien] sind

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Am 19. April 1813 vormittags

2. Das neue geistige Leben ist dem alten ähnlich. Es ist einst gefährliche Täuschung und viel bitterer Schmerz entstanden denn, wenn die Menschen pp. Es ist dieselbige Natur, dieselbige Mischung der Gemüthskräfte die wir mit bringen in das neue Leben, dieselbigen Bedürfnisse wie der sinnlichen Natur, wie wir sie auch bei Christo nach seiner Auferstehung finden, dieselbe Unvollkommenheit und Gebrechlichkeit, dasselbe was wir zu arbeiten zu schaffen haben, ach und die Machtzeichen die die Sünde als irdische Übel und Verderbung uns eingegeben haben erinnern und sollen uns erinnern an das was wir gewesen an die Sünde und an die Gefahr des Feindes, der auch überwunden nicht schläft sondern von neuem uns zu verderben trachtet; nur daß wir nicht mehr unter der schmachvollen Herrschaft der Sünde stehen, daß unser Gemüthe dem Dienste Gottes geweiht, daß unser Leben verklärt ist in seiner Herrlichkeit; denn unser alter Mensch ist ja mit Christo gestorben und gekreuzigt. 3. Nach der Kindergeburt zum geistigen Leben werden wir gleich wie der Erlöser nicht wieder sterben. [Der Text endet hier.]

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Am 9. Mai 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Jubilate, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Keiner Nachschrift; SAr 28, Bl. 2v–3r; Matthisson Keine Keine Tedeum wegen Sieg bei Groß-Görschen (Berliner Intelligenz-Blatt)

Dankpredigt wegen des Sieges am 2. Mai 13.

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Unter welchen Bedingungen sind wir würdig Gott zu danken für den uns verliehnen Sieg. 5

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1. Wenn wir denselben Muth in uns fühlen, den unsere tapfren Brüder an jenem glorreichen Tage so herrlich bewiesen; alles ja Leib und Leben für die Sache des Vaterlandes auf zu opfern. 2. Die Gebete von feigen Lippen dringen nicht zum Himmel wenn wir in unserm Innersten überzeugt sind, daß gekämpft werde nicht für (unsern) größern Wohlstand, für Gemächlichkeit des Lebens nicht für irdische, sondern für die ewigen Güter Freiheit Wahrheit Recht. 3. Wenn wir mit Zuversicht auf den glücklichen Ausgange dieses heiligen Kampfes harren. So gewiß der Stuhl des Herrn aufgerichtet ist zum Gericht: so gewiß er nicht umgestoßen werden kann; so gewiß das Reich der Wahrheit und des Rechtes nicht zerstört werden kann: so gewiß werden wir auch in diesem Kampfe für das Reich Gottes nicht unterliegen. Wie lang wir noch kämpfen müssen, ob wir, ob unsere Kinder, ob unsere Enkel den Früchten gewiß werden, wir wissen es nicht; aber in der festen Hoffnung des Gelingens, und um nicht ewig zwischen Furcht und Hoffnung zu schweben, und von Freude und Danksagung für die einzelnen glücklichen Erfolge plötzlich geworfen zu werden in Klagen und Schmerzen müssen wir alles was der Herr sendet, als Bestandtheile seines | ewigen Rathschlusses ansehen und als mitwirkend zu dem großen und letzten Ziele und ihm eben so dafür danken als über das Glück; denn es giebt uns Gelegenheit unsre Kräfte zu entwickeln, und herrliche Tugenden der Standhaftigkeit der Selbstverläugnung, des Muthes zu üben.

1 Am 2. Mai 1813 fand die Schlacht bei Groß-Görschen zwischen Frankreich und der preußisch-russischen Koalition statt.

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Am 12. Mai 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

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Bußtag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 22,31–32 Nachschrift; SAr 28, Bl. 3r; Matthisson (unvollendet) Keine Keine Keine

Bußtagspredigt. 12. Mai 13. Mancherlei Erfahrungen und Vorfälle im Leben gibt es, welche den religiösen Menschen veranlassen, sich und sein ganzes Dasein auf die Urquelle zurückzuführen; am meisten aber an eigens dazu bestimmten Tagen allgemeiner Demüthigung zur Zeit großer Empfindung, wenn viel menschliche Glückseligkeit auf dem Spiel steht, dann fühlen wir uns aufgefordert, die gemeinsamen Fehler als Quelle des Übels zu betrachten. Wie wir uns in solchen Tagen der Stürme und Gefechte zu bewahren haben, daß unser Glaube nicht verloren gehe, das laßt uns mit einander erwägen. Luc. 22, 31 und 32. Der Herr aber spricht: Simon, Simon, siehe der Satanas hat euer begehrt, daß er euch möchte sichten, wie den Weizen. Ich aber habe für Dich gebeten, daß dein Glaube nicht aufhöre. 1. Worin besteht die Gefahr und 2. worauf gründet sich das Gebet des Erlösers und die Hoffnung der Erfüllung? Nicht undeutliche Spuren finden wir im N.T. wie die Jünger die Handlungsweise des Erlösers beklägelten, und nach seinem Tode finden wir sie vertieft in Klagen über ihre fehlgeschlagene Hoffnung, daß er ein sichtbares Reich aufrichten werde. [Der Text endet hier.]

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Am 12. September 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

13. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Ps 94,12–15 Nachschrift; SAr 28, Bl. 5r–5v; Matthisson (unvollendet) Keine Keine Behördlich vorgeschriebener Predigttext

Dankpredigt am 12. Sept. 13. von Schleiermacher über den vorgeschriebenen Text. Ps. 94, 12–15.

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12. Wohl dem, den du Herr züchtigest und lehrest ihn durch dein Gesetz 13. daß er Geduld habe wenn es übel gehet, bis dem Gottlosen die Grube bereitet werde. 15. denn Recht muß doch Recht bleiben, und dem werden alle frommen Herzen zufallen. Jeder weiß, welche Thaten durch unsern heldenmüthigen Krieg wie nun vollbracht sind. Als wir vor einigen Monathen zu gleichem Zweck uns versammelten, so waren es weniger glänzende Siege als das Unterpfand derselben, die sichere Hoffnung eines guten Erfolges, wozu die Tapferkeit der Standhaftigkeit unsrer Krieger berechtigten, wofür wir Gott zu loben kamen. Jetzt ist mehr geschehen. Die wiederholten Bestrebungen und Anstrengungen des Feindes, sich unserer Hauptstadt zu bemächtigen in das Herz von Schlesien einzudringen sich Böhmens zu bemächtigen sind theils durch den tapfern Widerstand, durch jene ewig denkwürdige Schlacht, [theils] durch eine andere an der unser theurer König durch weise Anordnung und persönlichen Befehl ganz besonders Antheil genommen, vereitelt. Tausende seiner gefangenen Streiter ziehen durch die Straßen des Landes, ein großer Theil seines mörderischen Geschützes ist in unsere Hände gefallen, viele seiner Kräfte zerstört und zerstreut; und Siegestrophäen mancher Art zum Andenken an diese thatenreiche Zeit öffentlich ausgestellt. Laßt uns Gott unsern Dank darbringen, in dem wir uns die Worte unsers Textes beherzi2 Ps.] P.

5 15.] 14.

15 Die siegreiche Schlacht bei Dennewitz am 6. September 1813 bedeutete die endgültige Verhinderung des Vordringens Napoleons nach Berlin. 18 Gemeint ist Napoleon.

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Am 12. September 1813 vormittags

gen, welche uns 1. auf die Vergangenheit zurückschauen 2. uns an die Gegenwart weisen und helfen und 3. unsern Blick auf das Ewige und Zukünftige richten. I. Wohl dem, den du, Herr züchtigest und lehrest ihn durch dein Gesetz. Nach der Lehre und Ansicht der christlichen Kirche bringt das Gesetz Erkenntniß der Sünde. Wir waren in ein tiefes Verderben gerathen wir erkennen es jetzt, wo statt der sonst herrschenden Trägheit, Sicherheit und Selbstsucht so herrliche Tugenden sich unter uns entwickelt haben. Daß wir es erkennen und fühlen, Gottes Dank ist ja der sicherste Beweis, daß Gottes Lehre und Zucht angeschlagen. | 5v

II. Daß er Geduld habe, wenn es übel geht, bis dem Bösen die Grube bereitet werde. Es könnte scheinen, als würden wir aufgefordert ruhig zu erwarten, bis durch irgend eine andere Gewalt durch Zufall etc. das Übel von uns abgewendet werde, oder, als ginge es auf die Vergangenheit, wo wir der weisen Regierung anheim stellen müssen, was sie in der Stille zur Erfüllung unserer höchsten Wünsche thun werde. Innen hat sie mehr als es nach außen erschien, die Kräfte des Landes gesammelt und verstärkt; aber weder jenes, denn nicht Ruhe sondern Kampf und Streit gegen das Böse empfiehlt das Christenthum, noch dieses kann der Sinn jener Worte sein; denn erst musste ja die Regierung das Erwachen, die Lebendigkeit unsers Gefühls erwecken, um im Verstehen auf dies lebendige Gefühl sein Recht und Freiheit einen Kampf zu beginnen der so große Opfer und Anstrengungen erfordern würde! Rein auf die Gegenwart beziehen sich diese Worte unsers Textes. Oder können wir sagen, daß es nicht übel geht so lange im Gewichte der Schlacht der Bruder den Bruder nicht mehr sieht und dem Heldenmuthe die christliche Liebe weichen muß; können wir sagen daß dem Bösen in und außer uns die Grube bereitet sei. Ein herrlicher Anfang ist gemacht; aber noch viel Böses, noch viel Sünde ist auszurotten, noch viele Kämpfe der Schlacht sind zu bestehn noch oft werden niederschlagende und fröhliche Boten bei uns einkehren noch viele Opfer gefordert werden. Darum wohl uns wenn wir Geduld haben; gegen die eben im Sinne der Bibel Muth, Beharrlichkeit, Ausdauer beweisen, jedes aller Übel, und Hindernisse und Schwierigkeiten von sich entschlagen und in Verfolgung des Einen, dem wir nachjagen, alles andere vergessen, überwinden, verachten. [Der Text endet hier.]

14 etc.] ect.

17 höchsten] hösten

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Am 10. Oktober 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

17. Sonntag nach Trinitates, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 13,24–30 Nachschrift; SAr 28, Bl. 6r–7r; Matthisson Keine Keine Nach der Predigt folgte die Taufe von Caroline Johanne Wilhelmine Auguste Luise Matthisson

Inhalt von Schleiermachers Predigt am 10. Oct. 13. (vor der Taufe meiner Tochter.) Tex t. Matth. 13, 24 seq.

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So klar dieß Gleichniß auf den ersten Anblick erscheint: so finden sich doch mancherlei Bedenken, wenn man nachdenkend länger dabei verweilt. Es kann zweifelhaft werden, ob der Erlöser mehr habe reden wollen von dem Vermischtsein des Guten und Bösen in der Welt oder von dem Nebeneinandersein der guten und bösen Menschen in der Welt. Beides ist nicht einerlei und verlangt darum eine verschiedene Behandlung. Nicht wie wirs halten sollen mit dem bösen Menschen selbst, sondern mit dem Bösen, davon ist hier die Rede. Der gute Same das sind die Kinder des Guten. Die Menschen sterben und werden gesammelt zu ihren Vätern aber aus der Kraft ihres Beispiels, ihres Wirkens erwächst die herrliche Ernte: so wie der Waizen erst aus dem erstorbenen Waizenkorn hervorwächst. Drei Zeitpunkte unterscheiden wir in der Gleichnißrede des Herrn. 1. das erste Entstehen und Entdecktwerden des Bösen 2. das was damit zu thun ist und 3. was erfolgt, wenn ein Zeitpunkt der Ernte kommt, wo geschieden werden soll der gute Waizen von dem Unkraut. A. Entstehen und Entdecktwerden des Bösen. „Hast du denn nicht guten Samen gesäet, woher kommt denn das Unkraut?“ Der Erlöser stellt die Arbeiter nicht vor als erkennend im ersten Ursprunge des Bösen, und darin liegt eine tiefe und große Wahrheit. Wir 23 Bösen] Bösn 2 Vgl. Einleitung, Punkt II.3.B.

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Am 10. Oktober 1813 vormittags

sollen es uns nicht anmaßen, das Gute und Böse zu früh unterscheiden zu wollen. Wie oft überzeugt uns davon die Erfahrung: daß es nur eine vorwitzige Weisheit ist. Aber wenn sich die Gestalten bestimmter unterscheiden, dann müssen wir achten, was Waizen sei und was Unkraut. Die Arbeiter richten ihre Augen auf den Boden, und in die Lüfte und was die Quelle der Witterung sein könnte, und auch dieß ist für uns ein schönes Vorbild. Wie oft sehen wir den Landmann unnütz klügelnd über die Bedingungen des Gedeihens seiner Saat, nach den Zeiten der Witterung hinaus schauen, wünschend, bittend ja befehlend, was für Witterung der Herr geben solle, und doch lehrt die Erfahrung, daß er auch bei den verschiedensten Witterungsständen denselbigen Seegen verleiht. Darum nicht außer uns, nicht bei dem, | was wir Zufall nennen, sondern in der Gesinnung im innern Wesen der Menschen laßt uns das Maß unser Hoffnung suchen, wie viel Gutes die künftige Zeit bringen werde. Aber wenn wir das Unkraut sehen, dann fragen wir, woher? Natürlich und nothwendig ist diese Frage. Denn zu allen Zeiten seit Hervorbringung der sichtbaren Schöpfung hat der Herr guten Saamen, gute Menschen ausgestreut; nicht den Saamen des Unkrauts zugleich mit gesäet, und als durch die Arbeiter in unserem Texte dasselbe gewahr wurden: so heißt es: das hat der Feind gethan; der Feind aber, das ist nach der Vorstellungsart jener Zeit, der Fürst des Bösen, das Wesen welches das Reich der Lüge und der Sünde beherrschend gedacht wird. Denn in das Dunkele und Geheimnißvolle zieht sich die Ursache des Bösen in der Welt zurück. Weiter sehn wir die Diener sich nicht erschöpfen in Vermischungen des bösen Wesens; auch der Erlöser macht ihnen keine Vorwürfe; er sagt nicht: in dem ihr schlieft hat der Feind dieß Unkraut ausgesäet; denn freilich viel könnte verhütet werden durch Wachsamkeit: sondern was nun damit zu thun sei, zeigt er. B. Wenn es nun da ist das Böse, nicht ohne daß wir Schuld daran zu haben fühlen, und wir es wahrnehmen, was ist denn damit zu thun? Gleich wie jene Diener fragen wir uns: willst du daß wir hingehen und es ausraufen? Und wer fühlte sich nicht stark genug in den offenen Kampf zu gehen gegen das Böse. Aber was sagt der Herr? „Laßt es beides wachsen bis zur Ernte, damit ihr nicht zugleich mit den guten Waizen ausreißt.“ Diese Geduld, diese Nachsicht, diese Sorglosigkeit scheint unbegreiflich im Munde des Herrn. Und doch kann es nicht anders sein; wie also werden wir beschämt zurückgekommen sein von unsern unzeitigen Bemühungen, jedes Böse zu vertilgen? Was thun die Gewaltigen dieser Welt? Sie rüsten das Gesetz aus mit dem Schwerdt, setzen Strafe auf Übertretung desselben, und wie viel bessert sich ein Geschlecht vor dem andern, wie wenig fruchten diese Einrichtungen; wie wenig wird ausgerichtet durch unmittelbaren Krieg gegen das Böse. Auch redet der Herr von dem großen Ganzen, vom Reiche Gottes im Allgemeinen; anders ist es mit einem kleinen Garten; da

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mag der Besitzer durch sorgfältiges Jäten und Warten und Pflegen zum Gedeihen der Früchte beitragen; anders ist es mit dem großen Felde. Da wären alle Bemühungen | vergebens; und der Landmann verläßt sich auf die lebendige Kraft des Waizens und erwartet die Zeit der Ernte, wo er sammeln kann den Waizen in die Scheuern pp. So sollen auch wir die Zeit der Ernte abwarten. So wie der Herr nicht gekommen ist zu richten, so soll auch der Mensch nicht voreilig und zur Jederzeit richten; vielmehr soll er thun und Gutes schaffen, was jeder Augenblick möglich macht und darf seine Hoffung fest gründen, daß das Gute nicht unterdrückt und erstickt werde, das Böse aber immer vermindert werden wird. Und wenn C. ein solcher Zeitpunkt der Ernte erscheint, wie er von Zeit zu Zeit eintritt und wie ihn der Herr verheißt dann gilt es nach dem Befehle des Herrn das Unkraut zu sondern und zu verbrennen, den Waizen aber in den Scheuern zu sammeln; dann schreitet jeder rüstig zum Werke, und wie beschwerlich und mühsam auch die Arbeit der Ernte doch immer erfreulich ist: so scheut der Mensch in solchen Zeiten der Ernte im reifen Felde des Herrn keine Anstrengungen; rasch und fröhlich und unermüdet wird die Hand gelegt an die Wurzel des Bösen, das Gute aber gesondert und bewahrt zum Wohle und Besten des Reiches Gottes. Wohlan jetzt ist eine Zeit der Erndte nicht weniger aber auch der Arbeit. Laßt uns uns aufmachen zum Kampfe gegen das Böse, und nur den Waizen laßt uns sammeln, um würdige Schnitter des Herrn zu sein. Keiner aber verlange größern Lohn als das Bewußtsein ihm gewährt: er arbeite für den Herrn als den Vorzug, daß der Herr uns in diese Zeit gesetzt hat, streng gegen uns und gegen andere laßt uns erfunden werden in der Arbeit des Herrn. Amen.

6 Vgl. Joh 12,47

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Am 7. November 1813 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

21. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 25,14–29 Nachschrift; SAr 28, Bl. 8r–9v; Matthisson (unvollendet) Keine Keine Keine

Predigt von Schleiermacher den 7. Nov. 13 Tex t. Matth. 25, 14 seq.

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Es ist vorzüglich der Anfang dieser Gleichnißrede, die Einrichtung des Herren mit seinen Gütern, womit wir es dießmal zu thun haben. Nicht von der Gleichheit, sondern von der ursprünglichen Ungleichheit in der Vertheilung der göttlichen Gaben geht die Gleichnißrede aus. Wie es hiemit in Beziehung aufs Reich Gottes und für den, der dieß allein im Auge hat, stehe, das laßt uns mit einander erwägen. Laßt uns 1. sehen nach Anleitung unsers Textes, daß dem wirklich so sei und 2. aus dem Verlauf lernen, wie wir diese göttliche Einrichtung zu betrachten haben. I. Es gibt eine ursprüngliche Ungleichheit in der Vertheilung der göttlichen Gaben. Zweierlei ist es, worin sich diese Ungleichheit zeigt. 1. Ungleichheit der natürlichen Gaben selbst und 2. Ungleichheit der äußerlichen Verhältnisse, der Mittel, diese Gaben aus zu bilden und anzuwenden. – Es könnte scheinen, als ob der Erlöser mehr das letzte im Auge gehabt habe; denn indem er dem Einen 5 Centner gibt, dem andren nur einen weiset er jenem einen großen Kreis für seine Thätigkeit an, und beschränkt dagegen diesen auf ein enges Gebiet. Es gibt viele Menschen, welche wohlmeinend die Meinung hegen, als zeige sich die göttliche Gerechtigkeit besonders in dieser ursprünglichen Gleichheit: mit denselben Anlagen und Gaben statte sie jeden Menschen aus; aber die Gegend wohin sie ihn stelle, die Umgebung, die Mittel, die sie ihm gebe, seien verschieden. Der Erlöser selbst, indem er dem Einen 5, dem andren 2, und dem 3. ein Centner geben läßt setzt hinzu: jedem nach seinem Vermögen. Jene Ungleichheit wird also auf eine andre 2 Matth.] Mtth.

23 sie] si

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Über Mt 25,14–29

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zurückgeführt und mit ihr gemessen, die freylich auch im Reiche Gottes in der Kirche Christi mehr als sonst das Maß derselben sein soll. Die nun bloß durch Annahme einer ursprünglichen Gleichheit in der Vertheilung der göttlichen Gaben, die göttliche Gerechtigkeit rechtfertigen zu können glauben sagen: Das Reich Gottes sei ein besonders Verhältniß, und ehe der Mensch in dasselbe trete habe sich schon eine Ungleichheit in den ursprünglich gleichen Gaben entwickelt. Wenn also die Rede Christi sich mehr auf seine Bekenner beziehe: so könne die göttliche Gerechtigkeit immer eine ursprüngliche Gleichheit gesetzt haben. Aber m. Fr. wir können es uns nicht verbergen: wenn es etwas gibt, was fähig wäre, den Menschen in dieser ersten Gleichheit zu erhalten: so wäre es gerade ihr Seyn in der Kirche des Erlösers; denn da ist der Geist Gottes, der alles auch das Geringste durchdringt und veredelt und verherrlicht und der aus allem etwas zur Ehre Gottes zu bilden weiß. Da ist | die Gegenwart Christi, der Liebe, welche das Nachtheilige äußerer Einflüsse verhütet und abwendet, und in dieser müßte die gleiche innere Anlage der Natur über die Ungleichheit der äußern Umstände siegen. Aber wir sehen es nicht so. Mitten im Schoße des Erlösers erzeugt sich diese Ungleichheit aufs Neue. So wollen wir denn in dem was sich dem unbefangenem Blicke in der Welt darbietet, nicht stören lassen und diese Wahrheit betrachten nicht bloß im Einzelnen, sondern auch in Beziehung auf die ganze geistige Schöpfung. Wir finden ganze Völker, welche offenbar auf einer niedern Stufe stehen bleiben als andere, welche nicht in demselbigen Grade in sich tragen die herrlichen Anlagen der menschlichen Natur welche sie zum Ebenbilde Gottes erheben, nicht die Fähigkeit sie auszubilden, sondern denen ein gewisses bestimmtes Maß davon mitgegeben ist. Wie kaum gibt es ganze Geschlechter, ganze Zeitfolgen, welche sich eben so von einander unterscheiden wo viele große Lichter aus der dunkeln Masse sich erheben, welche reich sind an einer Menge herrlicher Menschen und Thaten; und andere welche mittelmäßig im Ganzen auch nur Mittelmäßiges aus sich bilden. So im Großen; so im Kleinen. So auch in der Kirche. Es gibt Völker, unter denen sich das Christenthum nicht zu der Höhe erhebt nicht die herrliche Gestalt anzunehmen vermag, das Gemüth zu erhöhen, den Verstand aus zu bilden als unter andern. Es hat Zeiten gegeben, in welchen der Schein des Erlösers lange nicht hat hindurchbrechen können, wo das Licht nur eine matte Dämmerung blieb, bis andere wechselten, in denen es herrlicher hervorbrach und alle Gebiete des menschlichen Lebens und Wissens mit seinen milden Strahlen erleuchtete. So erkennt es der Erlöser selbst an, und wir wollen es uns nicht anmaßen, seiner einfachen klaren Rede zuwider, durch eine andere Meinung Gott zu rechtfertigen. Wann und wo ließe sich diese geträumte Gleichheit der Menschen anschauen? Ja, es muß uns einleuchten, wenn sie auch durch ein 27 viele] viel

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Am 7. November 1813 vormittags

Wunder plötzlich hervorgebracht würde, nicht länger als einen flüchtigen Augenblick würde sie bestehen, und eben so wenig zum wahren Heil führen als die Gleichheit der Gabe und der Güter die man sich auch wohl als die Bedingung alles menschlichen Glückes geträumt hat und bei der großen Verschiedenheit der menschlichen Neigungen und Leidenschaften in Absicht auf die beständige Dauer eben so un|möglich ist. Eben so macht plötzlich alle Menschen gleich; denkt euch jeden als ein ganz gleiches Abbild der menschlichen Natur; aber die Lage, die äußern Umstände laßt wie ihr müßt verschieden, und sie werden bald dieselbige Ungleichheit zurückführen. Wenn dem so ist: so laßt uns II. sehen, wie wir diese Ungleichheit in der Vertheilung der göttlichen Gaben zu betrachten haben; und zwar 1. daß es unmöglich ein Grund der Entschuldigung sein könne für den, der wenig ausgerichtet hat. Denn darum glauben manche eine ursprüngliche Gleichheit annehmen zu müssen damit für alle dieselbe Verantwortlichkeit eintrete, und wer wenig empfangen habe, meinen sie, könne sich damit entschuldigen, wenn er auch nur wenig geleistet. Aber m. Fr. so ist es nicht. Ja selbst der faule Knecht sucht seine Entschuldigung nicht darin, daß er nur ein Pfund empfangen, er sagt nicht: es war der Mißmuth, daß ich so schlecht von dir bedacht war, das kränkende Gefühl der Zurücksetzung, was mir die Lust benahm, etwas zu thun, daher ich mich darauf beschränkte, es dir wenigstens zu erhalten. Der Erlöser gibt Gelegenheit zu verstehen, jeder könne mit dem Empfangenen so viel ausrichten als der andere; und wir müssen es gestehen, daß wer mit 2 Pfund 2 mehr gewann dasselbige Gefühl der Befriedigung haben werde, als wer mit 5, 5 gewinnt und daß der, welcher nur einen empfang, mit derselbigen Zuversicht vor den Herrn würde getreten sein und denselbigen Lohn empfangen hätte, wenn er eins mit dem empfangenen gewonnen hätte. Nicht das Maß dessen, was wir uns richten und auch nicht dessen, was wir empfangen haben kommt in Anschlag, wenn von der Rechtfertigung die Rede ist; sondern allein die Treue, mit der wir das Anvertraute angewendet. Als der Herr wiederkam und seine Diener vor sich foderte; da legt er ihnen nicht Rechnung ab; sondern sie ihm, nicht was sie empfangen hätten, sondern was jeder mit dem Empfangenem ausgerichtet hätte, darauf kam es an. Und so muß es noch mehr sein in der Kirche Christi, in der Gemeinde der Gläubigen, wo keiner strebt sich selbst zu verherrlichen, wo nicht das Blendwerk und Äußerlichkeiten sondern nur das Innere, die Kraft der Liebe und des Glaubens in Anschlag gebracht wird, und deswegen muß es uns 2. einleuchten, daß aus dieser Ungleichheit der ursprünglichen Ausrüstung weder Neid noch Mitleid entspringen kann. Und das ist es, warum wir bisweilen Gott besser rechtfertigen zu können meinen, wenn wir die Ungleichheit nicht ihm selbst zu schreiben. Soll der Mensch sich freuen an

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dem Guten, was er ausrichtet oder welch ein höheres Maß von Glückseligkeit genießt der, der mit vielen Gaben auch vieles wirkt, auf den viele hinsehen als den Gründer ihres geistigen Wohles, der vorgeleuchtet hat auf dem Wege des Lebens als Beispiel christlicher Tugend, der durch Anstrengung aller ihm verliehenen Kräfte das Gebäude Christi entweder fester gegründet gestützt oder herrlicher ausgeschmückt hat; und wie wenig Freude und Glückseligkeit genießt dagegen der, der auf ein dürftiges Maß und Gabe beschränkt auch nichts ausgezeichnetes leistet, und nur sich durch andere haltend und stützend auch nur wenig genießt. Ja wenn das nicht verboten wäre in der Kirche, daß Jeder nur seine Ehre sucht: o dann wäre das recht. Der beschränkte, selbstsüchtige Mensch würde sagen: warum muß ich mit verzehren|dem Neid auf den sehen, der größerer Seligkeit theilhaftig wird. Ich habe denselben Willen Gutes zu thun, und ich mühe mich ab, alles was an Kräften und Gaben in mich gelegt ist, geltend zu machen. Aber ich bin nur dürftig ausgestattet; auch bei dem besten Willen, bei der größten Anstrengung bin ich nur wenig zu schaffen im Stande. Und der Liebevolle und der da an Gaben und Genuß Reichere würde sagen: warum bin ich doch bestimmt, mit herzlichem Bedauern so viele zu sehen, die ich nur bemitleiden kann, warum muß ich sie alle mit Neid auf mich hinblicken sehen. O wie viele mögen darunter sein, die im Grunde des Herzens treuer sind als ich; aber von dem, was mir bei meinen Gaben auszurichten so leicht wird, vermögen sie auch mit der größten Anstrengung und Treue nicht den 10. Theil zu erreichen. Aber so solls nicht sein in der Kirche Christi; weil jeder darin nur in seinem Herrn und Meister lebt nicht sich und seiner Ehre: so kann ihm auch ein solches Gefühl niemals kommen. Wer sich selbst mit solchen Gefühlen der Selbstsucht sättigt, und vergleichend um sich schaut und wie jener Pharisäer beim Anblick dürftigerer sich selbstgenügsam ausruft: ich danke Dir Gott, daß ich nicht bin wie jener und darin das Maß seiner Seligkeit findet: auch zu ihm kann man sagen: du Narr, diese Nacht wird er deine Seele von dir nehmen. Vor dem Richter stehst du allein; nicht auf das was du ausgerichtet, sondern nur auf die Treue und Anstrengung, womit du es vollbracht hast, wird gesehen werden; aller früher Unterschied von Gabe und Genuß der Seligkeit wird dann verschwunden sein, und nur in wiefern du mit gleichen Kräften mehr gethan hast, wirst du über Mehr gesetzt werden. Ja Neid und Mitleid könnten nur dann Statt finden, wenn Jemand sich mit seinem Thun und Wirken von andern abgesondert hinstellen könnte. Aber ist das nicht der leerste Wahn? Was kann ein Mensch allein? und wärs der größte, und hätte er die ausgezeichnetsten Gaben, reißt ihn heraus aus dem lebendigen Zusammenhang mit seiner 1 höheres] höhere 28 Vgl. Lk 18,11

29–30 Vgl. Lk 12,20

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Am 7. November 1813 vormittags

Umgebung: so wird er nichts sein als die Stimme eines Predigers in den Wüsten, ein leerer Schellen und sein Thun ein bloßes fruchtloses Spiel seiner Kräfte. Keiner soll im Reich Gottes etwas für sich allein sein, sondern nur in wiefern er eine Rebe ist an dem einen Weinstock, aus welchem alle Kraft und alles Gedeihen sich verbreitet. Darum [Der Text endet hier.]

1–2 Vgl. Mt 3,3; Mk 1,3; Lk 3,4; Joh 1,23 (Zitat aus Jes 40,3)

4–5 Vgl. Joh 15,5

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Predigten 1814

Autograph Schleiermaches [Überarbeitung der Nachschrift Pischons] der Predigt vom 26. Dezember 1814 vormittags, SAr 36, Bl. 7v – Faksimile (80 %)

Am 2. Januar 1814 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sonntag nach Neujahr, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,14.16 Nachschrift; SAr 29, Bl. 1r–2v; Matthisson Keine Abschrift der Nachschrift; SAr 34, Bl. 1r–5v; Matthisson Keine

Predigt von Schleiermacher am 2. Jan. 14.

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M. a. Fr. Zu nah steht uns noch vor Augen das Eigenthümliche dieser Tage, der Wechsel von Begebenheiten und Thaten seltener Art; und gewiß ist unser Gemüth noch von denselben Gefühlen erfüllt als am Schlusse des vergangenen Jahres. O, es ist wie ein Jahr gewesen reich an herrlichen Thaten und viele sind vergangen, und viele werden folgen, die ihm nicht gleichen. Ich rufe sie euch nicht erst zurück die großen Begebenheiten, wie Völker sich erhoben aus ihrer Schmach, und wie frevelhafter Übermuth eingeschränkt und gedemüthigt, wie ein verblichener Ruhm zu schönerem Glanze sich erneut hat, und das auf unsicherm Grunde stand, gesunken ist, wie viele Freude mit vielen dankvollen Stunden wir so gehabt, wie viele Thränen wir vergossen, wie viel schöne Hofnungen für die Zukunft wir da gefaßt haben. Aber indem ich des Dankes, der Wünsche gedenke, so überfällt mich, ich kann es nicht verheelen, schwer der Gedanken, ob nicht viele durch eben diesen Dank, durch diese Wünsche aufs Neue gegen Gott versündigt haben. Denn wenn wir ihm danken dafür, daß er uns erspart hat Noth und Leiden, von denen wir wissen, daß andere unserer Brüder, die eben so unter seinem Schutze stehen, sie haben erdulden müssen; kann er sich dieses Dankes freuen und kann er darin solche Kinder erkennen, die ihm wohlgefällig sein sollen. Und wenn wir ihm danken für dieses und jenes, was nur flüchtig und vergänglich ist und ganz vergessen, was weil es mit unserm geistigen Dasein in Beziehung steht, das Größte und Wichtigste ist, werden wir dann nicht den Kindern gleichen, welche über die Spielsachen, welche wir ihnen schenken ihre Gedanken nicht auf das drunter verborgene Höhere zu richten vermögen und wird Gott nicht Nachsicht haben müssen mit unserer kindischen Freude? Und dasselbe gilt von den Wünschen und Hoffnungen, mit denen wir in das neue Jahr eingetreten sind. Sie sind die Schattenbilde unserer Entschlüsse und unserer Thaten; besser

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Am 2. Januar 1814 vormittags

wie jene werden diese auch nicht sein. O m. Fr., es ist gewiß einer der größten Zwecke unserer kirchlichen Versammlungen, ein wesentlicher Theil dessen, was hier erreicht werden soll, daß wir lernen die Wege des Herrn, seine Gaben in seinem Geiste und Sinne würdigen, und unsern Geist und Willen immer mehr in den seinigen hineinbilden. Mit Recht wird also auch dieß näher oder entfernter der Gegenstand aller unserer Belehrungen in diesem Jahre sein. Was ist natürlicher, als daß wir die gegenwärtige Stunde dazu anwenden, über diesen Gegenstand uns einen allgemeinen Überblick zu verschaffen, der uns in Betrachtung des Einzelnen richtig leite, woran wir uns halten, und wodurch wir sicher werden, den Willen Gottes recht zu verstehen und recht aus zu üben.

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Ev. Johann. I, 14 und 16.

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Der Zusammenhang dieser Worte mit unserer Betrachtung sollte er vielleicht nicht gleich einem jeden einleuchten. Wenn wir, verwirrt durch die großen Bilder, welche diese Zeit an uns vorübergeführt, uns selbst nicht vertrauend, ob es überall nur das Rechte ist, was wir erkennen, nur das Göttliche wonach wir streben, wonach sollen wir sehen, wenn nicht auf den Erlöser? Er ist uns geworden das sichtbare Ebenbild Gottes, was wir in ihm erblicken ist gewiß das Gute und Wahre, was wir nicht mit den Zügen seiner Gestalt übereinstimmend finden, das erweckt mit Recht unsere Bedenken, unsern Zweifel; er ist die Quelle alles Guten, der unversiegliche Born des lebendigen Wassers; und so gewiß wir Christen sind, ist der Erlöser der Punkt, worauf alles zurückzuführen ist; er ist es auf den wir zurückführen | müssen 1. alle Ansichten der Welt und was sich darin begibt und 2. alles unser und anderer Wirken in der Welt, wenn es ein Gegenstand unserer Zufriedenheit und Dankbarkeit gegen Gott sein soll. I. Der Erlöser ist der Mittelpunkt unserer Weltbetrachtung. Was wir sehen in den Wegen der göttlichen Vorsehung; in dieser Entfaltung herrlicher Kräfte im Keime eines neuen Zustandes, wenn wir uns darin nicht irren, nicht Fremdartiges aufnehmen wollen: so laßt uns nur das sondern und festhalten, worin wir ihn, den Erlöser wieder erkennen „und wir sahen seine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit.“ Ja m. Fr. eine Herrlichkeit, die von Gott ausgeht, muß das sein, was uns das Herz aufregt in dieser großen Zeit[.] Ein Sieg des Guten über das Böse, eine Entwicklung und Befestigung des göttlichen Reiches das gegründet ist auf Christo. O laßt uns wohl zusehn; welcherlei damals seine Herrlichkeit war: so muß auch jetzt die Herrlichkeit sein, deren Glanz uns überstrahlt. „Es war eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit.“ O daß es nur gelingen möchte, den Sinn dieser großen Worte in uns auf zu regen, und zum klaren Bewußtsein den zu bringen, 37 überstrahlt] überstralt

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was darin liegt, der es werth ist sich zu freuen. Das Wort Gnade, m. Fr. wie oft führen wir es im Munde in Sachen des Glaubens wie in weltlichen Angelegenheiten; wie oft wird es mißverstanden in diesen wie in jenen. Die Gnade ist nicht ein leichtes Vergeben ohne Unterschied, die unbedachte Wirkung eines über das Gewöhnliche hinaus geschauten Gemüthes, nicht ein Vergeben und Vergessen dessen, was uns bloß widrig oder gehäßig war, wozu wir in Augenblicken großer Freude aufgelegt sind. Denn dergleichen, wie schön es auch sei, es geht nur hervor aus dem Wechsel unserer menschlichen Zustände, und bleibt immer irdisch und menschlich. Solche Gnade übte auch der Erlöser aus und es gehörte mit zu seiner Herrlichkeit; aber er wußte wohl, was an jedem Menschen war, und traute vielen nicht, welche nur um der Wunder willen an ihn glaubten. Aber diese Duldung die sich auf den Grundsatz des Christlichen gründet, alle an dem Guten und an der Herrlichkeit des Glaubens Theil nehmen zu lassen; es ist nicht die rechte Gnade; von Anfang an war das nicht die Herrlichkeit Christi, sondern nur der Beweis, daß seine Kirche auch den Gesetzen des Irdischen unterworfen ist; und wollten wir, wie es damals nicht anders sein konnte, auch solche in den neuen Bund der Treue der Rechtschaffenheit, der Bruderliebe mit aufnehmen, die von diesem Geiste nicht mit ergriffen sind: so wäre das nicht die Herrlichkeit dieser Zeit: sondern die Schattenseite derselben. Aber was ist Gnade? Die Hülfe, welche der Mensch dem Schwachen reicht: sie ist das Herablassen des Hohen zu dem Niedern. Das war die eigentliche Gnade des Erlösers. Er ging zu suchen, was verloren war; er der Starke verherrlichte sich in den Schwachen; er der alleinige Arzt suchte sich die Kranken, aber solche die ihre Krankheit auch fühlten, und in solchem Sinne kann gesagt werden: er ließ sein Leben, da wir noch Feinde waren, die aber der Liebe fähig, in denen der göttliche Keim noch nicht ganz erstorben war. Er der Hohe ließ sich herab zu den Niedrigen, schon vorher verkündigt als der, vor dem alle Berge verschwinden sollten und alle Hügel sich ebnen. So m. Fr. besteht die Herrlichkeit dieser Zeit auch darin, daß die Hohen sich herablassen zu den Niedrigen. Worauf anders auch kann das wahre Wohl des Menschengeschlechts beruhen, das ein Gemisch ist von Starken und Schwachen; das Göttliche ist immer das Starke; das Menschliche und Irdische das Schwache, und wo sich jenes regt, da soll es dieses durch dringen und sich mit ihm vereinigen: so arbeitet jeder an sich an seinem Nächsten: so stärkt ein gewaltiger Augenblick des Lebens die Schwächen und es arbeitet sich das göttliche Leben zu gleichem Wohlbefinden und gleicher Seligkeit heraus. Und die Hohen lassen sich herab um den Schwachen hinauf zu ziehen, nicht als ob wir alle gleich sein sollten, daß endlich alle auf gleicher 13 dem] den 28–29 Vgl. Jes 40,4

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Stufe ständen. Das ist nicht die göttliche Ordnung der Dinge; denn unendlich sind die Stufen der Bildung, und in der Ungleichheit, in dem beständigen Herabsteigen der Hohen | und dem sich Erheben der Schwachen beweist sich die göttliche Liebe und Gnade. „Und seine Herrlichkeit war eine Herrlichkeit voller Wahrheit.“ M. Fr. vielleicht nicht um die erfreuliche Vorstellung zu beleben, vielleicht manches davon hinweg zu nehmen wird mancher an dieß große Wort erinnert. Diejenigen welche mit den reinsten Herzen Gott gedankt haben; wofür haben sie gedankt? Nicht für das Geschehene, nicht daß sie bewahrt blieben vor Leiden, nicht für Hofnung irdischen Wohlergehens; sondern für die herrlichen Thaten, für die trefflichen Gesinnungen und Tugenden, die sich in der allgemeinen Freude spiegelten. O wenn es nur alles Wahrheit ist! darauf laßt uns aussehen. Jede Täuschung bringt hervor eine Niedergeschlagenheit; sie lähmt die Kraft und verwirrt die Klarheit des Blickes. Immer ist das das allgemeine Schicksal, daß das Wahre und Gute, welches den Kern des göttlichen Daseins bildet, umgeben ist von leerem luftigen Schein, welcher freilich den äußeren Umfang des Guten vergrößert, aber uns auch die aussetzt, unsere Hofnung unsere Freude zurücknehmen zu müssen. Welches ist ein so unentbehrlicher heiliger Zug im Bilde des Erlösers als die göttliche Wahrheit. Was ergreift uns mehr, was erwirbt vorausgesetzt, daß wir Sinn für das Ernste und Wahre haben, mehr unsere Achtung, als wenn ein Mensch einfach ist und wahr, wenn er trachtet allem Schein und alles leere Wesen von sich zu entfernen. O, m. Fr. laßt uns auf unserer Hut sein, daß wir in das neue Dasein nicht vieles hineinflechten, was nur scheint, daß die Welt uns nicht besser scheine als sie ist, daß wir in diesem Wahne zu früh die Hände in den Schoß legen und auf den erworbenen Lorbeern ausruhen. Um alle die Tugenden, die sich jüngst geoffenbart haben, wie viel Schein hat sich nicht herumgelagert. Ich will nicht von denen reden, welche fälschlich dieselben nachahmen, und in ihrem Bewußtsein sich Lügen strafen müssen, welche das Große auch als Gegenstand ihrer Verehrung, ihrer Liebe und Begeisterung darzustellen suchen während sie nur an dem Vergänglichen hängen. Aber dieß zu unterscheiden dahin wird uns die Wahrheit bald leiten. Ach m. Fr. auch das ist nicht wahr, was nur das Werk eines flüchtigen Augenblickes ist; nur das Bleibende und Unveränderliche ist wahr. Alle flüchtigen Aufwallungen von Muth von Aufopferung, von wohlthuender Liebe, von Eifer für das Rechte und gegen die Sünde die sich aus einem Gemüthe erhoben, das übrigens irdisch ist: sie sind doch nur Schein: ach laßt uns ja sehn, wie viel von diesem zerbrechlichem Gute unter den Ereignissen der Zeit ist, damit wir es nicht mit aufnehmen in die Herrlichkeit der Zeit. Freylich die Wahrheit wird immer diesen Schein hervorbringen; der Geist Gottes erweckt auch in den Kindern dieser Welt solche Augenblicke reiner Begeisterung für das Gute, und als That angesehn ist was daraus hervorgeht, allerdings etwas Gutes; aber sie selbst sind darum noch nicht aufgenommen in den Bund

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zum Guten wirkender Kräfte. Ja ich möchte noch mehr hinzusetzen: nicht bloß ein vorübergehendes Gefühl es mag auch sein eine Gewöhnung gut zu handeln; aber wenn die Kraft dazu nicht im Gemüthe wohnt, wenn das Gute immer aus Ansteckung entstanden: so ist auch das nur Schein: sonst müßte es selbstständig sein und sich gleich bleiben: aber stellt den Menschen in andere Verbindung: so wird bald noch dieses Gute erlöschen. Unzuverlässig sind solche Menschen und können nicht als eingemauert im Tempel Gottes betrachtet werden. Ja nur in der Wahrheit ist die Herrlichkeit alles Göttlichen. Der Schein verschwindet: früher oder später öffnen wir das Auge, und nichts ist so gefährlich, nichts leitet uns so ab von der Demuth, als wenn wir ihm vertrauen. Und wie unser Leben in Gott ein gemeinsames ist: so laßt uns nicht und andere durch schöne Worte und durch Schein irgend einer Art täuschen. Aber eben so ist II. der Erlöser der Mittelpunkt und der Maßstab alles Wirkens in der Welt. „Und aus seiner Fülle nehmen wir Gnade um Gnade.“ Ja nur aus der unerschöpflichen Quelle seiner Gnade kann das hervorgehn, was wahre Achtung verdient und was da bleiben soll. Alles was wir thun muß aus dem Bestreben ihm gleich zu sein, her kommen. Wollen wir nur Einzelnes, aus diesem und jenem weltlichen Antrieb, das kommt nicht aus seiner Fülle und hat keinen Werth. Wer kann | es übersehn und aufzählen das Unzählige was wir aus seiner Fülle nehmen; doch läßt es sich unter folgenden Hauptpunkten zu sammen fassen. a. Was kann uns zuerst einfallen, als daß wir nur dadurch sein sind, wenn wir dasselbe thun was er gethan hat, wenn wir sein Werk fortsetzen erweitern, ergänzen. Er kam auf Erden, daß er dienete, und alle die berufen sind, sind berufen, daß sie sein, ihr Kreuz auf sich nehmen, daß sie nicht sich und das Ihre suchen, sondern das des anderen. Und das ist auch die Gnade, die sich jetzt von neuem verherrlicht, daß Keiner an sich denke, sondern daß all sein Wirken und Streben auf die Gottessache gerichtet sei, ihr alles sein Habe, seine Kräfte sich selbst zum Opfer bringe. Aber freilich damit soll nicht ein leeres Gespött getrieben werden; nicht soll ein frevelnder Mund diese Worte aussprechen, dem der Geist fremd ist; er werde erbaut aus unserer Mitte und aus dem Glanze des himmlischen Lichtes, dessen er nicht werth ist, in die Finsterniß gestoßen[.] Aber die reinen Herzen, die fest unter einander zum Guten verbunden sind, mögen nie müde werden, diese Gnade aus der Fülle des Erlösers zu nehmen. Alles was wir ehren und prüfen, nachahmen oder verherrlichen, das ist die Fülle des Erlösers, und was so gethan ist, das ist in seinem Geiste gethan. Aber darum ist es, das eine Gnade aus der Fülle des Erlösers, daß wir unsere Stimme anheben können gegen die Schwäche und den Widerstand. Der Erlöser rief Wehe 40–1 Vgl. Lk 6,39

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über die Blinden, welche sich zu Führern der Blinden aufgeworfen, Wehe über die, welche die Schlüssel sich anmaßten und nicht einließen, Wehe über die, welche die Schätze der Weisheit, die Kraft der Gesetze anvertraut war, und die diese nicht zum Heil der Menschen anwenden wollten. Hätte er Schonung geübt, hätte er geschwiegen, hätte er nicht gewarnt, gedroht – wo wären wir, wo seine Lehre, seine Gemeinde? [b.] Darum ist auch das Gnade, die aus seiner Fülle kommt, daß wir öffentlich und laut unsere Stimme erheben, wo Unverstand, Thorheit, Verkehrtheit, Selbstsucht und Bosheit aller Art der Foderung des Guten im Wege steht. O möge sie reichlich ausströmen, wie viel Schwäche, viel Unernstes und Widerstand ist thätig. Darum, wer reines Herzens ist – und es verhallt, wie leerer Schall die Stimme derer, die es nicht sind – versäumen nicht, wie der Erlöser seine Stimme zu erheben, zu murren, zu strafen alle die, welche die Gaben Gottes mißbrauchen, welche mit Gewalt mit Macht begabt sind und heuchlerisch vor sich tragen die große Angelegenheit der Zeit, aber unter diesem Scheine doch nichts anders suchen als sich selbst und das Ihre. Es ist nicht gestattet, weiter ins Eigene zu gehen. Aber diese beiden Hauptpunkte die Alles übrige mit umfassen, reichen hin für diejenigen welche für Christum wirken wollen! Das Innere worauf sich alles bezieht, die innerste Fülle der Gnade des Erlösers ist, daß wir durch ihn Gemeinschaft haben mit Gott, daß er uns den Vater offenbart, daß er uns zu ihm führt und Wohnung für ihn macht, daß wir ihn in aller seiner Herrlichkeit schauen, daß unser Auge und unser Herz auf ihn gerichtet sind. Was auch sonst gut scheine und nützlich, geht es nicht hervor aus einem Gottgeweihten Herzen; ist es nur eine irdische milde Kraft: so kann kein Segen darauf ruhen. O m. Fr. wenn wir mit Recht die gegenwärtige für eine große Zeit halten müssen, o laßt uns nicht vergessen, daß jede Zeit in dieser Beziehung gleichen und zwar so viel werth hat, als die Menschen Gott näher kommen, je mehr das verschwindet, was sie von Gott trennt, je weniger der Unterschied der Gotterfüllten und der Irdischgesinnten hervortritt. Dieß zu offenbaren in unserm Leben und zu erblicken in aller Weltereignissen, das sei das große und einzige Ziel in diesem wie in jedem künftigen Jahre, und was wir wünschen und hoffen, es sey nichts anderes als zu schauen seine Herrlichkeit und Wahrheit, und ohne Unterlaß zu nehmen aus dieser Fülle Gnade um Gnade. Amen.

10 wie] die 1–2 Vgl. Lk 11,52

2–4 Vgl. Lk 11,46

22 Vgl. Joh 14,23

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Am 19. Juni 1814 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 16,29.31 Nachschrift; SAr 29, Bl. 3r–3v; Matthisson Keine Keine Keine

Predigt von Schleiermacher am 2. Sonntag nach Trinit. 19. Jun. 14.

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Es ist der menschlichen Natur wesentlich eigen, auch andere Menschen zum Gegenstande der Liebe der Sorge der Theilnahme zu machen; zuerst richtet sich diese Sorge auf die äußere Seite, dann aber auch auf das Innere, und wenn wir selbst uns in der Gemeinschaft mit Gott fühlen, oder dieses Verhältniß für den seligsten und wünschenswerthesten Zustand halten; wir wünschen wenigstens, daß andere sich dessen erfreuen, und machen Anstalt und bilden Wünsche und Gelübde, daß sie zu demselben gelangen möchten. Aber nur gar zu oft, muß auch hier der endliche beschränkte Geist inne werden, daß seine Gedanken nicht Gottes Gedanken sind, und seine Sorgen nicht unsere Sorgen. Lasset uns denn wie in allen wichtigen Angelegenheiten des höhern Lebens, so auch für diesen Fall Rath und Hilfe suchen bei dem Erlöser, und von ihm lernen, welche Richtung wir unsern Hoffnungen und Wünschen in Beziehung auf das geistige Wohl anderer zu geben haben. „Sie haben Mosen und die Propheten, laßt sie diese hören, und wenn sie diese nicht hören, werden sie nicht glauben, ob auch einer von den Todten auferstände.“

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Diese Worte läßt der Erlöser den Abraham aus dem Orte der Seligen erwiedern, um die Nichtigkeit aller außerordentlichen Anstalten dar zu stellen, die gemacht werden, die Menschen zur Buße und zum lebendigen Glauben an Gott zu bringen. Auf Mose und die Propheten werden sie hingewiesen. M. Fr. wir wähnen uns, auch in der äußern Welt den Gewinn zu sehr zu fühlen; überall tritt er uns entgegen, überall umhaucht uns sein Odem; aber 11 Gottes] Gottees

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auch wir werden auf die unmittelbare Offenbarung verwiesen. Wenn wir Mosen und die Propheten nein wenn wir Christum und sein Wort nicht hören, der an Licht und Klarheit jene in dunkle Bilder gehüllten Lehrer des Alten Bundes so unendlich über|trifft, so werden wir nicht glauben, zum Leben in Gott gelangen, ob auch die größten Wunder sich vor unsern Augen begeben. M. Fr. wir leben nicht mehr in der Zeit, wo der Herr durch augenblickliche Unterbrechung des Naturgesetzes sich den Menschen zu bezeugen nöthig fand – und auch damals, wenn selbst diejenigen, die durch Christi Wohlthat von schwerer Krankheit befreit als lebendige Beweise seiner göttlichen Kraft umhergingen, dennoch nicht zum Glauben an ihn gebracht wurden, wenn die Zeitgenossen seine Auferstehung für eine Fabel hielten, und selbst Jünger darüber spotteten, wie hätte es um ihren Glauben gestanden, wenn sie seinen Göttlichen Worten nicht geglaubt hätten, ob er auch von den Todten auferstanden war – aber wir unterscheiden doch im Laufe unsers Lebens, Alltägliches Unbedeutendes, und Außerordentliches. Aber auch jetzt wenn nicht durch Christum selbst, Sinnesänderung, lebendiger Glaube, geistiges Leben gefördert wird: so sind alle großen Weltbegebenheiten vergebens vor unserm Auge erschienen. Als die Menschen unterm fremden Joch seufzten und den Herrn aus den Augen zu verlieren anfingen: da hofften und wünschten wir auch wohl, wie der reiche Mann, wenn der Tag der Erlösung plötzlich erschiene, wenn der Herr seine Wucht aufrichtete zum Gericht, dann würden sie die Augen öffnen, dann würden sie Buße thun, und Gott ihr Leben widmen. Gott hat gerichtet; aber dennoch muß alles Heil ausgehen von Christo. Nicht vergebens ist darum so viel Menschenblut vergossen, wenn wir die theuer erkämpften Güter nur würdig erkennen und zum Bau des Reiches Gottes verwenden. Amen.

22 öffnen] öfnen

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Am 3. Juli 1814 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Lk 18,10–14 Nachschrift; SAr 29, Bl. 4r–4v; Matthisson (unvollendet) Keine Keine Keine

Predigt von Schleiermacher am 4. Sonntag p. Tr. Den 3. Jul. 14.

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Nichts Größeres nichts Herrlicheres gibt es für den Menschen, als dem Urquelle alles Guten Wahren und Rechten nach zu forschen. Aber in diesem Bestreben sichert ihn Schwäche Irrthum Leidenschaft und Verkehrtheit auch die seltsamsten Abwege und erzeugter Aberglaube, Christum und eben dadurch Haß und Verfolgung und Unduldsamkeit. Wie wir in den Erweisungen unserer gemeinschaftlichen Andacht uns vor diesem Abwegen zu bewahren haben lasset uns heute von dem Erlöser lernen. Luc. 18, 10.–14. „[10.] Es gingen 2 Menschen hinauf in den Tempel zu beten; einer ein Pharisäer, der andre ein Zöllner. 11. der Pharisäer stand und betete bei sich selbst also: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute pp. 12. Ich faste zweimal in der Woche pp. 13. Und der Zöllner stand von ferne, wollte auch seine Augen nicht aufheben sondern pp. Gott sei mir Sünder gnädig! 14. Ich sage euch: Dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem.” D. h. des göttlichen Wohlgefallens und der göttlichen Gnade mehr versichert als der Pharisäer. M. Fr. Man hat dem Pharisäer Unrecht gethan, wenn man ihn dargestellt als einen bloßen Heuchler. Der Erlöser läßt ihn diese Worte nur bei sich selbst sagen und ihm Gott das Gute zu schreiben, was er an sich findet und das war doch eine fromme Regung. | Und auf der andern Seite ist doch auch die reuevolle Demütigung des Zöllners vor Gott an und für sich und in jeder Hinsicht hinlänglich. Wie viele dergleichen Augenblicke wahrhafter Reue und Zerknirschung werden in dem Leben so 10 Luc. 18, 10.–14.] Luc. 18, 10.

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manches Menschen gefunden, wodurch dennoch nichts geschafft wird. So laßt uns dann lernen 1. Was der Unterschied sei zwischen dem Gebete des Pharisäers und dem des Zöllners. Und 2. daran für uns einige sich von selbst ergebende Betrachtungen anknüpfen. I. Dem Pharisäer gereicht es zum Tadel, daß er nur auf das sieht was er schon geworden ist nicht eingedenk der Vorschrift des Erlösers: „Trachtet nach dem, was da vorn ist, und vergesset, was dahinten ist.” Diese Freude über dies schon erworbene Gute in dem Augenblicke, wo man den Höchsten sucht, verhindert das weitere der 2 Streiter im Guten. Wer aber still steht, geht bald wenn auch nur unmerklich zurück. Noch eher wird dieß geschehen, wenn der Mensch sich nun mit dem unvollkommenen vergleicht. Zum Lobe dazu gereicht es dem Zöllner, wenn er im Augenblicke des Gebets nur Gott sieht und das ihm dar zu bringende Herz; aus dieser Versenkung in die göttliche Gnade aus dieser Zerknirschung seines Herzens muß der Entschluß hervorgehen und von nun an treu zu wandeln und das Böse gut zu machen. [Der Text endet hier.]

8–9 Vgl. Phil 3,13

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Am 18. Dezember 1814 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

4. Sonntag im Advent, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Mt 12,15–21 Nachschrift; SAr 36, Bl. 1r–5r; Pischon Keine Nachschrift; SAr 29, Bl. 6r–7v; Matthisson Keine

Predigt am 4. Sonnt. des Advents. 1814. Eingang

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Es soll gewiß m. a. F., nicht ein leeres Wort sein, wenn wir Christum unsern Herrn nennen, nicht eine Nachahmung der Bezeigung von Achtung und Höflichkeit, welche die Jünger des Erlösers ihrem Meister und die Ungelehrten dem großen Ausleger der Schrift und des Gesetzes gaben. Nein, wir sollen es fühlen, daß er es ist der uns regiert, wir sollen uns als die Seinen überall von ihm geleitet fühlen, sein Vorbild, seine Worte, seine Winke sind es, dem die Seele mit Allem, was in ihr ist, bereitet sein soll. Wie sollte es also nicht ein Gedanke sein, in dem wir uns gern versenken, daß wir seiner Herrschaft über die Gemüther recht deutlich bewußt würden. Jede Gewalt die ein Mensch über den andern ausübt ist geistiger Natur und wird der Mensch rein und allein durch die körperliche Natur gezwungen, so nennt er das nicht Herrschaft; jede Kraft des Menschen auf den andern ist nur geistig. Wie sollte auch einer viele beherrschen und regieren, als mittelst einer geistigen Kraft, die von ihm ausgeht und einer geistigen Kraft in dem Menschen, die ihm beisteht und sich ihm unterwirft. Aber mancherlei ist die Gewalt. Unter mancher Gewalt stehen wir, der wir uns schämen müssen, unter mancher Gewalt, von der uns leid thut, daß wir uns ihr unterworfen haben, unter mancher Gewalt stehen wir, die nur das Gefühl der Schwachheit uns giebt. Aber die Gewalt des Erlösers ist die höchste und zugleich die reinste, gegen welche niemals etwas in unseren Herzen sprechen wird, noch weniger, daß wir es bereuen sollten ihr unterworfen zu sein, vielmehr unser ganzes Leben ist ein immer neues Unterwerfen unter seine Macht. Das sei unsre heutige Adventsbetrachtung. Tex t.

Matth. 12, 15–21.

26 Tex t. Matth. 12, 15–21.] Tex t. Matth. 12, 16–21.

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Selten nur, m. a. Fr. tritt der Evangelist, aus dessen Lebensbeschreibung Jesu diese Worte genommen sind, selbst auf in seiner Erzählung und besonders | nur, wenn er bei irgendetwas, was der Erlöser gethan hat an die Stellen der heiligen Schrift seines Volkes erinnert wird und sich nicht enthalten kann sie auf den Erlöser anzuwenden. So auch hier, wo die Macht des Erlösers und die bescheidne Zurückziehung desselben ihn veranlasst. Durch die Worte des Jesaias erhalten wir alle einen Eindruck von der Macht und Würde, die ihn beigelegt wird und zugleich, was der Evangelist besonders darin fand, von der Milde, wodurch seine Macht sich ausgezeichnet und das ist es, was wir näher erwägen wollen und sehen: wie Christus unser Herr ein milder Herr ist und seine Herrschaft eine milde Herrschaft indem wir unsern Sinn richten: I. auf die Art, wie der Erlöser die Gemüther der Menschen bewegt und unterwirft und II. wie er sein Reich ordnet und regiert. I. Zuerst laßt uns sehen auf die Art, wie unser Herr die Gemüther bewegt und unterwirft. a. Gar einerlei Abstufungen finden wir in den Grundsätzen und dem Betragen derer, die eine Gewalt über die Menschen ausüben. Viele nehmlich greifen das menschliche Gemüth so an, daß der, der sich unterwirft sich erniedrigt fühlt, der Erlöser aber so, daß wir uns aufs höchste erhoben fühlen und das ist seine göttliche Milde. Wie hätte er es nicht in seiner Gewalt gehabt die Menschen durch Erstaunen und Bewunderung an sich zu fesseln, wenn er es für einen Raub gehalten hätte Gott gleich zu sein, wenn er geprunkt hätte mit der Herrlichkeit, die ihm war beim Vater, und so geredet und gewirkt, so sich den Menschen dargestellt hätte, aber ihm lag daran seine Würde zu verbergen, in Knechtsgestalt ging er umher unter den Schwachen und Sterblichen der Erde, und kein anders Ansehen hatte er, als das was jeder geneigt war ihm einzuräumen, als das, wovon sie fühlen mussten, | daß die Gottheit in ihm herrsche und nur davon sollte ihnen allmählich die Ahnung aufgehen von seiner göttlichen Natur und Würde. Und wenn er dies hier und da durch hohe Thaten bewährte, so müssen wir bemerken, daß er sie nur da that wo die Noth der Menschen ihn bewegte und nicht wo er die Herzen zu sich ziehen den Verstand beleben will, da weist er die Menschen auf sein Wort, da berief er sich darauf, daß er nichts sage, als was er von ihrem und seinem Vater gehört habe. – Und ist es nicht auch bei uns so mit der Gewalt, welche der Erlöser über uns ausübt? Wir 27 ihm] ihn 25–29 Vgl. Phil 2,6–7

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haben einen herrlichen unerschütterlichen Glauben, der seit Jahrhunderten sich bewährt hat durch den fleischgewordenen Sohn Gottes, wir haben einen unerschütterlichen Glauben an den Sohn Gottes und sagen es nach, daß in ihm die Fülle der Gottheit gewohnt und daß er das Ebenbild des Vaters ist, der Abglanz seiner Herrlichkeit. Aber ist er das, weshalb er unser Gemüth bewegt unser Herz zu sich zieht, wodurch wir niederfallen und sprechen Herr unser Meister, und ist es nicht sein menschliches Leben, sein menschliches Wirken; drückt sich das nicht tief bei uns ein, wenn wir wissen, daß er als Mensch zu uns geredet, wo er versucht ist allenthalben nur ohne Sünde? So verschmäht der Erlöser durch Staunen und Bewunderung zu sich zu ziehen, denn wo diese herrschen da sind sie gebaut auf Schwachheit der Einsicht, das aber wollte der Erlöser nicht von sich gesagt haben, daß die Gewalt, die er ausübte, geringer sein würde, wenn wir seine Gewalt näher erkennten und darum zwingt und unterwirft er uns in der Knechtsgestalt, in der der ewige Sohn des Vaters zu uns redet als zu seinen Brüdern. b. Auch das ist zu bemerken, daß der Erlöser nicht wie eine andre menschliche Gewalt auf uns wirkt durch Hoffnung oder Furcht indem er uns schmeichelt oder uns schreckt durch das Leiden, das die fühlen würden, welche ihm nicht gehorchen. Das ist der thierische Theil unsrer Natur. Unser ganzes Leben | theilt sich in Lust und Unlust und in dem Maße daß unser Leben stark bewegt ist, wird es durch eins von beiden bewegt und so muß immer Lust und Schmerz uns begleiten. Aber bewegen soll uns Beides nicht, wir sollen nicht Knechte sein und etwas thun aus Lust, nicht Knechte sein und etwas thun aus Furcht, und wer schämte sich nicht, wenn er durch Hoffnung auf Lust und Freude oder aus Furcht vor dem Schmerz sich hat leiten lassen. Das that auch der Erlöser nicht. Eben deswegen wollte er entfernen die Gedanken der Seinen von jeder Lust und Freude, die aus seinem Werk hervorgehen wurde, und je mehr sein Tod und Auferstehen sich ihnen nahte, um so mehr sagte er es deutlich, daß der ihm folgte nicht Lust und Freude haben würde, daß sein Reich nicht von dieser Welt sei, daß jeder sich selbst verleugnen müsse, der ihm zugethan sein würde. Wenn man aber sagt: stellt nicht der Erlöser einen Zustand der Belohnung und Bestrafung nach diesem Leben auf, lässt er nicht schauen in das gesegnete Reich seines Vaters, wo keine Thräne und kein Schmerz mehr sein wird und in das Reich der Furcht und der Qual? Ja, er thut es, weil er so musste; er mußte es ja sagen, daß um so mehr auf alle Lust und Freude abhängig sein werde von Gott und der Freude an dem göttlichen Willen, er mußte es sagen, aber nie thut er es um die Menschen dadurch zu bewegen. Er wußte es und, wir wissen es alle, daß wenn der Mensch noch fähig ist von Lust und Freude bewegt zu werden, das Nahe ihn mehr ergreift als das Ferne, und löscht nicht der nahe unmittelbar ausgemahlte Genuß aus was in der 30–31 Vgl. Joh 18,36

31 Vgl. Mt 16,24; Mk 8,34; Lk 9,23

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Zukunft ihm bevorsteht? Darum hatte er solche Beweggründe nicht nöthig und er verschmäht sie. Und auch seine Gewalt über uns gründet sich nicht auf Lust und Schmerz. Das Kind Jesus, das mit dem Kreuze spielt, der Erlöser der Welt, der das Kreuz trägt, das ist das Sinnbild, worauf der Christ seinen Sinn richten soll. Mit dem Kreuze spielen das lehrt uns immer mehr die Gewalt des Erlösers und wir widerstehen ihm desto eher, je inniger wir dem Erlöser unterworfen sind. c. Wohlan worauf gründet sich nun sei|ne Gewalt? wobei faßt er die Gemüther, deren er sich bemächtigen will? bei dem süßen herrlichen Gefühl der Freiheit, daß er sie vereinigen will mit sich, wie sie sich stark und mächtig fühlen. „Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken, legt ab die Last, womit ihr euch gequält habt, meine Last ist leicht! Ihr sollt nicht mehr Knechte sein, der Knecht weiß nicht was sein Herr thut. Ihr seid meine Freunde, denn ich habe euch Alles gesagt, was ich von Gott weiß,“ so ladet er uns zur Freiheit ein. Sein Reich ist das Reich der höchsten geistigen Freiheit und der Geist den er verheißen hat den die Seinigen empfingen, es war der Geist der Freiheit. Und denken wir zurück an jene Zeit, wo auch wir andern Gewalten gehorchten als dem Erlöser, da Alles noch äußre Satzung war und wir noch dienten dem harten Gesetz, das in den Gliedern des Menschen ist und befeindet das Gesetz in seinem Geist, wodurch dämmerte uns das Licht des Evangelii zuerst als dadurch, daß wir in ihm bemerkten eine Freiheit des Geistes, wozu wir uns nicht erheben konnten, welche bewirkte, daß die Seele nicht von außen bewegt und hin und her geworfen wurde, sondern fest gegründet war in dem Geiste der Freiheit. O da erwachte in uns der Wunsch, ob wir aus dem Zustande der Knechtschaft nicht auch uns erheben könnten zur Freiheit der Kinder Gottes, und was ist als wir ihn empfingen der Geist des Erlösers anders gewesen als der stärkende lebende Geist der Freiheit? Ja, wer nur Gott fürchtet mit der zarten Liebe des Sohnes, der hat nichts andres zu fürchten, der ist frei, und wer in den unerschöpflichen Reichthum der göttlichen Liebe eindringt, der wird von keinem menschlichen Erstaunen und keiner menschlichen Bewunderung mehr gebannt und gefesselt, er kennt nur ein Wunderbares, das ist Gott offenbart in seinem Sohn. II. Aber eben so wird sich die Milde der Herrschaft des Erlösers uns offenbaren, wenn wir sehen, wie er sein Reich ordnet und regiert. | Auf zwei Gesetze seines Reiches lasst uns hier besonders aufmerksam machen. 34 Aber] Abe 11–13 Vgl. Mt 11,28–30 13–14 Vgl. Joh 15,15 2Kor 3,17 28 Vgl. 2Kor 3,17

17 Vgl. 2Kor 3,17

26 Vgl.

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a. Er regiert mit einer durch nichts zu übertreffenden Unparteilichkeit des Herrschers und [b.] nach einem Gesetze sparsamer Schonung. [a.] Zuerst also ist seine Herrschaft milde, weil er unpartheiisch regiert. Wir können nicht leugnen jede Gewalt ist hart und drückend, wenn es ihr an diesem Gesetze fehlt. Wenn die Herrscher dieser Welt oder wer in einem kleineren Kreise regiert, wenn sie einigen ohne Rücksicht auf Verdienst einräumen, was der andre durch Verdienst nicht erreichen kann, so scheint uns die Herrschaft drückend und wir sehnen uns nach einem andern Geist derselben; wenn die, welche herrschen im Großen und Kleinen irgend einer Bestimmung in ihren Meinungen folgen, diese Beschäftigung, dieses Gebiet einem andern vorziehen und was ihrer Denkungsart schmeichelnd entgegenkommt begünstigen, so seufzen wir über einpartheiische Regierung und meinen es könnte und müsste besser werden wenn unparteiisch geherrscht würde. Wie aber ist da der Erlöser über alle Vergleichung erhaben. Wer kann aufweisen etwas, wodurch der Erlöser ihn begünstigt hat, abgesehen von der Ergebung in sein Gesetz und von der Stärke des Glaubens und der Liebe. Nicht umsonst wird erzählt, daß er, wie es Menschen gebührt, einen Jünger gehabt, den er vor allen lieb gehabt, der in seinem Schoß gesessen, an seiner Brust gelegen, das war menschlich und recht, aber hat er ihn je vorgezogen und erhoben über die andern? Vielmehr als seine Mutter für ihn bat, sprach er: des Menschensohn steht nicht zu das Setzen zu seiner Rechten und Linken zu geben, aber das will ich ihm geben zu trinken den Kelch der Leiden, den ich trinke und getauft zu werden mit der Taufe der Leiden und des Todes; so entfernt stand er von irgend einer Partheilichkeit. Wenn er zuerst gesandt war zu den verlorenen | Schaafen vom Hause Israel, und das nach dem Befehle Gottes war, daß er zu diesen sich hielt so ahnte er doch schon die zahlreichen Heerden anderen Ursprungs, die auch unter seine Gewalt kommen würden, und kaum hatte sich das Evangelium über die Grenzen Judäas verbreitet, so war das der Ruf seiner Jünger: hier gilt nicht Jude nicht Grieche, nicht Knecht noch Freier, Weib noch Mann. Noch weniger verstattet er Gaben des Gemüths einen Vorzug, ist irgend eine Tugend, die weniger in seinem Reiche zusagte oder den wir vorziehen könnten oder müssen! Es sind viele Gaben, aber es ist ein Geist, es sind viele Ämter aber es ist ein Herr der sie alle vertheilt, der da behandelt den, der ein Pfund empfangen hat gleich dem, der zehn empfangen, aber der eben so seinen Lohn genießen lassen wird dem der über weniger getreu gewesen ist. In dieser Unparteilichkeit und dieser Milde erkennen wir alle unsern Herrn. Darum es sich nicht geziemen wollte, wenn ein Christ neidisch sein wollte über Vorzüge und Gaben, die einer erhalten, so wenig wie das göttliche Wesen es sein könnte, freuen sollte sich jeder über die Gaben 21–24 Vgl. Mt 20,23 37 Vgl. Mt 25,14–30

29–30 Vgl. Gal 3,28

33–34 Vgl. 1Kor 12,4–5

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Am 18. Dezember 1814 vormittags

des andern, wohlwissend, daß sein Herr nichts ansieht als die Stärke der Liebe und des Glaubens im Herzen. b. Und eben so offenbart sich seine Milde in seinem Gesetze schonender Sparsamkeit. So sagen die Worte unsers Textes: das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen und das glimmende Tocht wird er nicht auslöschen. So stützt er diejenigen welche schwach sind und gebrechlich, so weiß er mit seiner göttlichen Kraft diejenigen zu stärken, die ohne ihn in der Nichtigkeit ihres Wesens vergehen würden. O was in Begriff ist auszulöschen wie ein Docht, zu vergehen wie ein Rohr, das schon zerknickt ist und keinen Saft aus der Wurzel mehr ziehen kann, das stärkt er mit neuem Leben, das bläst der Mund der Liebe wieder zur hellen Flamme an. Wenn wir die menschliche Gewalt mit Übermuth schalten sehen mit dem, was ihnen eine reiche Erndte verspricht, wenn | sie übersehen und nicht achten die große Menge, wobei nur wenig und bei schonender Behandlung zu erhalten ist, wenn sie auslöschen manches glimmende Tocht mit dem gewaltigen Odem ihres Mundes und mit mächtigem Fuße zertreten das geknickte Rohr: o da schaudert uns vor der Macht die den Menschen gegeben ist. – Ganz anders ist es beim Erlöser. Wer kann sagen, wie wenig er sei, daß wenn er sich dem Erlöser angeboten hat, er seine Stimme gehört habe: „du bist unbrauchbar in meinem Dienst, du bist schon so zerknickt schon so ausgebrannt durch die Gewalt der Sünde, daß ich dich nicht mehr brechen kann in meinem Reich,“ wer hat je solche Stimme von ihm gehört, wen hat er nicht aufgenommen, wen hat nicht der Odem Gottes aus seinem Munde wieder aufgeweckt zu höherm Leben? – Und so ist er schonend, daß er auch den spät Kommenden, auch den, der ihm fremder ist nicht zurückweist. Er ist der Herr der ausgeht zu jeder Stunde und späht ob er nicht findet die müßig stehen, er ist der noch um die elfte Stunde des Tages ausgeht und mitnimmt, die er findet und keiner kann sagen, er habe nicht Arbeit finden können in seinem Weinberg und manche empfangen in der Stunde des Gerichts ihren Lohn, von denen es andre nicht geglaubt hätten; denn er ist so mild, daß jede Kraft von ihm genutzt wird. O wie wäre es auch möglich, daß bei dem Reiche der Finsterniß und da die Kinder dieser Welt klüger sind als die Kinder des Lichts, das Reich Christi so gewachsen wäre ohne diese Milde und weise Sparsamkeit, wie hätte es sich verbreiten können bis zu uns in diese Gegenden der Erde die so fern sind von seinem ersten Schauplatze. – Aber noch mehr mild ist er darin, daß er der einzige Gewalthaber ist, der nicht zerstört um zu bauen. Wenn auch die Menschen mit guter Absicht mit ihrer Macht eingreifen in das Leben, um etwas Neues und Besseres zu fördern, wenn sie denn, was die Menschen zusammengeschlungen hatten zu einem Ganzen zerreißen, und wir fühlen, wie viele Schmerzen dadurch veranlasst, wie viel Ruhe gestört, wie viel Heiteres 26–30 Vgl. Mt 20,1–16

32–33 Vgl. Lk 16,8

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menschliches Da|sein dadurch unterbrochen wird, so werden wir es für hart halten. Aber der Erlöser zerstört nicht. Er hat auch die alte Ordnung seines Volkes nicht zerstört, er wußte, daß das alte Gebäude des Tempels bald in Trümmern fallen und kein Stein auf dem andern bleiben werde, aber er befahl nicht ihn zu zerstören und er sagte: er sei gekommen das Gesetz nicht aufzulösen sondern zu erfüllen. Freilich es giebt in dieser Welt Zeiten der Zerstörung wo Altes vergeht und Neues emporsteigt, Zeiten der Sonderung, wo das Eine untergeht und das Andere feststeht, aber des Menschensohn ist nicht gekommen die Welt zu richten, die Welt ist es, die sich selbst richtet, aus seiner milden Herrschaft geht keine Zerstörung hervor, das sehen wir daran, daß sein Reich unter allen Stürmen der Zeiten feststeht. Kommt die Zeit, daß die Seinen ihr Leben bringen müssen zum Opfer, das ist keine Zerstörung für ihn und durch ihn, das ist nur dasselbe Gleichbleibende der Gesinnung in diesem Reich, ist nichts als der ewige Friede, das Zunehmen seiner Kraft, das immer nähere Heranziehen der Gläubigen zu ihm bis daß er sie stelle vor seinen Vater. Amen.

4 Vgl. Mt 24,2; Mk 13,2; Lk 21,6

5–6 Vgl. Mt 5,17

5r

Am 26. Dezember 1814 Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Weihnachtstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 1,14 Autograph Schleiermachers (Überarbeitung der Nachschrift), Bl. 6r–8r und Nachschrift; SAr 36, Bl. 8r–11r; Pischon Keine Keine Keine

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Predigt über Joh 1. v. 14 am zweiten Weihnachtsfeiertag 1814 von D. Schleiermacher. |

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VI. Das Eigenthümliche wodurch sich der Erlöser ursprünglich von allen anderen Menschen unterscheidet. Weihnachtspredigt Text. Joh. 1, 14. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebohrnen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.

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Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen. Amen. Überall, m. A. pflegen wir gern, wenn uns etwas Gutes und Schönes widerfährt auf den ersten Ursprung desselbigen zurückzugehen denjenigen schon in seinem ersten Keim aufmerksam zu betrachten, was sich hernach so herrlich entfaltet hat, nur so in einem ersten urspünglichen Bilde zusammenzufassen alle die einzelnen Züge zu vereinigen, die uns hernach in den größten und heiligsten Augenblicken beglückt und beseligt haben, das ist uns allen ein threues und werthes Geschäft. Darum sind wir gewohnt, den Jahrstag derer zu feiern, die unseren 4 Die Zählung Schleiermachers ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass es sich um die sechste Predigt des Kirchenjahres handelt. 11–12 Lk 2,14 als Kanzelgruß

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Herzen wahr und theuer sind. Die fassen wir auf diese Weise, was von Anfang an sie für uns gethan haben, was sie uns gewesen sind in Eine Erinnerung zusammen, die sich tief ins Herz gräbt, und sich bei jeder wiederkehrenden Feier schöner belebt. Und so m. Th. feiern wir auch das Jahrsfest des Erlösers. Es geschieht vermöge desselben gemeinschaftlichen Gefühls, welches überall der christlichen Kirche zum Grunde liegt. Durch ihn finden wir uns alle erhöht und beseligt. In jedem bedeutenden Augenblick sowol denen der Erhebung unseres Geistes als auch wenn wir auf der anderen Seite die Schwäche des Menschen am schwersten einzufinden, ist es sein Bild das ihn leiten soll und hülfe gewährt, ist es sein Bild, dem wir uns im ersten näher gerückt fühlen. Darum kehren wir jährlich so gern mit einer, wahrhaft christlichen Freude zu diesem Feste seiner Geburt zurück, um da alles göttlich große und alles menschliche Herrliche was wir an ihm erkennen schon in dem ersten Keim aus dem es sich heraus entwickelt mit unserm geistigen Auge zusammen zuschauen. An diesen festlichen Tagen treten die großen Werke, die der Herr vollbracht die wundervollen Thaten, die er verrichtet hat mehr in den Hintergrund zurükk, und wir sind nur auf das noch verborgene innere Leben gestellt, dem jenes alles entsprossen ist. Auch anderwärts geht ja die reinste und höchste Liebe nicht von der Dankbarkeit aus für das was uns ein Anderer geleistet hat, sondern von der Freude an seinem Wesen und seiner Art zu sein. Und eben so hat die Verehrung nicht die Erfolge zum Gegenstand, die ja von so vielen anderen abhängen, sondern die innere Größe der Menschen. Und reiner vollständiger können wir beides nicht trennen als wenn wir auf den Anfang des Lebens sehen; da ist noch nichts gethan nichts geworden, aber alles ist vorbereitet, alles künftige ist auf | gewisse Weise bestimmt, der Grund zu allem ist gelegt in den ersten Regungen des eigenthümlichen Wesens. Diese Betrachtungsweise ist der Geist des heutigen Festes; so wünschen wir das Innere des Erlösers von seinen ersten Lebenserweisung zu erkennen, und als einen solchen ihn bei seinem ersten Eintritt in die Welt zu bewillkommen. Das ist denn auch die Weise des Apostels, dem unser Text angehört, und eben das auch der Sinn dieser Worte. Anstatt die andern Evangelisten die Geschichte von der Geburt unsers Erlösers ihren äußeren Verlaufe nach erzählen, woran sich dann natürlich auch äußere Lebensereignisse am leichtesten anknüpfen, eröffnet der Jünger, den der Herr lieb hatte seine Beschreibung des Lebens Christi mit diesem Blick in die Tiefe seines Innern, mit dieser wenngleich immer noch geheimnißvollen aber doch Enthüllung seiner höheren Worte, auf welche sich schon ehe er das Licht der Welt 31 Lebenserweisung] korr. aus Lebensregungen

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erblikkte ja schon von Anbeginn an alles in dem ewigen Rathschluß der Natur begangen, und welche auch unsern innigeren Zusammenhang mit dem Höchsten erst möglich macht. Wie groß und wahrhaft majestätisch daher auch die Ausdrükke unseres Textes in unseren Ohren schallen, es wird doch gewiß unser gemeintschaftliches Bekenntniß sein, daß sie nur des Gegenstandes würdig gewählt sind, und daß keine anderen so geeignet wären die göttliche Kraft welche diesem in seiner Art einzigen Menschenleben ursprünglich einwohnte auszusprechen. Und wie es die Absicht des Apostels war, daß die Beschreibung uns jene anderen Berichte von dem äußerlich ausgegezeichneten und wunderbaren welches die erste Erscheinung des Erlösers begleitete nicht sollte vermissen lassen: so sind nun seine Worte auch uns ein mindestens eben so vollkomner Stoff zu unserer Festbetrachtung. Was können wir heute an ihm erkennen und zu unserm Trost und unserer Freude betrachten wollen als was er auch damals wirklich schon war, das fleischgewordene Wort von der Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater! So laßt uns denn jezt eben dieses als das Eigenthümliche des Erlösers, wodurch er sich von allen Menschenkindern unterschied, miteinander erwägen | indem wir zuerst auf sein inners Wesen selbst sehen und zweitens auch [Beginn der Nachschrift] auf den Eindruck, den dasselbe auf unser Gemüth macht[.] Lasset

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uns das im christlichen Sinn und frommer Aufmerksamkeit mit einander betrachten. I. Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns. Das, m. Fr., ist die kurze aber Unendliches in sich begreifende Beschreibung von dem eigentlichen Wesen und der höhern Natur unsers Erlösers. Im Anfang war das Wort. Wort ist Gedanke und Mittheilung des Gedankens und in der Sprache der alten Völker so eins und dasselbe, wie auch in der Natur der Dinge keines von beiden getrennt sein kann; denn wie wir verachten den, der da redet ohne Gedanken, so vermögen wir im Innern keinen Gedanken zu vollbringen ohne Worte. So gehört beides zusammen und so war von Anfang an das Wort und der Gedanke Gottes vereint sich zu offenbaren, wodurch alles Unendliche der endlichen Welt hervorgegangen ist. Von Anfang an und besonders von Anfang der menschlichen Dinge an hat Gott sich nicht unbezeugt gelassen, seit er dem Menschen dem Geschöpfe, das die Krone der Erde ist, den lebendigen Odem in seine Nase blies, seitdem hat das Wort Gottes die Menschen bewegt und sich verehren lassen. Das sagt der große Apostel selbst von den Heiden, daß Gott sich ihnen nicht unbezeugt gelassen, daß sie sein Wort in seiner Natur vernommen hätten, wo kein Mensch 26 Joh 1,1

36 Vgl. Gen 2,7

37–1 Vgl. Röm 1,19–23

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es nicht vernehmen kann; und alles, was uns unterscheidet von den andern Geschöpfen es ist dieses Wort. Das war bei Gott und so sendete er uns nach dem Maße seine Barmherzigkeit und Weisheit und Gott selbst war das Wort und tief haben es alle Menschen gefühlt und sind niedergefallen und haben angebetet, wo Gott redete; sei es durch die Kräfte der Welt, durch die großen | Kräfte, die wir kreisen sehen in der Natur; sei es daß er durch Menschen sein Wort zu dem innern Ohre des Geistes redete, was noch keinem verkündiget war. So hat er vor Zeiten geredet zu unseren Vätern so hat er zu allen Geschlechtern der Menschen solche gesendet, die bewegt durch den lebendigen Hauch seines Mundes, denselbigen wieder tönen ließen als ein Wort Gottes. So hat, wie der Evangelist sagt, von Zeit zu Zeit geschienen das Licht in der Finsterniß. Aber wie unterbrechen wir einzelne Stimmen, wie zerstreut auf einzelne Kreise der Menschen ertönte sonst das Wort Gottes und wie wurde es durch laufend andere Stimmen weltlicher Lust irdischer Begierden zurückgedrängt. Das Licht schien in der Finsterniß, aber die Finsterniß nahm es nicht in sich auf, es bespiegelte mehr ihre Oberfläche, als daß es sie durchdrungen hätte bis ins Innerste. – Aber in den letzten Zeiten hat Gott zu uns geredet durch seinen Sohn: und das Wort ward Fleisch, ein einiges zusammengehörendes, ununterbrochnes Menschenleben, in welchem nicht, wie in den andern die Sünde verkehrte, so daß Irdisches und Göttliches darin in jenem Streite gewesen wäre, welchen wir in uns wahrnehmen, sondern da das Wort Fleisch ward in unserm Herrn Jesu Christo, so ward im Menschenleben, in welchem göttliche Kraft und menschliche Natur eins und dasselbige war, und dieses ewige Wort, der ewige Gedanke Gottes durchdrang und beseelte unsern Erlöser ausschließend, keine andre Stimme ertönte jemals in seinem Innern, kein anderes Wort, als das Wort Gottes kam von seinen Lippen, Alles in ihm, seine Rede, seine Gestalt, seine Thaten, sein Leben Alles war Wort Gottes. So wurde das Wort Fleisch und wie unser Text weiter sagt, wohnete unter uns. Nicht wie sonst ertönte zu weilen das Wort des Herrn zu ihm, wie zu einem der frühern Propheten, sondern es | hatte in ihm seinen beständigen Wohnsitz aufgeschlagen, es baute in ihm eine Hütte auf Erden, die nicht mehr zerstört werden sollte. In das Wort Gottes, es wohnt nicht jene kurzen flüchtigen Tage unter uns, sondern immerdar und diese Wohnung wird nicht von uns genommen werden. Wie jene Geburt der Keim war zu den dreißig Jahren des kurzen Menschenlebens, so ist sein kurzes Menschenleben selbst der Keim seines Wohnens unter seinen Menschenbrüdern und so groß ist das Wort der Verheißung, daß er bei uns bleibt alle Tage bis an das Ende der Welt. – Das Wort wohnte 28 kam] kann 11–13 Vgl. Joh 1,5

16–17 Joh 1,5

39 Vgl. Mt 28,20

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unter uns, soll uns erinnern an jene frühere Anstalt, als unter dem wandernden Volk Gottes in der Wüste der Herr sein Zelt und seine Wohnung aufgeschlagen hatte, in welche allein eingehn durfte der Mittler zwischen Gott und Menschen. Der ging hinein und schaute da die Herrlichkeit des Herrn. Da würde sein Antlitz klar, da wurde ihm deutlich das Gesetz, da holte er Gottes Aussprüche in bedenklichen Füllen das Volk zu führen in seine Heimath. So wohnt das Wort Gottes und der Erlöser seit seiner Ankunft noch unter uns. Wer geht zu ihm, wem wird in der Stille andächtiger Betrachtung das Bild des Erlösers klar, wer labt sich an den Worten seiner Weisheit vor dessen Seele nicht ein festes und unerschütterliches Vorbild der Liebe und Weisheit träte, der nicht schaute, was dem Menschen vergönnt ist zu schauen vom göttlichen Wesen und von ihm näher den Abglanz der Gottheit. Und wer von uns, die wir von seinem priesterlichen Volk sind, könne zu ihm treten und könnte sagen, daß ihm nicht ein sicherer Gottesausspruch würde, der ihm zeigte, was er thun sollte, der ihm nicht zeigte den Weg des Lichts, unterschieden von dem des Irrthums. So wohnt das Wort Gottes auch unter uns und allen ist der Zutritt eröffnet und wohl dem der oft hinzutritt und aus seiner Fülle schöpft. | So erläutern sich sein Bild und das Buch seines Lebens. So lernen wir aus seinem Bilde, das uns eingegraben ist, die einzelnen Züge auffassen, die denen angehören, welche sich ihm darstellen in Liebe und so fühlen wir, wie in diesem zusammengefasst ist der Leib des Herrn, wovon das beselende Haupt noch immer unter uns wohnt; so steigen unsre Wünsche zum Haupte gen Himmel empor und so regt sich der Leib Christi auf Erden in Liebe und Glauben je länger je mehr und stellt ein Bild dar, wie wir vernehmen sollen das Wort das Fleisch ward und nicht mehr aufhören soll auf Erden zu wohnen. II. Aber so lasset uns zweitens auch aus den Worten unsers Textes uns ermahnen an das Eigenthümliche des Eindrucks, den der Erlöser, mit verschieden von allem menschlichen Tröstlichen auf das Gemüth macht und wie sehr wir in ihm sehen die Herrlichkeit vom Vater, eine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit. Ja m. A. das ist der Eindruck, den der Erlöser gewiß auf jede gläubige Seele macht. Wir alle sind durch ihn Kinder Gottes, aber wir sind die Vielgebornen er ist der Eingeborne. Wie viele sind einander gleich dadurch, daß wir suchen uns tiefer einzuwurzeln in ihm, an geistigem Leben zuzunehmen aus seiner Fülle, wie viele sind einander gleich durch die Schwachheiten und Gebrechlichkeiten der menschlichen Natur, daß wir verfügt werden der eine so wie der andre durch die Sünde, die immer wieder von außen in uns einzubrechen und uns zu stürmen droht. Er aber ist der Eingeborne, nicht ein einzelner Strahl, wie jeder Einzelne in schönen Augenblicken der Gewissensruhe, der Herzenserhebung ein einzelner Strahl 14 treten] getreten

28 ermahnen] ermanen

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der Gottheit ist; sondern in ihm war die Fülle der Gottheit wahrhaftig, er ist der zusammengefaßte Abglanz der Herrlichkeit des Vaters er ist das in irdischer Natur dargestellte vollkommene Ebenbild seines Wesens. Das ist ein Unterschied von dem wir fühlen, daß er etwas anders sagen will, als daß der Erlöser einige, sei es auch noch so viele[,] Schritt vor uns voran ist. Nein, wir fühlen, er ist der Unerreichbare, der einige Sohne Gottes. | Wie er war der einige Sohn seiner Mutter und wie sein Vater ihn mit Freuden aus ihrem Schooß entgegennahm ihn zu pflegen, so ist er der eingeborne Sohn Gottes und wir vermögen nicht anders ihn zu nehmen als das theuerste Geschenk Gottes und ihn zu warten und zu pflegen in unserem Herzen, daß er uns immer mehr, so weit es der menschlichen Schwäche vergönnt ist, nach sich ziehen und wir fühlen, daß er der einige Höchste ist und daß wir sein bedürfen, um immer mehr das Auge unsers Geistes zu erhellen und wie durch ihn Alles heilig werden soll auf Erden. Denn Alles sonst Herrliche trägt das Grau der Erde an sich, wodurch der Glanz der göttlichen Herrlichkeit zerstört wird. Alles ist zu gemischt als daß es die reine Brechung des göttlichen Lichts in sein Auge aufnehmen könnte. – Und zu welchem der trefflichen Menschen wir auch hinaufsehen und in Demuth hoch hinaufzusehen glaubten, wir finden auch das Erbe mit dem Niedern gemischt, wie sollten wir unsre Sehnsucht stillen und ein Maaß unsers Urtheils gewinnen, wenn er uns nicht gegeben wäre, der Sohn Gottes dieser Menschensohn Sünde dieser Tempel des göttlichen Geistes in dem nichts Unreines wohnt und durch den wir die Irrthümer unsers Gewissens und Verstandes reinigen können. Und wir sehen seine Herrlichkeit voller Gnade und Wahrheit. Gnade und Wahrheit! Große, vielsagende Worte! Anmuth und Güte das eine, Treue und zuverlässige Sicherheit das andere. Die menschliche Wahrheit neigt sich immer mehr zu dem Einen als zu dem andern. Wenige sind der Menschen und kaum einige von denen wir sagen können, daß ein Gleichmaaß von Anmuth und Güte und von Treue und Sicherheit, zu finden sei in ihrem Wirken und Leben. Und doch wie wenig genügt das eine ohne das andere. Wie finden wir bei dem einen die heiterste Anmuth des Lebens, die reinste Güte des Herzens, aber es fehlt dabei an dem Blick der Irdisches und Geistiges durchdringt, an der Sicherheit, woran wir unsre Gebrechlichkeit aufrichten können, an der Treue und Offenheit, die mit scharfem Blick in das Innre dringt, | wo die verwerflichen Gedanken des Herzens sich entschuldigen wollen, wie erscheint uns dann das Erste Schwachheit und Täuschung ohne das andere. Und eben so, wo rücksichtslose Treue, bewährte Sicherheit des Verstandes uns entgegentritt und wir wünschten uns anzuschließen an ein solches Wesen, aber es fehlt darin Gnade, Anmuth, Güte, Herablassung zu den Schwachen, liebreicher Aufmunterung des Irrenden so stößt uns das herrliche Bild zurück und Alles ist verloren. Das ist das Gebrechen der 1 Vgl. Kol 2,9

1–3 Vgl. Hebr 1,3

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menschlichen Einsichtigkeit, die uns überall entgegentritt. – Aber der Herr ist voller Gnade und Wahrheit, beides in unerschöpflichen Maaße, voll der Gnade, welche die Mühseligen zu sich ruft, sie zu erquicken, die Gnade, welche die Knechtsgestalt eines andern Lebens erträgt, den menschlichen Brüdern nahe zu stehen; die Gnade ist es, die es über sich ergehen lassen konnte, daß er nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte und sein Kreuz zu seinem Tode trug; die Wahrheit ist es, die den Menschen zuruft: aus dem Herzen kommen arge Gedanken, die Wahrheit, die mit ernstem Munde spricht, niemand kennt den Vater ohne den Sohn, und der, welchem er ihn gezeigt hat, die Wahrheit, welche ruft: ihr seid nicht frei, wenn der Sohn euch nicht frei macht. Aber diese Wahrheit und jene Gnade, wie sind sie eins im Erlöser, wie durchdringen sie sich in jedem seiner Worte und wie können wir ein anderes Bild als das seine erkennen, als das, wo diese Züge vereint sind. Das ist die Herrlichkeit, an der wir uns aufrichten können, des eingebornen Sohnes Herrlichkeit, dessen, der unsern schwachen Seelen werden kann und soll der Hirt, der sie leitet; in Herrlichkeit dessen, der das große Geschäft übernehmen konnte, die an die Erde geketteten Menschen zu sich zu nehmen und durch sich eines zu machen mit dem Vater. – Dazu ist er in die Welt gekommen, so erblicken wir ihn mit dem Auge unsers Glaubens, so sehen wir ihn schon bei seiner ersten Ankunft, aber nur das Auge des Glaubens ist es, was schon jetzt ihn vermag zu schauen als den | eingebornen Sohn vom Vater voller Gnade und Wahrheit. – Wie damals Menschen bei allen seinen Thaten zweifelten, ob er ein Prophet sei und Israel erlösen werde, so geschieht es auch noch jetzt, nachdem sein Werk vollendet ist, nachdem er davon getragen hat, nach dem Sieg, so viele Beute erlöster Seelen zum Lohn seiner Krankheit und Schmerzen; so jetzt auch, wenn das Auge des Geistes nicht geöffnet ist, der sieht nicht ob er das göttliche Wort oder eine flüchtige Gestalt menschlicher Weisheit ist, der weiß nicht, ob er ist die Herrlichkeit des Sohns Gottes oder nur eine menschliche Gestalt, nur mehr bestrahlt vom göttlichen Lichte, als andre Söhne der Erde. Ja lasset uns einen Blick werfen auf jenen zweifelhaften Zustand den so viele auch von denen, welche sich Christen nennen, noch theilen, damit wir würdig feiern das Fest seiner Geburt, als die welche seine Herrlichkeit geschaut haben und noch schauen, als die vom Vater voller Gnade und Wahrheit, damit auch wir mit festem Muthe und innigen Glauben sagen mögen, wie jener seiner Jünger: Herr, wohin sollen wir gehen, du hast Worte des ewigen Lebens. Amen.

6 Vgl. Mt 8,20; Lk 9,58 36–37 Joh 6,68

9–10 Vgl. Mt 11,27; Lk 10,22

10–11 Vgl. Joh 8,36

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Predigten 1815

Nachschrift der Predigt vom 12. März 1815 vormittags, SAr 30, Bl. 32r; Matthisson – Faksimile (89 %)

Am 1. Januar 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Neujahrstag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Joh 5,4 Nachschrift; SAr 36, Bl. 12r–13r; Pischon (unvollendet) Keine Keine Keine

Am Neujahrestage 1815. Herr, deine Gnade währet für und für und deine Güte und Treue ewiglich. Amen. 5

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M. a. F. Wozu wir uns heute an dem ersten Morgen eines neuen Jahres aufgefordert fühlen in die Vergangenheit zurückzusehen und in die Zukunft hinaus, das kann das Herrlichste sein, wozu der menschliche Geist vermag sich zu erheben. O, m. Th. wenn in solchen Augenblicken das Bild eines gottgefälligen, kräftigen gläubigen Lebens, wie es im Laufe der Jahre allmählich geworden ist vor die Seele tritt, wenn wir in solchen Stunden sicher die Kraft fühlen, die uns auf der Bahn der Gerechtigkeit in jede Zukunft leiten und führen wird; wenn wir im Zusammenhang die Fügungen Gottes sehen und nun seine werden, wie viel Ursach wir haben Gott zu danken auch für das, was wir nicht verstanden, was uns Schmerz und Leiden gebracht hat, als er kam; wenn wir was allen, auch denen, die nicht besondre Rüstzeuge Gottes sind, als Christen zukommt, wie sich auch prophetisch entwickele die kommende Geschichte des Reichs Gottes auf Erden, und wir mit Zuversicht in das neue Jahr des Lebens eintreten, ja wohl ist das das Herrlichste. Aber es kann freilich in diesem Zurück- und Vorwärtssehen noch mehr sich entdecken die Schwachheit der Menschen. Wenn wir dastehen an diesem immer gleichen Bette des ewigen Stroms und uns vergeblich beweisen die Augenblicke die verschwunden sind, zusammenzufassen, wenn wir in der Zukunft nichts anders sehen, als die schwachen oberflächlichen Bewegungen der sinnlichen Natur, nichts wünschen zu schauen als die Schale, worin Lust und Freude und Schmerz liegt, nur sehen wollen, wie 21 sind] sichd 2–3 Vgl. Ps 100,5 als Kanzelgruß

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Am 1. Januar 1815 vormittags

die eine sich senkte | und die andre in die Höhe steigen wird: dann freilich erblicken wir auch in diesem Vorzuge des Menschen nur das irdische und vergängliche Wesen. Und dieses irdische und vergängliche Wesen, es ist in uns allen, und keiner wird an dem gestrigen und heutigem Tage sich frei davon fühlen, keiner wird sagen, daß sein Sinn nicht auf das Irdische des Menschenlebens gerichtet gewesen wäre. Wenn wir aber auch diesem Tribut der Menschlichkeit zollen müssen, hier darf nichts andres als das Höhere uns beleben und kein anderes Tichten und Trachten, kein anderes Wünschen und Sehnen soll sich hier unser bemächtigen, als daß wir im Reiche des Herrn eine Stelle einnehmen und unser Sehnen nach dem, was unvergänglich ist und ewig bleibt inniger gestillt werde. Das sei auch unsre Betrachtung. Tex t.

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1. Joh. 5 v. 4.

M. a. Fr. Wer etwa unter euch hierher gekommen ist mit einer vorherrschenden Richtung seiner Neigungen, Gedanken und Gefühle auf das bunte Gewicht der sinnlichen Welt, auf die Mannigfaltigkeit der irdischen Angelegenheiten und Wünsche; dem werden diese Worte nicht besonders geeignet scheinen unsre gemeinschaftliche Betrachtung zu leiten. Möge doch jeder, dem das begegnet ist sich fassen und besinnen im Innern seines christlichen Gemüths möge er auffassen wie die Schrift überall dieses Leben uns darstellt als einen Kampf, und wie wir sie weniger als Tischgenossen Gottes erscheinen sollen, sondern als seine Kämpfer und Streiter. Mögen alle Worte, die der Erlöser hierüber gesprochen hat, mögen alle Gesinnungen der Art in Euch, woran es ja nicht gefehlt haben wird in dem abgewichenen Jahre, Euch fühlen lassen, daß es kein schöneres Wort giebt, worauf wir uns stützen können in dieser | Stunde als das Wort: [Der Text endet hier.]

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Am 15. Januar 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

2. Sonntag nach Epiphanias, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 2,13–17 Nachschrift; SAr 36, Bl. 16r–19v; Pischon Keine Keine Keine

Predigt am 2. Sonnt. nach Epiphanias. 1815 Die Gnade etc.

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M a. Fr. Womit wir uns jetzt eben im christlichen Gesang gestärkt haben, das feste Vertrauen auf den unwandelbaren Schutz, den Gott der ewige Vater der Sache des Guten und der Wahrheit angedeihen lässt, das ist das herrschende, das ist das eigenthümliche Gefühl der Christen. Aber wie waltet Gott mit diesem seinem ewigen Schutze? Nicht anders als durch die Handlungen der Menschen, nicht anders als durch die Kraft des Geistes, die er in ihnen pflanzt, nicht anders als durch die Treue mit der sie die ihnen anvertrauten Schätze bewahren. In den ersten Zeiten hatte der Herr geredet zu den Vätern, im neuen Alter der verjüngten Welt hat er geredet durch seinen Sohn und die Kirche, die er gepflanzt hat, wie sie der Inbegriff aller göttlichen Wohlthaten; so ist es nur der treue Dienst der Arbeiter in diesem göttlichen Weinberge, wodurch Gott allein der guten Sache Schutz angedeihen lässt. Wenn wir fragen, wie gehn die Menschen bei diesem Dienst Gottes zu Werke, so finden wir vornehmlich zweierlei wie beim Menschendienst. Einige erfüllen treu und unwandelbar alles was ihnen in ihrem Wirkungskreise vorgeschrieben ist, aber sie hüten sich jemals darüber hinauszugehen und was man ihnen in dieser Art zumuthet, das weisen sie zurück als das was ihres Amtes nicht sei; einige geben sich mit Eifer diesem Dienste hin ohne Grenzen zu setzen und thun frisch was vor ihnen liegt, bisweilen freilich ohne zu fragen, ob nicht andere da sind, denen dieses früher obliegt. Wir können sehen, beide Handlungsweisen sind da, damit das Rechte geschehe, aber jede einzelne scheint aufs Einseitige zu führen und darauf, daß 16 beim] bei 2 1Kor 1,3 als Kanzelgruß

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nicht die Treue allein sie geleitet hat. Wer sich zu enge bewegt scheint nicht gemacht für diese bunte Gestalt des Lebens und es gewinnt das Ansehn, als wollte er sich einem leeren Raum aussparen, um auch andere Zwecke zu erfüllen, die nur sein irdisches Dasein und | Dinge dieses Lebens zum Gegenstand haben. Wer aber sich keine Grenzen will anweisen lassen, wer mit unbestimmter Thätigkeit umherschweift, der scheint sich allen vorzuziehen, dem scheint es weniger darauf anzukommen, daß das Gute geschehe, als daß er es vollbringe und Eitelkeit und Selbstsucht scheinen sein treues Bestreben zu verunreinigen. Das Rechte ist nun, wie ein einfältiger und lebendiger Sinn beides vereinigt und begrenzt, wie die Umstände des Lebens es erfordern. Wohin sollen wir gehen, um auch hier das rechte Maaß zu erlangen? Zu dem, der aber wohl ein Sohn war in des Vaters Hause, doch die Gestalt des Knechtes annahm und wie er gewandelt als Knecht im Hause des Vaters auf Erden, das sei immer unser rechtes Vorbild, woran wir uns stärken wollen. Tex t.

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Joh. 2. v.13 sqq. – verzehret.

So wie uns der Evangelist Johannes erzählt trat der Erlöser auf, als er zum ersten mal seitdem er sein Lehramt begonnen hatte, in die Hauptstadt seines Volkes um das hohe Fest zu begehen eintrat und er sollte vor dem ganzen Volk diese Handlung der Art und Weise bezeichnen, wie er seinen Dienst auf Erden zu führen gedachte. Und wenn auch unsere Thätigkeit im Hause Gottes in diesem neuen Jahr neu beginnen soll, worauf wollten wir lieber sehen als auf das Vorbild des Erlösers, und so lasst uns von ihm, den wir als den Milden und Liebreichen kennen und der auch aufgetreten ist als der Starke und Strenge lasst uns von ihm lernen, wie auch wir unserm Dienst im Hause Gottes einzurichten haben.

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I. Das Erste, was uns in Beziehung auf diese Frage einfällt, es ist dieses: keiner wage sich so weit hervor und glaube, daß sein Beruf darin bestehen könne zu zerstören was da ist, sondern jeder beschränke sich darauf zu reinigen, was da ist im Hause Gottes, denn das ist die strenge Grenze, die der Erlöser sich gesetzt hat. Er wußte es wohl und hat es im Laufe seines irdischen Lebens oft gesagt, die Arbeiter Gottes, die er sammeln werde, könnten nicht eingefasst sein in die Mauern des alten Tempels, ihnen konnten nicht genügen die alten Satzungen durch welche das jüdische Volk zusammengehalten wurde; aber weder zerstö|ren wollte er den Tempel und [noch] ging er gleichgültig vorüber. Er brachte dort seine Opfer, er [Zu Z. 27 von Schleiermachers Hand:] Thema: rechte Verfahrungsweise im Dienste Gottes. I. Das Bestehende reinigen nicht zerstören 21 unsere] unser

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verrichtete dort seine Gebete, das Haus Gottes als solches war ihm heilig darum mußte er es reinigen von dem, wodurch das Gepräge des Heiligen verunreinigt war. – Er wußte, daß [die] die er zusammenbringen werde zum höheren Leben nicht genug haben könnten an dem für das kindische Alter der Menschen verehrten Satzungen des alten Testaments, aber doch sagte er: ich bin nicht gekommen das Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen, und wie er geboren wurde als die Zeit erfüllet war und unter das Gesetz gethan, so erfüllte er es auch, aber reinigen mußte er es, denn daß auf das Kleine, Niedre, Geringe, Unbedeutende ein großer Werth gelegt wurde, davon mußte er das Gesetz reinigen, darum trat er auf mit der ganzen Kraft seiner Lehre. – So auch wir. Wie sehr uns das Gute am Herzen liege und wir die Mängel der jetzigen Zeit fühlen: o daß keiner glauben möchte, er müsse zerstören. Was wir für das Menschengeschlecht, für das Volk Gottes für würdig halten, das lasst uns erbauen, das den Menschen vorstellen, daß ihr Herz davon ergriffen werde und immer mehr Hände sich vereinigen zum herrlichen Bau Gottes, aber zerstöre keiner. Wir denken wohl, Menschen, die von wilden Leidenschaften getrieben, durch mancherlei Schickungen Gottes begünstigt, ihr ganzes Leben wie einen zerstörenden Sturm dahinbrausen, wir glauben wohl, daß sie von Gott gesandt sind zum Zerstören; aber so lange wir sie nicht ganz verachten oder verabscheuen, so meinen wir, es schwebe ihnen ein Irrthum vor, daß sie nehmlich der Meinung sind, sie wollen mit und in dem Zerstören erbauen; denken wir aber, daß sie bloß zum Zerstören berufen und bestimmt fühlen: dann ist billig mit ihnen jede Gemeinschaft aufgehoben und wir stellen uns ihre zerstörende Wuth vor Augen, tief fühlend daß das nicht das Rechte sei. Ists auch möglich, daß ein Mensch, in dem auch Spuren von Güte und Liebe zu Menschen vorhanden sind, daß der sich bestimmt fühlen könne zum Zerstören? Das zu zerstören, woran Jahrhunderte lang, nicht ohne den Beistand des göttlichen Geistes gearbeitet worden ist, und die Armen, die keine andre Haltung haben | als dieses, auch dessen zu berauben und sie ganz auf sich selbst hinzuweisen ja muß dem sich nicht der Geist der Liebe, wenn er sich noch regt, entgegenstellen? Auch der Erlöser thut es nicht. Obgleich er wußte, daß die Zeit kommen werde, wo an dem herrlichen Gebäude, das er noch einmal weihte, nicht ein Stein auf dem andern bleiben werde; so überließ er die Zerstörung doch andern, seine heilige zum Wohlthun ausgestreckte Hand sollte nicht daran rühren. So lasst uns auch überall handeln. Wo die Menschen das Göttliche darstellen sollen, das, womit das Bessere sich nicht vereinigen kann, es wird von selbst zerstört werden. Flammen und Stürme sind die Diener Gottes und was eben so die Gemüther des Menschen ergreift, dessen bedient sich der Herr selbst, wenn ein Reich fallen soll; aber jeder hüte sich mit besonnenem Muthe zerstören zu wollen, was noch steht, und eben 6 Vgl. Mt 5,17

32–34 Vgl. Mt 24,2; Mk 13,2; Lk 19,44; 21,6

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so, wie der Erlöser sich bestimmte nicht aufzulösen, sondern zu erfüllen; nur durch Treue an das alte Gesetz kann Treue an das neue hervorgehn, die zerstörende Kraft sollen wir verschmähen, als die, welche nicht geeignet sein kann das Recht herzustellen.

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II. Zweitens lernen wir in Beziehung auf jene Frage: keiner beschränke seine Kraft so dürftig, daß er sich das Recht nehme zu züchtigen, was er als Unrecht gegen den Geist Gottes anerkennt. Man kann diese Vorschrift so hingestellt bedenklich, ja selbst gefährlich finden. Wie viel Kränkung, Zerstörung, Unrecht entsteht nicht daraus, daß ein Mensch sich berufen fühlt zu richten, eindringen will in die Geheimnisse einer andern Seele, aber dieses ist es auch, was wir nicht erreichen können und nicht beurtheilen sollen. Was aber in das Öffentliche hingestellt ist, was zu Tage liegt, als der Ehrfurcht vor Gott und seinem heiligen Gesetze grade entgegengesetzt: keiner soll sich das Recht nehmen lassen das zu züchtigen, wo er es sieht, und keiner schütze sich damit, dazu bin ich nicht berufen, dazu sind andre bestimmt; jeder hat in der menschlichen Ordnung einen Aufseher, der gesezt ist zu ändern, zu strafen, zu verwerfen warum soll ich einen andern richten? Denn daraus giebt er zu erkennen, daß | kein Eifer für das Gute in ihm glüht, giebt zu erkennen, daß es ein halbes getheiltes Herz ist, wodurch er der Sache des Guten anhängt. Braucht es hier eines Willens, den man überlegen und reinigen müsste? Es ist die eine Sache der Natur, daß der einen Ton der Klage von sich giebt, den der Schmerz verzehrt und sollte nicht jeder tiefen Schmerz fühlen, wo der Tempel Gottes verunreinigt wird und wie werden wir es mehren können, daß er da ausbreche, wenn jemand dem, was Menschen nach Gottes Willen schaffen sollen auf eine formelhafte Weise entgegentritt? O der Erlöser hätte sich auch so vertheidigen können und viele Feindschaft sich ersparen viele Hindernisse auf seinem spätern Wege vermeiden können, aber er achtete es nicht und folgte dem höhern Rufe der Natur. Es waren auch andre da, welche darüber gesetzt waren, aber sie erfüllten ihre Schuldigkeit nicht, aber in ihnen war auch nicht das Gefühl des Sohnes. Der Sohn fühlte das Unrecht, das dem Hause des Vaters geschah, und er warf hinaus wodurch sie Gewinn suchen wollten und vertrieb das Unheilige, das in diesem heiligen Ringmauern getrieben wurde. Ja wir kommen in den Verdacht, daß uns unsre Ruhe, unser äußrer Friede mit den Menschen und so manche Entschuldigung, die bei uns den schwachen Menschen hinzukommt, lieber sei als die Treue in dem Beruf, dem wir angehören. Aber fühlen wir nicht, daß wir das Alles dran wenden sollen, wenn wir meinen den Schrei der Kränkung gewaltsam zurückzuhalten, damit nicht eine üble Folge für uns vielleicht in der Zukunft entstände. Ja

[Zu Z. 5 von Schleiermachers Hand:] II. Züchtigen darf man, was gegen den Geist ist.

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auch, wenn das Gefühl uns überwältigen wollte, daß wir selbst, so schwach sind und unsere Strenge nun andre reizen würde auch auf unsre Fehler zu sehen und sie aufzudecken, wollen wir dem Erlöser nachfolgen, so weit wir können, denn wir dürfen nicht anders und sollen uns nicht an Menschen kehren daß unsre Fehler verschwiegen bleiben. Das konnte Christus, der Sündenreine, freilich nicht lehren, aber fragen wir doch den Geist Gottes; soll uns das abhalten uns jedem Dienst im Hause Got|tes zu weihen? Wenn wir auch fühlen, wir verdienten es nicht so behandelt zu werden als Menschen es thun, wir sind von denen, die durch ein friedliches Wort von jedem Irrweg zurückgeführt worden, wir bedürfen der Geißel nicht und sie werde doch über uns geschwungen: haben wir das mehr zu scheuen, als jede Gefahr, die der Erlöser nicht gescheut hat. Hier also werde keiner schwach, gebe kein Gehör der Bedenklichkeit, welche diesen seinen Beruf zu eng beschränken wollte. Zu rufen, wo Gefahr ist, ist heilige Pflicht, wenn die Menschen es übersehen es anzuzeigen ist heilige Pflicht, diese Treue ist jeder der gemeinen Sache schuldig und Christus ist uns mit glänzendem Beispiele vorangegangen. III. Drittens endlich ist aus dem Beispiele des Erlösers zu lernen: daß jedem vergönnt und erlaubt sein muß, da zuzutreten, wo andre ihre Pflicht verabsäumen. Das war auch in dem Falle, den unser Text erzählt. Es waren auch andre, die darauf zu sehen hatten, daß die, welche einzelne weltliche Geschäfte trieben nicht die heilige Stille dieses Umkreises entweihten der nur dem gemeinsamen Gebet und der Belehrung gewidmet war. Aber da diese es nicht thaten trat der Herr hinzu und da sie ihn fragten, aus welcher Macht er das thue, gab er ihnen nur eine ausweichende Antwort, welche sagte, daß sie kein Recht hätten danach zu fragen und daß sie die Macht nicht kannten, wodurch er gegen sie auftreten musste. – O, wie wollte das gemeinsame Leben bestehen, wenn wir diesen Grundsatz verbannen wollten! O, entschuldigen kann sich jeder nach dem äußern Buchstaben des Gesetzes, aber wenn ihm die Frage vorgelegt wird, hast du, indem du dies unterließest, bewiesen, daß du Gott liebst, daß dir der Geist des Gesetzes mehr werth ist als der Buchstabe? Dann wird er engherzig verstummen müssen und wer wollte sich das zur Richtschnur seines Lebens machen, wer nicht fühlen, daß auch jene Pflicht zu unserm Leben gehört! Wenn wir uns fragen: mit einem reinen Sinn der Entsagung | und Aufopferung, mit dem Sinne, der das Rechte thut und die Menschen nicht fürchtet, hättest du da nicht das Böse hindern, jene freche Stirn beschienen, jene unheilige Hand

[Zu Z. 18 von Schleiermachers Hand:] III. Zutreten wo andere ihre Pflicht versäumen. 23–27 Vgl. Mt 21,23–27; Mk 11,27–33; Lk 20,1–8

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zurückhalten können? Werden wir nicht verstummen müssen ohne die Erfüllung dieser Pflicht? – Und die Zeit des Christenthums ist die Zeit, in welcher uns nicht mehr der Buchstabe beschäftigen soll, sondern der Geist, das ist die Wahrheit, welche die Jünger des Herrn laut verkündigen sollten und verkündigt haben. Nicht als ob der Geist bestehen könnte ohne den Buchstaben, aber so bald wir diesen festhalten wollen ohne den Geist, ihn brauchen zu einem Schilde gegen die Zumuthungen des Geistes, der uns lästig wird; so geben wir diese köstliche Freiheit der Kinder Gottes auf, gegen welche kein Gesetz ist, weil sie das Gesetz sind, die köstliche Freiheit, welche Gott mehr gehorchen als vor den Einsprüchen der Menschen sich schützen sollte. Jeder wirke so viel er kann, weil es Tag ist, jeder strebe das Recht in seinem Innern rein zu erhalten und unbefleckt vor der Welt; dann aber folge er nach ihm allein und richte jedes gute Werk aus, wonach keine andre Hand sich ausstrecken sollte. Werkzeuge, Glieder Gottes sind wir sollen wir nicht in seiner Kraft wirken wo wir hinreichen können im Hause Gottes, andre zu vertreten und zu bauen. Nur menschliche Eitelkeit darf nicht ins Spiel kommen, fühlen müssen wir, daß wir pflichtmäßig es thun können, eine falsche Einbildung von uns selbst muß uns nicht treiben, eine andre ausgestreckte Hand zurückzudrängen, weil wir es besser zu verstehen meinen. Nur als zum Dienste Gottes berufen sollen wir auftreten und gedenken, daß wir auch dem Allmächtigen werden Rechenschaft ablegen müssen, aber nicht auf menschliche Weise von dem gerichtet werden, der den Geist gegeben hat, der uns über jede menschliche Furcht hätte erheben sollen. – Mit diesem Muth, mit dieser Kraft, mit dieser Hingebung für die Sache, der wir dienen, die wir als | würdiges Ziel aller menschlichen Bestrebungen erkennen und ohne zu achten, was dabei uns bevorstehen könne, lasset uns aufs neue, des Namens der Christen würdig, in das thätige Leben hineinschreiten. Viel ist für jeden zu thun, wie klein auch der äußere Kreis seines Wirkens scheinen möge, darum lasset uns, wie der Erlöser, nichts versäumen lasset uns, wie die Kinder im Hause des ewigen Vaters uns ganz dem Dienste desselben weichen. O, daß jeder seine Pflicht ganz ausfülle und keiner nachhelfen dürfe; aber müssen wir es, so lasst es uns ansehn als Werk der Pflicht. O, daß alle voll wären der gleichen Ehrfurcht vor Gott, der Liebe für die Brüder, dann werden wir nicht nöthig haben zu züchtigen; aber müssen wir es; so lasset uns die Welt nicht scheuen, denn wer das thut lässt sich beflecken; sondern lasset uns entgegenwirken allem Bösen, daß desselben überall weniger werde! Und als der Erlöser zum letztenmal in die Hauptstadt seines Volkes einzog fand er es wieder so; es waren wieder die Käufer und Verkäufer im Tempel, er aber flocht auch wieder die nehmliche Geißel und trieb sie wieder hinaus und ließ sich nicht abschrecken wieder eben so zu handeln[.] 8 Vgl. Röm 8,21

38–41 Vgl. Mt 21,10–13; Mk 11,15–17; Lk 19,45–46

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Auch das lasset uns nachahmen. Das ist die größte Kunst der Bösen, daß sie suchen die Menschen zu ermüden, daß sie meinen einmal doch werden sie aufhören zu handeln in dem, was ihnen nicht angehört und keinen Nutzen schafft; aber lasset es uns immer wieder zeigen, daß wir suchen, was höher ist, daß unser Vaterland im Himmel ist und eben so unermüdlich sein den Dienst Gottes zu fördern, wie sie es sind die irdischen Sitze zu gründen an heiliger Stätte; und nicht darauf sehen, wer der letzte sein werde an diesem Platz, sondern dem vertrauen, der seine Sache schützt, aber nur dadurch, daß seine Diener das ihre redlich thun. Amen.

Am 29. Januar 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Sexagesimae, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 9,1–5 Nachschrift; SAr 36, Bl. 20r–25v; Pischon Keine Keine Keine

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Wie wir suchen sollen unsre Ansicht von den Leiden der Menschen zu berichtigen. Über Joh. 9. v. 1–5 am Sonntage Sexagesimä den 29. Januar 1815. |

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Am Sonntage Sexagesimä den 29. Januar 1815. Eingang

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Die Gnade etc. Unsre gemeinschaftliche Betrachtung bei der Feier der Geburt des Erlösers gründeten wir auf das Zeugniß des Jüngers, den der Herr lieb hatte, von ihm. Wie wir in ihm erblickt hatten die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit, so suchten auch wir uns diese Worte anzueignen und dieselbe Verherrlichung des Erlösers in unserm Herzen aufzuregen, und es war meine Absicht in unserem gemeinsamen Betrachtungen den Darstellungen dieses Jüngers von seinem Leben und seinem Leiden zu folgen und hier und da eben dasselbe Ebenbild des göttlichen Sohnes und die unerschöpfliche Quelle voller Gnade und Wahrheit in ihm vorzustellen. Aber wir sind mit dem, was dem Leiden des Erlösers vorangeht nur noch auf diese Betrachtung beschränkt denn nachher kommt die Zeit, in welcher wir uns vorzugsweise mit dem Leiden des Erlösers und der Knechtsgestalt, in welcher er Krankheit und Schmerzen trug, beschäftigen. Wie wir daher neulich uns nach der Erzählung des Johannes vor Augen gestellt haben eine Begebenheit aus dem öffentlichen Leben des Erlösers, so lasset uns dieser eine zur Seite stellen, wo es der Einzelne mit dem Einzelnen zu thun hatte, wiewohl er mit seines großen Berufes uneingedenk 6 1Kor 1,3 als Kanzelgruß 7–16 Vgl. 26. Dezember 1814 vorm. Joh 1,14 18–19 Vgl. Phil 2,7 20–21 Vgl. 15. Januar 1815 vorm.

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war, sowohl in seinem Zusammensein mit seinen Jüngern, als mit denen, welche ihm | der Zufall, wie wir es zu nennen pflegen, entgegenführte. Betrachten wir sein Leben von dieser Seite, so nimmt einen großen Theil ein die Erzählung der Evangelisten, wie er einzelnen Menschen geholfen und ihr Leiden mitgefühlt und gelindert habe und wie sollten wir nicht auch darin die Herrlichkeit des Sohnes voller Gnade und Wahrheit erblicken und wie sollte uns nicht seine Behandlung dieser Unglücklichen, in den Reichthum seiner Weisheit hineinschauen lassen! Denn sind nicht eben die mancherlei Leiden dieses Lebens der Theil von Widerwärtigkeit, der allen zugemessen ist, was die Menschen verwirrt und sie irre macht in dem Glauben an die göttliche Weisheit und Güte? So daß wir freilich überall wo ein guter Geist da ist und lebt auch Gutes wahrnehmen, aber bei den meisten Menschen nur eine unzureichende Ansicht, die das Bild der menschlichen Unvollkommenheit uns vorhält. In ihm aber, der das Bild ist jeder Vollkommenheit, finden wir was wir nachahmen sollen, indem wir nicht anders können, als das Göttliche seiner Ansicht und seiner Handlungsweise anerkennen und verehren. Tex t.

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Ich habe nur den Anfang dieser Erzählung vorgelesen in der Voraussetzung, daß der weitere Verlauf derselben den Freunden der heiligen Schrift werde bekannt sein, es ist aber in diesen Worten schon enthalten, worauf es bei unsrer Betrachtung ankommt. Es ist die Ansicht, welche der Erlöser aufstellt von den Leiden der Menschen in diesem Leben. Freilich es zeigt sich nicht in dieser Geschichte und in dem was der Erlöser darin gethan hat, das Ganze seiner Gedanken in vollem Umfang und noch weniger würden wir in solcher beschränkten Betrachtung den ganzen Gegenstand umfassen können, aber wir werden genug haben und einen reichen | Segen der Belehrung, wenn wir, und das sei unser Zweck aus den Worten des Erlösers unsre Ansicht von dem Leiden der Menschen zu berichtigen suchen. Es ist zweierlei worauf die Worte des Erlösers uns hinweisen, I. warnt er uns davor den Werth eines Menschen nicht nach dem zu beurtheilen, was ihm drückendes widerfährt indem er sagt: weder dieser hat gesündigt noch seine Ältern, dann aber II. giebt er uns Anleitung, wohin sich nun unsre Belehrung und die Thätigkeit, wozu wir uns aufgefordert fühlen, wenden soll, indem er hinzufügt: sondern daß die Werke Gottes offenbar werden sollen. Bei dieser zweifachen Betrachtung lasset uns stehen bleiben und möge sie uns allen gesegnet sein. I. Wenn ich sage, der Erlöser warne uns in den Worten unsers Textes nicht den Menschen nach dem, was ihm begegnet zu beurtheilen, so nehmlich, wie es in der Frage der Jünger lag, daß sie sein Unglück ansehen als

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zusammenhängend mit seiner Sünde, so konnte es scheinen, als ob wir aus diesem einzelnen Falle zu viel schlössen. Das Gebrechen vor den Augen des Erlösers und seiner Jünger war freilich von der Art, daß wir es nicht als Folge der Sünde, weder der eigenen noch der der Väter ansehen können, eine Unvollkommenheit, die nur darin ihren Grund hatte, daß die Natur nicht immer das ganze Gepräge der Vollkommenheit ausdrückt in jedem der das Licht der Welt erblickt, aber wie gering ist das gegen andre Leiden und wie oft ist nicht das, was die Menschen drückt Folge ihrer Handlungen eigner oder fremder, und sollten wir so nicht auf den Grund zurückgehen und nicht ganz aufgeben die Übel als Folge der Sünde anzusehen. Gewiß auch stimmt es nicht mit den Handlungen des Erlösers und der Ansicht, welche sich die ganze heilige Schrift hindurchzieht. Immer erscheint uns darin das Übel als Folge der Sünde von der Sünde des Altvaters der Menschen an | und wenn wir uns denken das Werk der Erlösung vollbracht, die Menschen ganz zu Gott zurückgekehrt, ohne Trübung dieses Verhältnißes, wenn wir uns denken durch ihren Fleiß und ihre Treue diesen Tempel des göttlichen Geistes aufs schönste ausgeschmückt; so denken wir, daß nicht jedes Leiden entflohen ist, daß es keine Thränen mehr giebt und keinen Schmerz und keine Seufzer. Und der Erlöser bestärkt uns das und redet nicht wenig von der Herrlichkeit der Seinen. Herrlichkeit und Leiden sind aber nicht verträglich und zerstören einander. Ja bei einer andern Gelegenheit weiset der Herr die Frage nicht ganz zurück, sondern sagt: meinet ihr, daß jene allein gesündigt haben, daß ihnen das widerfährt, sondern, wenn ihr euch nicht bessert, werdet ihr also umkommen. Und wenn er redet von dem traurigen Ereignisse der Zerstörung, die seinem Volk bevorstand; wenn er mit bewegtem Herzen daran gedenkt, so stellt er es immer dar als die Folge, daß sie nicht eingesehen, was zu ihrem Frieden dient, und als die Rache des Bluts, das sie unschuldig vergossen haben von der Propheten Zeit und seines und seiner Jünger, das auch werde vergossen werden. Wahr ist dieses und auch das, weder dieser noch seine Eltern haben gesündigt. Es verhält sich aber so, wenn wir im Allgemeinen auf die Übel sehen, die das menschliche Geschlecht treffen und drücken, so können wir nicht läugnen, das Meiste ist die Folge der Sünde und wir können die Hoffnung nicht unterdrücken, daß in dem Maße in welcher die Sünde ausgerottet wird auch die Übel des Lebens verschwinden werden. Ja es giebt viele Fälle, wo wir ohne Widerspruch in unserm Gemüth, was den Einzelnen betrifft ansehen können als Folgen seiner Sünde. Aber theils können wir das nicht immer, und wie sollten wir an menschliche Leiden gedenken ohne an ihn, der da litt für alle, aber indem er litt, trug [er] die Sün|den der Welt, wie an 7 aber] abe 22–24 Vgl. Lk 13,2–5

27–28 Vgl. Dtn 32,43; Ps 79,10

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menschliche Leiden zu gedenken ohne zu gedenken an das Blut seiner Jünger, an das Blut der Märtirer, welches für das Heil in Strömen floß, ohne zu gedenken an das Leiden, welches die Kinder der Welt über die Kinder des Lichts verhängen, die auch darin dem Erlöser ähnlich werden, daß auch sie die Sünden der Welt tragen und ihr Leiden sich anschließt an das des Erlösers: theils aber können wir nicht behaupten, daß das Maaß seiner Leiden auch das Maaß seiner Sünden sei und wir nicht das eine nach dem andern beurtheilen können. Wenn gleich im Ganzen der Gesellschaft dies gleich sein mag, im Einzelnen ist das eine anders vertheilt als das andere, das können wir nicht leugnen, wie leicht geht dem Einen eine Verschuldung durch, wofür der andre büßen muß sein Lebelang. Müssen wir uns nicht anklagen, wenn wir diesen Unterschied übersehen wollten! Wie oft werden wir nicht mit Härte die Fehltritte unsrer Brüder beurtheilen, wenn wir es thäten nach ihrem Leiden, welch sträfliche Ansicht würde sich anschleichen, wenn wir unser Verdienst messen wollten nach unserm erfreulichen Loose, und dann die Sünden als vergeben ansehen, wenn ihre Folgen vorübergegangen sind, wenn wir uns nicht auch das Zittern anreichen wollten, das uns ergriff da sie uns nahe waren und wir nicht wußten, ob wir sie abwenden könnten, welche unangemessene Beurtheilung wenn wir auf den Zusammenhang der Thaten der Menschen hinweisen, in deren Leben nichts zu finden ist was sich ansehen ließe als Folge ihrer Sünden. Nein, im Einzelnen dürfen wir diese allgemein richtige Ansicht nicht anwenden. Es ist uns dieses Leben nicht anders angeordnet, als daß es uns ein gemeinsames sei. Gemeinsam sündigen wir, gemeinsam werden wir erleuchtet und zum Vater zurückgeführt und gemeinsam ist die Buße und Strafe dafür, daß wir gesündigt haben. Tragen wir sie nicht | selbst, so haben sie andere zu tragen, denn daß die Sünde das Übel hervorbringt, davon ist keine Ausnahme und so mögen auch wir uns zuweilen trösten, daß wir tragen die Sünde der Welt und lasset sie mit brüderlich versöhnten Herzen uns tragen die Schuld unsers Nächsten, und wenn andre leiden, dürfen wir nicht schließen, daß sie gesündigt, wie jenes Übel nicht war die Folge seiner Sünden. – Aber wenn ein Leiden vor uns tritt wie menschliches Übel in unsern Wirkungskreis, das uns auffordert ihm entgegen zu arbeiten, und das war der Fall des Erlösers: „ich muß wirken so lange es Tag ist, es kommt die Nacht, wo niemand wirken kann”: dann vorzüglich lasst uns seinem Beispiel folgen und ja nicht durch die Beurtheilung, was wohl jeder möge gesündigt haben uns abhalten lassen jedes Übel als unser eignes anzusehen und es zu vertilgen, wenn unsre Kräfte es gestalten. Und da ist die Ansicht an ihre Stille welche der Erlöser II. aufstellt: sondern daß die Werke Gottes offenbar werden. Welches waren die Werke Gottes, die offenbar wurden an diesem Unglücklichen? Zuerst wie wir uns dem Verfolg der Erzählung sehen, öffnete der Erlöser

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die Augen, die noch nie waren geöffnet gewesen, aber daran hatte er nicht gezweifelt. Als er, wir wissen nicht ob absichtlich oder nicht, den Geheilten aus seinen Augen verloren hatte; und die Wohlthat der Heilung ihm durch den verblendeten Eifer, durch das thörigte Wesen der Führer des Volks zur Schande zu gereichen begann, indem sie den, der sich nicht enthalten konnte den für einen göttlichen Gesandten anzusehen, der seine Augen aufgethan hatte, aus ihrer Versammlung hinauswiesen: da nahte sich ihm der Erlöser und ließ ihn das Höchste schauen, nicht nur das irdische Licht, sondern auch das himmlische des Sohnes Gottes, und öffnete ihm durch den Glauben nicht nur sein Auge für das Irdische sondern auch für das Geistige. | Beides scheint unsre Kraft zu übersteigen. Aber wir, die wir in die Gemeinschaft des Erlösers aufgenommen sind, in denen sein Wort fortgesetzt ist, die er seinen Leib nennt, müssen keinen größern Abstand annehmen zwischen uns und ihm als den er selbst gesetzt hat. Lasset uns nicht beim Einzelnen stehen bleiben, nicht auf ein Gebrechen der Natur sehen, dessen Beseitigung die Kräfte aller menschlichen Kunst übersteigt, oder nur denen möglich wäre die in die Tiefen dieser Kunst einzudringen vermochten. Es giebt vielmehr eine zweifache Ansicht oder Art der Übel des Lebens. Einige kann man von der Seite ansehen, daß zunächst nur das Wohlbefinden, der Genuß durch sie gehindert wird, und einige sind überwiegend so, daß der Mensch durch sie in einen hülflosen Zustand versetzt wird, daß seine Thätigkeit zu Gott durch das, was er leidet, gelähmt wird. Offenbar ist das Leiden, womit es der Erlöser zu thun hat das Sinnbild des Letztern. Offenbar müssen für uns als Christen, deren Vaterland im Himmel ist, alle Übel nur in so fern eine Bedeutung haben, als das Lezte der Fall ist und der Mensch durch seinen hülflosen Zustand im Gebrauch seiner Kräfte gelähmt und gehindert ist am Heiligen den Antheil zu nehmen, den er sonst zu nehmen geneigt wäre. Da ist er ja eine Aufforderung von oben, diese Übel sind da, damit dadurch die Werke Gottes offenbar werden, damit sie getilgt werden, so weit es in jedem Augenblick möglich ist. Was der Erlöser auf Erden allein war, das soll die Vereinigung derer sein, die an seinen Namen glauben. Wie er allein stand gegen die Sünde der Welt, allein lebte und litt um die Sünde mit ihrem Übel aufzuheben, so stehen wir alle vereint nach seinem Geiste, leidend und wirkend, gegen die Sünder und das Übel der Welt, jene zu Gott zu wenden und diese auszurotten und zu vertilgen, wenigstens zu lindern so weit es unsre Kraft vermag. Dazu uns zu vermahnen ist kein Grund vorhanden. Dieser Theil christlicher | Gottesfurcht und Bruderliebe hat sich uns aufs herrlichste ausgebildet in der Zeit gemeinsamer Leiden und Anstrengungen; aber zu recht tiefem Gefühl, was diese Neigung ist, aus welchen Quellen sie hervorgeht, dazu sollen wir uns durch gemeinsame Belehrung bringen und es ist nichts was uns anficht gegen die Brüder mitleidig zu sein, nichts, was dazu auffor-

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dert zu halten, daß der Mensch zu den Gütern gelange, die ihm gebühren und in alle Rechte gesezt werde, die durch das Unglück verloren gegangen sind, es ist nichts anders, als daß wir die Übel ansehen, daß die Werke Gottes sollen offenbar werden, daß die hülfreiche Kraft wovon der Erlöser das Vorbild und das Ebenbild Gottes gewesen ist sich offenbare, wie gemeinsame Kraft, die jedes Leiden vertilgt und verlöscht und Übereinstimmung herführt in alle einzelnen Theile. Denn das sind die Werke Gottes, wenn nichts vereinzelt, sondern Alles als zum Ganzen gehörig angesehen und zu Gott zurückgeführt wird; das sind die Werke Gottes, die der Erlöser thut und die sich eben offenbaren sollen in hülfreichem Kampf und im Aufheben des Übels. Aber auch das zweite Große; es ist uns nicht fern. Auch wir sollen geistige Wohlthaten anknüpfen an die leiblichen und was wir wirken und hervorbringen in dem Gemüth anderer, soll auch Erweckung, Befestigung, Belebung sein, daß der, von dem Alles Gute kommt, der Mittelpunkt in unserm geistigen Leben sei. Auch wir sind dazu berufen und dürfen uns so wenig ausschließen als der Erlöser. Eben in diesem hülfreichen Beistande die Menschen in einen würdigen Zustand darzustellen in dieser hülfreichen Liebe offenbart sich dem Menschen das Göttliche. So ging es auch dem Unglücklichen in unserm Text. Ob er wohl früher gehört hatte von dem Jesus von Nazareth hatte er ihn doch noch nicht erkannt, aber als er gefragt wurde, wer der sei der ihn geheilt habe, als sich ein Streit erhob über eben diesen Jesus, was er sei und wolle | als die Obersten des Volks, die Vorsteher der Heiligthümer ihn lästerten, wenigstens an seinem hohen Werthe zweifelten, nahm er nicht Anstand zu sagen, wie das eine Kraft sein müsse von Gott ausgehend, die das gethan habe. Es war nicht Regung der Dankbarkeit, er fordert den Glauben nicht für sich, sondern von allen, es war die That, welche so zu ihm redete und diese Überzeugung hervorbrachte. Und wenn er selbst auch im einen weniger die Erweckung des Guten günstigen Gemüths zustande gewesen wäre, wenn auch er, wie wir es von so vielen andern die der Erlöser geheilt glauben müssen, den Göttelichen nicht erkannt hätte, wenn des Herrn That auch nicht anders gewirkt hätte als daß der leiblich Blinde leiblich sehend geworden wäre und das Auge des Geistes blind geblieben: die That hätte ja zu allen geredet. Und so müssen wir hoffen: wenn das Gute was wir thun, auch die nicht bessert, denen es geschieht, es muß der Glaube die Schwachen erheben, das Gefühl eines hohen Lebens, das den Menschen aus unserm Handeln entgegenkommt, muß sie dazu bewegen, daß sie sich anschließen an den Mittelpunkt alles Guten, an die Kirche unsers Herrn und Heilandes. So wird sich auch um uns und durch unser Thun der Kreis darstellen, den das Handeln des Erlösers umfasst, eben das Fortschreiten vom Leiblichen zum Geistigen, das Erwecken der Liebe und Verehrung, die an den Namen des Meisters sich anschließt,

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das Gefühl von dem Werth, den sein Dasein und sein Leben für uns das ganze menschliche Geschlecht ausübt. Aber freilich zwischen der leiblichen Wohlthat und der geistigen liegt eine traurige Erfahrung in der Mitte. Es erscholl das Gerücht, daß der Blindgeborne sehend geworden sei und sie erforschten, daß es am Sabbat geschehen sei und da wollten sie gerechter sein als der Erlöser und wollten die Beweiskraft jener Handlung für Jesum, | daß er der Sohn Gottes sei, dadurch auslöschen aus den Gemüthern der Menschen, daß sie sagten, der selbige könne ja kein Gottesgesendeter sein der den Ruhetag Gottes entweiht. – Das werden wir mehr noch zu erwarten haben, da kein Werk der Menschen so rein ist als das des Erlösers. Es wird nicht fehlend, wenn wir noch so uneigennützig sind, daß nicht ein Tadel daß nicht eine Aufstellung an unsern Handlungen gemacht werde, gegründet oder ungegründet; es wird nicht fehlen, daß uns das zum Tadel gereichen wird, was doch aus der Quelle der Kraft des göttlichen Geistes hervorgegangen ist. O lasset uns dabei eben so ruhig bleiben, wie der Erlöser, den das nicht störte und der darum nicht aufgab dem Geretteten zu erkennen zu geben, daß er kein Prophet sondern der Sohn Gottes sei. So lasset auch uns handeln. Wenn auch das Gute verunglimpft wird, wer kann uns schaden, wenn wir dem Guten treu bleiben. Wenn auch Rechtfertigung nicht möglich wäre und wir nicht zeigen könnten, daß nur der Glaube des Sohnes Gottes in uns gewirkt habe; eben das, dieses unschuldige Dulden, wird es sein, was uns ihm lieb und werth macht und den eigentlichen Glanz in seinen Augen giebt, worin sich der Zusammenhang mit dem Reiche Gottes offenbare. – So sei es. So lasst die Übel der Welt uns angreifen als das, worin sich die Werke Gottes offenbaren, so lasst uns, wenn wir kein andres Licht haben, als was aus der Sache Gottes ausströmt und zu ihm zurückkehrt: lasset uns mit Treue und Wahrheit sagen können, daß auch wir das Licht der Welt sind, welches die Augen öffnet, die Werke der Welt zerstört; denn es kommt die Nacht wo niemand wirken kann, daß auch wir dann sagen können, daß wir nicht unthätig gewesen sind die Übel des Lebens zu heben, gewesen sind im Kampf gegen die Sünde und und ihre niederschlagendnen Folgen, daß wir gewirkt haben, den offenbaren zu helfen der uns als der Sohn Gottes, das Ebenbild des Vaters erschienen ist und dessen Treue und Liebe, Herrlichkeit und Wahrheit in unserm ganzen Leben sich verherrlichen soll. Amen.

9 sein] sei

10 entweiht] entweih

4–10 Vgl. Joh 9,8–16

35 unserm] unsrm

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Am 12. Februar 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Invocavit, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 18,1–8.11–12 Nachschrift; SAr 36, Bl. 26r–29v; Pischon Keine Nachschrift; SAr 30, Bl. 1r–1v; Matthisson Keine

Am Sonnt. Invocavit den 12. Febr. 1815 Eingang Die Gnade etc. 5

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M. a. Fr. Eine besondre Zeit ist ausgesezt und beginnt heute, wo die andächtigen Gedanken der Christen vorzugsweise den Leiden unsers Herrn und Heilandes Jesu Christi zugewendet werden sollen. Reich und unermeßlich ist der Schatz des Segens, der davon immer den Gläubigen zugeflossen ist, wir mögen betrachten die Beziehung, welche überhaupt das Leiden des Erlösers auf das Heil der Welt gehabt hat, oder wir mögen mehr bei der Geschichte der Leiden des Herrn stehen bleiben. Indem in diesem Jahre das Letztere unsere Absicht ist fragen wir, wo beginnt das, was wir im engern Sinn das Leiden Jesu Christi nennen. Hat er dann nicht Widerspruch erfahren und Widerstand vom ersten Augenblick seines heilbringenden Lebens unter den Menschen und wie können wir so eine Trennung ziehen zwischen dem was bei ihm Leiden gewesen ist oder nicht: Gewiß wir dürfen nicht allein und nicht einmal vorzüglich an die lezten Stunden seines Lebens denken, die ihm unter körperlichen Leiden und Schmerzen verflossen sind. Es hat zwar oft und nicht ohne Segen das Gefühl der Christen bei diesen Schmerzen verweilt, aber wir dürfen es uns nicht verhehlen, es erfordert die fromme Tapferkeit der Christen, die Aussicht auf das, wohin das Leiden führt und der Hinblick auf den Willen Gottes[,] es erfordert dieß, treffe der Schmerz den Leib oder das Gemüth der Menschen[,] nicht einen so großen und ausschließenden Werth darauf zu legen, und so müssen wir 13–14 Lebens] Leben

18 sind] ist

3 1Kor 1,3 als Kanzelgruß

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den Erlöser betrachten, daß er auch darin den Schmerz zu ertragen und | zu vernichten über uns allen erhaben gewesen sei. Dennoch ist das Gefühl der Christen immer auf einen Punkt in dem Leben des Erlösers gerichtet gewesen. Wo sein thätiges Leben aufhört fängt sein Leiden im engern Sinn an, wo sein Beruf als Lehrer, wo seine Thätigkeit auf das Gemüth zu würken zu Ende geht, da beginnt sein Leiden, wo er nichts von den Menschen zu erwarten hat, als was sie über ihn beschließen, wo er die Ausführung seiner großen Sache seinem himmlischen Vater anheim stellen muß und sie selbst nicht hinausführen kann, da beginnt sein Leiden. So lasset uns mit diesem Punkte beginnen, und wie wir dem Jünger, den der Herr lieb hatte, folgen, so lasset uns auch nach ihm die Erzählung jenes Tages betrachten und möge uns daraus eine erneute Quelle des Segens und des Heils hervorgehen.

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Joh. 18, 1–8. 11 und 12. Dieses, m. a. Fr. war der erste entscheidende Schritt auf dem Weg der Leiden und des Todes, den der Erlöser von da an zu gehen hatte, der dadurch für immer in die Gewalt seiner Feinde, der Menschen kam, aus deren Händen er nicht mehr lebendig entrinnen sollte. Zweierlei knüpft sich an diesem Punkt zusammen: das Ende des lehrenden Lebens Christi und der Anfang den Kelch zu trinken den ihn der Vater gegeben hatte und zwischen beide tritt, was er nicht mehr schützend sondern fürsprechend für die that mit und unter denen er gelebt hatte.

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I. Der Evangelist sagt: da Jesus solches geredet hatte ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron. Das that er soviel wir vermuthen können während seines festlichen Aufenthalts in Jerusalem täglich. Am Tage lehrte er im Tempel und am Abend war er mit seinen Jüngern und andern seiner Freunde versammelt und als dann ging er hinaus der Ruhe zu pflegen um am andern Tage dasselbe Geschäfft zu beginnen. Jetzt aber sollte er es nicht mehr beginnen, es war das letzte | mal, daß er am Abend aus der Hauptstadt hinauszog. Wenn aber der Evangelist sagt: da Jesus solches geredet hatte, woran werden wir erinnert? Vorher hatte er das herrliche Gebet gesprochen, worin er Rechenschaft ablegt von seinem Werke und es Gott übergiebt, wo er das herrliche Zeugniß ablegt seiner Vereinigung mit dem Vater, welches uns das kräftigste Zeugniß seiner göttlichen Würde bleibt. Vorher hatte er zu seinen Jüngern geredet, wohl in dem Gefühl, daß er Vieles zu sagen hätte, was sie noch nicht tragen könnten, dennoch hatte er sie getröstet, geredet von der Wiedervereinigung mit ihm, von dem Geiste, den er ihnen senden werde, der sie erinnern werde an Alles, was er geredet, wie ihre Zerrüttung über sein Weggehen nicht von 31–34 Vgl. Joh 17,1–26

37–39 Vgl. Joh 14,26

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Dauer sein, wie ihr Herz sich bald erheben, und dieser Geist es von dem Seinen nehmen und ihnen Alles erklären und deutlich machen werde, was sie jetzt noch nicht tragen konnten und was der Evangelist mehr in Beziehung auf das herrliche Mahl, das die heiligste Stiftung seines Gedächtnisses ist, gesagt hatte. – So hatte er sich ausgeredet vor dem lezten Gange, hatte erfüllt das Gemüth der Seinigen mit festem Glauben, hatte Trost gewürkt für Alles was ihnen bevorstand und was die Erde für sie Trennendes und Störendes hatte und auf das Land hingeführt, das sie mit Gott vereint. – O wie hätte er nicht bei der gewissen Ahnung, daß nun seine Stunde gekommen sei, bei der Überzeugung, wie viel noch zu thun sei bei seinem schwachen Jüngern, anders thun können, als so sich ausreden und noch so Vieles in ihre Gemüther hineinlegen durch seine Worte. Wenn wir an das denken, was uns allen bevorsteht, daß unsre Stunde auch einst kommt, wie sollte nicht jeder wünschen und darauf achten, daß jeder sich auch möge so ausgeredet haben. Das könnte eine überflüßige und schädliche Zurede sein. Wird nicht schon genug geredet, wird man sagen, und wäre es nicht besser sie zu ermuntern, daß sie sich zusammen|halten in schweigsamer Kraft. – Aber beides ist ja eins. Reden ist ja handeln und handeln ist ja reden: Wenn wir aussprechen in Thaten, welcher Sache wir ergeben sind, reden wir im Handeln zugleich, die Ehrfurcht vor dem Göttlichen, die wir durch unsre Handlungen einpflanzen in die Herzen der Menschen, dieses Reden, denn weiter ist es doch nichts, es wird mehr sein, als die angestrengteste Beredsamkeit. Und reden wir, getrieben von der Kraft des göttlichen Geistes, so handeln wir auch und hat der Erlöser nicht gehandelt als sein Leben nur Lehre war und wie haben die Seinen nicht gehandelt, als sie den Samen seiner Lehre ausstreuten, handeln wir nicht, wenn wir hinweisen auf das Eine was Noth ist, die Menschen darauf hinweisen, daß nur in dem Herrn Seligkeit zu finden ist und uns die Kraft des Evangelii nicht schämen. Darum wiederholen wir es: möchte doch jeder, ehe seine Stunde schlägt ehe der letzte Rest des Lebens angeht, der nichts ist als Leiden und Schmerz sich ausgeredet und ein schönes Bild von dem zurückgelassen haben, was ihn erfüllt, möge jeder den Schatz seiner Erkenntniß zurücklassen als das Theuerste, was er hat, für die, mit welchen und für welche er gelebt hat, wie der Erlöser für seine Jünger. II. Bemerken wir in den Worten unsers Textes wie der Erlöser, da seine freie Thätigkeit gehemmt wurde, fragt: wen sucht ihr? und als er vermuthete oder sah, daß man Anstalt machte auch seine Jünger gefangen zu nehmen spricht: suchet ihr denn mich so lasset diese gehen! – Indem er seine Hände den Banden derer bot, die ihn gefangen nehmen, sich hingab dem, was eine gemißbrauchte aber doch gesetzmäßige Gewalt über ihn verhängte sorgt er für seine Jünger. O ein Sinnbild der versöhnenden Kraft seines Leidens, was er that, um uns alle von der Sünde zu erlösen, aber

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auch bei dem, was er ausschließlich für seine Jünger that, bleiben wir mit Segen stehen. | Es erscheint uns, was er thut, als väterliche Sorgfalt. Wie ziemte es sich und wie muß es uns immer ziemen, daß unsre Sorge und Theilnahme denen zugewendet sein muß, die wir mit den Banden der zartesten Liebe uns angekettet fühlen. Aber das war nicht ein unbedingtes Bestreben den Seinigen dieses Leiden zu ersparen; denn er hatte es ihnen vorher gesagt, daß der Jünger nicht größer sei als sein Meister, sie würden sie ausschließen aus ihrer Gemeinschaft und es werde eine Zeit kommen, wo das verblendete Geschlecht meinen werde, wenn es sie tödte, Gott einen Dienst zu thun; und keines seiner Gebete auch nicht das letzte hat den Zweck sie vor dem Übel zu bewahren, keine Bitte des Sohns an den Vater, daß weil er schon gelitten ähnliches Leiden den Seinen erspart werde. Sondern das war es ausschließend, daß ihre Stunde noch nicht gekommen war, als er die seine gekommen fühlte, daß ein noch größeres Unrecht geschah, wenn seinem Schicksale auch die Seinigen preisgegeben würden, und daß ihnen noch eine reiche gesegnete Zeit der Würksamkeit in seinem Namen übrig gelassen wurde. – Es war nicht nur die zärtliche Liebe für die Seinen, sondern auch die zärtliche Sorge dessen, der für das Heil der Welt starb, für die göttliche Sache, die Sorge das Unrecht zu mildern und den Keim des Guten ungestört in den Seinigen zurückzulassen; aber trennen können wir das Eine von dem andern nicht, verkennen dürfen wir nicht die zarte Sorge des Meisters für seine Jünger. – Was können wir wünschen, als daß es mit uns auch so vereinigt sei! Können wir uns etwas Würdigeres denken, als daß, was zärtliche Sorgfalt ist zugleich das Bestreben sei der Welt Gutes zu erhalten und zu sichern, wenn wir uns sagen dürfen: mit denen für die du zu sorgen berufen bist sorgst du zugleich für das Heil der Welt[,] | sie werden nicht aufhören es zu befördern und sie hinwegnehmen hieße eine Quelle des Heils für die Welt hinwegnehmen. So wird es sein, wenn auch wir die, welche Gott und die Natur uns anempfohlen haben mit keiner andern als seiner Liebe leben, kein andres Bestreben haben als ihn in ihr Herz zu pflanzen, keine andre Sorge als sie zu treuen Dienern in seinem Weinberge zu machen, dann werden wir aus keinem geliebten Kreise der Unsrigen zu scheiden brauchen ohne das Gefühl, daß wir sie als treue Diener des Erlösers zurücklassen, als ein Vermächtniß nicht von uns allein, sondern von dem, dessen Geist auf sie gewürkt und zu ihm und unserm gemeinsamen Vater erhoben hat. III. Endlich drittens sehen wir den Anfang der freiwilligen Hingebung des Erlösers in das Leiden, das er zu erdulden hat. Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir mein Vater gegeben hat? Als er die Schaar ankommen sah, die bestimmt war ihn gefangen zu nehmen ging er ihr selbst entgegen, um 6–7 Vgl. Joh 13,16

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zu sehen ohne Zweifel, ob es ein von allen Rechte entblößtes Werkzeug der Finsterniß war oder eine freilich gemißbrauchte gesetzliche Gewalt und dieser wollte er sich nicht entziehen wissend, daß was auf diesem Wege gekommen sei, von Gott komme und nun sprach er: soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? Aber vorher hatte er noch gesagt: meint ihr nicht, daß ich meinen Vater bitten könnte und er schickte mir mehr als zwölf Legionen Engel! Aber unter das Gesetz war er gethan, als er geborn ward und menschlichen Ordnungen und Gesetzen wollte er sich nicht entziehen. Und fragen wir, was so gegen den Erlöser gewürkt hat, so ist der traurige Mißbrauch einer gesetzlichen Gewalt das Eine, das andre aber der traurige Irrthum seines Jüngers, der ihn verrieth, über den wir nicht rich|ten wollen von dem wir aber gewiß sagen können, daß er sich herausnahm Böses zu thun, damit Gutes hervorgehe, so wie der Hohepriester sprach, es ist besser ein Mensch sterbe für das Volk; um durch dieses Böse, wie er in seinem thörichten Sinne meinte äußerlich das Volk zu retten. Gewiß, wenn wir vorzüglich zu sehen haben auf die Sünde der Welt, die der Erlöser trug, das war die Sünde, die er trug als sie ihn banden, daß die Menschen sich herausnahmen Böses zu thun, damit Gutes entstehe und der eine seine Freiheit, der andre seine gesetzliche Gewalt dazu mißbrauchte. Und wie trug und versöhnte der Erlöser die Sünde der Welt? Dadurch, daß er einer äußerlich geheiligten Gewalt sich unterwarf, sich nicht weigerte den Kelch, den ihm der Vater bereitet hatte zu trinken. Und wie können wir anders als sagen: das sei eine der gesegnetsten Würkungen seiner Lehre, daß durch sie soll vertilgt werden der Gedanke Böses zu thun damit Gutes daraus geschehe. Es giebt nichts, was der Einfalt der Christen so zuwider ist, nichts was dem Willen Gottes so widerspräche als Böses zu thun, daß Gutes geschehe; nichts was mehr eine Überzeugung christlicher Untersuchung und Glaubens sei, als daß es dem Menschen nichts hülfe wenn er die ganze Welt gewönne, ja das Heil der Welt vollführte und hätte vorher an seiner Seele Schaden gelitten. Es giebt nicht Unähnlicheres dieser Reinheit, die aus des Erlösers Leben entgegenstrahlt, als der Mensch, der sein Gewissen befleckt, um etwas Großes in der Sache Gottes zu gewinnen; aber das ist unmöglich, nie kann Gottes Reich gefördert werden durch Mittel, die ihn entgegengesetzt sind, so daß das kleinste Böse mehr wiegt als das Gute, was daraus entsteht. Wir fühlen ja wie viel wir sündigen hingerissen von unbesiegter Gewalt der Leidenschaften und Begierden, sollen wir noch hinzufügen wissentlich zu sündigen und meineidige Diener Gottes zu sein. Das erste ist, daß der Mensch sich rein erhalte vom Bösen. Man darf diesem Gefühle nie Raum geben, niemals besorgen, daß wenn wir vom Bösen fern bleiben, manches Gute unter|lassen bleibe. Nur für unsre Seele haben wir Rechenschaft zu geben nicht für das, was in der Welt geschieht, 6–7 Vgl. Mt 26,53

14 Vgl. Joh 11,50; 18,14

28–30 Vgl. Mt 16,26; Mk 8,36

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und was ist das für ein Glaube an die Allmacht und Weisheit Gottes als ob der Herr nicht hätte Mittel und Wege das auszurichten, was geschehen soll. Das versöhnende Vorbild dieser Reinheit hat uns der Erlöser gegeben, diese Sünde der Welt hat er getragen von Anfang seines Leidens an, aber hinweggenommen durch sein fleckenloses Leiden. Er fühlt die Gewalt, er leistet keinen Widerstand, verhält sich, wie einer der der Gewalt unterthan ist, trank den Kelch, den ihm der Vater gegeben hatte und wollte keine Schuld auf sich laden. O möchte doch jeder so für seine Schuld büßen. In diesem Sinne empfahl der Herr die Seinigen dem göttlichen Schutz, weil er nichts thun wollte, was der Rechtlichkeit und Geradheit nicht geziemte, um ein Übel von ihnen zu wenden. Und nicht besser können wir dazu mitwürken wenn dem Menschen die Versuchung kommt Gutes zu bewürken durch Böses, als eben dadurch, daß wir dem Erlöser ähnlich sind und vereiteln den Mißbrauch, der so oft gemacht wird von denen in deren Hand die Kräfte des Ganzen gegeben sind. So lasst uns auch darin an das Vorbild des Erlösers uns anschließen und jeden Kelch trinken, der darum bereitet ist vom Vater, weil wir ihn nicht anders als durch Gott mißfällige Handlungen von unsern Lippen wenden können unser Gewissen rein erhalten und in jeder Stunde uns unsern Vater darstellen können mit dem innern Zeugniß, daß wir aus seiner Gemeinschaft nicht gewichen sind. Möge denn unsre Thätigkeit auch beschränkt sein, möge das Übergewicht unsers Lebens Leiden sein, wie dem Erlöser nichts blieb als Leiden, halten wir uns an das Göttliche, so wird auch das, was wir leiden, ziemt es sich Kleines mit Großem zu vergleichen, nicht vergeblich gewesen sein für das Heil der Welt. Amen.

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Am 12. März 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Judica, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 19,11 Nachschrift; SAr 30, Bl. 2r–3v; Matthisson Keine Keine Keine

Predigt von Schleiermacher den 12. März 15.

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Bei den Leiden welche aus der Verbindung mit andern für die Menschen entstehen finden wir unter ihnen 2 verschiedene Verhaltungsarten. Die eine betrachtet alles Übel als göttliche Fügung und trägt es mit Ergebung und Geduld; die andere erwägend daß wo unverschuldet gelitten wird, Unrecht geschieht, sieht in der Ursache Sünde und kämpft mit aller Anstrengung dagegen an. Beide sind achtungswerth und vortrefflich; aber nur in sofern sie einander nicht ausschließen sondern vielmehr beisammen in uns gefunden werden. Wenn es auch dem Vortrefflichsten nicht ganz gelingt, wo anders fänden wir auch dafür ein vollendetes Vorbild als in dem Erlöser, den wir jetzt vorzugsweise in seinem Verhalten beim Leiden betrachten, und der die schönste Vereinigung der heiligen frommen Ergebung in den Willen Gottes mit dem tapfersten Streite gegen das Böse in seinem Leben dargestellt hat? Joh. 19, 11. „Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir nicht wäre von oben herab gegeben; darum, der mich dir überantwortet hat, der hat größere Sünde.“ | In diesen Worten des Erlösers finden wir beides

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1. Die Ergebung in den Willen des Vaters „Du hättest keine Gewalt über mich pp.“ Der Erlöser stand hier vor Pilatus in dem Verhältniß des Unterthanen zur Obrigkeit; er hatte vorher redlich gekämpft gegen das Böse, und trügt das Leiden nur deßhalb mit Ergebung weil seine Stunde gekommen war, weil Widerstand gegen die Sünde nun mehr selbst Sünde 18 der hat] der hat es

20 Vaters] Vater

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gewesen sein würde. Unter welchen Umständen dürfen wir ihm nachfolgen? Wenn uns in den rein menschlichen Verhältnissen in welchen wir zu einander stehen, Unrecht geschieht, da selber wir es bekämpfen wir sollen zeigen daß das Recht und das Gesetz stärker ist als der böse und verkehrte verblendete Sinn und Wille des Einzelnen, wenn er gleich in der eifrigen Erfüllung seines Berufes vieles als unbedeutend verachtet und geduldig über sich ergehen lassen wird (gibt dir einer einen Backenstreich: so reich ihm den andern Backen auch dar) um nicht seine Zeit zu zersplittern, seine Kräfte zu vereinzelnen, sich selbst um den Gleichmuth zu bringen, den er zur wackern Arbeit im Reiche Gottes | gebraucht. Aber nur als dann dürfen wir uns ergebungsvoll den Leiden unterziehen, wenn wir tapfer gestritten haben, wenn wir uns bewußt sind dasselbe nicht durch Feigherzigkeit Schlaffheit oder gar Untreue in unserm Berufe uns zugezogen zu haben. 2. Tapferer Streit in den Worten: „aber, der mich dir überantwortet hat, der hat es größere Sünde;“ denn der darin liegende Unwille gegen das Böse würde That geworden sein, wenn seine Stunde nicht gekommen wäre. Dieß so zu nehmen dazu bereitet uns das Verfahren des Erlösers in seinem frühen Leben. Wie oft und nachdrücklich hatte er geeifert gegen die, welche zu den Führern des Volks sich aufwarfen, Blinde welche die Lahmen leiten sollen; wie oft Wehe gerufen über die Verkehrtheit und Bosheit derselben, die dem Volke eine Bürde auflegten sie selbst aber mit keinem Finger rührten, welche, die Schlüssel des Himmelreiches in den Taschen hielten aber weder das Volk hinein ließen noch selbst dahin gelangten. Aber jetzt wo es nur ohnmächtige leere Worte gewesen wären, weil sie nicht wie ehemals That werden konnten, | da begnügt er sich ganz kurz die innere Stimmung seines Gemüths über das Böse an den Tag zu legen.

7–8 Vgl. Mt 5,39

18–20 Vgl. Mt 15,14

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Am 24. März 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Karfreitag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Gal 6,14 Nachschrift; SAr 36, Bl. 30r–33r; Pischon Keine Keine Keine

Am Charfreitage 1815.

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Die Gnade unsers Herrn etc.

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Eingang Als sie hingingen und den Erlöser an das Kreuz schlugen, als er seine letzten schmerzlichen Stunden durchlebte, da waren einige wenige treue, von Liebe und Ehrfurcht durchdrungene Seelen in seiner Nähe, aber viele, die ihren Spott hatten und sprachen: „Arzt hilf dir selber, hat er gesagt, daß er Gottes Sohn sei, so steige er nun herab vom Kreuz!“ und viele, welche glaubten, es müsse nun in denen, die ihm angehangen hatten auch der letzte Funke des Glaubens und der Hoffnung erloschen sein. Und so war es auch in der künftigen Zeit. Der gekreuzigte Erlöser war den einen eine Thorheit, den andern ein Ärgerniß und klein das Häufllein derer, die es erkannten, daß er es sei, durch den wir sollen selig werden, bis endlich immer mehr und mehr das himmlische Licht sich ausbreitete, bis es endlich immer tiefer eindrang in das Leben, die Gemeine gegründet ward, die ein unerschütterlicher Fels sein sollte: da sammelten sich um das Kreuz Christi alle Menschen, denen es zu thun war um das Heil, alle von strengem Glauben und rechtem Leben; da ward sein Kreuz das heilige Zeichen aller derer, welche gegen die Ruchlosigkeit der Welt kämpften, aller derer, die hingingen um in seinem Namen zu predigen Vergebung der Sünden und ein kommendes Reich Gottes. Und so ist sein Kreuz noch jetzt das Zeichen, worum sich seine Gläubigen alle versammeln; wenn wir unsern Glauben an ihn in seiner heiligsten Wurzel erfassen, die Kraft, die von ihm ausgeht darstellen wollen, so denken wir des Kreuzes Christi. | Wohlan ganz besonders sind wir in dieser Stunde, an dem Todestage Christi um sein Kreuz 6 die] die es 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß 7–8 Vgl. Mt 27,40; Mk 15,30; Lk 4,23; Lk 23,37 11–12 Vgl. 1Kor 1,23 15–16 Vgl. Mt 16,18

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versammelt in gläubiger Andacht, lasst uns in dieser Stunde die ganze Herrlichkeit desselben erwägen, damit wir dem Preis und Dank sagen mögen, der sein Leben für uns gelassen hat. Tex t.

Gal. 6, 14.

Diese Worte des Apostels, m. a. Fr., sind ganz besonders geeignet für unsre christliche Betrachtung in dieser heiligen Stunde. Wie tief muß es das Herz eines jeden unter uns, wie wir auch bei dem Gekreuzigten unser Heil und unsre Seligkeit gefunden haben, wie wir auch Alles um seinetwillen gering zu achten geneigt sind: wie tief muß es uns rühren und ansprechen, wenn der große Apostel sagt: er kenne keinen andern Ruhm als das Kreuz Christi. Wohlan so lasset es uns ihm nachsprechen und nachempfinden

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daß das Kreuz Jesu Christi unser Ruhm sei.

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I. Es ist unser Ruhm, weil es das Sinnbild des Leidens ist, durch welches wir mit Christo in die Herrlichkeit [eingehen]. Denn er unser Herr, wiewohl er hätte können Freude haben erduldete er das Kreuz. Er hätte können Freude haben, denn er war ja derselbe, er der jetzt vor unsern Augen am Kreuze hängt derselbe, den dasselbe Volk bemüht war zum König auszurufen; der seinen Jüngern zurief[:] meinet ihr nicht, daß ich könnte meinen Vater bitten, daß er mir schickte Legionen Engel mich zu retten von allem dem, was mir bevorsteht; er war ja derselbe, der so oft rühmt die Herrlichkeit, die er empfunden beim Vater ehe denn die Welt gegründet ward; aber er sollte nur durch Leiden und Tod eingehen in die Herrlichkeit, daß aller Knie ihm gebeuget werden und aller Zungen bekenneten, daß er der Herr sei. Und so, m. Fr., so auch von dem Augenblick an die ganze Gemeinschaft seiner Gläubigen und je|der Einzelne, der seinen Namen bekennt; auch die Kirche Christi kann nicht anders als durch Leiden in die Herrlichkeit eingehen. Jetzt wohl ist ihr eine Herrlichkeit gegeben; denn wie viele Menschen bekennen nicht, daß alle Kraft des Geistes davon ausgeht, davon jedes Vertrauen in Gott, jedes Leben in Gott; aber nur durch Schmach und Verfolgung konnte sie in die Herrlichkeit eingehen. Wie viele mussten nicht leiden, ihr Blut vergießen und sterben für sie und das Kreuz wurde erst die Mauer und Pallisaden hinter denen sich die Herrschaft des Christenthums befestigte und auch wir können nicht anders in die Herrlichkeit eingehen. Sind es nicht Schmerzen der Buße und Thränen der Reue, unter denen der neue Mensch geboren werden kann, und wenn der Geist auch willig ist, ist nicht das Fleisch schwach und wenn wir schon Lust haben am inwendigen 27 viele] viel 18–20 Vgl. Mt 26,53

35–36 Vgl. Mt 26,41

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Menschen ist nicht das Gesetz in den Gliedern was ihm widerstrebt und das ist eine Zeit der Leiden und der Schmerzen; und wenn wir selbst es demüthig bekennen, daß wir nichts vermögen ohne Gott, auch wenn seine Kraft schon in uns mächtig ist, so daß sie die Spuren des Bösen noch nicht ganz verwischt; o wie klügelnd sagt da die Welt: du sagst es ja selbst; wie fährt sie tadelnd über die demüthigen, aber in Demuth wachsenden Kinder Gottes her; aber wir können nur fest stehen in Kraft und Liebe dadurch daß der Geist Gottes sich mächtig zeigt in den Schwachen. Wohlan, so sei die Welt uns gekreuzigt und wir der Welt und unfähig sei sie, uns in ihre verführischen Arme zu locken; nach keiner andern Glückseligkeit wollen wir streben, als nach der vollendet zu werden durch das Kreuz Christi und das allein sei unser Ruhm und fern sei es uns etwas anderes zu rühmen als des Kreuzes Christi. II. Das Kreuz Christi ist das Sinnbild des Gehorsams in dem sich die Kindschaft Gottes offenbart. Denn so spricht die Schrift: wie wohl er der Sohn Gottes war hat er in dem, was er litt Gehorsam gelernt und bewiesen. | Was der Erlöser seinen Jüngern am Anfange seines Lehramtes dargelegt hatte in der Erzählung von seiner Versuchung, das ist der Inhalt seines Ganzen in Gehorsam hingebrachten Lebens, darin sehen wir den Zusammenhang wie er gehorsam war bis zum Tode am Kreuz. Wie viele Versuchungen hatte der Erlöser nicht, menschlicherweise von ihm zu reden, wie viele Versuchungen von dem Wege, den ihm Gott vorgezeichnet hatte mit einem glücklichen Erfolge abzulenken, was konnte eine härtere Wahl sein zwischen Herrschaft der Menschen, die er doch beseligen wollte aber die er auf einem andern Wege hätte erreichen müssen und zwischen der Knechtsgestalt in der er einherging, als der verachtet und geschlagen war und dem Tode, womit er seine Treue besiegeln musste. Und was konnte diesen Tod furchtbarer machen, als das Gefühl, wie wenig seine Sache noch befestigt sei in der Welt, wie wenig eingeweiht seine Jünger, wie wenig zu rechnen auf der Stärke ihres Glaubens. Aber der Herr wußte nichts anders, als dem Ruf Gottes zu dienen und zu suchen, was verloren war, wußte nichts anders als ihm treu zu bleiben, führte er ihn auch in einen frühzeitigen Tod hinein. – Eben so, m. Fr. ergeht es auch der Gemeine Jesu Christi und einem jeden unter uns. Wie oft hätte auch sie können geblendet werden, als ob dargebrachte Zeichen der demüthigen Verehrung, als ob in ihren Händen weltliche Gewalt der Weg wäre sie auszubreiten und die Menschen um das Kreuz des Erlösers zu versammeln. Aber wenn sie auch im Begriff war durch diesen Schein geblendet zu werden, bald drang das helle Licht durch und das ist ihr Glaube, daß das Reich Christi niemals ein Reich sein könne in 5–8 Vgl. 2Kor 12,9 Joh 18,36

15–16 Vgl. Hebr 5,8

25–27 Vgl. Phil 2,7–8

39–1 Vgl.

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Am 24. März 1815 vormittags

dieser Welt und daß es keine andre Gewalt in ihr geben soll als des Wortes und der Liebe. Und bei einem jeden unter uns, wie groß oder beschränkt sein Würkungskreis sei, wie kurz oder lang die Zeit | seines Lebens, hat es oft schon Fälle gegeben in seinem Leben, wo auch ihm der Schein vorschwebte durch unrechte Mittel seinen Zweck zu erreichen: was hat uns da gesichert vor Treulosigkeit, als das Kreuz Christi, als das Aufsehen auf ihn, der Alles dem Vater anheim stellte, aber in dem sich in diesem Gehorsam am schönsten die Herrlichkeit des Sohnes Gottes offenbarte. Wohlan, so sei auch uns aufs neue an seinem Kreuz gekreuziget die Welt, daß seine Gemeinschaft sei zwischen uns und ihr, und kein andrer Weg, den wir wandeln, als einfältiger Gehorsam, ohne welchen niemand an das heilige Kreuz des Erlösers hinaufschauen kann, wohlan, lasset uns nach keiner andern Freiheit trachten als nach der der Kinder Gottes, nur allein trachten dem zu leben, der für uns gestorben ist. III. Das Kreuz Christi ist uns das herrliche Sinnbild seines und unsers Glaubens. – Er der das Kreuz erduldete von den Sündern sitzt zur Rechten Gottes, er der gehorsam war bis zum Tode ihm sind viele zur Beute gegeben und herrlich ist sein Name in der Welt. Und indem er litt am Kreuze, war schon die Herrlichkeit des Sohnes Gottes in seiner Seele, die Herrlichkeit dessen, der sagen konnte: heute wirst du mit mir im Paradiese sein. Und indem er gehorsam war bis zum Tode ist er geworden der Anführer aller derer, die durch das Leiden gerecht wurden, er, der vor den fremden Richter gestellt wurde ein Gesetzgeber aller Heiden, er der litt und starb der Erstgeborne aller Kinder Gottes. Wo ist ein größerer Triumph des Glaubens ein herrlicheres Sinnbild als das des Kreuzes Christi. Rühme es sich jeder der Glauben hat und fühlt im Innersten des Gemühts. Wie der der Lei|den und Tod nicht scheute und nur den himmlischen Vater, wie er geworden ist das Heil der Welt und gelangt zur Stufe sich zu setzen zur Rechten Gottes, weil er bewiesen hat Beständigkeit und Geduld, so steht auch sein Kreuz vor denen, die Glauben beweisen und Treue Beständigkeit und Geduld. Wenn uns könnte bange werden bei dem, was ein wesentlicher Theil ist des Glaubens, da ist sein Kreuz das Sinnbild auch unsers Glaubens; denn wann stand es um des Herrn Sache übler als da er sterbend am Kreuz hing und doch sprach sein Glaube das göttliche Wort: es ist vollbracht! So wird jedem vielleicht wenn er sich am meisten dem Leiden hingiebt, vielleicht wenn auch ihm das Licht der Augen schwindet und die Welt im Dunkel liegt, auch vollbracht sein sein Wort und er gewiß sein, daß der welcher seinem Sohne senden konnte Legionen Engel, daß dem nie Wege fehlen können auszurichten, was er in der Welt beschlossen hat, wenn seine Kinder nur Glauben halten und Treue. Und so sei auch fernerhin wie immer in der 20 Vgl. Lk 23,43

34 Joh 19,30

37–38 Vgl. Mt 26,53

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Christenheit das Kreuz Christi das Sinnbild des Glaubens in jedem Streit für eine gute Sache, überall wo Muth Noth thut und Treue, wo es auf Einigkeit ankommt und Vertrauen, da müsse es uns über alle Schwierigkeiten erheben, da ströme aus ihm aus die Fülle des Vertrauens und die Sehnsucht nach der Vollendung, die der seinigen ähnlich ist. Amen. Ja Preis und Dank sei dir gebracht, ewiger Vater der Menschen für den Tod deines Sohnes. Er ist gestorben auf daß er sich erwerbe ein Volk, das ihm heilig wäre, | aus seinem Grabe hervorwachse ein reicher Same des Glaubens und der Liebe, verschwände was die Menschen trennte von dir dem Vater der Liebe. Mögen wir unter seinem Kreuze aufs neue durchdrungen werden von Glauben an ihn und der beseligenden Liebe zu ihn, möge er uns sein das immer vor Augen schwebende Bild des Glaubens und wir von ihm sagen können: Herr ich bin gekommen deinen Willen zu thun! Ja laß uns mit ihm sterben, damit wir auch mit ihm auferstehen zu einem neuen herrlichen Leben. Amen.

13–14 Vgl. Hebr 10,9

33r

Am 26. März 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Ostersonntag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Röm 6,3–5 Nachschrift; SAr 36, Bl. 34r–39r; Pischon Keine Keine Keine

34r

Predigt am Osterfeste 1815. von D. Schleiermacher. |

35r

Am Osterfeste 1815. Gebet. Preis und Ehre sei dem, der erstanden ist durch die Kraft des Vaters, unserm Herrn Jesu Christi. Amen. Eingang M. a. Fr. Gewiß kann ich mich getrost berufen auf den freudigen und erhebenden Eindruck, den dieses Fest der Auferstehung auf jedes christliche Gemüth zu machen pflegt. Mag ihm schon die milde Frühlingssonne leuchten oder noch der winterliche Schnee, mag es uns begrüßen übrigens erfreut durch die Gaben der göttlichen Gnade oder niedergedrückt vom Leide: gleich sehr erhebt es uns alle und wir fühlen uns dadurch gestärkt und im Innersten unsers Gemühtes erneut. Wenn wir sagen: kein Wunder; indem ja die Auferstehung des Herrn uns das Bild ist unsrer eignen und uns den Sieg vorhält, den auch wir über den Tod erfechten werden so mag immer der klügelnde Verstand dagegen niemanden, daß es ja nicht dasselbe sei, unsre Auferstehung und die des Herrn, der noch auf Erden wandelte, wir fühlen, es ist auch nicht das, was uns so ergreift, nicht etwas Zukünftiges, sondern ein unmittelbarer Genuß des ewigen Lebens. Und wenn wir sagen: kein Wunder, daß dies Fest uns erfreut, es war ja die erste Hoffnung die den Jüngern des Herrn leuchtete, der Tag der Auferstehung auch des tiefgebeugten Muthes und Glaubens der Apostel. O es ist nicht das allein, daß wir uns in die Stelle der Brüder in Christo versetzen, was uns erhebt, sondern es ist das Gefühl unsers eignen unmittelbaren Glückes, es ist das Gefühl eines eignen erhöhten Lebens im Geiste der Auferstehung Christi, eine von ihm ausgehende Erleuchtung und Erhebung unsers Da-

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seins, der Anfang von dem, was er gesagt hat: | wenn er erhöht sein werde von der Erde werde er uns alle zu sich ziehen. So lasset uns ganz diesem Glücke, diesem erneuten Lebensgefühl uns hingeben und fragen was es sei und worin dieses herrliche Glück bestehe. 5

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Tex t.

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Röm. 6, 3–5.

M. a. Fr. Es ist auch nichts Zukünftiges und Fernes, worauf uns der Apostel in diesen Worten verweiset, sondern auch die unmittelbare Gegenwart. Aus dem, was er vorher den Christen, an welche sein Brief gerichtet ist über den Preis der Gnade Gottes gesagt hatte, welcher der Mensch Alles verdanken kann und soll, konnte der Einwurf hervorgehen: ob die Gnade selbst nicht verherrlicht würde, je länger und tiefer der Mensch in der Sünde sei verstrickt gewesen und darauf beziehen sich die Worte unsers Textes. Mit nichten, sagt der Apostel, das sei fern, wie konnten wir denn der Sünde leben wollen, wisset ihr nicht daß alle die in Jesum Christ getauft sind, die sind auf seinen Tod getauft und wie er auferwecket ist durch die Herrlichkeit des Vaters, so sollen auch wir in einem neuen Leben wandeln, auch der Auferstehung gleich sein. Eben das ist das Gefühl wovon wir, wie ich vorher sagte, lebendiger als sonst an diesem heiligen Feste der Auferstehung durchdrungen werden, ist das Gefühl des großen Rechtes, das uns verliehen ist, seiner Auferstehung gleich zu sein, das Gefühl der Kraft, das von dem Auferstandenen ausgeht, ihm in diesem Sinne gleich zu werden. So lasset uns sehen, indem wir mit dem Auge des Glaubens und der Liebe auf den Auferstandenen blicken welches da sei das neue Leben, seiner Auferstehung gleich.

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Es ist aber, wenn wir es in seinem Unterschiede und in seiner höchsten Vollkommenheit betrachten, das neue Leben ein Leben | I. zuerst ohne Trauer, II. zweitens ohne Furcht, und sodann III. ohne Sorge was wir in Einigkeit des christlichen Glaubens tief und lebendig empfinden wollen. I. Das neue Leben welches von der Auferstehung des Herren ausgeht und uns durchdringt ist ein Leben ohne Trauer. Es giebt aber keinen andern Gegenstand der Trauer als den Tod oder das, was das Bild oder die Ähnlichkeit des Todes an sich trägt. Der Stachel des Todes freilich, so spricht derselbe Apostel anderwärts, ist die Sünde. Von dieser fühlen wir uns erlöst 1–2 Vgl. Joh 12,32

35–36 Vgl. 1Kor 15,56

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schon durch die Kraft des Todes unsers Herrn Jesu Christi. Sind wir mit ihm in seinem Tod begraben, ist uns mit ihm die Welt gekreuzigt, so sind wir auch abgestorben der Sünde und dieser Stachel des Todes ist für uns abgestumpft, Dank und Preis dem, der uns erlöset hat von diesem Leibe des Todes durch unsern Herrn Jesum Christum. – Aber, m. Fr. es giebt noch einen andern Stachel des Todes und das ist die Liebe, die Liebe mit der sich der Mensch, sterblich gezeugt und gebildet an das Sterblich hängt, mit der wir ihm trauernd nachweinen. O wen unter uns sollte dieser Stachel des Todes nicht schon schmerzlich getroffen haben, das müssen wir wohl immer glauben bei solch einer Versammlung sterblicher Menschen, besonders nach solchen Ernten des Todes. Aber, m. Th. fragt Euch selbst, ob nicht der heilige Anblick des Auferstandenen auch diesen Stachel des Todes abstumpft, ob wir in seinem Anblick nicht fühlen die Gewalt des Lebens über den Tod, wenn der Glanz seiner auferstandenen Herrlichkeit uns erleuchtet, ob nicht eben so die Bilder aller geliebten Todten in seinem Glanze sich verklären und in einem | milden Lichte erscheinen. Wie eine heilige Sage erzählt, daß die Gräber sich aufgetahn hätten und aufgestanden wären viele Leiber der Heiligen und nach des Herrn Auferstehung gewandelt wären in die heilige Stadt und vielen erschienen: o so gehen verklärt alle, die uns entschlafen sind aus dem Grabe des Todes hervor, in einem neuen schönren Lichte treten sie vor unsern Geist, vor unser Herz; wie der Auferstandene lebt für uns und in uns; so leben auch sie für uns und in uns, auch sie machen, indem sie uns aufs neue erscheinen, unser Herz brennen in der Kraft und in der Liebe, daß auch wir rufen können: Tod, wo ist dein Sieg? Wie alle Verheißungen des auferstandenen Erlösers mehr geworden sind, wie wir fühlen, daß er unter uns ist, wo zwei oder drei in seinen Namen versammelt sind; o so sind lebendig auch unter uns alle die wir geliebt haben in dem Herrn und die in ihn entschlafen sind. II. Das neue Leben, welches von dem Erstandenen ausgeht ist ein Leben ohne Furcht. Wie die Menschen, m. a. Fr., die keine Hoffnung haben, aus Furcht Knechte sind ihr ganzes Lebelang, davon haben wir alle vielleicht noch eine dunkle Erinnerung aus der frühern Zeit, wo auch wir noch nicht vollständig erleuchtet waren vom Licht der Gnaden, haben davon einen traurigen Anblick niederschlagend um so mehr als sie unter den Christen wandeln, an allen denen, die noch iezt in der Finsterniß einhergehen. Von dieser Furcht aber fühlen wir uns lange erlöst, die kennen wir nicht mehr seit der Zeit, da uns der Sohn frei gemacht hat, daß wir nicht Knechte sein dürfen. – Aber es giebt noch eine andre Furcht, eine Furcht, die der Erlöser 35 iezt] izt 17–19 Vgl. Mt 27,52–53

24 1Kor 15,55

26–27 Vgl. Mt 18,20

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voraussetze bei seinen treusten Jüngern und zu beschwichtigen sucht, wenn er spricht: in der Welt | habt ihr Angst, aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden! Ja es giebt eine Furcht der Kinder des Lichts mitten unter den Kindern der Finsterniß, eine Furcht der Freunde der Wahrheit vor der Gewalt ihrer Feinde, eine Furcht derer, die da lieben vor der zerstörenden Kraft der Selbstsucht und des Hasses, eine Furcht derer, die Gott lieben und unsern Herrn Jesum Christum vor denen, die ganz verstrickt sind in das irdische Leben und seine die Menschen vom Heil zurückhaltenden Bande, eine Furcht daß es ihnen gelingen möge zu zerstören, was sie selbst nicht genießen wollen, eine Furcht, daß die Kinder der Finsterniß klüger sind als die Kinder des Lichts, eine Furcht vor der Gewalt großer irdischer Kräfte, die wir zu sehen glauben in den Händen derer, die nicht Diener sind unsers Herrn und Meisters Jesu Christi. In dieser Furcht lebten auch die Jünger des Herrn und hielten ihre Thüren verschlossen aus Furcht vor ihren und ihres Herrn Feinden. Aber als der Erstandene erschien in dieser Zeit als sie ihn sahen, lebend wie sonst, aber über alle Gewalt irdischer Macht erhaben und entrückt, wie könnte da noch Furcht in ihrem Herzen geblieben sein. Eben so Antheil nehmend an dieser Verklärung betrachten wir den gesammten Leib unsers Herrn Jesu Christi, ja im Glanze seiner Auferstehung erscheint uns auch die Kirche Jesu Christi gegenwärtig dem himmlischen Genuß, nur so viel sichtbar als es der gemeinsame Genuß himmlischer Güter erfordert, aber unsichtbar für die Welt. In diesem verklärten Dasein Jesu Christi fühlen wir auch das, daß wie die Feinde der Kirche Jesu Christi sie ergreifen wollen, sie nichts erfassen als ihren Schatten daß ihr Leib ihnen entflieht, fühlen wir, daß jedes Gut in uns das höhere Dasein mit ihnen theilt, daß jedes da ist in der Welt aber nicht von der Welt, nicht ihren vergänglichen | Gesetzen unterworfen, daß für die, die ihm gehören keine Furcht da ist und keine Bangigkeit; sondern daß sein Friede, daß die Sicherheit und Unzerstörbarkeit des Erstandenen beselige Alles, was als ein Vermächtniß seiner Auferstehung angesehen werden kann. So ist alle Furcht überwunden und auch dieser große Feind besiegt allen denen, die Theil haben an der Auferstehung unsers Herrn Jesu Christi. III. Das neue Leben der Auferstehung des Herrn ist ein Leben ohne Sorge. Wie der Mensch als das Kind der Erde auch ein Kind der Sorge ist so lange er nur der Erde lebt und dient, auch das sehen wir leider noch immer und auch das werden wir wissen aus der Zeit unsrer eigenen kindischen Sorge, ehe wir mündig geworden waren durch die Kraft des Glaubens. Aber diese irdische Sorge, was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden, gehen sie so in das Einzelne des Lebens hinein oder haben sie einen großen Umfang, diese Sorgen müssen wir lange von 2–3 Joh 16,33

3–4 Vgl. 1Thess 5,5

38–39 Mt 6,31

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Am 26. März 1815 vormittags

uns geworfen haben wie der Herr. Wer nur nach dem Reiche Gottes trachtet und nach seiner Gerechtigkeit, der kennt freilich keine irdische Sorge mehr und wer denn sorgt, daß er wohl gebrauche, was der Herr ihn von Kräften gegeben hat, der sieht das nicht als seine sondern des Herrn Sorge an und überlässt es ihm ob ihm viel oder wenig gegeben werde. Aber freilich es giebt noch eine andre Sorge von der wir nicht frei sein können im gewöhnlichen Zustande des Lebens. So lange wir noch eine Spur in uns finden von jenem Gesetze des Fleisches, das dem Geist widerstrebt, so muß ja in uns die Sorge sein: ich armer und elender Mensch wer wird mich weiter erlösen von dem Leibe dieses Todes. Aber, m. Fr. | fühlt es und gesteht es ein. Alles was schwer auf das Gemüth lastet und es niederdrückt, Alles, was uns zur Erde beugt, es verschwindet im glorreichen Anschaun, der Auferstehung des Herrn. Wenn sein Dasein in jenen Tagen leicht war und ohne Sorge und er das Irdische verrichtet zu haben scheint weniger des Bedürfnisses wegen als des geselligen Beisammenseins: so muß auch uns jede Sorge verschwinden und wir uns hineinleben in das Leben seiner Auferstehung, in das Leben seiner Jünger mit ihn, denen jede Sorge verschwunden war und die ruhig erwarteten die Stunde, in welcher sie ausgerüstet werden sollten mit neuer Kraft. Trat er nicht zu ihnen und gab ihnen seinen Frieden, nicht den der Welt, mit dem er die irdischen Sorgen in ihnen verscheuchte? Hauchte er nicht mit seinem verklärten Munde ihnen entgegen und sprach: nehmet hin den heiligen Geist? und dieser Geist, er verbreitet sich auch über uns und vertilgt Alles; was uns dem irdischen Leben unterwirft und so auch jede Kraft der Sorge. Und indem er an dem Tage seiner Auferstehung seinen Jüngern das große Vorrecht ertheilt, Sünden zu vergeben und zu behalten; wie müssen wir nicht in der großen Gemeinschaft mit denen, die Sünden vergeben, wie müssen wir nicht in der Gemeinschaft mit dem, der für unsre Sünde gestorben ist in dieser unmittelbaren Zuversicht zu ihm uns frei finden von der Sorge über menschliche Schwachheit. Ja ihm ist die Vollkommenheit und Fülle des Segens und wir sind ja Glieder seines Leibes, der immer mehr in die Kraft seiner Auferstehung hinein gearbeitet wird durch seinen Geist, seines Leibes auf dem der Segen der Auferstehung und Verklärung ruht; so wollen wir freudig rufen: wer will verdammen Christus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferstanden ist. | Das ist der König der Erden, der Erstandene, der uns Frieden bringt und Freiheit von jeder Furcht und Sorge, das ist der König der Erden, der uns schon hier Antheil giebt am verklärten Dasein seiner Auferstehung. Er ziehe jetzt aufs neue ein in unser aller Herzen, sein Glanz erleuchte und verkläre aufs neue jedes Gemüth, das noch seiner Kraft bedarf sich zu erhal20–21 Vgl. Joh 14,27 Röm 12,5; 1Kor 12,27

22 Joh 20,22 24–26 Vgl. Joh 20,22–23 34–35 Vgl. Röm 8,34

31 Vgl.

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ten. Er sei die Sonne, die uns Leben, Kraft und Gedeihen giebt, er der Herr, dem wir ohne Furcht und Sorge trauen, er der Erstgeborne unter den Todten der Auferstehung des Glaubens und nun nicht mehr des Glaubens, sondern auch des Schauens für jedes ihm gläubige Herz. Wohlan, lasset die Schlacken des irdischen Lebens aufs neue von uns werfen an dem Feste seiner Auferstehung und aufs neue gereinigt hervorgehen von Allem, was die Spuren des Todes in sich trägt und gestärkt zu einem neuen wahrhaft ewigen Leben, wie er gesagt hat: wer an mich glaubt, der hat das ewige Leben. Amen. Gebet. Vater, Urquell des Lichts und der Liebe, Preis sei dir und Dank, daß du uns gesandt in die Welt den Abglanz deines Wesens, das Ebenbild deiner Herrlichkeit, wie er uns erschien als das fleischgewordene Wort in den Tagen seines irdischen Lebens, wo er versucht worden ist allenthalben doch ohne Sünde, in der Knechtsgestalt in der er einherging zu suchen das Verlorne, in welcher er uns noch mehr erscheint als der Auferstandene von den Todten, der auch für uns den Tod besiegt hat von dem uns noch weit mehr das himmlische Licht und die ewige Liebe entgegenstrahlt. O dank sei dir, daß wir auch zu denen gehören, die er erhoben hat und zu sich gezogen von der Erde. So sei unser Vaterland und unser Wandel im Himmel. Ja lasst uns würdig wandeln seiner Auferstehung würdig in Treue und Freiheit und in der Hoffnung auf dich und den festen Glauben daß die welche seinen Namen bekennen und mit ihm gepflanzt sind zu gleichem Tode auch der Auferstehung gleich sein werden. Und in uns | walte das ewige Leben, das er gebracht hat, in uns walte der Geist, mit dem er uns anhaucht und unsre Schwachheit vertreibt bei dir, als unser liebreicher Fürsprecher. So laß sein Wort und seine Fürsprache statt finden, und pflanze weiter sein Reich auf Erden, daß, wo möglich das ganze Geschlecht der Menschen wandle in seinem himmlischen Lichte. Amen.

8–9 Joh 6,47

15 Vgl. Phil 2,7

20–21 Vgl. Phil 3,20

27 Vgl. 1Joh 2,1

39r

Am 9. April 1815 vormittags (vermutet) Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Misericordias Domini, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Joh 21,7–8 Nachschrift; SAr 36, Bl. 40r–45r; Pischon Keine Keine Keine

Am Sonntage Misericord. Domini.

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Die Gnade etc.

40v

Eingang Unser Leben, m. A., soll immerdar ein Leben sein mit Gott und durch Gott, in ihm sollen wir Alles sehen und empfinden, durch ihn sollen wir Alles thun, in ihm, wie der Apostel sagt, leben, weben und sein. Und dieses Leben in Gott ist uns Christen immer ganz besonders ein Leben durch Christum und mit ihm, denn niemand kann den Vater sehen ohnedem ihn der Sohn will offenbaren, er ist es allein, der uns den Vater zeigt und in dem wir ihn sehen. Aber es ist zweierlei, was wir in diesem Leben in Gott und Christo von einander unterscheiden und nicht immer recht zu vereinigen wissen. Es ist nehmlich das Eine der stille, betrachtende Genuß des Herzens, die andächtige Versenkung des Gemühths, es ist das Andere das thätige Leben im Reiche Gottes, das beschützende schaffende Sorgen für das, wodurch er sich den Menschen offenbart und sie seinen Willen erkennen können. Schon in dem gewöhnlichen täglichen Leben trennt sich uns beides, in dem Einen sehnen wir uns nach dem Andern, das Eine scheint das Andere zu fordern. Mehr auch erfahren wir es alles wo wir eine besondre Offenbarung des Höchsten wahrnehmen, sei es, daß er auf eine unmittelbare Weise an das Herz des Einzelnen tritt, sei es daß wir seinen leitenden Finger in den Begebenheiten der Welt auf eine größere Weise anschauen; da noch mehr finden wir diesen Zwiespalt des Herzens und dieses Unvermögen Beides zu umfassen. Von diesem Leben in und durch Gott und durch Christum ist uns ein Vorbild das irdische und persönliche Leben seiner | Jünger mit ihm und 0 Die Zuordnung der Predigt auf das Jahr 1815 ist zwingend, da in den Jahren zuvor der Termin belegt ist oder Pischon als Nachschreiber nicht in Frage kommt. 2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß 6 Vgl. Apg 17,28 8–9 Vgl. Mt 11,27

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Über Joh 21,7–8

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besonders ein Sinnbild jeder hohen Offenbarung Gottes ist uns sein Leben mit ihnen in den Tagen seiner Auferstehung. Denn schon damals war er unter ihnen alle Tage und ununterbrochen, von ihm waren ihre Herzen erfüllt, an ihn gedachten sie täglich, das war ihr ununterbrochnes Leben, aber wenn er sich ungewöhnlich ihnen zeigte, das Gespräch und der Umgang mit ihm sich erneuerte, das waren solche Augenblicke näherer Offenbarung, wie sie auch uns vorkommen in den Begebenheiten des Lebens. Und so lasset uns an ein aus der Zeit, an welche wir uns jetzt besonders erinnern sollen, hergenommenes Beispiel sehen wie bei den Jüngern des Herrn der andächtige Genuß und das thatenreiche Leben ein verschiedenes war, wir aber auch in der Vereinigung beider ihnen müssen ähnlich werden. Tex t.

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Joh. 21. v.7.8.

Hier sehen wir, m. A., das, worauf wir vorher schon unsre Aufmerksamkeit gewendet haben an den Jüngern des Erlösers. Er erschien ihnen und gab sich ihnen kund durch ein Zeichen. Sie waren nehmlich fischen gegangen und hatten nichts gefunden und er zeigte sich ihnen am Ufer und zeigte ihnen, wo sie die Netze auswerfen sollten und sie fanden eine große Zahl Fische. Da ward es zuerst Johanni deutlich, daß es der Herr war und er sagte es Petrus. Petrus der sich ins Meer wirft, um schneller bei Christo zu sein, o wie sehr stellt er uns die dar, die bei jeder Offenbarung des Herrn zum ruhigen himmlischen Genuß des Herzens hineilen, denn das war es ja, was er suchte. Die aber auf dem Schiff blieben, was hielt sie zurück als das Zeichen, das er gethan, | das Bestreben das Gute, das er ihnen gegeben festzuhalten, auch das Geringe, was er an ihnen gethan nicht verloren gehen zu lassen und Treue zu beweisen am geringen Gut. Und beides ist auch bei uns. Wie damals der Herr nicht erschien ohne ein Zeichen zu geben, so auch jetzt, und es geschieht nun, indem der Herr etwas an uns oder für uns thut, immer etwas, wodurch uns eine Sorge aufgelegt wird für sein Werk und wir zu der Treue ermuntert werden, die wir ihm schuldig sind. So theilt sich überall das Gemüht der Menschen nach diesen Seiten hin, die einen ergeben sich früher den andächtigen Genuß zu den andern redet deutlich die Stimme Gottes sein Werk zu vollbringen. So lasset uns über die beiden Arten die Offenbarungen Gottes in der Welt aufzunehmen

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näher nachdenken und sehen I. wie beides gleich natürlich sei und gleich nothwendig II. wie beides auch geschieden sei und nicht vereinbar, endlich III. was uns dadurch besonders zur Pflicht gemacht wird und wie wir in der Unvollkommenheit unsers Daseins dennoch beides verbinden müssen. 15–18 Vgl. Joh 21,3–6

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Am 9. April 1815 vormittags (vermutet)

I. Zuerst beides ist uns gleich natürlich und gleich nothwendig. Das Verlangen des Herzens jede nähere Offenbarung Gottes zu genießen sie ganz in das Innre des Gemüths aufzunehmen und sich davon zu erfüllen, das Herz, welches so oft, von weltlichen Dingen befangen, nach unmittelbarem Genuß Gottes und des Erlösers sich sehnt, bei dem dargebotenen Genuß zu sättigen, ja wohl ist uns das allen natürlich und nothwendig. Wir wissen es zwar der Herr verbirgt sich uns keinen Augenblick, jeder kann ihn näher aufnehmen und genießen; er zeigt | sich uns überall in seinen äußern Werken und ist uns nahe in seinem Innern, und wo wir eine gute Gabe genießen, sie kommt von oben und immer, wenn wir sie genießen, muß der vor uns stehen, der gesagt hat: er sei der Weg und das Leben, niemand kommt zum Vater, denn durch mich. Aber nicht immer gelingt es uns in dieß Leben einzudringen. Bald hierhin und dorthin gezogen sehen wir im Ganzen des Lebens mehr das Einzelne, als diese eine Wurzel des Lebens, daß Alles von Gott herrührt. Aber wenn wir besonders aufgefordert werden zu erkennen, wer er ist, von dem Alles herkommt, der Alles erfüllt, den Kräften der Natur ihr Maaß anweist und ihre Macht, wonach können wir mehr dürsten, was mehr verlangen als seine Offenbarung ins Herz aufzunehmen und was uns hindern solchen Genuß recht bald einzusaugen. Wie sich Petrus in die Wellen des Sees stürzte, um früher zu sein bei dem, der am Ufer wandelte, so möchte das Herz jedes Hinderniß durchbrechen, um bei dem zu stehen dessen Herrlichkeit und Liebe sich ihm offenbart. Ja, wir können es nicht leugnen, einem Gemüth in dem dieses Verlangen nicht entsteht trauen wir auch nicht die Liebe zu Gott und dem Erlöser zu, die doch das unmittelbare Werk der Heiligung ist, der trachtet ein menschliches Leben mit menschlichen Kräften zu führen und fühlt es nicht, sei es aus Kälte oder Eitelkeit, fühlt es nicht daß er sein Innres erneure, wenn er in die Tiefe und den Abgrund des göttlichen Wesens sich versenkt. Aber auf der andern Seite, wenn es keine Offenbarung Gottes und des Erlösers giebt, als die uns zu neuer Thätigkeit auffordert und mehr ist es doch jede Erscheinung des Erlösers ist auch ein Erscheinen des Herrn und Meisters und der Herr und Meister gebietet dem Jünger, was er thun soll, wenn das mehr ist: liegt es uns nicht ob, die Gabe zu bewahren, den Schatz, den er uns gegeben hat zu hüten und zu bewachen, die | Kräfte, die von ihm sich ergießen zu seinem Dienst anzuwenden, wie ein neues anvertrautes Gut, von dessen Verwaltung Rechenschaft gefordert wird? Wie muß also nicht in einem frommen christlichen Herzen von Anfang an das Bestreben und Verlangen erwachen der Absicht des Herrn zu genügen seinen Willen zu thun und zu wachen, daß er im Stande sei Rechenschaft abzulegen. – Wo dieses Bestreben nicht ist, das ist auch kein Eifer der Herzen, kein Eifer für die Sache Gottes und des Erlösers auf Erden, nicht die strenge Anhäng11–12 Vgl. Joh 14,6

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lichkeit an sein Gesetz die unerschütterliche Treue in seinem Dienst, da kann auch der Segen Gottes nicht sein. Aber eben so bestimmt müssen wir empfinden, daß Beides vereint sein müsse, nicht eins das andere unterstützt und neu gebiert die Liebe und die Treue, kann da Glaube sein, kann da das Christenthum sein, eine Gemeinschaft der Kinder und Diener Gottes sein? Nein, nur in der Vereinigung beider, im Durchdringen von beiden ist die Gemeinschaft des Herrn und die Schaar seiner Diener. Sie sei noch so tief und das Herz beseligend, jene fromme Andacht; sei er das Irdische weit überstrahlend jener innre Genuß aller Gaben Gottes, wenn es dabei bleibt, wenn wir damit zufrieden sind, wir können uns doch nicht beruhigen Diener Gottes zu sein und sein Bild in uns zu tragen, sondern es müsste uns bange sein, daß das was keine Früchte trägt in der Welt Gottes auch keine trage zum ewigen Leben. Aber auf der Seite, wo die unermüdete Anstrengung aller Kräfte ist, habe sie auch nichts Menschliches, was gut und verderblich sein kann, sondern auch das Vortreffliche vor Augen, müssen wir sie nicht fühlen, als etwas, das der Mensch nicht von Gott hat und für sich selbst besitzen will und wofür er sich selbst zu loben und zu greifen geneigt ist, wenn wir nicht in ihm | sehen auch jenes Verlangen nach der unmittelbaren Gemeinschaft mit Gott, zu schöpfen aus der Quelle, die in das Leben fließt, in sich zu saugen das Wasser, das forthin nicht mehr dürsten macht? II. Aber müssen wir uns eben so gestehen daß Beides auch geschieden ist und nicht unmittelbar mit einander besteht. – Wie Petrus sich in das Meer stürzte um augenblicklich bei dem Erlöser zu sein, wie der den andern freilich nicht helfen konnte das Netz zu ziehen um die Gaben des Erlösers zu erhalten und die andern, die im Schiff geblieben waren um das Netz zu ziehen, nicht nur nicht bei ihn sein, sondern auch ihr Auge nicht auf ihn ruhen lassen und ihre Sinne nicht ungestört auf ihn gerichtet sein konnten, weil das Wort ihre Gedanken erforderte: so hindert überall der Genuß die Thätigkeit und die Thätigkeit den Genuß. Wer sich in die Tiefe der Andacht versenken will muß das Werk, was zu thun ist, andern überlassen und wer sein Werk thut wird das Verlangen und die Sehnsucht fühlen bei dem Herrn ungestört zu sein, er wird sie fühlen, aber nicht befriedigen können, denn jedes Werk verlangt die Anstrengung des Verstandes hält die Gedanken an das Einzelne gefangen und das lässt den Menschen nicht in die Tiefe des Einen eindringen, was Noth thut. Ja, so steht es mit dem Menschen so lange er ein Sohn der Erde ist und vollkommen mag er sein Dasein nicht gestalten. Von dem göttlichen Leben, dessen Gedanken er im Innern erfasst hat und darstellen will kann er immer nur die eine Seite darstellen, wie nahe auch die andre ist dem Wunsche und der Sehnsucht seines Herzens, 11–13 Vgl. Röm 6,22

20–21 Vgl. Joh 4,14

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Am 9. April 1815 vormittags (vermutet)

wodurch jeder Augenblick seines Daseins einer vollkommnen Befriedigung entbehrt. – Auch Petrus wie gering auch das Geschäfft ist, das er seinen Brüdern lässt wie er sich ins Meer stürzt und dem Erlöser zu Füßen sinkt, er muß an das Geschäfft gedacht haben, das er jenen überlässt und an den Antheil, den er daran hätte nehmen sollen. | Und der Jünger auf dem Schiff, der da gewohnt war an der Brust des Herrn zu liegen, mußte er sich nicht sehnen im Geiste bei Petro zu sein und den Herrn zu grüßen und die Ungeduld auch in ihn ein unbefriedigtes Gefühl zurücklassen? Wenn es nun so ist, was ist es denn was uns obliegt, wie lindern wir denn diesen Zwiespalt in unserm Herzen, wie bringen wir unser Leben der Befriedigung nahe, welche der Mensch nicht erreichen zu können scheint, das lasst uns noch III. sehen. Das Erste, was uns hier tröstend erfüllt ist daß wir leben in einer Gemeinschaft der Kinder Gottes, in welcher erreicht wird, was der Einzelne nicht erreichen kann. Sehen wir auf das gemeinsame Leben der Christen fühlen wir es als ein Ganzes, so kann es an der Befriedigung nicht fehlen, die der Einzelne nicht erreichen kann. Wo nur zwei oder drei in seinem Namen versammelt sind, da ist er zugegen der ganze ungetheilte Christus und das ganze göttliche Leben offenbart sich da. Indem einige das stille Leben der Andacht pflegen, sind andre thätig in dem Weinberge des Herrn, indem hier ein Herz in seine Kammer verschlossen mit Gott allein seine Sache und die des Erlösers pflegt, ist Alles draußen würksam für den Dienst des Herrn und die Sehnsucht des andächtigen Gemüths, das jetzt feiert von seiner Thätigkeit, es fühlt seinen Erfolg darin, daß das muntere, thätige Dasein der andern in dem Werke des Herrn auch sein Antheil ist und er der ganzen Fülle des höhren Lebens in der Gemeinschaft mit seinen Brüdern genießt. Wie wir kaum denken können, daß die wenigen Jünger des Herrn, die uns Johannes berichtet, da sein konnten ohne daß einen diese Begierde getroffen hätte, schnell die Wellen zu durchschneiden um bei dem Erlöser zu sein, sie aber nicht allein die Gabe des Herrn und das Schiff hätten seinem Schicksal überlassen können so ist nicht überall in der Gemeine des Herrn das ganze göttliche Leben | des Erlösers anzutreffen. Nie kann es fehlen an denen, die dem Triebe in ihrem Herzen zur Andacht nicht widerstehen können, aber sie können es nur mit gutem Gewissen, wenn der Dienst des Herrn nicht gefeiert wird und die große Menge der Brüder dafür geschäftig ist und das was sie im Stich gelassen von andern genossen und gehandhabt wird. Ja das ist und bleibt ein ewiger und vollkommner Trost für alle die, denen das irdische Leben auch ein Leben in Gott und durch Gott ist. Nur wenn wir uns ansehen als Glieder der Gemeine 35 gefeiert wird] feiert 17–19 Vgl. Mt 18,20

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des Herrn haben wir Antheil an dem ganzen Leben aus Gott; wenn wir ihre Thaten als die unsrigen ansehen und wenn wir in einem thätigen gottgeweihten Leben froh werden, daß der Segen ihres andächtigen Gebets und ihrer frommen Betrachtung auch der unsrige wird[,] nur da kann das Herz seine Befriedigung finden, nur da ist der ungestörte Glaube sowohl in der Stille der Andacht als in dem Getümmel des geschäftigen Lebens. Welche Ursach diese Gemeinschaft recht fest zu knüpfen und zu halten und diese höher zu setzen als das einzelne Dasein und den Werth des letztern denn recht zu fühlen wenn es im Ganzen bleibt und dem ganzen Leib Christi darstellt dessen Haupt er ist. Aber freilich das ist es nicht ganz sondern wie das wahre Christenthum nichts sein kann ohne eine Verbindung von beiden von Genuß und Thätigkeit so auch nicht das christliche Leben jedes Einzelnen. Oft genug hat sich dieser Irrthum in der Kirche Christi gezeigt, als ob einige bestimmt wären sich ganz dem stillen Leben zu weihen, sich aller Geschäftigkeit zu entschlagen und als ob andere ganz bestimmt wären durch eine beständige Anstrengung ihrer Kräfte den Dienst Gottes zu fördern, als ob man auch diesen nachsehen müsste wenn sie des frommen Lebens, des stillen andächtigen Genusses unfähig wurden und weniger fühlten, weil sie ja doch das Werk des Herrn | schafften. Wie gefährlich dieser Irrthum sei, daran giebt die Geschichte des Christenthums Beispiele genug. Wie viel edele Kräfte sind eingetrocknet gleichsam und für die Welt verloren, weil sie kein anderes Gesetz kannten als in der Stille sich dem Herrn zu ergeben. Wie schwer wird es werden Rechenschaft zu geben, wenn wir so unsre Kräfte geschwächt und zurückgehalten haben, wenn wir das uns anvertraute Pfund nur selbst darzustellen vermögen ohne etwas damit erworben zu haben. Und wenn auf der andern Seite die Thätigkeit der Menschen, wollte sie auch das Gute und Rechte fördern, wenn sie sich trennt von der Stille des Herzens, von der Rechenschaft, die der Mensch in der Einsamkeit fördert, wie bald merkt man ihr an, daß sie anfängt das hohe göttliche Gepräge zu verlieren und ausartet in bloß irdische Sorge, daß das Göttliche verloren geht in dem Irdischen und Einzelnen und in eine Kälte des Gemüths ausartet, worin wir nicht mehr die nähre Gottseligkeit erkennen. Darum müssen wir trachten, daß Beides bei uns vereint sei, die eine Zeit müsse der Thätigkeit die andre dem stillen Genuß geweiht sein, denn nur durch das Eine gelangen wir zum andern. Auch darin sind uns die Jünger in unserm Text ein herrliches Beispiel. Petrus war der erste gewesen der gesagt hatte, er wolle hin fischen gehen, war der Urheber des Werkes, worin sie sich lange umsonst gemüht hatten; nun aber da mit der Offenbarung des Göttlichen der Segen kam konnte er nicht widerstehen gürtete er sich und warf sich ins Meer. Und unter denen, die im Schiffe blieben war auch Johannes, der Jünger, der an der Brust Jesu lag, an dem sich zuerst die Offenbarung des Herrn verwirklichte, der erste 9–10 Vgl. Eph 4,15

25–26 Vgl. Mt 25,24–25; Lk 19,20–21

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der die unmittelbare Gegenwart des Herrn erkannte und sie Petro verkündigte, bei ihm hatte sich aus der fremden unscheinbaren Gestalt der innig geliebte des Herrn gebildet und demnach blieb er geduldig bis die Zeit kam, wo auch er dem Herrn in die Arme fallen konnte. Gewiß Petrus konn|te sein Recht sich loszureißen nur darin begründen, daß er schon mehr gethan hatte denn er hatte das Werk begonnen und gegründet und Johannes, der liebende und geliebte Jünger konnte sein Herz nur bezwingen dadurch daß ihm zuerst die Offenbarung geworden war. So muß beides wechseln im Leben des Menschen, aber ein bestimmtes Maaß zu setzen und eine Ordnung, wie das eine dem andern weichen und aus diesem das andre hervorgehn sollte wer vermöchte das. Wer wollte dem Geiste Gottes, der in uns würksam ist ein Maaß setzen und eine Ordnung vorschreiben! Er wirkt und schaffet Beides in uns allen, sein Werk ist es was zur Thätigkeit und zum Genuß führt, gehe es aus der gewöhnlichen Ordnung des Lebens oder aus einer Offenbarung hervor, was könnten wir anders thun als ihm folgen als ihm uns überlassen, als sein Wirken im Herzen fühlen womit sich der lebendige Antheil an dem Wirken unsrer Brüder verbindet. Wer immer diesen Geist des Herrn wollte walten lassen in seinem Herzen; dem wird immer die Sicherheit des Handelns fehlen; mit der ganzen Freiheit der Kinder Gottes darf der ihn walten lassen und ihm folgen. Für ihn giebt es kein ander Gesetz als die Ordnung der Kinder Gottes, ohne welche sie nicht bestehen können. Folge ihm jeder, treibe es ihn in die Thätigkeit der Welt, wo wir nichts wollen als den Willen Gottes vollbringen, oder senke es ihn in die Stille der Andacht. Aus beiden besteht das Leben des Christen, eins stärkt und bewahrt das andre und niemand darf sagen, daß an ihm eine Offenbarung des Herrn ohne Erfolg gewesen sei, der sie auf der einen Seite im Innern des Gemüths aufnimmt, auf der andern in alle Thätigkeiten bringt, die das Zeichen, das der Herr gethan hat, von ihm fordert. Und wie viel mehr, wenn in großen Begebenheiten der Herr sich uns offenbart, sollen wir anbeten seine unerforschlichen Wege; uns stärken im Gehorsam und Glauben daß er sein Reich befestige gegen jede Gewalt der Erde und in der Thätigkeit mit welcher seine Diener kämpfen sollen für sein Reich, zum Schutz aller geistigen und hohen und aller gemeinsamen Güter. O so schmecket und fühlet in beiden die Gnade, Güte und Freundlichkeit des Herrn | gehet hervor als die Diener des Herrn, in dem Glauben, welcher der Sieg ist, der die Welt schon überwunden hat, und wenn ihr im Getümmel der Thätigkeit die Sehnsucht fühlt nach dem Genuß des Göttlichen, tröstet euch die Gemeinschaft in der ihr euch immer fühlt bis auch euch die Stunde der Andacht kommt, die dem Christen ja nimmer fehlt. – So soll der Herr uns immer nahe sein, in diesem Gefühle sollen wir wandeln wie seine Jünger, so verherrliche er sich an uns wie er sich verherrlicht hat an ihnen. Amen. 35–37 Vgl. 1Joh 5,4

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Pfingstmontag, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin Apg 2,37–38 Nachschrift; SAr 36, Bl. 48r–53v; Pischon Keine Keine Vor der Predigt Vokalmusik (Berliner Intelligenz-Blatt)

Predigt am Pfingstfeste 1815. Über Apostelgesch. 2, 37.38. Wie der Geist Gottes auch unser Besitz und Eigenthum ist. |

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Predigt am Pfingstmontage 1815.

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Die Gnade unsers Herrn etc. Eingang M. a. F. Es sind große und herrliche Tage, deren Andenken die Christen jetzt begehen. Es ist der Anfang der eigentlichen christlichen Kirche, es ist der Tag, wo an der Stelle der vergänglichen Erscheinung des Erlösers, denn nur zu einem vorübergehenden menschlichen Leben war uns der Sohn Gottes gesendet, die bleibende Erscheinung des Geistes Gottes trat, um die Herzen derer, die den Sohn Gottes geliebt hatten, zu erfüllen und sein Werk fortzusetzen; es sind die Tage, wo alle alte Weissagungen der Väter in ihre letzte Erfüllung gingen, daß nun dem Geschlecht der Menschen nichts mehr zu wünschen übrig bleibt, sondern Alles, Alles gegeben ist, was nur die Milde des ewigen Vaters ihnen darreichen kann; es sind jene großen herrlichen Tage, wo die furchtsamen Herzen in Muth aufgingen, wo das fast Erstorbene wieder auflebte und in eindringender Rede der Geist Gottes sich offenbarte und mehr noch als das Haus, worin die zwölf Jünger des Herrn versammelt waren vom Sturm, mehr noch die Herzen vom Geiste erschüttert wurden und tief eindrang was sie hörten. – Wie stehen wir nun vor jenen großen Thaten, als von einem fremd gewordenen Wunder alter Zeiten, wovon uns kaum ein Andenken geblieben ist, als das geschriebene Wort, das wir lebendig zu machen suchen. So sollen wir wenigstens davor stehen; denn nicht 5 2Kor 13,13 als Kanzelgruß

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nur jenen war der Geist Gottes gegeben nicht nur anfangen sollte er die christliche Kirche sondern auch fortführen und vollenden, und sich in uns eben so, wie in jenen verherrlichen. Das müssen wir ja glauben den Bitten und Worten des Erlösers, der in das Gebet für seine Jünger alle mit einschloß, die durch ihr Wort an ihn glauben würden; das | müssen wir glauben den Worten der Jünger, die anfangs ihre Verwunderung bezeichnen, daß auf die verachteten Heiden, die Gaben des heiligen Geistes sich eben so niedergesenkt haben als auf sie; das glauben wir ihrem gewissenhaften Worte, da sie keinem den Brudernamen gaben, in dem sie nicht den Geist entdeckten, den sie in sich fühlten. Wohlan das sei das Werk und der Gegenstand unsrer jetzigen Versammlung, daß wir uns bewusst zu werden suchen und es froh und dankbar erkennen, daß der Geist des Herrn so in uns lebt und würkt, wie damals in den Jüngern des Erlösers und dazu sammle sich jeder in das Innre seines Herzens hineinzuschauen. Tex t.

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Apostelgesch. 2, 37.38.

Wie deutlich, m. A. spricht der Apostel es in diesen Worten aus, daß jene große Gabe des heiligen Geistes nicht gemeint war als eine vorübergehende Erscheinung jenes Augenblicks, daß nicht nur seine Brüder, die gegenwärtig waren allein sollten gewürdigt werden, daß der Geist Gottes in ihnen wohne und durch sie rede, sondern daß es ein gemeinsames Eigenthum sein sollte aller derer, die innerlich durch Sündenreinigung und Rückkehr zu Gott, äußerlich durch treues Anschließen an die Gemeinschaft, die Christus gestiftet hatte sich der Wohlthaten seiner Erlösung wurden theilhaftig machen. So ist sie denn, wie er sagt, auch unser, diese göttliche Verheißung, deren Erscheinung er in der vorhergehenden Rede schon in den Andeutungen der Propheten aufsucht; so ist sie auch in uns und jeder muß sie empfangen haben, der sich reuig und Buße thuend zu Gott gewendet und in der Gemeinschaft der Christen aufgenommen ist. Lasst uns nach Anleitung der Worte des Textes demnach erwägen: wie der Geist Gottes auch unser Besitz und Eigenthum ist I. wie er sich in der That in uns noch eben so offenbart II. wenn wir das nicht eben so lebhaft fühlen wie die Jünger des Erlösers, woran das wohl liegen mag | damit wir so am herrlichsten dieses Fest begehen. I. Der Geist Gottes offenbart sich in der That noch eben so an uns, wie an den Jüngern des Herrn. Ja gewiß, wenn wir auf das sehen was der Erlöser über diesen Geist sagt, den er erbitten und senden werde vom Vater wie er so oft auf das, was er in dieser Hinsicht sagt, den meisten Werth legt, und bedenken, was damals die größte Wirkung seiner Sendung war: so werden wir mit Dankbarkeit gestehen müssen, das Alles ist auch in uns.

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Erstens der Geist Gottes ist es, der unserm Gemüthe, unserm verlangenden Herzen Zeugniß giebt, daß wir Gottes Kinder sind. Wenn wir das erlangen dessen im Gefühl der höchsten Seligkeit bewußt sind, dann ist ja nicht die Rede von der Abhängigkeit in welcher alle Geschöpfe von Gott stehen, nicht darin allein, daß er unser Schöpfer und Urheber ist, welcher Überzeugung jeder überhängt, in dem menschliches Leben und Gefühle ist, theilen muß wenn er sich besinnt, sei er auch so fern von dem Ewigen, wie der Mensch nur immer sein kann. Auch ist dieses Zeugniß nicht etwa das Werk und die Folge unsrer guten Gott gefälligen Thaten. Was der Mensch aus eigener Kraft aus einem Rechte sich zusprechen kann, wo das Gewissen ihm nicht widerspricht und das Herz ihn nicht beschuldigt, o wir müssen aufrichtig sein und mit Beschämung gestehen, daß auch da, von den ersten reinsten Augenblicken des Entschlusses bis zur wirklichen Ausführung desselben gar viel Menschliches sich in das Göttliche mische und daß jede unsrer Thaten auch die gelungenste und vollkommenste das Zeugniß giebt, daß wir Kinder der Erde sind. – Sondern daraus, daß wir Gott suchen entsteht daß wir Gottes Kinder sind, eingemischt in die Geheimnisse seines Hauses daß das Innerste unsrer Gesinnungen der innerste Keim unseres Daseins von der Verwandschaft mit dem Ewigen, von der Ähnlichkeit mit ihm, davon zeugt, daß sein Ebenbild in uns aufgerichtet sei und dieses Zeugniß es kann uns nur daher kommen, daß der heilige Geist in uns ist. So deutlich wir es fühlen eben so müssen wir es bekennen, daß es nur eine Anmaßung wäre, ein zu vergebendes Eindringen in das Innerste Heiligthum, wenn wir | es uns geben wollten. Wer anders erkennt die Tiefen der Gottheit, wer erforscht ihr Wesen um so etwas auszusprechen, als allein der Geist, welcher von Gott ist. Zweitens. Es ist der göttliche Geist allein, der wie der Erlöser sagt, [der] es von dem Seinen nimmt und uns verkündet und in alle Wahrheit leitet. Sehen wir davon ab, daß wir Christen sind und fragen nach dem gewöhnlichen Wege, auf welchem der Mensch den Durst nach Wahrheit, der ihnen allen einwohnt, befriedigen und wie der Durst entstanden ist, was sehen wir anders als daß er geschieht aus einem Streit der Gedanken die sich untereinander entschuldigen und anklagen aus einem Zwiespalt der Meinungen in demselben Gemüth, das jetzt das Eine und dann das Entgegengesetzte glaubt und durch beides gleich berechtigt ist die Wahrheit zu suchen und zu finden, da beides von dem Grundsatze ausgeht, als Schein darzustellen, was das mit dem andern Streitende als Wahrheit darzustellen sucht und so sehen wir, woher den Menschen Wahrheit gekommen ist, daß das künftige Geschehende zerstört was früher der Keim aller herrlichen Handlungen war. Kann sich der Mensch damit befriedigen, kann er glauben, daß das eine aufhören könne ganz wahr zu sein, was vorher Zweifel war, 27–28 Vgl. Joh 16,13–14

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was er jetzt verwirft wird wieder sein Recht geltend machen und so ist auf diesem Gebiet Alles dem Zweifel unterworfen so ist hier keine ewige Wahrheit, sondern es giebt nur das unendliche immer wiederkehrende Forschen für den menschlichen Verstand. – Sehen wir aber darauf, daß wir Christen sind, daß Christus die Wahrheit ist und das Leben, so glauben wir auch rein, daß die Wahrheit von ihm entstehe. In Christo wohnt die Fülle Gottes und die heiligen Männer haben geredet, getrieben durch den heiligen Geist, aus diesen beiden ist uns entstanden das Wort der Schrift und in diesem meinen wir, daß das Leben in der ganzen Kraft des Geistes gezeigt und den | Christen verliehen sei durch die Gaben des Verstandes einzudringen in den Sinn des Wortes, es sich zu enträthseln und zu enthüllen und so werde ihm die Wahrheit aufgehen und er seinen Durst löschen aus dieser Quelle. Wahr ist es, aber wenn darin gesagt sein soll, daß nicht jeder Christ der Gabe des göttlichen Geistes bedürfe, sondern nur die frühern Schätze, die er gespendet hat sich anzueignen habe, dann ist es eben so falsch. Wohl wirkt der Geist Gottes durch das Wort Gottes, eben weil es ein zusammenhängendes die Menschen rettendes Leben ist und sich Alles an das Frühere anknüpft wie die Apostel sagen, daß ihre Schüler empfangen haben durch das Wort die Gaben des göttlichen Geistes und so ist es immer gegangen. Aber auch die Schrift wird nicht verstanden durch den Verstand allein, sondern nur der Geist versteht, was von Gott ist. Das zeigt ja die tägliche Erfahrung. Wie viele giebt es nicht unter uns, die es nicht von sich rühmen können, daß sie ausgerüstet mit allen Kenntnissen ein Wort aus so alter Zeit, aus einer ausgestorbenen Sprache, bezogen auf Sitten und Meinungen eines ganz fremden Volkes eben so klar und deutlich verstehen sollten als ein Wort unserer Sprache, die aber doch bezeugen, daß das Wort der Schrift in ihnen Kraft und Leben geworden ist, aber der Geist Gottes hat Zeugniß gegeben ihren Geist. Und wie viele giebt es nicht auf der andern Seite, die ausgerüstet mit allen Kenntnissen und Schätzen des menschlichen Geistes, aus einem wunderlichen Geschmack weil sie doch nicht eindringen in das Wort der Schrift sich damit beschäftigen. Mögen sie es auch für den Verstand enthüllen, es wird keine Kraft des Gemüthes, die Wahrheit ist nicht in dem todten Buchstaben, den sie herausbilden ohne von der Wahrheit geleitet zu werden, denn das vermag nur der Geist Gottes. Auch wir sind an beides gewiesen, wo das Verständniß der großen Gabe der Schrift und des Streites im Innern, der manchem dem das große Glück verliehen ist, in Einfalt des Herzens hinzugehen, wenig berührt, dem | aber keiner ganz entgeht in dieser Zeit. Das aber glaube keiner, daß daraus allein die Wahrheit kommt und das Leben, das zur Seligkeit leitet. O wir fühlen es auch, das Herz giebt denen Zeugniß, wo das Gefühl von der Nähe Gottes ist, wo der Geist unterscheidet was geistlich und fleischlich ist, vermag nicht der Streit der 5 Vgl. Joh 14,6

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Gedanken und Meinungen zu entstehen und kommt das Herz durch den Geist aus diesem Streit, o es trägt ein ganz anderes Gepräge, eine ganz andre Überschrift, als die Erscheinung nach menschlichen Gefühlen und jener Streit ist beschwichtigt so oft er auch unvermeidlich sich erneuern mag. Darum, was ist für uns alle die Quelle der Wahrheit und der Überzeugung, wer schafft es, daß wir können der Vorzüge als Christen froh werden? Es ist allein der Geist Gottes in uns. Endlich, überall wo Menschen in Liebe und Treue sich verbinden, um ein Werk Gottes auf Erden zu treiben, da überall ist der Geist Gottes thätig und würksam. Allerdings und mit Recht sehen wir es, als der menschlichen Natur für sich betrachtet, wesentlich und eigenthümlich an, daß der Mensch für sich allein nicht bestehen könne. Aus der Natur kommen die Bande und umschlingen und verbinden die Menschen in Liebe. Auch das ist freilich wahr. Aber fragt diese Tage, deren Andenken wir feiern, war es die Natur, die die Apostel hintrieb, daß sie die Kraft des heiligen Geistes ahneten, war es der Zug der Natur, der die ersten Gläubigen zu ihnen zog, war er es späterhin, der das auf seine Geschichte und seine Weisheit so stolze Volk der Griechen zu einem Volke hintrieb, daß so weit von ihnen stand und das sie als Barbaren verachteten! Eine Liebe, die so über den Zug der Natur hinausgeht und den Menschen verbindet, das ist auch keine andre als die Kraft des heiligen Geistes, vor der jeder Vorhang zerreißt und jede Scheidewand einfällt und die da trachtet alle Menschen umzubilden zu einer Herde unter einem Hirten. Aber wenn wir nicht mehr in uns dieses Streben entdekken können, wenn die Kirche Christi sich selbst genügt und nur wenige sich finden, welche den Völkern, die fern sind | das Christenthum verkündigen und das nur als eine fromme Neigung in wenigen Menschen vorkommt, sollen wir sagen, daß dieser Beweis uns fremd sei? Die Reinheit unsrer Liebe, die Treue in Allem, was wir als Gebot Gottes verehren, alle Anstrengung in seinem Beruf, alle Standhaftigkeit des Glaubens, die so weit hinausgeht über das, was der Mensch zu seinem Nutzen und Vortheil und gegen den unbewußten Zug der Natur unternimmt: ist uns eine gleiche Quelle der Vereinigung der Herzen. Wenn wir unter Menschen beim ersten Anblick die Freundschaft als das hohe Gefühl anerkennen, das solche, die sich sonst fremd bleiben werden, verbindet, dürfen wir sagen, jeder, der eine Seele hat, der er sich hingeben, kann es sich ja bewußt sein, daß seine Liebe und Freundschaft eben so stark sei, auch wenn er es nicht offenbart. Eben so ist es auch bei der Liebe zu Gott. Sie zeigt sich eben, wie in der Ausbreitung des Christenthums, in der Erziehung der Kinder, in der Aufrechthaltung aller Rechte der Menschheit, in der Beschützung aller Kräfte, die wir dem Erlöser verdanken, in der Vertheidigung auf die Gefahr des Todes und der Aufopferung alles dessen, was uns werth ist und das bürgt uns, daß es keine Kraft 21–22 Vgl. Mt 27,51–52; Mk 15,38

22–23 Vgl. Joh 10,16

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sei als Gottes, keine andre, als die der Geist Gottes in unsern Herzen entzündet.

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II. Wenn dem so ist, woran liegt es, daß wir uns des göttlichen Geistes nicht mehr so bewußt sind, als die Jünger Jesu Christi? – Denn daß es so ist, darf ich wohl nicht erst erweisen, sondern das gemeinsame Gefühl aller, wird dem Zeugniß geben. Aber wenn ich eine Antwort geben soll so weiß ich keine andre als die, der Geist Gottes ist der Geist des Glaubens und des Gebets und daß wir uns seiner nicht bewußt sind kommt daher daß wir nicht glauben genug und nicht beten genug. – Einige giebt es und hat es gegeben, welche bei der äußern Erscheinung mit ihren Gedanken hängen bleiben und meinen, weil der Geist Gottes nicht mehr wunderbar erscheine, sei er nicht mehr so lebendig. Aber kann er sich | denn jetzt uns so zeigen, als da er zuerst erscheint? Ist es nicht natürlich, daß sich auch nicht [das] in der fortgehenden Welt ereignet, was sich bei der entstehenden ereignet? Je mehr der Geist sich beschränken mußte sein Werk in den Herzen der Menschen zu treiben, desto mehr verschwand jene Erscheinung, aber was die Apostel von dem Geiste Gottes sagen, eben daß er in uns zeuge daß wir Gottes Kinder sind, daß er uns in alle Wahrheit leite und unser Gemüth in Liebe entzünde, sagen sie unabhängig von dieser wunderbaren Erscheinung und sollte deswegen, weil die Kirche Christi nicht mehr in ihrer ersten Jugend ist, die eigenthümliche Kraft ihres ersten Lebens verschwunden sein? Freilich, Alles was erst erscheint macht größere riesenhafte Fortschritte und späterhin ist es nicht so, aber ist nicht die Kraft, welche Knospen und Blüthen hervortreibt, dieselbe, welche den Baum entstehen ließ, und ist die Rede des Menschen, worin er seine Gedanken kund giebt nicht dieselbe, deren er sich auf eine unbegreifliche Weise in den ersten Tagen der Kindheit bemächtigt? und so, der Geist, der in uns lebet, er ist derselbe, der über die Jünger des Herrn ausgegossen wurde, der uns in alle Wahrheit leitet, ist derselbe, der ihnen aufschloß den Sinn der Schriften des alten Testaments, ihnen die Sendung des Erlösers begreiflich zu machen, und eben so, wo das Wort in der Schrift uns ergreift, es ist dieselbe Kraft des göttlichen Geistes. Wohlan, so lasst uns über den äußern Schein uns hinwegsetzen und die innere Macht und Kraft des Glaubens haben, so werden [wir] den göttlichen Geist fühlen, daß wir durch ihn getrieben werden reden und handeln durch den denselben Geist, wie die Apostel. – Aber freilich, was uns im Wege steht ist, daß wir gewohnt sind, wie die Menschen in dieser Zeit Alles zerlegen, und auch zu sehr die Werke des göttlichen Geistes zerlegen und so ihren Zusammenhang verlieren. Alles, was der Geist Gottes wirket und thut und es in und durch Menschen wirkt, muß ja menschliche Gestalt annehmen und auf diese sehen wir zu sehr und erscheint uns der göttliche Geist, wie er schlichtet den | Streit der Gedanken und Meinungen, so meinen wir, das sei aus dem Streite selbst hervorgegangen. Es muß der

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eine gehorchen, der andre befehlen und nehmen nun unsre Thaten diese Gestalt an, so meinen wir, wir gehorchten nur den fremden Befehlen und was wir gethan[,] wäre nicht geschehen, wenn jener der befahl, nicht zuerst den Gedanken in sich getragen; aber es ist dieselbe Kraft, die dem Einen giebt das Gebieten dem Andern das Gehorchen. Damit aber nichts das Gefühl des Göttlichen uns raube, so lasst uns beten, recht oft beten wie der Geist Gottes ist ein Geist des Gebets. Wozu ist dem Menschen die Kraft gegeben sich zu weilen allem Getümmel der Welt und allen Beschäftigungen auch den löblichen zu entziehen, wozu, wenn wir uns nicht von dem Mannigfaltigen und Bunten entfernen wollten und in die Einsamkeit des Herzens zurückkehren, wo uns kommen wird was Gott will. Wozu ist diese Gemeinschaft der Christen gestiftet, wo sie sich versammeln Bitten zum himmlischen Vater zu bringen, wenn wir nicht jenes Zeugniß des göttlichen Geistes aufs neue fühlen, daß es seine Kraft ist, die hierher uns treibt und die draußen unsre Werke fordert. O Beides, den Segen der Gemeinschaft des Glaubens und des Gebets lasset uns benutzen, so werden wir uns über die dürftigen Ansichten der Welt erheben, so wird sich in uns das Bewußtsein beleben, daß Gottes Geist in uns ist, denn der Glaube an ihn, dieser Glaube ist doch allein der Sieg, der die Welt überwunden hat. Wohlan, so lasset uns an diesem Feste der Pfingsten diese Gemeinschaft des Glaubens und des Gebets erneuern. Dasselbe Verlangen, das die Jünger entzündete vom Erlöser zu reden und zu sagen, daß seine Verheißungen in Erfüllung gegangen sind, dasselbe Verlangen entzünde auch uns, daß wir ihn verkünden durch Wort und That | und nichts begehen als das Zeugniß der Kindschaft Gottes und nichts begehen als sein Werk zu fördern unter jeder Gestalt, sie sei betrübend oder erhebend, daß wir seinen Geist in uns aufnehmen und seine Kraft wachse für uns und die künftigen Geschlechter. Amen.

19–20 Vgl. 1Joh 5,4

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Am 21. Mai 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge: Texteditionen: Andere Zeugen: Besonderheiten:

Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 2Kor 1,20–22 Nachschrift; SAr 36, Bl. 54r–59r; Pischon Keine Keine Keine

Predigt am Sonnt. Trinitatis 1815.

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Die Gnade etc.

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Eingang M. chr. Fr. Mit der Feier der Ausgießung des göttlichen Geistes über die Jünger des Herrn, welche wir neulich begangen haben, ist abermals der Kreis der kirchlichen Feste für dieses Jahr geschlossen. Die Erscheinung des göttlichen Sohns auf Erden; sein heiliges gottgefälliges Opfer, seine Verklärung, und die von ihm uns allen erbetene Ausgießung seines Geistes, das Alles ist abermals unserm Herzen vorgehalten worden. Und indem wir heute besonders an diese Offenbarungen Gottes, die das Eigenthümliche im Christenthum ausmachen zu denken angewiesen sind, erfreuen wir uns gewiß an einem vorzüglichen Grade der Erkenntniß der Liebe Gottes und der Tiefe seiner Barmherzigkeit, die uns allen dadurch geworden ist, freuen uns gewiß besonders der Festigkeit, die durch so viele Jahrhunderte der beseligende Glaube der Christen gewonnen hat, der Sicherheit, mit welcher der Bund, den Christus gestiftet hat, besteht. Aber wer möchte nicht auf der andern Seite ins Gemüth kommen, wie Alles in der Welt der Veränderung unterworfen ist. Wie viele Weisen hat es nicht früher gegeben Gott zu verehren und die, wenn gleich dunkle Ahnung des höchsten Wesens festzuhalten und fortzupflanzen, und sie sind alle in der Fülle der Zeit vorübergegangen, die meisten aufgelöst durch das helle Licht der Erkenntniß des christlichen Glaubens. Aber wird nicht dieses auch seine Zeit haben und sein Ziel und wird nicht auf dem Gebiete des christlichen Glaubens und der Gemeinschaft der Christen in fernen Jahr|hunderten vielleicht, und auf eine Weise, die wir uns nicht vorzustellen vermögen, von einem andern Ge2 2Kor 13,13 als Kanzelgruß

5 Vgl. 15. Mai 1815 vorm.

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schlechte eine andre Weise Gott anzubeten entstehen, welche auch das Christenthum wieder verschlingt? Diese Frage verneinen uns so manche Worte der Schrift, die den Glauben ausdrücken an die Unerschütterlichkeit dessen, was der Sohn Gottes gegründet hat, es verneinet sie auf der einen Seite auch unser Gefühl aber auf der andern Seite fühlen wir uns gedrungen uns von diesem Gefühle Rechenschaft zu geben, weil es auf dieser Erde schon ein Unvergängliches aufstellen will. Lasst uns sehen, ob wir gemeinschaftlich uns von der Wahrheit desselben zu durchdringen vermögen unsre Hoffnung zu sättigen und zu fühlen, daß nichts übrig geblieben ist, wodurch Gott die Menschen beseligen wolle, und wir nicht zu fürchten haben, es werde das Licht wieder von den Söhnen der Erde genommen und sie in die alte Finsterniß zurückgestürzt werden. Diese Hoffnung und worauf sie sich stützt, lasset uns erwägen. Tex t.

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Wenn der Apostel sagt, daß in dem Erlöser alle Gottesverheißungen Ja sind und Amen, so bekennt er sich also zu der Überzeugung, daß durch die Offenbarungen Gottes in Christo Gott die ganze Fülle seines Wesens dem menschlichen Geschlechte geschenkt hat, daß Alles was als eine wirkliche Verheißung Gottes kann angesehen werden nun auch in Erfüllung gegangen ist und er also wieder etwas Größeres und Herrlicheres noch für das Geschlecht der Menschen zu erwerben habe, noch auch daß diese Verheißung, welche er also befestigt hat, wieder konnte zurückgewonnen werden und verloren gehen, denn dazu sagt der Apostel sind wir bekräftigt und versiegelt und ist das theure Pfand des | Geistes in unser Herz gegeben. So lasset uns nach Anleitung der Textworte der Hoffnung uns getrösten daß in Christo uns alle Gottesverheißung erfüllt sei.

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Lasst uns in Beziehung auf das Vorhergesagte sehen I. wie sich das zu allem Früheren verhält, was Gott in diesem Sinn an den Menschen gethan hat und II. es wohl im menschlichen Gemüth irgend ein wahres Bedürfniß ist, das uns über das in Christo Gegebene hinaustreibe, so daß irgend ein Mensch mit Grunde nach eines andern warte. I. Wenn wir zuerst fragen wie sich die Erfüllung der göttlichen Verheißungen in Christo zu Allem verhalten, wodurch Gott sich den Menschen früher nicht hat unbezeugt gelassen, so dürfen wir nicht etwa nur auf die frühere göttliche Offenbarung sehen, woraus sich das Christenthum entwikkelt hat, sondern auf Alles, was als eine Gottesverheißung da war und auf irgend eine höhere Offenbarung des göttlichen Wesens zurückgeführt 15 alle] alles

21 noch] nach

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wurde. Denn wir würden unrecht thun, wenn Alles, was uns an dem Orte auf welchen wir gestellt sind als Wahn und Aberglaube erscheint nur als Täuschung eines finstern Geistes ansehen wollten, viel mehr ist in Allem, wodurch sich das göttliche Wesen geäußert hat, in dem Allen ist Wahrheit, ist ein Zeugniß Gottes gewesen, wie der Apostel sagt, daß sich Gott von jeher nicht habe unbezeugt gelassen, daß von jedem Menschen seine ewige Kraft und Gottheit habe ersehen werden können und sei ersehen und dunkel geahnt worden aus den Werken der Welt, sind daß nur die Verkehrtheit der Menschen den Irrthum beigemischt habe. Was der Erlöser selbst sagt von den frühern Offenbarungen seines Volks, er sei nicht gekommen sie zu zerstören, sondern sie zu ergänzen und vollkommen | zu machen, das gilt auch für den früheren Wahn der Menschen. Das Christenthum ist gekommen nicht auszurotten, sondern aus der Asche hervorzusuchen den reinen göttlichen Funken und zu einer schönen Flamme anzufachen, als ja in den Herzen der Menschen gebrannt hatte, auch ihnen ist das Christenthum gekommen zu ergänzen und vollkommen zu machen. Wie das frühere jüdische Gesetz nichts gewesen als anzudeuten, was durch Christum vollkommen geworden ist, davon giebt die heilige Schrift Zeugniß und niemals in einem größern Zusammenhang als in jenem merkwürdigen Briefe an die Hebräer, der unsern heiligen Schriften einverleibt ist. Aber dasselbe lässt sich sagen von den Völkern, die wir Heiden nennen und auf eine niedere Stufe der Gotteserkenntniß stellen. Was von jeher unter ihnen die Menschen in verschiedener Gestalt gesucht haben theils die Ausgezeichneten unter ihnen darzustellen als aus einer besondern Herablassung und Vermischung göttlicher Wesen mit menschlichen Naturen entstanden; theils durch Dichtung zu ergänzen, was ihrer frühern Geschichte abging; was ist es anders gewesen als die Ahnung von jener herrlichen Erkenntniß, daß wirklich das göttliche Wesen in menschlicher Natur herabgestiegen sei, was anders als eine freilich unvollkommene und wie der Apostel sagt durch Thorheit und Lüste verunstaltete aber doch gewisse Andeutung und Vorahnung dessen, der allein war der Sohn Gottes in der Fülle der Zeit. Wenn die Menschen von jeher gewohnt gewesen sind Opfer und Gaben darzubringen, so war es nicht nur eine Ahnung davon, daß dem Menschen Alles, was er von der Natur empfängt von göttlichen Händen herabgekommen sei; sondern die größten und herrlichsten ja die schauderhaftesten Opfer waren Anerkennung davon, wie viel der Mensch hinzugeben vermag um das Gefühl des göttlichen Zornes von sich abzuwälzen und sich frei von Schuld dem göttlichen Wesen gegenüber zu stellen; was sind sie anders gewesen die blu|tigen Opfer, nicht nur der Thiere, nicht nur der Kühe und der Böcke Blut, sondern auch der Menschen, das geflossen ist an heiliger Stätte, was anders als eine Vorausdeutung dessen, der sich selbst ohne Wandel Gotte 3–9 Vgl. Röm 1,19–23

10–12 Vgl. Mt 5,17

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geopfert durch den heiligen Geist, was anders als das unausgebildete Gefühl, das sich nun an Christi Opfer anschließt, daß wir schuldig sind alle unsre Kraft Gott zu opfern und kein anderes Gefühl davon tragen wollen als daß wir unnütze Knechte sind. Wenn die Menschen von jeher heilige Stätten gebaut und ausgeschmückt haben um dort der Verehrung des göttlichen Wesens sich hinzugeben, dort ihre Bilder aufzustellen und ihre Sprüche zu vernehmen, was ist es anders als dasselbe Bedürfniß den Gott, der uns überall gegenwärtig ist, aber in dieser Allgegenwart so fern als nah, diesen durch eine enge Verbindung in sich hinein, wenn es nicht anders sein könnte, zu zaubern; was anders als eine Vorandeutung davon, daß auch nicht in Tempeln mit Händen gemacht, Gott wohnt, sondern das Herz des Menschen zu einem Tempel sich erkoren hat, wohinein er sich senken will, des Glaubens in dem wir jetzt Gott anbeten, so daß alle heiligen Stellen zu nichts mehr da sind, als die zu sammeln und zusammenzuhalten die Tempel des Höchsten sind und seines Geistes. Wenn von jeher die Menschen mit begierigem Ohre gelauscht haben auf alle die, von denen sie fühlten, daß sie von einem höhern Geiste ergriffen und beseelt seien, wenn sie überall in dem Gefühl eigner Erhebung zu Gott viele andre zwischen sich gestellt haben und das höchste Wesen, durch welche sie Kunde bekommen von seinem Wissen und Willen, was ist es anders als die Sehnsucht, daß der Ewige sich uns offenbaren möchte, die Sehnsucht nach einem Wort aus seinem Munde aber menschlich gebildet und vernehmlich, was uns nun erfüllt ist seit das ewige Wort Fleisch geworden ist und wir die Herrlichkeit des eingebornen Sohnes Gottes schauten und wir aus seinem Wort und dem seiner Jünger schöpfen | können aus der unversiegbaren Quelle der Erkenntniß des Lebens. Wenn die Menschen von jeher in zweifelhaften Fällen hingegangen sind, an die ausgezeichneten Stellen von denen sie glaubten, dass ein höheres Wesen da rede, um zu vernehmen, was recht sei oder rathsam zu thun, was war es anders als das Gefühl, daß der Mensch sich allein nicht genug sei, daß er seinem eigenen Urtheil nicht trauen dürfe, sondern von oben ihm gezeigt werden müsse, was nicht sei; als dasselbe Bedürfniß nach Sicherheit des Gewissens und der Überzeugung, welches immer dringender und lauter zum Himmel rief um herabzuziehen was es bedürfe in seiner Nichtigkeit und was aufs Herrlichste erfüllt ist nach dem Gott den neuen Bund gemacht hat, in dem alle sagen können, sie seien von Gott gelehrt und niemand bedarf einen andern Spruch zu hören als in dem von Gott erleuchteten und befestigten Herzen. Und wenn von jeher aus der großen Gesellschaft der Menschen heraus sich kleinere Häuflein gebildet haben unter der besondern Leitung derer, die für mehr erleuchtet von Gott gehalten wurden, und einen Bund schlossen andern unzugänglich und unzudringlich, was war es anders als das oft freilich mißleitete und gemißbrauchte Verlangen nach einer Liebe, die einen höheren Grund hat als Befriedigung irdischer Bedürfnisse, nach einer Anhäng-

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lichkeit, die auf etwas viel Anderem beruht, als die Verhältnisse der Natur, nach einem Leben, das von einem tieferen Geiste ausgehend alle durchdringe und eine Einsicht erhalten und fortpflanzen sollte, die dem großen Haufen unbekannt blieb eine Kraft festhalten die auf künftige Zeit fortginge, was anders als eine Vorandeutung und Äußerung jener in dem Menschen nie ersterbenden Sehnsucht nach dem geistigen Leben in Gott, die nur erfüllt wird in der Kirche Christi, die wie der Apostel sagt, in unsre Herzen gegeben hat das Pfand, den Geist, in der aufbewahrt sind das Gesetz Christi Gottes des Nächsten, an welcher sich alle Entwickelungen | des göttlichen Geistes anschließen mögen, aber nichts im Stande ist diese unergründliche Kraft aus Gott jemals zu erschöpfen. – So verhält sich das Christenthum zu allem, was früher unter den Menschen als Sehnsucht nach Gott und Gemeinschaft mit ihm sich zeigt, so die Vollendung, die an die Stelle getreten ist, des früheren kümmerlichen Anfangs des reinen Werkes Gottes, getreten ist an die Stelle dessen, was die Thorheit der Menschen immer verunstaltete. So finden wir denn in dem großen Geheimniß des Christenthums die Befriedigung Alles dessen, was das menschliche Herz jemals gewünscht hat, den fernen Gott nahe zu haben als eins geworden mit der menschlichen Natur und da wir ihn doch nicht anders denken und zu ihm reden können als auf menschliche Weise das Abbild seiner Herrlichkeit zu besitzen in menschlicher Gestalt, so haben wir darin das trostreiche Bewußtsein, daß das Edelste im Menschen nichts ist als das Göttliche, der Geist Gottes selbst ausgegossen in ihn. Was bleibt dem Menschen weiter zu wünschen als zu leben unter dem, der das große Vorbild aller ist, das Haupt, das Alles regiert, der König der die ganze Gemeine beschützt. II. So fragen wir zweitens, was kann uns in dieser Erfüllung der göttlichen Verheißungen in Christo fehlen und wie können wir glauben, es könne eine ferne Zeit Größeres bringen. Denn daß Gott die in Christo erfüllten Verheißungen nicht nehmen, wir nicht zurückfinden können in die alte Macht dafür bürgt uns die göttliche Veranstaltung in der christlichen Kirche und die Stimmen unsers Herzens, daß so gewiß wir sie nicht entbehren können, sie die edelsten Gaben sind, die wir dem menschlichen Geschlecht hinterlassen können[,] sie [die] Gott auch nicht werde untergehen lassen. Aber jene Frage bedarf einer Beantwortung, weil sie sehen, daß zu allen Zeiten, vorzüglich, wir sagen es vielleicht mit Unrecht, in der unsrigen es Menschen giebt, denen das | Christenthum nicht genügen will. – Es sind deren zwei entgegengesetzte Arten. Einige scheinen nicht genug zu haben an den Geheimnissen der göttlichen Offenbarung, streben nach einer andern Vereinigung mit Gott als dadurch, daß er das Pfand, den Geist ins Herz gegeben wollten tiefer eindringen in das, was Gott den Menschen verbor1 Anderem] Anderes

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gen hat, wünschen sich ein Vermögen in die Zukunft dieses Lebens hineinzusehen, brauchen das heilige Wort, welches allein nütze ist zur Heiligung, zur Besserung in der Gottseligkeit, dazu um aus dem selben enthüllen zu wollen, was dem Menschen bevorsteht, suchen darin den Schlüssel zu Ereignissen ferner Zeiten und was nur für die nahe Zukunft, als die lautere Milch des Evangelio, den frühen Christen gesagt ist oder was gar nicht dort im Zusammenhange steht mit der Zukunft mißbrauchen sie auf diese Weise. So scheint es, sie fühlen ein Bedürfniß nach einer andern Offenbarung, was nichts anders ist als sich über den erheben wollen, der von sich selbst sagt: Zeit und Stunde zu wissen ist den Menschen nicht gegeben, sondern das hat der Vater seiner Macht vorbehalten. – Oder sie möchten enträthseln die Geheimnisse eines künftigen Lebens und seine Gestalt sich deutlicher ausbilden, als weder Christus noch seine Apostel es gethan haben, was ist das anders als sich mit dem nicht begnügen wollen, womit der Jünger den Christus am liebsten hatte, sich begnügte, sich mit dem Worte nicht begnügen wollen: es ist noch nicht erschienen, was wir sein sollen; was anders als eine Ungenügsamkeit mit dem Leben, was wie der Erlöser sagt, alle schon haben, die an ihn glaubten. Sollen wir denken, daß das würkliche Bedürfnisse sind? Wir sollen nicht den Schleier der irdischen Zukunft lüften wollen, sondern streben nach der höchsten Vollkommenheit, daß der Mensch sei zu allen guten Werken geschickt, die der Vater von ihm fordern wird. Das Höchste, was der Mensch | für die Zukunft zu thun hat besteht darin, daß der Knecht wachsam sei, wenn sein Herr kommt, und hielten das die Menschen fest, es würde ihnen nicht begegnen, daß sie die höhere Kraft Gottes in Christo gegeben nicht benutzten und anwendeten; hätten sie sich ganz dem Geiste Gottes hingegeben, erfreuen sie sich seiner Kraft so würden sie das Bewußtsein haben, daß es ihnen an nichts fehle, hätten sie den Eifer sein Werk zu thun und seine Befehle auszurichten, sie würden nicht Zeit haben nur eitlen Sorgen nachzuforschen, hätten sie das ewige Leben im Herzen, fühlten sie den Geist Christi in sich, sie würden nicht danach fragen in welcher besondern Gestalt, wenn der Schauplatz dieses Lebens geschlossen ist sie Gott und Christum in sich haben, in ihm und für ihn leben würden, denn daß was einmal mit Gott geeinigt ist in sich unvergänglich ist und ewig, das würde ihnen ihr eignes Gefühl sagen und sie würden genug daran haben, wie alle wahren Verehrer Gottes daran genug gehabt, gingen sie nur und schöpften mehr aus der Quelle der Evangelii, erfüllten sich mehr von dem Geiste Gottes, den sie haben oder haben können, sie würden nichts weiteres bedürfen und nur sagen mit dem Apostel: o welch eine Tiefe der Weisheit und Erkenntniß Gottes. 26 erfreuen] erfreute

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39 Vgl. Röm 11,33

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Aber die andern, denen das Christenthum nicht genügt, das sind die welche eben jene heilige Geschichte, in welcher uns offenbart ist das Einssein Gottes mit der menschlichen Natur für eine falsche oder überflüssige Erfindung erklären wollen, welche in diesem Geheimniß keine Nahrung des Geistes zu finden wissen, vor menschlicher Weisheit die göttliche verkennen und von denen man sagen muß, daß da sie weise sein wollten[,] sie, wie der Apostel sagt, Narren geworden sind; es sind die, welche meinen das Christenthum müsse etwas Vergängliches sein, die menschliche Vernunft könne sich nicht davon überzeugen, welche uns Christum | verwandeln möchten in einen etwas ausgezeichnetern Menschen als andre, dem da freilich eine besondre Weisheit verliehen gewesen sei, auszurichten, was ein anderer nicht ausgerichtet, welche möchten verwandeln den göttlichen Geist Gottes in die allmählich wachsende und wechselnde Überzeugung und Einsicht des menschlichen Verstandes. Wohlan, wenn wir ihnen folgen, was wird daraus entstehen, als daß wir uns wieder in den Platz setzen, wo die Sehnsucht nach dem Höhern angefangen hat; so ist uns Gott der Allgegenwärtige aber eben so ferne und aus dem Innern des Herzens ausgeschlossen, so ist er der Unausdenkbare und Unaussprechliche, werden wir aber nicht und welche Kraft werden wir in uns haben, wenn sie nicht mehr das ausgesprochne Gefühl ist, daß wir Gottes Kinder sind. Würde nicht derselbe Kreislauf von neuem anfangen müssen; wenn es möglich wäre daß die Menschen von Christo sich zurückziehen könnten, was wäre es anderes als auflösen die Gemeinschaft mit Christo dem Haupte und warum sollte nicht jeder denken einen höhern Grad zu ersteigen und, wenn das Glück gut wäre den Menschen mehr sein zu wollen als Christus gewesen; es wäre vorbei mit der einen Heerde und dem einen Hirten, die Menschen würden einsam in die Irre gehen und vorbei wäre das Bestreben sie zu sammeln bis wir wieder auf den Punkt kämen, auf dem wir durch Gottes Gnade lange stehen. Ja denen so nicht genügt das sind die, die den Sohn Gottes mit Füßen treten, das Blut des Bundes verachten und den heiligen Geist Gottes schmähen. Aber wie ihre Stimme so laut sie auch ertönt ist, doch wieder verhallt und die Menschen inne werden, daß in dieser eingebildeten Weisheit nicht die Kraft ist, die den Menschen geschickt macht zum ewigen Leben, dies die Einsicht nicht ist, die sie mit Gott vereinigt: so kehren sie wieder vom Bedürfniß des Herzens getrieben zu ihrem Führer Christo, glauben wieder an die Offen|barung und Versöhnung des Sohnes an die Heiligung des Geistes werden wieder durch Gottes Barmherzigkeit gespeiset und getränket durch den Sohn Gottes. So ist es nichts als ein Kreislauf der menschlichen Schwachheit was uns nach anderem trachten lässt, zum Zeugniß, wie wenig wir sind ohne Gottes Gnade, die sie im Christenthum zeigt und es nie wird untergehen und verachten lassen, und was ein Bedürf6–7 Vgl. Röm 1,22

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niß scheint nach Größerem ist nur die Unlust zu brauchen und sich zu halten an dem was Gottes Gnade gegeben hat. So bleiben wir dabei, alle Gottesverheißungen sind in Christo Ja und Amen Gott zum Lobe durch uns, ja Gott zum Lobe durch uns. Unser Leben möge seine Gnade preisen daß sein Zeugniß sich fortpflanze auf die künftigen Geschlechter, für keine Wohlthat lasset uns ihm mehr danken als für das Eine, wodurch wir alle gerettet werden können, dafür allein durch Wort und That ihm danken, daß er den Sohn geschenkt hat und daß das ewige Pfand seiner Gnade auch ausgegossen ist in unsre Herzen. Amen. Ewiger Vater, der Du Dich Deinen Kindern offenbart hast durch Deinen Sohn und ihm Zeugniß giebst in ihnen selbst durch Deinen Geist, der sie vertritt bei Dir und mit unaussprächlichem Seufzen, o laß uns und alle, die mit uns den Namen Christen führen, laß uns diese Deine Gnadenwohlthat recht erkennen, dich recht erkennen im Lichte des Sohnes und zu Dir gezogen werden, o komm und mache Wohnung in uns durch Deinen Geist, daß Christus in uns sei und wir mit Dir eins werden und so bilde uns immer mehr aus zu dem Volke des Namens werth ein priesterliches Volk zu sein, werth den Namen Deines Sohnes zu tragen und fortzupflanzen auf die künftigen Geschlechter. Amen.

Am 22. Oktober 1815 vormittags Termin: Ort: Bibeltext: Textzeuge:

22. Sonntag nach Trinitatis, 9 Uhr Dreifaltigkeitskirche zu Berlin 1Kön 8,56–58 Drucktext Schleiermachers; Predigt am 22. Oktober 1815, 1815, S. 1–20 Wiederabdrucke: SW II/4, 1835, S. 51–64; 21844, S. 84–97 Zwei Predigten, 1863, S. 21–35 Sämmtliche Werke, ed. Grosser Bd. 5, 1877, S. 41–52 Andere Zeugen: Keine Besonderheiten: Keine

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Predigt am Zwei und Zwanzigsten Oktober in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung 1815. |

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Ein Fest des Friedens zu feiern, danach sehnen wir uns Alle, schon seitdem dieser unerwartet erneuerte blutige Krieg zum andernmal siegreich beendet ist, der mit den früheren Jahren des Unglücks und der Unsicherheit einen Zeitraum bildet, welchen wir, wenn er gleich nie aus unserm und unserer Nachkommen Gedächtniß verschwinden darf, doch gern einmal abschließen möchten um, ihn als etwas vergangenes hinter uns stellend, uns dem neu und schöner beginnenden friedlichen Leben gemeinsam zu widmen! Ein Fest des Friedens sehnten wir uns zum Eintritt in diese neue Zeit zu begehen, an dem wir mit vollen frommen Zügen die Freude über die herrlichen Thaten unseres Volkes und das wohlerworbene Vertrauen auf die Zukunft stärkend und erbaulich genössen. Ehe uns aber noch dieser Wunsch gewährt wird, da das große Werk nur langsam reift, erscheint uns der heutige Tag durch eine zwiefache Feier ausgezeichnet. Die Eine ein allgemeines Fest unseres gesammten deutschen Volkes, das frische Andenken an die blutigen und verhängnißschweren aber auch entscheidenden und ruhmvollen Tage von Leip6–7 Am 1. März 1815 kehrte Napoleon aus seiner Verbannung zurück und begann im Juni den Belgienfeldzug. Bei der Schlacht von Waterloo am 18. Juni 1815 war Napoleon endgültig geschlagen und die Napoleonischen Kriege waren beendet. 19–8 Die Völkerschlacht bei Leipzig fand vom 16. bis 19. Oktober 1813 statt.

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zig, an jene Kette von Schlachten, welche zuerst dem Kampf, wo alles was dem Menschen | theuer ist zum letztenmal, wie es schien, auf dem Spiele stand, die entscheidende Wendung gab, durch welche nicht nur diejenigen Staaten Deutschlands sich gesichert fühlten, welche so glücklich gewesen waren kühn vorangehn zu dürfen, sondern auch die andern entledigt wurden und ihrer Kräfte mächtig, so daß nicht länger zweifelhaft bleiben konnte, o Deutschland ein Land der Dienstbarkeit sein werde oder der Selbständigkeit. Die andere Feier dieses Tages ist eine besondere schon alterthümliche, für das ganze Reich unseres Königes. Denn wie sollten nicht auch alle dem Zepter seines Hauses später unterworfene Provinzen den herzlichsten Antheil nehmen an dem zum viertenmal sich wiederholenden hundertjährigen Gedächtniß des Tages, an welchem der erste Hohenzollern als Beherrscher dieser brandenburgischen Mark, die Gelübde der Treue von den Eingesessenen empfing. Willkommen vereinigen sich uns heute diese beiden hochwichtigen Begebenheiten zu Einem Feste. Denn fragen wir uns, was uns am tiefsten und heftigsten bewegte in den traurigen Zeiten die diesem blutigen Kriege vorangingen? Es war die Besorgniß, daß die freie Herrschermacht unseres Königes noch mehr möchte gebeugt werden unter fremde Gewalt, oder daß diese frevelnde Gewalt, welche schon so vieles gewagt hatte, zuletzt auch noch ihre zerstörende Hand legen möchte an das geheiligte Band zwischen diesen Ländern und ihren angestammten Beherrschern. Und fragen wir uns weiter, was hat wohl jetzt möglich gemacht, daß unser preußischer Staat ungünstig gelegen, aus verschiedenartigen Theilen zusammen gesetzt, durch lange Leiden entkräftet, dennoch so vieles hat beitragen können zur Befreiung Deutschlands, zur Sicherung Europens? Wir werden alle zuerst darauf zurükkommen, es war der mächtige Einfluß jener das innerste Leben durchdrin|genden Liebe und Ergebenheit, womit alle Provinzen des Staates und alle Stände aller Provinzen dem König und seinem erhabenen Hause zugethan sind, das geistigste Werk der Jahrhunderte, das sich still für diese großen entscheidenden Wirkungen gesammelt hielt. – Und auch zu einem frommen Feste vereinigt sich beiderlei Angedenken. Denn frommer sich hingebender Muth war es, der an jenen blutigen Tagen das Vaterland rettete, und fromme Treue hat Jahrhunderte hindurch das Band zwischen unsern Fürsten und ihren Völkern fester geknüpft und geheiliget. Beides also will auch fromm gefeiert sein, nicht nur still im einsamen Nachdenken und im engern 8–15 Am 21. Oktober 1415 nahm der Nürnberger Burggraf Friedrich, den der König Sigismund am 30. April 1415 eingesetzt hatte, die Huldigung der Stände der Markgrafschaft Brandenburg als neuer Markgraf entegegen.

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Kreise, nicht nur in lauter überströmender Freude; sondern zuerst wollen wir im Hause des Herrn in gemeinsamer Andacht dies zwiefache Fest begehen, für beides unsern Dank und unsere Gelübde vor Gott zusammenführend. Laßt uns dazu den Herrn um seinen Segen anrufen im Gebet des Erlösers. Text. 1 Kön. 8, 56–58. Gelobet sei der Herr der seinem Volk Ruhe gegeben hat! der Herr unser Gott sei mit uns, wie er gewesen ist mit unsern Vätern! Er verlasse uns nicht und ziehe die Hand nicht ab von uns zu neigen unser Herz zu ihm, daß wir wandeln in allen seinen Wegen, und halten seine Gebote.

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Dies, m. a. Fr. sind Worte eines Königes an sein Volk, eines Königes, der den Frieden seines Landes gesichert, die Grenzen seines Gebietes erweitert, sein Volk durch vortheil|hafte Verbindungen und durch ausgedehnteren Verkehr mit andern Völkern zu größerem Wohlstande erhoben, und indem er Weisheit und Kunst unter seinen Unterthanen verbreitete, sie dieses Wohlstandes werth gemacht hatte, so daß Macht und Ansehen seines Staates unter seiner Regierung den höchsten Gipfel erreichte. Und Worte eines frommen Königes sind es, der für alles dieses nur den Namen des Herrn erhöhte, und dem nichts so am Herzen lag, als in treuer Anhänglichkeit an dem göttlichen Geseze sein Volk zusammenzuhalten. Worte demnach, ihrer Veranlassung und ihres Inhaltes wegen gleich geeignet, daß wir sie unserer heutigen Betrachtung zum Grunde legen, um diesen Tag würdig zu feiern. Sie werden uns darauf führen, wofür wir heute Gott danken, und was für Wünsche und Gelübde wir vor ihn bringen sollen. I. Gelobet sei der Herr, sagt Salomon, der seinem Volke Ruhe gegeben hat. Das kann vielleicht manchem theils wenig scheinen, wenig für die hochfliegenden Wünsche der Menschen, zumal wenn sich an einem feierlichen Tage ihr Blick über einen weiten Zeitraum verbreitet, wenig auch, und vielleicht nur ein mindernd bescheidener Ausdruck in dem eigenen Munde, für die großen Thaten jenes Königes, theils auch scheint es manchem vielleicht heute noch unpassend für uns, die wir immer noch nicht gänzlich beruhiget sind durch die sichere Kundmachung eines wirklich gestifteten Friedens. Aber, meine theuren Freunde, Ruhe ist nicht einerlei mit dem Frieden von außen. Denn wie mitten im äußeren Frieden Unruhe sein kann und Angst, das wissen wir aus unserm eigenen traurigen Beispiel, und wir sehen es auf eine andere Art an schauderhaften Beispielen in der Ferne. Und 15 ausgedehnteren] ausgedehnteres

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wie auch mitten im Kampfe nach außen die glückseligste | Ruhe vorhanden sein kann im Innern, wie lebhaft muß uns das heute vorschweben im Andenken an jene glorreichen Tage, nach denen der Kampf noch lange genug fortgedauert hat, und nicht mit immer gleichem Erfolge, ohne daß doch im mindesten unsere Ruhe wäre gestört worden. Diese Ruhe ist also vielmehr ein innerer Zustand; sie ist die Selbstgenügsamkeit des Menschen im Vertrauen auf die göttliche Obhut und auf das hinreichende Maaß seiner Kräfte; sie ist die Sicherheit daß was ihm auch begegnen könne, ihm sein Ziel nicht aus den Augen rücken, und das wesentliche seines Daseins nicht verändern werde. Sie ist also etwas weit höheres als der äußere Friede; und für ein ganzes Volk wie für einen einzelnen Menschen wird um sie zu haben vorzüglich nur erfordert, daß der köstliche innere Friede da sei, das Gefühl von der Uebereinstimmung des eigenen Willens mit dem göttlichen, und daß eine tröstliche Erfahrung gemacht worden sei von dem was die Kräfte vermögen. In der letzten Hinsicht nun können wir mit unserm gesammten Volke sagen, wenn wir jener errettenden Schlacht gedenken und ihrer unmittelbaren herrlichen Folgen, Gelobet sei der Herr, der seinem Volk Ruhe gegeben hat. Denn damals fing an überall der Sinn und Wille laut zu werden, daß kein Zweig des Volkes dürfe nach Vergrößerung streben oder nach Macht über die andern durch verkehrte und vergängliche Freundschaft mit dem Feinde des Volkes, sondern daß wir stark sein wollten, wie es nach dem Willen Gottes Brüdern geziemt, zusammenwohnend in Liebe und Eintracht. Damals machten wir nach mehreren auch erhebenden und glorreichen aber doch noch wechselnden Begebenheiten, eine solche Erfahrung von unsern Kräften, die uns berechtigt zu der Ueberzeugung daß sie immer hinreichend sein werden zu dem redlichen gottgefälligen Zweck der Selbstbeschützung. | Wie viel schönes und kräftiges ist nicht schon hervorgegangen aus dieser gottverliehenen Ruhe! und wieviel dürfen wir nicht noch erwarten auch für die bevorstehende[.] Gott gebe recht lange Zeit friedlichen und ungestörten Wirkens! Wieviel Ursache also Gott zu danken an dem Gedächtnißtage der schauerlichen blutigen Gründung dieser Ruhe! Sehen wir aber, meine Freunde und Brüder, auf unsern engeren Verband unter dem Schirm unsers theuren Königes und seines erhabenen Hauses: dürften wir dann wol auch von uns ohne alle Beschämung sagen, unsere Ruhe sei erst gegründet an jenem Tage der Schlacht? Fühlen wir nicht, daß dieser Tag nicht möglich gewesen wäre nach den anfänglich zweideutigen ja dem ersten Anscheine nach niederschlagenden und lähmenden Kriegsereignissen, wenn nicht mitten unter diesen eine festbegründete Ruhe Volk und Krieger, König

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und Heerführer aufrecht erhalten hätte? Müssen wir nicht wohlüberlegt gestehen, diese Ruhe sei ein altes ererbtes Gut, das schon seit langer Zeit immer nur vorübergehend und oberflächlich hatte können getrübt werden? Müssen wir nicht dankbar gestehen, sie beruhe auf eben diesem Bande, welches uns mit dem erhabenen Herrscherstamme vereinigt, der nun vier hundert Jahre glücklich und gesegnet in diesen Landen regiert hat, und sie sei, seitdem so viele göttliche Wohlthaten und Segnungen uns durch dieses Königshaus zugeflossen, nur dann wesentlich gestört worden, wenn diesem geheiligten Bande selbst Gefahr drohte, so lange wir aber dieses ungelockert und kräftig fühlten, sei auch aus dem Gemüthe jedes kundigen und besonnenen so wie jedes einfältigen getreuen Unterthanen die Ruhe nicht gewichen. Welchem Verständigen gilt das nicht für den ersten Grundpfeiler und die sicherste Bürgschaft des gemeinen Wohls | und Gedeihens unter jeder größeren Vereinigung von Menschen, daß ihr an die Spitze gegeben sei ein in ungestörter Folge gesetzmäßig regierendes Herrscherhaus. Denn welche Verwirrungen sind gefährlicher und auflösender als die mit dem Wechsel der Herrschaft verbundenen, schon wenn er natürlich herbeigeführt wird durch das Aussterben eines Stammes, noch weit mehr aber wenn bürgerliche Unruhen wenn im Innern des Volkes wüthende Zwietracht die Veranlassung gab. Wohl keiner von den größern Staaten Europas, die mit dem unsrigen könnten verglichen werden, keiner darf sich rühmen der Wohlthat, welche der Herr uns erzeigt hat, durch vier Jahrhunderte schon beherrscht worden zu sein in ununterbrochener männlicher Erbfolge von demselben Geschlecht, ohne daß je die Hand des Fürsten in Gewaltthätigkeit gewesen wäre wider sein Volk, noch eine frevelnde Hand aus dem Volk sich erhoben hätte wider den Herrscher. Zur glücklichen von Gott gesegneten Stunde ward diesem deutschen Grenzlande, das durch Kriege und durch die Unordnungen wechselnder Befehlshaber im innersten zerrüttet war und erschöpft, Friedrich von Hohenzollern von einem der edelsten Geschlechter aus dem innersten Herzen Deutschlands entsprossen, ein tapferer Kriegesmann, ein weises und mildes Oberhaupt, zum Herrscher gegeben, um die tiefen Wunden des Landes zu heilen, und es inniger und fester dem Mutterlande zu verbinden. Das war der Anfang des preußischen Staates, und alle Größe zu der er sich erhoben hat, ist ihm durch dasselbe Herrscherhaus geworden. Gott der Herr hat nicht aufgehört die Abkömmlige dieses treflichen Ahnherrn, in verschiedenem Maaße freilich wie das Loos der Menschen es mit sich bringt, auszurüsten mit männlicher Tugend und kräftigem Geist. Und zwar so, daß je größer die Noth geworden war, sei es | durch Fahrlässigkeit und Schwäche eines einzelnen entarteten, sei es durch Schuld der Zeiten oder durch fremden Neid, um desto

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größer war der Geist, welcher zur Rettung von Gott gesendet wurde. Und so haben wir öfter gesehen aus ähnlichem Elend worin der Ahnherr des Hauses diese Länder fand, seine Nachkommen sie zu schönerer Blüthe wieder erheben. So daß der Ruhm und Glanz des Hauses, die Ausdehnung und der Reichthum des Landes, der innere Werth und die geistige Entwicklung des Volkes fortgeschritten ist, nicht zwar in ununterbrochenem gleichförmigen Wachsen, denn das wäre mehr als menschlich, aber zwischen bedrängenden Prüfungen bald in stiller Vorbereitung, bald in bedeutenden und glänzenden Erscheinungen, indem die Herscher jezt dem im Volke waltenden guten Geist liebevoll nachgingen, jezt ihn weise und schirmend begleitend, jezt ihm, wie es auserwählten Rüstzeugen Gottes geziemt, in kraftvollem heldenmäßigen Schritte voraneilten. Und in so immer inniger sich verwebendem gemeinsamen Leben ist auch Huld und Wohlgeneigtheit der Herrscher, Treue und Anhängkeit der Unterthanen immer gewachsen, bis nun in den ewig denkwürdigen Zeiten die jetzt König und Volk mit einander durchlebt haben, die gegenseitige Liebe auf Noth und Tod zu den hellsten und reinsten Flammen aufgeschlagen ist! Haben wir nicht in diesem Gefühl wachsender sich verklärender Liebe schon lange jene herrliche Sicherheit genossen, und Alle gewußt, daß sie uns nie verloren gehen könnte, wenn auch die Freude dann und wann getrübt worden, wie denn auch selbst in denen die Zuversicht nicht erstorben war, die wirklich auf eine Zeit von unserm Herrscherhause getrennt wurden? Haben wir nicht wohl gewußt, daß mit unserm königlichen Herrn vereint Gott uns zwar züchtigen könne aber nicht verderben, weil dies Volk und dies Königshaus, an dem sich Gottes | Gnade schon so sehr verherrlicht, auch noch müsse zu großem aufgespart sein. Gelobet also sei Gott der seinem Volk diese Ruhe gegeben hat. Das rufen wir, die Bewohner dieser Marken, welche zuerst unter den jetzigen Unterthanen des Königs seinem heilbringenden Herrscherstamme gehorchten! Das rufen wir, die Bewohner dieser Hauptstadt, die sich seit jenem glücklichen Zeitpunkt von einem fast unscheinbaren Anfange allmählig zu einer der Zierden Europas erhoben hat! Und uns rufen es dankbar mitempfindend nach alle die Genossen deutscher Zunge, die allmählig unter derselben beglückenden Herrschaft mit uns sind vereiniget worden. II. Aber nun laßt uns auch sehen, welches sind denn die Wünsche die wir an diesem feierlichen Tage billig vor Gott bringen, Wünsche die, weil sie nicht auf etwas nur äußerliches gehen, sich in unsern Herzen und auf unsern Lippen zu heiligen Gelübden gestalten müssen.

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Der Herr sei mit uns wie er gewesen ist mit unsern Vätern! er erhalte uns und unsern Kindern das erhabene Königshaus, durch welches er unsere Väter und uns so reichlich gesegnet hat! Aber dieser Wunsch, ist er nicht das heilige Gelübde, dies theure Band auch in treuer Dankbarkeit zu hegen und zu verschönern immerdar? Er verlasse uns nicht zu neigen unser Herz zu ihm, daß wir wandeln auf seinen Wegen! Er befestige und nähre unter uns alle die Tugenden und guten Werke, durch welche wir uns auch in dieser schweren Zeit ihm so wohlgefällig bewährt haben! Aber ist dieser Wunsch nicht das heilige Gelübde, der Stimme seines Wortes immer zu gehorchen, und immer reiner und | vollkommner seinem Willen und Gesetz unser Leben zu weihen! Dies beides laßt uns noch erwägen. Wenn wir uns an diesem feierlichen Tage hier vor Gott das Wort geben, das Band der Liebe und des Gehorsams, das uns mit unserm Herrscherhause vereint, unter allen Umständen unverbrüchlich festzuhalten und zu dessen Veredlung aus allen unsern Kräften beizutragen: so wird schon von selbst Niemand glauben, das erste sei so gemeint, als wollten wir uns gegenseitig warnen, nicht etwa auch in den Frevel der Empörung zu gerathen, wovon freilich in dem langen Zeitraume, der bei uns durch unentheiligte Treue gesegnet war, leider die Geschichte anderer Völker schreckliche Beispiele zeigt, welche nur der schauderhafteste Leichtsinn als unbedeutende Flecken ansieht, welche aber ernstere Völker theils austilgen möchten aus ihren und ihrer Nachkommen Gedächtniß, theils noch vor Gott Opfer der Buße darbringen für die Schulden ihrer Vorfahren. Nein solche Warnung wäre unnöthig! So wenig Spuren eines solchen Frevels giebt es in unserer Geschichte, daß sie sich in dem unbeachteten Gebiet unsicherer Vermuthungen verlieren, und daß jeder Argwohn als ob hie und da etwas gebrütet würde woraus sich Zwietracht entspinnen könnte, wenn er nicht sollte absichtlich das gegenseitige Vertrauen untergraben wollen, nur mitleidig würde verlacht werden. Ja da jeder wohlmeinende und aufmerksame unter uns nicht nur ein Gewissen in sich trägt für sich selbst, sondern auch für den gemeinsamen sittlichen Zustand: so können wir jeden, der dies Gefühl unverfälscht von unreinen Leidenschaften bewahrt hat, dreist auffordern es in seinem Innersten zu prüfen, ob er nicht gestehen muß, daß zu solchem Frevel keine Anlage ist in unsern Mitbürgern, und daß wir erst müßten wunderbar verderbt und fast umge|schaffen worden sein, wenn sie uns sollte können eingepflanzt werden. Sondern nur wie im krankhaften Zustande bisweilen jemand sich selbst Schuld giebt, was er nie begangen hat, indem er unbedeutende Handlungen zu Verbrechen hinaufdeutet, 14 das uns] dasuns

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so nur könnten ängstliche Gemüther, verschüchtert durch die schweren Kämpfe und Leiden dieser letzten Zeit, und gepeiniget von den Schreckbildern ausländischer Thaten, in krankem Wahne glauben ähnliches zu sehen, und sich und Andere mit Besorgnissen quälen, die ihnen ganz verschwinden würden, wenn wie jenem Profeten, welcher klagte es sei kein Verehrer Jehovahs mehr in Israels, Gott in einem Augenblick der Entzückung die Augen öffnete, daß er eine Schaar vieler Tausende sah: so Gott ihnen, welche wähnen, wenige oder viele wären da, die übles wollten und Empörung brüteten, in einem Augenblicke heiterer unbefangener Besonnenheit die Augen öffnete, denn sie würden sehen daß kein solcher da ist, und daß sie sich vor Schatten gefürchtet. Also dieses meine ich nicht: aber ich meine, daß wir uns dieses heiligen Bandes immer sollen recht freudig bewußt sein, und um in solche Mißverständnisse nicht zu gerathen, uns wo wir auseinander gegangen sind immer wieder unter diesem Panier vereinigen. Denn es kann nicht anders sein in einem so großen Staat bei so vielseitigem Verkehr mit andern Völkern und so mannigfaltiger vor uns liegender Geschichte anderer Staaten, wo durch seinen Standpunkt und seine Kenntniß jeder auch der am wenigsten selbstsüchtige etwas bestochen wird, muß sich eine große Menge verschiedener Meinungen über das, was dem gemeinen Wohl förderlich ist, erzeugen. Daß jeder die seinige äußere um seiner Einsicht Raum zu verschaffen, dieser Freiheit verdanken wir zuviel, als daß irgend jemand sogar seinen Gegnern sie sollte beschränken wollen. | Aber diese Meinungen reiben sich, und je wichtiger jedem die Sache ist um desto leichter entsteht Streit. Wohl denn mein Bruder! wenn in diesem Streit sich in dir eine Gemüthsbewegung entwickelt, die du nicht mehr als Liebe fühlst, und die also auch nicht mehr geschickt ist die Wahrheit ans Licht zu bringen, die nur in Liebe gefördert wird; wenn du in Versuchung kommst deinen Mitbürger, seiner entgegengesetzten Meinungen wegen, böser Absichten zu beschuldigen: dann rühre ja die Bitterkeit nicht in dir auf; sondern frage dich in deines Gegners Seele, ob er wohl sollte etwas anderes begehren, als daß es der König sei der das beste gebiete und ausführe? etwas anderes, als daß dessen Herrschaft herrlich sei und preiswürdig, und daß Volk und König einander gegenseitig immer mehr verherrlichen mögen? und wenn du ihm das gewiß nicht zutrauen wirst, er wäre denn einer, mit dem schon nicht würdig wäre zu reden: so hast du ja mit ihm eine Uebereinstimmung die größer ist als eure Verschiedenheit, so steht ihr ja beide auf demselben Boden Einer gemeinsamen Liebe und Treue, und könnt auch im Streit 5–8 Vgl. 1Kön 18,22; 19,14–18

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euch nur lieben und wohlwollen. Seht das nenne ich, dieses heilige Band fest im Sinne halten. Wenn ich aber weiter sage, unser heutiges Gelübde müsse auch sein diese Verbindung noch immer mehr zu veredlen: so brauche ich wol darüber nicht viel Worte zu machen. Auch dem stumpfsinnigen Knecht des Despoten wird man im gewöhnlichen Lauf der Dinge oft das Verdienst nachrühmen müssen, daß er keine Neuerung begehrt: aber wir werden seine Treue nicht vergleichen wollen mit der unsrigen. Auch der Selbstsüchtige, der zu gutmüthig ist oder zu träge um sich durch gefährliche Ränke emporschwingen zu wollen, und zu flüchtig um sich auf einen Gewinst zu vertrösten, der erst | spät auf den Erwerb folgen könnte, auch der wird, so wie er nichts sehnlicher wünscht als Ruhe und Friede nach außen, auch um einen Preis der uns Andern zu theuer wäre, so auch, in welchem Staat er immer lebe, nach innen nichts anderes begehren als den gleichmäßigen Fortgang derselben Ordnung der Dinge: aber wenn er seine Wünsche und Bestrebungen den unseren für unsern König und unser Vaterland gleich setzen wollte, würden wir uns dessen weigern[.] Ist nun unsere Treue und unser Gehorsam, ist unser liebendes und ehrfurchtsvolles Gefühl gegen unsern Beherrscher reiner und edler als jenes; wollten wir deshalb so aufgeblasen sein uns anzumaßen oder so thöricht uns zu schmeicheln, wir hätten das höchste schon erreicht? Giebt es nicht noch viele, die den König und sein Haus mehr deßhalb lieben und ehren, weil sie und die ihrigen so gestellt sind, daß vorzügliche Huld von ihm auf sie herabfließen kann, als deshalb weil er der Vater ist des Vaterlandes? Nicht viele, deren Eifer noch viel zu sehr dadurch gehoben wird, daß ihr Stand oder ihre nähere Geburtsgegend sich nicht besser befinden könnte als unter diesem Schirm und in dieser Ordnung, und die sich nur in sofern die Verbindung mit den übrigen Theilen des Ganzen gefallen lassen, mit denen doch des Königes Herz gleichmäßig erfüllt ist und beschäftiget? Nicht auch solche, die in unserm gebietenden Herrn die nach außen schützende Macht gern erkennen und verehren, dabei aber wünschen, daß nach innen zu jeder mit seinen Kräften ganz nach eigener Willkühr und nur zu eigenem Vortheil, der eine so der andere anders, schalten dürfe, als ob es nichts gemeinsames gäbe? Und diese Veruneinigungen, die sich freilich nur in Wenigen stark und bestimmt aussprechen, sind sie nicht in geringerem Maaß weit genug durch das Ganze verbreitet? Und haben nicht Alle so den|kende eigentlich ein anderes Vaterland als der König, und sind gleichgültig gegen den größten Theil seines Thuns und seines Berufs? Wolan, so giebt es doch noch ein edleres und höheres Verhältniß, dem wir uns müssen zu nähern suchen! Daß, wie der König jeden Zweig des Ganzen gleich liebt um des Ganzen willen, dessen Theil er ist, so

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auch jeder Unterthan sich selbst und das, was ihn zunächst berührt, nur liebe um des Ganzen willen, und auch keine andere Liebe und Pflege dafür von oben begehre; daß keine Kraft im Volke dem Könige sich entziehe, sondern von jeder eine bald mehr bald minder deutliche Ahndung dem Herrscher einwohnend ihn treibe sie zu ergreifen und zu leiten, damit er getrost und kräftig schalten möge, und auf alles rechnen könne, auch auf das was sich selbst noch nicht kennt; daß jedem Befehle des Herrschers ein gleich freudiger Wille in allen Theilen des Volkes entspreche, und Alle darin erkennen das nemliche oder besseres als sie selbst gesucht haben, und daß auf diese Weise alle Ordnungen und Gesetze nichts anderes seien, als die Frucht und der Beweis der gemeinsamen Weisheit und Liebe, worin was vom König und was von seinen Unterthanen ursprünglich ausgegangen sei, nicht abgesondert werden kann und unterschieden, sondern immer eines ist und dasselbe; dieses offenbar ist die höchste Verklärung und Veredlung in dem Verhältniß zwischen Fürsten und Volk, und gewiß ein wesentliches würde unserm frommen Dank an diesem feierlichen Tage fehlen, wenn wir Gott nicht das Gelübde darbrächten, auch hierin dem vollkommenen nachzustreben. Das letzte endlich aus den Worten unsers Textes war der Wunsch, daß der Herr unsere Herzen möge zu Ihm neigen, zu wandeln auf seinen Wegen und zu halten seine Sitten und Gebote. Zu diesem Wunsch, wie zu dem Gelübde seinem | Zuge zu folgen bedürfen wir m. a. Fr. freilich keine äußere Veranlassung. Was anders als dieses erfüllt uns, so oft wir uns im Hause des Herrn versammeln, was anders als dieses ist der Inhalt aller unserer Gebete und Gesänge und aller Worte der Ermahnung die hier gehört werden. Aber wer fühlt nicht diesen reinsten aller Triebe des menschlichen Herzens mit einem besonders schauerlichen Ernst bei der Erinnerung an jene blutigen Tage, an die tausende, die den Tod für das Wohl des Volkes gestorben sind, an die Aufopferung und den Muth alter Streiter, deren nur ein Volk das auf den Wegen des Herrn wandelt würdig ist sich zu rühmen, an den Kampf dessen höchster und heiligster Gegenstand war deutsche Treue und Weisheit und Frömmigkeit zu erretten aus den Gefahren womit fremde Gewalt auf der einen, einschmeichelndes Verderben auf der andern Seite sie bedrohten. Was können wir jenen Gefallenen und Verstümmelten so wie den glücklicher wiedergekehrten lieberes darbringen, als das Gelübde die heiligen Güter in uns zu pflegen, die ihnen am meisten am Herzen liegen. Und wenn wir Gott für alle Wohlfahrt danken, die seine Güte über uns verbreitet hat im treuen ungestörten Verein mit unserm Herrscherhause: so mögen wir wol 11 seien] sein

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dieses besonders bedenken, wie sehr diese Wohlfahrt diese Ruhe im Großen immer abgehangen hat vom treuen rechtschaffenen Gehorsam gegen das göttliche Gesetz, und wie laut und überzeugend zumal die gegenwärtige Zeit uns lehrt, daß die Erhaltung derselben vorzüglich abhänge von der fest begründeten ungetheilten Herrschaft frommer Gesinnung. Tiefer als sonst müssen wir es empfinden, wie die überhandnehmende Sünde alle menschlichen Bande löset und die heiligsten am meisten, weil diese am wenigsten sich dem Dienste sinnlicher Lüste und wilder Leidenschaften hingeben, und wie auch der menschliche Verstand, wenn er von der Scheu vor dem heiligen verlassen in der | Irre geht nur verführerische Klügeleien ausbrütet! Ernster und dringender muß unser Wunsch sein und unser Gelübde, da auch unser Volk, wiewol noch gnädig behütet vor größerem Verderben, eine Zeit gehabt hat, wo zu viele diesen Weg gewandelt sind, als daß das gemeine Wohl nicht sollte darunter gelitten haben, eine Zeit deren Spuren noch nicht ganz ausgetilgt sind. Sehen wir dagegen weiter zurück auf die Geschichten unserer Fürsten und ihrer Länder, was hat wol am meisten diesen unerschütterlichen Bund der Liebe und Treue zwischen Fürst und Volk in der Stille befestiget als die gleiche Lebendigkeit und der gleiche Gang der frommen Gesinnung und Denkart in beiden, und die Einwirkung des einen Theils auf den andern in dieser größten menschlichen Angelegenheit. Wie übereinstimmend und gleichen Schrittes wendeten sich Volk und Fürst auf die Seite des neuen Lichtes zur Zeit jener großen Verbesserung in der Kirche! Wie hat seitdem immer jede neue Ansicht von den göttlichen Dingen nirgend mehr Aufmerksamkeit und Theilnahme gefunden als unter uns! wie freudig hat immer das Volk alle Veranstaltungen der Herrscher aufgenommen, die auf gründlicheres Verständniß auf reinere freiere Wirksamkeit unsers christlichen Glaubens abzweckten! Mit welcher heiligen Scheu haben unsere Fürsten stets, ohne ihre eigene Meinung aufzudringen, das Gewissen walten lassen und den mit den heiligen Gegenständen beschäftigten Verstand, mit einer Scheu die kaum ein und das andere Mal durch das gereizte Gefühl von bedenklichem Mißbrauch überwunden ward! wie haben sie immer prüfend zu Herzen genommen, was ungestörte Forschung was freier Trieb im Volk erweckt hatte! Und welcher ausgezeichneten Theilnahme unsers Königes erfreuen sich nicht jetzt besonders die Angelegenheiten unseres Glaubens und unserer Kirche! Salomon m. a. Fr. redete die Worte unseres Textes als er jenen Tempel einweihete, den schon | sein Vater zu bauen gewünscht hatte, welchem es aber von Gott nicht beschieden war, jenen Tempel dessen Bau das glänzendste und gefeiertste Werk seiner Regierung ward, in dem seine Weisheit und Kunst sich am meisten verherrlichte, und für den sein Volk viele Jahre lang alle seine

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Kräfte angestrengt hatte. Mit welcher Empfindung müssen wir diese Worte vernehmen, wie müssen sie uns ans Herz gehn, deren königlicher Herr unter den größten Bedrängnissen und unter den herrlichsten Siegen nie den Lieblingsgedanken seines frommen Herzens vergessen hat, den sichtbaren Tempel des Herrn alle Einrichtungen und Verfassungen der Kirche Christi fester zu gründen und herrlicher auszubauen, und keinen größeren Ruhm kennen würde, als wenn ihm Gott verliehe dieses große Werk zu vollenden. Aber wie dem Salomon, als nun das Haus des Herrn in Pracht und Herrlichkeit auf Jahrhunderte dastand, der Wunsch seines Herzens dadurch nicht erfüllt war, sondern er nun bei dessen Weihe dem Volk verkündete, wozu der herrliche Bau da sei, nemlich das zu begünstigen und zu erleichtern, daß das Volk nun auch eingedenk sei des Gottes der dort im dunkeln Heiligthum thronte, um auf seinen Wegen zu wandeln; und wie es eine Thorheit gewesen sein würde dieses große Werk mit solcher Beharrlichkeit und Anstrengung auszuführen, wenn er geglaubt hätte es zu thun für ein Volk, welches hernach nur an dem herrlichen Tempel vorbeigehen würde um den güldenen Kälbern zu dienen, die ehedem seine Väter gemacht hatten, oder für ein Volk das zwar mit Lippen und Händen dem Herrn diente, mit dem Herzen ihm aber fern bliebe; eben so wäre es für uns ein geringer Gewinn, wenn wir alle Kräfte noch so willig daran setzten um die Verfassung der Kirche neu zu beleben und ihre Einrichtungen fest zu stellen, aber der Sinn fehlte, für den und durch den allein dies alles einen Werth hat, aber Glauben und Liebe, Frieden und Freude und alle Früchte des Geistes gediehen nicht schöner und vollständiger unter uns. Wolan denn, hat der Herr uns gnädig gezüchtiget weil er uns liebte, hat er schlummernde Kräfte geweckt in schweren Zeiten, hat er fröhliche wenn gleich theure Errettung verliehen von drückenden Uebeln, hat er mit unvergänglichem wenngleich theuer erkauften Ruhme gekrönt das | gesamte deutsche Volk und vornemlich unsern König und sein Land, läßt er uns heute in blühender jugendlicher Kraft und mit schöneren Hofnungen als je das fünfte Jahrhundert reicher vaterländischer Segnungen beginnen: o so mögen von so viel Gnade besiegt jedem fremden Zuge sich weigernd alle Herzen sich zu Ihm neigen und alles Volk in Seinen Wegen wandeln. Dazu laßt uns itzt vor Ihn treten mit Gebet. Barmherziger gnädiger Gott! Für wie große und unzähige Wohlthaten treten wir heute aufgefordert von deinem Knecht unserm Könige dankend vor deinen Thron als ein wunderbar errettetes eng verbrüdertes hochbegnadigtes fest auf dich hoffendes Volk! 30 wenngleich] wennigleich

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Dank zunächst dir zu sagen, daß du dem Könige uns, und uns Ihn und sein Haus erhalten hast, und dich anzurufen daß du den Bund der Liebe und Treue der zwischen Ihm und uns besteht dir ferner wollest wohlgefallen lassen. Dazu laß deine Gnade groß sein über deinem Knecht unserm Könige und über dem Kronprinzen dieser schön aufblühenden Hofnung des Landes, über seinen und des Königes Brüdern und dem ganzen königlichen Geschlecht! Dazu segne Zucht und Unterweisung der Jugend im königlichen Hause und im ganzen Lande, dazu die Verkündigung deines heiligen Wortes, damit du ausführen könnest, was dein gnädiger Rath, wir hoffen es mit Zuversicht, noch großes und gutes über uns beschlossen hat! damit so wie unser Herr und König über uns herrscht, so es auch unsern Enkeln und den Enkeln unserer Enkel nicht fehle an einem Herrscher aus seinem Stamme, der da sei fromm und weise, mild und tapfer, und dem Herrscher nicht an einem Volke das ihm sei treu und gewärtig! damit König und Volk immer recht thun vor dir und wandeln auf deinen Wegen. Laß deinen Geist in uns wohnen als in einem wohlgeschmückten Tempel, daß wir mehr und mehr gestaltet werden in das Bild deines Sohnes, deß Jünger wir Alle zu sein begehren, vor dem unser aller Knie sich beugen mögen itzt und immerdar. Amen.

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Liederblätter 1812–1816 [Nr. 1]

Am ersten Advents-Sonntage.

Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht uns etc. [1.] Macht hoch die Thür, die Thore weit! / Es kommt der Herr der Herrlichkeit, / Der Heil und Leben bringet. / Ein König aller Königreich, / Ein Heiland aller Welt zugleich, / Drum danket, jauchzt und singet! / Her zum Throne kommt getreten, / Anzubeten / Den Holdseelgen, / Der euch alle will beseelgen. // [2.] Er ist gerecht, ein Helfer werth, / Sanftmüthigkeit ist sein Gefährt, / All unsre Noth er endet. / Seine Königskron ist Heiligkeit, / Sein Zepter ist Barmherzigkeit, / Die er uns nun zuwendet. / Kommt zu Haufen! wollt ihr werden / Schon auf Erden / Rein und heilig, / Sammelt Euch um Jesum eilig. // [3.] O wohl dem Land, o wohl der Stadt, / So diesen König bei sich hat, / Die wahre Lebenssonne. / Wohl allen Herzen insgemein, / Da dieser König gehet ein, / Er füllet sie mit Wonne. / Komm o Heiland, sieh die Herzen / Stehn mit Schmerzen / Wartend offen, / Laß sie nicht vergeblich hoffen. // Nach dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir etc. [1.] Wie soll ich dich empfangen, / Und wie begegn’ ich dir, / Du aller Welt Verlangen, / Der Menschheit einge Zier? / O zünde selbst der Seele / Das Licht der Wahrheit an, / Damit sie nicht verfehle, / Was dich ergötzen kann. // [2.] Dir streun die Jünger Palmen, / Dir güne Zweiglein hin, / Und hohe Freudenpsalmen / Ermuntern Geist und Sinn. / Das Herz will sich erkühnen, / Zu Lob und hohem Preis, / Und deinem Namen dienen, / Wo es nur kann und weiß. // Chor. [3.] Was hätt’ er unterlassen. / Zu deinem Trost und Freud? / AIs Leib und Seele saßen / In Dunkelheit und Leid, / Das Reich hinweggenommen, / Wo Fried und Freude lacht: / Da ist der Heiland kommen, / Und hat es wiederbracht, // [4.] Siehe, das ist unser Herr, auf den wir harren, und / er wird uns helfen, daß wir uns freun, und fröhlich sein / in seinem Namen. // Eine Stimme. [5.] Tröstet mein Volk, spricht euer Gott! Redet freund- / lich mit Jerusalem, und prediget ihr, daß ihre Ritterschaft / ein Ende hat, denn ihre Missethat ist vergeben! Es rufet / die Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet dem / Herrn den Steg, und macht auf dem Gefilde eine ebene / Bahn unserm Gott. // Chor. [6.] Denn die Ehre des Herrn wird offenbaret. Alles Fleisch / untereinander wird sehen, daß Jehova’s Mund geredet / hat. // [7.] Das schreib dir in dein Herze, / Du tiefbetrübtes Heer, / Wenn etwa Gram und Schmerze / Sich häu-

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fen mehr und mehr. / Seid unverzagt! ihr habet / Die Hülfe vor der Thür; / Der eure Herzen labet / Und tröstet, steht allhier. // Gemeine. [8.] Wir wollen nicht erschrecken, / Auch vor der Sündenschuld, / Weil Jesus sie will decken, / Mit seiner Lieb und Huld. / Er kommt, er kommt, den Sündern / Zu wahrem Trost und Heil, / Macht sie zu Gottes Kindern, / Und wird ihr Erb und Theil. // Unter der Predigt. – Mel. Gott sei Dank etc. Sei willkommen, o mein Heil! / Dir Hosanna o mein Theil! / Richte du auch eine Bahn, / Dir in meinem Herzen an. // Nach der Predigt. – Mel. Gott sei Dank etc. Wenn du einst, o Lebensfürst, / Herrlich wiederkehren wirst: / Mögen wir gerecht bestehen, / Dir getrost entgegengehn. //

[Nr. 2]

Am zweiten Advents Sonntage.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Kommt Christen kommt und schauet, / Des ew’gen Sohnes Herrlichkeit! / Eh’ Gott die Welt gebauet, / War er, er war vor aller Zeit; / Gott selbst hat ihn erzeuget, / Er ist des Vaters Bild, / Vor dem sich alles beuget, / Was Erd und Himmel füllt. / Er ist auf seinem Throne, / Dem ew’gen Vater gleich, / Kommt, huldigt Gottes Sohne! / Kommt, schaut sein weites Reich! // [2.] Er träget alle Dinge, / Durch seiner Allmacht kräft’ges Wort, / Das Große, das Geringe, / Geht nur durch seinen Willen fort. / Sein weiser Schluß regieret, / Die unterworf’ne Welt; / Weil er den Scepter führet, / Geschieht was ihm gefällt. / Wird er die Stimm’ erheben, / So werden Meer und Gruft, / Die Todten wiedergeben, / Die er zum Leben ruft. // [3.] Ihm laßt uns Ehr erzeigen, / Wie keinem andern sie gebührt, / Vor ihm die Knie beugen, / Der uns zu Gott dem Vater führt. / Der Himmel wirft sich nieder, / Vor seinem hohen Thron, / Der Engel heil’ge Lieder, / Erheben Gottes Sohn. / Und wer auf dieser Erden, / Nicht ihm allein vertraut, / Der wird nicht selig werden, / Der hat auf Sand gebaut. // Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird durch’s etc. [1.] Ich will, ich muß von Jesu singen, / Aus Liebe kam er in die Welt; / Die Wahrheit flog mit lichten Schwingen, / Ihm göttlich strahlend beigesellt. / Als Finsterniß der dicksten Schatten, / Noch über allen Völkern lag, / Und kaum die Weisen Dämmrung hatten, / Kam er, mit ihm der volle Tag. // [2.] Er kam vom Himmel, sie zu lehren; / Seht wie vor ihm die Erde schweigt; / Bald drängen Heiden sich, zu hören, / Als sich das Licht der Heiden zeigt. / Er Iehrt in sich die Gottheit kennen, / Ermuthigt Sündern Herz und Mund, / Daß sie durch ihn Gott Vater nennen, / Und ladet sie zum neuen Bund. // [3.] Da unser schuldiges Geschlechte, / Dem Tode heimgefallen war, / Stellt

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sich der einzige Gerechte / Zum Opfer der Versöhnung dar; / Verloren waren Adam’s Kinder, / Der Sohn des Gottes Zebaoth, / Er stirbt für uns gefall’ne Sünder, / Erniedrigt sich zum Kreuzestod. // [4.] Verehrt, verehrt ihn, alle Lande, / Er, Jesus, der im Grabe liegt, / Zerbricht des Todes ehr’ne Bande, / Lebt ewig und der Glaube siegt; / Der Glaube, diese zarte Pflanze. / Grünt aus verströmtem Blut empor, / Mit ewig ungeschwächtem Glanze / Hebt er im Sturm das Haupt empor. // [5.] Was lehnen tobend Nationen, / Sich gegen den Messias auf? / Gewaltige auf Erdenthronen, / Verfolger, sammelt euch zu Hauf! / Wo seid ihr? seid ihr schon verschwunden? / Gewiß, die Völker müssen sehn, / Daß Jesus Christus überwunden, / Daß Menschen Gott nicht widerstehn. // Unter der Predigt. – Mel. Nun freut euch lieben Christen. Ich lag in tiefer Todesnacht, / Du wurdest meine Sonne, / O Jesu, die mir zugebracht / Licht, Leben, Heil und Wonne. / O Sonne, die das milde Licht / Des Glaubens in mir angericht, / Wie schön sind deine Strahlen! // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Dir sei Lob Preis und Ehre, / Erhabner Heiland, Gottes Sohn! / Laß unsrer Andacht Chöre, / Beschämen deiner Feinde Hohn. / Die Ehre dir zu rauben, / Entfliehen sie von dir. / Dir wollen sie nicht glauben, / Erbarm dich ihrer hier; / Laß sie dich bald erkennen, / Und wie sie dich erkannt, / Sich deine Jünger nennen, / Zu dir in Lieb’ entbrannt. //

[Nr. 3]

Am vierten Advents Sonntage.

Vor dem Gebet. – Mel. Du Geist des Herrn der du etc. [1.] Komm Jesu komm, du königlicher Herr, / Du großer Fürst voll Tugendpreis und Ehr, / Brich an o Glanz mit deiner Wunderschöne, / Nach der ich mich gar oft so herzlich sehne. // [2.] Du Seelenlust, die im Gemüthe quillt, / Der Liebe Wunder hast du nun erfüllt, / Du bist mein Ruhm, mein Lob’ und meine Wonne, / Das Heil der Welt, des Lebens Licht und Sonne. // [3.] Aus dir entspringt Gnad’ und Barmherzigkeit, / Wer auf dich hofft, hat lauter Lust und Freud, / Du bist der Brunn der süßen Gnad’ und Güte, / Der labend stärkt das schmachtende Gemüthe. // [4.] Wenn du das Herz o Jesu nimmest ein, / So blicket auf der Wahrheit heller Schein; / Du machst uns frei vom schweren Sündenbande, / Und zeigst den Preis im seel’gen Vaterlande. // [5.] Und du regierst die deinen nun fortan, / Im Frieden, den kein Sinn erreichen kann. / Des Friedens wünsch ich innig zu genießen, / Um mir das Leid der Erde zu versüßen! // [6.] Was ich gesucht, das säh’ ich dann erfüllt, / Ich hätte das, was jede Sehnsucht stillt, / In dir wollt’ ich mich in den Tod ergeben, / Kann nur mein Geist in deiner Liebe leben. //

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Nach dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc. [1.] Mit Ernst ihr Menschenkinder, / Das Herz in euch bestellt, / Damit das Heil der Sünder, / Der große Wunderheld, / Den Gott aus Gnad allein / Der Welt zum Licht und Leben, / Gesendet und gegeben, / Bei allen kehre ein. // [2.] Kein Scepter keine Krone / Sucht der auf dieser Welt, / Dem hoch im Himmelsthrone, / Ein ew’ges Reich bestellt. / Er braucht kein zeitlich Gut, / Er will allein erwerben / Durch Leben und durch Sterben, / Was ewig währen thut. // [3.] Er eilet voll Verlangen, / Sich auch zu euch zu nahn, / O macht, ihn zu empfangen, / Zum Herzen eb’ne Bahn. / Seid heilig, seid bereit, / Was ihm gefällt zu wählen, / O weiht ihm reine Seelen, / Ihm sei das Herz geweiht. // [4.] Strebt ihr nach großen Thaten, / Nehmt ihn zum König an; / Wollt ihr euch wohl berathen, / So folgt ihm auf der Bahn, / Die zu dem Himmel führt, / Daß, wenn ihr ihn nicht achtet, / Nach and’rer Hoheit trachtet, / Nicht Gottes Zorn euch rührt. // [5.] Die ihr gerecht euch dünket, / Legt euren Dünkel ab! / Ihr stolzen Weisen sinket, / Von eurer Höh herab! / Die ihr um Gnade fleht, / Wißt, daß ihr hier sie findet, / Denn wer sein Nichts empfindet, / Der wird von ihm erhöht. // [6.] Ein Herz das Demuth übet, / Das will der Herr erhöhn, / Ein Herz das sich nur liebet, / Kann nie sein Antlitz sehn. / Ein Herz, das reuvoll ist, / Der Sünde Lust bestreitet, / Das hat sich wohl bereitet, / Zu dem kommt Jesus Christ. // Unter der Predigt. – Mel. Ich singe dir mit Herz etc. [1.] Er kommt, er kommt der starke Held, / Voll göttlich hoher Macht, / Sein Arm zertheilt, sein Blick erhellt / Des Todes dunkle Nacht. // [2.] Wer kommt, wer ist der starke Held, / Voll göttlich hoher Macht? / Es ist der Herr, lobsinge Welt, / Der er das Heil gebracht. // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht uns etc. Du hier mein Trost und dort mein Lohn, / Sohn Gottes und des Menschen Sohn, / Des Himmels großer König! / Von ganzem Herzen preis’ ich dich, / Hab ich dein Heil so rühret mich / Das Glück der Erde wenig. / Zu dir komm ich! wahrlich keiner / Tröstet deiner / Sich vergebens, / Wenn er dich sucht, Herr des Lebens. // Es wird wieder Vorausbezahlung auf das nächste Jahr angenommen. Auch werden noch Exemplare des ablaufenden Jahrgangs von Neujahr an geheftet zu haben sein.

[Nr. 4]

Am ersten Weihnachtstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Preis, Lob, Ehr, Ruhm. [1.] Ein Kind ist uns geboren heut / Der liebste Sohn ist uns geschenket, / In dem Gott Gnad um Gnade beut, / Für alles was die Seele kränket. / Merk auf mein Herz und schau das Kindlein an, / Denk welch ein Wunder Gott durch ihn gethan. // [2.] Es spielt in seinem Angesicht / Mit freudenreicher Lust und Wonne / Des Vaters Klarheit Lieb’ und Licht, / Er ist des neuen Himmels

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Sonne. / Ein neues Licht durch ihn der Welt entsteht, / Die ohne ihn im Dunkeln untergeht. // [3.] Fehlt dirs an Kraft, o liebe Seel! / Auf Gottes Wegen fortzukommen, / Sei unverzagt! Immanuel, / Der deine Menschheit angenommen / Heißt Kraft, und will durch seine Kraft allein, / In allem Kampf dein treuer Helfer sein. // [4.] Fehlt dir’s an Muth und Tapferkeit, / Der Feinde Rotten zu bekriegen; / Hier ist der Held der in dem Streit / Dich nicht kann lassen unterliegen. / Wer in der Schlacht ihn an die Spitze stellt, / Der sieget und behält zuletzt das Feld. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun freut euch, lieben Christen gemein. Gemeine. [1.] Ich steh an deiner Krippen hier, / O Jesu, du mein Leben. / Ich komme, bring’ und schenke dir, / Was du mir hast gegeben. / Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, / Herz, Seel’ und Muth, nimm alles hin, / Und laß dirs wohlgefallen. // [2.] Du hast mit deiner Lieb’ erfüllt / Mein’ Adern und Geblüte. / Dein schöner Glanz, dein süßes Bild / Liegt mir stets im Gemüthe, / Und wie mag es auch anders seyn? / Wie könnt’ ich dich, o Jesu mein, / Aus meinem Herzen lassen! // Chor. [3.] Ich lag in tiefer Todesnacht, / Du warest meine Sonne, / Die Sonne, die mir zugebracht / Licht, Leben, Fried’ und Wonne. / O Sonne, die das werthe Licht / Des Glaubens in mir angericht! / Wie schön sind deine Strahlen! // Recitativ. Seht der Engel sagt den Hirten: / Fürchtet euch nicht, ich verkündige euch Freude, große / Freude, die allem, Volk widerfahren wird. Denn euch / ist heute der Heiland geboren, dort in Davids Stadt, / der Heiland, Christus der Herr. Und alsbald war / da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heer- / schaaren, die lobten Gott und sprachen: // Chor. Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Er- / den, und den Menschen ein Wohlgefallen. // Aria. Er weidet seine Heerde ein guter Hirte, / Und sammelt seine Heerde in seinen Arm. / Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen Schooß, / Und leitet sanft, die gebähren soll. / Kommt her zu ihm, die ihr mühselig seyd, / Kommt her zu ihm, mit Traurigkeit Beladene, / Denn er verleiht euch Ruh. / Nehmt auf euch sein Joch, und lernet von ihm, / Denn er ist sanft und demuthsvoll, / Dann findet ihr Ruh für euer Herz. // Chor. Ehre sei Gott in der Höhe! / Und Friede auf Erden, / und den Menschen ein Wohlgefallen! // Wenn oft mein Herz im Leibe weint, / Und keinen Trost kann finden, / Da ruft mir’s zu: Ich bin dein Freund, / Ich tilge deine Sünden. / Was trauerst du, mein Fleisch und Bein, / Du sollst ja guter Dinge seyn; / Ich zahle deine Schulden. // Gemeine. Du fragst nicht nach der Lust der Welt, / Noch nach des Leibes Freuden; / Du hast dich bei uns eingestellt / An unsrer Statt zu leiden; / Suchst meiner

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Seelen Trost und Freud’ / Durch allerhand Beschwerlichkeit; / Nie kann ich’s dir vergelten. // Eins aber, hoff’ ich, wirst du mir, / Mein Heiland, nicht versagen, / Daß ich dich möge für und für / In bei und an mir tragen. / So laß mich deinen Tempel sein; / Komm, komm und kehre bei mir ein / Mit allen deinen Freuden. // Unter der Predigt. – Mel. Vom Himmel hoch. [1.] Wohl jedem Menschen in der Welt / Der sich an dieses Kindlein hält / Wohl jedem der es recht erkennt / Und gläubig seinen Heiland nennt. // [2.] Es danke Gott wer danken kann, / Der unser sich so hoch nimmt an, / Und sendet aus des Himmels Thron / Uns seinen Feinden seinen Sohn. // Nach der Predigt. – Mel. Preis, Lob, Ehr, Ruhm. O freue dich mein Herz in ihm, / Nimm an was dir dein Gott gegeben, / Erhebe jauchzend deine Stimm, / Und preis’ ihn stets mit deinem Leben, / Gott giebt sich dir! gieb du ihm wiederum, / Dich ganz und gar zu seinem Eigenthum. //

[Nr. 5]

Am ersten Weihnachtstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Ermuntre dich mein schwacher Geist. [1.] Frisch auf ihr Christen freuet euch, / Und jauchzet Gott mit Schalle; / Denn dieser Tag ist freudenreich, / Gesegnet für uns Alle, / Demnach das Leben, Jesus Christ, / Der ganzen Welt geboren ist, / Der niemand durch sein Sterben / Im Sterben läßt verderben. // [2.] Frisch auf, ihr Christen, seid doch froh, / Kommt bald ein Lied zu singen; / Hier liegt das Kindlein auf dem Stroh, / Das euch zu hohen Dingen / Durch seine Macht erheben kann, / Denn es ist selbst der Wundermann, / Der nunmehr auch die Schwachen / Kann stark und herrlich machen. // [3.] Kein Armer wird verachtet hier, / Kein Fremder, kein Verzagter; / Jetzt geht hinein zur Gnadenthür / Auch freudig ein Geplagter; / Ja die verschmähet von der Welt, / Den Sündern wurden zugesellt, / Sind nunmehr in dem Orden / Der Christen Bürger worden. // [4.] Laß Andre sich an Gold und Geld, / An Ehr und Lust ergezen, / Wir wollen unsern Wunderheld / Für allen Reichthum schäzen. / Hinweg von hier, du kaltes Eis, / Das nicht von seiner Wohlthat weiß! / Vor Liebe laßt uns brennen, / Dies Kind recht zu erkennen. // [5.] Kommt, laßt uns dieses Gnadenwerk / Mit rechtem Ernst betrachten, / Auf daß wir unsers Heilands Stärk / Und Thaten herrlich achten; / Ihn loben thut der Seele wohl, / Mein Gott ich bin schon Eifers voll, / Mein Heil ich mögt vor Freuden / Schier aus dem Fleisch izt scheiden. // Nach dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Gelobet seist du Jesus Christ, / Daß du Mensch geboren bist, / Des freut sich alle Christenheit / Und dankt dir des in Ewigkeit. / Halleluja. // Chor.

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[2.] Des ewgen Vaters einger Sohn, / Steigt herab vons Himmels Thron, / In unser armes Fleisch und Blut / Verkleidet sich das höchste Gut. / Halleluja. // [3.] Des Himmels Chor sich freut darob, / Engel singen Gottes Lob; / Den armen Hirten wird vermeldt / Der Hirt und Schöpfer aller Welt. / Halleluja. // [4.] Kündlich groß ist das gottselige Geheimniß: Gott / ist offenbaret im Fleisch. // [5.] Den aller Welt Kreis nie beschloß, / Der liegt in Marien Schooß. / Er ist ein Kindlein worden klein, / Der alle Ding erhält allein. / Halleluja. // [6.] Das ewge Licht bricht da herein, / Giebt der Welt ein’n neuen Schein, / Es leucht’t wol mitten in die Nacht / Und uns des Lichtes Kinder macht. / Halleluja. // Gemeine. [7.] Das hat er alles uns gethan, / Sein groß Lieb zu zeigen an, / Des freut sich alle Christenheit / Und dankt ihm des in Ewigkeit. / Halleluja. // Nach der Predigt. – Mel. Vom Himmel hoch da komm ich her. [1.] Wohl jedem Menschen in der Welt, / Der sich an dieses Kindlein hält! / Wohl jedem, der es recht erkennt / Und gläubig seinen Heiland nennt! // [2.] Auf, stimmt an mit der Engel Heer: / Gott in der Höhe sei nun Ehr, / Auf Erden Friede jederzeit, / Den Menschen Wonn und Fröhlichkeit! //

[Nr. 6]

Am zweiten Weihnachtstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Vom Himmel hoch etc. [1.] Auf freue dich mein Geist in mir, / Und preise deinen Gott, der dir / Selbst seinen Sohn zum Helfer giebt, / Preis’ ihn, daß er dich also liebt. // [2.] Lobsingt! Gott hat sein Wort erfüllt, / Sein Sohn, der Gottheit Ebenbild, / Der allergrößte Menschenfreund, / Sein eingeborner Sohn erscheint. // [3.] Vom Himmel kam in dunkler Nacht, / Der uns das Lebenslicht gebracht; / Nun leuchtet uns ein milder Strahl, / Wie Morgenroth im dunklen Thal. // [4.] Er kam, des Vaters Ebenbild, / Von schlechtem Pilgerkleid umhüllt, / Und führet uns mit sanfter Hand; / Ein treuer Hirt ins Vaterland. // [5.] Er, der jetzt bei dem Vater thront, / Hat unter uns als Mensch gewohnt, / Damit auch wir ihm werden gleich / Auf Erden und im Himmelreich. // [6.] Empor zu Gott, mein Lobgesang, / Er, dem der Engel Lied erklang: / Der hohe Freudentag ist da, / Ihr Christen singt HalIelujah! // Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Kommt laßt uns niederfallen, / Vor unserm Mittler Jesu Christ, / Und danken, daß er Allen / Erretter, Freund und Bruder ist, / Er gleicht der Morgensonne, / In ihrem ersten Strahl, / Verbreitet Licht und Wonne / Und Leben überall. / Durch ihn kömmt HeiI und Gnade / Auf unsre Welt herab, / Er segnet unsre Pfade / Durchs Leben bis ins Grab. // Chor. [2.] Er kömmt, und Seraphinen / Bedecken Ihm ihr Angesicht, / Und eilen Ihm zu dienen / Und scheuen Bethleems Armuth nicht. / Wie herrlich glänzt die Erde / Aus ihrer Nacht hervor! / Ihr Hirten dieser Heerde, / Hört ihr der

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Engel Chor? / O hin zu deiner Krippen, / Naht sich mein Geist entzückt, / Den Gottessohn, ihr Lippen / Besingt, den ich erblickt. // [3.] Er weidet seine Heerde, ein guter Hirte, und sammlet seine / Lämmer in seinen Arm. Er nimmt sie mit Erbarmen in seinen / Schooß, und suchet auf, das verlohren war. Kommt her zu / ihm, die ihr mühselig seyd! kommt her zu ihm mit Traurigkeit / beladne! denn er verleiht euch Ruh. Nehmt auf euch sein Joch, / und lernet von ihm, denn er ist sanft und demuthsvoll, dann / findet ihr Ruhe für euer Herz. // [4.] Uns ist zum Heil ein Kind geboren, ein Sohn ist uns ge- / geben, welches Herrschaft ist auf seiner Schulter, und sein Name / wird heißen Wunderbar Herrlichkeit, der starke Held, der Ewig- / vater, der Friedefürst. // [5.] Ehre sey Gott in der Höhe, und Friede auf Erden, und / den Menschen ein Wohlgefallen. // [6.] Ihr holden Engelchöre, / Nehmt eure neuen Freunde mit, / Wir singen Preis und Ehre / Und alle Himmel singen mit: / Anbetung, Preis und Ehre, / Dem der da ist und war, / Dem Sohn, den, Erde höre! / Ein sterblich Weib gebar! / Hier stürzen Freudenthränen, / Hier weint die Liebe Dank! / Wir huld’gen ihm, wir schwören / Und opfern Lobgesang. // Gemeine. [7.] O du durch den, ich lebe, / Was bring ich dir für Dank dafür? / Nimm meinen Geist, ich gebe / Den letzten Hauch noch freudig dir. / Wie selig kann ich sterben! / Hält mich der Staub doch nicht. / Ich weiß, was ich soll erben, / Und fürchte kein Gericht. / Seid selig, seine Engel! / Seid selig! gleicht ihr Ihm? / Ich kämpfe mich durch Mängel, / Und komme doch zu ihm. // Unter der Predigt. – Mel. Gelobet seyst du etc. Das ewge Licht kommt nun herein, / Giebt der Welt einen neuen Schein, / Es leucht’t wohl mitten in der Nacht, / Und uns des Lichtes Kinder macht. Hallelujah! // Nach der Predigt. – Mel. Lobe den Herren etc. Jauchzet ihr Himmel, frohlocket ihr englischen Chöre! / Singet dem Herren, dem, Heiland, ihr Menschen zur Ehre! / Sehet doch da, Gott will so freudig und nah / Zu den Verlornen sich kehren. //

[Nr. 7]

Am zweiten Weihnachtstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Vom Staub’ in dem wir wallen, / Soll, Jesu Christ, dein Lobgesang, / Empor zum Himmel schallen! / Dir opfre jede Seele Dank, / Und jeder der Gebohrnen / Freu sich ein Mensch zu sein, / Und jeder der Verlornen / Rühm es, erlöst zu sein! / Uns Sündern ward gegeben, / Zum Retter Gottes Sohn; / Mit ihm erschien das Leben, / Mit ihm des Himmels Lohn. // [2.] Kommt, laßt uns niederfallen / Vor unserm Mittler Jesus Christ, / Ihm danken, daß er allen / Erretter, Freund und Bruder ist. / Er, gleich der Morgensonne / Mit ihrem ersten Strahl, / Verbreitet Licht und Wonne, / Und Leben überall. / Durch ihn kommt Heil und Gnade / Dem sündigen Geschlecht, / Er leuchtet

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auf dem Pfade / Zum reinen Gottesrecht. // [3.] Frolockt ihr Mitgenossen, / Der Sünde wie der Sterblichkeit! / Nun ist nicht mehr verschlossen / Der Eingang in die Herrlichkeit. / Zu unsrer Erde nieder / Kam Gottes ew’ger Sohn, / Der hebt nun seine Brüder / Empor zu Gottes Thron. / Er war das Heil der Sünder / Und der Verlornen Hort, / Wir werden Gottes Kinder / Im Glauben an das Wort. // Nach dem Gebet. – Mel. Mein Freund zerschmilzt etc. [1.] Sohn Gottes, der den Himmel hat zerrissen, / Der sich zu mir in’s Elend niederließ, / Was für ein Trieb hat dich bewegen müssen, / Der dich herab in’s Erdenthal verwies ? / Die Liebe hat es selbst gethan, / Sie schaute hülfreich mich in meinem Jammer an // [2.] So groß ist Liebeskraft in deinem Herzen / Daß du für mich das größte Wunder thust, / Du senkst dich so in Leid und bitt’re Schmerzen, / Daß mir zu gut du unter Dornen ruhst, / O unerhörter Liebesrath, / Der so des Vaters Wort in’s Fleisch gesenket hat. // [3.] In ihm wird nun die Menschheit ausgesöhnet, / Die Reinigkeit der Seele wiederbracht, / Sie wird als Braut der Gottheit neu gekrönet, / Die gnädig so der Himmel hat bedacht, / Die Menschheit wird nun ganz erneut, / Und als ein reiner Thron der Gottheit eingeweiht. // [4.] Die Weisheit wohnt nun wieder auf der Erden / Das Paradies dem Menschen neu ergrünt, / Wo keine Frucht ihm kann gezeiget werden, / Die zu geniessen er sich nicht erkühnt. / Die neugeborne Seele spürt, / Daß wieder sie der Hauch aus Gottes Mund regiert. // [5.] Die Sünde kann uns auch nicht mehr verdammen, / Die ja durch Christum selbst verdammet ist! / Verletzen wol den Gläub’gen ihre Flammen, / Dem Christi Blut versöhnend sich ergießt? / Immanuel löscht ihre Glut, / Er läßt die Seele nicht, sie ist sein eignes Gut. // [6.] So hab ich nun ein ewig Leben funden, / Erfreue mich in seiner Liebesmacht; / Ich bin mit ihm, er ist mit mir verbunden, / Und der Verlust ist völlig wiederbracht! / Drum sei zum wohlverdienten Dank, / Das ganze Leben Ihm ein reiner Lobgesang. // Unter der Predigt. – Mel. Gelobet seist du etc. [1.] Den aller Weltkreis nie beschloß, / Der liegt in Mariens Schooß, / Er ist ein Kindlein worden klein, / Der alle Ding erhält allein, / Gelobt sei Gottt. // [2.] Das ew’ge Licht geht da herein, / Giebt der Welt ein’n neuen Schein, / Es leucht’t wohl mitten in der Nacht, / Und uns des Lichtes Kinder macht. / Gelobt sei Gott. // Nach der Predigt. – Mel. Ermuntre dich etc. Willkommen König jener Welt, / Du Friedenswiederbringer / Voll Rath und Kraft, du tapfrer Held, / Du starker Höllenzwinger. / Hilf daß ich deine Gütigkeit, / Stets preis’ in dieser Gnadenzeit, / Daß ich zu dir erhoben, / Dich ewig möge loben. // Es wird wieder Vorausbezahlung auf das nächste Jahr angenommen. Auch werden von dem ablaufenden Jahrgang noch geheftete Exemplare von Neujahr an zu haben sein.

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[Nr. 8]

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Am Sonntage nach Weihnachten.

Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc; [1.] Laßt Gottes Güt’ uns preisen, / Denn Gott ermüdet nicht, / Die Treue zu beweisen / Die uns sein Wort verspricht. / Schon endet sich ein Jahr / Von unserm Leben wieder; / Und Gott ist, o ihr Brüder! / Noch immer der er war, // [2.] Noch immer reich an Güte, / Erbarmend voll Geduld. / Mit dankendem Gemüthe / Betrachtet seine Huld! / Er wars, der unser Land, / Der unser Leben schützte; / Er gab uns, was uns nützte, / Mit immer milder Hand. // [3.] Er hat die Kirch erhalten, / Und für den Unterricht / Der Jugend und der Alten / Der Offenbarung Licht! / Der uns geschaffen hat, / Ward nie des Wohlthuns müde; / Er gab den Sieg, und Friede / Beglücket Land und Stadt. // [4.] Er, der als Gott belohnte / Was gut war, trug voll Huld / Die Irrenden und schonte / Die Sünder mit Geduld! / Sein Bund mit uns steht fest, / Er trägt auf Vaterarmen / Und segnet voll Erbarmen / Selbst den, der ihn verläßt. // [5.] Ja, seine Vatertreue / Nimmt auch die Sünder an, / Wenn sie mit wahrer Reue / Und glaubend ihm sich nahn! / Er will, was wir bereun, / Uns väterlich vergeben, / Und uns zum bessern Leben / Muth und auch Kraft verleihn. // Nach dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. [1.] Der Herr ist Gott! singt ihm ein Lied / In seinem Heiligthume! / Er, der vom Himmel auf euch sieht, / Er schuf euch ihm zum Ruhme. / Gott zu verehren seyd ihr da, / Er, der euch, eh’ ihr wurdet, sah, / Kennt Herzen und Gedanken, / Der Herr ist heilig! Er allein / Will aller Menschen Heiland sein, / Und jeder soll ihm danken. // [2.] Der Engel betet an und brennt, / Ihm jauchzen Morgensterne, / Der Mensch, der ihn nur schwach erkennt, / Ehrt ihn aus dunkler Ferne, / Ihm jauchzen in der Höh und Luft, / Ihm jauchzen tief in Fels und Kluft / Der Schöpfung ganze Heere! / Der Sonne feuerreiche Pracht, / Das blasse Licht der stillen Nacht, / Verkündigt Gottes Ehre. // [3.] Der Herr vergiebt uns unsre Schuld, / Wenn wir um Gnade beten; / Er trägt die Schwachen mit Geduld, / Er will uns selbst vertreten. / Er strafet und verschont zugleich. / Der Herr ist Gott, sein ist das Reich! / Gott hört der Frommen Sehnen; / Er segnet sie; wenn Unfall droht, / Erlöst er sie von Sorg und Noth, / Und zählet ihre Thränen. // [4.] Jauchzt, Völker, jauchzt, gelobt sei Gott! / Preist ihn durch frohe Lieder! / Sagt Berge nach: Gelobt sey Gott! / Ihr Thäler hallt es wieder! / Gelobt sey Gott! voll Lust und Dank / Dring unser hoher Lobgesang, / Bis in die stillsten Wüsten! / Der Sünder zittre, froher Muth / Und frommer Andacht heilge Glut / Erfülle jeden Christen. // Unter der Predigt. – Mel. Lobe den Herren etc. [1.] Höre doch Vater das Flehn der vereinten Gemeinde, / Daß überschwenglich das Licht der Erkenntniß erscheine! / Daß nicht zu spät, wer deine Wahrheit verschmäht, / Seine Verblendung bereue. // [2.] Laß uns, die wir nach dem Namen des Heilands uns nennen / Ihn als die Quelle des Lichts und des Lebens erkennen, / Ihm, der uns lehrt, wie dein Volk würdig dich ehrt, / Ihm laß die Herzen entbrennen. //

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Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Ihr, die ihr Christi Namen nennt, / Gebt unserm Gott die Ehre! / Ihr, die ihr Gottes Macht erkennt, / Gebt unserm Gott die Ehre, / Der Herr hat alles wohlbedacht, / Und alles, alles recht gemacht, / Gebt unserm Gott die Ehre. //

[Nr. 9]

Am Neujahrstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Werde munter etc. [1.] Hilf Herr laß es wohl gelingen, / Hilf ein neues Jahr geht an, / Laß es neue Kräfte bringen, / Neuen Segen jedermann! / Deine Kirche und Gemein, / Laß dir Herr empfohlen sein. / Neues Heil und neues Leben / Wollest du aus Gnade geben. // [2.] Ja es sei ein Jahr der Gnaden, / Habe ferner noch Geduld! / Herr wir sind mit Schuld beladen, / Ach erlaß uns unsre Schuld! / Wirke selber Reu und Leid, / Und laß aus Barmherzigkeit, / Uns Verzeihung aller Sünden, / In dem Blute Jesu finden. // [3.] Der du uns dies Jahr gegeben / Gib daß dirs geweihet sei. / Hilf uns fromm und christlich leben, / Daß wir ohne Heuchelei / Voll von Bruderliebe sein, / Auch dem Nächsten gern verzeihn, / Daß wir heilig schon auf Erden / Und im Glauben selig werden. // [Rühs.] Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir etc. [1.] Kommt! Dies sei uns ein Tag des Bundes; / Dem frommen Bunde bleibet treu, / Und den Gelübden unsers Mundes, / Stimm unsre Seele redlich bei! / O Land, gelobe Gott zu dienen; / Und du wirst wie ein Garten grünen, / Den er sich selbst gepflanzet hat, / Geht Menschen, geht auf seinen Wegen, / Dann macht sein unerschöpfter Segen, / Aus seiner Füll euch täglich satt. // [2.] Gott! schau herab von deinen Höhen, / Auf uns als Kinder die du liebst! / Erhöre dir in Christo flehen, / Gieb wie du deinen Kindern giebst! / Für den flehn wir um Heil und Leben, / Den du zum Herrscher uns gegeben; / Durch Furcht vor dir besteh sein Thron, / Laß ihn auf Recht und Wahrheit schauen, / Durch Recht des Reiches Wohlfahrt bauen, / Der Herzen Liebe sei sein Lohn. // [3.] Erhalte deiner Kirche Wächter, / Herr deiner lautern Lehre treu, / Daß noch die spätesten Geschlechter, / Die Predigt deines Worts’ erfreu! / Hilf ihnen, Herr, daß ihre Lehren, / Nie leer an Früchten wieder kehren, / Und wir uns ganz der Wahrheit weihn! / Durch sie laß Segen auf uns fließen; / Sie pflanzen Herr und sie begießen, / Doch nur von dir kommt das Gedeihn. // [4.] Den Obrigkeiten unsers Landes, / Steh selbst zu ihren Pflichten bei, / Damit die Wohlfahrt jedes Standes, / Und jeder Fleiß gesichert sei! / Senk deine Furcht in unsre Jugend, / Gieb daß nebst Wissenschaft auch Tugend, / In allen unsern Schulen blüh! / Des Landes Hoffnung laß gerathen, / Daß man nicht Bürger nur für Staaten, / Auch Christen für den Himmel zieh. // [J. A. Schlegel.] Unter der Predigt. – Mel. Wach auf mein Herz etc. [1.] Gott wehre du den Kriegen / Laß Lieb und Eintracht siegen! / Laß sich wo Thränen fließen, / Des Trostes Quell ergießen. // [2.] Sprich deinen milden

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Segen, / Zu allen unsern Wegen! / Laß Großen, Herr, und Kleinen / Die Gnadensonne scheinen. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir etc. Laß keine Seel ihr Heil verscherzen, / Und mache du die Thoren klug, / Gieb deinen Trost bedrängten Herzen, / Und unsern Armen Brodt genug! / Gott unser Flehn sei Ja und Amen, / In Jesu, denn in Jesu Namen, / Giebst du, was unser Herz begehrt. / Gott unser Vater dir zum Preise, / Segn’ uns auch dieses Jahr, beweise, / Du seist es der Gebet erhört. //

[Nr. 10]

Am Sonntag nach Neujahr.

Vor dem Gebet. – Mel. Es ist das Heil uns kommen her. [1.] Bringt her dem Herren Lob und Ehr / Aus freudigem Gemüthe / Ein jeder Gottes Ruhm vermehr / Und preise seine Güte! / Ach lobet lobet alle Gott, / Der uns befreiet aus der Noth / Und danket seinem Namen. // [2.] Lobt Gott! er gab uns seinen Sohn, / Der für uns ist gestorben, / Uns Fernen auch des Lebens Kron / Durch Noth und Tod erworben, / Der worden ist der Höllen Gift, / Und Frieden hat mit Gott gestift’t / O danket seinem Namen. // [3.] Lobt Gott der in uns durch den Geist / Den Glauben angezündet / Und alles Gute noch verheißt / Uns stärket kräftget gründet, / Der uns erleuchtet durch sein Wort, / Regiert und treibet fort und fort / O danket seinem Namen // [4.] Lobt Gott ihr starken Seraphim / Ihr Fürstenthum und Thronen! / Es loben Gott mit heller Stimm, / Die hier auf Erden wohnen! / Lobt Gott und preist ihn früh und spat / Ja alles was nur Odem hat / Das danke seinem Namen. // Nach dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt. [1.] Werde licht du Stadt der Heiden / Und du Salem werde Licht / Schaue welch ein Glanz mit Freuden / Ueber deinem Haupt anbricht / Gott hat derer nicht vergessen, / Die im Finstern sind gesessen. // [2.] Welch ein wüstes Erdgetümmel / Ehe dieses Licht brach an! / Ja es hatte sich vom Himmel / Schier gewendet jedermann; / Fleisch und Welt hielt uns betrogen / Und vom Himmel abgezogen. // [3.] Gottes Rath war uns verborgen, / Seine Gnade schien uns nicht; / Unter Freuden unter Sorgen / Fehlt es jedem an dem Licht / Das zum rechten Himmelsleben / Uns allein kann Leitung geben. // [4.] Aber wie hervorgegangen / Ist der Aufgang aus der Höh, / Haben wir das Licht empfangen / Welches so viel Angst und Weh / Aus der Welt hinausgetrieben / Daß kein Dunkel übrig blieben. // [5.] Schenk uns stets das Licht der Gnaden / Das ein Licht des Lebens ist, / Ohne welches leicht in Schaden / Fallen kann ein frommer Christ! / Laß uns dieses Licht erfreuen / Wenn wir aus der Tiefe schreien. // [6.] Gieb Herr Jesu Kraft und Stärke / Daß wir auch zu jeder Zeit / Dir durch lichte Glaubenswerke / Folgen in Gerechtigkeit, / Und zum rechten Himmelsleben / Andern Licht und Wärme geben. //

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Unter der Predigt. [1.] Herr Jesu Christ dich zu uns wend, / Dein heiligen Geist du zu uns send / Mit Hilf und Gnad er uns regier / Und uns den Weg zur Wahrheit führ. // [2.] Thu auf den Mund zum Lobe dein / Bereit das Herz zur Andacht fein / Den Glauben mehr, stärk den Verstand / Daß uns dein Nam werd wohl bekannt. // Nach der Predigt. – Mel. Eins ist Noth ach Herr dies Eine. Gönn uns Jesu hier auf Erden / Zeugen deiner Kraft zu sein, / Deinem Bilde gleich zu werden! / Ja du wollest uns verleihn / Des Lebens vollkommene Freiheit und Rechte / Als unsers vollendeten Heilands Geschlechte. / Der Unglaub mag denken wir bitten zu viel / So thust du doch über der Bitten ihr Ziel. //

[Nr. 11]

Am 2ten Sonntag nach Epiph.

Vor dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt. [1.] Unser Herrscher, unser König, / Unser allerhöchstes Gut! / Herrlich ist dein großer Name, / Welcher Wunderthaten thut / An den Völkern auf der Erden, / Daß sie Himmelsbürger werden. // [2.] Wenig sind zu diesen Zeiten, / Welche dich von Herzensgrund / Lieben, suchen und begehren! / Aus des schwachen Säuglings Mund / Hast du dir ein Lob bereitet, / Welches deine Macht ausbreitet. // [3.] Es ist leider zu beklagen! / Ja wem bricht das Herze nicht, / Wenn man siehet so viel tausend / Fallen bei dem hellen Licht! / Ach wie sicher schläft der Sünder, / Und wie schmerzt das deine Kinder! // [4.] Unterdessen, Herr mein Heiland, / Ich will treulich lieben dich / Denn ich weiß du treues Herze / Daß du warlich liebest mich. / Zeuch mich kräftig von der Erden / Daß mein Geist mag himmlisch werden! // Nach dem Gebet. – Mel. Zeuch meinen Geist. [1.] Hier legt mein Sinn vor dir sich nieder / Mein Geist sucht seinen Ursprung wieder / Laß dein erfreuend Angesicht / Zu meiner Armuth sein gericht’t // [2.] Schau her, ich fühle mein Verderben / Laß es in deinem Tode sterben / O möchte doch durch deine Pein / Die Eigenlieb’ ertödtet sein! // [3.] Ich fühle wohl daß ich dich liebe / Und mich in deinen Wegen übe; / Nur ist von der Unlauterkeit / Die Liebe noch nicht ganz befreit. // [4.] Ich muß noch mehr auf dieser Erden / Durch deinen Geist geheiligt werden / Der Sinn muß tiefer in dich gehn / Der Fuß muß unbeweglich stehn. // [5.] Ich weiß mir zwar nicht selbst zu rathen, / Hier gelten nichts der Menschen Thaten / Wer macht das Herz wol selber rein? / Es muß durch dich gewirket sein. // [6.] Doch kenn ich auch dein heilges Lieben / Du bist noch immer treu geblieben; / Ich weiß gewiß du stehst mir bei / Und machst mich endlich völlig frei. // [7.] Indessen will ich treulich kämpfen / Und jede falsche Regung dämpfen / Du führst mich aus dem Kampf und Streit / Zuletzt in volle Sicherheit. // [8.] So

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will dle Sorge meiner Seelen / Ich dir mein Heiland ganz empfehlen; / Ach drücke tief in meinen Sinn / Daß ich in dir schon selig bin. // Unter der Predigt. – Mel. Herr Jesu Christ dich zu uns wend. [1.] Hier sind wir Gott und flehn um Licht / Verweigre deinen Geist uns nicht / Laß uns dein heilig Wort verstehn / Und freudig deine Wege gehn. // [2.] Daß wir im Glauben stark, und frei / Von aller Sünd und Heuchelei / Dir dienen unsre Lebenszeit / In Wahrheit und Gerechtigkeit. // Nach der Predigt. – Mel. Seelenweide meine Freude. [1.] Wer mit Inbrunst Jesum liebet / Daß er seiner selbst vergißt / Wer sich nur in ihm betrübet / Und in ihm nur fröhlich ist; // [2.] Wer allein auf Jesum trauet / Wer in Jesu alles find’t, / Der ist auf den Fels erbauet / Und ein seligs Gnadenkind. //

[Nr. 12]

Am vierten Sonntage nach Epiphan.

Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft uns die Stimme. [1.] Was beweget mich zu trauern? / Mein Leiden kann nicht lange dauern, / Es währt hier einen Augenblick. / Schwinge dich in jene Freude / O Seele die du trägest Leide, / Und laß der Welt die Angst zurück. / Wer keine Hofnung hat, / Der wird von Seufzen matt / Und muß trauern: ein wahrer Christ / Hingegen ist voll Freudigkeit zu jeder Frist. // [2.] Mich bekümmert zwar die Sünde / Die ich sowol an mir noch finde / Als an den Brüdern in der Welt; / Diese will ich stets beweinen, / Doch nie im Trauern trostlos scheinen, / Weil ja mein Glaube Jesum hält. / Er ist es der mich tröst’t, / Durch ihn bin ich erlöst. / Jesu Jesu, wie wohl ist mir, / Wenn ich alhier mit starkem Glauben traue dir! // [3.] Meiner Schuld bin ich entladen, / Ich habe Theil an deinen Gnaden / Das weiß und glaub ich festiglich. / Lob sei Gott, der mir gegeben / Den Geist, in dem die Seinen leben, / Und sich erbarmet über mich! / Was kann der Feind mir thun? / Ich bin und heisse nun / Kind und Erbe. Was acht ich Hohn? / Die Ehrenkron besiz ich hier im Glauben schon. // Nach dem Gebet. – Mel. Meinen Jesum laß ich nicht. [1.] Opfer für die ganze Welt, / Du erschienst in deinem Tempel, / Daß du würdest vorgestellt / Uns zum löblichen Exempel, / Wie man sich von Jugend an / Deinem Vater opfern kann. // [2.] Laß mein Herze Taubenart / Wie du hattest an sich haben / Glaub’ und Liebe sei gepaart / Nimm vorlieb mit meinen Gaben! / Schmachtet auch das Täubelein / Gib Geduld ihm in der Pein. // [3.] Ziehe meine Seel an dich / Alles irdische vertreibe / Daß sie liebe brünstiglich / Jesu dich, und wacker bleibe! / Was du hast sei alles mein, / Was ich hab ist alles dein. // [4.] Ich will dich mit Simeon / An mein treues Herze drücken; / Du wirst hoher Gottessohn / Mich mit Rath und Trost erquicken / Du o Tröster Israel / Glorreicher Immanuel! // [5.] Sei der müden Augen Licht! / Wenn der Tod sie will verschließen; / Fehle mir die Hoffnung

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nicht! / Wenn ich werde sterben müssen, / Stärke mich der frohe Blick / Auf der Deinen Heil und Glück. // [6.] Ja dies sei mein Schwanenlied: / Laß mich Herr in Friede fahren / Wenn dich nur mein Auge sieht / In den auserwählten Schaaren, / Die dein Geist zu dir bekehrt, / Deren Treue dich verklärt. // Unter der Predigt. – Mel. Kommt her zu mir spricht. Ach stell mein Herz dich ganz und gar / Dem großen Himmels Herren dar, / Und laß zurück die Sünden! / Verlaß die Welt und all ihr Thun / Und such in Gott allein zu ruhn / So wirst du Gnade finden. // Nach der Predigt. – Mel. Großer Prophete mein Herze. [1.] Die ihr den Herren liebt, hasset das Böse! / Heilige Seelen die nimmt er in Hut / Daß er von deren Gewalt sie erlöse / Welche sie hassen und suchen ihr Blut. / Klarheit und Licht muß den Frommen aufgehn / Freude den richtigen Herzen bestehn. // [2.] O Ihr Gerechten drum sollt Ihr euch freuen / Freuet und rühmet euch alle zugleich / Freut euch im Herren ihr seine Getreuen / Der euch, den Seinen, beschieden das Reich! / Danket und preiset den heiligsten Gott / Der euch errettet aus Noth und vom Tod. //

[Nr. 13]

Am 4ten Sonntage nach Epiphanias.

Vor dem Gebet. – Mel. Wunderbarer König. [1.] Gott ist gegenwärtig! lasset uns anbeten, / Und mit Ehrfurcht vor Ihn treten, / Gott ist in der Mitten! alles in uns schweige, / Und sich innig vor Ihm neige, / O Gemein! Ihn allein unsern Gott und Herren, / Sei vereint zu ehren. // [2.] Majestätisch Wesen, möchten wir dich preisen, / Und im Geist dir Dienst erweisen, / Möchten wir wie Engel immer vor dir stehen, / Die dich gegenwärtig sehen, / Laß uns dir für und für liebster Gott in allen, / Trachten zu gefallen. // [3.] Innig und einfältig mach uns, abgeschieden, / Sanftmüthig in stillem Frieden; / Wie die zarten Blumen willig sich entfalten, / Und der Sonne stille halten, / Daß wir so still und froh deine Strahlen fassen, / Und dich wirken lassen. // [4.] Herr komm in uns wohnen und laß uns auf Erden / Dir zum Heiligthume werden, / Komm du nahes Wesen dich in uns verklären, / Woll uns diesen Wunsch gewähren, / Daß das Herz allerwärts sich zu dir erhebe, / Und in dir nur lebe. // Nach dem Gebet. – Mel. Kommt her zu mir spricht. [1.] Wenn endlich eh es Zion meint, / Die höchst erwünschte Stund erscheint, / Da Gott Erlösung geben, / Die Bande reißen wird entzwei, / Und die Gefangnen machen frei / Was wird man da erleben. // [2.] Vor übergroßer Seligkeit, / Wird dann in der Erfüllungszeit, / Das Aug uns übergehen, / Wir werden sein als Träumende, / Bestürzt obs in der That gescheh, / Und wahr sei was wir sehen. // [3.] Das Volk so jezo uns verlacht, / Und unsre Hofnung gar nicht acht’t, / Wird dann bekennen müssen, / Daß Jesu Reich nicht Fantasei, / Und süßer Traum gewesen sei, / Wie sie zu lästern wissen. // [4.] Ihr Kinder seid nur wohlgemuth, / Denn Gott der große Wunder thut, / Hat sich schon aufge-

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machet, / Ich bin der Herr Immanuel, / Und gehe her vor Israel, / Ob dem mein Auge wachet. // [5.] Schaut in der Einfalt nur auf mich, / Ich führ die Meinen wunderlich, / Durch meine Allmachtshände. / Ihr Leiden währet kurze Zeit / Bis zum Triumph der Herrlichkeit / Und nimmt ein seelges Ende. // [6.] Es ist schon so sein Gnadenrath / Daß erst gescheh die Thränensaat, / Dann erndtet man die Freuden. / Izt tragen wir nach seinem Sinn / Annoch den edlen Saamen hin, / Das Korn der Thrän’ und leiden. // [7.] Der Winter geht nun bald davon, / Die volle Blüte zeigt sich schon, / Die Tage sind zu zählen. / Bald hat die Kirche Christi Luft, / Bringt ihre Garben heim und ruft, / Die Hofnung konnt nicht fehlen. // Unter der Predigt. – Mel. Gott sei Dank in aller Welt. [1.] Frolock liebe Christenheit, / Denk nicht an dein vorig Leid, / Denn dir ist solch Gnad geschehn / Dran Engel ihr Lust noch sehn. // [2.] Gott hat sein Herz zu dir gewandt, / Schön verneuert deinen Stand, / Dich von Sünd und Tod erlöst / Und dir geschenkt ewgen Trost. // Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich dir geben. [1.] Gewiß es wird erscheinen / Die höchst erwünschte Zeit, / Die die bedrängten Seinen / Mit Hülf und Trost erfreut. / Dann werden ihre Feinde / Mit Angst und Zittern sehn, / Wie alle Gottesfreunde / In voller Klarheit stehn. // [2.] So laßt uns Ihn dann loben, / Der sich durch große Gnad / Uns durch sein milde Gaben / Geoffenbaret hat. / Er wird uns auch erhalten / In Lieb und Einigkeit, / Und unser freundlich walten / Hier und in Ewigkeit. // Was beim Empfang in die Büchsen geworfen wird, ist zur Bestreitung der Kosten bestimmt. Wer etwan, wünscht ein Exemplar vollständig zu erhalten, pränumerirt auf das laufende Jahr 12 Gr. Cour. und erhält es jedesmal zugeschickt; Pränumeration nimmt Herr Prediger Pischon an.

[Nr. 14]

Am Sonntage Sexagesimä.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle Wälder [1.] Verleih o Herr du Treuer! / Von deinem Geist und Feuer, / Uns Rauchwerk zum Gebet! / Und kindlich frohe Herzen, / Und helle Gnadenkerzen, / Die keine fremde Luft verweht, // [2.] Ein Ohr das Gnade höret, / Ein Auge das nichts störet, / Dich freudig anzusehn, / Und priesterliche Lippen, / Und Füße die die Klippen / Der Welt getrost mit dir durchgehn. // [3.] Die Hände müssen segnen, / Der Seel ihr Freund begegnen, / Der Leib ein Tempel sein, / Den Geist beleb ein Wehen, / Das Niemand kann verstehen, / Als er allein und die Gemein! // [4.] Geh mit uns wo wir gehen, / Gewähr uns wenn wir flehen, / Und segne was wir thun: / So wird uns nichts mehr quälen / Noch etwas Gutes fehlen, / Wir werden ewig in dir ruhn. // Nach dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne. [1.] O Tage wahrer Seligkeit, / O freudenvolles Leben, / Wenn uns in dieser Gnadenzeit, / Die Sünden sind vergeben; / Die Jesus hat gebüßt, / Wenn man

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das Heil genießt, / Das Er, indem Er uns versühnt, / Aus seiner Fülle hat verdient. // [2.] Der Friede Gott’s das höchste Gut. / Bekümmerter Gewissen, / Kommt dann wie eine Segensfluth, / Sich in das Herz ergießen, / Dem Gnade, Trost und Heil, / So reichlich wird zu Theil, / Daß es schon hier mit Jesu Christ, / Im seligsten der Himmel ist. // [3.] Sagt an die ihr erlöset seid, / Und von dem Fall erstanden, / Wodurch ist solche Seligkeit, / Auf diese Zeit vorhanden? / Nur durch das Gottes Lamm / Der Seelen Bräutigam, / Denn keine Seele kommt zur Ruh, / Sie eile denn auf Jesum zu. // [4.] Wie aber daß auch Schaam und Schmerz / Noch bei der Freud’ erscheinet, / Und daß ein solch begnadigt Herz, / Hienieden oft noch weinet? / Ei weil es nie vergißt, / Wer es gewesen ist, / Und daß die uns geschenkte Gnad / Ihn Blut und Tod gekostet hat. // [5.] Des Christen Glück ist in der That / Nicht gnugsam auszusprechen; / Denn wen Sein Blut versöhnet hat, / Dem heilts auch die Gebrechen, / Die Sünde geht zur Ruh, / Die Wunden heilen zu, / Und jedes Herz wird licht und leicht, / Das nicht aus Seinem Joche weicht. // [6.] Dies ist zu unsrer Seligkeit / Des heilgen Geists Geschäfte, / Daß er uns in der Gnadenzeit / Das Aug auf Jesum hefte. / Die Kirch’ ist so sein Haus, / Da schmückt er Seelen aus / Mit Christi Blut und Christi Sinn, / Und führt sie so zum Bräutgam hin. // Unter der Predigt. – Mel. Ach alles was Himmel. Auf Jesum sein unsre Gedanken gerichtet, / Ihm sind wir, Ihm bleiben wir ewig verpflichtet, / Er hat uns mit Seilen der Liebe gefangen / Er stillt auch allein unser ganzes Verlangen. // Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr o meine Seele. Wenn ich Jesum Christum sehe / Laß ich alles wie es heißt, / Daß nur Er mir nicht entgehe, / Der sich mir so gnädig weist. / Für ihn geb ich alles dran, / Er hat was ich wünschen kann. / Wird mein Herz an Ihn nur gläuben, / So werd ich auch seine bleiben. // Was beim Empfang der Gesänge in die Büchsen gegeben wird ist zu Deckung der Kosten bestimmt. Wer etwa wünscht ein vollständig Exemplar zu erhalten pränumerirt auf das laufende Jahr 12 Gr. Cour. und erhält es dafür zugeschickt; Pränumeration nimmt Herr Prediger Pischon an.

[Nr. 15]

Am Sonntage Sexagesimä.

Vor dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht. [1.] Jesus ist das Heil der Welt / Arzenei für alle Wehen; / Jesus ist ein starker Held / Uns im Kampfe beizustehen. / Wo mein Jesus wird gesehn / Muß auch Freude bald entstehn. // [2.] Jesus ist ein ewger Schatz / Und ein Abgrund aller Liebe, / Ist der Seele Freudenplatz / Stillung ihrer höchsten Triebe. / Willst du froh und fröhlich sein, / Schließ ins Herze Jesum ein. // [3.] Jesus ist voll Himmels Schmuck, / Daß er Sinn und Herz erquicket, / Ist der Gottheit Meisterstück / Drin sie sich ganz abgedrücket; / Willt du sehn wie Gott ge-

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stalt’t, / Jesum schau, so siehst du’s bald. // [4.] Denn ein Strahl der Herrlichkeit / Strahlt aus seinem Angesichte, / Mit dem Blitz der Ewigkeit / Macht er Leib und Seele lichte, / Und in Ihm erscheint uns ganz / Wahrer Schönheit Himmelsglanz. // [5.] Aller Engel Huld und Schein, / Aller Heilgen Pracht und Prangen / Ist in seinem Bild allein / Hundertfältig aufgegangen; / Drum auch Gott sein Angesicht / Von dem Sohne wendet nicht. // Nach dem Gebet. – Mel. Mir nach spricht Christus. [1.] Du deines Vaters Ebenbild, / Bild seiner höchsten Liebe, / Du warst o Jesu ganz erfüllt / Mit Gottgeweihtem Triebe, / Gott war dein Zweck dein höchstes Gut / Ihm folgtest du mit Heldenmuth, // [2.] Du warst mit Ihm ein Sinn ein Herz, / Sein Wille war dein Wille, / Du ehrtest auch im tiefsten Schmerz / Ihn mit gelaßner Stille, / Auch wenn du littest ohne Schuld / Ertrugst dus willig mit Geduld. // [3.] Du suchtest nur Pflicht und Gebot / Vollkommen zu erfüllen, / Du unterwarfst dich bis zum Tod / Ganz deines Vaters Willen, / Dein großes Ziel war dies allein / Ein Herold seines Ruhms zu sein. // [4.] Der Kummervollen Trost zu sein / Zu wehren jedem Leide, / Stets wohlzuthun und zu erfreun / War deine Sorg und Freude, / Und jedes armen Bruders Schmerz / Ergriff dein hülfreich mildes Herz. // [5.] Welch hohes Beispiel hast du mir / O Jesu hinterlassen, / Wie du zu leben, ähnlich dir / Zu sein im Thun und Lassen! / Nimm, sprichst du, meine Last auf dich, / Komm folge mir und thu wie ich. // [6.] Ich komme Herr gieb Kraft und Licht / Daß ich mein Heil erkenne, / Dein wahrer Jünger sei, und nicht / Mich nur den deinen nenne, / Damit ich deinem Vorbild treu / Auch meiner Brüder Vorbild sei. // Unter der Predigt. – Mel. Seelenbräutigam. [1.] Wer ist so wie du? Stifter wahrer Ruh, / Jesu Freund der Menschenkinder, / Retter der verlornen Sünder, / Licht und Seelenruh, fließt von Dir uns zu. // [2.] Zeuch zu dir mein Herz! laß in Freud und Schmerz / Mich an deine Treue denken, / Und wenn Noth und Furcht mich kränken, / O so gieb im Schmerz, Muth und Trost ins Herz. // Nach der Predigt. – Mel. Sollt ich meinen Gott. Dank sei dir von allen Frommen, / Preis und Dank sei dir geweiht, / Herr durch dich ist Heil gekommen / In das Land der Sterblichkeit. / Wer gleich Dir durchs Leben gehet / Schmeckt schon hier des Himmels Lust, / Freude wohnt in seiner Brust / Und sein Geist wird einst erhöhet, / Auch dann mischt sich unser Dank / In der Engel Lobgesang. //

[Nr. 16]

Am Sonntag Estomihi.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun freuet euch lieben. [1.] Erhebe dich du meine Seel, / Die Finsterniß vergehet, / Der Herr erscheint in Israel / Sein Licht am Himmel stehet; / Erhebe dich aus deinem Schlaf, / Daß er was Gutes an dir schaff / Indem er dich erleuchtet. // [2.] Laßt uns an das Geschäfte gehn / Den Herren zu erheben, / Laßt uns indem wir aufer-

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stehn / Beweisen daß wir leben! / Laßt uns in diesem Gnadenschein / Nicht ohne Frucht nicht müßig sein / Indem er uns erleuchtet. // [3.] Ein Tag geht nach dem andern fort / Das große Werk bleibt liegen; / Ach hilf nur Herr du treuster Hort / Daß wir uns nicht betrügen! / Froh laß uns greifen an das Werk, / Gieb Gnade Seegen Kraft und Stärk / Im Licht das uns erleuchtet. // [4.] Du zeigst was zu verrichten sei / Auf unsern Glaubenswegen; / So hilf uns nun und steh uns bei / Verleihe deinen Seegen / Daß wir verkündigen dein Wort / Von Land zu Land von Ort zu Ort / So wie dein Licht uns leuchtet. // [5.] Das Licht des Glaubens sei in mir / Ein Licht der Kraft und Stärke! / Es sei die Demuth meine Zier / Die Lieb das Werk der Werke! / Mit Weisheit fülle mich dein Geist / Und so sei wie du selbst verheißt / Die ganze Seel erleuchtet. // Nach dem Gebet. – Mel. Mir nach spricht Christus. [1.] Wo gingt ihr hin, wo kamt ihr her? / Izt modernde Gebeine! / Ihm gingt ihr nach je mehr und mehr / Dem Herzog der Gemeine / Ihr kamt von ihm gesendet her / Verkündend seine Lieb und Lehr. // [2.] Gelobt sei euer muntrer Gang / Und eurer Tritte Rauschen! / Mögt ihr nun Freiheit gegen Zwang / Ruh gegen Unruh tauschen! / Geht hin, der euch gerufen hat / Rüst’t andre mehr an eurer Statt. // [3.] Wir, denen ihr das Wort vertraut, / An uns ist nun die Reihe; / Auf uns nunmehr die Kirche baut / Und giebt uns ihre Weihe. / Wer Eifer fühlt und muthgen Sinn / Geh in des Herren Erndte hin! // [4.] Ihr Zeugen, kennt ihr euren Weg? / Er geht in Todes Rachen; / Das ist der alt gewohnte Steg / Für die so Friede machen, / Weil dem der Christum prediget / Es so wie seinem Meister geht. // [5.] Nur haltet euch von allem frei / Was Christi Namen schändet! / Es sinnt die Welt gar mancherlei / Wie sie es also wendet, / Daß wer mit Christo treu es meint / Um Uebelthat zu leiden scheint. // [6.] Geht hin, ihr Zeugen, geht ins Feld / Des Königs unsrer Seelen! / Der Ueberwinder aller Welt / Wird eure Geister stählen / Er wird euch hülfreich nahe sein / Und tröstet euch in aller Pein // [7.] Dem Kaiser gebt was seine ist / Und Gott was Gott gehöret; / Ein Herz den Brüdern ohne List / Das Jesu Namen ehret! / Des Lebens habet nicht Gewinn / Und wo er ist, da fahrt einst hin. // Unter der Predigt. – Mel. Die Seele Christi heilge mich. [1.] O wagt euch alle für ihn dran / Und lauft die angewiesene Bahn / Gebt euer Leben gerne her / Zu seinem Dienst zu Gottes Ehr. // [2.] Ein kleiner Anfang ist gemacht / Noch ist die Erde sehr voll Nacht / Ach brich herein zu unserer Zeit / Du Sonne der Gerechtigkeit. // Nach der Predigt. – Mel. Es woll uns Gott gnädig sein. Durch uns auch laß dein Wort gedeihn / Durch uns dein Werk gelingen / Uns gleich dem guten Lande sein / Und reichlich Früchte bringen. / Uns segne Vater Sohn und Geist / Daß unser Heil sich mehre / Er unser Gott sei hoch gepreißt / Ihn lob und ihn verehre / Der ganze Weltkreis. Amen. //

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[Nr. 17]

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Am Sonntage Estomichi.

Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc. [1.] Allmächtiger, ich hebe / Mein Aug’ empor zu dir. / Preis dir, durch den ich lebe, / Und neuer Dank dafür! / Herr, deine Huld ist groß! / Und du läßt dir das Lallen / Des Dankes wohlgefallen, / Das aus dem Herzen floß. // [2.] Daß nicht in tiefen Schlummer / Des Lebens Licht erlischt, / Und daß mich, frei von Kummer, / Ein sanfter Schlaf erfrischt, / Das dank ich deiner Macht / Und deiner Vatertreue; / Durch sie bin ich aufs neue / Mit heiterm Muth erwacht. // [3.] Beschützer meiner Seele, / Ich traue stets auf dich. / Was ists, daß ich mir wähle, / Ach, wähle du für mich! / Gieb was mir nützlich ist, / Du, dem ich alles danke, / Mein freudigster Gedanke, / Sei, daß du um mich bist! // [4.] Er stärke mich mit Freuden, / Zu thun, was dir gefällt, / Er tröste mich in Leiden! / Und will die Lust der Welt / Mich jemals nach sich zieh’n, / Helf er mein Herz bewahren, / Und lehr mich die Gefahren / Der Sünde seh’n und flieh’n. // [5.] Gott, dem ich angehöre, / Dein Friede ruh’ auf mir, / Mein Seufzer, meine Zähre, / Erbarmer, ist vor dir. / Deß soll mein Herz sich freu’n! / Wer dir nicht traut, der bebe! / Ich sterbe oder lebe / So bin ich ewig dein. // [Neander.] Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft etc. [1.] Unser Gott ist groß und mächtig, / Und seine Schöpfung reich und prächtig / Voll Weisheit und Vollkommenheit. / O ihr, seiner Allmacht Heere, / Hoch in den Himmeln, tief im Meere, / Verkündigt seine Herrlichkeit! / Sein Kleid ist reines Licht, / Er hält im Gleichgewicht / Alle Welten! Der Wesen Heer, / Das weite Meer, den Engel und den Wurm schafft er! // [2.] Sonnen durch die Himmel eilen / Heißt er; den Mond das Jahr zu theilen / Schuf er, der Herr der Herrlichkeit! / Gott ist gnädig, Gott regieret, / Gott ists, der alle Welten führet, / Und alle segnet und erfreut. / Der Wallfisch und der Wurm, / Der Blüthenduft, der Sturm / Zeugt vom Höchsten; der Tag die Nacht / Rühmt Gottes Macht, rühmt, daß er stets allmächtig wacht. // [3.] Der das Gras auf Wiesen kleidet, / Die Vögel nährt, die Lämmer weidet, / Gott sorgt als Vater auch für mich. / Auch mein Loos in fernen Tagen / Hat er geordnet; sollt ich zagen? / Nein, meine Seel, ermuntre dich! / Trau deinem Gott! auf ihn / Wirf alle Sorgen hin! / Er wird sorgen, er, der mich nährt, / mein Flehn erhört, in Fülle Gutes mir gewährt! // [4.] Dank und Ehre Gott zu bringen, / Von ihm erfüllt, sein Lob zu singen, / Soll ewig meine Wonne seyn. / Laut soll ihm mein Lied erschallen, / Mit väterlichem Wohlgefallen / Sieht er’s, wenn wir uns seiner freu’n. / Sein Loos ist Seligkeit. / Ihm sei mein Herz geweiht! / Ihm nur leben, will ich, will rein / Und heilig seyn; dann werd’ ich sein mich ewig freun! // [Loder.] Unter der Predigt. – Mel. Lobe den Herren, den etc. Laß uns, die wir nach dem Namen des Heilands uns nennen, / Ihn als die Quelle des Lichts und des Lebens erkennen! / Ihm, der uns lehrt, / Wie dein Volk würdig dich ehrt, / Ihm laß die Herzen entbrennen! //

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Nach der Predigt. – Mel. Jesu, der du meine Seele etc. O, der seeligen Verbindung / Allergütigster mit dir! / Deiner Vaterhuld Empfindung / Gieb o Vater täglich mir! / Mache du mich immer reiner, / Daß mein Herz im stillen deiner / Sich in deinem Reich erfreu’ / Und in dir ganz selig sey. //

[Nr. 18]

Am Sonntage Invocavit.

Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird durchs Kreuz. [1.] Laß mir die Feier deiner Leiden / Sohn Gottes immer heilig sein, / Sie lehre mich die Sünde meiden, / Und dir mein ganzes Leben weihn! / Dir dessen Blut für mich geflossen, / Des Herz im Tode für mich schlug, / Der ruhig heiter und entschlossen / Auch meiner Sünde Strafe trug. // [2.] Auch in den stillsten meiner Stunden / Will ich nach deinem Kreuze sehn, / Und dich o Herr für deine Wunden / Durch meiner Thränen Dank erhöhn; / Will tiefgerührt die Huld ermessen, / Womit dein Herz die Welt umfaßt / Und nie es undankbar vergessen / Was du für mich geduldet hast. // [3.] Mir sollen diese Feierzeiten / Der größten Liebe heilig sein, / Ich will dich an dein Kreuz begleiten / Und jeden Reiz der Sünde scheun; / Dein Frieden sei mein höchster Seegen, / Dein Tod mein seligster Gewinn, / Mein Herz schlägt dir voll Danks entgegen, / Weil ich durch dich gerettet bin. // [4.] Bleibt mir in diesen Tagen theuer / Gethsemane und Golgatha, / Ihr Stätten wo die Welt die Feier / Der allergrößten Liebe sah! / Nach euch will ich voll Andacht schauen, / Wo mein Erlöser litt und starb; / Auf ihn allein will ich vertrauen / Der mir die Seligkeit erwarb. // Nach dem Gebet. – Mel. Die Seele Christi etc. [1.] Herr unsre Seel ermuntre sich, / In deinem bittern Leiden dich / In jener Nacht voll Angst und Graun, / Mit stiller Ehrfurcht anzuschaun. // [2.] Du liegst im Staub o Lebensheld, / In den wie Blut dein Angstschweiß fällt, / Und ringst, und kämpfst, und flehst zu Gott, / Dem Retter in der Todesnoth. // [3.] Bei deinen Freunden suchst du Ruh, / Doch schlummernd fällt ihr Auge zu; / Sie lassen dich in deiner Noth, / Du fliehst von ihnen hin zu Gott. // [4.] Doch auch der Herr – er hilft dir nicht, / Verbirgt sein Vater Angesicht; / Noch ist der Leiden Reich nicht leer; / Der Qualen warten dein noch mehr. // [5.] Du aber gehst mit Heldenmuth / Die Bahn; des Vaters Will’ ist gut; / Auch aus den trübsten Nächten bricht / Einst herrlicher sein Rettungslicht! // [6.] Anbetend folgen wir dir nach, / Von Hohn zu Hohn, von Schmach zu Schmach, / Und schaun zu deinem Kreuz hinan, / Und fassen’s nicht und beten an. // [7.] Auch uns zu gut, o Herr, betrat / Dein Fuß den dornenvollen Pfad, / Aus deinem Leiden nehmen wir / Des Segens Ueberfluß von dir. // [8.] Uns scheide Tod und Leben nicht / Von dir! Ach ohne Trost und Licht, / Mit ungewissen Schritten geht / Des Lebens Pfad, wer dich verschmäht. // [9.] Mit Freudenthränen danken wir / O Heil und Retter, dir schon hier, / Und werden dort, wo wir dich sehn, / Mit allen Seel’gen dich erhöhn. //

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Unter der Predigt. – Mel. O Lamm Gottes unschuldig etc. Du littest Herr unschuldig, / Von Frevlern Schmähung und Schmerzen, / Und trugst sie doch geduldig. / Mit sanftem versöhnlichen Herzen. / Dein Geist muß uns beleben, / Zu dulden zu vergeben, / Wie du zu lieben, o Jesu, o Jesu! // Nach der Predigt. – Mel. Wenn mein Stündlein etc. Ich schwöre, Jesus Christus, dir, / Und ewig will ich’s halten: / So wahr du starbest soll in mir, / Nie deine Lieb erkalten! / Dein Leiden und dein Tod soll mich, / So lang ich leben werd, an dich / Und deine Lieb’ erinnern! //

[Nr. 19]

Am Sonntage Reminiscere.

Vor dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. [1.] Frohlockend Vater wacht ich auf / Am Tage deiner Ehre. / Mein Morgenopfer dringt hinauf, / Schau du herab und höre: / Du wirst durch deinen Unterricht / Auch heute Muth und Kraft und Licht. / In meiner Seele wirken. // [2.] O ziehe sanft mich hin zu dir / In diesen Feierstunden, / Wie oft o Vater sind sie mir / Schon unbenutzt verschwunden. / Doch nun soll dieser Tag allein, / Dir meinem Gott geheiligt seyn, / Geheiligt deinem Ruhme. // [3.] Es freue meine Seele sich, / Hin in dein Haus zu gehen! / Dein göttlich Wort erleuchte mich; / Laß schmecken mich und sehen / Wie freundlich du mein Vater bist, / Wie dein Gesetz nur Liebe ist, / Wie selig, wer dir folget. // [4.] Gieb, daß des Wortes Geist und Kraft / Mein ganzes Herz durchdringe, / Und daß ich treu, gewissenhaft, / Was du mich lehrst, vollbringe. / O, hilf mir an Erkenntniß reich, / Im Wandel Jesu Christo gleich, / Und dir Gott ähnlich werden. // [Cramer.] Nach dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. [1.] Der Weltversöhner ist bereit, / Sein Leiden anzutreten, / Er geht in stiller Einsamkeit / Zu kämpfen und zu beten. / Dort hingesunken auf die Knie, / Arbeitet er in schwerer Müh, / Und betet, kämpft und zaget. / Er wünscht den heißen Kampf verkürzt, / Wer sieht und höret nicht bestürtzt, / Wie leidenvoll er klaget, // [2.] Gott du bist heilig, wunderbar / In allen deinen Werken, / Es muß ein Engel selbst sogar, / Den Herrn des Lebens stärken! / Er ringt, sein heilig Angesicht / Träuft Blutschweiß, wer entsetzt sich nicht? / Wer litt, wie er auf Erden? / Der du in reinster Unschuld prangst, / Wie konntest du von solcher Angst, / O Herr bestürmet werden. // [3.] Du rangst für unsre Seelenruh, / Von Qual und Tod umgeben, / Und Gott ergeben weihtest du / Dem Martertod dein Leben. / Du warst so rein von eigner Schuld, / Und wardst ein Beispiel der Geduld, / Uns zu befrein von Sünden. / O Frevler, der du ihn verschmähst, / Und frech den Weg der Thorheit gehst, / Was wirst du einst empfinden. // [4.] Mehr litt er nach des Höchsten Rath / Für Sünden, als wir fassen. / Er litt, auch auf der Leiden Pfad / Ein Vorbild uns zu lassen. / Drum wache, daß die Sünde sich / Nie dein bemächtige, noch dich / In deiner Treu erschüttre! / Lockt ihre Stimme, höre nicht! / Schau hin auf ihn, denk ans Gericht, / Das Sünder trifft, und zittre. //

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Unter der Predigt. – Mel. O Lamm Gottes etc. Erlöser! einst im Staube / Mit blut’gem Schweiße bedecket, / Dein tröste sich mein Glaube / Wenn Tod und Sünde mich schrecket. / Dein Ringen,Seufzen, Klagen, / Dein Todeskampf, dein Zagen, / Sei meine Ruhe, o Jesu, o Jesu. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu, der du meine Seele etc. Jesu, lehr auf dich uns schauen, / Du erlagst der Sünde nie: / Laß dein Beispiel uns erbauen, / Und uns stärken wider sie. / Präg die Absicht deiner Schmerzen, / Tief, ach tief in unsre Herzen, / Daß wir von der Sünde rein, / Heiligster dir ähnlich seyn. //

[Nr. 20]

Am Sonntag Reminiscere.

Vor dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinen [1.] Lasset uns mit Jesu leiden / Seinem Vorbild werden gleich, / Nach dem Leiden folgen Freuden / Armuth hier macht dorten reich, / Thränensaat hat gut Gedeihen / Hoffnung tröstet mit Geduld / Daß gewiß uns Gottes Huld / Nach der Müh wird Lohn verleihen. / Jesu leid ich gern mit dir, / Theil auch deine Freude mir. // [2.] Lasset uns mit Jesu sterben / Sein Tod uns vom Geistestod / Rettet, daß wir Heil erwerben / Wenn wir hören sein Gebot. / Laßt uns tödten, weil wir leben / Unser Fleisch, dem sterben ab / So wird Er uns aus dem Grab / In des Himmels Leben heben. / Jesu sterb ich deinen Tod, / Leb ich auch wie du in Gott. // [3.] Lasset uns mit Jesu leben / Wie er auferstanden ist / Muß das Grab uns wiedergeben. / Jesu unser Haupt du bist, / Wir sind deines Leibes Glieder / Wo du lebst da leben wir / Ach erkenn uns für und für, / Trauter Freund für deine Brüder! / Jesu leb ich nur in dir, / Ei so leb auch du in mir. // Nach dem Gebet. – Mel. Alle Menschen müssen sterben. [1.] O du Liebe meiner Liebe / Ursach meiner Seligkeit / Du der sich aus freiem Triebe / In ein jammervolles Leid / Ja ins Sterben mir zu Gute / Als ein Schlachtschaf eingestellt / Und versöhnt mit deinem Blute / Alle Missethat der Welt. // [2.] Siehe nicht auf meine Würde / Lamm das aller Würde werth, / Schau hingegen auf die Bürde / Die den matten Geist beschwert. / Ach daß ich doch könnt durchschauen / Dein von Lieb entglühtes Herz / Und im gläubigen Vertrauen / Lindern meiner Seele Schmerz. // [3.] Liebe die mit Schweiß und Thränen / An dem Oelberg war betrübt / Liebe die mit heißem Sehnen / Uns bis in den Tod geliebt! / Liebe laß auch meine Schmerzen / Meines Lebens Sündenpein / An dem blutverwandten Herzen / Sänftiglich gestillet sein. // [4.] Liebe die für mich gestorben / Und ein immerwährend Gut / An dem Kreuzesholz erworben / Heilige mich durch dein Blut! / Bist du doch ein Arzt der Schwachen / Der betrübten Sünder Freund / Pflegst den freundlich anzulachen / Der mit Petro kläglich weint. // [5.] Ja dein Leiden müsse stärken / Geist und Seele, Mark und Bein! / Laß mich neue Kräfte merken / Dir o Heiland treu zu sein. / Zeichne meines Herzens Pfosten / Daß

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der Würger mich nicht rühr / Laß mich wahre Freiheit kosten / Die mich zu der Ruhe führ. // Unter der Predigt. – Mel. Die Seele Christi heilge mich. O Christenmensch sieh eben zu / Was Christus Gottes Sohn hie thu / Wie er litt großen Hohn und Spott / Und auch zuletzt den bittern Tod. // Auf Tabor war wol Gloria / Ach aber Oelberg, Golgatha / Ihr Berge was auf euch geschah / Das reizet mein Hallelujah. // Nach der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu. [1.] Ach großer König groß zu allen Zeiten / Wie kann ich gnugsam deine Treu ausbreiten / Keins Menschen Herz vermag es auszudenken / Was dir zu schenken. // [2.] Ach laß mich täglich deine Huld betrachten / Die Welt für nichts aus Liebe zu dir achten / Und gerne mich bemühen deinen Willen / Stets zu erfüllen. // [3.] So werd ich dir zu Ehren alles wagen / Kein Kreuz nicht achten keine Schmach noch Plagen / Nichts von Verfolgung nichts von Todesschmerzen / Nehmen zu Herzen. //

[Nr. 21]

Am Sonntag Oculi.

Vor dem Gebet. – Mel. Was Gott thut das ist. [1.] Ach Gott und Herr du Lebenslicht, / Du Quell des Heils ohn Ende, / Ich komme vor dein Angesicht, / Und beuge Knie und Hände, / Und lobe dich, / Demüthiglich, / In dieser Morgenstunde, / Aus meines Herzens Grunde. // [2.] Dein Ohr Herr neige her zu mir, / Erhör mein sehnlich Flehen, / Denn meine Hülfe steht bei Dir, / Auf dich die Augen sehen, / Du bist mein Gott, / Du hilfst aus Noth, / Du kannst mir alles geben, / Mein Schild mein Fels mein Leben. // [3.] Vergieb o Gott durch deinen Sohn, / Mir alle meine Sünden, / Daß ich vor deinem Gnadenthron, / Mag Schuz und Friede finden, / So hab ich Muth, / Auch heute gut / Zu deinem Wohlgefallen / Den rechten Weg zu wallen. // [4.] Behüte mich vor Stolz und Pracht, / Wenn du mich irdisch segnest, / Und wenn du Kreuz mir zugedacht, / Und mir mit Zucht begegnest, / Dann gieb mir Ruh, / Geduld dazu, / Und kräftiges Gelingen, / Was recht ist zu vollbringen. // [5.] Regiere Willen und Verstand, / Durch deines Geistes Gaben, / Und führe mich an deiner Hand, / Wo du mich hin willst haben, / Daß als dein Knecht, / Dein heilig Recht, / Aus reinem Herzenstriebe, / Ich unverfälschet übe. // Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft uns. [1.] Heilger Jesu Heilgungsquelle, / Krystallrein himmelsklar und helle, / Du lautrer Strom der Seligkeit, / Aller Glanz der Cherubimen, / Und Heiligkeit der Seraphimen, / Ist gegen dich nur Dunkelheit, / Ein Vorbild bist du mir, / Ach bilde mich nach dir! / Du mein Alles, Jesu, ei nu, / Hilf mir dazu, daß ich mag heilig sein wie du. // [2.] Stiller Jesu wie dein Wille, / Dem Willen

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deines Vaters stille, / Und bis zum Tod gehorsam war: / Also mach auch gleichermaßen / Mein Herz und Willen dir gelassen, / Den irdischen Willen dämpfe gar. / Mach mich dir gleich gesinnt, / Wie ein gehorsam Kind. / Stille, stille. – Jesu ei nu, / Hilf mir dazu, daß ich kann stille sein wie du. // [3.] Sanfter Jesu, ganz unschuldig / Erlittest du die Schmach geduldig, / Und ließest keine Rachgier aus. / Niemand kann deine Sanftmuth messen, / Dich hat kein Eifer je gefressen, / Als der um deines Vaters Haus. / Mein Heiland ach verleih, / Mir Sanftmuth und dabei / Treuen Eifer! Jesu ei nu / Hilf mir dazu, daß ich sanftmüthig sey wie du. // [4.] Liebster Jesu reich an Gaben, / Mach mich wie du mich selbst willst haben, / Ganz deinem heiligem Vorbild gleich. / Kräftig mich dein Geist durchdringe, / Daß ich viel Glaubensfrüchte bringe, / Und tüchtig sei zu deinem Reich. / Ach zeuch mich ganz zu dir, / Bewahr mich für und für, / Treuer Heiland! Jesu, ei nu / Laß mich wie du und wo du bist einst finden Ruh. // Unter der Predigt. – In eigner Melodie. [1.] Die Seele Christi heilge mich, / Sein Geist verseze mich in sich, / Sein Wort, sein Bild, sein Sacrament, / Erquicke mich bis an mein End. // [2.] O Jesu Christe tröste mich, / Nimm und verbirg mich ganz in dich, / Dein Leid dein Kreuz und deine Pein, / Soll ewig meine Stärkung sein. // Nach der Predigt. – Mel. Ein Lämmlein geht. Ich will von deiner Lieblichkeit, / Bei Nacht und Tage singen. / Mich selbst, auch dir zu aller Zeit / Zum Freudenopfer bringen. / Das ganze Leben will ich dir, / Und deinem Namen für und für, / Als Opfertrank vergießen. / Und was du mir zu gut gethan, / Das will ich stets so tief ich kann, / In mein Gedächtniß schließen. //

[Nr. 22]

Am Sonntage Oculi.

Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu, was hast. [1.] Der Weg ist gut, der durch das Leiden führet, / Man findet Gott, wo man sich selbst verlieret / Gefahr und Noth treibt die beherzten Streiter / Beständig weiter. // [2.] So wird das Gold von Schlacken mehr gereinigt / Das Herz mit Jesu inniger vereinigt, / Die ihm ergebne, stille Glaubenstreue / Stärkt sich aufs neue. // [3.] Und wenn auch Finsterniß den Sinn verdunkelt / Erweckt das Kleinod, das von oben funkelt, / Uns neuen Muth; die Hoffnung sammt dem Glauben / Kann nichts uns rauben. // [4.] Ja solltest du, entrissen allen Freuden / Um Jesu willen Schmach und Tod erleiden: / Verzage nicht, auf rauhen Dornenwegen / Blüht Himmelssegen. // [5.] Der Herr des Lebens selbst ist sie gegangen: / Wer einst mit ihm in Kronen wünscht zu prangen, / Muß seiner Schmach und Leiden hier auf Erden / Gewürdigt werden. // [6.] Blick auf die Schaaren der verklärten Zeugen, / Die jetzt vor seinem Thron die Palmen neigen; / Es ging auch ihre Bahn zu Himmelsfreuden / Durch Tod und Leiden. //

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Nach dem Gebet. – Mel. Herzlich thut mich verlangen. [1.] Du, dessen Augen flossen, / Sobald sie Zion sahn / Zur Frevelthat entschlossen / Sich seinem Falle nahn; / Wo ist das Thal, die Höhle, / Die, Jesu, dich verbirgt? / Verfolger seiner Seele, / Habt ihr ihn schon erwürgt? // [2.] Welch jammervolles Klagen / Seufzt in Gethsemane? / Wer ist der Mann der Plagen, / Der langsam Sterbende? / Er ringt in bangen Schmerzen / Er zagt in tiefster Noth, / Betrübt in seinem Herzen / Betrübt bis in den Tod. // [3.] Ach! wie er tief im Staube / Bedeckt mit Angstschweiß liegt; / Doch sein Gebet, sein Glaube / Im schwersten Kampfe siegt. / Schon kommt der Mörder Rotte, / Die kein Erbarmen rührt, / Die ihn zum Hohn und Spotte / Ihn ach, zum Kreuze führt. // [4.] Sein Volk in bitterm Grimme / Erweicht sein Anblick nicht, / Nicht fremden Mitleids Stimme / Die von dem Richtstuhl spricht. / Er ist ihr Hohngelächter, / Sie drohn mit wildem Ton: / „Auf uns, auf Söhn’ und Töchter, / „Komm seines Blutes Lohn! // [5.] Zur hohen Schädelstätte / Trägt er sein Kreuz hinan; / Sie kreuzgen ihn; o bete / Mein Geist mit Wehmuth an! / Noch höhnt in frechen Mienen / Sein Volk des Dulders Schmerz. / Er ruft: Vergieb es ihnen! / Vergebend bricht sein Herz. // [6.] Es bricht und matt von Kummer / Sinkt nun sein Haupt zur Ruh; / Nun schließt des Todes Schlummer / Sein müdes Auge zu. / Am Kreuze ruht die Hülle; / Der Geist schwebt, sanft entrückt / Zu Gott, wo ihn die Fülle / Des hohen Lohns erquickt. // [7.] O Freund der Menschenkinder! / Hier liegen wir gebückt. / Wie hoch hat uns, uns Sünder, / Wie hoch dein Tod beglückt! / Dich ehre unser Glaube! / Anbetung Dir und Dank! / Hör’ ihn; vernimm vom Staube / Den schwachen Lobgesang! // Unter der Predigt. – Mel. O Welt sich hier dein Leben. Ich will mich mit dir schlagen, / Ans Kreuz und dem absagen, / Was meinem Fleisch gelüst’t! / Was deine Augen hassen / Das will ich fliehn und lassen, / Da du mein Heiland worden bist. // Nach der Predigt. – Mel. Wie groß ist des Allmächtigen. O Preis Dir, Heiland und Befreier, / Dir Menschensohn voll Lieb und Macht, / Daß du ein allbelebend Feuer / In unserm Innern angefacht / Nun sehn wir erst den Himmel offen / Als unser altes Vaterland, / Wir können glauben nun und hoffen / Und fühlen uns mit Gott verwandt. //

[Nr. 23]

Am Sonntage Lätare

Vor dem Gebet. – Mel. Zion klagt mit Angst etc. [1.] Senke dich auf uns hernieder, / Geist der uns mit Feuer tauft, / Alle sind wir Jesu Glieder, / Alle durch sein Blut erkauft. / Füll uns mit der Andacht Glut! / Laß des Sinnenwahnes Fluth / Nicht des Herzens Ruhe stören, / Noch den stillen Geist empören! // [2.] Salb uns alle, lehr uns feiern / Jesu Christi Leidenszeit! / Unsern Bund mit Gott erneuern, / Lehr uns Geist der Heiligkeit! / Fülle mit der Wehmuth Schmerz / Das zu ihm gewandte Herz, / Und von deinem Strahl getroffen, / Steh es sanfter Rührung offen. // [3.] Bring die Reden seines Mundes / Vor das aufgeschlossne Ohr! / Stell den Mittler unsers

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Bundes / Uns in seiner Schönheit vor, / Wie er falscher Zeugen Hohn, / Purpurmantel, Dornenkron, / Geißelschläge, Schmerz und Wunden, / Hocherduldend überwunden. // [4.] Ja, du heilige Gemeinde, / Blick zu deinem Haupt empor, / Zum Messias, deinem Freunde, / Den zum Retter Gott erkohr. / Welche Wonn und Seligkeit, / Schafft die stille Leidenszeit, / Sie entreißt uns dem Getümmel, / Hebt den Vorhang vor dem Himmel. // [Schubert.] Nach dem Gebet. – Mel. Nun ruhen alle Wälder etc. [1.] Gott, welche Schmach und Plagen, / Mußt er, mein Heiland, tragen, / Der nie ein Sünder war! / Ihn stellen Missethäter / Als einen Uebertreter / Den ungerechten Richtern dar. // [2.] Da steht er im Gerichte: / Auf seinem Angesichte / Strahlt Ruh und hoher Muth! / Er achtet nicht der Bande, / Und groß in Schmerz und Schande / Erduldet er der Frevler Wuth. // [3.] Er wird ein Ziel des Spottes, / Er heißt ein Lästrer Gottes, / Der Tod wird nun sein Lohn. / Doch er, o Menschen höret, / Der unerschrockne schwöret: / Ich bin des Hochgelobten Sohn. // [4.] Ihr, unsres Hauptes Glieder, / Ihr Christen fallet nieder / Und betet Jesum an! / Er ist trotz alles Spottes, / Der Sohn des ewgen Gottes, / Ihn betet einst der Weltkreis an. // [5.] Er, dem Gericht entnommen, / Wird herrlich wiederkommen, / Des Hochgelobten Sohn, / Er, jeder Bosheit Rächer; / Dann stehen die Verbrecher / Vor seinem hohen Richterthron. // [6.] Wie werden sie mit Grauen / Mit Todesangst ihn schauen / In seiner Majestät! / Ihn, wird das Herz dann sagen, / Ihn haben wir geschlagen / Verspottet und ans Kreuz erhöht. // [7.] Jauchzt ihr Gerechten, schauet! / Der Herr, dem ihr vertrauet, / Erscheint, mit ihm sein Lohn. / Wenn dann die Sünder zagen, / Dann könnt ihr fröhlich sagen, / Gelobet seyst du Gottessohn. // [Stun] Unter der Predigt. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken, / Mich in das Meer der Liebe zu versenken, / Die dich bewog, von aller Schuld des Bösen / Uns zu erlösen. // [2.] O Herr mein Heil, an dessen Tod ich glaube, / Ich liege hier vor dir gebückt im Staube, / Verliere mich mit dankendem Gemüthe / In deine Güte. // Nach der Predigt. – Mel. Die Tugend wird durchs etc. Laß mir die Feier deiner Leiden, / Mein Heiland recht gesegnet seyn, / Sie lehren mich die Sünde meiden, / Und dir mein ganzes Leben weihn; / Daß ich gerührt die Huld ermesse, / Womit dein Herz die Welt umfaßt, / Und nie aus Undank das vergesse, / Was du für mich erduldet hast. //

[Nr. 24]

Am Sonntage Judica.

Vor dem Gebet. – Mel. O Lamm Gottes unschuldig etc. [1.] Erlöser sieh, wir fallen / Anbetend vor dir nieder; / Zu deinem Himmel schallen, / Der Andacht gläubige Lieder. / Du hast den Sieg errungen, / Für uns den Tod bezwungen. / Preis sey dir ewig, o Jesu! o Jesu! // [2.] Du sahst

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von fern die Bande, / Womit die Frevler drohten; / Sahst vor dir Quaal und Schande, / Des Todes schreckliche Boten; / Doch du, voll Huld und Gnade, / Gingst gern die Marterpfade. / Preis sey dir ewig, o Jesu! o Jesu! // [3.] Nur uns zum Trost und Leben, / Hast du in tausend Plagen, / Dich willig hingegeben, / Des Kreuzes Last getragen, / Und uns, da du gestorben, / Ein ew’ges Heil erworben. / Preis sey dir ewig, o Jesu! o Jesu! // Nach dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Steil und dornig ist der Pfad, / Welcher zur Vollendung leitet, / Selig ist, wer ihn betrat, / Und mit frohem Muthe streitet ! / Selig, wer den Lauf vollbringt, / Und das hohe Ziel erringt! // [2.] Den am Kreuz wir bluten sehen, / Jesus, hat das Ziel errungen, / Von dem Kreuz zu Gottes Höhn, / Hat er sich empor geschwungen; / Sieger, in des Todes Nacht, / Rief er aus: „Es ist vollbracht!" // [3.] Preis, gekrönter Sieger, dir, / Zeuch uns nach, die Schaar der Streiter! / Sturm und Nacht umfängt uns hier, / Jenseits ist es still und heiter; / Glaube sieht das Morgenroth, / Schimmern hinter Grab und Tod. // [4.] Auf denn, Mitgenossen, geht / Muthig durch die kurze Wüste! / Seht auf Jesum, wachet, fleht, / Daß Gott selbst zum Kampf euch rüste; / Der in Schwachheit mächtig ist, / Giebt uns Sieg durch Jesum Christ! // [5.] Diese Welt und ihre Müh’, / Dieses Lebens Eitelkeiten, / Seele, o vergesse sie, / Tief gerührt von Jesu Streiten, / Schau zu seinem Kreuz hinauf, / Folg ihm nach im Siegerlauf. // [6.] Hocherhabner, Heiliger! / Vor dir wirft der Geist sich nieder; / Preist dich, du Gekreuzigter, / Daß für alle deine Glieder, / Dieses Todes dunkle Nacht, / Trost und Ruh ans Licht gebracht. // Unter der Predigt. – Mel. In allen meinen Thaten etc. [1.] Der Herr steht im Gerichte, / Auf seinem Angesichte / Strahlt hoher freier Muth. / Er, groß auch in den Banden, / Verachtet Schmach und Schanden, / Und duldet still der Frevler Wuth. // [2.] Werft euch im Staube nieder, / Ihr, seines Reiches Glieder; / Ihr Christen, betet an! / Der Herr trotzt frechen Spottes, / Ist Sohn des ew’gen Gottes, / Und alles ist ihm unterthan. // Nach der Predigt. – Mel. Nun lob mein Seel etc. Ich falle vor dir nieder, / O Jesu, bet dich herzlich an, / Und immer schallt mir’s wieder, / Was du zum Heil für mich gethan; / Das kann mein Herz entzünden, / Das es vor Freuden weint, / Denn du hast meine Sünden / Gebüßt, mich Gott vereint! / Nun reißt das Weltgetümmel, / Mich nie aus deiner Hand, / Du führst dein Kind zum Himmel / In’s rechte Vaterland! //

[Nr. 25]

Am Sonntag Judica.

Vor dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne Licht. [1.] Ich komm und danke meinem Herrn, / Aus reinem Herzensgrunde. / Das helle Licht vertrieb die Stern, / In dieser Morgenstunde. / Die Sonn entdeckte mir / Der Güter Gottes Zier, / Die sich zu seiner Kinder Schau, / Bespiegelt in dem Morgenthau. // [2.] Noch mehr, Herr meiner Seelen Schutz, / Rühm

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ich die Vatertreue, / Die deinen Kindern kommt zu Nuz, / Auch alle Tag’ auf’s neue. / Ich dank herzinniglich, / Daß du so gnädig mich / Und auch die meinen aus der Nacht / Des Geistes durch dein Wort gebracht. // [3.] Verleih, o Gott, daß ferner auch / Ich heute christlich wandle, / Und deine Gaben also brauch, / Daß was ich freudig handle, / Gereiche mehr und mehr, / Zu deines Namens Ehr; / Schickst du mir aber Leiden zu, / So gieb Geduld, Trost, Hülf und Ruh. // [4.] Nun dir sei alles heimgestellt, / Seel Leib Stand Gut und Leben ! / Mach alles wie es dir gefällt, / Dir hab ich es ergeben. / Mir gnügts, in dich versenkt, / Wenn mich dein Himmel tränkt, / Wenn mich dein reicher Gnadengeist, / Aus deines Sohnes Schäzen speist. // Nach dem Gebet. – Mel. Herzlich lieb hab ich. [1.] Um Gnade für die Sündenwelt, / Rufst Jesu du am Kreuz, gequält / Von frecher Sünder Rotten. / Dir blutet das bedrängte Herz, / Wenn dein, bei deinem herben Schmerz, / Die Bösewichter spotten. / Du siehst mit segensvollem Blick, / Von ihnen weg, auf den zurück, / Den diese Schaar in dir entehrt, / Rufst daß es Erd und Himmel hört, / Vergieb o Gott, und führe nicht sie in’s Gericht, / Das was sie thun, verstehn sie nicht. // [2.] Daß Gott mit Langmuth und Geduld / Der Sünder bei gehäufter Schuld / Doch gnädiglich verschonet, / Als Vater liebreich ihrer denkt, / Und ihnen Frist zur Buße schenkt, / Eh nach Verdienst er lohnet, / Daß ich noch fröhlich sagen kann, / Auch mich nimmt Gott, mich Sünder, an / Hat deiner Bitte Segenskraft, / Mein treuer Heiland mir verschafft. / Herr Jesu Christ, bei deinem Gott und meinem Gott / Vertritt du mich bis an den Tod. // [3.] Den sanften liebevollen Sinn, / Daß ich ein Freund der Feinde bin, / Flöß Herr in meine Seele. / Gieb daß bei der Verfolgung Schmerz / Ich dir des Feindes hartes Herz, / Und meine Sach empfehle. / Fern sei des Zornes wilde Glut, / Es fordre nicht empörtes Blut / Der Rache Gottvergeßne Lust / Von mir, dem diese That bewußt, / Wie du am Kreuz o Herr erhöht, durch dein Gebet, / Selbst deinen Mördern Heil erfleht. // [4.] O! zeuch mich du erhöhter Held, / Zu dir hinauf vom Dienst der Welt, / Vom Himmel zu der Erde! / Zu dem was oben gilt bei Gott, / Erzieh mich dein Versöhnungstod, / Daß ich dir ähnlich werde. / Du bist der deinen Schutzpanier, / Zeuch dir uns nach, wir folgen dir, / Und wollen deiner theuren Pein, / Und Fürsprach ewig uns erfreun. / Herr Jesu Christ wie selig ist, wie selig ist, / Der Mensch dem du ein Heiland bist. // Unter der Predigt. – Mel. Jesus meine Zuversicht. Kreuzige mein Fleisch und Blut, / Lehre mich die Welt verschmähen, / Laß mich dich mein höchstes Gut, / Immer vor den Augen sehen. / Wie du mein so laß mich dein, / Lebend leidend sterbend sein. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu meine Freude. Würdig dir zu leben, / Das sei mein Bestreben, / Meine Lust und Pflicht! / Was die Welt vergnüget, / Mein Heil, das genüget, / Meiner Seele nicht. / Hab ich dich, / Wie gern will ich, / Das wornach die andren trachten, / Reich in dir verachten. //

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[Nr. 26]

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Am Sonntage Palmarum.

Vor dem Gebet. – Mel. Dir, dir Jehovah etc. [1.] Ach sieh ihn dulden, bluten, sterben, / Bring, meine Seele, Jesu frommen Dank, / Sieh Gottes ein’gen Sohn dort sterben, / Wie mächtig ihn die höchste Liebe drang. / Wer ist ein Mensch, der je was er gethan, / Für seine Feinde sterben kann? // [2.] So sollt es sein, du mußtest leiden, / Dein Tod macht mir des Vaters Liebe kund, / Er wird für mich ein Quell der Freuden, / Ein Siegel auf den ew’gen Friedensbund. / So wahr dich Gott für mich zum Opfer gab, / So wahr schaut er voll Huld auf mich herab. // [3.] Dein bin ich nun und Gottes Erbe, / Ich sehe in sein Vaterherz hinein; / Wenn ich nun leide, wenn ich sterbe, / Kann ich unmöglich je verloren seyn. / Laß Sonn und Mond und Erde untergehn, / So bleibt mir ewig Gottes Gnade stehn. // [4.] Befestigt Herr sind deine Lehren; / Der frohe Glaube hält sich nun an dich, / Zum Troste mir und Gott zu Ehren, / Gabst du dich in den Tod für mich. / Unschuldig littest du, doch Preis und Ruhm, / Ward auch im Kampf aufs neu dein Eigenthum. // [5.] Herr, möge mich dein Beispiel lehren, / Wie herrlich sich ein treues Leben lohnt! / Laß sich die Leiden auch vermehren, / Wenn Ruhe nur im Herzen immer wohnt. / Dir folgen ist des Lebens wahre Ruh, / Und führt dem Tode wohlgemuth mich zu. // [Hermes.] Nach dem Gebet. – Mel. Was mein Gott will etc. [1.] Von Jesu lernt die schwere Pflicht, / Den tiefsten Schmerz zu tragen, / Und bis das Herz in Liebe bricht, / An Gott nicht zu verzagen. / Der fühlet nicht den tiefsten Schmerz, / Den Körperleiden quälen, / Mehr martert und zerreißt das Herz, / Die Rohheit niedrer Seelen. // [2.] Seht ihn, der nichts als gutes that, / Nichts als das beste wollte, / Der, unterwürfig Gottes Rath, / Stets würkte wo er sollte; / Seht einsam ihn und ungekannt / In seiner Größe stehen, / Den trüben Blick auf Gott gewandt / Und lernet ihn verstehen! // [3.] Das war sein tiefster Seelenschmerz, / Daß die, für die er lebte, / Vergebens nur sein edles Herz / Sich nachzubilden strebte; / Daß sie nicht glaubten, wer er war, / Nicht seinen Ursprung faßten, / Und Liebe Undank nur gebar, / Weil sie sich selber haßten. // [4.] Doch dauert er entschlossen aus / Im Kampf, sich selbst genügend; / Still sah er auf das Ziel hinaus, / Das Wehgefühl besiegend. / Zu groß, des Hasses Bitterkeit / Mit gleichem Haß zu dämpfen, / Schwieg er, gelassen und bereit / Zu neuer Liebe Kämpfen. // [5.] Gelobt, ihr seine Jünger, ihm, / Das schwerste Weh zu tragen, / Auch in des Schmerzes Ungestüm, / An Gott nicht zu verzagen. / Auch mißgekannt in eurer Pflicht, / Sie dennoch treu zu üben, / Und bis das Herz im Tode bricht, / Zu dulden und zu lieben. // Unter der Predigt. – Mel. Es ist das Heil etc. Ich schwöre, Jesus Christus, dir, / Und will es ewig halten, / So war du starbest, soll in mir / Nie deine Lieb erkalten! / Dein Leiden und dein Tod soll mich, / So lang ich leben werd, an dich / Und deine Lieb’ erinnern. // Nach der Predigt. – Mel. Wenn meine Sünd’ etc. [1.] Mein Kreuz und meine Plagen, / Die höchste Erdennoth, / Hilf mir geduldig tragen, / Und treu seyn bis zum Tod! / Hilf mir verläugnen diese Welt, /

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Und folgen dem Exempel, / Das du mir vorgestellt. // [2.] Laß mich an andern üben, / Was du an mir gethan, / Und meinen Nächsten lieben, / Gern dienen Jedermann / Ohn Eigennutz und Heuchelschein, / So wie du mirs erwiesen, / Aus reiner Lieb’ allein. //

[Nr. 27]

Am Palmsonntage.

Vor dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr o meine Seele. [1.] O Lamm Gottes hoch erhaben / Welches der Welt Sünde trägt / Du allein du kannst uns laben / Wenn uns Noth und Tod bewegt. / Siehe du bist Gottes Lamm, / Siehe wir vom Sündenstamm / Ach wir sind ja Gottes Feinde, / Laß uns werden Gottes Freunde! // [2.] Bist du nicht der Weg zum Leben, / Bist du nicht der Wahrheit Grund, / Hast dich selbst für uns gegeben, / Daß noch übrig wär ein Bund, / Ein Bund der Barmherzigkeit / Ein Bund der Gerechtigkeit? / Dein Kreuz dein Blut ist der Seegen / Der uns bringt zu Gottes Wegen. // [3.] Drum o Jesu laß dein Leiden / Schaffen in mir wahre Frucht! / Den Betrug laß mich vermeiden / Daß ich nicht der Sünden Sucht / Zu bedekken fälschlich mein’ / Ob ich gleich noch bleib’ unrein. / Niemand wird Vergebung finden / Der nicht abstirbt allen Sünden. // [4.] Drum wie sehnet sich mein Alles / Deinem Tode gleich zu thun / Keiner Plage, keines Falles / Fürcht’ ich mich o Jesu nun; / Alles ist ein Vortheil mir / Was mich nur gleich machet dir: / Auch das Leiden mich verkläret / Stets das Erbe mir vermehret. // [5.] O Geheimniß voller Wunder / Kreuz bringt lauter Seligkeit, / Kreuz erhebt die armen Sünder / Zu Reichthum und Herrlichkeit / Schenk den Kreuzkelch immer voll! / Alles was ich leiden soll / Mich nur mehr und mehr bereitet / Daß der Geist zum Siege schreitet. // Nach dem Gebet. – Mel. Es ist das Heil uns kommen her. [1.] O großer Gott wir suchen dich / Laß uns nicht trostlos gehen / Die Seele schreit inbrünstiglich / Erhöre doch ihr Flehen! / Der Liebe Pflicht und ihr Gebühr / Sehnt sich im Glauben nur nach dir / Und wünscht dein Heil zu sehen. // [2.] Dein Heil so du der ganzen Welt / Aus väterlichen Sinnen / Verheißen und auch dargestellt, / Ein Volk dir zu gewinnen / Das sich in deinen Schranken hielt / Und einig auf die Krone zielt / Bei allem Anbeginnen. // [3.] Was ist der Mensch! ein leichter Staub, / Ein sündlich nichtig Wesen, / Doch auch ein schönes Palmenlaub, / Dein Bild das du erlesen / Und mit des Sohnes Blut erkauft. / Da ihn die rothe Flut getauft; / So laß ihn Herr genesen. // [4.] Herr Jesu laß dein Angesicht / Voll Süßigkeit und Leben / Dein Heil voll Trost und Himmelslicht / Auch über denen schweben / Die ohne Glaub’ und Lieb’ izt stehn / Und in des Todes Schatten gehn / Daß sie sich dir ergeben. // [5.] Was irgend von der Christenheit / Den theuren Namen führet, / Und doch nicht sucht die Seligkeit / So wie es sich gebühret, / Führ aus von Babel, mach’ es rein, / Laß Oel und Lampe fertig sein / Und keiner bleib verirret. // [6.] Ein Großes suchen wir bei dir / Das müssen wir beken-

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nen: / Doch du bist groß und willst daß wir / Auch große Dinge nennen. / Was du gemacht hast liebest du, / Willst jedermann ja gern die Ruh / Und die Erlösung gönnen. // [7.] O Vater in dem Himmelsstuhl / O Vater voller Gnade / Dein Nam erschall in Kirch und Schul / Dein Reich bleib ohne Schade / Dein Will ergeh, gieb was gebricht / Vergieb, stärk uns wenn Angst ansicht / Vom Bösen uns entlade. // Unter der Predigt. – Mel. Auf meinen lieben Gott. Erwek uns solchen Geist / Der von dem Himmel fleußt / Der tief sich in uns senket / Die Seelen auswärts lenket / Daß von den Andachtsstunden / Werd reiche Frucht gefunden. // Nach der Predigt. – Mel. Nun ruhen alle Wälder. [1.] Die recht und redlich handeln / Die in dem Lichte wandeln / Wie Gott darinnen wohnt / Und Böses thun verdammen, / Die halten sich zusammen / Ihr Glaubenseifer wird belohnt. // [2.] Er will die Müh versüßen, / Sie sollen sein genießen, / Was er hat ist auch ihr; / Sie geben sich ihm wieder, / Er säubert Seel und Glieder / Von Missethat und Ungebühr. // [3.] Mein Gott laß dies erkennen / Die sich von Christo nennen / Und doch die Finsterniß / Mehr als die Sonne lieben / Und immerhin ausüben / Was ihnen bringt den Tod gewiß. //

[Nr. 28]

Am Palmsonntage.

Nach der Predigt. – In eigener Mel. Herr Gott, dich loben wir, / Herr Gott, wir danken Dir, / Dich Gott Vater, in Ewigkeit, / Ehret die Welt weit und breit. / All’ Engel und Himmels-Heer, / Und was da dienet deiner Ehr, / Auch Cherubim und Seraphim / Singen immer mit hoher Stimm: / Heilig ist unser Gott! / Heilig ist unser Gott! / Heilig ist unser Gott, der Herre Zebaoth! / Dein göttlich’ Macht und Herrlichkeit! / Geht über Himm’l und Erden weit. / Der heiligen zwölf Boten-Zahl, / Und die lieben Propheten all, / Die theuren Märtrer allzumahl / Loben Dich, Herr, mit großem Schall. / Die ganze werthe Christenheit / Rühmt dich auf Erden allezeit. / Dich Gott Vater! im höchsten Thron, / Deinen rechten und ein’gen Sohn: / Den Heilgen Geist und Tröster werth, / Mit rechtem Dienst sie lobt und ehrt. / Du König der Ehren, Jesu Christ! / Gott Vaters ew’ger Sohn du bist; / Der Jungfraun Leib nicht hast verschmäht, / Zu erlösen das menschlich Geschlecht. / Du hast dem Tod zerstört sein’ Macht, / Und alle Christen zum Himmel bracht. / Du sitz’st zur Rechten Gottes gleich / Mit aller Ehr ins Vaters Reich. / Ein Richter du zukünftig bist / Alles was todt und lebend ist. / Nun hilf uns, Herr! den Dienern dein, / Die mit deinem Blut erlöset sein: / Laß uns im Himmel haben Theil, / Mit dein’n Heiligen am ewgen Heil. / Hilf deinem Volk Herr Jesu Christ, / Und segne was dein Erbtheil ist! / Wart’ und pfleg’ ihr zu aller Zeit, / Und heb sie hoch in Ewigkeit. / Täglich Herr Gott! wir loben dich, / Und ehr’n dein’n Namen stetiglich. / Behüt uns heut o treuer

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Gott: / Vor aller Sünd und Missethat, / Sei uns gnädig, o Herre Gott! / Sei uns gnädig in aller Noth. / Zeig uns deine Barmherzigkeit, / Wie unsre Hoffnung zu dir steht. / Auf dich hoffen wir lieber Herr! / In Schanden laß uns nimmermehr. Amen! //

[Nr. 29]

Am Charfreitage.

Vor dem Gebet. – Mel. Die Seele Christi etc. [1.] Den uns die Sterbliche gebar, / Der Gottmensch ist, wird sein, und war! / Er starb am Kreuz den Mittlertod, / Versöhnt sind wir nun unserm Gott. // [2.] Sie, die vor seinem Throne stehn, / Und Jesu Christi Antlitz sehn, / Die Cherubim, die Seraphim, / Die Todten Gottes singen Ihm. // [3.] Sie beugen feiernd ihre Knie, / Mit lauten Thränen singen sie, / Daß dessen Thron, der ewig lebt, / Von ihrem Jubelschall erbebt. // [4.] Wir stammeln in der Himmel Chor, / Heb’ unser Herz zu dir empor, / Du der für uns geopfert ist, / Du bist die Liebe Jesus Christ. // [5.] O unerforschter Liebesrath, / Der dich dem Tod geweihet hat! / Wir fassen das Geheimniß nicht, / Uns blendet sein zu göttlich Licht. // [6.] Doch fühlen wir, es wirkt, es lebt / In unsern Herzen, es erhebt / Uns mächtig über diese Welt, / Und giebt uns Kräfte jener Welt! // [Klopstock.] Nach dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht etc. [1.] Seele, geh auf Golgatha, / Nah dich deines Jesu Kreuze, / Fühle welche Macht dich da / Zur Zerknirschung treib’ und reize! / Kannst du unempfindlich sein, / O so bist du mehr als Stein. // [2.] Schaue doch das Jammerbild, / Zwischen Erd und Himmel schweben! / Wie das Blut in Strömen quillt, / Wie verrinnt das theure Leben! / Schau doch, und vergiß es nicht, / Wie sein sterbend Herz ihm bricht. // [3.] Unbeflektes Gotteslamm, / Ich verehre deine Liebe, / Schaue von des Kreuzes Stamm, / Wie ich mich um dich betrübe! / Dein vor Liebe wallend Herz, / Sezet mich in tausend Schmerz. // [4.] Eines weiß ich nur für dich, / Ich will dir mein Herz ergeben; / Das soll jetzt und ewiglich, / Unter deinem Kreuze leben, / Wie du mein, so will ich dein, / Lebend leidend sterbend sein. // [5.] Laß dein Herz mir offen stehn, / Oeffne mir der Gnaden Thüre, / Dahinein will ich stets gehn, / Wenn ich Angst und Noth verspüre, / Wie ein Hirsch nach Wasser dürst’t, / Bis du mich erquicken wirst. // [6.] Kreuzige mein Fleisch und Blut, / Lehre mich die Welt verschmähen, / Laß mich dich, du höchstes Gut, / Immerdar vor Augen sehen, / Führ’ in allem Kreuze mich, / Selig wenn auch wunderlich. // [7.] Endlich laß mich alle Noth / Freudig sterbend überwinden; / Nirgends müsse mich der Tod, / Als bei dir mein Heiland finden. / Wer nur dich zur Zuflucht macht, / Spricht getrost, es ist vollbracht. // [Schmolke.] Unter der Predigt. – Mel. O Traurigkeit etc. [1.] Am Kreuz erblaßt, der Martern Last, / Der Todesqualen müde, / Findet mein Erlöser nun / In dem Grabe Friede. // [2.] Ein heilger Schmerz durch-

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dringt mein Herz, / Ach Herr, was kann ich sagen? / Nur an meine Brust kann ich, / Tiefgerühret schlagen. // Nach der Predigt. – Mel. Wie wohl ist mir o Freund etc. Das letzte Wort aus deinem Munde, / O mein Versöhner sei auch mein! / Laß es in meiner Todesstunde / Mir Muth und Zuversicht verleihn! / Du betest, Vater ich befehle / In deine Hände meine Seele, / Auch noch im Tode bin ich dein, / Nun ist das große Werk vollendet, / Wozu der Vater dich gesendet, / Nun bin und bleib ich ewig dein. //

[Nr. 30]

Am Charfreitage.

Die Seele Christi heil’ge mich etc. etc. // Hauptlied. [1.] O Welt, sieh hier dein Leben am Stamm / des Kreuzes schweben; dein Heil sinkt in den Tod. / Der große Fürst der Ehren läßt willig sich be- / schweren mit Schlägen, Hohn und großem Spott. // [2.] Tritt her, und schau mit Fleiße, mit Blut und / Todesschweiße sein Leib ist überfüllt. Aus seinem / edlen Herzen vor unerschöpften Schmerzen ein / Seufzer nach dem andern quillt. // [3.] Wer hat dich so geschlagen, mein Heil, und / dich mit Plagen so übel zugericht’t? Du bist / ja nicht ein Sünder wie wir und unsre Kinder, / von Missethaten weißt du nicht. // [4.] Ich, ich und meine Sünden, die sich wie / Körnlein finden des Sandes an dem Meer, / die haben dir erreget das Elend, das dich / schläget, und das betrübte Marterheer. // [5.] Ich bins, ich sollte büßen die Strafe leiden / müssen, entbehren Gottes Huld; die Geißeln / und die Banden, und was du ausgestanden, / verdient’ ich wegen meiner Schuld. // [6.] Du setzest dich zum Bürgen, ja lässest dich / erwürgen für mich und meine Schuld; für / mich läßt du dich krönen mit Dornen, die dich / höhnen, und leidest Alles mit Geduld. // [7.] Hoch bin ich dir verbunden, all’ Augenblick / und Stunden! Ich bin dein Eigenthum. Es / thätig zu beweisen soll Leib und Seel’ dich / preisen. Mein ganzer Wandel sei dein Ruhm. //[8.] Was könnt’ ich dir wohl geben in diesem / armen Leben? Das, Jesu, will ich thun: es / soll dein Tod und Leiden, bis Leib und Seele / scheiden, mir stets in meinem Herzen ruhn! // Der Chor, ohne Gemeine. [9.] Hier ruht der Held, der Heil der Welt / durch seinen Tod erworben, Jesus Christus ru- / het hier, der am Kreuz gestorben. // [10.] Ave, singt dem Gottessohne, / Der wahrhafte Menschheit an sich nahm, / Wahrhaft litt er, starb im Hohne / Für uns dort am Kreuzesstamm. / Seine Seite, scharf durchstochen, / Floß vom Wasser und Blute roth. / Heiland, der du nichts verbrochen, / Send’ uns Trost in Noth und Tod! // [11.] Preis ihm und Dank! Er nur errang uns / Seeligkeit und Leben; da er sich in Qual und / Tod für uns hingegeben. //

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Die Gemeine. [12.] Es ist vollbracht! Hell ist die Nacht des / Todes und der Gräber. Heil uns! nun ist / Jesus Christ ew’ger Freuden Geber. // Am Schlusse der Predigt. Der Chor. – Mel. Wie schön leuchtet der Morgenstern etc. [1.] Wie groß, wie angebetet ist dein Name, / Heiland Jesus Christ, wie herrlich bei den Dei- / nen! Führst du uns einst zu deiner Ruh, o wie / weit herrlicher wirst du den Frommen dann / erscheinen. // Die Gemeine. [2.] Ewig müsse dir zur Ehre ihrer Chöre Lob / erschallen, durch die Himmel wiederhallen. // Nach der Predigt. Die Gemeine. Ich danke dir von Herzen, o Jesu, liebster / Freund, für deine Todes-Schmerzen, daß du’s / so gut gemeint. Ach gieb, daß ich mich hal- / te zu dir und deiner Treu, und wenn ich / einst erkalte in dir mein Ende sei. // Vor der Kommunion. Der Chor. Christe du Lamm Gottes etc. etc. // Während der Kommunion. Die Gemeine. – Mel. Jesus, meine Zuversicht etc. [1.] Die ihr Christi Jünger seid, theure, mit- / erlöste Brüder, Alle seinem Dienst geweiht, / Alle seines Leibes Glieder! Kommt, Erlöste, / kommt, erneut euren Bund der Seligkeit! // Der Chor. [2.] Nehmt, und eßt: das ist sein Leib, in den / Tod für euch gegeben; Nehmt und trinkt: das / ist sein Blut, er vergoß es euch zum Leben. / Schmeckt und sehet hocherfreut eures Mittlers / Freundlichkeit. // Die Gemeine. [3.] Mein Erlöser, Jesu Christ, für uns bist / du eingegangen in das Heiligthum; du bist / der, durch den wir Heil erlangen, und der uns / durch seinen Tod Freudigkeit verschafft zu Gott. // Der Chor. [4.] Du Erlöser, ja du bist, bist für sie auch / eingegangen; stärk’ in ihnen, Jesu Christ, / wenn sie nun dein Mahl empfangen, ihres / Glaubens Zuversicht, daß sie frei sind vom / Gericht. //

[Nr. 31]

Am ersten Ostertage.

Vor dem Gebet. – Mel. O Ursprung des Lebens. [1.] O Fröhliche Stunden! o herrliche Zeit, / Nun hat überwunden der Herzog im Streit, / Der Löw’ hat gekrieget, / Und herrlich gesieget, / Der willig sein

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Leben für andre verbürgt, / Hat dadurch den Würger nun selber erwürgt. // [2.] Der Herr ist ein Zeichen des Sieges der Ehr, / Ein Zeichen desgleichen man findet nicht mehr, / Nun hat er gelitten, / Nun hat er gestritten, / Nun hat er gesieget dem Feinde zum Truz, / Uns aber zum Frieden zum Heil und zum Schuz. // [3.] Ihr Klagende höret was Christus gethan! / Die Sünd ist zerstöret, der feindliche Plan / Liegt gänzlich vernichtet! / Ihr seid nun verpflichtet, / Dem Herren zu dienen mit inniger Lust, / O selig dem dieser Triumph ist bewußt. // [4.] Das fleischliche Leben ist nunmehr durch Ihn, / Dem Geist untergeben, der tapfer und kühn, / Weiß mit ihm zu kämpfen, / Die Lüste zu dämpfen, / Dem Herrn zu bewahren sein köstliches Gut, / Erworben durch Leiden erkaufet mit Blut. // [5.] O Jesu der du uns durch göttliche Macht, / Die Wohlfarth von oben herniedergebracht, / Wir wollen dich preisen, / Mit lieblichen Weisen, / Dich Helden dich Kämpfer dich Löwen im Streit, / Bleib ewig zu helfen uns allen bereit. // Nach dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft uns. [1.] Hallelujah Jesus lebet, / Erlöste Menschen hörts, erhebet / Des Gottversöhners Majestät, / Hörts betrübte Sünder! gebet / Der Freude Raum, denn Jesus lebet, / Gott hat ihn aus dem Staub erhöht. / O Seele dem zum Dank, / Erschalle dein Gesang! / Hallelujah! dich, großer Held, erheb die Welt, / Weil deine Hand den Sieg behält! // [2.] Jesu Jünger wehrt dem Leide, / Lobsinget ihm, und nehmt voll Freude / Am Sieg den er errungen Theil! / Seht der Tod ist überwunden, / Die Hölle bleibt besiegt gebunden, / Er starb und lebt zu eurem Heil! / Laßt eure Feinde dräu’n, / Ihr könnt getrost euch freun, / Jesus lebet von Ewigkeit zu Ewigkeit, / Derselbe ewig so wie heut. // [3.] Theile Herr nun deinen Leuten, / Auch reichlich aus von deinen Beuten, / Die du erlangt im heilgen Krieg, / Heil Gerechtigkeit und Leben, / O Jesu wollest du uns geben, / Und was uns schmückt von deinem Sieg! / Schließ deinen Himmel auf, / Ruf uns dein Volk hinauf, / Uns zu segnen! So hoffen wir, freun uns in dir, / Und nichts betrübt uns länger hier. // [4.] Doch weil immer an uns klebet, / Die Furcht des Todes, weil man lebet, / Das Fleisch erzittert vor dem Grab, / Ei so komm du Ueberwinder, / Daß unsre Herzensangst sich minder, / Du gabst den Geist dem Vater ab, / Starbst getröstet; dies Bild allein laß bei uns sein, / Wenn uns betrübt des Todes Pein. // [5.] Unterdessen hilf im Leben, / Uns immer fleißig Achtung geben, / Von Sünden ernstlich aufzustehn, / Daß auch wir stets von der Erden, / Zu höherm Sein erwecket werden, / Und fröhlich dir entgegen gehn! / So wird das harte Feld, / Zur schönen Freudenwelt, / Alles lebet, so wie erneut zur Frühlingszeit, / Die Erde sich in Blumen kleidt. // Unter der Predigt. – Mel. Wie schön leucht’s uns. Frohlockt dem Herrn! Bringt Lob und Dank, / Ihm der des Todes Macht bezwang, / Und uns, den Staub, erhöhte, / Der hohe Sieger überwand, / Nacht war um ihn, und sie verschwand, / In heitre Morgenröthe, / Bebet, gebet stolze Spötter, / Unserm Retter, / Preis und Ehre, / Huldigt ihm und seiner Lehre. //

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Nach der Predigt. – Mel. Ermuntre dich. Du lebst und leben soll auch ich, / In dir und mit dir leben, / Ich kenne dich es hat auch mich, / Mein Vater dir gegeben; / Doch in dein hohes Reich zu gehn, / Und deine Herrlichkeit zu sehn, / Dies können nur erwerben / Die ganz der Sünde sterben. //

[Nr. 32]

Am Sonntage Mis. Dom.

Vor dem Gebet. – Mel. Herzliebster Jesu etc. [1.] Ich bin gewiß, daß weder Tod noch Leben / Noch Engel, die des Höchsten Thron umgeben, / Noch Teufel noch Gewalt noch Freud und Leiden / Von Gott mich scheiden. // [2.] Der Ewige, der über Sonnen thronet, / Hat für mich seines Sohnes nicht verschonet, / Voll Huld hat er, damit wir Alle leben, / Ihn hingegeben. // [3.] Wie sollt er nun, wenn uns die Sünden kränken, / Uns nicht mit Jesu Alles alles schenken? / Ja alles, o des Wunders von Erbarmen, / Schenkt er uns Armen. // [4.] So knieet denn Erlöste, theure Brüder, / Voll heißen Danks vor seinem Throne nieder, / Ihm alles was wir haben, unser Leben, / Ganz zu ergeben. // [5.] Hier sind wir Gott! Du schenktest uns Verlornen / Das Liebste, Jesum Deinen Eingebornen; / Und wir, wir bringen dir mit reinem Triebe / Ein Herz voll Liebe. // Nach dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht’t uns etc. [1.] Mein Jesus, meines Herzens Lust, / Mir ist nichts auf der Welt bewußt, / Das meine Seele stillet, / Als deine Huld die köstlich ist, / So daß auch seiner selbst vergißt, / Den Du mit ihr erfüllet. / Zeuch mich kräftig zu der Liebe, / Reinstem Triebe / Von der Erde, / Daß ich ganz Dir eigen werde. // [2.] Durch Dich nur kann ich selig sein, / O drücke tief ins Herz mir ein / Empfindung Deiner Liebe; / Daß ich Dir treu ergeben sei, / Aus Weltsinn Deinen Dienst nicht scheu, / Gern Deinen Willen übe. / Nach Dir Heiland, den ich fasse / Und nicht lasse / Den ich wähle, / Dürstet meine ganze Seele. // [3.] Das ist mein Schmerz, das kränket mich, / Daß ich nicht gnug kann lieben Dich / So wie ich lieben wollte. / Von Tag zu Tag ich Dein begehr, / Und wie ich liebe, find’ ich mehr / Daß ich Dich lieben sollte. / Nur an Dir kann ich mich laben, / Ich muß haben / Liebesfülle, / Die der Seele Sehnsucht stille. // [4.] Ja wer Dich fest im Glauben hält, / Der kann die Freuden jener Welt / Schon hier auf Erden schmecken; / Und pflegst Du auch in mancher Zeit / Zu großer Herzenstraurigkeit / Dein Antlitz zu verdecken: / Ist doch Dein Joch frei von Plagen, / Wie sie nagen, / Wie sie quälen, / Sünd und Weltergebne Seelen. // [5.] Und das hat nie ein Ohr gehört, / Kein Mensch gesehen und gelehrt, / Und niemand kanns beschreiben, / Was denen schon für Seligkeit / Von Dir und mit Dir ist bereit, / Die in der Liebe bleiben, / Heilig selig Dich erblicken / Mit Entzücken, / Und Dich haben, / Dich mit allen Himmelsgaben. //

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Unter der Predigt. – Mel. Auf meinen lieben Gott. [1.] Herr Deiner Liebe Kraft / In Allen alles schafft, / Laß mich in Lieb entbrennen / Dich recht im Herzen kennen, / Und ganz Dir sein ergeben / In diesem Erdenleben. // [2.] Send mir von Deinem Thron, / Du wahrer Gottessohn, / Den Geist der Kraft und Stärke, / Zu allem guten Werke / Mit ihm sei ausgerichtet, / Wozu ich Dir verpflichtet. // Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Sei hochgepriesen! lebenslang / Gebührt Dir unsre Liebe. / O daß kein Herz Dir seinen Dank / Je dafür schuldig bliebe. / Durch Dich erlöst gehören wir / Dir ewig an; o möchte Dir / Zur Ehre jeder leben. //

[Nr. 33]

Am Sonntage Mis. Dom.

Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leuchtet uns. [1.] Dich seh’ ich wieder Morgenlicht, / Und freue mich der edlen Pflicht, / Dem Höchsten Lob zu singen! / Ich will voll frommer Dankbegier, / O mildester Erbarmer, dir / Preis und Anbetung bringen. / Schöpfer, Vater, deine Treue, / Rührt aufs neue, / Mein Gemüthe, / Froh empfind ich deine Güte. // [2.] Verleih o Gott der Lieb und Macht, / Daß Sünd und Gram, wie diese Nacht, / Auf ewig von mir fliehe; / Daß ich die kurze Lebenszeit, / In christlicher Zufriedenheit, / Zu nuzen mich bemühe. / Prüfe, siehe wie ich’s meine, / Dir ist keine / Meiner Sorgen / Auch die kleinste nicht verborgen. // [3.] Auch im Geräusch der Welt soll mich / Der heilige Gedank an dich, / Oft still zu dir erheben; / Im dunklen Thale wall ich hier, / Einst nimmst du mich hinauf zu dir / Zum Licht und höhern Leben. / Auf dich hoff ich! Herr ich werde / Mich der Erde / Gern entschwingen, / Dir dort ewig Lob zu singen. // Nach dem Gebet. – Mel. Eine feste Burg ist unser Gott. Gemeine. [1.] Wenn Christus seine Kirche schützt, / So mag die Hölle wüthen; / Er, der zur Rechten Gottes sitzt, / Hat Macht ihr zu gebieten. / Er ist mit Hülfe nah, / Wenn er gebeut, stehts da. / Er hält das Christenthum, / Und schüzt sein Eigenthum, / Mag auch die Hölle wüthen. // Chor. [2.] Gott sieht wohl Fürsten auf dem Thron, / Sich wider ihn empören; / Und den Gesalbten, seinen Sohn, / Den wollen sie nicht ehren. / Sie schämen sich des Worts / Des Heilands, unsers Horts; / Sein Kreuz ist selbst ihr Spott; / Doch ihrer lachet Gott. / Sie mögen sich empören. // [3.] Ich will dich, Ewiger, erheben, daß du mich aus der Tiefe / hast gezogen; daß meine Feinde sich nicht freuen über mich. // [4.] Gib daß in reiner Heiligkeit / Wir führen unsre Lebenszeit, / Sei unsers Geistes Stärke, / Daß uns forthin sei unbewußt, / All’ Eitelkeit und Sinnenlust / Und ihre todten Werke. / Rühre, führe, / Unser Sinnen / Und Beginnen / So auf Erden, / Daß wir Himmels Erben werden. // [5.] Freuet euch alle, ihr Frommen. Denn des Herrn Wort ist / wahrhaftig,

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und was er zusaget, das hält er gewiß. // [6.] Der Frevler mag die Wahrheit schmähn; / Uns kann er sie nicht rauben. / Der Unchrist mag ihr widerstehn; / Wir halten fest am Glauben. / Gelobt sei Jesus Christ! / Wer hier sein Jünger ist, / Sein Wort von Herzen hält, / Dem kann die ganze Welt, / Die Seligkeit nicht rauben. // Gemeine. [7.] Auf Christen die ihr ihm vertraut, / Laßt euch kein Drohn erschrecken! / Der Gott, der von dem Himmel schaut, / Wird uns gewiß bedecken. / Der Herr, der starke Gott, / Hält über sein Gebot, / Giebt uns Geduld in Noth, / Und Kraft und Muth im Tod; / Was will uns denn erschrecken? // Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu wir sind hier. Herr vor deinem Angesicht, / Hat die Andacht uns versammelt. / Ach verwirf die Bitte nicht, / Die dein Volk dir Höchster stammelt? / Hör’ auf unsre schwachen Lieder, / Und sieh gnädig auf uns nieder. // Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr. Die Heerde die du hast erwählt, / Die seze du zum Segen, / Und schenke was ihr annoch seht, / Zu gehn auf rechten Wegen, / Gieb deinem theuren Worte Kraft, / Das es in allen Herzen haft, / Sein sie auch hart wie Felsen. //

[Nr. 34]

Am Sonntag Jubilate.

Vor dem Gebet. – Mel. Unser Herrscher, unser etc. [1.] O Gott! du unendlich Wesen, / Der du dir zu deinem Thron / Stille Seelen auserlesen, / Gott, mein Schild und großer Lohn, / Gieb, daß ich mit stillem Geiste, / Treuen Dienst dir immer leiste. // [2.] Wüthet wilder Sturm hienieden: / So laß deinen Gnadenschein, / Deinen hohen Gottesfrieden / Mir im Herzen immer seyn. / Wenn nur Sünde nicht drin tobet, / Wirst du würdig still gelobet. // [3.] Wenn es anders pflegt zu gehen, / Als das eigne Herz gedacht: / Laß mich gläubig auf dich sehen, / Der ja alles wohl gemacht; / Daß in rechter treuer Stille, / Werd’ erkannt dein heilger Wille. // [4.] Wenn mit deinem Reiche streitet / Fleischeslust und arge Welt: / So laß um mich sein verbreitet / Dein geheimes Himmelszelt; / Daß auch dann in stiller Seelen / Deinen Ruhm ich mög’ erzählen. // [Schmidt.] Nach dem Gebet. – Mel. Der lieben Sonne etc. [1.] Ihr Herzen, die durch reine Lieb, / In Christo seid verbunden, / Was für ein starker Glaubenstrieb / Sollt nicht zu allen Stunden / Uns reißen schnell dahin, / Wo unser Geist und Sinn / In selger Still sich schließen zu, / Und kommen zur erwünschten Ruh. // [2.] Laßt uns nach dieser Ruh im Geist, / Dem höchsten Kleinod, trachten, / Und was uns zu demselben weist, / Hoch über alles achten. / Sie ist das beste Gut, / Sie stärket und giebt Muth, / Sie läßt nie ohne Labsal seyn, / Auch in des Lebens Müh’ und Pein. // [3.] Dann laßt uns Kräfte, Sinn und Muth / Für Jesu Reich verbinden! / Wird dies ge-

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gründ’t und bau’t sich gut, / So ist der Schatz zu finden, / Der überköstlich ist, / Den keine Motte frißt, / Und den kein Räuber stehlen kann, / Bei dem ist jeder wohl daran. // [4.] Jetzt ist die angenehme Zeit, / Die Gnadenthür steht offen, / Der Herr erscheint in Freundlichkeit, / Uns, die wir auf ihn hoffen. / Ach! würde seine Gnad, / Und was er für uns that, / In tiefer Demuth stets verehrt, / Und unter uns sein Lob vermehrt. // [5.] Laßt uns, mit allem was wir sind, / Entfliehen von der Erden, / Und immer inniger entzündt / Zu Christi Liebe werden. / Wo ist das Glaubensöl? / Wie brennts in unsrer Seel? / O! gingen wir mit voller Flamm / Entgegen doch dem Bräutigam. // [6.] Laßt uns, mit Glaubensmuth und Freud’ / Umgürtet unsre Lenden, / Den großen Lauf zur Ewigkeit, / In Christo selig enden; / So nimmt uns ein die Ruh, / Kein Leiden stößt uns zu, / Wir bleiben seines Friedens voll, / Und uns ist unaufhörlich wohl. // [Wolf.] Unter der Predigt. – Mel. Lobt Gott ihr Christen etc. [1.] Wie selig bin ich, wenn mein Geist / Empor zu Gott sich hebt, / Und weil er seinen Schöpfer preist, / Ein höhres Leben lebt! // [2.] Ein Strom von Himmelsfreuden quillt / Aus seiner Gotteskraft, / Und höher schlägt das Herz, erfüllt / Von Wonne, die er schafft. // Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen müssen etc. Christus nur giebt wahre Freude, / Er ist unsres Geistes Licht, / Christus ist der Seelen Weide, / Seine Liebe weichet nicht. / Was die Welt mir kann bereiten, / Bringt ja nichts denn Angst und Pein, / Christus soll zu allen Zeiten, / Meine wahre Ruhe sein. //

[Nr. 35]

Am Bettage.

Vor dem Gebet. – Mel. Herr ich habe mißgehandelt etc. [1.] Sollt ich meinem Herzen heucheln, / Sünde thun und sicher seyn? / Mir mit falscher Tugend schmeicheln / Und dann sagen: Ich bin rein? / Ach sein Elend nicht empfinden, / Welche bittre Frucht der Sünden! // [2.] Schlief ich ohne Sorg und Kummer / Um der Seele Seligkeit, / Eingewiegt im tiefen Schlummer / Einer trägen Sicherheit: / Welche fürchterliche Schrecken / Würden endlich mich erwecken, // [3.] Nein, das Blendwerk eitler Lügen, / Täusche meine Seele nie, / Müsse nie mein Herz betrügen; / Denn du Vater hassest sie, / Sie, die mir den wahren Glauben, / Sie, die deine Huld mir rauben. // [4.] Hilf mir streiten mit den Lüsten, / Frei von Stolz und Sicherheit. / Muthig mich zum Kampfe rüsten, / Daß ich diesen schweren Streit / Herr durch deine Kraft vollbringe, / Und gewiß zum Ziele dringe. // [Cramer.] Nach dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der Höh etc. [1.] Der Mächtige ruft aller Welt / Daß man auf ihn doch merke; / Er hat zu Predigern bestellt / Die Wunder seiner Werke. / Laut hört man ihrer Stimme Schall; / Verständlich ist auch überall / Die Sprache, die sie reden. //

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[2.] Durch Wohlthun zeugt er auch von sich / Am menschlichen Gemüthe, / Und lockt den Sünder väterlich / Durch Proben seiner Güte. / Doch achtet des der Sünder nicht: / So weiß durch Strafen und Gericht / Gott aus dem Schlaf zu wecken. // [3.] So rufst du Herr uns laut genug, / Daß man dich seh’ und höre, / Und daß der Eitelkeit Betrug / Die Herzen nicht bethöre. / Doch riefst du uns nicht auch durchs Wort, / So irrten wir noch immerfort / Auf finstern Sündenwegen. // [4.] Für diese Gaben, Vater, preist / Dich unser Herz; es schenket / Uns Bessrungskraft dein guter Geist, / Der unsre Herzen lenket. / Er weiset uns allein zu dir, / Das wir dich suchen für und für, / Dich recht verehren lernen. // [5.] Dein herrlich Evangelium / Legt er an unsre Seelen, / Daß wir zu deines Namens Ruhm / Den Weg des Heils erwählen, / Hält uns die größten Schäze vor, / Und neigen wir ihm unser Ohr, / Schenkt er sie treuen Herzen. // [6.] Erweck’ uns, Herr in deiner Kraft, / Dem Ruf Gehör zu geben! / Dein Geist der alles Gute schafft, / Führ’ uns den Weg zum Leben, / Zu dem uns alle du erschufst, / Auch heute noch uns gnädig rufst, / Nach deines Wortes Lehre. // [Heeren.] Unter der Predigt. – Mel. Es ist das Heil etc. Wir nahn uns schüchtern deinem Thron, / Und fallen betend nieder! / Bewahr uns vor der Sünde Lohn, / Vergieb, und segne wieder! / Sind wir mit Schulden gleich beschwert, / Und deines Segens wenig werth, / Sei doch die Gnade größer. // Nach der Predigt. – Mel. Allein zu dir Herr etc. Ich kämpf’ ermüd’ und strauchle oft, / Erbarme dich des Schwachen, / Der nur auf dich in Demuth hofft, / Du kannst mich mächtig machen. / In jeder Noth, o Herr, laß mich / Bei dir Erbarmung finden, / Trost empfinden, / Und dann zuletzt durch dich / In allem überwinden. //

[Nr. 36]

Am Sonntage Cantate.

Vor dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Du Tag des Herrn sollst meiner Seele / Ein stiller großer Festtag sein, / Ein Tag den ich mit Ernst erwähle, / Um ihn dem Lebenswort zu weihn; / Zum Himmel soll mein Geist sich schwingen, / Zum Himmel dem ich feire heut, / Entfernt von allen eiteln Dingen, / Den Festtag der Unsterblichkeit. // [2.] Sei stark und triumphir mein Glaube, / Ich weiß es, daß du Wahrheit bist, / Emporgeschwungen aus dem Staube / Des Todes hat sich Jesus Christ. / Ja Licht und Wahrheit, Worte Gottes / Sind Deine Worte! Ja Du bist / Du bleibst trotz jedes frechen Spottes / Der Sohn des Höchsten, Jesus Christ. // [3.] Mit Deinen heiligen Gemeinen / Die heut vor Deinem Antlitz stehn, / Soll meine Seele sich vereinen, / Herr Deine Liebe zu erhöhn, / Dein Lob mit Ehrfurcht hier zu stammeln, / Bis einst, wenn in der Engel Chor / Sich Deine Heiligen versammeln, / Mein Psalm mit ihnen dringt empor. // [4.] Noch hier am Gott geweihten Orte / Erschallt der Gnaden Stimme mir; / Ich höre Jesus

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Deine Worte / Und stille seufzt mein Herz zu Dir. / Zu Dir, daß ich als dein Erlöster, / Für den Du starbst, mich kann erfreun, / Zu Dir mein Licht, mein Schild, mein Tröster, / Durch den ich geh ins Leben ein. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob meine Seele. [1.] Erwäg o meine Seele / Wozu Du hier auf Erden bist, / Fühl es mit Dank, und wähle / Was Deiner Wünsche würdig ist! / Gott läßt Dich auf der Erden / In dieser Gnadenzeit / Für ihn erzogen werden / Zu Deiner Seligkeit; / Läßt alle Deine Kräfte / Hier wachsen und gedeihn, / Um göttlichem Geschäfte / Gesegnet Dich zu weihn. // [2.] Schon hier anbetend kennen / Den, der Dein Herr und Vater ist, / Von seiner Lieb entbrennen, / Und thun was ihrer würdig ist, / Von Herzen Jesum lieben, / Der für Dich starb, und Dich / In guten Werken üben, / In Kämpfen ritterlich, / In Gottes Wink ergeben, / Stets frohen Muthes seyn, / Und seiner Dich im Leben, / Sein Dich im Tode freun: // [3.] Dies ist Dein Ziel, dies wähle, / Die Du so hoch begnadigt bist / Von Gott, erlöste Seele! / Dies ists was Deiner würdig ist. / Dies sei Dir gegenwärtig, / Nur danach ring, und sei / Zu allem Gott gewärtig / Ihm bis zum Tode treu. / Der Sieger triumphiret / Und hat durch Gottes Sohn, / Der ihn zum Ziele führet / Der Treue reichen Lohn. // [4.] So großes darf ich hoffen! / Aus Deiner Gnade steht auch mir / Die hohe Laufbahn offen / Zu solchen Freuden, Gott zu Dir, / Dir will ich mich ergeben, / Und ganz von Dir erneut / Nun Deinen Werken leben, / Geschmückt mit Heiligkeit! / Ich will auf das nur sehen, / Was Dein Geist in mir schafft, / Was eitel ist verschmähen / Gestärkt durch Deine Kraft. // Unter der Predigt. – Mel. Ach Gott und Herr. [1.] Dein Wort ist wahr, laß immerdar / Mich seine Kräfte schmecken, / Laß keinen Spott, o Herr mein Gott, / Mich von dem Glauben schrecken. // [2.] Herr unser Gott, erhalt Dein Wort, / Wie Du es uns gegeben! / Es sei mein Theil, es sei mein Heil / Und Kraft zum ewgen Leben. // Nach der Predigt. – Mel. Wachet auf etc. O es ist uns schon gegeben / Im Vorgefühl das ewge Leben, / Im Himmel sei der Wandel dann! / Stark den Streit des Herrn zu streiten, / Sehn wir die Krone schon von weiten, / Die Kron am Ziel und beten an. / Preis Ehr und Stärk und Kraft / Sei dem der uns erschafft, / Ihm zu leben! Dir Jesu Dank, / Und Preisgesang Dir Geist von Gotte lebenslang. //

[Nr. 37]

Am Sonntag Cantate.

Vor dem Gebet. – Mel. Christus der uns selig macht. [1.] Deines Gottes freue dich, / Dank ihm meine Seele, / Sorgt er nicht väterlich, / Daß kein Gut dir fehle? / Schützt dich seine Vorsicht nicht, / Wenn

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Gefahren dräuen? / Ist es dir nicht heiße Pflicht, / Seiner dich zu freuen? // [2.] Wenn ich ernstlich dein Gebot, / Und mit Freuden übe, / Kindlich dich mein Herr und Gott, / Ehre, fürchte liebe: / O wie ist mir dann so wohl, / Wie ist mein Gemüthe, / Seliger Empfindung voll, / Voll von deiner Güte. // [3.] Du bist mein, so jauchz’ ich dann, / Wer ist der mir schade? / Heil mir, daß ich rufen kann, / Mein ist deine Gnade! / Jesus ist nach deinem Rath, / In die Welt gekommen, / Hat des Sünders Missethat, / Leidend weggenommen. // [4.] Lichtstrahl in der Sterblichkeit, / Heil des bessern Lebens, / Dich, des Himmels Seligkeit, / Such’ ich nicht vergebens! / Wenn mein Lauf vollendet ist, / Und vollbracht mein Leiden, / Ruft mein Mittler Jesus Christ, / Mich zu seinen Freuden. // Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob’ meine Seel. [1.] Wie selig macht der Glaube! / Wer nicht der Sünde Tyrannei, / Nicht böser Lust zum Raube / Sich hingiebt, der ist wahrhaft frei. / Zuvor ein Knecht der Sünden, / Hat er nun Kraft von Gott, / Sich selbst zu überwinden, / Und aller Frevler Spott; / Verscheucht, von ihm gerüstet, / Ein Streitgenoß des Herrn, / Was Sünde reizt und lüstet, / Was ihn entwürdigt gern. // [2.] Erhellt durch Jesu Lehre, / Seit er ihr göttlich Licht empfand, / Entreißt sich, ihm zur Ehre, / Nun jeder Täuschung sein Verstand, / Durchschauet alle Lügen, / Womit uns Leidenschaft, / Und Sinnlichkeit betrügen, / Durch seiner Einsicht Kraft. / Er schauet, ungeblendet, / Von falschem Schein und Wahn, / Wo breiter Weg einst endet, / Und wählt die schmale Bahn. // [3.] Sie sei ihm steil und enge, / Voll Klippen oder Dornen, sei / Verlassen von der Menge, / Er wallt sie, immer Gott getreu. / Er, folgsam seinem Worte, / Allein auf ihn zu sehn, / Ringt, durch die enge Pforte / Zum Leben einzugehn; / So wie er wallt, erweitert / Sein Blick sich rings um ihn, / Und er sieht, mehr erheitert, / Was erst ihn schreckte, fliehn. // [4.] Was gut, was recht und billig, / Was schön und lieblich ist, das übt / Er ohne Zwang und willig, / Weil es sein Herr und Vater liebt. / Weil er ihn kindlich ehret, / So schätzt und suchet er / Nur was sein Recht begehret, / Stets seines Wunsches Herr; / Darf keinen Menschen scheuen, / Voll Zuversicht und frei / Darf er sich Gottes freuen, / Ihm bis zum Tode treu. // Unter der Predigt. – Mel. Was mein Gott will. Nichts giebt uns solchen frohen Muth, / Als deines Wortes Weide, / Kein Glück der Welt, kein irdisch Gut, / Schenkt uns so große Freude; / Dein Wort allein, In Trost und Pein, / Ist unser Sieg in Schmerzen, / In jeder Noth, Und dann im Tod, / Ists Trost für fromme Herzen. // Nach der Predigt. – Mel. Eins ist Noth Hebe dich empor vom Staube, / Fasse Muth verzagter Geist, / Siegen, siegen wird der Glaube, / Der den Herrn des Leidens preist. / Was jezt uns betrübet, soll einst uns entzücken! / O selige Hoffnung, wie kannst du beglücken, / Nun ängst’gen die künftigen Tage uns nicht, / Jehova gebeut und das Dunkel wird Licht. //

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[Nr. 38]

Anhang

Am Sonntage Exaudi.

Vor dem Gebet. – Mel. Gott sei Dank in etc. [1.] O wie selig ist das Herz, / Das gewendet himmelwärts, / Herzlich liebet Jesum Christ, / Und in ihm vergnüget ist. // [2.] Solcher Seele wird zu Theil, / Unvergänglich selges Heil, / Und der hohe Gottessohn, / Ist ihr Schild und großer Lohn. // [3.] Den hält sie im Glauben fest; / Wenn sie alle Welt verläßt, / Ist und bleibet er ihr Freund, / Ihr in Lieb und Treu vereint. // [4.] Bricht auch Angst und Noth herein, / Darf sie immer frölich sein, / Gott den sie im Herzen hat, / Ist ein Gott voll Hülf und Rath. // [5.] Wird im Kampf ihr Glaube schwach, / Stimmt sie an ein traurig Ach, / Jesus gibt ihr neue Stärk’ / Und beschützt ihr schwaches Werk. // [6.] Wandert sie im finstern Thal, / Jesus folgt ihr überall, / Zaget sie, er tritt herzu, / Und gewährt ihr süße Ruh. // [7.] O der großen Lust und Freud, / Jesus stillet alles Leid, / Er wischt alle Thränen ab, / Und erquicket bis ins Grab. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meines Lebens etc. [1.] Jesu du mein liebstes Leben, / Herzog meines Glaubens du, / Der du dich in Tod gegeben, / Mir zu schaffen wahre Ruh! / Jesu meine Freud und Wonne, / Hirt und König Licht und Sonne, / Ach wie soll ich würdiglich, / Mein Herr Jesu preisen dich. // [2.] O du wunderbares Wesen, / Glanz der ewgen Herrlichkeit, / Uns vom Vater auserlesen, / Zum Erlöser in der Zeit, / Ach ich wei[ß ich] kann auf Erden / Ohne dich [nicht] selig werden, / Gläubig nicht und nicht gerecht, / Bleib ich nur der Sünde Knecht. // [3.] E[i] so komm, du Kraft des Lebens, / Stärke mich, erqui[ck]e mich, / Laß nicht rufen mich vergebens, / Komm und hilf mir gnädiglich, / Komm entzünde mir die Seele, / Daß ich heiliges erwähle! / Daß ich mich verirre nicht, / Strahle mir dein reines Licht. // [4.] Herr ich bitte, laß mich hoffen, / Daß du reden willt in mir, / Dir sein alle Sinnen offen, / Und die Welt, sie schweig in mir, / Daß mich deine Wahrheit lehre, / Daß ich ganz zu dir mich kehre, / Und gehorsam froh und treu, / Gott und dir gefällig sei. // [5.] Wohl den Menschen die da loben, / Deine Wohlthat immerdar, / Und durch deinen Schutz von oben, / Sind beschirmet vor Gefahr, / Welche treiben deine Werke, / Und dich rühmen, ihre Stärke / Und dir nach die Himmels Bahn, / Gehn die die uns aufgethan. // [6.] Machet weit die hohen Pforten, / Oeffnet Thür und Thor der Welt, / Wünschet Glück an allen Orten, / Seht es kommt der hohe Held, / Alles Volk soll sich bemühen, / Seht er kommt um einzuziehen! / Hoch sei er gelobt geehrt / Und sein Reich in uns vermehrt. // Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu etc. Gieb doch heilger Gott daß wir, / Dein Wort mehr als alles lieben, / Und darinnen für und für, / Uns mit Lust und Freuden üben, / Laß dasselb’ uns stets regieren, / Uns zum Himmelreich zu führen. // Nach der Predigt. – Mel. Komm o komm du Geist etc. [1.] Meines Lebens beste Freude, / Ist der Himmel, Gottes Thron, / Meiner Seelen Trost und Weide, / Ist mein Jesus, Gottes Sohn, / Es ist seine Herrlichkeit, / Die mein Herz allein erfreut. // [2.] Andre mögen sich erquicken, / An

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den Gütern dieser W[e]lt, / Ich will nach dem Himmel blicken, / Und zu Jesu sein gesellt, / Jedes andre Gut vergeht, / Jesus und sein Reich besteht. //

[Nr. 39]

Am Sonntag Exaudi.

Vor dem Gebet. – Mel. Von Gott will ich nicht. [1.] Aus meines Herzens Grunde, / Sag’ ich dir Lob und Dank, / In dieser Morgenstunde, / Wie all’ mein Leben lang. / O Gott vor deinen Thron / Komm ich, um dich zu ehren, / Durch Christum unsern Herren, / Dein Bild und deinen Sohn. // [2.] Beschützer meiner Seelen, / Ich traue stets auf dich, / Was soll ich für mich wählen? / O wähle du für mich! / Gieb was mir nützlich ist. / Gott, dem ich alles danke, / Mich stärke der Gedanke, / Daß du stets um mich bist. // [3.] Er stärke mich mit Freuden, / Zu thun was dir gefällt, / Er tröste mich im Leiden! / Und will die Lust der Welt, / Mich jemals nach sich ziehn, / Helf er mein Herz bewahren, / Helf er mir die Gefahren / Der Sünde sehn und fliehn. // [4.] Dich will ich lassen rathen, / Der alles wohl gemacht. / Vor dir sein meine Thaten, / In deinem Geist, gedacht. / Dir hab’ ich heimgestellt / Leib, Seele, Glück und Leben, / Und was du sonst gegeben, / Machs wie es dir gefällt. // [5.] Gott dem ich angehöre, / Dein Friede ruh’ auf mir! / Mein Seufzer, meine Zähre, / Erbarmer ist vor dir. / Des soll mein Herz sich freu’n. / Wer dir nicht traut der bebe; / Ich sterbe oder lebe, / So bin ich ewig dein. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meines Lebens Leben. [1.] Laß o Jesu mich empfinden, / Welche Seligkeit es ist, / Daß du mich vor Wahn und Sünden, / Zu befrein erschienen bist, / Daß ich Gottes Wege walle, / Daß du liebreich eh’ ich falle, / Die Gefahr mir offenbarst, / Mich ergreifest, mich bewahrst. // [2.] Doch auch für der Brüder Seelen, / Nicht für meine Seel allein, / Soll ich sorgen, wenn sie fehlen, / Wo ich kann ihr Führer sein. / Wenn sie sündigen und sterben, / Und ich rufe vom Verderben / Liebevoll sie nicht zu dir: / Wie besteh’ ich dann vor dir? // [3.] Von des Irrthums Finsternissen / Selbst errettet, soll auch ich, / Locken, rühren das Gewissen / Dessen, der vom Guten wich; / Soll ihm zeigen was ihn blende, / Und daß er zu dir sich wende, / Vor dem Fall ihn warnen, ihn / Bitten, weil er kann, zu fliehn. // [4.] Hilf du mir sein Herz erweichen, / Und wenn meine Bitten nicht / Bis zu seinem Herzen reichen, / Sei mein Beispiel ihm ein Licht, / Daß er an mir sehen möge, / Wie so heilsam Gottes Wege / Jedem, der sie lieb gewinnt, / Und mit Treue wandelt, sind. // Unter der Predigt. – Mel. Die Seele Christi. [1.] Erhalt uns Herr bei deinem Wort, / Den finstern Irrthum treibe fort, / Es weich der Afterlehre Wahn, / Dir sein die Völker unterthan! // [2.] Zerbrich des Zwanges hartes Joch / Ist Wahrheit frei, so siegt sie hoch, / Sie sei bei uns vom Irrthum frei, / Voll Frömmigkeit, oh’n Heuchelei. //

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Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr. Das Gedächtniß deiner Liebe, / Heilige mein ganzes Herz / Es belebe fromme Triebe, / Tröste mich in Noth und Schmerz. / Heiland ich gehöre dir, / Stärke du die Hoff[n]ung mir, / Auf der kurzen Bahn der Leiden, / Führest du zu Himmelsfreuden. // Die Druckkosten können nur dadurch bestritten werden, daß beim Empfang etwas in die Büchsen geworfen wird. Vollständige Exemplare sind für 12 Gr. Cour. zu erhalten, die Bezahlung nimmt Hr. Prediger Pischon an.

[Nr. 40]

Am Himmelfahrtstage.

Vor dem Gebet. – Mel. Schmücke dich o liebe etc. [1.] König dem kein König gleichet, / Dessen Ruhm kein Lob erreichet, / Dem das Recht gebührt zum Throne, / Als des Vaters ein’gem Sohne, / Der nach überstandnen Leiden / Geht zu seinen Himmelsfreuden / Ueber alles hoch erhoben, / Wer kann dich nach Würden loben? // [2.] Himmel, Erde, Luft und Meere, / Aller Kreaturen Heere, / Müssen zu Gebot dir stehen; / Was du willst, das muß geschehen; / Fluch und Segen, Tod und Leben, / Alles ist dir übergeben, / Und vor deinen mächtgen Worten / Zittern selbst der Hölle Pforten. // [3.] Nichts kann jemals hier auf Erden / Deines Reiches Gränze werden; / Wer vermag es die zu zählen, / Die zu ihrem Haupt dich wählen, / Dir nur zu gefallen streben, / Und nach deinem Willen leben, / Alles gern für dich verlassen, / Und wie du das Böse hassen? // [4.] In dem Reiche deiner Ehre / Jauchzen dir der Himmel Chöre, / Und durch heilige Gesänge / Preist dich der Erlösten Menge, / Die befreit von Furcht und Grauen, / Dein verklärtes Antlitz schauen. / Selig einst mit diesen Chören, / Werden wir dich ewig ehren. // [Rambach.] Nach dem Gebet. – Mel. Wie wohl ist mir o Freund etc. [1.] Vollendet ist dein Werk, vollendet / O Welterlöser unser Heil! / Uns liebet Gott, der dich gesendet, / Und seine Huld wird uns zu Theil. / Verklärt erhobst du dich vom Staube, / Dir nach schwingt sich der Deinen Glaube, / O Sieger, in dein himmlisch Licht; / Dich krönt nach Thränen und nach Leiden / Dein Gott mit seinen Gottes Freuden, / Vor aller Himmel Angesicht. // [2.] Ich seh empor zu dir, Vertreter! / Dich bet’ ich still mit Thränen an. / Ich weiß, daß auch ein schwacher Beter / Im Staube dir gefallen kann. / Zwar fallen vor dir Engel nieder, / Doch auch der Engel höhre Lieder / Verdrängen nicht mein schwaches Lied; / Von meinen aufgehobnen Händen / Wirst du nicht weg dein Antlitz wenden, / Du siehst den Dank, der in mir glüht. // [3.] Gieb meinem Glauben Muth und Leben, / Sich über Erde Welt und Zeit / Mit starken Flügeln zu erheben / Zu dir in deine Herrlichkeit! / Du meines künftigen Lebens Sonne, / Des Himmels und der Erde Wonne, / Durch den sich Gott mit uns vereint! / Du aller Welten Herr und Führer / Der Geister ewiger Regierer, / Du bist mein Bruder, bist mein Freund. // [4.] Einst wirst

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du herrlich wiederkommen, / Erlöser komm! es seufzen hier / Im Thränenthale deine Frommen, / Ihr Glaube seufzt nach dir, nach dir! / Dann werden auf dem Wolkenwagen, / Dich Millionen Engel tragen! / Du wirst in deiner Herrlichkeit, / Herr, Allen die jetzt zu dir weinen, / Vom Himmel als ihr Freund erscheinen, / Und Jubel wird der Erde Leid. // [Lavater.] Unter der Predigt. – Mel. Jesu der du meine Seele etc. Großer Mittler sei erhoben, / Weil wir leben, wollen wir / Dich mit Herz und Munde loben, / Dir nur folgen, leben dir, / Stets auf deine Stimme hören! / Hilf, daß wir dich treu verehren, / Bis der ganz verklärte Geist, / Dich mit allen Himmeln preist. // Nach der Predigt. – Mel. Mir nach spricht Christus etc. [1.] Auch wir, o schau von deinem Thron, / Herab auf deine Kinder, / Auch wir sind deines Schweißes Lohn, / Doch sterblich noch und Sünder. / Ach keiner von uns Allen sei / Dir seinem Retter ungetreu. // [2.] Vollenden hilf auch uns den Lauf, / Das Tagewerk vollbringen; / Und ists vollbracht, laß sich hinauf / Die Seele freudig schwingen. / Laß dann, wie du, vor Gottes Thron / Uns finden guter Thaten Lohn. //

[Nr. 41]

Am ersten Pfingsttage.

Vor dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht etc. [1.] Dir Vater, der du deinen Sohn / Zum Heil uns hast gegeben, / Dir dank ich hier mit Freuden schon, / Noch mehr im höhern Leben. / Ich danke dir, daß du den Geist, / Der uns der Finsterniß entreißt, / Zur Erde hast gesendet. / Auf Jesu Wort kam er herab, / Der seinen Boten Stärke gab, / Daß sie sein Werk vollendet. // [2.] Erfüllt von seiner Wunderkraft / Gehn sie, die Welt zu lehren; / Der Geist, der neue Herzen schafft, / Hilft ihnen sie bekehren. / Die Jünger schreckt nicht Pein noch Müh, / Dein Geist, o Vater, stärket sie / In Todesnoth und Banden; / Die Völker hören hocherfreut / Die Botschaft ihrer Seligkeit, / Sie kommen all zu Handen. // [3.] Noch jetzt bist du der Geist der Kraft, / Der Quell des Lichts, der Liebe, / Du bists, der Gottes Frieden schafft, / Du heiligst Sinn und Triebe. / In Sündern wirkst du Reu und Leid, / In frommen Seelen Lust und Freud / Und Muth im Kampf der Sünden; / In Leiden sprichst du Trost uns zu, / Im Tode schenkst du Seelenruh, / Und hilfst uns überwinden. // [Lavater.] Nach dem Gebet. – Mel. Komm heiliger Geist etc. [1.] Sei Welterlöser, sei gepreist, / Von dir ging aus der theure Geist, / Daß er die Deinen zubereite, / Und sie in alle Wahrheit leite! / Er stärk auch uns zur Pilgerschaft, / Gerüstet mit himmlischer Kraft, / Den Lauf zum Ziele zu vollbringen / Und einst die Krone zu erringen, / Hallelujah! Hallelujah! //

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Chor. [2.] Er sendet auch zu euch den Geist, / Der euch den Weg der Wahrheit weist! / Er leuchtet euch durch seine Gnade / Im Dunkel dieser Lebenspfade! / Er lehrt euch Gottes Heil verstehn, / Und warnt, wenn ihr wollt irre gehn; / Und wollt ihr straucheln und ermüden, / So stärkt er euch mit Kraft hienieden, / Hallelujah! Hallelujah! // [3.] Ihr waret, weiland Finsterniß, nun aber seid ihr ein / Licht in dem Herrn, wandelt wie die Kinder des Lichts. // Arie. [4.] Göttlicher Jesu voll Gnade und Wahrheit, / Send uns den Tröster, die himmlische Klarheit, / Er leite, bereite zum Glauben das Herz! / Er führ uns der Heiligung selige Pfade, / Er geb uns das Zeugniß der göttlichen Gnade, / Er stärk uns in Kämpfen und tröst uns im Schmerz. // Chor. [5.] Senke Gottes Geist dich auf uns herab, / Fülle die Herzen deiner Gläubigen, / Und zünde das Feuer der reinen Liebe in ihnen an. / Komm o Tröster, Gottesgeist! Senke dich auf uns herab, / Der du aus allen Völkern gesammelt die Heerde, / Halte sie einig und treu dem Hirten, / Hallelujah! // Gemeine. [6.] Hier in dem Heiligthum des Herrn, / Hier warten deiner, Geist des Herrn, / Wir Christen, unsres Hauptes Glieder, / Komm segensvoll auf uns hernieder! / Hilf uns! gieb dem Verstande Licht, / Dem Herzen Muth und Zuversicht, / Daß wir durch dich den Sieg erringen, / Zu ihm hinauf gen Himmel dringen, / Hallelujah! Hallelujah! // Unter der Predigt. – Mel. Nun bitten wir den heilgen etc. Du werthes Licht gieb uns deinen Schein, / Daß wir Jesum Christum erkennen allein, / Daß wir an ihm bleiben, dem treuen Heiland, / Der uns bracht hat zu dem rechten Vaterland, / Herr erbarme dich unser. // Nach der Predigt. – Mel. Hilft mir Gotts Güte etc. Zeuch ein zu deinen Thoren / Bei deiner Christenheit; / Du hast uns Gott geboren, / Du hast uns Gott geweiht! / O! füg in Einem Sinn / Der Menschen Thun zusammen; / Von deiner Liebe Flammen / Laß alle Herzen glühn! //

[Nr. 42]

Am zweiten Pfingsttage.

Vor dem Gebet. – Mel. Wachet auf ruft uns. [1.] Feiert laut, o heilge Chöre, / Und bringt anbetend seine Ehre / An seinem Fest dem Gottesgeist! / Auf und singt, ihr Dankeslieder, / Des armen Galiläas Brüder, / Die staunend jetzt die Erde preist. / Es ist in Gottes Macht / Das Gottes Werk vollbracht, / Heil der Menschheit! umsonst bekriegt, / Hat sie gesiegt die Lehre Jesu, und sie siegt. // [2.] Fröhlich sei von uns gepriesen / Der hohe Heldenmuth, erwiesen / Im Kampfe für die heilge Pflicht. / Schmach und Tod und Martern drohten / Ringsum den schwachen Jesusboten, / Doch wichen sie und zagten nicht, / So ist der fromme Muth, / Der jetzt noch

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Wunder thut! / Droht Gefahren! wenn Gott gebeut, / Wird Seligkeit, wovor sonst bang das Herz sich scheut. // [3.] Kämpfet mit getrostem Muthe, / Es siegt doch endlich alles Gute, / Wie Jesu Lehre hat gesiegt! / Kräftiger nur spricht die Wahrheit, / Der Glaube glänzt in reinrer Klarheit, / Je mächtiger man ihn bekriegt, / Ob noch so rauh es stürmt, / Ob sich’s wie Berge thürmt / Sache Gottes! geh’ deine Bahn, / Zum Ziel hinan! Wer ist’s der dir’s entreißen kann. // [4.] Ja ein Gott und Herr regieret, / Und sei’s durch dunkel auch, er führet / Allmächtig hin an’s lichte Ziel; / Unerforschte Weisheit schaltet, / Und unbegrenzte Liebe waltet, / Ob all’ dem irdischen Gewühl, / Im heil’gen Festgesang, / Erschalle unser Dank, / Voller Glauben! In Sorg und Noth, / In Licht und Tod erhalt uns Glauben Geist von Gott. // Nach dem Gebet. – Mel. Von Gott will ich nicht. [1.] O Führer unsers Lebens, / Du gnadenreicher Geist, / Dein Licht strahlt nicht vergebens, / Wenn es die unterweist. / Die sich von Gott entfernt, / Und die den Weg nicht wissen, / Auf dem in Finsternissen, / Man ew’ges Leben lernt. // [2.] Du zeigst geheime Sachen, / Die kein Verstand erdenkt, / Die Gott nur kund kann machen, / Die Er den Seinen schenkt. / Was unsern Glauben nährt, / Was unsere Lieb’ entzündet, / Was unsre Hoffnung gründet, / Das ist von dir gelehrt. // [3.] Du deckst der Gottheit Tiefen, / O Strahl der Gottheit auf, / Du kannst die Nieren prüfen, / Und der Begierden Lauf; / Dringt dann in den Verstand, / Die Ueberzeugungsgnade, / So wird der tiefe Schade / Des Herzens uns bekannt. // [4.] Wer sich dann treu bezeuget, / Den führst du weiter fort; / Das Herz wird mehr geneiget, / Zu deinem Lebenswort; / Ein göttlich starkes Licht / Bestrahlt die Seelenkräfte, / Das mächtig die Geschäfte, / Des Fleisches unterbricht. // [5.] Eröffne dein Regieren, / In meinem Geist, o Geist! / Und laß mich mächtig spüren, / Die Kraft, die Wahrheit heißt, / Erleuchte den Verstand, / Und lenke mein Gemüthe / Zu dem, o ew’ge Güte, / Was du mir machst bekannt. // Unter der Predigt. – Mel. Herr Jesu Christ dich. Uns strahle deiner Wahrheit Licht, / Gieb uns ins Herz der Liebe Glut, / Zum Vater frohe Zuversicht, / Zum Guten Kraft und festen Muth. // Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der. Herr in der Wahrheit und im Geist, / Soll unser Herz dich ehren, / Dir, den die ganze Schöpfung preist, / In froher Lieder Chören, / Soll auf des Glaubens lichter Bahn, / Sich unsre reine Seele nahn, / Geführt von deinem Geiste. //

[Nr. 43]

Am zweiten Pfingsttage.

Vor dem Gebet. – In eigner Melodie. [1.] Du Geist des Herrn, der du von Gott ausgehst, / Mit ihm in ewig gleichem Wesen stehst, / Kraft aus der Höh’, komm mich zu überschatten, / Komm, deinem Lob und meiner Bitt’ zu statten. // [2.] Du Weisheitsbrunn, du Ab-

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grund sonder End, / Vernunft und Kunst sind ohne dich verblendt, / Gieb mir Verstand und dein geheimes Wissen, / Wie Salomon zu bitten sich beflissen. // [3.] Du Klarheit komm, komm und durchleuchte mich, / Ich tappe sonst und irre jämmerlich, / Komm Meister, lehre Christum mich erkennen, / Ihn meinen Herrn in deinem Lichte nennen. // [4.] Du reines Licht brich an in deinem Glanz, / Verklär in mir das Wort der Wahrheit ganz, / Schließ mir prophetisch auf was noch verborgen, / Und zeige mir den ewig hellen Morgen. // [5.] Du sanfter Trieb! erhöh’ mich von der Erd’ / Ich folge gern, wenn ich beweget werd, / Die Andacht laß belebend mich durchdringen, / Und freudig preisend Gottes Heil mich singen. // [6.] Du göttlich Feuer, entzünde mein Gebet, / Wenn deine Brunst in meiner Brust entsteht, / Laß Christi Sinn in mir sich neu gebähren, / Und Muth und Kraft erfüll’ mich ihn zu ehren. // Nach dem Gebet. – Mel. Komm heil’ger Geist Herr etc. [1.] Komm heiliger Geist uns gesandt / Von Gott, mach deine Kraft bekannt, / Geuß deines Trostes Seligkeiten / Auf uns, die Christo sich weihten! / Die Gläub’gen aller Welt führst du / Ins Heiligthum, dem Herren zu. / Es schall Anbetung dir zum Ruhme, / Singt Völker ihm im Heiligthume / Hallelujah! Hallelujah! // Chor. [2.] Du heiliges Licht, starker Hort, / Laß uns leuchten des Lebens Wort, / Und lehr uns Gott recht erkennen, / Den Herzen Vater ihn nennen. / O Herr behüt vor fremder Lehr, / Daß wir nicht Meister suchen mehr / Als Jesum Christ, auf ihn nur schauen, / In rechter Glaubensmacht ihm trauen. / Hallelujah! Hallelujah. / Hallelujah. // Solo. [3.] Wenn aber kommt der heilige Geist, der wird / euch in alle Wahrheit leiten. // Chor. [4.] Hallelujah! // Drei Stimmen. [5.] Komm hernieder heil’ger Gottesgeist, / Erfüll die Herzen deiner Gläubigen, / Und zünde das Feuer der reinen Lieb’ in ihnen an. // Chor. [6.] Komm hernieder heil’ger Gottesgeist, / Laß uns deines Lichtes Strahl / Recht erleuchten allzumal! / Preis dir Arzt der Kranken, / Preis dir Stab im Wanken, / Preis dir Licht im dunklen Thal. // [7.] Komm hernieder heilger Gottesgeist, / Starke Hilf in aller Last, / Allersüßter Seelengast, / Süße Speise für das Herz, / Trost in Unterdrückung, / In der Hitz Erquickung, / Labsal du in allem Schmerz. // [8.] Komm hernieder heilger Gottesgeist, / Lebensquelle, Himmelsschein, / Dringe tief ins Herz hinein, / Halte deinen Gnadenbund! / Ohne deine Gotteskraft, / Die allein das Gute schafft, / Ist im Menschen nichts gesund. // [9.] Komm hernieder heilger Gottesgeist, / Heile das erkrankende, / Stüze du das wankende, / Wunden Arzt verbinde du! / Irrendes besinne sich, / Trotziges erweiche sich, / Starres, Herr, belebe du. // [10.] Einst gieb den Vertrauenden, / Herr den auf dich bauenden, / Reiche Freuden allzumal, / Gieb der Tugend Gnadenlohn, / Gieb dem Glauben Siegeskron, / In dem ewgen Freudensaal, / Amen! Hallelujah. //

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Gemeine. [11.] Du Himmelstrost du höchstes Gut, / Hilf uns frölich mit festem Muth, / In deinem Dienst beständig siegen, / Unter keiner Noth erliegen! / Dies Leben ist der Prüfung Ze[i]t, / Die wir durch dich besiegen we[i]t, / Hilf uns denn ritterlich ringen, / Und durch den Tod ins Leben dringen. / Hallelujah! Hallelujah. // Unter der Predigt. – Mel. Wie schön wünscht’s ins etc. O starker Fels o Lebenshort, / Schaff daß dein süßes Himmelswort, / In unsern Herzen brenne, / Daß hier in Geisteseinigkeit, / Vor allen deine Christenheit, / Dein Zeugniß recht bekenne! / Bleibe treibe und behüte / Das Gemüthe, / Daß wir glauben, / Laß uns nichts das Kleinod rauben. // Nach der Predigt. – Mel. Helft mir Gott’s Güte etc. Eröffne dein Regieren, / Aufs Neu in uns o Geist, / Daß wir lebendig spüren, / Was Kraft der Wahrheit heißt, / Daß wir im Glauben rein, / Kein Bild in unsern Seelen, / Als Jesum mögen wählen, / Und seiner würdig sein. //

[Nr. 44]

Am Sonntage Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. O Gott du frommer etc. [1.] Du dreimal großer Gott, dem Erd und Himmel dienen, / Dem heilig heilig singt die Schaar der Seraphinen, / Du höchste Majestät, du Helfer in der Noth, / Du aller Herren Herr, Jehova Zebaoth! // [2.] Dich treuen Vater muß, was Kind heißt, ewig preisen, / Du führest wunderbar, willt Leib und Seele speisen, / Erhörest das Gebet, erquickst den schwachen Muth; / Wir sind des zu gering, was deine Treue thut. // [3.] Heiland Imanuel, Lamm Gottes dessen Liebe, / Kein Mensch ergründen kann, auch mit dem reinsten Triebe, / Dir singt Hallelujah, dir als dem wahren Christ, / Das dankbare Geschlecht, das dir erlöset ist. // [4.] O Herr Gott heilger Geist, du Geist voll reiner Flammen, / Der durch des Wortes Kraft das Volk gebracht zusammen, / Das Christum kennt und ehrt, du machest alles licht, / Giebst neue Glaubensglut, daß nie die Kraft gebricht! // [5.] So laß denn ewig Gott dein Gnadenantlitz scheinen, / Mit edlem Segensthau erfrische stets die Deinen, / Auf dich wir hoffen, du wirst segnen mehr und mehr, / Wir singen Gloria, dir sei Lob Preis und Ehr! // Nach dem Gebet. – Mel. Eine feste Burg etc. [1.] Wenn Christus seine Kirche schüzt, / So mag die Hölle wüthen. / Er, der zur Rechten Gottes sitzt, / Hat Macht, ihr zu gebieten, / Er ist mit Hülfe nah, / Wenn er gebeut steht’s da, / Er schützet seinen Ruhm / Und hält das Christenthum, / Mag auch die Hölle wüthen. // [2.] Die Spötter mögen frech ihr drohn, / Zu Schanden sie zu machen, / Und kindisch träumen, daß sie schon / Vergeht, wenn sie nur lachen; / Ihre Pfeile sind / Spreu, verweht vom Wind! / Die Kirche stehet fest, / Gott sie nicht fallen läßt, / Er sieht zu ihren

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Sachen. // [3.] Der Frevler mag die Wahrheit schmähn, / Uns kann er sie nicht rauben, / Der Unchrist mag ihr widerstehn, / Wir halten fest am Glauben. / Gelobt sei Jesus Christ! / Wer hier sein Jünger ist, / Sein Wort von Herzen hält, / Dem kann die ganze Welt / Die Seligkeit nicht rauben. // [4.] Auch Feinde mögen sich so gern / Im Schooß der Kirche nähren, / Die falschen Christen, die den Herrn / Durch ihre Sünd’ entehren: / Doch ihrer Thaten Lohn, / Erwartet ihrer schon; / Die Kirche Jesu nicht, / Sie nur wird das Gericht / Mit seinem Feu’r verzehren. // [5.] Auf Christen denn, nur fest vertraut, / Laßt euch kein Drohn erschrecken, / Gott der vom Himmel auf uns schaut, / Wird mächtig stets uns decken, / Der Herr, der starke Gott, / Hält über sein Gebot, / Giebt uns Geduld in Noth / Und Kraft [u]nd Muth im Tod, / Es kann uns nichts erschrecken. // [6.] Auf denn, erhebet euch zu Gott, / Singt ihm mit Harf und Psalter, / Er selbst, Jehovah Zebaoth, / Ist unsres Bunds Verwalter. / Er sieht voll Gnad und Huld, / Und voll treuer Geduld / An uns seine Freud, / Und bis in Ewigkeit, / Bleibt er der Kirch Erhalter. // Unter der Predigt. – Mel. Jesu meine Freude etc. Wort aus Gottes Munde, / Wort vom Friedensbunde, / Evangelium! / Da der Mensch gefallen, / Ließ dich Gott erschallen, / Du bist unser Ruhm. / Gottes Kraft, die Glauben schafft, / Gute Bothschaft uns zum Leben, / Von Gott selbst gegeben. // Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Laß Gott dein Wort zu deiner Ehr / Sich immer mehr verbreiten, / Es müsse Jesu Christi Lehr, / Erleuchtend Alle leiten. / Laß uns des heilgen Geistes Kraft, / Und deines Wortes Lebenssaft / In Glaub und Liebe zeigen. //

[Nr. 45]

Am Sonntage Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Es woll’ uns Gott gnädig sein. [1.] Herr unser Gott wer ist dir gleich, / Du allerhöchstes Wesen, / Der du an Güt’ und Gnade reich, / Uns dir zum Dienst erlesen! / Gemeinschaft sollen wir mit dir, / O Allerhöchster haben, / Du willst mit deinem Heil uns hier, / Und ewig einst begaben, / Du Quelle alles Segens. // [2.] Wir beten dich, o Vater, an! / Tönt auch dein Lob von Sündern, / Du nimmst dich dennoch unserer an, / Bist Vater deinen Kindern. / Du hast für uns aus großer Huld, / Selbst deinen Sohn gegeben, / Dein Herz voll Güt’ und voll Geduld, / Lehr uns des Glaubensleben, / An dich, den rechten Vater. // [3.] O Jesu ew’ger Gottes Sohn! / Du Heil, auf das wir hoffen, / Durch dich steht zu des Vaters Thron, / Der Weg uns wieder off[e]n. / Von Sünd’ und Tod uns zu befrein, / Kamst du zu uns auf Erden, / O laß des Segens deiner Pein, / Theilhaft und froh uns werden, / Und dir im Glauben dienen. // [4.] O heil’ger Geist, du Geist von Gott, / Wehr in uns dem Verderben, / Im Glauben an des Mittlers Tod, / Hilf uns der Sünde sterben. / Du giebst zum Guten Lust und Kraft, /

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Laß uns des auch genießen, / Damit wir unsre Pilgrimschaft, / Im Glauben selig schließen, / Wir wollen gern dir folgen. // Nach dem Gebet. – Mel. So führst du denn recht selig. [1.] Auf auf mein Geist! auf auf den Herrn zu loben. / Auf auf erwecke dich und säume nicht! / Was in dir ist, sei still und sanft erhoben, / Zu Gott Jehova unserer Sonn und Licht. / Er ist allein Lob, Ehre Preis und Ruhm / Zu nehmen würdig stets und überall, / Erhebe ihn mit frohem Jubelschall, / Geh’ ein in sein erhab’nes Eigenthum. // [2.] Jehova ist ein unbegreiflich Wesen, / Darin sich willig mein Verstand verliert, / In seiner Welt kannst du es deutlich lesen; / Wie wunderbar sein kluger Rath regiert, / Er hat und kennet seines Gleichen nicht, / Wer ist wie Er und seine Majestät? / Vor ihr die Kreatur mit Zittern steht, / Sein [Wohn]haus ist ein unzugänglich Licht. // [3.] Ja Er, der Grund des Lebens aller Dinge, / Er ist fürwahr ein unzugänglich Licht, / O daß im Licht mein Wandel mir gelinge, / Und mir erhellte sich sein Angesicht! / Er ist im Licht, und lebt im Licht allein, / Er hasset den, der Finsternisse liebet, / Und liebet den, der sich dem Recht ergiebet, / O wohnt ich stets in seiner Strahlen Schein. // [4.] Wi[e] selig ist doch der ihn also kennet, / Und zu ihm Abba Vater sagen kann, / Den er den seinen gnädig wieder nennet, / Und ihn als Sohn als Tochter siehet an. / Mit Kindern geht er ja nicht ins Gericht, / Er hat Geduld, und übet Langmuth aus, / Mit Heiligkeit hat er geziert sein Haus, / Er ist die Lieb’, an Gnad’ es nie gebricht. // [5.] O Herrscher! wie soll ich denn g’nug erheben / Dich, daß auch mich du denen zugezählt, / Die du in Christo hast gebracht zum Leben, / Und sie in ihm zu Kindern auserwählt. / Zwar seh’ ich dich jetzt nur in dunklem Licht, / Doch kömmt, ich weiß es, künftig noch der Tag, / Da ich dich ohne Decke schauen mag, / Von Angesicht zu frohem Angesicht. // Unter der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott. Laß meine Seele nie, der Wahrheit Licht verfehlen, / Und nie was schädlich ist, für wahres Heil erwählen, / O Höchster leite selbst den forschenden Verstand, / So wird was du mich lehrst, auch wohl von mir erkannt. // Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der Höh’. Komm wahrer Gott mit deiner Kraft, / Zu deinen Auserwählten, / Gieb uns den rechten Lebenssaft, / Und tröste die Gequälten, / Bleib unser Schutz und Zuversicht, / Der Seele Schatz und Freudenlicht / Und unsres Geistes Leben. //

[Nr. 46]

Am zweiten Sonntage nach Trinitatis

Vor dem Gebet. – Mel. Valet will ich dir geben. [1.] Du meine Seele singe / Wohlauf und singe schön, / Dem, welchem alle Dinge, / Zu Dienst und Willen stehn. / Ich will den Herren droben, / Hier preisen auf der Erd, / Ich will ihn täglich loben. / So lang ich leben werd. //

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[2.] Wohl dem der einzig schauet, / Nach Jakobs Gott und Heil, / Wer dem sich anvertrauet, / Der hat das beste Theil, / Das höchste Gut erlesen, / Den schönsten Schatz geliebt, / Sein Herz und ganzes Wesen, / Bleibt ewig ungetrübt. // [3.] Hier sind die starken Kräfte, / Die ungeschwächte Macht, / Das zeigen die Geschäfte, / Die seine Hand vollbracht, / Des Himmels hohe Heere, / Der Erde weite Flur, / Verkünden seine Ehre, / Und seiner Allmacht Spur. // [4.] Hier ist das treue Wollen, / Das keinem Unrecht thut, / Das Jeder rühmen sollen, / Der selbst in Treue ruht, / Gott hält sein Wort mit Freuden, / Und was er spricht, geschieht, / Und wer Gewalt muß leiden, / Den schüzt er im Gericht. // [5.] Er ist das Licht der Blinden, / Erleuchtet ihr Gesicht, / Und die sich schwach befinden, / Die stellt er aufgericht’t, / Beglücket seine Frommen, / Die ihm gewärtig sind, / Die finden, wenn sie kommen, / Die Hülfe gar geschwind. // Nach dem Gebet. – Mel. Sei Lob und Ehr. [1.] O Seele welche Seligkeit / Ist dir allhier auf Erden, / Von deinem Schöpfer zubereit’, / Wenn er dir kund läßt werden, / Sein Wort die hohe Himmelskraft, / Die für dich lauter Stärkungssaft, / Und Leben mit sich führet. // [2.] Denn was ich suche find ich dort, / Was mir Noth ist zu haben, / Das zeiget sich in deinem Wort, / Dein Wort kann mich erlaben. / Dein edles Wort begreift in sich, / Was tröstet und erfreuet mich, / In unserm Erdenleben. // [3.] Aus deinem ewig wahren Wort, / Lern ich dich selbst erkennen, / Auch Jesum meinen treuen Hort, / Und Lebenslicht zu nennen. / Es zeiget mir den Geist, das Pfand / Des Erbes, das du zugewandt, / Den sterblichen Erlösten. // [4.] Wenn mir die Welt viel Trübsal macht, / Ich muß in Kummer leben, / Verfolgung drücket Tag und Nacht, / Gefahr mich hat umgeben, / Wenn Krankheit drohet, ja der Tod, / Hab’ ich in deinem Wort o Gott, / Noch immer Trost gefunden. // [5.] Dein Wort ist meines Lebens Licht, / Es lehrt mich richtig gehen, / Und bei der Sünder Rotte nicht / Auf ihrem Pfade stehen. / Dein Wort ist meiner Seelen Speis’ / Es ist das Holz vom Paradeis, / Das schenkt uns Kraft zum Leben. // [6.] Wie sollte nun nicht fort und fort, / Dies meine Freude heißen? / Ach Herr erhalte mir dein Wort, / Laß es ja niemand reißen, / Aus meines Herzens innrem Schrei’n / Ohn deines Wortes Glanz und Schein, / Ist alles Thun vergebens. // Unter der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott. Mein Gott bewahre mich, vor aller falschen Lehre, / Hilf’ daß ich stets dein Wort, mit festem Glauben ehre, / Gieb mir ein Herz, das ganz der Wahrheit sich ergiebt, / Sich ihr nicht wiedersezt, sie glaubt, erfährt und übt. // Nach der Predigt. – Mel. Valet will ich. Hilf Jesu, daß ich liebe, / Dein seligmachend Wort, / Daß ich mich stets drin übe! / Hilf liebster Seelenhort, / Das ich’s in meinem Herzen, / Bewahr durch deine Huld, / Damit in Kreuzesschmerzen, / Es Frucht trag in Geduld. //

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[Nr. 47]

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Am vierten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Du Geist des Herrn. [1.] Mein erster Wunsch, mein innigstes Bestreben, / Ist Herr mein Gott dich würdig zu erheben, / Unendlich groß ist deine Vatertreu, / Mit jedem Tag ist deine Güte neu. // [2.] Und sie umfaßt auch mich! Du Höchster denk[e]st, / An mich den Staub, der Du die Himmel lenkest, / Du sorgst für mich, ach! wie vergelt ich’s Dir, / Ein Herz voll Dank, Herr, bring ich Dir dafür. // [3.] Nimm’s gnädig an! gedenk nicht meiner Sünden, / Durch Deinen Sohn laß mich Vergebung finden, / Ihm, welcher nie ein gläubig Flehn verwarf, / Verdank ich’s, daß ich Vater sagen darf. // [4.] So will ich denn mit kindlichem Vertrauen, / Auf Dich allein, so lang ich lebe, bauen, / Du bist mein Gott, mein Retter in Gefahr, / Mein starker Fels, mein Helfer immerdar. // [5.] Mein Vater gieb mir Kraft zum neuen Leben, / Gieb mir den Muth, dem Beispiel nachzustreben, / Das Du in Deinem Sohn uns hast erzeigt, / Sanft ist sein Joch, und seine Last ist leicht. // [6.] Dein Auge sieht die Schwäche meiner Seele, / Ach laß mich nicht! und wenn ich täglich fehle, / So präge sich mir deine Vaterhuld, / Auch täglich ein, zu Tilgung meiner Schuld. // Nach dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht. [1.] O König, dessen Majestät / Sich über alles hebet, / Dem Erd’ und Meer zu Dienste steht, / Vor dem der Weltkreis bebet! / Du bleibst durch alle Ewigkeit / Der Gott der Macht und Herrlichkeit, / Bist groß von Huld und gnädig. / Ich armer Mensch vermag nichts mehr / Als daß ich ruf’ zu Deiner Ehr, / Gott sei mir Sünder gnädig, // [2.] Hier steh’ ich, wie der Zöllner that, / Beschämet und von ferne, / Ich suche deinen Trost und Rath, / Mein Gott Du hilfst ja gerne! / Der Gnade Trost nur such’ ich hier, / Gerecht erschein ich nicht vor Dir, / Des Ruhmes bin ich ledig. / Was Recht vor Dir ist, that ich nicht, / Drum schlag ich nieder mein Gesicht, / Gott sei mir Sünder gnädig. // [3.] Drum meiner Schulden mir bewußt, / Im zagenden Gewissen, / Schlag ich betrübt an meine Brust, / Von tiefem Schmerz zerrissen. / Dein Rufen hab’ ich überhört, / Ich bin nicht Deiner Liebe werth, / Doch ruf’ ich, sei mir gnädig, / Ich fleh’ mit reuevollem Geist, / Ich fleh’ zu Dir, der Vater heißt, / Gott sey mir Sünder gnädig. // [4.] Ich schaue, Vater, Jesum an. / Den Heiland aller Sünder, / Der auch für mich genug gethan, / Durch den wir deine Kinder / Und Erben der Verheißung sind, / Wenn unser Herz ihn liebgewinnt, / Der ist voll Huld und gnädig, / Ihm trau’ ich fest, ihn laß ich nicht, / Bis einst mein Herz im Tode bricht, / Gott sei mir Sünder gnädig. // [5.] Regiere Du mir Herz und Sinn, / In meinem ganzen Leben, / Du bist mein Gott, und was ich bin, / Bleib ewig Dir ergeben. / Ach heilige mich ganz und gar, / Mein Glaube sei auch immerdar, / Durch wahre Liebe thätig, / Und sollt ich dennoch irre gehn, / So soll mein Herz mit Wehmuth flehn, / Gott sei mir Sünder gnädig. // Unter der Predigt. – Mel. Es ist das Heil. Für dein Wort Vater sei gepreist, / Das gnädig du geschenket! / Es weiset uns dein guter Geist / Der unsre Herzen lenket, / Bei dieses Lichtes Glanz zu Dir, / Daß wir Dich suchen und schon hier / Dich recht verehren können. //

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Nach der Predigt. – Mel. Nun lob’ mein Seel. Wie Väter mit Erbarmen, / Auf ihre schwachen Kinder schaun, / So thut der Herr uns Armen, / Wenn wir in Demuth ihm vertraun, / Er weiß es, wir sind Sünder, / Doch straft er nicht die Schuld, / Er hegt die reu’gen Kinder, / Mit Vaterlieb’ und Huld. / Wer Ihm vertraut, Ihm lebet, / Der ist Ihm angenehm, / Mit Adlersflügeln strebet, / Erbarmung über dem. //

[Nr. 48]

Am sechsten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Hüter wird die Nacht etc. [1.] Seele du mußt munter werden, / Denn der Erden blickt hervor ein neuer Tag, / Komm, dem Schöpfer dieser Strahlen / Zu bezahlen, was dein schwacher Trieb vermag. // [2.] Deine Pflicht die kannst du lernen / Von den Sternen, deren Gold der Sonne weicht, / So laß auch vor Gott zerrinnen / Was den Sinnen, hier im finstern schöne deucht. // [3.] Wer Gott ehret, wird mit Füßen / Treten müssen Lust und Reichthum dieser Welt, / Wer ihm irdisches Ergötzen, / Gleich will schätzen, der thut was ihm nicht gefällt. // [4.] Kränkt dich etwas diesen Morgen: / Laß ihn sorgen, der es wie die Sonne macht, / Welche pflegt der Berge Spitzen / Zu erhitzen, doch auch in die Thäler lacht. // [5.] Um das, was er dir verliehen, / Wird er ziehen eine Burg die Flammen streut, / Du wirst zwischen Legionen / Engeln wohnen, die der Satan selber scheut. // [6.] Bitte nur daß Gott Gedeihen / Mag verleihen, wenn du auf was Gutes zielst, / Aber daß er dich mag stören / Und bekehren, wenn du böse Regung fühlst. // Nach dem Gebet. – Mel. Ich hab’ mein Sach’ Gott etc. [1.] Erhöre mich gerechter Gott, / Der du mich tröstest in der Noth, / Sei gnädig mir, dich ruf ich an / Der helfen kann, / Weil mich verhöhnet Jedermann. // [2.] Ich widme meine Ehre dir, / Doch schändet man sie für und für, / Ich mag es machen wie ich will, / Halt ich auch still, / Stets hab ich falscher Richter viel. // [3.] Den Frommen ist allhier bestellt, / Weil sie nicht leben wie die Welt, / Viel Elend, Trübsal Angst und Noth, / Und Thränenbrodt / Ist ihre Speise bis in Tod. // [4.] Denn die der Lügen Freunde sind, / Die bleiben für die Wahrheit blind, / Hart geht ihr Urtheil über mich, / Auch über dich, / Weil du mich führest wunderlich. // [5.] Herr thu doch ihre Augen auf, / Daß sie erkennen unsern Lauf, / Damit sie endlich recht verstehn, / Wie falsch sie sehn, / Wie weit sie in der Irre gehn. // [6.] Mehr in uns Zuversicht und Kraft, / Und weisen Lebens Wissenschaft, / Laß deiner Gnade vollen Schein, / Ein Zeugniß sein, / Daß wir mit Recht uns dein erfreun. // [7.] So brich herein vom Sternenzelt, / Du Herr und Richter aller Welt, / Lös’ auf des Wahnes Zauberei, / Die Welt erneu, / Und mache Zions Kinder frei. // Unter der Predigt. – Mel. Wie schön leucht etc. Der Glauben der mich dir verband, / Soll halten dich mit starker Hand, / Herr mehre mir den Glauben ! / Im Glauben kann mich niemand dir, / Im

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Glauben kann dich niemand mir, / Mein Herr und Heiland rauben. / Durch dich werd ich tapfer ringen, / Und bezwingen / Welt und Sünden, / Und den Argen überwinden. // Nach der Predigt. – Mel. Großer Prophete etc. [1.] Weil denn wir Armen so seufzen und stöhnen, / Wollest du Jesu dich mach[e]n bald auf, / Retten von Allen die trotzig uns höhnen, / Und uns aufhalten in unserem Lauf; / Kräftig und freudig die Wahrheit zu lehren, / Wollest du schenken, dem Vater zu Ehren. // [2.] Willige Opfer wird dir alsdann bringen / Nach dem Triumphe die heilige Schaar, / Liebliche Lieder da werden erklingen, / Wenn nun angehet das heilige Jahr, / Welches zu Zions Errettung bestimmet, / Und uns zur völligen Freude einnimmet. //

[Nr. 49]

Am sechsten Sonntag nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Auf meinen lieben Gott. [1.] Mein Vater und mein Hort, / Wo find ich Kraft und Wort, / In menschlich schwachen Weisen, / Dich würdiglich zu preisen, / Wer giebt dem Geiste Stärke, / Zum Ruhme deiner Werke. // [2.] Du hast von Jugend auf, / Geführet meinen Lauf, / Die Fülle guter Gaben, / Hast Du mich lassen haben, / Auf allen meinen Wegen, / Warst Du mir nah’ mit Segen. // [3.] Laß Deines Geistes Licht, / Zu meinem Unterricht, / Mich immerfort regieren, / Und mich zur Weisheit führen, / Laß sie o Herr mich leiten, / In allen Lebenszeiten. // [4.] Gieb mir ein frommes Herz, / Das Dir mit tiefem Schmerz, / Bekenne seine Sünden, / Und laß mich Gnade finden! / Laß Frieden im Gewissen, / Das bange Herz geniessen. // [5.] Und bei der List und Wuth / Der Bösen gib mir Muth / Und Glauben, daß auch heute / Mich Herr Dein Schutz begleite. / Daß Du mir Hülfe sendest, / Zum Besten alles wendest. // Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird durchs Kreuz. [1.] Ein Herz, das Gott erkennen lernet, / Und sein Gesetze lieb gewinnt, / Das sich vom Eitlen recht entfernet, / Und himmlisch wird in sich gesinnt, / Das zieht Ihn vor den größten Schätzen, / Es ehrt ihn als das höchste Gut, / In Ihm allein kann’s sich ergötzen, / Er ist’s, bei dem es sicher ruht. // [2.] Denn unser Gott ist lauter Liebe, / Dies saget alle Kreatur, / Die er aus heil’gem Liebestriebe, / Uns dargestellt als eine Spur, / Die uns zu ihm hinauf soll führen, / Und Zeuge sein von seiner Kraft, / Die Finsterniß mit Licht kann zieren, / Die aus dem Nichts ein Etwas schafft. // [3.] Durch Lieb’ allein ward Er bewogen, / Daß Er uns arme Menschen schuf, / Und da die Sünd’ uns Ihm entzogen, / Uns wieder rief mit heil’gem Ruf. / So Seele sucht er auch noch heute, / Wie Er mit Liebe dich umfah; / Er schenkt sich dir zur süßen Beute, / Und ist dir stets in Gnaden nah’. // [4.] Er überfüllet dich mit Seegen, / Er speiset dich mit Himmelsbrod; / Er ist dein Licht auf deinen Wegen, / Er führt dich mächtig aus dem Tod, / Er tränkt dich aus des Lebens Bächen, / Er stehet dir in Nöthen bei, / Im Kreuz läßt Er dir Trost einsprechen, / Und

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stets bleibt seine Liebe neu. // [5.] Je mehr ein Mensch dies Gut geschmecket, / Und in der Kraft empfunden hat, / Je mehr wird er im Geist erwecket, / Es mehr zu suchen früh’ und spat. / Er ringt darnach mit heißen Thränen, / Er eilt ihm nach mit schnellem Lauf, / Umfaßt es dann mit inn’gem Sehnen, / Nichts lockt ihn weg, nichts hält ihn auf. // [6.] Nicht Lust, nicht Noth kann jemals stören, / Die Liebe zu dem ew’gen Gut, / Die Glut muß alles nur vermehren, / Erhöhen nur den Glaubensmuth; / Uns mehr und mehr zum Himmel treiben, / Das Andachtsfeuer blasen an, / Uns Christo tiefer einverleiben, / Der unsre Seelen sich gewann. // Unter der Predigt. – Mel. Erschienen ist der herrliche Tag. O heil’ger Geist, laß uns dein Wort, / So hören heut und immerfort, / Das sich in uns durch deine Lehr, / Glaub’, Lieb’ und Hoffnung reichlich mehr. Hallelujah! // Nach der Predigt. – Mel. Allein Gott in der Höh’. Laß uns dein Wort beständig sein, / Ein Licht auf dunklen Wegen, / Erhalte Du es hell und rein, / Auf daß wir dessen Seegen, / Rath, Kraft und Trost in aller Noth, / Im Leben und dereinst im Tod, / Nach deinem Willen ärndten. //

[Nr. 50]

Am achten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – In bekannter Melodie. [1.] Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehre! / Stimme frolockend mit ein in die himmlischen Chöre, / Seele; dein Dank / Schalle mit frohem Gesang, / Deinem Erhalter zur Ehre! // [2.] Lobe den Herren, der Alles auf’s Beste regieret; / Der dich mit Weisheit und Güte bis hieher geführet; / Der dir gewährt, / Was dich erfreuet und nährt. / Dank’ ihm es innigst gerühret! // [3.] Lobe den Herren, der deinen Leib künstlich bereitet; / Der dir Gesundheit verliehen; dich freundlich geleitet! / In wie viel Noth / Hat nicht der gnädige Gott / Ueber dich Flügel gebreitet! // [4.] Lobe den Herren, der deinen Stand sichtbar gesegnet! / Ströme des Guten hat auf dich sein Wohlthun geregnet. / Denke daran, / Was der Allmächtige kann, / Wie er dir huldreich begegnet. // [5.] Lobe den Herren und seinen hochheiligen Namen! / Lob’ ihn mit allen, die von ihm das Leben bekamen! / Er ist dein Licht! / Seele vergiß seiner nicht; / Lob’ ihn in Ewigkeit! Amen! // Nach dem Gebet. – Mel. Ermuntre dich mein schwacher. [1.] Du bist ein Mensch, das weißt du wohl. / Was strebst du denn nach Dingen, / Die Gott der Höchste kann und soll / Allein zuwege bringen? / Du fährst mit deinem Witz und Sinn / Durch so viel tausend Sorgen hin / Und denk’st, wie will’s auf Erden / Doch endlich mit mir werden! // [2.] Willst du was thun, das Gott gefällt, / Und dir zum Heil gedeihet, / So wirf dein Sorgen auf den Held’ / Den Erd’ und Himmel scheuet; / Und gieb dein Leben, Thun und Stand / Nur fröhlich hin in Gottes Hand; / Er wird schon deinen Sachen /

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Ein herrlich Ende machen. // [3.] Du meinst, es könn’ dein Angesicht / Dein ganzes Leben führen. / Du traust und glaubest weiter nicht, / Als was die Augen spüren. / Was du beginnst, da soll allein / Dein Kopf, dein Licht und Meister sein. / Was der nicht auserkoren, / Das hältst du für verloren. // [4.] Wie oft bist aber du in Noth / Durch eig’nen Willen kommen, / Da dein bethörter Sinn den Tod / Für’s Leben angenommen. / Und hätte Gott dein Werk und That / Begehen lassen nach dem Rath, / In dem du’s angefangen, / Du wärst zu Grunde gangen. // [5.] Drum, gle[ich], dem Kinde, lege dich, / In deines Vaters Arme; / Bitt’ ihn, und stehe, bis er sich / Dein, wie er pflegt, erbarme: / So wird er dich durch seinen Geist / Auf Wegen, die du jetzt nicht weißt, / Nach wohlgehaltnem Ringen, / Aus allen Sorgen bringen. // Unter der Predigt. – Mel. O Gott, du frommer Gott. Spricht Gott geheimnißvoll: / So laß dich dies nicht schrecken! / Ein endlicher Verstand / Kann ihn nicht ganz entdecken! / Gott bleibt unendlich hoch! / Wenn er sich dir erklärt: / So glaube, was Er spricht, / Nicht was dein Witz begehrt. // Nach der Predigt. 1. Mel. Ich singe dir mit Herz und Mund. [1.] Gott deiner Stärke freue sich / Der König alle Zeit! / Sein Auge sieht getrost auf dich, / Sein Herz ist dir geweiht. // [2.] Gekrönt von dir, o Gott! mit Ruhm, / In schwerem Kampf und Krieg / Beschützend Recht und Eigenthum, / Kehrt er zurück mit Sieg, // [3.] Auch ihm hast du bestimmt das Ziel, / Das er erreichen soll: / O! mache seiner Tage viel, / Und alle segensvoll. // 2. Mel. Nun danket alle Gott. Lob, Ehr und Preis sei Gott, / Dem Vater und dem Sohne, / Und seinem heil’gen Geist. / Er, der vom Himmelsthrone / Erbarmend auf uns sieht, / Bleibt, wie er ewig war, / Unendlich groß und gut. / Lob sei ihm immerdar! //

[Nr. 51]

Am achten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Helft mir Gotts etc. [1.] Du Führer unsres Lebens, / Du gnadenreicher Geist, / Dein Licht strahlt nicht vergebens / Wenn es die unterweist, / Die sich von Gott entfernt, / Und die den Weg nicht wissen / Auf dem in Finsternissen / Man ewges Leben lernt. // [2.] Du sch[a]ffest fromme Seelen, / Die statt der breiten Bahn / Den engen Weg erwählen, / Und nimmst dich ihrer an. / Wer sich zu dir nur kehrt, / Sich deiner Zucht ergiebet / Und nur die Wahrheit liebet, / Der wird von dir gelehrt. // [3.] Du zeigst geheime Sachen, / Die kein Verstand erdenkt, / Die Gott nur kund kann machen, / Die er den Seinen schenkt. / Was unsern Glauben nährt, / Was unsre Lieb entzündet, / Was unsre Hoffnung gründet, / Das wird von dir gelehrt. // [4.] Du deckst der Gottheit Tiefen, / O Strahl der Gottheit auf, / Du kannst Gedanken prüfen / Und der Begierden Lauf. / Ein göttlich starkes Licht / Bestrahlt die Seelenkräfte, / Und gleich

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sind die Geschäfte / Der Fleisches Lust vernicht’t. // [5.] Eröffne dein Regieren / Aufs neu in mir o Geist, / Laß mich lebendig spüren, / Was Kraft der Wahrheit heißt. / Erleuchte den Verstand, / Und lenke das Gemüthe / Zu dem o ew’ge Güte, / Was du mir machst bekannt. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meiner Seele Leben. [1.] Laß o Jesu mich empfinden, / Welche Seligkeit es ist, / Daß du mich von Wahn und Sünden / Zu befrein erschienen bist, / Daß ich Gottes Wege walle, / Daß du liebreich, eh’ ich falle, / Die Gefahr mir offenbarst, / Mich ergreifest, mich bewahrst. // [2.] Doch wie könnt’ ich dies empfinden, / Und voll Kaltsinns Menschen sehn, / In der Sklaverei der Sünden / Wege des Verderbens gehn, / Und nicht rufen, daß si[e]’s hören, / Eilet laßt euch neu gebähren, / Zur Bekehrung nüzt die Zeit, / Ringet nach der Seligkeit. // [3.] Von des Irrthums Finsternissen / Selbst errettet, soll auch ich, / Locken, rühren das Gewissen / Dessen der vom Guten wich, / Soll ihm zeigen was ihn blende, / Und daß er zu dir sich wende, / Vor dem Fall ihn warnen, ihn / Bitten weil er kann zu fliehn. // [4.] Hilf du mir sein Herz erweichen, / Und wenn meine Bitten nicht / Bis zu seinem Herzen reichen, / Sei mein Beispiel ihm ein Licht, / Daß er an mir sehen möge, / Wie so heilsam Gottes Wege, / Jedem der sie lieb gewinnt, / Und mit Treue wandelt, sind. // [5.] Laß ihn sehn an meinen Freuden, / Wie beglückt der Fromme sei, / Wie so heiter auch im Leiden, / Wie so groß und sorgenfrei, / Ja laß ihn durch mich auf Erden, / Jesu einverleibet werden! / Selig selig ist der Christ, / Der auch Seelen Retter ist. // Unter der Predigt. – Mel. Allein Gott in der Höh etc. Verleih Herr daß wir alle gleich, / Dem fruchtbar’n guten Lande, / An Glaubenswerken seien reich, / In unserm Amt und Stande, / Viel Früchte bringen in Geduld, / Und deinen Ernst und deine Huld, / Weit um uns her verbreiten. // Nach der Predigt. – Mel. Ich hab mein Sach etc. Verirrte führe Herr zurück, / Zu dir zu ihrem wahren Glück, / Und bilde sie durchs Christenthum, / Herr dir zum Ruhm, / Zu deinem Volk und Eigenthum. //

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Am neunten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Ich singe dir mit etc. [1.] Ich bin, des freuet sich mein Herz. / Ich bin u[n]d werde sein, / Ein Stäubchen ist des Lebens Schmerz / Gesehn im Sonnenschein. // [2.] Gesehn in jener Sonne Schein, / Die nimmer untergeht, / Durch die, was war, was ist, wird sein, / Emporging und besteht. // [3.] Froh wand’l ich auf der Lebensbahn / Entgegen ihrem Licht, / Das manchen Nebel, manchen Wahn / Mit goldnem Strahl durchbricht. // [4.] Es führe mich des Glaubens Hand, / Mir schwebe Hoffnung vor; / Und Liebe heb an sanftem Band, / Mich aus dem

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Staub empor. // [5.] Ihr Odem haucht auf Land und Meer, / Sie führt des Mondes Bahn, / Sie leitet der Gestirne Heer, / Sie facht die Sonnen an. // [6.] Doch wärmer haucht und heller facht / Ihr Odem Geister an. / Und führt durch kurze Erdennacht / Sie auf den Ozean, // [7.] Wo laute Fluth des Jubels hallt, / Wo Licht dem Licht entsprüht, / Wo Wonn’ an Wonne wogt und wallt, / Wo Lieb’ an Lieb’ erglüht. // [F. L., Gr. z. Stolberg.] Nach dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Bedenk o meine Seele, / Daß du für Gott erschaffen bist, / Empfind’s voll Dank und wähle, / Was deines Strebens würdig ist. / Dir müssen Gottes Sonnen / Dir seine Sterne glühn, / Für deine Lust begonnen / Gebürg und Thal zu blühn. / Doch sie und alle Gaben, / Die sie doch nicht für sich / Die sie für dich nur haben, / Sind noch zu arm für dich. // [2.] Der Mensch darf mehr begehren, / Als Erd u[n]d Himmel geben kann; / Gott will ihm mehr gewähren, / Beut ihm ein größres Erbtheil an. / Er führt ihn auf die Erde, / Daß er im Lauf der Zeit / Von ihm erzogen werde / Zu seiner Seligkeit, / Bis er mit allen Kräften / Gebildet und gewöhnt / Zu göttlichen Geschäften / Nach ihm allein sich sehnt. // [3.] Auch ich darf dieses hoffen; / Selbst nach dem Falle steht auch mir / Noch diese Laufbahn offen / Zu deinen Freuden, Gott, zu dir. / Und dich erkennen, lieben, / Der du die Liebe bist, / Wie Jesus eifrig üben / Was dir gefällig ist; / Und deinen Kindern allen / Zum Dienste gern bereit, / Dem Ziel entgegen wallen, / Ist hier schon Seligkeit. // [4.] Einst end’ ich dann voll Wonne / Des Glaubens freud’gen Siegerlauf, / Mir geht die Himmelssonne / In vollem Glanz entzückend auf. / Und wo der Weg sich scheidet, / In heilger Dunkelheit / Geh ich, vom Staub entkleidet, / In Gottes Seligkeit. / Entflohn sind dann die Leiden, / Die Thränen abgewischt, / Vollkommen sind die Freuden, / Mit keinem Schmerz vermischt. // [Cramer.] Unter der Predigt. – Mel. Nun ruhen alle etc. Verleih’ getreue Lehrer, / Und unverdroß’ne Hörer, / Die deinem Wort sich weihn; / Auf Pflanzen und Begießen, / Laß dein Gedeihen fließen, / Des Geistes Erndte reichlich sein. // Nach der Predigt. – Mel. Jesu, der du meine etc. Hilf, daß ich die Sünde meide, / Hilf, daß keine böse Lust, / Keine Macht mich von dir scheide, / Laß mich stets mit treuer Brust, / Herr, auf deinen Wegen bleiben, / Deinen Geist zu dem mich treiben, / Was dir Heiland wohlgefällt, / Mich in deinem Dienst erhält. //

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Am zehnten Sonntag nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht uns der. [1.] Du, Jesu, bist der Morgenstern, / Voll Gnad’ und Wahrheit von dem Herrn, / Der Glanz aus Gottes Höhen! / O Herr, von deinem Angesicht / Umstralet mich allmäch[t]ig Licht: / Mein Geist wird nicht vergehen! / Mein

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Leib – War einst, / Wird einst, Erde; – Ich, ich werde – Ewig leben, / Auferstehn und selig leben! // [2.] So zittre vor dem Tode nicht, / Mein Geist ! denn Jesu Wort ist Licht / Vor Gottes höchstem Throne! / Vollende deines Glaubens Lauf, / Schau stets zu deinem Heil hinauf, / Zum Vater und zum Sohne! / Jesus – Christus! / Ewig Leben – Wirst du geben – Gottes Kindern; / Kronen, Herr! den Ueberwindern! // [3.] Du bist, o Jesu, mein; Ich dein! / Geuß tief in meine Seel’ hinein / Den Geist der Liebesfreuden! / Der Erde Wollust und ihr Leid / Soll mich in dieser Uebungszeit, / O Herr, von dir nicht scheiden! / Dich, dich – lieben, / Hilf mir Schwachen, – Hilf mir wachen – Laufen, ringen, / Stark durch dich zu Gott mich schwingen! // [4.] O du, der schuf und der erhält, / Du hast mich ewig vor der Welt / Zum Christen ausersehen; / Der Bund, bestärkt durch Jesu Blut, / Du seyst mein höchstes ewig Gut! / Der Bund bleibt ewig stehen. / Preis dir, – Vater! / Fallet, Brüder, – Mit mir nieder, – Dankt im Staube! / Himmelslust sei unser Glaube. // Nach dem Gebet. – Mel. Jesus meine Zuversicht. [1.] Seele, was ermüd’st du dich / In den Dingen dieser Erden, / Die doch bald verzehren sich, / Wiederum zu nichts zu werden. / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // [2.] Sammle den zerstreuten Sinn, / Laß ihn sich zu Gott auf schwingen, / Richt ihn stets nach oben hin, / Laß ins Himmel[r]eich ihn dringen; / Da wohnt Jesus und sein Licht, / Und hält ewig Weltgericht. // [3.] Du verlangst oft süße Ruh / Dein ermüdet Herz zu laben. / Eil’ zur Lebensquell hinzu, / Da kannst du sie reichlich haben. / Da quillt dir sein heilig Wort, / Deinem Leben Schutz und Hort. // [4.] Fliehe die unsel’ge Pein, / So das finstre Reich gebieret: / Laß nur Den dein Labsal sein, / Der zur Glaubensfreude führet, / Dich mit seinem Trost beglückt, / Wenn der Zweifel niederdrückt. // [5.] Geh’ einfältig stets einher, / Laß dir nicht das Ziel verrücken. / Gott wird aus dem Liebesmeer / Dich, den Kranken, wohl erquicken. / Denk an Jesu Kreuzes Tod. / Schwinden wird dann alle Noth! // [6.] Schwinge dich fein oft im Geist / Ueber alle Himmelshöhen, / Laß, was dich zur Erden reißt, / Weit von dir entfernet stehen. / Denk an Jesu bittres Leid. / Es hob’ ihn zur Herrlichkeit. // [7.] Laß dir seine Majestät / Immerdar vor Augen schweben. / Laß mit brünstigem Gebet, / Sich dein Herz zu ihm erheben. / Suche Jesum und sein Licht, / Alles andre hilft dir nicht. // Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu wir sind hier. Lehr uns Recht, du Kraft des Herrn; / Gieße Licht in unsre Seelen. / Dein Wort sei des Glaubens Stern, / Den wir in der Nacht erwählen. / Heiland, dieses Licht vereine / Deine glaubende Gemeine. // Nach der Predigt. – Mel. O Gott, du frommer Gott. Laß dich, o frommer Christ, / Durch keine Zweifel kränken. / Hier bist du Kind; doch dort / Wird Gott mehr Licht dir schenken. / Dort wächst mit deinem Glück / Dein Licht in Ewigkeit; / Dort ist die Zeit des Schauns, / Hier ist des Glaubens Zeit. //

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[Nr. 54]

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Am eilften Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Die Seele Christi etc. [1.] Für unsre Brüder beten wir, / O Vater, wie für uns zu dir, / Gieb, der du aller Vater bist, / Gieb jedem, was ihm heilsam ist. // [2.] Dank, daß du ihrer all gedenkst, / Und deinen Sohn auch ihnen schenkst, / Auch sie zu deinem Himmel schufst, / Zum Glauben gnädig sie berufst. // [3.] Nimm ihrer väterlich dich an, / Und leite sie auf deiner Bahn, / Und bilde sie für deinen Ruhm, / Zu deinem Volk und Eigenthum. // [4.] Verirrte führe Herr zurück / Zu dir, zu ihrem wahren Glück! / Und wer von dir sich führen läßt, / Den mach’ im Glauben treu und fest. // [5.] Entreiß des Lasters Tyrannei / Die Sünder, mache Gott sie frei, / Daß sie nur deine Pfade gehn, / Und einst dein Vaterantlitz sehn! // [6.] Verlaß in ihrer Noth sie nie, / Und sind sie traurig, tröste sie! / Gieb ihnen hier Zufriedenheit, / Dort deines Himmels Seligkeit. // [7.] O! welche Wonne wird es sein, / Wenn einst wir alle, fromm und rein / Und liebend, Höchster vor dir stehn, / Und alle dich, den Vater, sehn. // [Cramer.] Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem etc. [1.] Unter allen großen Gütern, / Die uns Christus zugetheilt, / Ist die Lieb’ in den Gemüthern / Wie ein Balsam, der sie heilt, / Wie ein Stern der herrlich blinket, / Wie ein Kleinod, dessen Preis / Niemand zu benennen weiß, / Wie die Schönheit, die uns winket, / Und die Macht, die jedermann / Zwingen und erfreuen kann. // [2.] Liebe kann uns alles geben, / Was auf ewig nützt und schmückt, / Kann zum höchsten Stand erheben, / Der vom Tand empor uns rückt. / Menschen, oder Engelzungen, / Wo sich keine Liebe find’t, / Wie bered’t und reich sie sind, / Wie beherzt sie angedrungen, / Sind verhallender Gesang, / Sind ein Erz- und Schellenklang. // [3.] Hätt’ ich meiner Güter Menge / Auch den Armen zugewand’t; / Scheut’ ich in der Noth Gedränge, / Tapfer keinen Flammen-Brand, / Wär ein Zeug’ ich auch auf Erden, / Ew’ger Wahrheit zum Gewinn: / Wäre liebeleer mein Sinn, / Würd es mir nichts nüze werden. / Solche Thaten ehret Gott / Nur, wenn Liebe sie gebot. // [4.] Glaube, Lieb’ und Hoffnung lebet / Nicht nur hier im Prüfungsstand, / Unsrer Menschheit tief verwebet / Gehn sie mit ins Vaterland, / Ja, die Weite ihrer Gränzen / Streckt sich in die Ewigkeit, / Und doch wird die Liebe weit / Ueber Glaub und Hoffnung glänzen. / Lieb ist größer noch als die, / Gottes Abglanz strahlet sie. // [5.] Geist vom Vater und vom Sohne, / Senke du dich in mein Herz, / Daß darin nur Liebe wohne, / Wie in Freude, so in Schmerz. / Alles, was sich selbst nur suchet, / Es nicht gut mit andren meint, / Seyn es Freunde oder Feind, / Laß mich halten als verfluchet! / Geist der Liebe meinen Sinn / Lenke ganz zur Liebe hin. // [Lange.] Unter der Predigt. – Mel. Mache dich mein Geist etc. Ja, dein Wort, das hier ertönt, / Ist das Wort des Lebens, / Er, der uns mit dir versöhnt, / Sprach es nicht vergebens. / Selig ist, jeder Christ, der es achtsam höret, / Und recht gläubig ehret. // Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Mit deiner Gnade steh mir bei, / Regiere meine Seele, / Daß sie die kleinste

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Sünde scheu, / Und nie mit Vorsatz fehle. / Denn wer nur reines Herzens ist, / Hat immer dich durch Jesum Christ, / Allwissender zum Troste. //

[Nr. 55]

Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Wer nur den lieben etc. [1.] Auf Erden Wahrheit auszubreiten, / Die Wahrheit, die vom Himmel stammt, / Die, uns zu ew’gem Glück zu leiten, / Das Herz zur Gotteslieb’ entftammt: / Dazu erschienst du, Jesu, hier, / Ein Licht der Welt, ein Licht auch mir. // [2.] Um dieses Licht der Welt zu werden, / Wie willig übernahmst du nicht, / Die schwersten Leiden dieser Erden! / Und drückte gleich dich ihr Gewicht: / So trugst du doch voll Güt’ und Huld / Sie gern mit himmlischer Geduld. // [3.] Auch bis zu uns ist sie gedrungen, / Die Wahrheit, die dein Mund gelehrt. / Auf ewig sei dir Lob gesungen, / Dir, der das Dunkel aufgeklärt! / Du kamst: Da ward zum lichten Tag / Die Nacht, die auf den Völkern lag. // [4.] Wir sehen nun in größ’rer Klarheit, / Als es vor dir die Völker sah’n, / Erleuchtet nur durch deine Wahrheit, / Zur Seligkeit die sich’re Bahn. / Wie groß um uns ist dein Verdienst, / Du, der du uns zum Licht erschienst! // [5.] Ja! Preis sei dir, du höchster Lehrer, / Zum Heil auch mir von Gott gesandt! / Groß sind die Schaaren der Verehrer, / Die deinen Werth mit mir erkannt. / Gieb, daß ich deiner Wahrheit treu, / Hier und im Himmel selig sey! // Nach dem Gebet. – Mel. Es ist gewißlich an der Zeit etc. [1.] Der Mensch soll hier aus eigner Wahl / Nach Gottes Willen leben, / Und nicht zu seiner Schmach und Qual / Der Sünde sich ergeben. / Gott schuf vernünftig ihn und frei, / Daß er sein Bild auf Erden sei, / Und seiner Huld sich freue. // [2.] Von Gott geschaffen kann und soll / Ich Gottes Wege wandeln, / Und heiliger Gesinnung voll, / Gerecht und edel handeln. / Mein Wille beuge sich dem Zwang, / Denn Gott giebt Kräfte, selbst den Hang / Zum Bösen zu bekämpfen // [3.] Unfriede tobt in dessen Brust, / Den eitler Wahn bethöret; / Und der, berauscht von Sinnenlust, / Der Weisheit Rath nicht höret. / Wie könnt’ er froh im Herzen sein? / Er selbst ist Schöpfer seiner Pein, / Ihn trifft gerechte Strafe. // [4.] Bleibt frei mein Wollen, mein Entschluß, / Und thu’ ich Gottes Willen: / O! dann erquickt mich der Genuß / Des innern Lohns im Stillen. / Schön und gefahrlos ist mein Pfad, / Still, anspruchlos ist meine That, / Nicht geizig eitler Ehre. // [5.] Wohl mir, wenn ich mit Muth und Kraft / Den hohen Sieg erringe, / Und durch Vernunft die Leidenschaft, / Stets Gott getreu, bezwinge. / Dann quält mich bitt’re Reue nicht, / Und Tod und künftiges Gericht, / Sind meinem Geist nicht schrecklich. // Unter der Predigt. – Mel. Wer nur den lieben Gott etc. [1.] Ich danke dir, du wahre Sonne, / Daß mir dein Glanz hat Licht gebracht; / Ich danke dir, du Himmelswonne, / Daß du mich froh und frey gemacht: / Ich danke dir du güldner Mund, / Daß du mich innigst machst gesund. //

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[2.] Erhalte mich auf deinen Stegen, / Und laß mich nicht mehr irre gehn; / Laß meinen Fuß in deinen Wegen, / Nicht straucheln oder stille stehn! / Erleuchte Leib und Seele ganz, / Du ewig starker Himmelsglanz. // Nach der Predigt. – In eigner Melodie. [1.] O! süßer Stand, o selig Leben, / Das aus der wahren Einfalt quillt; / Wenn sich ein Herz Gott so ergeben, / Daß Christi Sinn es ganz erfüllt; / Wenn sich der Geist nach Christi Bilde / In Licht und Recht hat aufgerich’t, / Und unter solchem klaren Schilde / Durch alle falsche Höhen bricht. // [2.] Ach! Jesu, drücke meinem Herzen, / Den Sinn der lautern Einfalt ein. / Reiß aus, obschon mit tausend Schmerzen, / Des Weltsinns Wesen Tand und Schein. / Der tiefen Knechtschaft schmächlich Zeichen / Thu’ ab von mir, gieb mir den Schild, / Vor welchem Sünd’ und Irrthum weichen: / Das ist der wahren Freiheit Bild. //

[Nr. 56]

Am zwölften Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Wie schön leucht uns etc. [1.] Wie schön leucht uns der Morgenstern / Am Firmament des Himmels fern, / Die Nacht ist nun vergangen! / All Creatur macht sich herfür, / Des edlen Lichtes Pracht und Zier / Mit Freuden zu empfangen: / Was lebt, was schwebt / Hoch in Lüften, tief in Klüften, läßt zu ehren / Seinen Gott ein Danklied hören. // [2.] Du, o mein Herz, dich auch aufricht, / Erheb’ die Stimm’ und säume nicht, / Dem Herren Lob zu bringen! / Denn, Herr, du bists, dem Lob gebührt, / Den Alles preiset, tief gerührt, / Dem deine Gläubgen singen. / Freudig, will ich / All mein Leben auch erheben deine Treue, / Die an jedem Morgen neue. // [3.] Geuß aus der Gnaden reichen Strahl / Auf mich vom hohen Himmelssaal, / Mein Herz in mir erneue. / Dein guter Geist mich leit und führ, / Daß ich, nach meines Amts Gebühr / Zu thun, mich innig freue. / Gieb Rath, gieb That, / Laß mein Sinnen und Beginnen stets sich wenden, / Meinen Lauf in dir zu enden! // Nach dem Gebet. – Mel. Wie groß ist des Allmächtigen Güte etc. [1.] So viele gehn umher und suchen / Und finden doch das Rechte nicht; / Sie heißen immer sich die Klugen, / Sie, denen es an Sinn gebricht. / Der Eine denkt: ich habs ergriffen; / Und was er hat ist nichts als Gold. / Der Andre will die W[e]lt umschiffen, / Nichts als ein Name ist sein Sold. // [2.] Der läuft nach einem Siegerkranze, / Und der nach einem Lorbeerzweig; / Und so wird von verschiednem Glanze / Getäuscht ein jeder, keiner reich. / Habt ihr denn nichts von ihm gelesen, / Von ihm kein einzig Wort gehört, / Wie himmlisch gütig er gewesen, / Und welch ein Gut er uns beschert? // [3.] Wie er vom Himmel hergekommen, / So milde war und so gelind, / Welch Wort die Welt von ihm vernommen, / Wie viel durch ihn genesen sind? / Wie er von Liebe nur beweget, / S[i]ch ganz uns hingegeben hat, / Und in die Gruft sich hingeleget, / Zum Grundstein einer Gottesstadt? // [4.] Kann diese Bothschaft

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Euch nicht rühren, / Ist Euch des Menschen Sohn nicht gnug, / Zu öffnen ihm des Herzens Thüren, / Ihm, der der Welt Verschuldung trug? / O lasset willig Alles fahren, / O thut auf Alles gern Verzicht, / Um ihm die Seele zu bewahren / Wenn er Euch seine Huld verspricht! // [5.] Nimm ganz mich hin, Du Held der Liebe! / Sei du mein Leben, meine Welt! / Wenn nichts vom Irdischen mir bliebe, / Ich weiß, wer ganz mich schadlos hält. / Du giebst mir meine Lieben wieder; / Du bleibst in Ewigkeit mir treu. / Dir, Heil’ger, singt der Himmel Lieder; / Ach, daß mein Herz dir heilig sei. // Unter der Predigt. – Mel. Es ist das Heil uns kommen her etc. [1.] Wer sich des Heilands rühmen will, / Der muß [a]uch ihm nur leben. / Ihm zu gefallen sey mein Ziel, / Ihm folgen mein Bestreben. / Rein ist er selbst, so muß auch rein, / Wer ihm will angehören, seyn. / Den Dienst der Sünde fliehen. // [2.] Wie darf auch, Herr, wer dich erkennt, / Ihr noch zu dienen wagen? / Drum freudig dir das Herz bekennt: / Ich will der Sünd’ entsagen. / Bei deinem Kreuz gelob’ ichs an, / Ich will, so viel ich immer kann, / Sie kreuzigen und tödten. // Nach der Predigt. – Mel. O heilger Geist kehr etc. Nun soll hinfort mich keine Noth, / Kein Jammer, keine Schmach, kein Tod, / Von dir mein Heiland schrecken. / Ich weiß, wie treu dein Herz mich liebt, / Wohlan, ich gehe ungetrübt, / Mit dir durch Dorn und Hecken. / Plage, schlage, / Ich bin stille, ists dein Wille. Prüfungsleiden / Wandelst du in Himmelsfreuden. //

[Nr. 57]

Am vierzehnten Sonntag nach Trinitat.

Vor dem Gebet. – Mel. Christus der ist mein etc. [1.] Ach! bleib mit deiner Gnade, / Bei uns, Herr Jesu Christ, / Damit kein Feind uns schade, / Mit seiner Macht und List. // [2.] Entzieh’ uns deine Lehre, / Das Wort der Wahrheit nicht! / Durch ihre Kraft gewähre / Uns immer Trost und Licht! // [3.] Laß deinen Geist uns treiben, / Daß wir, von Irrthum frey, / Bei deiner Wahrheit bleiben, / Dir folgsam, dir getreu. // [4.] Hilf uns die Lüste dämpfen, / Hilf uns den Reiz der Welt / Und ihre Macht bekämpfen, / Du sieggewohnter Held! // [5.] Komm uns mit Kraft entgegen! / Hilf unsrer Schwachheit auf; / Und stärke das Vermögen / Zum sichern Tugendlauf. // [6.] Ja! bleib mit deiner Treue, / Bei uns, Herr, unser Gott! / Beständigkeit verleihe! / Hilf uns aus aller Noth! // Nach dem Gebet. – Mel. Alle Menschen müssen etc. [1.] Eins ist Noth! O! Herr! dies Eine / Lehre meine Seele doch! / Alles Andre, wie’s auch scheine, / Ist nur ein beschwerlich Joch, / Unter dem das Herz sich quälet, / Und der Ruhe doch verfehlet. / Nur dies einzige gieb mir, / Wahren Frieden dort und hier. // [2.] Seele, willst du dieses finden, / Such’s bei keiner

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Kreatur! / Laß nichts Irdisches dich binden, / Erdengüter täuschen nur. / Such’s bei dem, der dich den Willen / Deines Gottes lehrt erfüllen: / Jesus sei dein bestes Theil! / Er führt dich zum wahren Heil. // [3.] Lenke selbst, Herr, das Verlangen / Meines Herzens hin nach dir. / Deiner Wahrheit anzuhangen, / Schenke Trieb und Kräfte mir! / Wenn auch andre sie nicht achten: / Ich will sie mit Lust betrachten, / Und, mich deines Heils zu freu’n, / Ihren Lehren folgsam seyn. // [4.] In dir ist der Weisheit Fülle. / Was die Seele ganz beglückt, / Zeigst du mir; und wenn mein Wille / Sich in deine Ordnung schickt: / Dann werd ich wahrhaftig weise, / Mir zum Heil und dir zum Preise: / Lerne Gottes Rach verstehn, / Lern’ den Weg des Lebens gehn. // [5.] Mit Vergebung meiner Sünden, / Herr, begnadigst du mich dann: / Lässest wahre Ruh mich finden, / Daß ich fröhlich rühmen kann: / „Wer vermag es, mir zu schaden? / „Bin ich doch bei Gott in Gnaden!" / Diese Freudigkeit in mir, / Mein Erlöser, dank’ ich dir. // [6.] Darum sollst du mir das Eine, / Jesu, und mein Alles sein. / Prüf’ und for[[s]]che, wie ich’s meine; / Laß mich, fern von Heuchelschein, / Herr, mein Heiland, schon auf Erden / Durch dich gut und selig werden, / Treu dir sein bis in den Tod, / Dies, dies Eine nur ist Noth! // Unter der Predigt. – Mel. Nun danket alle Gott etc. Du kamst, des Höchsten Sohn, / Im Leben und im Sterben, / Uns Weisheit, Kraft und Trost / Und Gnade zu erwerben. / Du wardst ein Licht der Welt, / Und folg’ ich seinem Schein, / Frei, weise werd’ ich dann, / Glückselig werd’ ich sein. // Nach der Predigt. – Mel. Was Gott thut etc. [1.] Gewärtig einer bessern Zeit, / Sieht unser Glaub’ auf Erden / Der Menschen Seelen Seligkeit / Durch Tugend reiner werden. / Der Menschheit Glück / Sieht unser Blick / In Zukunft schöner blühen, / Und Noth und Elend fliehen. // [2.] O! dieser seel’gen Hoffnung voll, / Laßt hier uns Saaten streuen, / Für Wahrheit und für Menschenwohl, / Und ihrer Frucht uns freuen. / In einer Welt, / Die Gott erhält, / Da müssen Tugend, Saaten, / Zu seinem Ruhm gerathen. //

[Nr. 58]

Am vierzehnten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. In eigener Melodie etc. [1.] Erquicke mich, du Heil der Sünder, / Durch dich und deinen Gnadenschein, / Und laß, o! Freund der Menschenkinder, / Dein Herz auf mich gerichtet seyn. / Komm, und erzeige dein Erbarmen / Dem heil- und hülfsbedürft’gen Armen, // [2.] Du bist und bleibst der Trost der Erden, / Und der gepriesne Wundersmann, / Durch welchen wir errettet werden, / Der allen Menschen helfen kann, / Und uns von allem unsern Schaden / Durch seine Huld und Kraft entladen. // [3.] Der Blinde kann die Sonne sehen; / Der

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Taube hört die Stimme an; / Der Lahme muß gerade gehen; / Der Aussatz wird hinweg gethan; / Den Todten hast du Geist und Leben / Und allen Armen Trost gegeben. // [4.] Hast du vor diesem solche Thaten, / O! Herr! durch deine Hand gestift, / So wollest du auch jetzo rathen, / Dem Schaden, der die Seele trifft, / Ach, zeige deine große Stärke, / Durch unverdiente Gnadenwerke. // [5.] Wer will doch meinen Aussatz heilen, / Der Krankheit allerschlimmsten Theil? / Mein Arzt, du wollst bei mir verweilen; / Ach! heile mich, so werd ich heil. / Laß deine Wunden, o! mein Leben! / Für meine Wunden Pflaster geben. // [6.] Ich finde mich arm und elende, / Entblößt von allem eignem Ruhm: / Die Friedensbothschaft zu mir sende, / Dein süßes Evangelium, / Daß ich dadurch noch hier auf Erden, / Gerecht und selig möge werden. // Nach dem Gebet. – Mel. Herr Jesu Christ du höchstes etc. [1.] Ach Gott! es hat mich ganz verderbt, / Der Aussatz meiner Sünden, / Die mir von Adam angeerbt, / Wo soll ich Rettung finden? / Es ist mein Elend viel und groß, / Und ist vor deinen Augen blos, / Wie tief mein Herz verdorben. // [2.] Es ist verdorben mein Verstand, / Mit Finsterniß umhüllet; / Der Will ist von dir abgewandt, / Mit Bosheit angefüllet; / Und die Begierden sind geneigt, / Die Lust, die aus dem Herzen steigt, / In Werken zu vollbringen. // [3.] Wer kann aussprechen solchen Gräul, / Der Leib und Seel beflecket? / Wer macht uns von dem Unheil heil, / Das uns hat angestecket? / Der Tausendste bedenkt es nicht, / Der Sinn ist nicht dahin gericht, / Auf daß man mög genesen. // [4.] Ich komm zu dir in wahrer Reu / Und bitte dich von Herzen, / O ! Jesu, Jesu mache frei / Die Seele von den Schmerzen / Und dem, was sie bisher beschwert, / Und ihre Lebenskraft verzehrt, / Sonst muß ich untersinken. // [5.] Wen sollt ich anders rufen an, / Als dich mein Heil, mein Leben; / Du bist allein der helfen kann, / Der mir kann Rettung geben. / Daß ich von Sünden werde rein, / Und auch geheilt vor Gott erschein / Durch deinen Tod und Wunden. // [6.] Du weißt, o! Jesu, meine Noth / Und kannst nach deinem Willen, / Vertreiben diesen meinen Tod, / Und allen Jammer stillen. / Ja Herr, du wil[[ls]]t, ich traue fest, / Daß du mich nicht in Angst verläßt, / Du bist und heißt ja Jesus. // Unter der Predigt. – Mel. Christi Tod ist Adams Leben etc. Komm o! Herr und drück in Gnaden, / Mir dein Bild ins Herz hinein, / So wird meinem alten Schaden / Bald durch dich geholfen seyn. / Pflege meine tiefen Wunden, / Laß mich seyn durch dich verbunden. // Nach der Predigt. – Mel. Alle Menschen müssen sterben etc. Schaffet, daß ihr selig werdet, / Traut nicht eurem Fleisch und Blut, / Das sich heilig hier gebehrdet, / Und es doch nicht meinet gut. / Flieht das falsche Christenleben, / Bleibt an Jesu Liebe kleben, / Dem folgt, schaffet insgemein, / Daß ihr möget selig seyn. //

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[Nr. 59]

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Am Erndtedankfeste.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein Seel etc. [1.] Kommt, kommt, den Herrn zu preisen, / Der groß von Rath ist, groß von That; / Den Gütigen, den Weisen, / Der keinen seines gleichen hat. / Der Herr thut große Werke! / Wer hindert seine Kraft? / Wer seines Armes Stärke, / Die alles Gute schafft? / Er dehnet gleich Gezeiten / Die weiten Himmel aus: / Er spricht, so gehen Welten / Aus ihrem Nichts heraus. // [2.] Wer, wer gebeut den Wellen, / Hierher, nicht weiter! legt euch [h]ie! / Wer legt in Felsen Quellen? / Sie rieseln und versiegen nie. / Wer füllet Wüsteneien / Mit seinen Wundern an, / Heißt Thiere da sich freuen, / Wo niemand wohnen kann? / Wer kann die Sterne führen? / Wer kann, als Gott allein / Der Dinge Lauf regieren, / Verderben und erneun? // [3.] Herr, dein ist alle Stärke, / Und alle Hülfe, Gott, ist dein, / Dich preisen alle Werke, / Die deiner Kraft allein sich freun. / Auch wir erfreun uns ihrer; / Ihr Lob sei unsre Pflicht! / O Vater, o Regierer, / Wen hält, wen schützt sie nicht? / Du lebst, du wirkst in allen; / Dir, dir vertrauen wir! / Erhalter, wer kann fallen, / Getragen, Herr, von dir! // [Cramer.] Nach dem Gebet. – Mel. Christus, der ist mein etc. [1.] Auf, laßt den Herrn uns loben! / Erschalle Preisgesang ! / Dem großen Geber droben / Gefällt ein frommer Dank. // [2.] Ja, alle gute Gabe / Kömmt her von unserm Gott; / Er segnet unsre Habe, / Er schützet uns vor Noth. // [3.] Von ihm sind Busch und Blätter, / Und Korn und Obst von ihm; / Von ihm kommt Frühlingswetter / Und Schnee und Ungestüm. // [4.] Es blühet neue Freude / Mit jedem Morgenroth; / Den Thieren giebt er Weide, / Den Menschen reift er Brodt. // [5.] Wir pflügen und wir streuen / Den Samen auf das Land; / Doch Wachsthum und Gedeihen / Steht nicht in unsrer Hand. // [6.] Gott thut mit leisem Wehen / Uns seinen Himmel auf; / Wenn wir zur Hütte gehen, / Träuft er Gedeihen drauf. // [7.] Er sendet Thau und Regen / Er sendet Sonnenschein; / Dann glänzt das Feld von Segen, / Und wir, wir erndten ein. // [8.] Auch Frommsein und Vertrauen, / Und stiller Christensinn. / Auf unsern Vater schauen; / Auch das kömmt uns durch ihn. // [9.] So wollen wir denn loben / Und preisen immerdar. / Den großen Geber droben, / Der sein wird, ist, und war. // [Claudius.] Unter der Predigt. – Mel. Ich singe dir mit Herz etc. [1.] Du nährest uns von Jahr zu Jahr, / Bleibst immer mild und treu, / Und stehest uns auch in Gefahr / Und Nöthen gnädig bei. // [2.] Du füllst des Lebens Mangel aus / Mit Gütern, die bestehn, / Wenn dieses Leibes irdisch Haus, / Einst wird zu Trümmern gehn. // Nach der Predigt. – Mel. Lobe den Herren, den mächtigen etc. [1.] Lobe den Herren, der sichtbar dein Leben gesegnet, / Der aus dem Himmel mit Strömen der Liebe geregnet; / Denke daran, / Was der Allmächtige kann, / Der dir mit Liebe begegnet! // [2.] Lobe den Herren, wie selig ist’s, seiner sich freuen! / Alles, was Odem hat, komm, ihm ein Danklied zu wei-

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hen! / Danket dem Herren! / Freut euch, wer wollte nicht gern, / Gern seines Gottes sich freuen! //

[Nr. 60]

Am sechszehnten Sonntage nach Trinit.

Vor dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht. [1.] Verschuldet ist die ganze Welt / Dir heiliger Gerechter; / Doch wenn nur dir zu Füßen fällt, / Des ew’gen Heils Verächter, / Wie bist du dann an Gnade reich, / An Liebe nur dir selber gleich, / Unendlich im Erbarmen! / Du rufst durch deinen Sohn uns zu: / Kommt her zu mir und suchet Ruh, / Kommt her zu mir, ihr Armen. // [2.] Ich komm auf diesen Ruf zu dir, / Laß mich Erbarmung finden, / Ich komm und sehe nichts vor mir, / Als lauter Schuld und Sünden. / Sie beugen mich wie eine Last, / Und haben sonder Ruh und Rast / Mein armes Herz beladen. / Ich fühle so mühselig mich, / Drum werf ich meinen Blick auf dich, / Und komm zum Thron der Gnaden. // [3.] Zu deinem Thron darf ich, erlöst / Durch Jesum Christ, mich wagen, / Durch ihn, der Niemand von sich stößt, / Der krank ist und zerschlagen. / Verwirf des Herzens Opfer nicht, / Wie mir dein theures Wort verspricht, / Laß es dir wohlgefallen. / Vor allem, was man Opfer heißt, / Gefällt dir ein zerknirschter Geist, / Der sich mißfällt, vor allen. // [4.] Es tröste mich dein Gnadenschein, / Er sei mir Licht und Sonne, / Sprich mir ein Wort des Lebens ein, / So hör ich wieder Wonne. / Mach du mich wieder stark und froh, / Denn du allein zerschlägst mich so, / Du kannst mich wieder heilen. / Verbirg, verbirg dein Angesicht / Vor meiner Schuld, und laß dein Licht / Der Sünde Wolken theilen. // Nach dem Gebet. – Mel. Sollt ich meinem. [1.] Heilig, heilig ist dein Wille / Allbeherrscher unser Gott! / Du [[gebeutst]], in tiefer Stille / Hört die Schöpfung dein Gebot. / Die im Himmel dir lobsingen, / Stehn um deinen Thron bereit, / Freuen sich der Seligkeit, / Deinen Willen zu vollbringen. / Nur der Mensch erkennt oft nicht, / Des Gehorsams süße Pflicht. // [2.] Auf dein Machtgebot wie horchet, / Aller deiner Welten Heer! / Deinen Winken schon gehorchet, / Sturm und Donner, Erd und Meer! / Alles dienet deinem Willen, / Alles, alles was du schufst, / Eilt und drängt sich, wenn du rufst, / Was es thun soll zu erfüllen. / Nur der Mensch bleibt oft zurück, / Strebt nicht an dies hohe Glück. // [3.] Ja, empört nicht seine Seele, / Oft sich frevelnd gegen dich? / Deinem heiligen Befehle, / Stemmt er nicht entgegen sich? / Du sollt ihn nicht mehr regieren; / Klügelnd wählt sein stolzer Wahn, / Wie ihn dünkt die bess’re Bahn; / Diese soll zum Glück ihn führen, / Und die Bahn sei unglücksvoll, / Die zum Heil ihn führen soll. // [4.] Solchen Thoren laß empfinden, / Wie er gröblich sich verführt, / Wie die eitle Lust der Sünden, / Ihm zuletzt den Tod gebiert. / Mache dein Gebot ihm wichtig! / Lehr ihn deine Bahn! Laß ihn / Eilig seinen Irrweg fliehn, / Denn

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allein dein Weg ist richtig, / Ungetreu erkannter Pflicht / Kommt er Gott in dein Gericht. // Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu. Jesus Christus wir sind hier, / Glaubensvoll dich zu verehren, / Lenke Sinnen und Begier, / Jetzt zu deinen Himmelslehren. / Daß die Herzen von der Erden, / Ganz zu dir gezogen werden. // Nach der Predigt. – Mel. Freu dich sehr. Das Gelübde will ich halten, / Ewig dir getreu zu sein, / Laß den Eifer nie erkalten, / Mehr und mehr mich dir zu weihn, / Dir zu folgen ist mein Glück: / Weich ich je von dir zurück. / Würd ich doch nach kurzen Freuden, / Schrekken an der Seele leiden. //

[Nr. 61]

Am achtzehnten Sonntage nach Trinit.

Vor dem Gebet. – Mel. Ein Lämmlein geht. [1.] Der Herr ist Gott! singt ihm ein Lied, / In seinem Heiligthume, / Er, der vom Himmel auf euch sieht, / Erschuf euch sich zum Ruhme. / Gott zu verehren seid ihr da, / Er, der euch eh ihr wurdet sah, / Kennt Herzen und Gedanken, / Der Herr ist heilig! er allein / Will unser Gott und Heiland seyn, / Ihm, ihm soll alles danken. // [2.] Der Seraph betet an und brennt; / Ihm jauchzen Morgensterne, / Der Mensch, der ihn nur schwach erkennt, / Ehrt ih[n] aus dunkler Ferne, / Ihm jauchzen tief in Stau[b] und Gruft, / Weit in der See, hoch in der Luft, / Der Schöpfung ganze Heere, / Der Sonne feuerreiche Pracht, / Das blasse Licht der stolzen Nacht, / Verkündigt Gottes Ehre. // [3.] Der Herr vergiebt uns unsre Schuld, / So oft wir vor ihn treten, / Er trägt uns Schwache mit Geduld, / Er lehrt uns kräftig beten. / Der strafen kann, verschont zugleich; / Der Herr ist Gott, sein ist das Reich, / Er hört der Frommen Flehen, / Er segnet sie; wenn Unfall droht, / Erlöst er sie von Sorg und Noth, / Und zählet ihre Thränen. // Nach dem Gebet. – Mel. Der Tugend wir. [1.] Wie fürcht ich mich mein Herz zu prüfen, / Mich zu erforschen wer ich bin, / Wie blick ich über seine Tiefen, / Nachlässig und mit Vorsatz hin, / Mich warnt im Stillen mein Gewissen, / Betrüg’ o Mensch dich selber nicht, / Geneigt mein Unrecht nicht zu wissen, / Vergeß ich alles was es spricht. // [2.] Ausschweifend bleiben meine Triebe, / Und unerleuchtet mein Verstand, / Mein Herz ist leer von deiner Liebe, / Mit meinen Pflichten unbekannt; / Mein Glaub’ ist todt und ohne Früchte, / Mein Wandel ohne Besserung, / Und dennoch hoff’ ich im Gerichte, / Von dir o Gott, Begnadigung. // [3.] Ich Unbesonnener! wie lange, / Werd ich mich selber hintergehn, / Ich nahe mich dem Untergange, / Und will doch die Gefahr nicht sehn. / Erwecke Gott mich aus dem Schlafe, / Ach groß ist meiner Sünde Schuld, / Doch eile nicht mit mir zur Strafe, / Und habe Vater noch Geduld. // [4.] Ob ich mich vor mir

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selbst verheele // [[V]]erheel ich mich vor dir doch nicht, / Denn in der Tiefe meiner Seele, / Ist alles deinem Auge Licht. / Reiß mich aus meinen Finsternissen, / Entfalte du mein Herz vor mir, / Dann treibe mächtig mein Gewissen, / Zur Buße mich, und, Gott, zu dir. // [5.] Der du die Herzen prüfst, belehre, / Erleuchte, bess’re, leite mich / Auf deiner ebnen Bahn, und lehre / Mich dann getrost vertraun auf dich. / Dir laß mich ganz mein Leben weihen, / Vor dir sei Herz und Wandel rein, / So darf ich die Gefahr nicht scheuen, / Betrogen von mir selbst zu sein. // Unter der Predigt. – Mel. Wie schön leucht uns. Gieb daß uns dieser Ruhetag, / Die inn’re Ruh befördern mag, / Durch deines Wortes Stärke; / Daß uns dasselb’ durchs Herze dring, / Und hundertfältig Früchte bring, / Des Glaubens rechte Werke, / Daß wir fröhlich deinen Willen / Recht erfüllen, / Stets dich lieben, / Auch die Lieb am Nächsten üben. // Nach der Predigt. – Mel. Folget mir nicht uns. Laß mir doch mein Ziel auf Erden, / Niemals Herr verrücket werden, / Daß ich ja das Gnadenlicht, / In der Zeit verliere nicht. / Gieb, daß ich dir zu gefallen. / Und in deinem Licht zu wallen, / Recht von Herzen, nicht zum Schein, / Mir laß angelegen seyn. //

[Nr. 62]

Am 20sten Oktober. [19. Sonntag nach Trinitatis 1816]

Vor dem Gebet. Mel. – Ein Lämmlein geht etc. [1.] Der Herr ist Gott! singt ihm ein Lied / In seinem Heiligthume, / Er, der vom Himmel auf euch sieht, / Erschuf euch, sich zum Ruhme. / Gott zu verehren, seid ihr da; / Er, der euch, eh’ ihr wurdet, sah, / Kennt Herzen und Gedanken. / Der Herr ist heilig! Er allein / Will unser Gott und Heiland seyn, / Ihm, ihm soll alles danken. // [2.] Der Herr vergiebt uns unsre Schuld, / So oft wir vor ihn treten; / Er trägt uns Schwache mit Geduld, / Er lehrt uns kräftig beten. / Der strafen kann, verschont zugleich; / Der Herr ist Gott, sein ist das Reich, / Er hört der Frommen Flehen. / Er segnet sie; wenn Unfall droht, / Erlöst er sie aus Sorg und Noth, / Und trocknet ihre Thränen. // [3.] Jauchzt, Völker, jauchzt, gelobt sey Gott! / Preist ihn durch frohe Lieder, / Sagt Berge nach: gelobt sey Gott! / Ihr Thäler hallet wieder: / Gelobt sey Gott! Mit mächt’gem Klang, / Dring unser hoher Lobgesang / Bis in die stillsten Wüst[e]n. / Der Frevler zittre! Neuer Muth / Und frommer Andacht heilge Glut / Erfüll’ das Herz der Christen. // [v. Kroneg.] Nach dem Gebet. – Mel. Die Tugend wird etc. [1.] Der Herr ist gut! Ihr Himmel höret, / Und jauchzt mir nach, der Herr ist gut, / Er hat mein Leid in Lust verkehret, / Gott ist’s, der große Dinge thut. / Zu ihm, von dem wir Hülfe haben, / Zu Gott rief ich in meiner Noth, / Als Angst und Elend mich umgaben, / Und keine Hand mir Hülfe bot. //

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[2.] Verderben wollte mich verschlingen, / Vor Menschen wars um mich gethan, / Doch er vernahm mein banges Ringen, / Gott sah mich Armen gnädig an. / Er ließ die Fluthen grausend schwellen / Und rettete mit starker Macht / Mich mitten durch die schwarzen Wellen, / Durch [alle] Schrecken banger Nacht. // [3.] Gott ist mit mir! Was kann mir schaden, / Was kann mir Staub und Asche thun! / Wie gut ist’s, aller Sorg entladen, / Hier unter deinen Flügeln ruhn. / Ich preise dich, Fels meiner Stärke, / Gott meiner Zuflucht, mein Panier, / Wenn ich auf deine Führung merke, / Wie weis’ und göttlich ist sie mir! // [4.] Du führtest mich auf dunklen Wegen, / Verbargst vor mir dein Angesicht, / Und warest doch bei mir zugegen, / Und in der Finsterniß mein Licht. / Ihr goldnen Seile treuer Liebe / Zieht mich zu meinem Vater hin, / Daß ihm ich weihe m[e]ine Triebe, / Ich, der ich ihm so theuer bin. // [5.] So flieh ich des Betrognen Pfade, / Der sich von Gott zur Welt gewandt, / Des Herrn vergißt und seiner Gnade, / Der Hülfe, die er ihm gesandt. / So werd ich noch nach fernen Zeiten / Des großen Retters in der Noth, / Des weisen Vaters Lob verbreiten, / Das Lob des Gottes Zebaoth. // [Uz.] Unter der Predigt. – Mel. Sei Lob und Ehr etc. Der Herr ist nun und nimmer nicht / Von seinem Volk geschieden; / Er bleibt der Frommen Zuversicht, / Giebt ihnen Heil und Frieden. / Er führt mit väterlicher Hand / Die Seinen, die er treu erkannt: / Gebt unserm Gott die Ehre. // Nach der Predigt. – Mel. Sollt ich meinen etc. Weil denn weder Maaß noch Ende / Sich in Gottes Liebe find’t, / So erheb ich Herz und Hände / Zu dir freudig, als dein Kind. / Herr, du wollst mir Gnade geben, / Dir mein ganzes Herz zu weihn, / Deiner Liebe mich zu freun! / Deinem Ruhme will ich leben, / Bis ich dich nach dieser Zeit, / Lieb und lob in Ewigkeit. //

[Nr. 63]

Am neunzehnten Sonntage nach Trinitat.

Vor dem Gebet. – Mel. Schwingt heilige Gedanken. [1.] Du Geber guter Gaben, / Gott unser höchstes Gut, / Den wir zum Vater haben, / Der lauter Gutes thut! / Du Ursprung alles Lichts! / Von dir muß deinen Frommen; / Stets alles Gute kommen; / Du giebst: so fehlt uns nichts. // [2.] Laß mein Gebet dich rühren, / Das angefangne Werk / In mir auch zu vollführen, / Durch deines Geistes Stärk’. / Auf daß ich lauter sey, / Vest in der Wahrheit stehe, / Im Wandel richtig gehe / Und ohne Heuchelei! // [3.] Gieb, daß ich deinen Willen / Von Herzen gerne thu’; / Denn dein Gebot erfüllen, / Bringt einzig Seelenruh! / Gieb daß mich deine Kraft / Bevestige und gründe, / Bis ich das Leben finde, / Das Jesus mir verschafft. // [4.] Entflamme meine Triebe, / Daß, ohne Heuchelei, / Nur dir und deiner Liebe / Mein Herz gewidmet sei. / Ja, bleibe Lebenslang, / Auch mitten in dem

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Anhang

Leide, / Mein Ruhm und meine Freude, / Mein Psalm und Lobgesang! // [Hiller.] Nach dem Gebet. – Mel. Allein Gott in der Höh. [1.] Horch auf! Die Weisheit rufet laut; / Man hört sie auf den Gassen. / Horch auf! Du wirst, mit ihr vertraut, / Tief ihre Worte fassen. / Sie läßt sich hören unterm Thor; / Sie spricht aus jeder Thür hervor; / Von ihr zeugt jede Zunge. // [2.] Bald warnet und bald klaget sie, / Bald locket ihre Lehre. / Sie lohnet und bestrafet früh, / Daß man zu ihr sich kehre. / Auch selbst wenn sie des Frevlers lacht, / Ist sie nur auf sein Wohl bedacht, / Sie liebet, die sie lieben. // [3.] Sie selbst hat sich geoffenbart / Zuerst den Menschenkindern. / Je reger ihre Kunde ward / Bedürfnißvollen Sündern, / Je reger auch ihr Wiederhall. / Horch auf! Du hörst ihn überall, / In Menschenwort und Thaten. // [4.] So tönt dir Weisheit aus der Höh’ / Im Wiederhall entgegen! / Beim Wunsch, in Freuden und im Weh’ / Auf bös’ und guten Wegen. / In Ost und West, von Ort zu Ort / Geht ihre Red’ und schallet fort, / In tausend Sprach’ und Weisen. // [5.] Drum sprich nicht: wer schifft übers Meer / Die Weisheit dort zu hören? / Wer übersteigt das Sternenheer / Zu holen ihre Lehren? / Ihr Wort ist nahe deinem Mund, / Und ihm entspricht des Herzens Grund / Zur Steuer ew’ger Wahrheit. // [6.] Denn alles zeugt: der Herr sei dir / Kund, kund dein Seelenschade; / Bedürfniß sei dir für und für / Der Glaub’ und Gottes Gnade, / Du, hangest ganz von ihm nur ab; / Sein Wille sei dein Wanderstab, / Hier sei die Saat, dort Erndte. // [Meier.] Unter der Predigt. – Mel. Kommt laßt euch den Herrn. Der du uns als Vater liebest, / Treuer Gott, und deinen Geist / Denen, die dich bitten, giebest, / Und darum auch beten heißt, / Demuthsvoll fleh ich zu dir: / Vater send’ ihn auch zu mir, / Daß er meinen Geist erneue, / Und ihn dir zum Tempel weihe! // Nach der Predigt. – Mel. Komm o komm du Geist. [1.] Neubelebe unsern Glauben / Daß Verfolgung Schmach und Spott / Ihn uns nimmer möge rauben, / Daß getrost wir sein in Gott. / Sagt das Herz gleich zweifelnd: nein! / Laß dein Wort gewisser sein! // [2.] Wenn wir endlich sollen sterben, / Ach dann steh mit Trost uns bei, / Gieb daß uns als Himmelserben / Jene Herrlichkeit erfreu, / Die uns unser Gott bestimmt, / Und die nie ein Ende nimmt. //

[Nr. 64]

Am 20sten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Nun lob mein’ Seel’ etc. [1.] Frohlockt zu Gottes Ruhme! / Fest steht die ihm geweihte Stadt, / Die ihm zum Heiligthume, / Des Menschensohn erbauet hat! / Erfüllt von hoher Klarheit, / Freut sie sich ihres Herrn; / Er wohnt mit seiner Wahrheit / In ihren Tempeln gern. / Oft wie von Meereswogen, / Ward sie bedroht vom

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Krieg: / Umsonst, die Feinde zogen / Vorbei, und ohne Sieg. // [2.] Auf Felsengrund erbauet, / Ward sie zu Gottes Stadt erhöht, / Sie, die nur ihm vertrauet, / Und ewig durch sein Wort besteht. / Von ihren Bergen funkelt, / Der Wahrheit Sonnenlicht, / Durch Wolken nicht verdunkelt, / Die es mit Macht durchbricht. / Dem falschen Wahn entrissen, / Sucht die Gemein den Herrn, / Und reinigt ihr Gewissen, / Scheut ihn und dient ihm gern. // [3.] Frohlocke Kirche, singe, / Erhebe deines Königs Ruhm, / Breit aus sein Reich, und bringe / Die Sünder all’ in’s Heiligthum, / Daß sie gereinigt werden, / Daß sie, von dir erhellt, / Ihn lieben, und auf Erden, / Gern thun was ihm gefällt: / Bis alles Volk erneuert, / Und in dein Licht verklärt, / Ein Fest des Friedens feiert, / Das ewig ewig währt. // Nach dem Gebet. – Mel. Freu dich sehr etc. [1.] Kommt und laßt Euch Jesum lehren, / Kommt und lernet allzumal, / Welche die sind, die gehören / In der wahren Christen Zahl, / Welchen sich der Herr bekennt, / Und sie seinem Vater nennt, / Daß er hier bei ihnen wohne, / Ihnen dort verleih’ die Krone, // [2.] Selig die in Demuth leben, / Ihrer Gaben, arm im Geist, / Sich niemalen überheben, / Daß Gott werd’ allein gepreist! / Selig sind sie für und für, / Denn das Himmelreich ist ihr! / Die sich selbst geringe schäzen, / Wird der Herr zu Ehren setzen. // [3.] Selig sind, die Leide tragen, / Ob der Sünd, die sie geübt, / Auch der Brüder Schuld beklagen, / Göttlich traurend und betrübt! / Die so in der Wehmuth gehn, / Oft vor Gott mit Thränen stehn, / Selig sind sie, denn sie werden, / Schon von Gott getröst’t auf Erden. // [4.] Selig sind die frommen Herzen, / Voller Sanftmuth, mild und gut, / Welche Hohn und Trug verschmerzen, / Ohne eigner Rache Muth! / Sie befehlen Gott die Sach’ / Selig sind sie! Er ist wach, / Mächtig wird er sie beschützen, / Das sie Gottes Reich besitzen. // [5.] Selig, die in Frieden leben, / Ruhe stets und Einigkeit, / Zu erhalten sich bestreben, / Feindschaft fliehn und Zorn und Streit. / Die ein still vergnügtes Herz, / Hier schon richten himmelwärts. / Selig! Gottes Kinder heißen, / Die des Friedens sich befleißen. // [6.] Selig sind die ohn’ Verschulden, / Schmach, Verfolgung, Haß und Pein / Als Verehrer Christi dulden, / Und Gott mehr als Menschen scheu’n: / Ist des Kreuzes noch so viel: / Gott setzt dennoch Maaß und Ziel. / Selig sind sie! Siegerkronen / Werden einst den Tapfern lohnen. // Unter der Predigt. – Mel. Liebster Jesu, wir etc. Höchster Gott wir danken dir, / Daß du uns dein Wort gegeben! / Mach uns tüchtig, daß auch wir / Nach demselben heilig leben, / Gieb dem Glauben solche Stärke, / Daß er thätig sei im Werke! // Nach der Predigt. – Mel. Sei Lob’ und Ehr etc. Erweck’ uns Herr in deiner Kraft, / Dem Ruf Gehör zu geben, / Dein Geist der alles Gute schafft, / Führ uns den Weg zum Leben, / Wozu du Vater uns erschufst, / Wozu Erbarmer du uns rufst, / In deines Wortes Lehren. //

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[Nr. 65]

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Am 22sten Sonntage nach Trinitatis.

Vor dem Gebet. – Mel. Jesu meines Lebens etc. [1.] Hilf o Herr, daß wir die Gaben, / Die wir deiner Huld allein, / Und nicht uns zu danken haben, / Völlig deinem Dienste weihn, / Und was wir durch dich besitzen, / Gern für Andrer Wohlfahrt nützen, / Auszuüben stets bereit, / Was dein heilges Wort gebeut. // [2.] Die du sendest uns zu lehren, / Mach in ihrem Amte treu, / Daß was wir von ihnen hören, / Jesu Lehr und Wahrheit sei. / Die uns vorstehn uns regieren, / Müsse deine Weisheit führen, / Daß sie durch dein Licht erhellt, / Freudig thun was dir gefällt. // [3.] Wir sind Eines Leibes Glieder, / Redlich denn und eifrig sei / Unsre Liebe für die Brüder! / Eifrig, hülfreich und getreu. / Sich Bedrängter anzunehmen, / Müsse nie ein Christ sich schämen, / Weinend mit den Weinenden, / Fröhlich mit den Fröhlichen. // [4.] Lehr uns wachen, lehr uns beten, / In der Prüfung schweren Zeit, / Und gieb uns in allen Nöthen, / Stärke mit Gelassenheit. / Unsern Pfad bezeichne Segen, / Liebe geh’ dem Haß entgegen, / Laß, in Hoffnung uns zu freun, / Nie uns träg im Guten sein. // Nach dem Gebet. – Mel. Wo soll ich fliehen etc. [1.] Wie lang hat Gott Geduld, / Mit unsrer Sünden Schuld! / Wie lang kann er zusehen, / Eh’ er läßt Recht geschehen, / Wie lang trägt er die Sünder, / Die abgewichnen Kinder. // [2.] Wie groß die Schuld auch sei, / Er tilgt sie, und dabei / Verleiht er Himmels Segen, / Daß wir uns helfen mögen, / Wenn um Erlaß wir flehen, / Und reuig vor ihm stehen. // [3.] Allein wie machts die Welt, / Die Gottes Treu nur hält? / Sie will in diesem Leben, / Dem Mitknecht nicht vergeben, / Sie treibt mit bittrer Strenge, / Den Schuldner in die Enge. // [4.] Such’st du für deine Schuld, / Nur Nachsicht und Geduld, / Und willst durch künft’ge Thaten, / Dem ganzen Schaden rathen: / Umsonst, du wirst die Beute / Verläumderischer Leute. // [5.] Sie hat groß’ Freude d’ran / Wenn sie dem Nächsten kann, / Den vor’gen guten Glauben, / Und Lob und Ehre rauben; / Und unter Spott und Schmähen, / Sieht sie ihn gern vergehen. // [6.] Allein was thut der Herr, / Wenns also gehet her? / Er läßt den Schalksknecht kommen, / Den er der Schuld entnommen, / Und läßt auch ihn nun eben / Den Peingern übergeben. // [7.] Drum Sünder werde wach, / Und denk noch einmal nach, / Wie hart dich Gott kann fassen, / Wie viel er dir erlassen, / Und eile mit Verzeihen, / Den Bruder zu erfreuen. // Unter der Predigt. – Mel. Herr Jesu Christ etc. [1.] Herr Jesu send uns deinen Geist, / Den uns dein göttlich Wort verheißt, / Mit Hülf und Gnad er uns regier, / Und uns den Weg zur Wahrheit führ. // [2.] Von Andacht sei das Herz erfüllt, / Wenn deines Wortes Segen quillt. / Den Glauben mehr, stärk den Verstand, / Und mach dein Heil uns recht bekannt. // Nach der Predigt. – Mel. Dir, dir Jehovah etc. [1.] Wir schmachten, ach wir kämpfen, ringen, / Aus unsers Staubes irrer Dunkelheit, / Zu hellerm Licht emporzudringen, / Zu Gottes Frieden, zur Vollkommenheit. / Zu kämpfen, bis der Sieg herbeigeschaft, / Begeist’r uns deines Wortes Himmelskraft. // [2.] Ja Herr verklär aus deinem Worte, / Dich,

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o du Quell des Lichts auch heute ganz, / Nicht hier allein, an jedem Orte, / Umstrahl uns deiner ew’gen Wahrheit Glanz, / In Lieb’ und Glauben froh uns dir zu weihn, / De[i]n Tempel, heil’ger, überall zu sein. //

[Nr. 66]

Am 26sten Sonntage nach Trinitatis. [19. November 1815 vermutet]

Vor dem Gebet. – Mel. Wunderbarer König etc. [1.] Singt dem Herrn, ihr Brüder! ein neu Lied ihm bringet / Alle Welt dem Herren singet! / Singt dem Herrn, und lobet seinen großen Namen, / Rufet singet Amen Amen! / Singet gern diesem Herrn! laßt die Zunge singen, / Laßt die Stimm’ erklingen! // [2.] Vor ihm stehet alles herrlich und sehr prächtig, / Und geht löblich zu und mächtig, / Drum in seinem Hause kommt ihn hoch zu ehren, / Kommt ihr Brüder vor den Herren, / Bringe her Macht und Ehr ihm dem Herrn, was lebet / Was auf Erden lebet. // [3.] Preis und Dank dem Herren! Ehre seinem Namen, / Bring du auserwählter Saamen! / Ihm das Herz zu weihen, kommt zu seinem Thore, / Stimmet ein in hellem Chore! / Dessen Rath dessen That gnädig voll Erbarmen, / Den erhöhn wir Armen. // [4.] Solch ein Reich und Herrschaft hat Er angefangen, / Drinnen Er wird ewig prangen, / Predigt alle Tage nur sein Heil in Freuden, / Und auch bei des Lebens Leiden! / Er zerbricht im Gericht doch die Macht der Feinde, / Heil euch, seine Freunde! // Nach dem Gebet. – Mel. Jesu meine Zuversicht etc. [1.] Jesu wenn ich mein Gemüth / Christlich in mich selbsten lenke, / Und den Reichthum deiner Güt, / Meine Seligkeit bedenke, / Dünkt mich, ja ich sag es frei, / Daß ich schon im Himmel sei. // [2.] Dir sei Dank Preis Ehr und Macht, / Jesu, dessen Leben, Sterben, / Auferstehn das Heil gebracht, / Das ich gläubig kann erwerben, / Daß erlösend mir dein Blut, / Alle meine Schuld abthut. // [3.] Vor der alten Sünde Wust / Darf mir nun nicht länger bangen! / Ich verspüre Kraft und Lust, / Fest an Gott und dir zu hangen, / Reiner Freud und Tugend voll, / Ist mir überschwänglich wohl. // [4.] Ließ der Heiland sich herab / In dies Herz hinein zu ziehen, / Hat er mir des Geistes Gab’ / Als ein Liebespfand verliehen, / Wohnt mein Vater Gott in mir, / Bin sein Kind ich für und für: // [5.] O so sage niemand nicht, / Du bist elend und gebrechlich! / Denn mein gläubig Herze spricht, / Ich bin herrlich unaussprechlich. / Niemand schrecke mich forthin, / Der [i]ch hier schon selig bin. // [6.] Ja die Höll ist mir gefällt, / Jede Furcht hat weichen müssen; / Auch die noch verargte Welt, / Tret ich ritterlich mit Füßen, / Und erwarte froh und still, / Was Gott uns noch schenken will. // Unter der Predigt. – Mel. Die Seele Christi heilge mich [1.] Des Vaters Herz in Lieb entbrannt / Hat mir der Sohn ja zugewandt; / Er selbst hat durch den Glauben mein / Gezogen mich in sich hinein. //

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Anhang

[2.] Den heilgen Geist so hold und werth / Ließ er zum Tröster mir auf Erd! / So giebt der Weinstock reichen Saft, / Der Rebe schwillt von seiner Kraft! // Nach der Predigt. – Mel. Wie schön leucht uns etc. [1.] Du stehst o Christ mit Gott im Bund, / Sein Thron ist deines Herzens Grund, / Darin er Wohnung machet, / Dich macht er sich bereit zum Ruhm, / Zum Werkzeug, und zum Eigenthum, / Darob er gnädig wachet, / Das er, noch mehr, aus Erbarmen, / In den Armen / Zärtlich träget, / Und wie eine Mutter heget. // [2.] O Christenmensch bedenk den Stand, / Darin dich Gottes Gnadenhand / Gesezt und seine Würde! / Rühm deine Höhe jederzeit / In dieser Erde Niedrigkeit, / Trag aber auch die Bürde! / Lebe, strebe, daß dein Adel / Ohne Tadel / Immer bleibe! / Drum so liebe hoff und gläube. //

Verzeichnisse

Abkürzungen und editorische Zeichen Das Abkürzungsverzeichnis bietet die Auflösung der Zeichen und Abbreviaturen, die von den Autoren oder von dem Bandherausgeber benutzt worden sind, soweit die Auflösung nicht in den Apparaten oder im Kopftext zu den einzelnen Predigten erfolgt. Nicht verzeichnet werden Abkürzungen, die für Vornamen stehen oder die sich von den aufgeführten nur durch das Fehlen eines Abkürzungspunktes, durch Klein- bzw. Großschreibung oder die Flexionsform unterscheiden. | / // [] ] )* P S [ ] [!]

Seitenwechsel Zeilenwechsel in Liedern, Markierung zwischen Band und Teilband, zwischen mehreren Editoren, zwischen Erscheinungsorten, zwischen Reihengliedern Absatzwechsel in Liedern Ergänzung des Bandherausgebers Lemmazeichen Streichung unsichere Lesart Lücke im Manuskript Hinweis auf Anomalie / Aufmerksamkeitszeichen

1Joh 1Kön 1Kor 1Petr 1Thess

Der erste Brief des Johannes Das erste Buch der Könige Der erste Brief des Paulus an die Korinther Der erste Brief des Petrus Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher

2Kor 2Petr 2Tim

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther Der zweite Brief des Petrus Der zweite Brief des Paulus an Timotheus

ABBAW

Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften Abkürzung Abteilung Die Apostelgeschichte

Abk. Abt. Act. / Apg / Ap. Gesch. Apk / Apokal. Die Offenbarung des Johannes (Apokalypse) Aufl. Auflage BBAW

Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften zu Berlin

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Bd. / Bde. bearb. BIB Bl. / Bll. bzw.

Band / Bände bearbeitet Berliner Intelligenz-Blatt Blatt / Blätter beziehungsweise

christl.

christlich

D. / Dr. Dep. d. h. d. i. DLA Dtn

Doktor Depositum das heißt das ist Deutsches Literaturarchiv Marbach Das fünfte Buch Mose (Deuteronomium)

ebd. Ebr. ed. / edd. Eph etc. Ev.

ebenda Der Brief an die Hebräer edidit / ediderunt Der Brief des Paulus an die Epheser et cetera Evangelium

Festmagazin

Magazin von Fest-, Gelegenheits,- und anderen Predigten und kleineren Amtsreden folgende

flg. / flgd. Gal GBA

Gen

Der Brief des Paulus an die Galater Gesangbucharchiv der Bibliothek Michaeliskloster Hildesheim – Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers Das erste Buch Mose (Genesis)

Hab Hebr

Der Prophet Habakuk Der Brief an die Hebräer

Jak Der Brief des Jakobus Jer Der Prophet Jeremia Jes Der Prophet Jesaja Jg. Jahrgang Joh / Johann. Johannes / Das Evangelium nach Johannes Jon. Der Prophet Jona Jos Das Buch Josua Kap. KGA Kol

Kapitel Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe Der Brief des Paulus an die Kolosser

Abkürzungen und editorische Zeichen Lev Lk / Luc. / Luk.

Das dritte Buch Mose (Leviticus) Das Evangelium nach Lukas

m. A. m. a. F. / m. a. Fr. / m. and. Fr m. and. Z. m. chr. Fr. m. F. / m. Fr. m. Gel. m. gel. Fr. m. Th. m. th. Fr. Matth. Matth. / Matthiss. Mi Marc. / Mk Mp. Mt

Meine Andächtigen Meine andächtigen Freunde

Der Prophet Micha Das Evangelium nach Markus Mappe Das Evangelium nach Matthäus

nachm. NB N.T. Nl. Nr. Num

nachmittags nota bene Neues Testament Nachlass Nummer Das vierte Buch Mose (Numeri)

Offb

Die Offenbarung des Johannes

Meine andächtigen Zuhörer Meine christlichen Freunde Meine Freunde Meine Geliebten Meine geliebten Freunde Meine Theuren Meine theuren Freunde Matthäus / Das Evangelium nach Matthäus Matthisson

pp. perge perge p. Trin. post (festum) Trinitatis Phil / Philipp. Der Brief des Paulus an die Philipper Pkt. Punkt Pred. Slg. Predigtsammlung PredSal / Der Prediger Salomos (Kohelet) Pred. Salom. Prof. Professor Ps Der Psalter r Röm

recto (Vorderseite) Der Brief des Paulus an die Römer

777

778 S. s. Sach seq. / sq. SAr

Verzeichnisse

SnE SnN SnT SnW Sonnt. Sp. Spr Str. SW

Seite siehe Der Prophet Sacharja sequens Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz, Schleiermacher-Archiv, Depositum 42a Schleiermachers Bibliothek Staatsbibliothek zu Berlin Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher Sektion Sonntag im Advent Signatur Sammlung Schleiermacher-Nachlass; Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin, Nachlass F. D. E. Schleiermacher (mit Angabe der Archivaliennummer) Sonntag nach Epiphanias Sonntag nach Neujahr Sonntag nach Trinitatis Sonntag nach Weihnachten Sonntag Spalte Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Strophe Schleiermacher, Sämmtliche Werke

unvollst.

unvollständig

SB SBB Schl. Sekt. SiA Sign. Slg. SN

V. / Verf. / Vf. Verfasser v. vers v verso (Rückseite) vermutl. vermutlich Vol. Volume vorm. vormittags Z. z. B. z. Th.

Zeile zum Beispiel zum Theil

Literatur Das Literaturverzeichnis führt die Schriften auf, die in Schleiermachers Texten sowie in den editorischen Beigaben zu den Predigten (Apparaten und Kopftext) sowie in der Einleitung des Bandherausgebers genannt sind. Die jeweiligen Titelblätter werden nicht diplomatisch getreu reproduziert. Folgende Grundsätze sind besonders zu beachten: 1. Die Verfassernamen werden in der heute gebräuchlichen Schreibweise angegeben. In gleicher Weise wird bei den Ortsnamen verfahren. 2. Ausführliche Titel werden in einer sinnvollen Kurzfassung wiedergegeben, die nicht als solche gekennzeichnet wird. 3. Werden zu einem Verfasser mehrere Titel genannt, so werden die Gesamtausgaben vorangestellt. Die Titel werden chronologisch angeordnet. 4. Bei denjenigen Werken, die für Schleiermachers Bibliothek nachgewiesen sind, wird nach den bibliographischen Angaben in eckigen Klammern die Angabe „SB“ (vgl. Meckenstock, Bibliothek) mit der Listennummer hinzugefügt. 5. Anhangsweise werden die im Band angeführten Archivalien zusammengestellt, geordnet nach Archiven und deren innerer Systematik

* * * Adelung, Johann Christoph: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen, Bd. 1–5,1, Leipzig 1774–1786 [SB 8: Bd. 1–4 (A–V), 1774–1780] Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1785–1849 Bauer, Johannes: Schleiermacher als patriotischer Prediger. Mit einem Anhang von bisher ungedruckten Predigtentwürfen Schleiermachers, Studien zur Geschichte des neueren Protestantismus, Bd. 4, Gießen 1908 Berliner Intelligenz-Blatt zum Nutzen und Besten des Publici, Berlin 1800– 1922 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen [Haude- und Spenersche Zeitung], Berlin 1740–1872

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Geistliche und Liebliche Lieder, Welche der Geist des Glaubens durch Doct. Martin Luthern, Johann Hermann, Paul Gerhard, und andere seine Werkzeuge, in den vorigen und jetzigen Zeiten gedichtet, und die bisher in Kirchen und Schulen Der Königl. Preuß. und Churfl. Brandenburg. Lande bekannt, und mit Königl. Allergnädigster Approbation und Privilegio gedrucket und eingeführet worden; Nebst Einigen Gebeten und einer Vorrede von Johann Porst, Berlin 1812 Grimm, Jakob: Deutsche Grammatik, Bd. 1–4, Göttingen 1819–1837; Bd. 1, 2. Aufl., 1822 Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten, 1810–1906; Anhang: Sammlung der für die Königlichen Preußischen Staaten erschienenen Gesetze und Verordnungen von 1806 bis zum 27sten Oktober 1810 mit Ausschluß der in der ersten Abtheilung des zwölften Bandes der Myliusschen Edikten-Sammlung schon enthaltenen Verordnungen aus dem Jahre 1806, Berlin 1822 : [Fortsetzung] Preußische Gesetzsammlung, 1907–1944 Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung nebst Intelligenzblatt, Jena / Leipzig 1804–1841 [SB 986: Jg. 1804–1817] Liebs, Detlef: Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München 7 2007 Lommatzsch, Siegfried Otto Nathanael: Geschichte der Dreifaltigkeits-Kirche zu Berlin. Festschrift zum Hundertfünfzigjährigen Jubiläum der Kirche, Berlin 1889 Magazin für Prediger, Bd. 1–8, Jena 1803–1816 Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. J. F. Röhr / F. Schleiermacher / J. G. J. Schuderoff, Bd. 1–6, Magdeburg 1823–1829 Meckenstock, Günter: Schleiermachers Bibliothek nach den Angaben des Rauchschen Auktionskatalogs und der Hauptbücher des Verlages G. Reimer, 2. Aufl., in: Schleiermacher, KGA I/15, S. 637–912 Meding, Wichmann von: Bibliographie der Schriften Schleiermachers nebst einer Zusammenstellung und Datierung seiner gedruckten Predigten, Schleiermacher-Archiv 9, Berlin / New York 1992 Neue homiletisch-kritische Blätter, ed. G. A. L. Hanstein, Stendal 1799–1811 Neue Theologische Annalen, ed. J. F. L. Wachler, Frankfurt a. Main 1798– 1823 [SB 1359: Jg. 1803–1823] Nowak, Kurt: Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2002 Porst, Johann: s. Geistliche und Liebliche Lieder Reich, Andreas: Friedrich Schleiermacher als Pfarrer an der Dreifaltigkeitskirche 1809–1834, Schleiermacher-Archiv 12, Berlin / New York 1992

Literatur

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Rezension von: Schleiermacher, Ueber das rechte Verhältnis des Christen zu seiner Obrigkeit. Eine Predigt von D. F. Schleiermacher. Berlin, 1809, in: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung, Jena / Leipzig 1809, Nr. 300, Sp. 583–584 : Neue homiletisch-kritische Blätter, Stendal 1809, Zweytes Quartalsheft, S. 277–281 : Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1809, Bd. 1, S. 509–511 : Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1811, Nr. 8, Sp. 63–64 Rezension von: Schleiermacher, Zuversicht und Kleingläubigkeit; in der in der Schifffahrt Christi dargestellt, in: Magazin von Fest-, Gelegenheits-, und anderen Predigten und kleineren Amtsreden. Neue Folge, edd. J. F. Röhr / F. Schleiermacher / J. G. J. Schuderoff, Bd. 1, Magdeburg 1823, S. 213–230, in: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung, Jena / Leipzig 1824, Nr. 35, Ergänzungsblätter, Sp. 277–278 Rezension von: Schleiermacher, Zwei Predigten am 22sten Julius und am 5ten August in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen, in: Jenaische allgemeine Literatur-Zeitung nebst Intelligenzblatt, Jena / Leipzig 1812, Nr. 156, Sp. 215–216 : Neue homiletisch-kritische Blätter, Stendal 1810, Drittes Quartalsheft, S. 45–55 : Allgemeine Literatur-Zeitung, Halle / Leipzig 1811, Nr. 142, Ergänzungsblätter, Sp. 1136 : Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1811, Bd. 1, S. 22–24 Rezension von: Schleiermacher, Predigt am 28. März 1813. Zum Besten der Auszurüstenden, Berlin 1813, in: Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1815, Bd. 1, S. 300–303 Rezension von: Schleiermacher, Predigt am Zwei und Zwanzigsten Oktober in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen von D. F. Schleiermacher. Berlin, im Verlage der Realschulbuchhandlung 1815, in: Neue Theologische Annalen, Frankfurt a. Main 1816, Bd. 1, S. 724–726 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Sämmtliche Werke, 3 Abteilungen, 30 Bde. in 31, Berlin 1834–1864; Abt. 2: Predigten, Bd. 1–4, 2. Aufl., Berlin 1843–1844 : [Predigten ed. Grosser] Sämmtliche Werke, Reihe I. Predigten, Bd. 1– 5, ed. E. Grosser, Berlin 1873–1877 [mehr nicht erschienen]; 2. Aufl., Bd. 1, 1876 : Kritische Gesamtausgabe, edd. H.-J. Birkner, H. Fischer et al., bisher 4 Abteilungen: Abt. 1: 15 Bde. in 18, 1980–2005; Abt. 2: bisher 4 Bde. in 5, 1998 ff.: Abt. 5: bisher 9 Bde., 1985ff., Berlin / New York : Ueber das rechte Verhältniß des Christen zu seiner Obrigkeit, Berlin 1809 : Zwei Predigten am 22sten Julius und am 5ten August in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen, Berlin 1810 : Predigt am 28. März 1813. Zum Besten der Auszurüstenden, Berlin 1813 : Predigten. Dritte Sammlung, Berlin 1814; 2. Aufl., Berlin 1821 : Predigt am Zwei und Zwanzigsten Oktober in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen, Berlin 1815

782

Verzeichnisse

: Predigten, Sammlung 1–7, Reutlingen 1835 [nach der Ausgabe ‚Sämmtliche Werke‘] : Briefwechsel mit J. Chr. Gaß, ed. W. Gaß, Berlin 1852 : [Briefe] Aus Schleiermacher’s Leben. In Briefen, Bd. 1–2, 2. Aufl., Berlin 1860; Bd. 3–4, edd. L. Jonas / W. Dilthey, Berlin 1861–1863 (Nachdruck Berlin / New York 1974) : Zwei Predigten am acht und zwanzigsten März 1813 und am zwei und zwanzigsten Oktober 1815 in der Dreifaltigkeitskirche zu Berlin gesprochen, Berlin 1863 : [Briefe] Schleiermachers Briefe an die Grafen zu Dohna, ed. J. L. Jacobi, Halle 1887 : Auswahl seiner Predigten, Homilien und Reden. Einleitende Monographie von W. v. Langsdorff, in: Die Predigt der Kirche. Klassikerbibliothek der christlichen Predigtliteratur, ed. G. Leonhardi, Bd. 7, Leipzig 1889 : Predigt vom 28. März 1813, in: Geistliche Weckstimmen aus der Zeit der Erniedrigung und Erhebung unseres Volkes. Zeitpredigten, ed. F. J. Winter, Leipzig 1913, S. 54–69 : Briefwechsel mit August Boeckh und Immanuel Bekker 1806–1820, ed. H. Meisner, Mitteilungen aus dem Litteraturarchive in Berlin, Neue Folge 11, Berlin 1916 : Vaterländische Predigten. Eine Auswahl, Bd. 1–2, Berlin 1919–1920 : Werke, ed. H. Mulert, Berlin 1924 : Patriotische Predigten, ed. Walther Schotte, in: Die kleine Geschichtsbücherei, Bd. 8, Berlin [1935] : Schleiermacher-Auswahl, ed. Heinz Bolli. Mit einem Nachwort von Karl Barth, München und Hamburg 1968. 1980. 1983 : Predigten. Ausgewählt von Hans Urner, Berlin 1969 : Kleine Schriften und Predigten, edd. H. Gerdes / E. Hirsch, Bd. 1–3, Berlin 1970 Seibt, Ilsabe: Friedrich Schleiermacher und das Berliner Gesangbuch von 1829, Göttingen 1998 Schmidt, Bernhard: Lied – Kirchenmusik – Predigt im Festgottesdienst Friedrich Schleiermachers. Zur Rekonstruktion seiner liturgischen Praxis, Berlin 2000 Theologische Nachrichten: s. Neue Theologische Annalen Virmond, Wolfgang: Liederblätter – ein unbekanntes Periodikum Schleiermachers. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte und Entstehung des Berliner Gesangbuchs von 1829, in: Schleiermacher in Context. Papers from the 1988 International Symposium on Schleiermacher at Herrnhut, the German Democratic Republic, ed. R. D. Richardson, Schleiermacher, Studies-and-Translations Vol. 6, Lewiston / Queenston / Lampeter 1991, S. 275–293

Literatur

783

Willich, Ehrenfried v.: Aus Schleiermachers Hause. Jugenderinnerungen seines Stiefsohnes, Berlin 1909

* * * Archiv der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in Berlin: Nachlass F. D. E. Schleiermacher Nr. 58 Schleiermachermanuskript Nr. 439 Tageskalender 1810 Nr. 592 Predigtnachschriften Pischon

Michaeliskloster Hildesheim – Evangelisches Zentrum für Gottesdienst und Kirchenmusik. Bibliothek des Landeskirchenamtes der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers Sign. GBA 1816-1827 Liederblätter (ein Band mit nicht einzeln gezählten Blättern) Die Liederblätter wurden von Wolfgang Virmond in einer Privatedition veröffentlicht und mit einer Zählung versehen: Liederblätter. Herausgegeben von Schleiermacher. In chronologischer Folge nach den Sammelbänden in London (L) und Hannover (H) sowie nach den Einzelblättern in Berlin (B) zusammengestellt von Wolfgang Virmond, Berlin 1989 Die hier im Anhang verwendeten Nummern für die Liederblätter korrespondieren folgender von Virmond vorgenommenen Zählung der ehemals in Hannover (jetzt in Hildesheim) archivierten Liederblätter: 1 = H 194; 2 = H 2; 3 = H 7; 4 = H 8; 5 = H 9; 6 = H 11; 7 = H 12; 8 = H 14; 9 = H 16; 10 = H 20; 11 = H 26; 12 = H 31; 13 = H 32; 14 = H 34; 15 = H 37; 16 = H 39; 17 = H 40; 18 = H 48; 19 = H 47; 20 = H 52; 21 = H 53; 22 = H 54; 23 = H 57; 24 = H 61; 25 = H 62; 26 = H 65; 27 = H 66; 28 = H 68; 29 = H 69; 30 = H 70; 31 = H 74; 32 = H 85; 33 = H 87; 34 = H 91; 35 = H 92; 36 = H 96; 37 = H 99; 38 = H 108; 39 = H 110; 40 = H 115; 41 = H 118; 42 = H 124; 43 = H 126; 44 = H 128; 45 = H 129; 46 = H 134; 47 = H 139; 48 = H 142; 49 = H 143; 50 = H 149; 51 = H 151; 52 = H 153; 53 = H 155; 54 = H 157; 55 = H 161; 56 = H 162; 57 = H 165; 58 = H 170; 59 = H 167; 60 = H 172; 61 = H 182; 62 = H 181; 63 = H 186; 64 = H 184; 65 = H 190; 66 = H 192 Deutsches Literaturarchiv Marbach (Schiller-Nationalmuseum) Sign. 58.368 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz Schleiermacher-Archiv – Depositum 42a (Angaben nach Archivverzeichnis)

784 Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp. Mp.

Verzeichnisse 13 25 26 27 28 29 30 31

Mp. 32 Mp. 33 Mp. 34 Mp. 35 Mp. 36

Predigten in Berlin 1810–1823 – 6 Predigten Matthisson A – 27 Predigten (1809–1810) Matthisson B – 24 Predigten (1811) Matthisson C – 14 Predigten (1812) Matthisson D – 7 Predigten (1813) Matthisson E – 4 Predigten (1814) Matthisson F – 2 Predigten (1815) Matthisson G (Abschriften von Predigten des Jahres 1810) – 21 Predigten sowie Beilage Matthisson H (Abschriften von Predigten des Jahres 1811) – 23 Predigten Matthisson I (Abschriften von Predigten des Jahres 1812) – 10 Predigten Matthisson J (Abschrift einer Predigt des Jahres 1814) – 1 Predigt Pischon A – 2 Predigten (1812) Pischon B – 11 Predigten (1814–1815)

Namen Das Namensregister verzeichnet die in diesem Band genannten historischen Personen in der heute gebräuchlichen Schreibweise. Nicht aufgeführt werden die Namen biblischer, literarischer und mythischer Personen, die Namen von Herausgebern, Übersetzern und Predigttradenten, soweit sie nur in bibliographischen oder archivalischen Angaben vorkommen, die Namen, die nur in Quellenangaben von Liedertexten genannt sind, sowie die Namen der an der vorliegenden Ausgabe beteiligten Personen und der Name Friedrich Daniel Ernst Schleiermachers. Bei Namen, die im Schleiermacherschen Text oder die sowohl im Text als auch im zugehörigen Apparat vorkommen, sind die Seitenzahlen recte gesetzt. Bei Namen, die in der Bandeinleitung oder den Apparatmitteilungen des Bandherausgebers genannt werden, sind die Seitenzahlen kursiv gesetzt. Alvensleben s. Matthisson, Caroline

Napoleon X.XVI.568.585.680

Boeckh XI

Pischon, Friedrich August X–XIII. XXXI.XLI–XLII.218 Pischon, Karoline, geb. Deibel XL

Deibel s. Pischon, Karoline Dohna XVII Ehrenberg XX–XXI

Reinard XVIII

Gaß XII

Schleiermacher, Clara Elisabeth XI Schleiermacher, Henriette, geb. Mühlenfels, verw. von Willich X.XI Stosch 218 Sydow XI.XII.XVI.XXXII. XXXIV.XXXV.XL.XLI

Hüser XIII

Virmond XXI

Luise von Preußen XV–XVI.XIX– XX.XXXIII.138.141

Willich, Ehrenfried von (geb. 1773) X–XI Willich, Ehrenfried von (geb. 1807) X Willich, Henriette von s. Schleiermacher, Henriette Willich, Henriette von (geb. 1805) X

Friedrich I. von Brandenburg 681. 684 Friedrich Wilhelm III. von Preußen XVII.243.563.565.572

Matthisson, Caroline, geb. von Alvensleben XXXIV Matthisson, Karl Ernst Georg X–XVI.XXXI.XXXIV–XXXV. XLI

Bibelstellen Halbfett gesetzte arabische Seitenzahlen weisen Bibelstellen nach, über die Schleiermacher gepredigt hat. Die in Schleiermachers Texten vorkommenden Bibelstellenangaben werden durch recte gesetzte arabische Seitenzahlen verzeichnet. Kursiv gesetzte arabische und römische Seitenzahlen geben solche Bibelstellen an, die im Sachapparat und in der Bandeinleitung genannt sind. Die Abfolge der biblischen Bücher ist an der Lutherbibel orientiert. Die in den Texten eines Bandanhangs erwähnten Bibelstellen werden nicht aufgeführt. Das 1. Buch Mose (Genesis)

Der Psalter

Gen 1,21 1,27–28 1,27 1,28 2,7 2,18 3,1–24 3,7 3,15 3,19 3,19.23 3,23–24

Ps 8,6–7 12,2 37,2 40,7 79,10 90,4 94,12–15 100,5 139,9–10

120 120 120 39.365 348.616 330 187 340 301 68.72.75 78 68.75

Das 5. Buch Mose (Deuteronomium) Dtn 32,43 34,1–4

634 521

91 20.XIV 22 249 634 491 585–586 623 29

Die Sprüche Salomos (Sprichwörter) Spr 10,7 16,18

150 333

Der Prediger Salomos (Kohelet) PredSal 3,11–13 66–79 Der Prophet Jesaja

Das Buch Josua Jos 24,15

345

Das 1. Buch der Könige 1Kön 8,56–58 18,22 19,14–18

680–692 37.687 37.687

Jes 9,5 40,3 40,4 53,5 53,6 55,7 55,8–9 55,11 65,17

416 223.594 599 255 70.76.253 143 138–150.XVI 150 226.232

Bibelstellen 8,28–34 9,37–38 Jer 17,5–8 563–577 9,37 17,9 27.229.234 10,8 18,7–10 563–577 10,16 10,28 Der Prophet Jona 10,34 Jona 1,1–5 29 10,35 1,6–14 30 10,37 10,39 Der Prophet Micha 11,7 11,8 Mi 5,1 451 11,19 Der Prophet Habakuk 11,20–21 11,21 Hab 2,4 490 11,27 11,28–30 Der Prophet Sacharja 11,28 Sach 4,6 222 11,28.30 13,7 327 12,15–21 12,24 Das Evangelium nach Matthäus 12,30–32 Mt 2,2–11 245–251 12,30 2,15 36 12,31–32 3,1–17 42 12,32 3,3 223.404.406.594 13,13 3,7 523 13,1–23 4,1–11 41–45 13,24–30 4,17 29.87 13,55–56 4,19 499.500 15,14 5,3–10 177.383 15,21 5,8 427 16,13–17 5,13 360.409 5,17 52.539.613.627.674 16,13–20 16,18 5,39 646 6,3 159 16,22–23 6,9–10 302 16,23 6,10 218 16,24 6,22–23 465 6,25 118 16,25 6,31 655 16,26 6,33 222 16,27 7,1–2 546 18,7 7,6 162–163 18,20 7,15 207 8,20 29.42.620 8,23–27 27–40 8,26 368 18,21–35 Der Prophet Jeremia

787 440–448 185 86.531 342–343 409.429 346.390 300.528 528 528 480 408 408 557 29 446 620.658 86.610 29 304 607–613 259 258–264 63.481 523 254 120 389 587–589 528 646 329 505 437 399.441.491.558. 647 34 34 19.40.290.294. 522.609 558 643 216 476 105.111.320– 321.492.502.507. 542.654.662 388

788 18,23–35 19,28 20,1–16 20,20–23 20,20–28 20,23 20,26 20,28 21,8 21,9 21,10–13 21,10–16 21,16 21,18–19 21,23–27 22,11–14 22,14 24,2 24,6–13 24,13 24,36 25,1–13 25,14–21 25,14–29 25,14–30 25,21 25,21.23 25,24–25 25,25 25,31–33 25,31–46 25,40.45 26,31 26,39 26,41 26,53 26,58 26,64 26,69–75 27,11 27,22 27,40 27,51–52 27,52–53 28,16–20 28,20

Verzeichnisse 387 464.510 125.164.303.612 477 458–465 611 558 86.465 467.471 522 630 466–473 469 472 629 379.384.406 379 405.613.627 239–244 363.365 281 544–549.409. 516.540–541 379 590–594 353.406.515.611 210.329 45 663 392 387.505 508 402 327 490 648 643.648.650 48 287 48 277 522–523 647 669 654 86–90 105.111.505.617

Das Evangelium nach Markus Mk 1,3 1,7 1,9–11 1,17 2,1–12 3,11 3,28–29 4,1–20 4,16–17 5,9 5,15 8,18 8,27–30 8,34 8,35 8,36 9,24 9,44.48 10,29 10,43 10,45 11,8 11,9–10 11,12–14 11,15–17 11,27–33 13,2 13,32 14,27 14,35–36 14,54 14,62 14,66–72 15,13 15,30 15,38 16,15 16,17–18 16,19

404.406.594 519 42 499–500 56–59 535 523 389 33–34 442 444 120 437 19.290.294.392. 522.609 480 643 190.372–373 216 390 558 86.295.465 467.471 522 472 630 629 405.613.627 281 327 490 48 44 48 522–523 647 669 244 40 80–85

Das Evangelium nach Lukas Lk 1,38 1,41–55.67–79 2,7 2,8–11

219 218–223 410 556–559

Bibelstellen 2,14 2,19 2,19.41–51 3,4 3,5 3,7 3,16 3,21–22 4,18 4,23 4,41 5,1–8 5,8 5,14 6,39 7,24–34 7,24 7,25 7,34 8,5–15 8,19–21 8,27 8,35 8,39 8,46 8,56 9,18–21 9,23 9,54 9,58 10,1–12 10,2 10,10–12 10,13 10,17–20 10,22 11,2 11,23 11,34–35 11,46 11,52 12,4 12,10 12,19–20 12,20 12,22–23 12,32

410.556.614 219.250 527–528 404.406.594 407 523 404.519 42 266 647 535 498–499 470.499 267 601–602 517–525 408 408 557 389 526–532 442 444 447 516 267 437 19.290.294.522. 609 446 29.42.620 534 86.185.531 446 446 533–535 620 218 63.481 465 602 602 346 254.523 33 33.593 118 541

12,37 13,2–5 13,31–34 14,14 14,15 14,16–24 14,25–33 14,26 14,26.33 14,27 14,31 16,8 16,29.31 17,33 18,10–14 18,11 19,10 19,12–27 19,20–21 19,39 19,40 19,41–42 19,44 19,45–46 20,1–8 21,6 21,18 21,25–36 22,30 22,31–32 22,42 22,54 22,56–62 23,21 23,33–34 23,34 23,37 23,39–43 23,43 24,13–35 24,15–16 24,30–31 24,32 24,49

789 401 634 265–272 378 378 377–385 536–543 383.401 390 392 542 113.173.181.547. 612 603–604 480 605–606 593 287 353.406.515 663 469 43.472 523 627 630 629 405.613.627 241 395–402 464.510 584 303.490–491 48 48 471.522–523 474–481 302 647 287 650 482.492 482–483 482–487 484 322–329.82–83. 87.496.505.514

790

Verzeichnisse

Das Evangelium nach Johannes Joh 1,1 1,5 1,14 1,14.16 1,16 1,19–27 1,20 1,23 1,29 1,35–44 1,35–51 1,41 1,46 2,13–17 3,1–21 3,3–8 3,5–8 3,8 3,17–18 3,18 3,30 4,4–26 4,14 4,21–24 4,23 4,35 4,38 4,42 5,24 5,28–29 5,39 6,47 6,60–66 6,60 6,67–68 6,67–69 6,68 7,5 7,10 7,27 7,37–38 7,38 7,40–53 8,12 8,36

616 617 614–620.80–81. 449.632 597–602 404 403–409 426 594 252–257.258.295 46–50 421–430 256 453 51–55.625–631 433 348 99.106 98 508 84.388 519 431–439 557.661 54 52 439 439 439 507–508 387 506 657 541 541 470 542 464.620 527 527 451 450 452 449–457 253 620

9,1–5 9,8–16 10,16 10,17–18 10,27 10,30 10,33 10,37–38 11,50 12,32 12,47 13,16 13,23.25 13,34 13,35 14,6 14,23 14,26 14,27 15,5 15,12 15,15 15,16 16,13–14 16,13 16,33 17,1–26 17,4–5 17,12 17,17 17,22 18,1–8 18,8 18,11–12 18,14 18,15 18,36–37 18,36 18,37 18,38 19,11 19,25–30 19,26–27 19,30 20,19–20 20,19

632–638 638 539.669 16–19 510 27.30 522 437 643 137.653 589 642 47 39.557 305 253.344.660.668 318.602 96.640 216.300.656 64.297.305.472. 541.594 39.557 610 542 667 96 655 294.297.640 399 464 210.557 494 639–644 277 639–644 643 48 86 45.63.222.285. 609.649–650 287 285 645–646 60–65 278 532.650 299–306 492

Bibelstellen 20,21 20,22–23 20,22 20,23 20,24–29 20,31 21,1–7 21,2–23 21,3–6 21,7–8 21,16 21,17 21,18 21,20

88.305 305.656 505.656 386–394.347.510 493 441 492 495–503 659 658–664 314–321 321.465 62.493 47

Die Apostelgeschichte Apg 1,6–11 1,7 1,9–11 1,11 1,14 2,1–39 2,1–47 2,37–38 2,37 2,43 2,44–45 2,46 4,12 5,1–5 5,4 5,29 5,38–39 6,1–7 6,13–14 6,13 6,15 7,55–56 7,55 7,56 7,60 8,1 9,1–19 9,3–22 10,4–6 10,10–12 10,15–20

504–510 677 396 80–85 104.110 91–98 124.324 665–671 117 112–116 117–122 514 218.257.559 122 122 6.131.198.390.401. 465.524 153 135 126 133–134 123–137.XVI 126.133 62 137 125–126.133 153 506–507 151–156 157–161 163 164

11,15–17 11,18 13,6–11 13,46–47 13,51 14,21–22 14,23 15,1–12 16,19 16,35–37 17,16 17,22–31 17,23 17,28 18,6 19,13–17

791 162–167 163 177–181 178 165.178 182–186 186 187–192 195 193–198 200 199–204 158 658 178 205–211

Der Brief des Paulus an die Römer Röm 1,16 1,17 1,19–23 1,22 2,5–6 2,15 3,10.23 3,20 3,23 3,29–30 5,3–5 6,3–5 6,5–12 6,22 7,21–25 7,23 8,15 8,21 8,28 8,32 8,34 11,33 12,5 12,11 12,21 13,1–5 13,7 14,1 14,8

338–345 490 616–617.674 678 216 153 82 519 307–313 354 311 488–494.652–657 581–582 661 57 303 158.348 630 186.368 242.399.417 82.656 677 656 361–368 272.362 3–15.XVIII 13 352–360 124

792 14,12 14,23

Verzeichnisse 355 308.490

Der erste Brief des Paulus an die Korinther 1Kor 1,3 1,23 2,4 3,16 4,1 10,12 10,31 12,4–5 12,4 12,12–14 12,12–31 12,14–27 12,26 12,27 13,1–13 13,1–2 13,4 13,4–7 13,13 15,55 15,56

338.625.632.639 647 102.108 48.99.106.115. 499 334 470 402 611 47 310 64 119 310 656 310 472–473 367 310 555.576 132.654 653

Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 2Kor 1,20–22 3,6 3,17 5,20 7,10 12,9–10 12,9 13,13

672–679 11.103.109.209. 451.539 610 509 313 350 186.349.542.649 647.658.665.672

Der Brief des Paulus an die Galater Gal 1,15–17 2,20 3,28 4,4

152 119.214 611 424

5,13 6,7–8 6,8 6,9 6,14

7 168–176.XVI 330–335 362–363 647–651

Der Brief des Paulus an die Epheser Eph 4,15–16 4,15 4,25 6,5–8 6,11–17

119.266.316 466.502–503.663 369–376 8 406

Der Brief des Paulus an die Philipper Phil 2,6–7 2,7 2,7–8 2,9–10 2,10 3,13 3,20 4,4 4,7

224–235.608 417.449.632.657 649 229.235 135.222 606 84–85.122.141. 657 410–418 509

Der Brief des Paulus an die Kolosser Kol 2,9 2,10

619 82

Der erste Brief des Paulus an die Thessalonicher 1Thess 1,3 5,5 5,19–21 5,23–24

308 655 99–111 140

Der zweite Brief des Paulus an Timotheus 2Tim 2,3 4,1

179 215–216

Bibelstellen

793

Der erste Brief des Petrus

Der Brief an die Hebräer

1Petr 2,19–24 2,20–23 2,23 3,13 4,8–10

Hebr 1,3 3,5–6 5,8–9 5,8 6,6 10,5 10,9 11,1 11,13–16 11,14–16 12,2

276–282 283–290 289–290 290 511–516

Der zweite Brief des Petrus 2Petr 3,8 3,13

491 226.232

Der erste Brief des Johannes 1Joh 1,5–7 1,7 2,1 2,18 3,2 3,23–24 4,8.16 4,17–18 4,18 4,19 5,1 5,4

84 578–580 657 122 488 336–337 351.526 158 6.256 550–555.317 551 346–351.623– 624.664.671

12,6

619 29 291–298 649 457 249 651 219.290 87 137 16.61.338.411. 477.480.491 71.77

Der Brief des Jakobus Jak 1,12 2,17

367 157

Die Offenbarung des Johannes Offb 21,1 21,4 21,12–27 22,10–13

226.232 503 214 212–217